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INTERNATIONALE WISSENSCHAFTLICHNE BIBLIOTMEK.

I. BAND.

DESCENDENZLEHRE

UND

DARWINISMUS,.

VON

OSCAR SCHMIDT,

PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT ZU STRASSBURG.

MIT 26 ABBILDUNGEN IN HOLZSCHNITT.

ZWEITE VERBESSERTE AUFLAGE.

LEIPZIG: MA-BROCKHAUS.

1875.

x 0 Das Recht der Uebersetzung ist vorbehalten.

LIBRBRAHN

VORWORT.

Wenige Monate nach dem Erscheinen der ersten stellt

sich die erfreuliche Nothwendigkeit einer neuen Auf- ‚lage dieses Werks heraus. Es ist nicht bloss von den ent-

schiedenen wissenschaftlichen Parteigenossen mit Freude

begrüsst, sondern auch von jener Seite, welche sich zweifelnd , ja entschieden ablehnend gegen die Ab-

stammungslehre verhält, mit Anerkennung aufgenommen worden, wie man u. a. erklärte, wegen des in der Sache festen, in der Form gemässigten Tones.

Ich habe Farbe bekannt und damit nur das gethan, was in unserer, auf dem religiösen oder kirchenpoli- tischen und auf dem naturwissenschaftlichen Gebiete

ausserordentlich erregten und bewegten Zeit jeder ge-.

bildete Mensch thun müsste, wenn es nicht sehr Viele

_ vorzögen, in der religiösen Frage zu schweigen und den - alten ererbten Schlendrian mitzumachen, in der natur- wissenschaftlichen aber „das fundamentale Entweder

ut

vI VORWORT.

Oder“ (Fechner) durch recht jämmerliche Wenn und Aber abzuschwächen, zur grossen Erbauung unserer ge- meinschaftlichen Gegner.

Nur unwesentliche ‚Verbesserungen waren anzubringen. Das Beispiel der Artveränderung, welches der Stein- heimer Planorbis multiformis zu bieten /schien, ist nach neuern Untersuchungen hinfällig. Diese Einbusse eines Beleges wird mehr als aufgewogen durch zahlreiche be- stätigende Beobachtungen, auf welche ich später einmal eingehender mich berufen zu können hoffe.

Strassburg, im Juli 1874.

OSCAR SCHMIDT.

Einleitung. Hinweis auf die Ergebnisse der _ B ' Sprachforschung. Positive Vorkenntnisse für ‚die Descendenzlehre. Wunderglaube. Die era der Naturforschung . IT

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= Die Erscheinungen der Ba in der

Belkerwel.. 2. ... 5 a Dr eb Eye in Ihrer ES Biekenchen! päläon: $2

tologischen Entwickelung. . . . 53: Nochmals der Wunderstandpunkt ii ge Nator- Re

forschung. Schöpfung öder natürliche Ent- a

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wickelung. Linne. Cuvier. Agassiz. Unter- Fsuchuns des Artbegrilfes . . ..". 2.22 2°. . Die Naturphilosophie. Goethe. Prädestinirte _ Umbildung nach Richard Owen. Lamark . . 94 Lyeli und die neuere Geologie. Darwin’s Se- _ leetionstheorie. Anfang des Lebens. . . ... _ Vererbung. Rückschlag. Veränderlichkeit. ke passung. Folgen des Gebrauchs und Nicht- gebrauchs der Organe. Differenzirung führt zur Vervollkommnung . ....

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du > ist eine Wiederholung der ni wickelung des Stammes (Phy ...X. Die geographische Verbreitung

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Aue = , Lichte der Abstammungslehre . “XI Der Stammbaum der Wirbelthiere. en XI. Der Mensch. Hu

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- Einleitung. Hinweis auf die Ergebnisse der Sprach- - forschung. Positive Vorkenntnisse für die Descen- denzlehre. Wunderglaube Die Grenzen der Naturforschung.

F Der die Menschheit und das Leben jedes sei- ner selbst sich bewussten Individuums zieht ein Ringen _ nach dem Verständniss des Daseins. Alle philosophi- Eichen Systeme haben in die Natur der Dinge zu dringen versucht, sind aus dem Streben nach der Erkenntniss des Zusammenhanges hervorgegangen, des Zusammen- hanges der grossen Reihen körperlicher und geistiger Erscheinungen, deren Mittelpunkt oder Endpunkt zu - sein der Mensch sich schmeichelt. Die Einen beruhigen sich mit der Hervorhebung des Gegensatzes zwischen " Geist und Körper, Idee an. Erscheinung, die Andern . mit dem Schlagwort der Identität, die Einen haben ich und die Welt in schönster Harmonie gefunden, ‘die Andern, von den Buddhisten an seit dem 6. Jahr- E:«: vor unserer Zeitrechnung bis zu den wunder- lichen Heiligen der Gegenwart, den Anhängern und - Verbesserern Schopenhauer’ Ss, in der rdischen _ Welt nur eine Anhäufung von Unbehagen und Conflict, - welchem der Weise durch ein gänzliches Zurückziehen _ auf sich selbst und eine vom eisernen Willen erzwun- gene Rückkehr in die Bedürfnisslosigkeit und das Nichts _ entfliehen könne. Bei allen diesen Versuchen, sich mit der Welt zu stellen und abzufinden, hat das allgemeine Bewusstsein ScHMIDT, Descendenzlehre. 1

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2 Einleitung.

nicht gerade bedeutende Fortschritte gemacht. So sehr man nämlich auf der einen Seite staunen muss 3 über die Errungenschaften unsers Zeitalters, sei es 4 auf den er wissenschaftlichen Gebieten, sei es auf dem Felde des Verkehrs und der Industrie, so wenig sicher und vorgeschritten ist das Urtheil der Menge bei jenen allgemeinen Fragen, so sehr lässt sich noch heute, wie zu Aristophanes’ Zeiten, die

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Menge, auch ein grosser Theil der „Gebildeten“, durch ä Schwindel und Phrase imponiren. Wir verbrennen & keine Hexen mehr, aber noch immer blühen die Ketzer- gerichte. Unsere ae Physiologie als Grund- > lage einer wissenschaftlichen Mediein erfreut sich einer 4 staatlichen Förderung und allgemeinen instinctiven Anerkennung, wie nie, was nicht hindert, dass in Ss | allen Kreisen der Ger@tschet der verwen Cur- B: pfuscherei die Thüre geöffnet bleibt. Man halte Rund- schau über die Spiritisten und Geistereitirer, welche FR jetzt eigene Sekten und Gesellschaften bilden, über die

länger der sympathetischen und Besprechung, @ curen u. s. w., und man muss erstaunen über die Aus- 8 dehnung der Herrschaft eines Aberglaubens, welcher dem Fetischdienst der von uns verschiedenen Menschen- $ art der Neger kaum etwas nachgibt. Es sind dasnur specielle Fälle der sehr verbreiteten Urtheilslosigkeit, A wenn es sich um das vermeintliche Räthsel des Men- schendaseins handelt. Millionen und aber Millionen, s welche mit Entrüstung sich abwenden würden, wenn = sie glauben sollten, in der complicirtesten Maschine, ee er in an verwickeltsten Erzeugnissen der chemischen Retorte, den sonderbarsten Resultaten des physikalischen Experimentes ginge irgend etwas nicht völlig natürlich A ı, diese Millionen sind geneigt, hinter ds Lebens- en vorgängen einen Dosen zu ce und überall, wo es Fo um die Erklärung des Lebens, die Zur ei führung der Lebenser scheinüngen auf die wahren natür- | lichen Ursachen .handelt, die Möglickeit einer solchen | Erklärung und Erkenntniss geradeweg zu leugnen und

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4 Ergebnisse der Sprachforschung. | 3

schen zu verweisen. Oder, wenn man auch die Lösung der Lebensfrage im allgemeinen zulässt, so will man wenigstens für das liebe Ich etwas Bean: und ein anderes Mass, als das, womit die übrigen Lebewesen gemessen werden. Sehen wir so auf der einen Seite den einen grossen _ Theil unserer Zeitgenossen entweder in völliger Rath- 3 und Resultatlosigkeit der wichtigsten Frage gegen- überstehen, oder eeelbe mit der Offenbarungs-Theologie 'abmachen, so dürfen wir glücklicherweise auf der an- dern Seite auf die stattliche Schar derer hinweisen, welche, seit die Entwickelung der Wissenschaften es überhaupt zuliess, der Untersuchung über die Stellung des Menschen in der Natur eine aufrichtige Theil- nahme entgegenbrachten und das Problem mit Ver- ei ständniss erwogen. Das Bedürfniss nach dieser philo- N: sophisch-naturwissenschaftlichen Erkenntniss bricht etwa 4 vor einem Jahrhundert durch und fällt mit den An- fängen der Sprachwissenschaft zusammen, worauf hier hinzuweisen um so passender ist, als die Theorien von - dem Ursprung der Sprache von den Ansichten über - den Ursprung. des Menschen, und umgekehrt, innig _ berührt und beeinflusst werden. Nachdem im Jahre 1580 das Resultat einer Untersuchung über die Sprache 2 des Paradieses war, dass Gott dansch, Adam schwe- 3 - disch und die Schlange französisch gesprochen, war es Leibniz, der in Beten an Newton die Methode der Sprachforschung zu regeln suchte, indem er von dem Studium der neuern und bekannten Sprachen Be emschen anempfahl. Und als in der Mitte des _ vorigen Jahrhunderts die Ansichten, ob die a

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standen, und Süssmilch (1764) gegen Maupertuis - und Jean J. Rousseau geltend gemacht hatte, dass E Erfinden ohne Denken, Denken aber ohne Sprache = nicht möglich, folglich ein een der BET ein

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4 Ergebnisse der Sprachforschung.

tes Herder, 1770, mit seiner epochemachenden Schrift

über die Sprache hervor. Sie beginnt nach ihm mit anfänglich fast unbewusster Schallnachahmung, als dem Kennzeichen, wie er sich ausdrückt, bei welchem die Seele sich einer Idee deutlich besinnt. Er lässt die Sprache sich aus den rohesten Anfängen in dem stei-

genden Bedürfniss nach solchen Wortzeichen entwickeln; und mit der Entwickelung der Menschheit habe auch

der Sprachschatz von selbst, d. h. unbewusst und in-

stinectiv zugenommen. Die Mannichfaltigkeit der Spra-

chen sei durch das Auseinandergehen der Völker be- dingt, deren Eigenart sich in den verschiedenen

Sprachen abspiegele.. Schon Herder also hebt die Wichtigkeit einer Völkerspsychologie hervor. An ihn

schloss sich Wilhelm von Humboldt an, dessen

Ansichten die Grundlage der heutigen Sprachwissen- ,

schaft bilden. Die Schallnachahmungen, lehrt er, fixiren sich instinetiv zu Worten, und mit dieser Wort- und Sprachbildung beginnt das Denken. Es geht aus der Natur dieser Anfänge hervor, dass die Sprache der natürliche Ausdruck des Volksgeistes ist, dass sie nicht stillsteht, sondern in steter Wandlung begriffen ist.

Die Sprachwissenschaft mit ihren grossen Erfolgen setzt die wichtigste Seite des menschlichen Wesens

ins Licht; sie zeigt uns aber doch nur diese eine Seite,

den Menschen in seiner allmählich errungenen Er- hebung über die übrige Lebewelt. Obgleich schon

jene oben erwähnten Begründer der Sprachforschung,

halb unbewusst, halb bewusst den Menschen erst mit der aus primitiven Anfängen hervorgehenden Sprache zur Vernunft kommen und zum Menschen werden

liessen, hat man sich allgemein doch damit begnügt,

die privilegirte Stellung des Menschen als eine schlecht- hin gegebene oder sich von selbst verstehende anzu- nehmen, und dies so lange, als die Naturwissenschaft

ihre Befriedigung in dem blossen oberflächlichen Ordnen

der Organismen fand. Der Mensch, als aus Fleisch und Blut bestehend, erschien freilich als ein Ver-

Was ist Verwandtschaft? 5

wandter der höhern Thiere; allein so lange die Her- kunft dieser, ihre eigene Blutsverwandtschaft nicht _ erörtert war, und man sich mit ihrer Nebeneinander- ; stellung nach der Uebereinstimmung ihrer Kennzeichen begnügte, ohne die tiefere Ursache der Abweichung _ oder Gleichheit zu discutiren, nahm der Mensch im tem der lebenden Wesen ohne Widerspruch die höchste Stufe ein. Linne stellt in der Ordnung der ; Primaten mit den Gattungen Fledermaus, Halb- affe und Affe den Menschen zusammen, ohne deshalb - von Kanzeln und Kathedern eines Attentats auf die Würde der Menschheit angeklagt zu werden, wie denn _ auch Buffon ungestraft die Laune haben konnte, gerade bei Beschreibung des Esels sehr speciell unser Geschlecht zu besprechen. Erst als in der neuesten Zeit die Welt hörte, dass jenes bisher mit grosser - Gleichgültigkeit ausgesprochene Wort „Verwandtschaft“ ernstlich und wörtlich genommen werden solle, indem, _ was verwandt, auch = Frucht eines und desselben Baumes sei, durchzuckte diejenigen, denen der Mensch als ein durchaus innerhalb der Natur stehendes Wesen erschien, ein Strahl der Erkenntnissfreude. Die übrigen _ aber, welche sich den Menschen nur als absolut vor _ seiner natürlichen Umgebung privilegirt vorstellen können, mussten in der Deduction, den eine allum- Eassende Lehre in unabwendbarer Consequenz auf den Menschen machte, eine Art von Verbrechen er- Policken.

Die Theilnahme, welche man der neuern Verwandt- Ehafts- und Kistammungsthäorie entgegengebracht, geht daher nicht blos von Freunden, sondern ebenso

sehr von Gegnern aus, denen mehr oder minder klar _ die Gefährlichkeit der neuen Lehre für ihren Wunder- - standpunkt vorschwebt. Obschon auch in England die Opposition gegen den grossen Landsmann, an. dessen _ Namen sich die Umwälzung knüpft, sehr bedeutend, besonders seit es offenbar, dass er, sich getreu De bend, auch den Menschen in das Bereich seiner Unter-

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6 Hinweis auf Darwin.

suchungen gezogen und alle Folgen seiner Lehre auf ihn angewendet wissen will, scheint mir doch diesseit des Kanals der Streit und die Aufregung noch leben- diger, wo der Darwinismus das tägliche Brot der

Tagesblätter, der philosophischen und theologischen

Zeitschriften. Nun, diese Erscheinung liegt vor aller Augen, und wir sind von der einschneidenden Wich- tigkeit des Gegenstandes überzeugt, der, je nachdem

man für oder wider ihn gewonnen wird, unsere ganze

Lebensanschauung beeinflusst. Und dabei begegnet es vielen, wie so häufig bei Fragen, deren Schwierigkeit durch eine scheinbar allgemeine Vertrautheit mit der Sache verdeckt wird: über das Leben meint jeder ur- theilen zu können; und da für den Laien das Alpha und Omega der Abstammungslehre die berüchtigte

Affenverwandtschaft ist, und oft gerade die unklarsten

Köpfe am unfehlbarsten von ihrer eigenen Höhe über- zeugt sind, so hört man über keine Angelegenheit so häufig oberflächliche, von der gröbsten Unwissenheit zeugende Urtheile, meist verdammende, als über die vorliegende.

Ich Di nun den Leser in den Stand zu setzen, das ganze verzweigte und verwickelte Problem der

Abstammungslehre und ihre Begründung durch Dar- win zu übersehen und die Cardinalpunkte desselben zu verstehen. Dabei ist zuerst eine Vorfrage von all- gemeiner Wichtigkeit und besonderer Bedeutung zu

erledigen, welche so oft von den philosophischen und

theologischen Gegnern hingeworfen wird, die Frage

nach den Grenzen der Naturforschung überhaupt. Denn wenn es principiell feststände, dass das Geheimniss des

Lebendigen ein anderes sei, als das des Nicht-Leben- digen, dass dieses enthüllbar, jenes mit einem nie zu hebenden Schleier verdeckt, wie man das jetzt noch so oft behaupten hört, dann wäre auch die auf die Ergründung des Lebens gerichtete Forschung von vorn herein eitel und aussichtslos.. Sollte sich aber der

Erforschlichkeit des Lebens und Werdens kein aprio- 7

Systematik. 7

ristisches Bedenken entgegenstellen, sollten vielmehr die jedenfalls vorhandenen Grenzen der Forschung und - Erkenntniss für die belebte Natur keine ander sein,

en. für die unbelebte Körperwelt, so dürfen wir un-

serer Aufgabe näher treten. Ich meine, dass dies am

zweckmässigsten damit geschieht, dass wir uns mit

dem Object der Abstammungslehre etwas vertraut machen, wobei wir uns auf die Thierwelt beschränken.

_ Wenn ich also sage, dass wir eine Unterlage für die

Abstammungs- oder Descendenztheorie, für die Lehre von der allmählichen directen Entwickelung der höhern und jetzt existirenden Organismen aus niedrigern Stamm-. formen, die Lehre von der Continuität des Lebens gewinnen müssen, so handelt es sich zuerst um einen Ueberblick über die jetzt über die Erde verbreiteten Thierformen. Wie die Himmelskunde mit der blossen Fixirung der Gestirne und Sternbilder und der Kennt- niss ihrer scheinbaren Bewegungen beginnt, so fixiren

auch wir in grossen Zügen das Material und zwar in

der Weise, wie sie durch die historische Entwickelung der Wissenschaft geboten ist.

Was dem Beobachter der Thierwelt unmittelbar in die Augen fällt, ist ihr Bestand an scheinbar un- zähligen Formen. Das erste Bedürfniss ist das des Unterscheidens und Ordnens. Die Zoologie mit Bo- tanık und Mineralogie musste im ersten Stadium ihrer Entwickelung blosse Beschreibung sein, ein Kennen- lernen der fertigen Objecte, während Physik und Che- mie es mit der Untersuchung von Erscheinungen zu

_ thun haben, deren Bestand unmittelbar auf das Ent-

stehen hinweist, das heisst mit Reihen von Erschei- nungen, die als Ursachen und Wirkungen miteinander verbunden sind, deren Kenntniss also zugleich zu einer den Geist befriedigenden und beruhigenden Erkennt-

niss führt. Diese anfänglich blos auf das Aeussere

sich beschränkende Beschreibung zog nach und nach auch das Innere heran, wurde zur Zootomie und ver- gleichenden Anatomie, und hatte es in der Anhäufung

8 Vergleichende Anatomie und Entwickelungsgeschichte.

unendlichen Details schon vor funfzig Jahren so weit _

gebracht, dass Cuvier damals sich die Aufstellung des natürlichen Systems zutraute. Diese Thierbeschreibung ist aber nach zwei Seiten

hin zu ergänzen und im Laufe der Ausbildung der $ Wissenschaft fast gleichzeitig ergänzt worden. Zur

- Kenntniss des Seins eines Thieres gehört auch die Beschreibung seines Werdens. Ich sage ausdrücklich „die Beschreibung“, denn die thierische Entwickelungs-

geschichte ist an sich noch keine Naturwissenschaft im

Sinne der mathematisch-physikalischen Disciplinen; sie „ist blosse Naturbeschreibung. Sie gibt aber eine weit genauere Kenntniss, sie enthüllt in tausend Fällen erst.die Bedeutung der Organe und gibt der verglei- chenden Anatomie die Sicherheit, oft überhaupt die

Möglichkeit der Auslegung. Den Flügel des Vogels

kann man ohne Schwierigkeit, so wie er ist, in seinen einzelnen Theilen auf die vordere Extremität eines Reptils oder eines Säugethieres zurückführen. Das Bein des Vogels dagegen stimmt als fertiges Organ nicht mit dem Bein der übrigen Wirbelthiere überein, bis die Entwickelung des Vogels im Ei zeigt, dass die Anlage der Stücke und Glieder genau dieselbe ist hier wie dort, und nur einige spätere Verwachsungen sonst getrennt bleibender Knochen die scheinbare Ano- malie hervorrufen. Das fertige Vogelbein (A) zeigt

uns in a den Ober-, in D den Unterschenkel, aber

statt der Knochen der Fusswurzel und des die Zehen tragenden Mittelfusses finden wir nur den langen Kno- chen ce und an seinem untern Ende einen kleinen Trä- ger der vierten Zehe. Die frühere Beschreibung begnügte sich, zu sagen, dass der Lauf (c) Fusswurzel

und Mittelfuss ersetzt. Dem ist aber nicht so, sondern 5

der Vogel im Ei zeigt (B), dass das Vogelbein aus dem Oberschenkel (a), dem Unterschenkel (b), zwei Fusswurzelknochen (m n), drei oder vier Mittelfuss- knochen (c) und den Zehen besteht, dass der obere Fusswurzelknochen mit dem Unterschenkel und der

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gendes Beispiel ist etwas wieriger. Die ver- chende Anatomie ver- g ohne die Entwicke- jgsgeschichte nicht zu klären, warum der ensch drei Gehörknö- helchen, der Vogel nur nen besitzt. Die Entwik- elungsgeschichte zeigt, dass aus dem Material, elches beim Menschen u Hammer und Amboss 2 erwendet wird, beim

chädeltheile hervor- gehen, die mit dem

rate wenig

_ odernichts zu thunhaben.

chichte, welche den Aufbau des Organismus ar veschreibt, ist Schritt ir, Schritt eine Leuchte Y de vergleichende Ana- mie. Auch sie bleibt ' sich auf dem Range X ner blos beschreibenden Disciplin stehen. Wenn wir nun aber wahrneh-

re mit den unter sich verschmelzenden Mittelfuss- eilen verwächst. Erst damit ist die richtige Auf-

ogel ein paar andere

nicht die Ursache des Pioibestände: gegeben. Fol-

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10 - Stellung der Paläontologie. Entwickelung Zustände durchläuft, welche in den aus- gewachsenen Formen der niedrigen Wirbelthiere fixirt bleiben, so werden wir damit auf einen vor der Hand

geheimnissvollen Zusammenhang der Entwickelung des Individuums mit dem Gesammtbestand der Thierwelt

hingewiesen, der eine wissenschaftliche Lösung, eine Zurückführung auf Ursachen verlangt, und dies um so dringender, als eine dritte Reihe von Erscheinungen, deren erste Bewältigung ebenfalls der Naturbeschrei-

bung angehört, diese noch unenthüllten Beziehungen noch wahrscheinlicher macht. Das ist der Befund der

Vorwelt.

Zur unerlässlichen Grundlage, auf der wir operiren, gehört also auch Kenntniss der paläontologischen That- sachen. Die Geologie ist vor vierzig Jahren in das richtige Fahrwasser gebracht worden. Wir wissen jetzt, dass die Erde nicht ruckweise, sondern in ganz all-

mählicher Aus- und Umbildung entstanden; wir dür-

fen, ja wir müssen schliessen, dass das Leben zu

einem gewissen Zeitpunkte der Abkühlung auf natür- lichem Wege, d. h. ohne einen unbegreiflichen Schöpfungs-

act erschien, und wir sehen während jener langsamen

Veränderung der Erdrinde auch die Lebewesen allmäh-

lich anwachsen, sich specificiren und vervollkommnen.

Noch mehr! Wie zuerst einer der eifrigsten Gegner der Descendenztheorie, Agassiz, im einzelnen über-

zeugend nachgewiesen: wir erblicken die paläontolo- gischen oder historischen Reihen der Organismen in

ähnlicher Aufeinanderfolge, wie die Entwickelungs- phasen des Individuums. Noch sind hier ungeheuere Lücken durch spätere Beobachtung auszufüllen, wenn

nicht überhaupt an vielen Enden an diesem Gelingen

zu verzweifeln ist. Dass der paläontologische Ent-

wickelungsgang aber im allgemeinen der bezeichnete ist, suchen nur solche Naturforscher zu bestreiten,

welche, wie Barrande, seit Jahrzehnten in uner- schütterlichen Ueberzeugungen wie ım Glauben an Dogmen sich festgefahren haben.

Su Lei

Wesen der Descendenzlehre, 11

Diese aufeinander hindeutenden Gruppen von That- sachen muss natürlich derjenige einigermassen. über- sehen, der sie verstehen will. Mit andern Worten, _ wir müssen erst eine Umschau über dieses ungeheuere Material halten, ehe wir uns mit der Zauberformel beschäftigen können, welche dasselbe sichtet und zum . _ WVerständniss bringt. Gross ist das Mühen, aber auch herrlich der Lohn! Denn das dem menschlichen Geiste _ inne wohnende Verlangen nach der Erkenntniss der Ursachen, das Causalitätsbedürfniss, wird bezüglich der Welt der Organismen einzig und allein durch die Descendenzlehre gestillt. Wir halten sie noch nicht für vollkommen, sie bleibt uns in vielen speciellen Fällen noch die Antwort schuldig, sie erfüllt aber ım ganzen, was irgend eine geniale Theorie gethan: sie erklärt aus einem Princip jene grossen Erscheinungs- reihen, welche ohne sie Anhäufungen von unbegriffenen Wundern bleiben. Sie macht überhaupt erst die or- ganischen Naturwissenschaften zur Wissenschaft. Gar vieles nennt sich noch heute Wissenschaft, was nur handwerksmässig erworbenes Wissen ist. Indem aber die Descendenzlehre das Leben umfasst, kann sie vor

| dem Menschen nicht stehen bleiben. Selbst wenn man - über den Ursprung der Sprache unklar wäre oder so- ri gar die gänzliche Unwissenheit über diesen Punkt zu- gestehen müsste, so dürfte man aus dem Vorhandensein

der Sprache nicht die Unanwendbarkeit der Abstam- mungslehre auf den Menschen herleiten, ohne, wie uns scheint, die Kette der Verstandesoperationen willkür- lich abzubrechen.

Ei Hier nun kehren wir zu der oben bezeichneten Vor- -- frage nach: den Grenzen der Naturforschung zurück. = Sie ist um so wichtiger, als der Naturforschung oft 3 von unbefuster Seite der Vorwurf der Grenzüber- _ schreitung gemacht wird. Der Leichtsinn der Logik, _ mit welcher diese Vorwürfe der grossen Menge plau- _ sibel gemacht werden, übersteigt alles Erlaubte. Wir

schlagen z. B. die „Apologetischen Vorträge über die

12 Naturforschung und Wunder.

Grundwahrheiten des Christenthums“ von Luthart auf und sehen, wie dieser Mann die Wirklichkeit der Wunder verficht. ‚Die Wunder“, sagt er, „sind nicht 3 einmal Wunder! Es ist nicht inınal an dem, dass Br das Wunder die Naturgesetze selbst aufhebt, sonder =

> es entnimmt nur a Vorgänge jenen Gesetzen e> und stellt sie unter das Gesetz eines höhern Willens und einer höhern Kraft. Wir haben im niedern Ge- biete viele Analogien dafür. Wenn mein Arm einen

Stein in die Luft schleudert, so ist das wider die

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Natur des Steins und nicht eine Wirkung des Gesetzes der Anziehung, sondern es tritt eine höhere Kraft und “3 ein höherer Wille ein, .der Wirkungen hervorbringt, welche nicht Wirkungen der niedrigen Kräfte sind. Damit werden diese Kräfte und Gesetze nicht aufge- hoben, sondern bleiben bestehen.“ Verweilen wir hier einen Augenblick. Zu sagen, es sei wider die Natur des Steins, dass die Muskelthätigkeit für einige Mo- mente scheinbar die Schwere überwindet, ist ein phy-> sikalischer Unsinn. Der Stein bleibt eben schwer und durchaus innerhalb seiner Natur, auch während er in der Wurfbewegung sich befindet, und es ist völlig un- gerechtfertigt und sophistisch, von der Muskelkraft als einer höhern Kraft der Schwere gegenüber zu

faseln.. Wenn der Stein zwei Centner wiegt, wo bleibt

denn da die höhere Kraft? Nachdem aber der Ver-

treter des Uebernatürlichen seine Hörer durch diese

ganz verwerfliche Analogie irre geführt und vorbereitet hat, fährt er fort: „So tritt beim Wunder eine höhere Causalität wirkend ein und ruft eine Wirkung hervor, welche nicht Wirkung des Zusammenhangs jener nie- drigern Causalitäten ist, wohl aber nachher diesem Zusammenhange sich fügt. Diese höhere Causalitätt aber fällt im letzten Grunde zusammen mit den höch- sten sittlichen Zwecken des Daseins. Ihnen zu dienen ist der höchte und schönste Lauf der Natur. Steht also das Wunder hiermit im Zusammenhange, ist es sittlich bedingt und nicht willkürlich, so ist es nicht

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Wahrheit und Wissen. 13 _ wider die Natur und ihre Bestimmung, sondern im _ höhern Sinne derselben gemäss.“ Sobald also die - Wundergläubigkeit mit der Naturforschung in Conflict _ geräth, sagt sie: „Du überschreitest deine Grenzen _ und hast dein Urtheil hier zu suspendiren. Es han- delt sich um einen höhern sittlichen Zweck, das Ge- biet der Ethik ıst höher als das der Physik, und des- halb hat eine höhere Causalität, deren Beurtheilung _ nicht Sache der Physiker, die euch Naturforschern geläufige Verkettung von Ursache und Wirkung auf- gehoben.“ Jene Stelle!, worin einer der gelehrtesten - und verehrtesten Vertheidiger des Wunderglaubens trotz einem Sophisten die Naturforschung über ihre Grenzen belehrt, gehört noch zum Glimpflichsten, was in die- _ ser Art geleistet wird. Unsere Anschauungsweise und Logik ist aber darin fundamental von derjenigen der Gegner dieses Schlages verschieden, dass uns der - Gegensatz zum Wissen das Nichtwissen ist, während jene das Wissen durch ein sogenanntes höheres Wissen und durch den Glauben ergänzen.

Indem man sich an den Ausspruch eines Picus von Mirandola hält: „die Philosophie sucht, die Theologie findet, die Religion besitzt die Wahrheit“ ?, vergisst

man, dass Wahrheit und Wahrheit sehr verschiedene _ Dinge sind. Die subjectiven Gesichte und Tonempfin- ' dungen, von denen Geisteskranke erregt und geängstigt _ werden, sind für sie Realität, und "doch eine ganz _ andere, als die Bilder und Töne, die man mit gesun- den nn eswerkzengen anne. Philosophie und 2 Wissenschaft adchen die Wahrheit, welche sich aus _ dem erfassbaren Zusammenhange der Dinge ergibt. _ Die andern Wahrheiten, Nele die erste so oft negi- 3 ren, pflegen aber unfassbar zu sein und sind zu den enschaftlichen Wahrheiten incommensurabel. Wir e es daher bei Goethe’s Worten: B: Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, m Hat auch Religion;

Wer jene beiden nicht besitzt, Der habe Religion.

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14 Grenzen der Forschung.

Und nun, nachdem wir unberufene Einwendung und

Gefecht mit zweideutigen Begriffen vorläufig abgewie- sen, können wir uns die Grenzen der Naturwissen- schaft ruhig ansehen. Halten wir uns dabei einmal an den mit grossem Beifall aufgenommenen Vortrag,

welchen der Physiolog Dubois-Reymond bei der 50. Versammlung der deutschen Naturforscher und

Aerzte hielt. Es wurde darin auf eine Stelle aus einem der classischen Werke von Laplace in der Einleitung zur Theorie der Wissenschaft hingewiesen, die wir uns nicht versagen können vollinhaltlich mitzutheilen. Der Verfasser der Mechanik des Himmels sagt: „Die gegen-

wärtigen Ereignisse sind mit den vergangenen durch

ein Band verknüpft, welches auf dem augenschein- lichen Princip beruht, dass ein Ding nicht anfangen kann zu sein, ohne eine Ursache, welche es hervor-

bringt. Dieser unter dem Namen des Principes von

der ausreichenden Ursache bekannte Grundsatz dehnt sich auch auf solche Ereignisse aus, die man für nicht davon berührt hält. Auch nicht der freieste Wille kann ohne ein bestimmendes Motiv sie hervorrufen.“ „Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Welt- alls als die Folge seines frühern Zustandes und als die

Ursache des folgenden betrachten. Ein Geist, der für

einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennte, welche die Natur beleben, und das gegenseitige Verhältniss der dieselben zusammensetzenden Wesen, ein Geist, der ausserdem eine hinreichende Fassungskraft besässe, um alle jene Thatsachen der Analyse zu unterziehen, würde die Bewegungen der grössten Weltkörper und die des leichtesten Atomes unter eine Formel bringen

können: nichts wäre für ıhn ungewiss, und die Zu- kunft wie die Vergangenheit läge offen vor seinen

Augen. Der menschliche Geist bietet in der Vollendung, welche er der Astronomie zu geben verstanden hat, ein schwaches Abbild jenes Geistes dar.“ „Alle An- strengungen des menschlichen Geistes in dem Suchen nach Wahrheit gehen darauf hin, sich jenem soeben

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Naturwissenschaftliches Erkennen. 1

_ von uns dargestellten Geiste zu nähern; er wird aber immer unendlich von ihm entfernt bleiben.“ Der ber- liner Physiolog eitirt hierzu das Faustische: „du gleichst _ dem Geist, den du begreifst“, und meint, dass dem g Er schliechen Geiste also nicht principiell de Einsicht in die Weltformel verschlossen sei. Wir gestehen aber, dass uns an einer principiellen Vollkommenheit, die Er in die Erscheinung tritt, herzlich wenig gelegen ist, und sehen jedenfalls in der Unerreichbarkeit jener = Ebelhaften Weltformel eine leicht zu verschmerzende i Grenze der menschlichen Forschung. Aber abgesehen von dem zweifelhaften Troste mit der Weltformel wer- * den wir Dubois-Reymond beistimmen müssen, wenn _ er die Grenzen, vor welchen jene höchste denkbare ae Halt machen muss, auch für den mensch- lichen Geist als unübersteiglich hält. , In Uebereinstimmung mit den jetzt herrschenden Ansichten der Physiker und Biologen hat Dubois- Reymond diese eine der Naturforschung gezogene Grenze dahin formulirt®: „Das oben näher bestimmte naturwissenschaftliche Erkennen ist kein wahres Er- kennen. Beim Versuche, das Constante, worauf die Veränderungen in der Körperwelt zurückgeführt sind, zu begreifen, stösst man auf unlösliche Widersprüche. Ein Atom, als kleine, untheilbare, wirkungslose Masse gedacht, von der Kräfte ausgehen, ist ein Unding. In der Unmöglichkeit, das Wesen von Materie und ; Kraft zu begreifen, liest also die eine Grenze des 8: naturwissenschaftlichen Erkennens.“ Diese Sätze be- %: dürfen einiger Erläuterungen. Ueber die Ir

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En Mestoklerrd denken. Dieser Atome hat man nach dem jetzigen Standpunkt der Wissenschaft so viele

verschiedene Arten anzunehmen, als chemisch nicht & weiter zerlegbare einfache Stoffe bekannt sind. Es

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ist nun kein Zweifel, dass diese Atome im eigentlich- - sten Sinne des Wortes imaginäre, hypothetische Grössen

16 Begreiflichkeit des Draaseen

sind, wie denn die Theorie darauf zu leiten scheint, dass aller Materie in den verschiedensten Erscheinungs-- weisen der Körperwelt nur eine einzige Atomenart zu Grunde läge. Man kann sich in einem jeden Lehr- buch der Physik oder’ Physiologie überzeugen, dass, um die Eigenschaften dieser Atome und ihrer Verbin- dungen zu Bestandtheilen zusammengesetzter und che- misch zerlegbarer Körper sich klar zu machen und zu berechnen, man sie unter verschiedenen körper- lichen Gestalten, kugelig, kubisch u. s. w. bildlich darstellt, ferner, dass man sie in ihrem Zusammen- treten und Zusammenwirken als Körper umgeben den- ken muss von einer minimalen Atmosphäre eines all- verbreiteten Aetherstoffes. Allein das Atom an sich und damit das Wesen der Materie ist etwas unvor- stellbares, unerreichbares. Es inhäriren diesen Atomen Kräfte, welche sich in Anziehungen und Abstossungen, überhaupt in Bewegung äussern. Was aber die tiefste Ursache dieser Bewegungen und inwiefern diese Be- wegungen mit der Existenz der Atome gleichsam Eins sind, gehört mit zur Unbegreiflichkeit des Stoffes. „Setzen wir uns darüber fort“, sagt Dubois-Rey- mond weiter, „so ist das Weltall zunächst begreiflich. Auch durch das Auftreten von Leben an sich auf Erden wird es noch nicht unbegreiflich. Denn Leben an sich ist vom Standpunkte der theoretischen Natur-- forschung betrachtet nichts als Anordnung von Mole- keln in mehr oder minder festen Gleichgewichtslagen, und Einleitung eines Stoffwechsels theils durch deren Spannkräfte, theils durch von aussen übertragene Be- wegung. Es ist ein Misverständniss, hier etwas Super-- naturalistisches zu sehen.“ Dieser Punkt pflest am heftigsten bestritten zu werden. Wenn man alle Be- wegungen und Ruhezustände der unbelebten Welt der Erklärung preisgibt: mit des Lebens Grunde soll das Unerklärliche beginnen. Was man mit dieser Annahme der Urtheilskraft zumuthet, lässt sich mit den Worten eines andern gediegenen und besonnenen Physiologen,

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ialsmaue. Mechanische Auffassung. _ 17

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F zu folgender Frage formuliren: „Ist die arakteristik eines solchen Theilchens, wie sie vorhin

noch gültig und zureichend, während welcher es in einem Organismus verweilt? Wird also z. B. die Bewegung _ eines Sauerstofftheilchens durch ein benachbartes Wasser- 3 ‚stofftheilchen noch nach denselben Gesetzen beeinflusst und verändert, wenn beide oder eins davon Theil eines Örganismus ist, wie ausserhalb?‘ Wenn man dies verneint, Dekdans man sich zur vitalistischen _ Lebensauflassung, das heisst, man nimmt seine Zuflucht _ zu unbekannten, ganz Vi der Materie liegenden 2 "Kräften, man gibt zu, dass ein und dasselbe Theilchen, ‚Je nachdem es innerhalb oder ausserhalb des Organis- mus sich befindet, seine Natur ändern könne, mit an- £ _ dern Worten: man statuirt ein Wunder. Wägt man _ diese Ansicht gegen die physikalische ab, „welche in ihrer Vollendung jeden organischen Process zu einem _ Problem der reinen Mechanik macht“, so kann man dies mit den gewiss unparteiischen Worken des eben citirten Naturforschers thun: „Ich glaube, die mecha- nische Ansicht vom organischen Leben ist erst dann bewiesen, wenn alle Bewegungen im Organismus wirk- lich aufgezeigt sind als Wirkungen der den Atomen _ auch sonst inne wohnenden Kräfte. Ebenso würde ich aber auch dann die vitalistische Ansicht für erwiesen - halten, wenn in irgendeinem Falle die mechanische möglichkeit einer bestimmten, im Organismus als wirk- lich bachteien Bewegung ip: wäre. Weder an das eine noch an das are ıst vor der Hand zu - denken. Gleichwol bekenne ich mich, wenn einmal ohne vollständigen Beweis entschieden werden muss,

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- ganz unbedenklich einstweilen zur mechanischen An- or

sicht. Sie empfiehlt sich nicht blos durch ihre grössere - Wahrscheinlichkeit und Einfachheit a pröori, sie wird _ vielmehr durch den Entwickelungsgang der Wissen- schaft fast zur Gewissheit. Wenn man sieht, wie ge- "wisse Erscheinungen man denke nur z. B. an die ScHuiDr, Descendenzlehre. 2

18 Wärme und Bewegung.

Bildung der thierischen Wärme, die man früher nicht ohne die Lebenskraft erklären zu können glaubte, jetzt selbst von solchen, die im allgemeinen eine eigen- thümliche Lebenskraft annehmen, den überall wirk- samen Kräften der materiellen Theilchen zugeschrieben werden, so sieht man sich fast zur Ueberzeu- gung gedrängt, dass nach und nach alle Er- scheinungen des Lebens einer mechanischen Erklärung zugänglich werden müssen.“ Fügen wir zur Erläuterung des eben gegebenen Beispiels von der thierischen Wärme hinzu, dass die neuere Physik die Wärme als eine besondere Art der Bewegung kennen gelernt hat. Die Bewegung des auf den Am- boss fallenden Hammers geht nicht verloren, sondern wird in die zwar unsichtbare, aber als Wärme fühl- bare Atomenbewegung der getroffenen Stellen umgesetzt. Aber auch die Vereinigung der Theilchen des in der Athmung des Thierleibes eingeführten Sauerstoffes mit gewissen sauerstoffarmen Blutbestandtheilen ist eine der Berechnung unterliegende Bewegung, welche als Oxydation, Verbrennung oder als Entwickelung der thierischen Wärme. sich äussert. Dieser chemisch- mechanische Act der ‘Verbrennung unterhält die thie- rische Dampfmaschine in Bewegung. Auf diesem Wege der Anwendung der mechanischen Principien hat also die neuere Physiologie eine grosse Anzahl von Vor- gängen im Organismus auf ihre Ursachen zurückgeführt; und das Gespenst Lebenskraft, welches sonst den ganzen Darmkanal beherrschte, die Drüsenzellen und Muskel- fasern zu ihrer Thätigkeit antrieb und an den Nerven hinglitt, weiss kaum noch, wo es sein Unwesen trei- ben soll.

Die Naturforschung scheut also nicht zurück vor der Einreihung des Lebens und der Lebensprocesse in die Welt des Begreiflichen. Wir scheitern erst am Begriff der Materie und der Kraft überhaupt. Wir sind aber viel weiter als Schopenhauer und seine Anhänger, die für den Begriff der Kraft den des

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. Bewusstsein. - 19

Eillens ei weil wir eine Menge von Vor- gängen, die das an sich unverständliche Wort ‚Wille‘

in ihrer Ganzheit erklären soll, in ihre einzelnen sich u Momente aufgelöst haben, und auch viel

weiter als der Modephilosoph von heute, v. Hartmann,

_ der auf dem Gebiete der organischen Welt mit den

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Wirkungen des „Unbewussten‘‘ uns abspeist.

„Und doch“, so formulirt Dubois-Reymond, eine abermalige Grenze, „tritt ein neues Unbegreifliches ein in Gestalt des Bewusstseins, auch schon in seiner nie-

dersten Form, der Empfindung von Lust und Unlust. Es ist ein für allemal unbegreiflich, wie es einem Haufen Molekeln, Stickstoff, Sauerstoff, Wasserstoff, Kohlenstoff, Phosphor u. s. w. nicht gleichgultie sein _ kann, wie sie liegen und sich ‚bewegen; hier ist also

die ie re naturwissenschaftlichen Erkennens.

Selbst der von Laplace gedachte Geist kann nicht

darüber hinaus, geschweige der unserige. Ob übrigens die beiden, dem naturwissenschaftlichen Erkennen ge- zogenen Schranken vielleicht nur eine und dieselbe sind, lässt sich nicht entscheiden.“ Mit diesen letzten Worten wird die Möglichkeit angedeutet, dass das Bewusstsein ein Attribut der Materie sei oder zur Wesenheit der Atome gehöre. Und da dürfen wir

denn hinzufügen, dass der Versuch, den Empfindungs-

process zu verallgemeinern und als eine allgemeine Eigenschaft der Materie darzulegen, in neuester Zeit wiederholt gemacht ist, so von Zöllner in seinem, so gerechtes Aufsehen erregenden Werke über die Natur der Kometen. Derselbe meint, wenn man vermöge feiner ausgebildeter Sinnesorgane die Molecularbewe- _ gungen in einem Krystalle beobachten könnte, wenn

derselbe an irgend einer Stelle mechanisch verletzt wird,

- so würde man nicht unbedingt verneinen können, dass _ die hierdurch erregten Bewegungen absolut ohne gleich-

zeitige Erregung von Empfindungen stattfinden. Man

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müsse entweder verzichten auf die Begreiflichkeit des Empfindungsphänomenes in den Organismen, oder „die

2*F

20 Empfindung ein Attribut der Materie.

allgemeinen Eigenschaften der Materie hypothetisch um

eine solche vermehren, welche die einfachsten und elementarsten Vorgänge der Natur unter einen gleich- mässig damit verbundenen Empfindungsprocess stellt.‘

Man könnte meinen, dass man mit derartigen Be- % trachtungen an die trügerischen Abgründe der Specu-

lation geleitet würde; wenn wir aber, um bei den Organismen zu bleiben, von den durch die Lust- oder Unlustempfindungen geleiteten Aeusserungen des höhern

Bewusstseins des Menschen und der höhern Thiere

immer tiefer hinabgehen, bis wir bei den einfachsten Protoplasmageschöpfen alle Reaction auf äussere Reize

sich in kaum wahrnehmbare Bewegung verlieren sehen,

so ıst klar, dass hier weder von einem Bewusstsein, noch von einem Willen die Rede sein kann. Wir

können da den Begriff der zu den Bewegungen an- regenden Lust- oder Unlustempfindungen nicht loslösen

von den Elementareigenschaften der Materie, wie wir dies im Gebiete der höhern Thiere zu thun gewohnt sind’.

Ganz in diesem Sinne hat schon vor mehreren Jah-:

ren einer der genialsten Sprachforscher, der leider

schon dahingegangene Lazarus Geiger gesagt‘): „Aber

wie, wenn weiter hinab, wenn jenseit der Ner- venwelt eine Empfindung vorhanden wäre, die wir nicht mehr verstehen? Und es muss wol so sein.

Denn so wenig wie ein Körper möglich wäre, den wir fühlen, ohne dass er aus Atomen bestände, die wir

nicht fühlen; und so wenig wir eine Bewegung sehen könnten, wenn sie nicht von Lichtwellen begleitet wäre, die wir nicht sehen: ebenso wenig würde in .einem complicirten lebendigen Wesen eine Empfindung zu

Stande kommen, so stark, dass wir sie infolge der Bewegung, durch die sich Bussert, mitempfinden, wenn nicht in den Elementen, in den Atomen etwas Aehn- liches, nur weit Schwächeres vor sich ginge, was sich uns entzieht. Man bedenke nur, dass wir ebenso wenig wissen können, dass der fallende Stein nichts empfindet,

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Eu. ‚dass er empfindet: es steht uns also die Entschei- dung nach der Seite der grössern Wahrscheinlichkeit, & der Erklärlichkeit des Weltganzen, völlig offen.“

Br! Wir haben die Grenzen, welche sich die Natur- forschung zieht, begangen. "Weit gefehlt, dass das Ei Organische sich als ein unbegreifliches Etwas vor uns SR aufrichtete, ladet es vielmehr zur Ergründung seines Wesens ein und verspricht noch Licht zurückzustrahlen auf die Welt des Unlebendigen. Wir dürfen nun den _ Rundgang durch einen grossen Theil der lebendigen = Natur antreten, bei dessen Beendigung wir zu dem- selben Resultate gelangt sein werden, welches sich - auch dem Sprachforscher wir citiren nochmals seine Worte mit unumstösslicher Gewissheit aus histori- = schen Betrachtungen ergeben: dass der Mensch aus einer niedrigern, thierischen Stufe emporgestiegen sei.

Er». II. Die Thierwelt in ihrem gegenwärtigen Bestande.

Um der Descendenzlehre näher zu treten und das Be- _ dürfniss nach derselben vorzubereiten, haben wir uns = vorgenommen, zunächst einen Haupttheil ihres Objectes, = ‚den gegenwärtigen Bestand der Thierwelt in allge- = meinen Zügen uns vorzuführen. Die er unter-

> heinungen, welche an die rer che Auf- re nahme und Abgabe von Stoffen gebunden sind. Die Theilchen, an welchen die Umwandlungen, in letzter _ Instanz Molecularbewegungen, daher berechenbar, be- stimmbar, der Untersuchung zugänglich, ablaufen, be-

finden ie im Zustande der Quellung, das heisst, sind durchtränkt mit Wasser und wasserhaltigen Flüssig- _ keiten, und dieser, obwol eigenthümliche, doch rein

22 Organismus. Niedere Lebewesen.

mechanische Zustand reicht aus, um die Nothwendig- keit einer Reihe von Erscheinungen des Lebens zu erklären und zu verstehen. Die Erfahrung lehrt, dass diese Quellbarkeit und Beweglichkeit wesentlich an den Verbindungen des Kohlenstofis haftet, und eben die Summe jener Bewegungen und Umsetzungen, von denen ein grosser Theil schon der mathematisch sichern

Erforschung zugänglich gewesen, wird Leben genannt.

Man kann sich’nun des Eindruckes gar nicht erwehren, dass es einfache und zusammengesetzte, niedere und höhere Lebewesen gibt; auch fühlt man mehr, als dass man ihn in Worte fassen kann, einen gewissen Gegensatz zwischen Pflanze und Thier. Poetisch auf- gefasst ıst die Pflanze der passive Organismus, wie ihn Rückert schildert:

Ich bin die Blum’ im Garten

Und muss in Demuth warten, Wann und auf welche Weise

Du trittst in meine Kreise.

Der Gegensatz der duldenden, in sich gekehrten Pflanze zu dem seiner Haut sich, wehrenden, handeln- den Thiere verliert aber an Schärfe, je tiefer wir die Stufenleiter beider Reiche hinabsteigen. Das höher entwickelte Thier bekundet seine Thierheit durch die Lebhaftigkeit, mit welcher es gegen äussere Einwir- kungen und Reize reagirt. Die Lebenserscheinungen niederer Thiere werden mehr vegetativen Charakters, und bei vielen Gruppen niederer Wesen, welche Haeckel neuerlich unter dem Namen Protisten zusammen- gefasst hat, sehen wir zwar die Processe des Stoff- wechsels, der Ernährung und Fortpflanzung ablaufen, aber in so einfacher und indifferenter Weise, dass wir diesen Wesen auch eine indifferente Stellung zwischen Pflanzen und Thieren anweisen müssen. Wir gewinnen die Ueberzeugung, dass die Wurzeln von Pflanzen- und Thierreich nicht voneinander völlig gesondert sind, sondern, um im Vergleich zu bleiben, durch Ver-

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Protisten. 93

& mittelung eines Zwischengeflechtes unverkennbar inein- _ ander übergehen. In diesem Mittelreiche ist der viel- - verspottete „Urschleim‘“ der Naturphilosophen wieder

zu Ehren gekommen. Viele tausend Kubikmeilen Meeresboden bestehen aus einem seifig anzufühlenden Schlamm oder Schlick, zusammengesetzt theils aus offenbar erdigen, unorganischen Theilen, theils aus eigenthümlich geformten, ihrem Wesen nach vielleicht

noch zweifelhaften Kalkkörperchen (den Coccolithen

und Rhabdolithen), endlich, was die Hauptsache, aus

_ einer eiweissartigen Substanz, welche lebt. Dieser

lebende Schleim, der sogenannte Bathybius, zeigt nicht einmal Individualität oder Abgeschlossenheit des Einzelwesens, er gleicht den formlosen Mineralsub- stanzen, von denen jedes Partikelchen die Merkmale

der Gesammtmasse an sich trägt.

Der Begriff des Organismus, als des aus verschie- denen Theilen mit verschiedenen Leistungen oder Funetionen zusammengesetzten, unter bestimmter sich entwickelnder Form erscheinenden Wesens, ist unserm Zeitalter noch so anerzogen und inhärent, dass wir uns nur mit grosser Anstrengung in die Vorstellung der absolut formlosen und unbegrenzten oder zufällig und willkürlich begrenzten lebendigen Masse hinein- versetzen können, Wer dies nicht kann und will, halte sich an ein anderes einfaches Lebewesen, z. B. Haeckel's „Protamoeba“ Ein Eiweissklümpchen wächst durch Nahrungsaufnahme und Stoffaneignung

bis zu einem gewissen Umfange; dann pflanzt es sich

fort, indem es sich in zwei Hälften durchschnürt. Für unsere Beobachtungsmittel sind diese und ähnliche Wesen die einfachsten Organismen ohne Organe. Wir lassen jedoch, indem wir die Grenzen der Untersuchung, bedingt durch die unzulänglichen Beobachtungsmittel, betonen, Rollet's Einwurf gelten’, dass unser Ver- stand solche homogene Organismen, welche nur ver- möge ihrer atomistischen Constitution sämmtliche Lebensfunctionen vollziehen, eigentlich nicht zugeben

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94 Protisten.

kann, dass es sich um den noch gänzlich unbekannten Bau der aus dem Zusammentritt der Atome hervor- gehenden Molecüle handle, und dass wir, wenn Brücke sagt: „Wir müssen den lebenden Zellen, abgesehen

von der Molecularstructur noch eine in anderer Weise complicirte Structur zuschreiben, und diese ist es,

welche wir mit dem Namen Organisation bezeichnen“,

dass wir diese uns noch unbekannte Zusammensetzung

auch den Haeckel’schen Moneren zuschreiben müssen.

Aber diese Complication der Molecularstrucetur bei- seite ist es für die Erforschung der belebten Natur von höchster Wichtigkeit, solche für das bewaffnete Auge und die anatomischen Hülfsmittel einfachste Kör- per kennen gelernt zu haben. Die Substanz, welche ihnen ihr Gepräge verleiht, findet sich sowol in den Pflanzen als in den Thieren wieder, und Pflanzen und Thiere sind uns nun zwei Klassen von Organismen, in denen die Vorgänge der Selbsterhaltung und der Fort- pflanzung durch die Sonderung der ursprünglich homo- genen Substanz in verschiedene Formgebilde und Or- gane nach verschiedenen Seiten hin den Charakter einer höhern Zusammensetzung und Ausbildung an- genommen haben.

Da wir noch Gelegenheit haben, uns über die An- fänge des thierischen Lebens und seine Berührungs- punkte mit den Protisten und Pflanzen auszusprechen, wollen wir uns aus dem Felde der Grenzstreitigkeiten gleich mitten in die Fülle der Thierwelt versetzen, um sie sichtend und ordnend zu bewältigen. Dem ersten Eindruck der unendlichen Mannichfaltigkeit folgt ein anderer, dass es niedrige und höhere Thiere gibt. Es herrscht darüber voller Einklang. Denn wenn man auch in, für uns ungültiger, teleologischer Betrachtung der Natur jedes Geschöpf an sich vollkommen, d. h. seinem Zweck oder seiner Idee entsprechend, nennen wollte, so nimmt jedermann es als etwas Gegebenes

und Selbstverständliches hin, dass eine Werthscala

besteht, ohne sich über das Mass, wonach dieselbe

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Niedere und höhere Thiere. 5

steigt und sinkt, Rechenschaft zu geben. Indessen _ wird dieser Masstab sich bei einer Vergleichung eines

_ niedern mit einem höhern Thiere bald herausstellen.

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Greifen wir den Süsswasserpolypen und die Biene heraus. Das einige Linien lange Thierchen, welches in un-

_ sern Gewässern gewöhnlich an Pflanzen angeheftet lebt, ist ein Schlauch, dessen Wandungen aus zwei Zellenlagen, einer Muskellage und einem sogenannten

Stützblatt bestehen, welches letztere dem Ganzen Zu- sammenhalt gibt und einem Skelet vergleichbar ist. Vier bis sechs ebenso gebaute Arme umstehen den Mund. In der Oberflächenschicht des Körpers befin- den sich zahlreiche nesseinde Bläschen, durch deren Berührung die in das Bereich des Polypen gerathenden kleinern Thierchen betäubt werden, sodass er sie leicht als Beute bewältigen kann. Das ist in kurzem der Bau dieses Thieres. Es hat kein ‚.Adersystem, keine besondern Athmungswerkzeuge, die Rolle der Nerven und Sinnesorgane wird durch die einzelnen Theile der Oberfläche übernommen. Seine Fortpflanzung bewerk- stelligt sich gewöhnlich durch das Hervorsprossen von Knospen, welche gereift abfallen; zeitweise auch durch die Producte sehr einfacher Geschlechtsorgane. Hiergegen reichen Stunden nicht aus, den Bau einer Biene zu beschreiben. Schon von aussen "verspricht

ihr vielgegliederter Körper eine reiche Entfaltung des

Innern. Ihre Fresswerkzeuge können erst durch Ver- gleichung mit den Mundtheilen der gesammten In- sektenwelt verständlich gemacht werden. Die ver- schiedenen Abtheilungen des Ernährungskanales wer- den je von besondern Drüsen begleitet. Das reiche

- Seelenleben aber, all das von Auffassung der äussern

Situation, Verständniss und Berechnung zeugende Trei- ben wird durch ein höchst entwickeltes Nervensystem und die damit verbundenen, bewundernswerth com- plieirten Sinnesorgane, namentlich die Augen, ermög- licht. Abgesehen endlich von den aus vielerlei Haupt-

96 Systematischer Rang.

und Nebentheilen bestehenden Fortpflanzungsorganen Q erfsrdert die Vermehrungs- und Entwickelungsgeschichte ri der Biene ein Studium für sich. =

Es erscheint uns die Leistung und damit der Rang und Werth des Bienenkörpers um so viel höher, als diejenige des Polypen, als jener zusammengesetzter ist. Die grössere Complication und Mannichfaltiskeit der Theile liegt anatomisch vor, ebenso die höhere Ge- staltung des Lebens. Die höhere Energie des Daseins, die Leistungsfähigkeit und die Vollkommenheit der Biene im Gegensatz zur Aermlichkeit des Polypen ist ganz offenbar eine Folge oder richtiger ein Ausdruck der grössern mechanischen und physiologischen Ar- beitstheilung. Bei dem einen und dem andern Thiere verläuft das Leben in den Functionen der Selbst- erhaltung und der Erhaltung der Art oder der Fort- pflanzung, bei beiden ist der Kreis der Erscheinungen ein geschlossener, ein Ganzes, allein die Mittel der Ausführung sind sehr verschieden und darum auch der Gesammteffect. Wir haben aber in der Mannichfaltig- keit und Correlation der für die verschiedenen Lebens- äusserungen bestimmten Organe einen Masstab für den Rang der Thiere. Dieser Rang hat einen zwei- fachen Charakter, einen allgemeinen und einen spe- | ciellen. Mit andern Worten: der Platz eines Thieres R im System- wird einmal bestimmt durch die allgemei- nen Eigenschaften, welche es mit den in den Grund- zügen der Organisation übereinstimmenden Formen gemein hat, und zweitens durch die speciellern Kenn- zeichen, welche das Thier innerhalb seiner Stammes- verwandtschaft in Reihe und Glied stellen. Eine Einsicht in diese Gliederung des Thierreiches ist natür- lich unerlässlich, wenn man die Ursachen derselben prüfen und erkennen will; eine Darlegung davon ge- hört ganz eigentlich zu unserer Aufgabe.

Seit dem Ausbau der Zoologie durch Cuvier im ersten Drittheil unsers Jahrhunderts hat sich unsere Wissenschaft mit dem schon weit früher von Buffon

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eingeführten Ausdruck „Typus“ oder „Grundform“ ver- _ traut gemacht. Von Cuvier wurde nämlich zuerst E: durch umfassende Zergliederungen und Vergleichungen der Nachweis geliefert, dass die Thiere nicht, wie

man früher anzunehmen geneigt war, über einen Lei-

sten geschlagen, nach einer Schablone gebaut seien, _ sondern dass sie in mehrere grosse Haufen zerfielen, in deren jedem eine eigenthümliche Beschaffenheit, An-

“ordnung und Lagerung der Organe, kurz ein eigen-

thümlicher Stil zum Ausdruck käme. Man nannte sowol das Ganze dieser charakteristischen Besonderheiten, als die Gesammtheit der hierin vereinigten Arten einen „Iypus‘ Es herr- schen zwar über den Umfang mehrerer dieser Typen oder Stämme, wie wir sie schon jetzt nennen wollen, gegenwärtig noch verschiedene An- sichten, sehen wir aber von den zweifelhaften und vielfach verdäch- tigen Existenzen ab, die man grösstentheils als „Urthiere‘“ unter einen Hut bringt, so ist man über die folgende Zahl, weniger über die Reihenfolge der thierischen Typen als über diejenigen Gruppen einig, deren jede eine eigene Physiognomie und besondere Grundzüge des Baues besitzt.

Der Stamm der Cölenteraten umfasst die Polypen und Quallen, auch steht ihm die interessante und für den directen Beweis der Abstammungslehre höchst er- giebige Klasse der Schwämme oder Spongien am näch- sten. Die Organe dieser Thiere sind fast immer kreis- förmig um eine durch den Rücken- und Bauchpol gehende Axe gestellt. Die Höhlung, welche man den

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Ei 28 Die Stämme.

meisten andern Thieren als Leibeshöhle bezeichnet, ;

z. B. beim Menschen der Raum zwischen Darmwand und Leibeswand, mangelt ihnen, dagegen gehen in der Regel vom Magen aus allerlei Kanäle und Fächer, die in gewisser Weise die Leibeshöhle ersetzen. Fig. 2.

Eine Qualle, Tiaropsis diadema nach Agassiz. Die

dunkel schattirten Organe bilden den sogenannten cölenterischen Apparat.

Von den Stachelhäutern sind dem Leser gewiss wenigstens die Seesterne und Seeigel bekannt, deren Gestalt im allgemeinen auch eine strahlige zu sein pflegt. Ausser einer eigenthümlichenKalkablagerung oder geringern oder stärkern Verkalkung der Hautbedeckun- gen kommt ihnen als Stammescharakter ein System von Wasserkanälen zu. Von diesen aus werden die Reihen von Bläschen gespeist, welche vorgestreckt und sich ansaugend, als Bewegungsorgane dienen. Cuvier glaubte wegen des vorherrschenden strahligen Baues Stachelhäuter, Quallen und Polypen näher verwandt, und hat sie alle zusammen unter dem Namen Strahl- thiere eingeführt; allein diese Aehnlichkeit ist eine

nebensächliche, und wenn schon die Anatomie die

grosse Verschiedenheit der Cölenteraten und Stachel-

häuter aufdeckt, so verweist noch viel entschiedener

- die Entwickelungsgeschichte unsere Stachelhäuter aus jener Nähe und setzt sie in engere Beziehung zur folgenden Abtheilung. -

Mit dieser, den Würmern, hat der Systematiker der alten Schule sein wahres Kreuz, so verschieden- artig gehen sie auseinander, so gross ist der Abstand zwischen niedrigen und höhern Formen, so wenig bleibt nach Abzug der Ordnungs- und Klassenkennzeichen als gemeinsamer Charakter übrig, so buntscheckig end- lich ist die Schar vereinzelter kleinerer Thiergruppen und sogar einzelner Arten, welche Einlass begehren in das System der Würmer. Wenn wir ihr typisches Wesen in wenigen Worten auszudrücken versuchen, so "kann es etwa damit sein: die Würmer sind mehr oder

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weniger gestreckte symmetrische Thiere, welche keine

2 wirklichen Beine besitzen, sondern ihre Ortsbewegun- gen vermittelst einer mit den Hautbedeckungen eng werbundenen Muskulatur, die oft zu einem en

Muskelschlauch wird, ausführen. Wir wollen hinzu- fügen, dass die systematischen Wirrnisse und Schwie-

rigkeiten sich für den Anhänger der Descendenzlehre ın Quellen der Erkenntniss verwandeln.

Die Beziehungen des vorigen Stammes zum Typus der Gliederthiere liegen so auf der Hand, dass die

„Verwandtschaft‘‘ dieser beiden auch von den ältern

Zoologen nie angezweifelt worden ist. Schon der Name der einen, höchsten Abtheilung der Würmer, der Glie- derwürmer, hat dies Verhältniss bezeichnet. Das Ge- präge der Krebse, Spinnen, Tausendfüsse, Insekten besteht darin, dass ihr Körper sich aus scharf vonein-

‚ander abgesetzten Ringen oder Gliedern aufbaut, an

welcher Gliederung die Beine, Fühlhörner und Mund- werkzeuge theilnehmen. Ein getreuer Ausdruck dieser äussern Segmentirune ist die Form des Nervensystems, welches strickleiterartig am Bauche, d. h. unter dem Darmkanal liegt, und nur mit seiner vordersten Schlinge den Schlund umfasst. Das Hervortreten der Gliederung

wird dadurch begünstigt, dass durch Ablagerung einer

hornigen Substanz die Hautbedeckungen skeletartig er- starren.

Ganz das Gegentheil zeigen die Hautbedeckungen der Weichthiere, unserer Muscheln und Schnecken und.der Tintenschnecken. Denn so viele ihrer auch mit schützenden Schalen und Gehäusen versehen sind,

diese letztern sind doch nur blosse Absonderungen der

eigentlichen Haut, welche weich bleibt, eigenthümlich nass und schleimig infolge der Ausscheidungen zahl- reicher darin enthaltener Drüsen, und die Neigung hat,

sich in Falten- zu legen und eine mantelartige Hülle

um den Rumpf zu bilden. Dabei bleibt der Körper mehr oder weniger klumpenhaft, die Eleganz des Glie- derthieres, besonders des Insektes ist ihm fremd, es

30 . Gliederung in den Stämmen. a

fehlt ihm eben die Gliederung, und dieser Mangel kommt auch im Nervensystem zum Ausdruck. Es re- ducirt sich auf einen Schlundring und einzelne klei- ner Nervenmassen.

Am leichtesten verständigen wir uns über die Wir- belthiere, den Stamm, dem der Mensch sich untrennbar anschliesst. Wesentlich ist der Theil des innern, knöchernen oder knorpelig bleibenden Skelets, die Wirbelsäule, in welcher der Haupttheil des Ner- vensystems enthalten.

Es steht also fest, dass die Grundlage der syste- matischen Eintheilung des Thierreichs durch gewisse hervorstechende Eigenthümlichkeiten der Gestaltung und des innern Baues gegeben wird, und es ist sehr leicht, aus jedem Typus Formen herauszugreifen, um an ihnen die in der systematischen Diagnose zusammen- gefassten Kennzeichen in aller Vollkommenheit vor Augen zu legen. Hieran reiht sich aber unmittelbar eine weitere Beobachtung, diejenige der Gliederung innerhalb der Typen. Wenn wir oben Polyp und Biene miteinander verglichen und ihnen einen sehr verschiedenen Rang anweisen mussten, so kommt ein

Theil dieses Stufenunterschiedes allerdings auf die Stammesverschiedenheit; allein auch die durch die

Stammeseigenthümlichkeiten zusammengehaltenen For- men gehen weit auseinander, und die Systematik spricht von niedrigen und höhern Klassen innerhalb der ein- zelnen Typen, von niedrigen und höhern Ordnungen innerhalb jeder Klasse. Das Urtheil wird hierzu durch dieselben Betrachtungen gezwungen, welche sich uns beim Vergleich von Polyp und Biene aufdrängten. Warum steht die Muschel niedriger als die Schnecke? Weil sie noch keinen Kopf hat, weil ihr Nervensystem nicht so concentrirt und voluminös ist, weıl ihre Sinnesorgane mangelhafter sind. Das Baumaterial ist bis zu einem für die Ausbildung des Typus ausrei- chenden Masse da wıe dort vorhanden, in der Schnecke ist es aber mehr entfaltet, und schon der einzige Um-

ORSER RERE TR, dr Vi je

| Baumförmige Gruppirung. 31

stand des Aneinanderrückens verschiedener Theile zum

Kopf verleiht der Schnecke ein höheres Ansehen. Es ist unnöthig, diese Abstufung innerhalb der Stämme mit mehr Beispielen zu erläutern; der oberflächlichste Vergleich eines Fisches mit einem Vogel oder Säuge- thiere, eines Schmarotzerkrebses mit dem Flusskrebs oder einem Insekt zeigt, dass, wie die ältere Zoologie sich ausdrückte, die Grundpläne oder „idealen Typen‘ in sehr ungleicher Weise in den realen Formen zum Ausdruck kommen.

Ein weiteres Ergebniss dieser beschreibenden For- schung ist die baumförmige Gruppirung der Stammesgenossen. Auch das Verhältniss der Stämme zueinander kann man nicht in einer einfachen Linie schematisiren, indessen kam es hier früher mehr auf allgemeine Andeutungen über den Werth des einen zu den andern Typen an. Dagegen war die beschrei- bende Zoologie schon lange genöthigt, Verwandtschafts- tabellen für die systematischen Unterabtheilungen bis auf die Arten hinab nach dem Kriterium der anatomi- schen Vollkommenheit zu entwerfen, und diese fanden nur in dem Bilde vielverzweigter Bäume ihren Aus- druck. Es traten Aeste hervor, welche nach kurzer Erstreckung endigen, andere sind langgezogen mit zahlreichen Nebenästen, in jedem Ast kommen gewisse eigenthümliche Erscheinungen und Reihen zur Geltung. Man versuche es beispielsweise mit den Wirbelthieren. Schon mit den Fischen kommen wir in grosse Ver- legenheit: welche von ihnen sollen wir als die höchsten ans Ende setzen? Wir mögen aber nehmen, welche wir wollen, die Haie oder unsere Knochenfische, die Amphibien schliessen sich nicht linear an, auch geht die verlängerte Astlinie der letztern nicht, wie man den- ken könnte, in die Reptilien über. Die Vögel ihrer- seits setzen scharf gegen die Säugethiere ab; und dieses Spalten und Auseinandergehen erstreckt sich auf alle Unterabtheilungen. Wir haben schematisch darzustellen Familienzweige, Gattungsbündel, Arten-

ELENA EEE ET EEE RE 32 Wandelbarkeit der Charaktere.

büschel, und die letztern zerfasern sich in den Unter- arten und Varietäten. Mit diesem Bilde der baum- förmigen Gliederung des Systems wird man gern noch einmal zur Vergleichung von Gliedern verschiedener Typen hinsichtlich ihres Leistungswerthes zurückkehren.

Die Biene an sich ist offenbar ein viel complicirterer

Organismus als das niedrigste fischartige Thier, der Lanzettfisch, und wir vergleichen in diesen beiden eine niedere Form eines höhern Typus mit einer höhern

Form eines niedern. Varırt und combinirt man diese

Art von Vergleichungen und berücksichtigt man die Anknüpfungspunkte der verschiedenen Typen unter- einander, auf die wir sogleich hinzuweisen haben, so vervollständigt sich das Bild der systematischen Bäume zu einem grossen Baume, als dessen Hauptäste die Typen hervortreten.

Wären die Systematiker der alten Schule mit der Erschaffung der Pflanzen und Thiere betraut gewesen, sie würden erst die Diagnosen und Kennzeichen fest- gestellt und dann die Typen und ihre Arten ins Leben gerufen haben; denn ihre grösste "Qual ist immer ge- wesen, dass die Diagnosen so viele Ausnahmen erlei- den und dass zunächst die Charaktere der Grund- formen ohne absolute Geltung sind. Im grossen und ganzen sind die Polypen strahlförmig; es gibt aber nicht wenige bilaterale oder nach zwei Seiten symmetrische. Die meisten Schnecken besitzen aus- gesprochene Mantelfalten, aber von einem Mantel mancher geradezu wurmförmigen Nacktschnecken zu reden, ist mislich. Kopf und Schädel scheint uns doch ein unveräusserliches Merkmal der Wirbelthiere zu sein, aber der Lanzettfisch hat keinen solchen Kopf, sondern nur ein Vorderende. Indessen, kann man einwerfen, er hat eine Wirbelsäule; aber diese, das eigentliche Adelszeichen der Wirbelthiere, ist nebst Gehör und Rückenmark ein, wenn auch nur vorüber- gehendes Eigenthum der Ascidien, einer Klasse von Thieren, die im ausgewachsenen Zustande auch nicht

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Zwischenformen. 33

im entferntesten an die Wirbelthiere erinnern. Indem _ wir diese Abweichungen von scheinbar fest fundirten sogenannten Form- und Baugesetzen wahrnehmen, sind

wir auf eine offenbare Durchlöcherung des Systems vorbereitet, auf die Verbindungsformen und die Formen von unsicherer systematischer Stellung.

‘Wenn das Resultat der systematischen Sichtung und Ordnung innerhalb der einzelnen Typen in dem Bilde von Bäumen zusammengefasst werden kann, so ver- stehen sich die Zwischenformen für die in Baumgestalt

_ angeordneten Glieder der Typen, Klassen, Ordnun- ‚gen u. s. w. von selbst. Denn wenn das Bild richtig,

so müssen in allen Astachseln Arten enthalten sein, von denen sich die in den sich abzweigenden Aesten

zu unterst stehenden Arten nur sehr wenig entfernen.

Und so kam denn in der That alles Systematisiren darauf hinaus, zwischen je zwei in höherm Grade von- einander abweichende Formen die richtigen Zwischen- formen einzuschieben, ja man wurde in manchen Fällen veranlasst, Zwischenformen zu suchen, wo keine sind. Die ältere Zoologie hat immer das Schnabel- thier als das den Vögeln am nächsten stehende Säuge- thier aufgefasst, während der Grund der Vogelähnlich- keit der niedrigsten bekannten Säuger durchaus nicht in der unmittelbaren Verwandtschaft zu suchen ist, sondern in einer entfernten Vetterschaft. Aber nicht auf jene von der Naturgeschichte als ganz selbstver- ständlich vorausgesetzten Verbindungsformen haben wir hinzuweisen, sondern auf dienigen, welche der syste- matischen Beschreibung, so zu sagen, unbequem sind und die mit Mühe gewonnenen Grundlagen illusorisch zu machen drohen. Es gibt einige fischartige Thiere, die Doppelathmer (Lepidosiren und Genossen), mit Charakteren der Amphibien. Die Infusorien haben manche Eigenthümlichkeiten der sogenannten Urthiere; andererseits entfernen sie sich von ihnen und weisen auf die niedrigsten Strudelwürmer hin. Ein in un- SCHMIDT, Descendenzlehre. 3

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34 Die Fortpflanzung.

zähliger Menge in unsern Meeren lebendes Thierchen,

die Sagitta, ist weder ein rechter Wurm noch ein.

gut legitimirtes Weichthier. Die Klasse der Räderthiere passt weder in das Schema der eigentlichen Würmer, noch in das der wahren Gliederthiere, wıll aber doch im System untergebracht werden, und wer die Typen als die idealen unveränderlichen Grundformen fest- hält, kommt in grosse Verlegenheit, wohin er mit sei- nen Räderthieren soll.

So liessen sich Beispiele über Beispiele dafür an-

häufen, dass die strengen Scheidewände des Systems, kaum aufgeführt, auch schon allerorten durchlöchert werden, und zwar im geraden Verhältniss des Anwach- sens der Specialkenntnisse. Wie gesagt, musste die

beschreibende Naturgeschichte diese Wahrnehmung

machen. Sie sprach dann von Ausnahmen und Ab- weichungen, ohne einen Grund angeben zu können, wie denn die Klassen und Typen ihre Grenzen durch- brechen könnten, ja meist ohne das Bedürfniss, sich

von der Hinfälligkeit des strengen Systems Rechenschaft

zu legen.

III. Die Erscheinungen der Fortpflanzung in der Thierwelt.

Zur Signatur des Lebendigen gehört die Fähigkeit, neuem Leben Dasein zu verleihen. Ein Krystall pflanzt sich nicht fort; er kann nur in seine Elementarbestand- theile aufgelöst werden, und diese können im natür- lichen Verlaufe der Dinge oder auf künstlichem Wege einer andern krystallinischen Vereinigung zugeführt werden. Das ist aber nicht jene Continuität der Fort- pflanzung, welche Individuum an Individuum kettet, nicht die mit dem Nebel des Geheimnisses verdeckte Zeugung. So, scheint es, besteht ein starrer Gegen- satz. Allein wenn man den Unterschied zwischen der

Einfachste Zeugung. 35

belebten und unbelebten Natur als überhaupt nicht

absolut erkannt hat, namentlich wenn man die Mög-

_ lichkeit, ja Nothwendigkeit der Urzeugung oder ältern- losen Entstehung der niedrigsten organischen Wesen aus der unorganischen Materie eingesehen, wovon später, wenn man das Wesen der Ernährung und des Wachs- thums als lediglich bedingt durch die Quellbarkeit der Materie erfasst, so schwindet auch das Räthselhafte der Fortpflanzung. Die Zeugung ist dann nicht mehr ein mystisches Ereigniss, und die Entstehung eines Orga-

_ nismus in einem oder von einem Organısmus, das Ab-

lösen und die Entwickelung der zahllosen Keime. lässt: sich ebenso, als das Werden eines neuen Krystalls, zer- ‚gliedern bis auf die nur noch dem geistigen Auge zugänglichen Bewegungen der Elemente. Wir wollen damit sagen, dass die Grenzen der Forschung im Ge- biete der Fortpflanzung keine engern und besondern sind. Wir gehen also an die Schilderung des That- sächlichen der Fortpflanzung und Entwickelung im Thierreich.

Wenn, wie man allgemein zugeben muss, dem höch- sten wie dem niedrigsten Leben das wesentlich Cha- rakteristische gemeinsam ist, und nur die Complication der Lebensvorgänge nebst der Mannichfaltigkeit der die- selben bewerkstelligenden Theile die gradweise Ver- schiedenheit bedingen, so erkennen wir natürlich das Wesen der Lebensprocesse am leichtesten an den ein- fachsten Organismen. Die einfachsten, von Haeckel

_ entdeckten Wesen, wie Protamoeba, jene eiweissartigen

Schleimklümpchen, wachsen bis zu einem gewissen Umfange. Warum derselbe sich in bestimmten engen Grenzen bewegt, und warum bei einem gewissen Um- fange des Körpers die Molekeln zu zwei Hälften gra- vitiren, wissen wir nicht; jedenfalls handelt es sich um Cohäsionsverhältnisse, welche der Berechnung prin- eipiell zugänglich sind. Genug, bei einer gewissen Grösse wird der Zusammenhang der Theile in einer "mittlern Zone Ben das bisherige Individuum wird

5%

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36 Theilung. Knospung.

seinem Namen untreu und theilt sich ın zwei Hälften, deren jede vom Moment der Trennung an ein indivi- duelles Leben beginnt, während vom Anfang der Theilung an ihre Selbständigkeit sich mehr und mehr vorbereitete. Dies ist der einfachste Fall der Fort- pflanzung, eine Vermehrung durch Theilung. Dieselbe bleibt aber häufig nicht bei der Halbirung stehen; die die Theilung verursachende Bewegung der kleinsten Bestandtheile setzt sich in der Art fort, dass die Hälften wiederum und die Viertel abermals, und so das Ganze in eine grössere Anzahl von Portionen getheilt wird, und das Mutterwesen sich in einen Schwarm von Sprösslingen auflöst.

Diese Vermehrung durch blosse Theilung der Masse setzt voraus, dass der sich so fortpflanzende Organis- mus keine hahe Complication an sich trage. Eine Halbirung eines Käfers oder Vogels ist als Mittel der Fortpflanzung nicht wohl denkbar. Jedoch haben uns Stein’s vorzügliche Beobachtungen über den Fort- pflanzungsprocess der Infusorien Organismen kennen gelehrt, welche weit über jenen einfachen sogenannten Moneren stehen, und deren Theilhälften eine Reihe tief eingreifender Neubildungen durchmachen, ehe sie sich als selbständige Individuen voneinander trennen. Diese mit der Theilung verbundene Umbildung führt zur Fortpflanzung durch Knospung. Wie die Thei- lung jener niedrigen Organismen von der Erreichung einer gewissen, durch hinlängliche Nahrung bedingte Wachsthumsgrenze abhängt, so tritt nun häufiger der Fall ein, dass das Individuum den Ueberschuss an ge- wonnenem Stoff an einer bestimmten Stelle des Körpers absetzt und einen Spross oder eine Knospe bildet. Wir kennen Fortpflanzung durch Knospung schon bei den einfachsten Organismen, den Zellen, wie denn überhaupt jede Heilung und Vernarbung höherer We- sen, bis auf die Ergänzung verstümmelter Glieder bei Amphibien, nur durch die auf Theilung und Knospung beruhende Fortpflanzung der elementaren Formbestand-

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. .

Generationswechsel. 37

theile ermöglicht ist. Es liegt aber in der Natur des

Knospungsvorganges, dass er in der Stufenleiter der Organismen weit höher als die Theilung hinaufragt; es ist eben die Entstehung eines neuen Wesens an einem schon vorhandenen, wobei das letztere seine Individualität ganz oder zum grössten Theile bewahrt und doch seine Eigenthümlichkeit in vollem Masse auf den Nachkommen übertragen kann.

Der einfachste Fall der Knospung ist der, wenn ein Mutterthier eine oder mehrere Knospen treibt, die jenem gleich sind und auch ihrerseits gleichartige Knospen zeugen. Jede Korallensammlung gibt eine

‘Menge von Beispielen hierfür, und wie das verschie-

denartige Aussehen der einzelnen Korallengattungen auf blossen kleinern Modificationen dieser Fortpflan- zungsweise beruht. Es gibt aber schon einzelne Ko- rallen, bei welchen man bei aufmerksamer Vergleichung nicht blos zufällige Abweichungen, sondern regelmässig

| wiederkehrende Verschiedenheiten zwischen Mutter und

Spross entdeckt, wie das neulich Semper an Fächer- und Pilzkorallen gezeigt hat. Wir werden damit zu der höchst wichtigen Erscheinung des Generations- wechsels geführt, den wir an einigen Beispielen er- läutern müssen, noch ehe wir auf das Wesen der ge- schlechtlichen Fortpflanzung eingehen.

Unser Bild Fig. 3 zeigt unter A ein polypenförmiges Wesen mit gekreuzten Fangarmen, das von seinem Entdecker Dujardin mit dem Gattungsnamen Kreuz-

- polyp (Stauridium) belegt wurde. Dieses nach Art der

Polypen auf einem Stiel festwachsende Thier bildet oberhalb seines untern Armkreuzes Knospen, welche als rundliche Ballen hervortreten, nach und nach Glockenform annehmen und sich ablösen, nachdem sie den Bau und die Form einer Qualle erhalten haben. Die Cladonema radiatum ‘genannte Qualle (Fig. 3 B) ist also die Tochter der ihr ganz unähnlichen Mutter Stauridium; sie pflanzt sich auf geschlechtlichem Wege fort und aus ihren Eiern gehen die Stauridien hervor.

38 Generationswechsel.

Es wechseln also die beiden Generationen miteinander ab; der Kreuzpolyp ist eine Zwischengeneration in der Entwickelung der Qualle, sodass also nie aus dem Ei derselben direct wieder die Geschlechtsgeneration selbst ihren Ursprung nimmt. Wir können denselben, nur etwas verwickelteren Vorgang am Bandwurm erläu- tern. Es ist bekannt, dass aus dem Darmkanal der mit dem Bandwurm behafteten Individuen einzelne

Fig. 3.

sogenannte Bandwurmglieder abgehen, und zwar sind diese Glieder gewöhnlich mit einer so ausserordent- lichen Menge von Eiern erfüllt, dass sie als blosse.

Eierpackete erscheinen. Indessen geht aus der Ent-

wickelungsgeschichte der Bandwürmer und ihren Be- ziehungen zu andern Würmern, nämlich den Saug- und Strudelwürmern hervor, dass diese Glieder trotz ihrer Unvollkommenheit und des Mangels an Organen den Werth geschlechtsreifer Individuen oder, nach

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. Geschlechtliche Fortpflanzung. 39

Haeckel’s Bezeichnung, Personen haben. Verhielte sich nun der Bandwurm wie die meisten Thiere, so

würden aus seinen Eiern unmittelbar die Gliederindi- viduen sich entwickeln. Zu diesen aber ist ein weiter Umweg. Ist ein Bandwurmei durch Glück und Zufall in einen ihm zusagenden Magen, z. B. das Ei des Menschenbandwurms, Taenia solium, in das Schwein gerathen, so wandert der Embryo aus dem Magen,

wo er das Ei verlassen hat, aus und in die Muskeln

ein und schwilit hier zu einer Art von Blase an.

Diese Blase ist die erste Zwischengeneration. Sie zeugt

eine zapfenförmige Knospe, die jedoch ihren Zweck solange verfehlt, als der „Blasenwurm“ oder die „Finne‘ in dem Schweinefleische bleibt. Erst wenn dasselbe roh oder unvollständig zubereitet in den menschlichen Magen kommt, schlägt die Stunde der Erlösung für jenen Zapfen. Er tritt aus seiner Mutter, der Blase, hervor,-letztere geht zu Grunde und der Zapfen, in welchem wir nun den Kopf sammt Hals des Band- wurmgebildes erkennen, stellt eine zweite Zwischen- generation vor. Seine Productivität äussert sich auch alsbald; er verlängert sich und je weiter er band- förmig auswächst, desto deutlicher markiren sich in diesem aus dem Hintertheile des Halses hervorsprossen- den Theile Querstreifen und „Bandwurmglieder‘‘, also die Individuen der dritten oder Geschlechtsgeneration.

In den besprochenen Entwickelungskreisen lösen sich also ungeschlechtliche und geschlechtliche Fortpflan- zung einander ab, und wir haben uns, ehe wir noch einige andere Fälle der ungeschlechtlichen Vermehrung besprechen, zuvor mit den Thatsachen der geschlecht- lichen Fortpflanzung bekannt zu machen.

Sie ist dadurch charakteristisch, dass es zur Er- zeugung des neuen Individuums der Vereinigung zweier verschiedener Producte oder Formelemente, des Eies und des Samens bedarf. Das Ei ist ursprünglich im- mer eine einfache Zelle (Fig.4. 0), deren Kern Keim- bläschen, deren Kernkörperchen Keimfleck heisst, und

40 Ei und Samen.

welche bei vielen Thieren mit einer eigenen Hülle oder Membran versehen ist, bei andern nackt bleibt und dann häufig die wunderlichen Bewegungen des Proto- plasma zeigt. Die Eizellen der verschiedenen Thier- klassen weichen zwar in ihren mikroskopischen Dimen- sionen ziemlich voneinander ab, dennoch sind sie für das ganze Thierreich von den Schwämmen und Polypen bis zu den Säugern sammt dem Menschen wesentlich gleich. Erst wenn die primitive Eizelle reichlicher mit Dotter und Eiweis versehen, sich mit besonders dicker und durchlöcherter Schale, wie bei Insekten und Fi- schen, oder mit einer ganz eigenthümlich geformten Hülle, z. B. bei manchen Strudelwürmern von Gestalt einer doppelt concaven Linse, umgeben hat, treten

unwesentliche Unterschiede auf.

In der Regel bilden sich die / Eizellen in besondern Organen,

den Eierstöcken. .Der andere Geschlechtsstoff, der Same, ent- hält als die eigentlich wirksamen Bestandtheille die sogenann- ten Samenkörperchen (Fig.4s), welche aus einem punktförmigen oder elliptischen, auch wol hakenförmigen Köpfchen und einem fadenförmigen Körper bestehen. Der Faden- anhang vollführt, solange der Same befruchtungsfähig, schlängelnde Bewegungen, und die Entwickelung der Samenkörperchen aus Zellen, sowie die Vergleichung ihrer Bewegungen mit den schwingenden Bewegungen der Flimmer- und Geisselzellen lässt sie uns gleich- falls als modificirte Zellengebilde erkennen.

Der im vorigen Jahrhundert äusserst erregte Streit zwischen den Evolationisten und den Epigenesisten hat nur noch ein historisches Interesse. Jene behaupteten, dass entweder ım Ei oder im Samenkörperchen schon der ganze künftige Organismus in allen seinen Theilen vorgebildet sei und es also nur einer Ausbildung der unendlich fein vorhandenen Organe bedürfe. Die andern,

Fig. 4.

&

Befruchtung. Keimbildung. 41

EB öiche den Sieg davon trugen, sahen im Ei das noch

micht differenzirte Material, welches infolge der Be-

fruchtung sich in die versehiedenen Formelemente und Organe umzuwandeln habe. Es sind aber kaum zwan- zig Jahre her, seit der Vorgang der Befruchtung ent- deckt und nachgewiesen wurde, dass mindestens ein

Samenkörperchen, in der Regel mehrere oder viele in

das Innere des Eies eindringen und sich materiell mit dem Eistoff vereinigen müssen, um eine wirksame Befruchtung herbeizuführen.

Wir wurden durch den Gang unserer Darstellung

_ veranlasst, der ungeschlechtlichen die geschlechtliche

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Fortpflanzung scharf gegenüberzustellen. Allein auch hier hat die neuere Zeit eine Reihe ausgleichender und vermittelnder Beobachtungen gemacht, welche wir bei unserer Absicht, die Vorbereitungen zur Abstammungs- lehre zu treffen und den in der organischen Natur überall vorhandenen Uebergang nachzuweisen, nicht ausser Acht lassen dürfen. Es wurden oben solche Fälle des Generationswechsels gewählt, wo die nicht Eier und Samen bereitenden Generationen durch äussere Knospenbildung sich fortpflanzten. Nun ist offenbar psysiologisch kein grosser Unterschied hiervon, wenn die Ablagerung des Materials der Nachkommenschaft micht nach aussen, sondern in und an bestimmten in- nern Organen geschieht. Der häufigste Fall . dieser ungeschlechtlichen im Innern des Mutterthieres sich vollziehenden Vermehrung ist die Keimbildung. Eins der geläufigsten Beispiele findet im Entwicke- lungskreise oder dem Generationswechsel der Gattung

Doppelloch (Distomum) der Saugwürmer statt. In der

Leibeshöhle der einen Larvengeneration entstehen Zel- lenballen, die Keime, die sich zur zweiten Generation, den Cercarien, entwickeln. Grosses Aufsehen erregte auch die Entdeckung der Keimbildung der Larven einiger zweiflügeligen Insekten (Ceeidomyia, Miastor).

In der Leibeshöhle der Maden dieser Fliegen entsteht nämlich eine zweite Generation von Maden, deren

42 Entwickelung unbefruchteter Mier‘

Ursprung man anfänglich auf eine reine Keimbil- dung zurückführte, bis sich ergab, dass diese Keime aus der, bei vıelen Insekten schon sehr früh vorhan- denen Anlage der Geschlechtsdrüse hervorgingen, also als unbefruchtete Eier betrachtet werden müssten. Die

zweite Madengeneration lebt auf Kosten ihrer Mutter,

zehrt von deren Fettkörper, vertilgt dann auch die andern Organe, und vom mütterlichen Pelikan bleibt en nur die Haut als schützende Hülle der dann bald durchbrechenden Töchter übrig. Ohne an- dere Fälle zu erwähnen, bei denen es zweifelhaft sein kann, ob Keime oder unbefruchtete Eier zur Ent- wickelung gelangen, wollen wir nur einige von denen hervorheben, wo die Entwickelung ohne Befruchtung völlig sicher gestellt ist. Die Bienenkönigin legt theils im natürlichen Verlauf ihres Lebens regelmässig eine Anzahl nicht befruchteter Eier, aus denen die Drohnen, die männlichen Individuen auskriechen, theils infolge verschiedener Zufälle, wo die Befruchtung nicht statt- finden konnte; und wenn ausnahmsweise Arbeitsbienen, unvollständig entwickelte weibliche Bienen, welche

nicht befruchtet werden konnten, Eier legen, so geben

diese ebenfalls nur Drohnen. Die höchst interessanten Versuche v. Sıebold’s über die Fortpflanzung einer Wespe, Polistes gallica, haben gezeigt, dass die über- winterten befruchteten Weibchen, welche im Frühjahr eine neue Colonie gründen, Eier absetzen, aus welchen weibliche Individuen auskriechen, ausnahmsweise Männ- chen. Diese jungfräuliche Generation erzeugt. dann die Eier, aus denen sich die Männchen entwickeln. Bei verschiedenen Schmetterlingen kommen umgekehrt aus den unbefruchteten Eiern nur Weibchen hervor, ebenso bei verschiedenen niedern Krustenthieren. Kehren wir nun zur Betrachtung der Entwickelungs- vorgänge zurück, welche bei der geschlechtlichen Fort- pflanzung nach stattgehabter Befruchtung sich zeigen. Allgemein beginnt die Entwickelung mit einem Zellen- bildungsprocess, der Furchung oder Keimhautbildung,

Furchung. Entwickelung. 43

mach dessen Beendigung statt der einen primitiven Eizelle eine meist grosse Menge von Zellen als das Material zu Anlage und Aufbau des Embryo vorhan-

den sind. Auch die ohne Befruchtung parthenogene-

tisch sich entwickelnden Eier beginnen die Entwickelung

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mit jener Zellenvermehrung, und selbst die Eier der

_ "Thiere, bei denen die Entwickelung nie anders als

nach vorhergegangener Befruchtung stattfindet, zeigen, wenn sie in einem gewissen Stadium der Reife nicht zur Befruchtung gelangen, eine unvollkommene Fur- chung. Bisjetzt ist dieses Verhalten allerdings nur von den Eiern des Frosches und Huhnes nachgewiesen,

allein diese Fälle sind hinreichend, um die Furchung - des Charakters einer ausschliesslich innerhalb der ge-

- schlechtlichen Fortpflanzung auftretenden unvermittelten

Erscheinung’ zu entkleiden. Schon ehe die wahrhaft elassische und grundlegende

Arbeit C.E.v.Bär’s über die Entwickelungsgeschichte der

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- Thiere erschien ®, hatte sich, auf unvollständige Beobach-

tungen gestützt, die Ansicht festgesetzt, dass die höhern Thiere in ihren Entwickelungsstufen die Formen der nie- drigern durchliefen. Die Naturphilosophie beschränkte sich dabei nicht blos auf die Grenzen der Typen, blieb also nicht bei der Annahme stehen, dass der Säuge- thierembryo hintereinander Fisch, Amphibium und in gewissem Sinne und nach bestimmter stufenweiser Aus- bildung der Organe auch Vogel sei, sondern liess den

Embryo auch die niedrigern Typen wiederholen und

übersteigen. Dieser sich in vagen Analogien bewe- genden falschen Richtung gebot der oben genannte grosse Naturforscher ein Halt. Er zeigte, dass aller- dings eine Menge Uebereinstimmungen zwischen dem Embryo der höhern Thiere und der bleibenden Form niederer Thiere sich nachweisen liessen, dass aber diese Aehnlichkeit wesentlich darauf beruhe, dass die Son- derung der allgemeinen Grundmasse im Embryo der

höhern Thiere noch nicht eingetreten sei und sich im

Fortgange der Entwickelung auf Stufen befinde, welche

44 _ Entwickelungstypen.

für die Reihe der niedern Thiere bleibende seien. Da- gegen wies er die Behauptung, dass die Embryone höherer Typen die bleibenden Formen niederer Typen wirklich durchmachten, entschieden zurück. Er sagte, der Typus jedes Thieres scheine sich gleich anfangs ım Embryo zu fixiren und die ganze Entwickelung zu beherrschen. Was im besondern dann die Wirbelthiere betreffe, so finde man, je weiter man in ihrer Ent- wickelungsgeschichte zurückgeht, die Embryonen desto ähnlicher im Ganzen und in den einzelnen Theilen. „erst allmählich treten die Charaktere hervor, welche die grössern, und dann die, welche die kleinern Ab- theilungen der Wirbelthiere bezeichnen. Aus einem allgemeinen Typus bildet sich also der specielle hervor.‘

Bär fand mithin das Gleichartige nur in den embryo- nalen Zuständen der verschiedenen Thierformen, musste aber über die Kreise der Typen hinausgehen, und es schien ihm wahrscheinlich, dass unter allen Embryonen, sowol der Wirbelthiere, als der wirbellosen Thiere, die sich aus einen wahren Eie entwickeln, im eigent- lichen Keimzustande Uebereinstimmung besteht, zu einer Zeit, wo der Typus noch nicht aufgetreten. Er wurde hierdurch zu der Frage geführt: „Ob nicht im Beginne der Entwickelung alle Thiere im wesentlichen sich gleich sind, und ob nicht für alle eine gemein- schaftliche Urform besteht.“° „Es liesse sich“, meint er schliesslich, „nicht ohne Grund behaupten, dass die einfache Blasenform die gemeinschaftliche Grundform sei, aus der sich alle Thiere nicht nur der Idee nach, sondern historisch entwickeln.“

Nachdem die Schranke, welche man früher zwischen der ungeschlechtlichen und der durch die Befruchtung eingeleiteten Vermehrung aufrichten zu müssen glaubte, als ganz unwesentlich erkannt worden, und alle Ent- wickelung auf Vermehrung und Umwandlung der pri- mitiven Keim- oder Eizelle hinausläuft, musste man im Sinne der ältern Forscher die Zelle als die gemein- schaftliche Grundform betrachten. Wenn aber die

2

Früheste gemeinsame Larvenzustände. 45

beschreibende Entwickelungsgeschichte auch nicht auf

diesen Elementarorganismus zurückgeht, und selbst die Furchung als eine noch zu indifferente Vorbereitung zur teen Entwickelung ansieht, so sind doch Edenfalis die frühesten wirklichen Forvernde aus verschiedenen Typen miteinander zu vergleichen. Die

Entdeckungen der letzten Jahrzehnte, die hierauf Be-

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zug haben, sind so zahlreich und es haben sich so auffallende Uebereinstimmungen ergeben, dass man wol

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viel weiter zu gehen hat, als damals Bär gehen konnte. Es handelt sich nicht blos um jene allgemeinen Ueber- einstimmungen in der Sonderung der Gewebe aus einer indifferenten Grundmasse, sondern um solche Homolo- gien in der Anlage, Gestaltung und Zusammensetzung der Embryone und Larven, deren Nachwirkung auch für die spätere eigentliche typische Ausprägung von eingreifender Wichtigkeit ist. Betrachten wir zu die- sem Ende die Larve eines Kalkschwammes auf der

# 46 Die Gastrula-Larve.

Stufe, welche Haeckel als Gastrulastadium bezeichnet E

hat. Unsere Abbildung gibt den Durchschnitt einer solchen Larve, welche zur Zeit noch nichts anderes ist als ein mit einer Mundöffnung (Fig. 5. 0) versehener Magen, dessen Wandung aus zwei Schichten oder Lagen von Zellen besteht. Die äussere Schicht der

Zellen ist von der innern durch die langgestreckte

Form und durch den Besitz der als Bewegungsorgane dienenden Geisseln verschieden. Alle spätere, aller- dings hier bei den Schwämmen nicht sehr bedeutende Ausbildung und Differenzirung lässt sich auf Umände- rungen dieser beiden Blätter, des Aussenblattes (Ecto- derm oder Exoderm) und des Innenblattes (Entoderm) zurückführen. Und dieses Stadıum der bewimperten, zweischichtigen, mit der primitiven Magenhöhle und dem Munde versehenen Larve findet sich bei den Cölenteraten, mit geringer Abänderung bei den Stachel- häutern, bei verschiedenen Würmern, der Sagitta, den Ascidien und dem Lanzettfisch. Aus der Ueberein- stimmung aller dieser Thiere und besonders der letztern werden wir später wichtige Folgerungen machen können. Legt man aber auf das Vorhandensein der Geisseln der äussern Zellenlage kein Gewicht, wie dies auch nach dem Verhältniss der Geissel zur Zelle gestattet ist, und erkennt man als die wesentliche Bedeutung der Larvenanlage die an, dass aus ihren zwei Blättern die gesammten Organe ıhren Ursprung nehmen, so schliessen sich den oben genannten Thieren nicht nur fast die gesammten Gliederthiere, sondern auch die übrigen Wirbelthiere an, indem bei ihnen unmittelbar nach Anlage des Keimstreifens die Spaltung desselben in zwei Zellenlagen oder Blätter erfolgt. Ueber die Entstehung des dritten, mittlern Keimblattes und die Betheiligung der beiden primitiven Blätter an der Bildung desselben sind die Beobachter nicht einig. Erst von hier an nimmt die Entwickelung der grossen Thiergruppen eine verschiedene Richtung, und es ist das unsterbliche Verdienst v. Bär’s, diese Entwicke-

Er ih A TEL

47

3 lungstypen unabhängig von der Aufstellung der zoolo-

gisch-anatomischen Grundformen Cuvier’s bestimmt und

damit das Wesen der Typen viel tiefer begründet zu _ haben. Wir wollen das Gesagte nur an zweien der-

selben klar machen. Nachdem das Ei der Glieder- thiere sich mit einer Keimhaut umgeben, verdickt sich ein Theil derselben zu einem länglichen, einer lang-

gezogenen Ellipse gleichenden Keimstreifen. Derselbe

wiekelung geht von diesen Ursegmen-

Mundwerkzeugen und Deinen ent-

ua

der sogenannten Ursegmente. Die

die Zusammensetzung des Körpers aus

des Kopfes und der mittiern und - hintern Körperabschnitte die so grosse _ Mannichfaltigkeit innerhalb des Typus verursachen. In

ist die Anlage der Bauchseite des künftigen Thieres. Eine Furche theilt denselben darauf ın die beiden Keimwülste und dann kommen Quer- striche zum Vorschein, die Grenzen

symmetrische Anlage der Organe und

hintereinander liegenden Gliedern ist damit eingeleitet. Alle weitere Ent-

ten aus, welche auch für die höhern Würmer, die Anneliden oder Glieder- würmer massgebend sind, während bei den Gliederthieren im engern Sinne Ausstülpungen und Anhänge | dieser Segmente sich zu den Fühlern, \

wickeln und durch ihre verschieden- artige Ausbildung in den Regionen

jedem einzelnen Falle sehen wir aus dem mehr Gleich-

_ artigen und Indifferenten das Specielle hervorgehen,

was auch durch das, obschon weiter vorgeschrittene Stadium, was diese Abbildung Fig. 6 gibt, belegt wird. Sie stellt den Embryo des grossen schwarzen Käfers (Hydrophilus piceus) von der Bauchseite dar. Noch

s _ unterscheiden sich die Fühlhörner (f), die drei Paar

En 2, E

- Mundwerkzeuge (m) und die drei Paar Beine (b) wenig.

A De , E-: z

a; 48 Andere Entwickelungstypen.

Im weitern Verlauf. der Entwickelung wachsen die Seitentheile nach dem Rücken zu, in dessen Mitte sie schliesslich zusammentreffen. Man kann daher mit Rücksicht auf die Wirbelthiere sagen, dass die Glie- derthiere den Nabel am Rücken haben. Umgekehrt also ist der Entwickelungstypus der Wirbelthiere da- durch charakterisirt, dass die Keimanlage der Rücken- seite des Thiers entspricht. Der Anlage der Rücken- furche, welche sich später zum Rückenmarkskanale schliesst, indem sie nach und nach von einer sie von unten her umwachsenden Scheide umgeben wird, folgt die Anlage querer Platten, der Urwirbelplatten. Die nach aussen von diesen gelegenen Seitenplatten wach- sen nach der Bauchseite zu und verwachsen endlich im Nabel. An der Stelle der aus gesonderten Wir- beln bestehenden eigentlichen Wirbelsäule befindet sich ursprünglich immer ein knorpelartiger Strang, die Rückensaite (chorda dorsalis), und da von dieser Axe aus die Keimanlage sowol nach oben als nach unten sıch zu Röhren, dem Rückenmark nebst Scheide und der Bauchhöle mit dem Darmkanale umgestaltet, so nannte v. Bär diese Entwickelung die doppelt symmetrische. Die Gliederentwickelung war ihm eine einfach symmetrische, und die Entwickelung der Weich- thiere bezeichnete er als eine massige. Die Berech- tigung liegt darin, dass den Weichthieren jene durch die Gliederung hervorgerufene Streckung und über- haupt die in der Gliederung enthaltene Wiederholung gleicher Theile und Leibesabschnitte, die Metameren- bildung nach Haeckel, ganz fremd ist. | Wir müssen nun nochmals darauf zurückkommen, dass schon die ersten etwas ausgedehnten Beobach- tungen der Entwickelungsformen verschiedener Thiere zu der Wahrnehmung führen, dass die Embryone und Entwickelungsstufen höherer Thiere vorübergehend in einer engern Beziehung zu den fertigen und definiti- ven Zuständen der niedern Thierformen wenigstens. desselben Stammes ständen, woraus sich die bestimmte

Embryonale und systematische Entwickelung. 49

Vorstellung entwickelte, dass der Embryo der höhern

Bu

Thiere die bleibenden Formen der niedern Thiere

durchlaufe. Nachdem besonders die deutsche Natur- philosophie diese Lehre ziemlich phantastisch aus- gebildet und den Menschen als die Summe aller Thiere sowol nach Bau als nach Entwickelung proclamirt hatte, „musste“, sagt Bär, „die Lehre von der Ueber-

einstimmung der individuellen Metamorphose mit der unklaren Metamorphose des ganzen Thierreichs ein be-

sonderes Gewicht erhalten, als durch Rathke’s glän-

zende Entdeckung Kiemenspalten in den Embryonen der Säugethiere und Vögel nachgewiesen und bald

_ darauf sogar die Gefässe dazu aufgefunden wurden.“

Die Uebertreibungen und falschen Schlussfolgen, die _ man aus den beobachteten allgemeinen Analogien zog,

bei den unklaren Vorstellungen der über dem Ganzen schwebenden und die individuelle Entwickelung beherr- 'schenden Typen, hat Bär in geistreicher Weise ge-

geisselt. „Um sich zu überzeugen, dass ein solcher Zweifel an dieser Lehre nicht ganz ohne Gewicht ist, denke man sich nur, die Vögel hätten ihre Entwicke- lungsgeschichte studirt, und sie wären es, welche nun den Bau des ausgewachsenen Säugethiers und des Menschen untersuchten. Würden nicht die physiologi-

schen Lehrbücher Folgendes lehren können? ‘Jene

vier- und zweibeinigen Thiere haben viele Embryonen-

- ähnlichkeit, denn ihre Schädelknochen sind getrennt, sie haben keinen Schnabel, wie wir in den fünf oder _ sechs ersten Tagen der Bebrütung; ihre Extremitäten sind ziemlich gleich unter sich, wie die unserigen un-

- gefähr ebenso lange; nicht eine einzige wahre Feder

- sitzt auf ihrem Leibe, sondern nur dünne Federschafte, _ sodass wir schon im Neste weiter sind, als sie jemals

kommen; ihre Knochen sind wenig spröde und ent- halten, wie die unserigen in der Jugend, gar keine

Luft, überhaupt fehlen ihnen die Luftsäcke und die Lungen sind nicht angewachsen, wie die unserigen in

_ frühester Zeit; ein Kropf fehlt ihnen ganz; Vormagen

SCHMIDT, Descendenzlehre. 4

s0 Embryonale und

% k 2%

und Muskelmagen sind mehr oder weniger in einen Sack verflossen; lauter Verhältnisse, die bei uns rasch vorübergehen, und die Nägel sind bei den meisten so

ungeschickt breit, wie bei uns vor dem Auskriechen; an der Fähigkeit zu fliegen haben allein die Fleder- mäuse theil, die die vollkommensten scheinen, die

übrigen nicht. Und diese Säugethiere, die so lange nach der Geburt ihr Futter nicht selbst suchen können, nie sich frei vom Erdboden erheben, wollen höher

organisirt sein, als wir?“ |

Indessen besteht die Thatsache des Parallelismus der individuellen Entwickelung mit der systematischen Reihe, der das Individuum angehört, wofür wir einige leicht zugängliche und überzeugende Beispiele aus den Tau- senden auswählen. Die Polypen sind im System immer unter die Quallen gestellt worden; in die Entwickelung vieler Quallen (vgl. Fig. 3. S. 38) schiebt sich ein „polypenförmiger‘“‘ Zustand ein. Der im Mittelmeere sehr gemeine Haarstern (Comatula) ist im ausgewach-

nz

systematische Entwickelung. 51

senen Zustande frei beweglich. Dieser definitiven Aus- bildung geht eine Stufe der Sesshaftigkeit (Fig. 7) voraus, während welcher der Körper auf einem Stiele festsitzt. Das Thier gleicht während der Larvenzeit

den zeitlebens festsitzenden Gattungen, welche nach

allen Regeln der Systematik und nach ihrem geologi- schen Auftreten einen niedern Rang in der Reihe der Echinodermen einnehmen. Die Krabben oder kurz- schwänzigen Krebse erheben sich durch mehrere Kenn- zeichen über die langschwänzigen, zu welchen der Flusskrebs gehört. In ihrer Entwickelung gehen sie _ durch das Stadium der Langschwänzigkeit, wie die Larve (Fig. 6) zeigt. Sie werden gerade durch die Verkümmerung des bei den Langschwänzen als Schwimm-

organ benutzten Schwanzes für das Laufen, und einige unter ihnen für das Leben auf dem Lande geschickter, indem sie sich gewissermassen einer Bürde entledigen. Eine der systematischen Reihen innerhalb der Wirbel- thiere führt durch die Reptilien zu den Vögeln. Wenn nun auch die Vögel, wie sich später ergeben wird, in

den ihnen von Bär in den Schnabel gelegten physio- logischen Betrachtungen mit Unrecht sich ihres Feder- kleides dem Säugethier und Menschen gegenüber rüh- _ men, so haben sie es damit doch weiter gebracht als _ die Reptilien, denn die embryonale Anlage der Feder ist die der Schuppe. Auch das Fussgelenk des Vogel- embryo, das wir schon oben (S. 9) kennen lernten, “und das sich darin vom Knöchelgelenk der Säuger _ und des Menschen unterscheidet, dass es nicht zwischen Unterschenkel und Fusswurzel, sondern in die Fuss- _ wurzel hinein gelegt ist, findet sich in dem embryo- nalen Zustande, den es beim Vogel schnell durchläuft, in einem definitiven Zustande beim Reptil. Ob- _ wol die Säugethiere nie wirkliche Fische sind, so ist “doch in den embryonalen Stufen ihrer Organe viel Fischähnliches; die Embryonalspalten am Halse ent- sprechen den Kiemenspalten; die Anlage des Gehirns ®

ee)

e ME 52 Embryonale und systematische Entwickelung.

ist auf das fertige Gehirn der Neunaugen und Haie zurückzuführen u. s. w. Bär begnügte sich seinerzeit, um die Lehre, dass der Embryo die ganzen Thierreiche durchlaufe, zu widerlegen, darauf hinzuweisen, dass er nie aus einem Typus in den andern übergehe. Den andern und wahrscheinlichern Theil der Ansicht, dass wenigstens innerhalb der Typen die höhern Gruppen in ihren embryonalen Stadien die bleibenden Formen der niedern wiederholten, wies er damit zurück, dass es sich um blosse Analogien handle. Es müsse der Embryo, da er allmählich durch fortgehende histo- logische und morphologische Sonderung sich ausbilde, ın dieser Hinsicht mit weniger entwickelten Thieren um so mehr übereinstimmen, je jünger er ist. „Sehr natürlich also, dass der Embryo der Säugethiere dem der Fische ähnlicher ist, als der Embryo des Fisches dem Säugethiere. Wenn man nun im Fische nichts erkennt, als das wenig ausgebildete Säugethier (und das ist eine unbegründete Annahme), so muss man das Säugethier für einen höher ausgebildeten Fisch halten, und dann ist es ganz consequent, zu sagen, der Em- bryo des Wirbelthieres sei anfangs ein Fisch.‘

Wir sind unserm Vorsatz, in diesem Abschnitte nur Thatsachen beizubringen, etwas untreu geworden. Die Thatsachen sind zu sehr danach angethan, um Re-. flexionen zu veranlassen; auch haben wir ja die obigen Reflexionen nur als geschichtliche Thatsachen wieder- holt, und wir müssen nun fragen, ob sie uns wirklich befriedigen können. Ich glaube nicht. Es ist bei weitem nicht blos allgemeine histologische und mor- phologische Sonderung, welche die Aehnlichkeit der höhern unfertigen mit den niedrigern fertigen Formen hervorruft. Um nur bei dem einen Beispiel stehen zu bleiben: es ist ganz unbegreiflich, warum die Ge-. hörknochen der Säuger auf dem Umwege der Kiemen- spaltenbildung sich entwickeln, wenn es sich um blosse histologische und morphologische Sonderung handelte, Bei der ganzen Klasse der Erscheinungen der unzweck-

\

Die Vorwelt. 53

£ mässigen und verkümmerten (abortiven) Organe lässt

uns die Erklärung im Stich, und endlich bleibt ja der „Entwickelungstypus“ selbst, wie er die Gruppen beherrscht, die individuelle Entwickelung leitet, sie dort mangelhafter, hier vollkommen ausbildet, etwas Unerklärtes.

IV.

Die Thierwelt in ihrer geschichtlichen, paläontolo-

gischen Entwickelung.

"Die Beobachtung, dass die Erdrinde von den tief-

sten Thälern bis auf die höchsten Gipfel der Gebirge

unzählige Thierreste birgt, ist so leicht zu machen,

dass schon das Alterthum darauf kommen musste. Aber ein paar Jahrtausende vergingen, ehe man zur richtigen Erkenntniss des Verhältnisses dieser Ueber- bleibsel zur Jetztwelt kam. Dass es Naturspiele seien, Producte einer schöpferischen Kraft, die zu keinem eigentlichen Ziele geführt, sondern gewissermassen als Vorübungen für die wirkliche Lebensschöpfung anzu- sehen seien, meinten die einen; die andern hielten die Versteinerungen zwar für Ueberreste von lebenden Geschöpfen, aber von solchen, welche noch existiren, und welche bei Ueberflutungen und nachmaligem Zu-

rückziehen der Meere ihren Untergang gefunden.

Namentlich die Sage von der allgemeinen Sündflut

_ fand in dieser zweiten Meinung eine mächtige Nahrunz. - Erst als zu Ende des vorigen Jahrhunderts die Schich-

tung der Erdrinde sich der wissenschaftlichen Erkennt- niss öffnete, nachdem durch Kant und Laplace die

- Grundzüge einer Geschichte des Sonnensystems und

einer speciellen Erdgeschichte oder Geologie vorge- zeichnet waren, erst damit trat die Möglichkeit und Nothwendigkeit einer wirklichen Paläontologie oder Kunde der vorweltlichen Lebewesen ein. Im Anfang

54 Geologische Formationen.

dieses Jahrhunderts wurde die Entdeckung gemacht, dass die Versteinerungen, entsprechend der Schichtung der Erdrinde, in regelmässiger Folge einander ab- lösen, und dass sie in dieser Folge sowol von der heutigen Schöpfung als unter einander specifisch ver- schieden seien.

Wir müssen uns mit der Reihenfolge jener, die Erd- rinde zusammensetzenden Blätter bekannt machen. Sie sind die Fächer, in welchen die Pflanzen und Thier- reste aufbewahrt liegen. Sie zu ordnen war allerdings nur möglich, indem man sich durch die in ihnen ent- haltenen Organismen als Merkzeichen (oder Leitmuscheln) leiten liess. Wir aber nehmen diese Ordnung als etwas Gegebenes und berücksichtigen für unsere Zwecke natürlich nur die Schichten und Gesteine, in welchen Versteinerungen dieses Wort im allgemeinsten Sinne gebraucht enthalten sind oder sein könnten, die- jenigen nämlich, welche sich als sedimentär, d. h. als Absatz aus Gewässern erwiesen haben. Unsere Kennt- niss beschränkt sich auf einen grossen Theil von Eu- ropa, zahlreiche Districte von Amerika und vereinzelte Punkte der übrigen Erde. E

Die folgende Tabelle gibt, von oben nach unten, die Gliederung der sedimentären Schichtenreihe:

1) Alluvium. 2) Diluvium.

3) Tertiärformation: Pliocän, Mioecän, Eoeän.

4) Kreideformation. Senon, Turon, Kenoman, Gault, Neocom (Wealden).

- Alluvium. Diluvium. 55

5) Juraformation: Oberer, weisser Jura (Malm), Mittlerer, brauner Jura (Dogger), Unterer, schwarzer Jura (Lias). 6) Triasformation: Keuper, Muschelkalk, Buntsandstein.

7) Permische Formation oder Dyas: Zechsteingruppe, Rothliegendes.

8) Steinkohlenformation: Eigentliche Steinkohlen, Flötzleerer Sandstein, Kohlenkalk.

9) Devonische Formation.

10) Silurische Formation.

11) Huronische Schieferformation., 12) Laurentische Gneisformation.

Obgleich wir keine Geologie schreiben, wird doch eine kurze Erläuterung dieser Schichten nothwendig sein, da die Art ihrer Entstehung und ihr gegen- seitiges Verhältniss auch die Beschaffenheit und Ver- theilung der gleichzeitigen Organismen ins Licht setzt. _ Alle Erdverschiebungen, welche wir jetzt durch Regen, Flüsse und Meer und durch andere Naturgewalten vor sich gehen sehen, und die seit geschichtlichen Zeiten, kurz, in der sogenannten Gegenwart stattgefunden haben, also z. B. die grossen Deltabildungen, die Moränenablagerungen unserer Gletscher, werden dem Alluvium zugerechnet. Man glaubte es früher durch das Auftreten des Menschen gegen das Diluvium abgrenzen zu können; allein da man weder einst noch jetzt über diesen Zeitpunkt etwas gewisses sagen konnte und kann, und da von den Organismen, deren Reste in den Diluvialschichten vorkommen, ein Theil zwar

35 :2° Tertiärformation. Kreide.

ausgestorben ist, ein grosser Theil aber noch lebt, so

greifen diese beiden Formationen untrennbar inein- ander. Dem Diluvium gehören die mächtigen Schot- terablagerungen der grossen Ströme an, die mit Sand- bänken wechseln, die Lehm- und Lössbildungen als die Schlammabfuhr der einst periodisch kolossal anwach- senden fliessenden Gewässer und der Gletscherabflüsse. Es fällt nämlich in Europa und Amerika in die Dilu- vialperiode auch eine, wie es scheint, wiederholte Vergletscherung von Ländern und halben Welttheilen, wovon heutzutage Grönland eine Anschauung gibt. Die Zeit der als Tertiärformation zusammen- gefassten Schichtenreihe darf als die angesehen werden, während welcher wenigstens die Skelete der heutigen Continente ihren wesentlichen Bildungsabschluss er-

reichten. In sie fällt nämlich die Aufrichtung und

Erhebung der grossen Gebirge, der Cordilleren, Alpen, des Himalaya u. a.; dabei waren die Umrisse der Ländermassen in fortwährender Bewegung. Doch diese letztere Erscheinung geht ja doch durch alle Forma- mationen, und als geologisches Merkmal für die Ter- tiärformation verdient vielmehr der Beginn der

Sonderung der Erdoberfläche in klimatische Zonen

hervorgehoben zu werden, die sich den jetzigen Zonen nähern. Die Namen der Unterabtheilungen sollen das Verhältniss der ‘damals lebenden Thiere zur Jetztwelt andeuten, indem im Eocän die ersten mit den heutigen identischen Arten sich finden sollten, mehr ım Miocän und noch mehr im Pliocän. Zur Kreideformation gehören sehr verschiedenartige Gesteine, die nur nach ihren Einschlüssen in eine grosse geologische Periode zu bringen sind. Wenn der Quadersandstein der Säch- sischen Schweiz für das Centrum von Deutschland die Formation repräsentirt, so gab ihr die weisse Kreide von England und Nordfrankreich den Namen. In Amerika ist der Sandstein vielfach zu losem Sande zerrieben, und anderwärts sind die Schichten rein

kalkig oder mergelig. Wie mislich aber die Abgren-

U N ET ee re a TI TE BI a aa va Ä m „> Hi Le. a . Bu ®

Jura. Trias. 57

a zung der Schichten nach Raum und besonders nach

Zeit ist, mag man danach ermessen, dass wir mit allem Rechte von der noch immer vor sich gehenden Kreide- bildung sprechen können, wie die Untersuchungen von Carpenter und W. Thompson über die Beschaffenheit des. atlantischen Tiefseebodens gezeigt haben. Der frühen Kreidezeit gehört eine grössere Süsswasserab- lagerung, auch durch Hebungen verursachte Brak- und Sumpfbildung an, die Wealdenformation, welche eine Menge Reste von Süsswasser- und Landthieren nebst eigenthümlicher Kohle enthält.

In sich abgeschlossener erscheinen die Juraschich- ten, meist regelmässig in deutlichen Absätzen über- einander gelagert, seltener, wie an den Alpen, durch spätere Durchbrechungen aufgerichtet. Schon die Ge- steine an sich verrathen, dass der Absatz in weiten, meist ruhigen oder tiefen Meeren stattgefunden, und diese wird durch die wenigen Pflanzenreste und durch die Mehrzahl der in kolossalen Mengen sich findenden Thierreste zur Gewissheit. An der scheinbar sehr scharfen Abgrenzung der Juraformation nach oben und unten fand die ältere Geologie mit ihrer Behauptung, dass verhältnissmässig ruhige längere Perioden mit alles umstürzenden und neu schaffenden Katastrophen abgewechselt, eine Hauptstütze. Uebrigens müssen wir, um einem etwaigen Misverständniss des eben gesagten vorzubeugen, hinzufügen, dass auch die Juraperiode schon grössere, reichgegliederte Continente kannte, wie sich denn auch zeigen wird, dass mit ihr die höhern Landthiere in die Erscheinung traten.

Einen sehr verschiedenen Charakter untereinander zeigen die drei grossen Glieder der Triasformation, wie sie namentlich in Deutschland zur Entwickelung gekommen sind. Der deutsche Theil des Keupers muss nach seinen Einschlüssen als eine Strand- und Buchten- bildung angesehen werden, sein mehrliederiges Aequi- valent in den Alpen aber als eine mächtige Ablagerung des hohen Meeres. Auch der in England fehlende

t Pz

58 Dyas. Kohle.

Muschelkalk mit seinen Steinsalzlagern und reichen Ueberresten meerbewohnender Organismen ist eine Meer- bildung. Von der Entstehung des von seiner wech- selnden Färbung benannten, geschichteten Buntsandsteins mit den zu ihm gehörigen Thonen, Mergeln und oft mächtigen Gipseinschlüssen gewinnt man eine Vor- stellung durch unsere gegenwärtigen sandigen Strand- und Dünenbildungen. Wie bei diesen hat sich auch bei der Ablagerung des Buntsandseins sehr spärlich die Gelegenheit gegeben zum Einschluss thierischer und pflanzlicher Reste, aber sehr merkwürdige Fussfährten haben sich erhalten, wie sie noch heute entstehen und bewahrt werden können, wenn die in den feuchten Sand eingedrückten Formen durch feine thonige Bestand- theile ausgefüllt werden, welche von einer benachbar- ten Uferstelle her von einem Sturme aufgewühlt sich im Wasser vertheilt haben.

Da das verschiedene Aussehen der aufeinander fol- genden Horizonte der vorweltlichen Pflanzen und Thiere natürlich ganz wesentlich von der Beschaffenheit ihrer einstigen Wohnsitze abhängt, wie auch die Beschaffen- heit der einzelnen Regionen eines jeden Horizontes, sowie jetzt, bestimmend auf den Charakter der in ihnen lebenden Organismen wirken musste, so ist der ge- legentliche Hinweis auf solche das Leben in seiner Gestaltung und Mannifaltigkeit bedingende Ursachen hier am Orte. Wir lassen einen Vertreter der Geo- logie, Credner!!, uns die Verhältnisse der Dyas und der Kohlenformation schildern, um unsern Einblick in das Werden der Erdrinde und in die Abhängigkeit des Organischen von den Gestaltungen des Unorgani- schen zu vervollständigen: „In Gegenden, wo die carbonische (Kohlen-) Formation typisch entwickelt ist, besteht dieselbe aus einem untern kalkigen (Kohlen- kalk), einem mittlern, conglomeratartigen oder sandigen (flötzleerer Sandstein) und einem obern, kohlenführen- den Schichtencomplex, also aus einer marinen, einer Strand- und einer Sumpf- und Süsswasserbildung. Die

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Dyas. Kohle. 59

Ursache dieser Erscheinung kann man sich leicht ver-

gegenwärtigen; sie beruht auf der säcularen Hebung des ursprünglichen Meeresgrundes, auf welchem sich anfäng- lich der marine Kohlenkalk, später, als dieser an den Meeresspiegel gehoben wurde, das Geröll und der grobe Sand des Strandes und bei fortgesetzter Hebung die Producte der Sümpfe, Lagunen und Aestuarien ab- lagerten. Ereignete es sich nun, dass einzelne von

letztern, also von der productiven Kohlenschichtenreihe

bedeckte Partien des jungen Festlandes von der ent- gegengesetzten Bewegung ergriffen wurden, also sich senkten, so mussten sich auf dem allmählich von neuem zum Meeresgrunde werdenden Boden ganz ähnliche Gebilde, nur gerade in umgekehrter Reihenfolge ab- lagern, wie bei dem Emportauchen derselben. Und in der That zeigen die Theile der Erdoberfläche, wel- che kurz nach Bildung der productiven Kohlenforma- tion wieder unter den Meeresspiegel sanken, diese Erscheinung. In Deutschland und England folgt auf die productive Kohlengruppe eine Sandstein- und Conglomerat-, also Strandformation, ganz ähnlich wie der flötzleere Sandstein und Millstone-grit, welcher sie unterlagert, und darauf eine Kalkstein-, Dolomit-, Gipsformation, entsprechend dem untersten Gliede des carbonischen Systems, dem Kohlenkalke. Dieser Zwei- theilung wegen, die sich in durchgreifenden paläonto- logischen und petrographischen Unterschieden äussert, bezeichnet man die derartig entwickelte und geglie- derte Formation als Dyas. Die einzelnen Stadien die- ses Cyclus von Vorgängen, aus denen die carbonische und dyassische Formation hervorging, sind demnach (von oben nach unten gelesen):

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6o Uebergangs- und Urgebirge.

5) Tiefsee Marine Kalkstein Meeres- Zechstein Gebilde thiere 4) Senkung| Strand- Conglo- Rothliegendes unter das gebilde |merate und D Meer Sandstein yas Kohlenführen- es 3) Stillstand Süsswasser-| Kohlen- IRRE Rothliegendes und Sumpf-| führende A und gebilde | Schichten | Pfanzen Produetive Kohlen- formation 2) Hebung Strand- Conglo- Flötzleerer Carben. über das gebilde |merate und Sandstein Formation. Meer Sandstein Kulm 1) Tiefsee Marine | Kalkstein | Meeres- Kohlenkalk Gebilde thiere

Es wird aus dieser Darstellung auch klar, dass bei unvollständiger Hebung, wie sie in Nordamerika statt- gefunden, die Bildung der Mittelperiode gestört wird oder ganz in Wegfall kommt, und dass es von localen Ursachen und der Dauer der Oscillationen abhängen kann, wenn, wie in der der deutschen Dyas entspre- chenden russischen Permformation die Grenzen der Unterabtheilungen mehr oder weniger verwischt sind.

Die beiden, über 3000 und 6000 Meter Mächtigkeit erreichenden Schichtenreihen unter der Steinkohlen- formation, die devonische und die silurische Formation, sind die untersten, also die ersten, welche das Gepräge ihrer Entstehung als Absätze aus dem Meere deutlich an sich tragen. Man fasste früher beide Gruppen auch unter dem Namen Uebergangsgebirge oder Grauwackenformation zusammen. Auch in ihnen wechseln sandige, thonige und kalkige Gesteine miteinander ab unter Abänderungserscheinungen schon localer Natur, aus denen gegen die Periode der Kohlen- formation hin die ersten Anfänge continentaler He- bungen hervortraten.

Auch die Granite, Gneise und Schiefer, welche als „Urgebirge“ und „primitive Formationen“ vor dem Silur entstanden, sind in ihrer Hauptmasse Sedi-

in

Aelteste Organismen. 61

mente aus heissen oder sehr warmen Urmeeren, welche infolge von Druck und Hitze mannichfaltige innere Umgestaltungen erlitten haben. Man hat sie bis in die neuere Zeit auch die azoische, keine Lebensreli- quien enthaltende Gruppe genannt, bis die Entdeckung des Morgenröthenthieres (Eozoon) und sein massen- haftes Vorkommen in den laurentinischen Schichten von Canada den Forderungen einer nothwendigen Schlussreihe mit der Thatsache entgegenkam.

Mit diesem Eozoon soll nun die Musterung der vor- weltlichen Thiere von unten nach oben begonnen werden. Die Reste dieses Wesens bestehen aus einem mehr oder minder unregelmässigen System von Kammern mit Kalkwänden, deren In- neres mit Serpentin oder auch Augit ausgefüllt wurde. Man hat den orga- nischen Ursprung dieser Kalkgehäuse, welche sich am nächsten mit den Scha- len der Foraminiferen vergleichen las- sen, leugnen wollen. Allein erneuerte Untersuchungen bestätigen, dass zwar bei der grössten Masse des Eozoon- gesteins, das in mächtigen Schichten vorkommt, die Umänderung das Er- kennen der wahren Natur des Körpers fast ganz oder ganz unmöglich gemacht hat, dass aber dazwischen Stücke mit ausgeprägter Kammerung und einer den Foraminiferen eisenthümlichen KRöhrenstructur vorkommen, welche eine andere Deutung als die auf ein niederes, den Foraminiferen ähnliches Lebewesen ausschliessen. Das ist von grösster Tragweite, weil die Fülle von Leben, welche in den silurisechen und devonischen Schichten angetroffen wird, eine vorausgegangene unmessbar lange Zeit voraussetzt, während welcher auch schon das Le- ben existirte und nach und nach zu jener Menge der Silurperiode anschwoll. Wir kennen aus derselben

Fig. 9.

2. Graptolithen. PTriloben

' nur spärliche Reste von Seepflanzen und nnr Seethiere,

diese aber in solcher Mannichfaltigkeit und 'Formen- menge, dass wir schon daraus auf das Vorhandensein von Küsten, seichten oder tiefen Meeresdistricten, eine Reihe geographischer Verhältnisse schliessen müssen, von denen wir die Mannichfaltiskeit und Tracht der Lebewesen abhängig sehen. Neben zahl- reichen Formen von

enger an noch lebende Familien anschliessen, finden wir die ganz ei- senthümliche Gruppe der Graptolithen ‘Fig. 9), welche zwar keine eigentlichen Po- lypen sind, sich aber den sogenannten Qual- lenpolypen am näch- sten anreihen dürften und damit den Schluss zulassen, dass damals auch schon die Er- scheinung der höhern Formen der Cölen- teraten, der Quallen, sich vorbereitete. Die Gliederthiere werden durch die Trilobi- ten (Fig.10. Trilo- bites remipes) reprä- sentirt, eine Krebs-

Fig. 10,

form, die an die heutige Gruppe der Blattkiemer.

erinnert, sich deshalb aber noch nicht näher hat be- stimmen lassen, weil bei keinem der vielen Tausende von untersuchten Exemplaren der aus dem Silur und Devon bekannten Formen (etwa 2000) die Beine er-

Korallen, welche sich

N ter

Weichthiere der Uebergangsformation. 63

halten waren. An diesen Dreilappenkrebsen treten Kopf, Rumpf und Schwanz, sowie die Dreitheilung in

der Quere deutlich hervor. Die beiden zusammen- gesetzten Augen weisen auf eine schon hohe Stufe der - Organisation. Die Fähigkeit, sich einzukugeln, welche sie mit mehreren heutigen im seichten Wasser und am Strande lebenden Krebsen gemein haben, und ihr gan- zer Habitus lässt schliessen, dass auch sie Küsten- bewohner waren. Die Weichthiere waren hauptsächlich durch Armfüsser und Kopffüsser vertreten. Da jedoch auch Zweischaler und Gasteropoden da sind, so ist das Aussehen jener ältesten bekannten Weich- thierfauna nur durch das Zahlenverhältniss von der heutigen verschieden, und durch den allerdings sehr wesentlichen Umstand, dass von Cephalopoden sich nur Nautileen fanden. Die Brachiopoden schwellen sehr bald zu ihrer höchsten Blüte an und haben sich dann in sehr vermindertem Umfange bis in die Gegenwart hineingezogen. Von den Muscheln nehmen im Verlaufe der spätern Periode die Dimyarier die Führung, und über die Bauchfüsser machen wir nur die Bemerkung, dass sie in innerer Gliederung und Mamnichfaltigkeit gegen die neuere Periode stetig zunehmen, wie denn auch die Land- und Süsswasserbewohner unter ihnen zwar schon vereinzelt aus der Steinkohle genannt wer- den, aber in Menge und Mamnichfaltigkeit erst den Tertiärzeiten angehören. Den Cephalopoden müssen wir uns noch wiederholt zuwenden. Von Wirbelthie- ren aus dem Silur sind nur Reste eigenthümlicher Fische bekannt, deren Verwandte in den Haien und Rochen zu suchen.

Im Devon oder dem Zeitalter des obern Ueber- gangsgebirges hatte die Oberfläche der Erde ein freund- licheres Aussehen angenommen, wenigstens stellenweise. Denn von hier sind die ersten Landpflanzen zu ver- zeichnen. Für den Charakter der Fauna ist die schnelle Abnahme der Trilobiten bemerkenswerth, das Auftreten der wichtigen Cephalopodengattung Clymenia,

64 Fische der Uebergangsformation.

an deren Stelle später die Ammoniten rücken, vor allem aber der grössere Reichthum der Fische, die noch immer die alleinigen Repräsentanten der Wirbel- thiere sind und in den damaligen Meeren eine unbe- strittene Herrschaft führten. Neben den Haien sind die Panzerganoiden. Zwar gehört der Fisch, des- sen Hinterende hier abgebildet (Fig. 11. Palaeoniscus), erst der obern Kohle und Zechsteinformation an; allein es ist nothwendig, schon jetzt auf die Merkmale der eigentlichen Ganoiden hinzuweisen, die im Silurmeere sich in ziemlich abenteuerlichen Gestalten getummelt haben. Glanzschupper nennt sie Agassiz von den rhombischen, mit einer der Erhaltung sehr günstigen

Fig. 11.

Emailschicht versehenen Schuppen, die in schiefen Reihen mit der ganzen Fläche aufgewachsen sind. Die Wirbelsäule geht, wie bei den Haien, in das obere Ende der Schwanzflosse und macht diese auffallend unsymmetrisch. Die Ganoiden sind, wie die verglei- chende Anatomie mit Sicherheit nachweist, eine Fort- bildung haiartiger Fische, wenn auch nicht gerade zum entschieden Höhern. Aber die Ganoiden haben die Haie zur Voraussetzung.

Die Steinkohlenperiode verdankt ihren Namen der in ihre Mitte fallenden massenhaften Anhäufung der Reste von Landpflanzen, der farnartigen Calamiten,

a a Be a a a Sa u TE A a Zr

"Thierwelt der Kohle nd Dan | 65

besonders aber der zwischen den Gefässkryptogamen und Nadelhölzern stehenden Sigillarien und Lepido- A _ dendren. Sie bildeten tropische Sumpfwaldungen, wie _ sie Franz Unger schon vor einigen Jahrzehnten in _ einer genialen Composition zu restauriren versucht _ hat. In diesen durch Ausdehnung und Ueppigkeit vor den Anfängen der vorangegangenen Perioden ausge- zeichneten heissfeuchten Urwäldern treten auch neue - Erscheinungen der Thierwelt auf, Skorpione, Tau- sendfüsse und Insekten, also luftathmende Gliederthiere, auch die ersten luftathmenden Wirbelthiere. Die letztern, die Froschsaurier oder _ Labyrinthodonten, haben vornehmlich Amphibien- _ eharaktere, zeigen z. B. mehrere wichtige Eigenthüm- lichkeiten des Froschschädels, ihre Hautbedeckung aber erinnert an den Schuppenpanzer der Echsen: wir fin- den Charaktere combinirt, die später an verschiedene Gruppen vertheilt sind. Auch Spuren grosser See- eidechsen sind da. Diese amphibienartigen Thiere treten aber hier und auch in der Zechsteinformation noch sehr zurück gegen den Reichthum an Ganoiden, der ganz besonders einige Schichten der Zechstein- formation, z. B. den Kupferschiefer charakterisirt. Man lässt der Uebersicht halber nicht unpassend mit dem Zechstein eine grosse Periode der organischen Entwickelung abschliessen, nennt die Formationsreihe vom Silur bis einschliesslich Zechstein die paläozoi- sche und fasst die folgenden, Trias, Jura und Kreide, als mesozoische zusammen.

Verschwunden sind nun die Trilobiten, die Panzer- ganoiden u. a., und die mächtige Entfaltung der Rep- tilienwelt gibt dieser mittlern Hauptperiode ihr Gepräge. Die Trias besitzt noch keine echten Kno- chenfische. Noch herrschen die Labyrinthodonten vor,

woneben die schon in der Dyas aufgetretenen Archäo- saurus und Proterosaurus durch zahlreichere, sich den echten Reptilien nähernde Formen ersetzt werden. Ein‘ einziger Fund aus dem Keuper hat uns die SCHMIDT, Descendenzlehre. 5

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66 : » "Fauna de Jurazert. MR 2 meer

ältesten Spuren eines Säugethieres, die Zähne

eines raubthierartigen Beutlers geliefert. Schon aus dem petrographischen Charakter der Juraschichten liess sich abnehmen, dass im allgemeinen ihre Zeit der Entfaltung der Thierwelt bedeutend günstiger gewesen sein müsse, als die viel unruhigere Triasperiode, oder

dass wenigstens auf eine reichlichere Erhaltung der

organischen Reste gerechnet werden könne, denn die Juraschichten sind meist ungestört verlaufene Ablase-

rungen. Und so ist es auch. Die bisher fast ohne

Feinde die Meere beherrschenden Haie und Ganoiden fanden die ihnen überlegenen Gegner in den echten Meerechsen oder Enaliosauriern, namentlich den Ichthyosauren und Plesiosauren. Der Kopf ist eidechsen- und krokodilartig, die Wirbel fischähnlich, und ihre Extremitäten erinnern ebenfalls, wie Gegen- baur gezeigt, an die einfachere Flosse der Haie. Auch lassen ihre versteinerten Kothballen auf eine sehr eigen- thümliche Beschaffenheit des mittlern Theiles des Darmka- nals mit völliger Sicherheit schliessen. Sie besassen einen Spiraldarm, gleich den Haien und verwandten Fischen. Diese Thiere sind also nicht blos wegen ihrer auf- fallenden-äussern Erscheinung und der ihnen zufallen- den Rolle im Haushalte der Natur merkwürdig, son- dern, wie die Froschsaurier, als Mischformen und als Verbindungsformen der Reptilien und Fische. Ausser ihnen sind aus der Meeresfauna die massenhaft auf- tretenden Ammoniten hervorzuheben, neben den Nautiliten die zweite Hauptform der ehemaligen Ce- phalopoden, deren Studium in neuester Zeit zur Ent- scheidung der wichtigsten Punkte unserer Wissenschaft sehr wesentlich beitragen zu sollen scheint. Aber neben ihnen wuchert auch. schon die Artenmenge der aus der Trias stammenden Belemniten auf. Sie sind die erwiesenen Vorläufer der jetzt das Uebergewicht habenden zweikiemigen Cephalopoden. Auf den dem weissen Jura angehörigen Kalkplatten von Echstädt und Solnhofen sind auch die wie Zeichnungen aus-

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a ei a Be N ri a a

Fauna der Jurazeit und Krk 67

sehenden Abdrücke von Medusen erhalten, welche zeigen, dass diese Klasse schon damals die noch be- stehende Ausbildung erreicht hatte. Auch die Landfauna der Jurazeit ist um neue Ge- stalten und Gruppen reicher geworden. Wir finden die ersten wahren Krokodile, Schildkröten und die auffallendste Variation des Eidechsentypus, die Flugechsen oder Pterodaktylen. Man kann aus ihren . wohlerhaltenen Skeleten entnehmen, dass ihre Flughaut zwischen der vordern und hintern Extremität ausge- spannt war, hinten ähnlich wie bei Fledermäusen sich bis zum Fuss erstreckte, vorn aber durch die Verlän- gerung des kleinen Fingers eine entsprechende Ansatz- linie erhielt. Auch ein erster und einziger Vogel ist in den berühmten Lagerstätten der Flugechsen, in den lithographischen 'Schiefern von Solnhofen in Baiern gefunden (Archaeopteryx lithographica). Die auf- 'fallendste Eigenthümlichkeit dieses an den genauesten Federabdrücken erkennbaren Vogels ist der lange mit zwei Reihen steifer Federn besetzte Schwanz. Leider ist der Kopf zur Unkenntlichkeit zerquetscht. Auch die oben schon signalisirte niedere Ordnung der Säu- ser, die Beutelthiere, war da, wie die Funde aus dem mittlern Jura Englands und dem obern Jura der Purbekschichten zeigen. ‚Merkwürdigere Zwischenformen als Archaeopteryx sind die vogelartigen Thiere der Kreide, welche durch sanduhrförmige Wirbelkörper sich direct an die Seesaurier des Jura anschliessen, auch Zähne besitzen, welche übrigens vielleicht auch dem Archaeopteryx zukommen. Später mehr von diesen Wesen, welche eine bisjetzt sehr empfindliche Lücke ausfüllen. Es ‚fällt in diese neue Periode die grösste Blüte und das Aussterben der Ammoniten mit vorausgehendem Sta- -dium von Krüppelformen, als welche man die Turri- lites, Scaphites, Baculites u. a. ansieht. Auch die Blüte der grossen Seeeidechsen ist vorüber, aber die Sümpfe der Wealdenzeit beherbergten neue Formen von 5*

68 Historische Entwickelung der Seeigel.

von mächtigen Landeidechsen. Zu den langschwän- zigen Krebsen treten die Krabben, die am höchsten entwickelten Formen der Klasse. Auch fällt in Jura und Kreide die Hauptblüte der seeigelartigen Echinodermen. Wir haben die Klasse der Stachel- häuter bisher noch gar nicht erwähnt, um hier im Zusammenhange einige wichtigere Phasen ihres geolo- gischen Erscheinens hervorzuheben. Ein ausgezeich- neter Kenner dieser Klasse, Desor*), hat kürzlich untersucht, wie in jener grössern Gruppe der Seeigel sich allmählich der Fortschritt der Organisation geltend macht, bei welcher Gelegenheit er einige allgemeine Betrachtungen über das Princip der Vervollkommnung der in ihren Repräsentanten als Seesterne und Seeigel unsern Lesern wol allgemein bekannten Stachelhäuter anzustellen veranlasst war. Wenn sowol das Glieder- thier, als das Wirbelthier mit dem Ungleichwerden der ‚hintereinander liegenden Leibesabschnitte eine höhere Stufe erreichen, so tritt die grössere Einheit und damit Vervollkommnung des Echinodermenkörpers ein, indem die Strahlen oder die sogenannten Anti- meren zurücktreten unter die Einheit des Ganzen. Je deutlicher diese Elemente, d. h. je selbständiger sie bleiben, : desto niedriger ist, wie das Gliederthier, so auch das Echinoderm. Danach nehmen die See- sterne, theilweise auch die Haarsterne oder Crinoideen, den untersten Rang ein. Es verlässt uns jedoch auch leider hier die paläontologische Ueberlieferung. Nur steht - so viel im allgemeinen fest, dass in ‚den ältern ver- steinerungführenden Schichten beide Abtheilungen reich vertreten sind. Auch eine höchst merkwürdige und wichtige Zwischenform aus dem obern Silur von Dudley ist bekannt (Eucladia Johnsoni), um so wichtiger, als bisher nur wenige Uebergangsformen der Ordnungen ineinander aufgefunden sind. Das Verhältniss der

“*) Bulletin de la societ& des sciences nz de Neuf- ns IX. 2, 5

Be >

Pestorinche Entwickelung der Seeigel. 69

_ Seesterne zu den Seeigeln ist noch unklar. Dagegen _ liest die Brücke von den Haarsternen zu den Seeigeln _ ziemlich deutlich vor. Die eigentlichen Crinoideen sind

festsitzend, und ihnen schliessen sich in der Steinkohlen- formation de nicht mehr festsitzenden Cystideen und Blastoideen an, wozu sich die mehr den Seeigeln glei- chenden Tesselleen gesellen. Nun sind Dyas und Trias

noch arm an echten Seeigeln, sehr reich dagegen der

_ Jura, und in dieser grossen Periode vollzieht sich

langsam und Schritt für Schritt zu verfolgen vom älte- sten Juragebilde an, dem Lias, bis zum Korallenkalk die Umgestaltung der Seeigel zu einer ausserordent- lichen Mannichfaltigkeit. Anfänglich herrschen die Cidariden vor; zu ihnen treten im Oolith- die Echino-

‚coniden und Cassiduliden. In den spätern Stufen des

obern Jura ist die schärfere Trennung der Arten das Charakteristische. Desor weist nach, wie diese Ent- faltung mit zeitweilisem Stillstande mit der jeweiligen Beschaffenheit des Meeresbodens zusammenhängt. „Das

Gesetz des Fortschrittes“, sagt er, „zeigt sich in dem

Umstande, dass es die niedrigsten unter den Echini- den sind, die Regularien und Endocycliken, welche sich zuerst zeigen, anfangs unter der Gestalt der Tesselleen, dann unter derjenigen der Cidarideen, wäh- rend die vollkommensten der Spatangiden, mit am deutlichsten ausgeprägter zweiseitiger Form, zuletzt

erscheinen. Zwischen diesen Extremen finden wir eine _ Menge von Gattungen und Gruppen, die sich vonein-

ander nur durch Nuancen unterscheiden, sodass beı

_ zwei zusammenhängenden Gattungen es oft schwer, ja

_ unmöglich ist, anzugeben, welche die vollkommnere.

Die Vervollkommnung zeigt sich erst in der Gesammt- heit, aber im concreten Falle ist sie meist nicht nach- zuweisen.“ Auch noch in der Kreide dominiren die Seeigel.e Einige neuere Entdeckungen seeigelartiger Thiere mit weich und biegsam bleibenden Hautbildun- gen bestätigen, was theoretisch höchst wahrscheinlich war, dass aus ihnen in den neuern Perioden die am

70 Thierwelt der Torlärzen,

höchsten stehende Ordnung der Holothurien oder See-

gurken hervorgegangen, und somit fügt sich auch die Abtheilung der Stachelhäuter der allgemeinen Erfah- fahrung des Aufsteigens von den niedrigern und in- ren zu den höhern Formen.

Mit der Tertiärzeit bricht die noch oe | Gestaltung der Dinge hervor. Palmen und Laubhölzer Bern chnch die Vegetation. Auch die Thierwelt ist von den ältern Abschnitten der Tertiärperiode an bis zur Gegenwart im wesentlichen dieselbe geblieben, wie im Kapitel über die geographische Verbreitung näher auseinander gesetzt werden soll. Waren es in der ältesten Formationsreihe die Fische, in der mittlern die Reptilien, welche aus der Lebewelt als Repräsen- tanten der höchsten Entwickelung hervortreten, so überwältigt nun, wo die Continente, freilich noch un- ter mannichfachen localen Schwankungen, sich der jetzigen Configuration nähern, der Eindruck der Säuge- thiere. Unter dem Einfluss von Hebungen und Sen- kungen, mehreren Eisperioden, dem immer schärfern Hervortreten der klimatischen Zonen fanden öftere Dislocirungen innerhalb der Pflanzen- und Thierwelt statt und Specialisirung und Weiterentwickelung. Wie erwähnt, wird der Verlauf der Untersuchungen hierauf zurückführen. Zu der Zeit der Geologie, wo man an die strenge Trennung der Entwickelungsperioden der Erde und die scharf geschiedene Aufeinanderfolge ihrer Zeugen, der Schichtensysteme glaubte, stellte man den Begriff des Fossilen dahin fest, dass, was vor dem Erscheinen des Menschen an der Schwelle der Alluvial- zeit gelebt habe, fossil sei. Es hat sich ergeben, dass das Dasein des Menschen ein weit älteres, dass Arten und Geschlechter, welche die Wiege der Menschheit umgaben, ausgestorben, dass sie also, wie z. B. der Mammuth, nur für uns, nicht für unsere diluvialen Vorfahren, fossıl sind, während andere zahlreiche _ Thierformen, die schon vor dem Menschen existirten, sich bis in die Gegenwart erhalten haben. Im ganzen

7 en A BIN A a a ET a Zu le Ei ine Be 0 . EITGER EI > ö nn J

Allgemeiner Charakter der Vorwelt. 1

- gehen von der Tertiärperiode an die pflanzenfressenden

- Säugethiere den Fleischfressern’ voran, Die Affen er- scheinen erst kurz vor dem Menschen.

Trotz vieler Lücken des paläontologischen Befundes ist der Fortschritt in der Entwickelung des Organi- schen, die Pflanzenwelt eingerechnet, offenbar. Kein fossiles Thier steht im Widerspruch mit dem System. Im Gegentheil finden durch die vorweltlichen Thiere die mannichfachsten Ausgleiche und Vermittelungen statt. Wenn z. B. die heutigen Dickhäuter sich von den Wiederkäuern scharf abheben, so wird zwischen ihnen durch die ausgestorbenen Formen eine ununterbrochene ‚Brücke hergestellt. Wenn uns die Gegenwart nur ein-

zelne zerstreute Gattungen der Zahnlosen zeigt, weist die Diluvialzeit deren eine ziemliche Fülle in weit srösserer Formenmannichfaltigkeit auf. Sowol in den Typen, wie in den Klassenabtheilungen schreitet also das System von den ältern zu den neuern Perioden fort, wobei die ältern Gruppen allmählich anschwellen und dann abnehmen, indem neuere vollkommnere oder specifischer ausgebildete Formen sich einschieben. Jene verschwinden entweder ganz oder überdauern die neuern Perioden bis in die Gegenwart hinein in spär- lichen Resten. Die Formationen haben zwar meist ihre charakteristischen Organismen, aber fast überall sind schon die verbindenden Glieder nachgewiesen. Alles zeigt darauf hin, dass es sich um Evolution, nicht um Revolution handelt. Wo scheinbar ein plötz- licher Abschnitt, verhält es sich doch, wie bei den Re-

volutionen der Menschengeschichte, in welchen auch nur längst vorbereitete, pragmatisch nothwendige Re- formen zum beschleunigten Durchbruch kommen.

Fasst man das Ergebniss der Vergleichung der fos- silen Thierwelt mit der lebenden zusammen, so stellt sich erstens eine Uebereinstimmung zwischen den zeit- lich aufeinander folgenden Stufen und den jetzt neben- einander befindlichen Gliedern des Systems heraus. Zweitens aber, wenn jenes constatirt ist, folgt von

e Es 26

72 Die sogenannten embryonischen

selbst der Parallelismus zwischen der geologischen Auf- einanderfolge der Thiere und den Stufen der indivi- duellen Entwickelung der heutigen Thiere.. Schon Agassiz hat in seinem grossen Werke über die fossilen Fische diese Thatsache schlagend hervorgehoben und sie in seinen spätern Schriften bis zu den Untersuchun- gen über Entwickelung und Wachsthum der Korallen durch neuere werthvolle und überzeugende Beobach- tungen bestätigt. Dieselben Beispiele, welche im vorher- gehenden Abschnitt zur Erläuterung des Parallelismus

der individuellen Entwickelung mit der systematischen

Stufe dienten, können hier wiederholt werden, viele neuere höchst frappirende haben die speciellen Unter- suchungen des letzten Jahrzehnts zu Tage gefördert. Agassiz hat für dieses Verhältniss den Ausdruck

„embryonische Typen‘ oder „embryonische Repräsen-

tanten“ eingeführt. So sind also die gestielten Haar- sterne embryonische Typen der heutigen Gattung Comatula, die ältesten Seeigel die embryonischen Re- präsentanten der höhern Familien der Clypeastriden und Spatangoiden, das Mastodon seiner bleibenden Backzähne halber der embryonische Typus des vor-

übergehend solche Zähne besitzenden Elefanten.

Verbindet man mit dem Worte weiter nichts, als die unklare Vorstellung ‚der Thätigkeit eines und dessel- ben schöpferischen Geistes durch alle Zeiten und über die ganze Erdoberfläche‘!?, so ist damit kaum etwas für das Verständniss gewonnen. Lassen wir uns lie- ber mit Rütimeyer in seinen schönen Untersuchungen

über die fossilen Pferde!® durch solche und ähnliche

Thatsachen ‚auf einen engen Zusammenhang der Ent- wickelungsstadien des Individuums mit denjenigen der Species aufmerksam machen“, d. h. auf einen natür- lichen Zusammenhang. Alle, welche durchaus des per- sönlichen Gottes in der fortlaufenden Schöpfungs- geschichte bedürfen, ziehen aus jenen Thatsachen keinen andern Schluss, als dass ihr Gott die Laune gehabt, anfänglich unvollkommene, später immer voll-

und die prophetischen Typen. | 13

_ kommnere Organismen hervorzubringen und in der

Entwickelung der letztern Erinnerungen an die vor- hergehenden anzubringen.

So werthlos wie die Formel. der embryonischen Typen ist eine andere, welche Agassız für solche Bil- dungen erfunden, wo bei einzelnen fossilen Gruppen

- mechanische und physiologische Effecte in unvollkomm-

nerer Weise erreicht werden, wofür bei später - auftretenden Organismen durch andere ausreichendere

und vollkommene Einrichtungen gesorgt ist. Es sind seine „prophetischen Typen“. In diesem Verhältniss soll z. B. die Flugeidechse (Pterodactylus) zum Vogel stehen. Dient dieses Wortspiel aber etwa zum Ver- ständniss des einen oder des andern? Gibt es über- haupt irgendeine Aufklärung? Kann man sich irgend etwas Vernünftiges dabei denken, wenn man im An- schluss an die Prophetie der Flugeidechse, das ihr geologisch vorangehende Insekt zu ihrem Propheten, oder den Vogel zum Johannes der Fledermaus macht? Sınn kommt nur hinein, wo der Prophet zum Stamm- vater wird, woran in diesen Fällen nicht zu denken.

V.

Nochmals der Wunderstandpunkt und die Natur- forschung. Schöpfung oder natürliche Entwickelung. Linne. Cuvier. Agassiz. Untersuchung des Artbegriffes

Die Botschaft hör’ ich wol, allein mir fehlt der Glaube. Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind.

Mit diesen Worten Faust’s wollen wir uns nochmals ohne Umschweif den Standpunkt des Naturforschers zu einem Gebiet klar machen, in welchem nicht der helle Verstand, sondern die durch farbige Gläser blickende Phantasie, nicht die Logik, sondern die

74 Nochmals das Wunder.

Gedankenwillkür das Scepter führt, worin die Gesetze der Causalität auf den Kopf gestellt werden, ein Ge- biet, auf welchem sich zwar noch recht viele unzwei-

felhaft ehrenwerthe Menschen heimisch fühlen, das aber

im besten Falle zur frommen Selbsttäuschung führt und sehr häufig der Denkträgheit ein Ruhekissen be- reitet. Wir müssen mit aller Schneidigkeit und Rück- sichtslosigkeit Stellung nehmen, da nach Erörterung des thatsächlichen Befundes der Thierwelt in den drei Beziehungen, des jetzigen Bestandes an fertigen For- men, der Entwickelung der Individuen und der histo- rischen Aufeinanderfolge während der jüngern Perioden der Erdbildung, nunmehr nach jener an der Oberfläche bleibenden Arbeit des Registrirens und Referirens die eigentliche Durchdringung unseres Stoffes beginnen soll. Dieser Fall tritt aber nur für diejenigen ein, für welche das Wunder der Schöpfung schlechthin nicht existirt, wogegen ein Beobachter, welcher auch nur den Schatten eines Wunders, irgendwelche Ver- rückung des natürlichen Verlaufes der Dinge für mög- lich hält, seine Wissenschaft der Biologie mit dem früher dargelegten und durch unzählige Specialkennt- nisse erweiterten Wissenswerk als abgethan betrachten muss. Wir können also nicht anders, als den Spruch Goethe’s: „Der Glaube ist nicht der Anfang, sondern das Ende alles Wissens“ so auslegen, dass der Glaube sich mit dem Wissen nicht verträgt, und dass mithin auch der Glaube an eine a des Lebendigen mit der Forschung unverträglich ist.

Wenn aber das ‚Leben nach auf unbegreifliche Weise entstanden sein soll, so muss es sich entwickelt haben. Es hat lange Jahrzehnte gedauert, ehe dieser Gedanke mit seinen Folgen durchbrechen konnte, und um die Hartnäckigkeit zu begreifen, mit der man am Gegen- theil festhielt und einen Kreis von Anschauungen ein- wurzeln liess, deren Bekämpfung erst die moderne Biologie mit Erfolg unternommen, ist es nöthig, an einige Hauptmomente der Geschichte der Zoologie und

Linne. 75

ihrer Träger zu erinnern. Wir werden damit ganz “von selbst an den Punkt geleitet, von wo aus der Schacht der Erkenntniss geschlagen worden ist.

Die vergleichende Anatomie hat nach der Mitte des vorigen Jahrhunderts fast unabhängig vom Ausbaue der systematischen Zoologie einen sehr glücklichen An- lauf genommen und war weit ideenreicher, als jene beschreibende Naturgeschichte.e. Nur einen Satz der letztern nahm sie unbesehen hin, den von der Festig- _ keit und Unveränderlichkeit der Art, und dieser Satz bildet den Mittelpunkt der Anschauungen Linne’s. Die Autorität und lange dauernde Herrschaft dieses grossen Naturbeschreibers wird uns nur verständlich durch die Zuversicht und den Lapidarstil, sowie die Handlichkeit seiner Diagnosen, wodurch er der völligen Zerfahren- heit der Naturgeschichte mit einem Schlage ein Ende machte und der Mit- und Nachwelt als ein Gesetzgeber erschien. Das Hervorheben der Art als der Grund- lage alles systematischen Verständnisses war noch nie so nachdrücklich geschehen. Seine Ansicht gipfelt in dem Satze!!: „Die Vernunft lehrt, dass bei Beginn der Dinge von jeder besondern Art ein Paar geschaffen sei.“ Mit dieser Vernunft sieht es jedoch bei Linne sehr eigenthümlich aus, indem sie dem strengsten Bibelglauben unterworfen ist, und mit diesem Stand- punkt sucht er seine geologischen Vorstellungen in Uebereinstimmung zu bringen. Ihm war besonders ein wirkungsvolles geologisches Phänomen auffallend, die Hebung eines grossen Theils der skandinavischen Kü- sten. Sie geht schneller vor sich, als die Senkung eines andern Theiles, ihre Erscheinungen sind viel mächtiger, und so konnte sich die Vorstellung bilden, als ob das Festland in regelmässiger Zunahme nach und nach aus dem Meere gestiegen sei. „Ich glaube ' nicht sehr von der Wahrheit abzuirren“, sagt er, „wenn ich behaupte, dass alles Festland während der Kind- _ heit der Erde unter Wasser getaucht und von einem ungeheuren Ocean bedeckt war, ausser einer einzigen

nd a BF U NEE ner [a3 a FR VER a 4 hi FE

76 Linn‘. Cuvier.

Insel in diesem unermesslichen Meere, worauf alle Thiere wohnten und die Pflanzen freudig sprossten.‘!? Dass auch alle Pflanzenarten in diesem lieblichen Gar- ten sich befunden haben müssen, gehe daraus hervor, dass ausdrücklich gesagt sei, Adam habe alle Thiere benannt; folglich müssten auch alle Insekten im Para- diese versammelt gewesen sein, die Insekten aber ohne die Pflanzen seien gar nicht zu denken. Linne macht dann den ersten thier-geographischen Versuch, indem er von diesem Mittelpunkt aus die Thiere sich ver- breiten lässt. Die Summe seiner Ansicht über den Artbegriff ist aber immer: „Wir zählen so viele Arten, als das unendliche Wesen im Anfang der Dinge er- schuf‘ 1%; und seine Autorität war so gewaltig, dass das Zeitalter Voltaire’s und Diderot’s dieses offenbare Dogma gläubig hinnahm und als einen Satz, der über- haupt gar nicht bezweifelt werden könnte, den Nach- kommen überlieferte.

Indessen war Linne so wenig Anatom, dass es nach dieser Seite einer völligen Neubegründung der Zoolo- gie bedurfte, und als ein solcher zweiter Linne trat Cuvier auf.1” Seine Schule nennt sich die Schule der Thatsachen, doch war er keineswegs ohne philosophi- schen Anstrich. Im Gegentheil musste die bestimmte und einfache Art seiner Prineipien und Abstractionen imponiren. Die Summe seiner Beobachtungen fasste er als „Gesetze der Organisation‘ zusammen, und er wendete die teleologische Betrachtungsweise, das prin- cipe des causes finales, höchst fruchtbar auf die Er- kenntniss und Wiederherstellung vorweltlicher Thiere an. Die Frage nach der Beständigkeit oder Verän- derlichkeit der Arten klopfte sehr vernehmlich an seine Thüre. Eine äussere Veranlassung dazu gab die ägyptische Expedition und die Untersuchung der mu- mificirten Thiere. Etienne Geoffroy Saint Hilaire und Lamark griffen die Artbeständigkeit an. und meinten, dass die ägyptische Periode viel zu kurz sei, um aus der Gleichheit der Mumien mit den jetzt lebenden

2 nA > 5 ee, ad a Eee a: VW u Ber a 6 wi Por AL. - r & z \ en 1

Cuvier. | OA

Arten, zumal bei der Stabilität der äussern Verhält- nisse, auf die Gültigkeit des Satzes von der Unverän- _ derlichkeit der Art schliessen zu können, allein die Frage ward von der Cuvier’schen herrschenden Schule barsch abgethan und todtgeschwiegen. Indessen ver- mehrte Cuvier nicht blos den Haufen der Thatsachen, sondern, wie wir oben angedeutet, gruppirte sie mit philosophischem Geschick so glücklich, dass er aller- dings seinem bewussten Ziele, dem natürlichen Systeme, sich näherte. Er lieferte den ersten sichern Nachweis untergegangener Thierarten. Hinsichtlich der Ent- stehung der in den nachfolgenden Perioden an ihre Stelle getretenen war er nicht unbedingt, wie man gewöhnlich annimmt, für Neuschöpfung, sondern er _ enthielt sich einer bestimmten Ansicht. „Ich will

nicht gerade behaupten“, sagt er!®, „dass es zur Her-

vorbringung der heutigen Thiere einer Neuschöpfung bedurft habe, ich sage nur, sie lebten nicht an der- selben Stelle und mussten anderswoher kommen.“

Geoffroy dagegen zweifelt nicht, dass die jetzt leben-

den Thiere in einer ununterbrochenen Reihenfolge von

Generationen von den untergegangenen Geschlechtern

der Vorwelt herstammen.

In der Art Cuvier’s lag die Gefahr eines natur- wissenschaftlichen Dogmatismus, und darum wird es gerechtfertigt sein, hier auf einen erst im J. 1873

- gestorbenen Schüler Cuvier’s hinzuweisen, auf Louis

Agassiz, der in der starrsten lehrhaften Weise an den systematischen Kategorien festhält und sie als „ver-

körperte Schöpfungsgedanken“ in schön klingende De-

finitionen kleidet.!? Nach ihm gehören die Arten einer gegebenen Periode der Erdgeschichte an und haben bestimmte Beziehungen zu den während dieser

Zeit vorherrschenden physikalischen Verhältnissen, sowie

zu den gleichzeitigen Pflanzen und Thieren.. Die Spe-

cies sind begründet auf wohl bestimmte Beziehungen - von Individuen zur umgebenden Natur und zu ihrer Verwandtschaft, auf die Proportionen und Beziehungen

.

Ze op ERBEN Zah BEE ala RE N ae ae

or \ A * . iX

78 Agassiz’ systematische Formeln.

ihrer Theile zueinander und auf ihre Ornamentation. Die Individuen, als die Repräsentanten der Arten, stehen in den engsten Verhältnissen zueinander. Sie zeigen bestimmte Verhältnisse zu den umgebenden Elementen und ihr Sein ist innerhalb einer gewissen Periode begrenzt. Von der Gattung heisst es: „Gat- tungen sind aufs engste miteinander verbundene Grup- pen von Thieren, welche weder in der Form noch in der Zusammensetzung ihres Baues voneinander ab- weichen, sondern einfach in den letzten Structureigen-

thümlichkeiten einzelner ihrer Theile.“ ‚Die Individuen

als Repräsentanten von Gattungen haben einen be- stimmten und specifischen feinsten Bau, identisch mit dem der Repräsentanten anderer Arten.“ Wir können diese Definitionen nur für Phrasen erklären und fragen mit Haeckel: ‚Welcher Art sind denn diese «letzten Structureigenthümlichkeiten einiger ihrer Theile», wel- che allein das Genus als solches bestimmen sollen, und welche jedem Genus ausschliesslich eigenthümlich sein sollen? Wir fragen jeden Systematiker, ob er nicht ganz ebenso gut diese Bestimmung auf Species, Varietäten u. s. w. wird anwenden wollen, ob es schliesslich nicht auch «letzte Structureigenthümlich- keiten einzelner Theile» sind, welche die für die Spe- cies, für die Varietät u. s. w. charakteristische Form hervorbringen.“ Vergeblich suchen wir in dem Essay on classification nach einem einzigen Beispiele, wie etwa die Ochsen- und die Antilopengattung, das Hunde- und das Hyänengeschlecht, die beiden grossen Gattun- gen unserer Süsswassermuscheln, Unio und Anodontr, sich in the ultimate structural pecularitiess of some of their parts denn eigentlich unterscheiden. Mehrere dieser von Agassiz gegebenen Definitionen kann man geradezu miteinander vertauschen, so allgemein ge- halten und nichtssagend sind sie. Die Klassen charak- terisirtt er „durch die Art, wie der Plan des Typus ausgeführt ist, so weit man dabei Wege und Mittel berücksichtigt", die Ordnungen „durch den Grad der

BRRET

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Be Agassiz’ systematische Formen. 1%

" Zusammengesetztheit der Structur der Typen.“ Diese

Phrasen lassen sich ohne weiteres eine durch die an- dere ersetzen, sie machen aber, wie die ganze Dog- matik, grossen Eindruck bei denen, welche wegen Unkenntniss der Thatsachen nicht selbst Kritik üben können, und werden daher mit Vorliebe eitirt, um die ungläubige Naturforschung mit der gläubigen zu widerlegen.

Man sollte meinen, wenn die Sache so einfach läge, und die systematischen Begriffe so fest ständen, dass nichts leichter wäre, als das System aufzustellen. Und das behauptet auch Agassız. Er sagt, wenn von einer grossen Thiergruppe auch nur eine einzige Art vor- handen und der Untersuchung zugänglich sei, so könnte man danach die Typus-, Klassen-, Familien-, Gattungs-

“und Speciescharaktere bestimmen, nur die Ordnung liesse sich nicht ableiten. Die Hinfälligskeit dieser und ähnlicher Behauptungen lässt sich am besten nach- weisen durch Untersuchung des Fundaments aller dog- matischen Systematik, der „Art“. Ist dieser Begriff ein wandelbarer, ıst dıe Art nicht etwas ein für alle- mal Gegebenes, sondern nach Zeit und Umständen Wechselndes, so richtet sich auch der Inhalt der höhern, allgemeinern Begriffe von Gattung, Familien u. s. w. hiernach. Die schärfste und consequenteste Kritik über den eingewurzelten Schulbegsriff der „Art“ ist von Haeckel geübt worden?’, nachdem schon Darwin in

seinem classischen ‚Werke über die Entstehung der

Arten die ‚alte Lehre und Praxis der Zoologie und

Botanik in ihrer ganzen Blösse gezeigt. Im Folgenden

halten wir uns an Haeckel.

Wir haben oben gesehen, dass Linne die Schöpfung als biblische unumstössliche Lehre hinnahm, und es ist geradezu komisch, wenn heute noch eine Menge Natur- forscher auf dieses Dogma schwören, welche über alle andern Dogmen längst hinaus sind. Da also in der Bibel von der Schöpfung der Arten die Rede, ‚so wurde diese Sage zum Fundament der Wissenschaft

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80

gemacht. Heute ist die Zahl derer allerdings klein, welche sich auf die biblische Aussage berufen. Viel- mehr meinen diejenigen, welche die Stabilität der Art verfechten, mit Cuvier die Thatsachen zu ihren Gun- sten deuten zu dürfen, wobei sie theils unbewusst in dem ererbten Vorurtheil befangen bleiben, theils mit allerlei Kniffen das klare Gegentheil der Unveränder- lichkeit nicht sehen wollen. Indem Linne auf die Schöpfung zurückwies, rechnete er die Individuen zu einer Art, deren Stammbaum in directer Linie auf das aus der Hand des Schöpfers hervorgegangene Paar zurückführe. Eine Untersuchung dieses Stammbaums war seinerzeit einmal nach dem ganzen Stande der wissenschaftlichen Mittel nicht möglich, aber bei dem strengen Anlehnen an die heilige Ueberlieferung auch kaum nothwendig. Cuvier, obgleich ein sehr unbe- fangener und kühler Beobachter, nahm doch im Grunde die Linne’sche Definition der Art an. Nach ihm ist die Art „die Vereinigung der voneinander und von gemeinschäftlichen Aeltern abstammenden Individuen, und derjenigen, die ihnen ebenso ähnlich sind, als sie

sich untereinander gleichen.“?! „In dieser Bestim»

mung“, sagt Haeckel, an welche sich die meisten spä- tern mehr oder minder eng anschliessen, wird offenbar zweierlei für die zu einer Species gehörigen Individuen verlangt: erstens nämlich ein gewisser Grad von Aehn- lichkeit oder annähernde Gleichheit der Charaktere, und zweitens ein verwandtschaftlicher Zusammenhang durch das Band gemeinsamer Abstammung. Von den spätern Autoren ist bei den zahlreichen Versuchen, die Definition zu vervollkommnen, bald mehr auf die genealogische Blutsverwandtschaft aller Individuen einer Art, bald mehr auf ihre morphologische Uebereinstim- mung in allen wesentlichen Charakteren Rücksicht ge- nommen werden. Im allgemeinen kann man aber behaupten, dass bei der praktischen Anwendung des Artbegriffes, bei der Unterscheidung und Benennung der einzelnen Species, fast immer nur das letztere

S

ee: BF Der Artbegriff. 81

"Moment zur Geltung gelangte, das erstere dagegen "ganz vernachlässigt wurde. Späterhin wurde zwar die genealogische Vorstellung von der gemeinsamen Ab- 'stammung aller Individuen einer Art noch durch die physiologische Bestimmung ergänzt, dass alle In- dividuen einer Art miteinander fruchtbare Nachkom- menschaft erzeugen könnten, während die sexuelle "Vermischung von Individuen verschiedener Arten gar keine oder nur eine unfruchtbare Nachkommenschaft lieferte. Indessen war man in der systematischen Praxis allgemein vollkommen zufrieden, wenn man bei einer untersuchten Anzahl höchst ähnlicher Individuen die Uebereinstimmung in allen wesentlichen Charakteren festgestellt hatte, und frug nicht weiter danach, ob diese zu einer Art gerechneten Individuen in der That gemeinsamen Ursprungs und fähig seien, bei der Be- gattung miteinander eine fruchtbare Nachkommenschaft zu erzeugen. Vielmehr kam die physiologische Be- stimmung natürlicherweise bei der praktischen Unter- scheidung der Thier- und Pflanzenarten ebenso wenig in Anwendung, als die vorausgesetzte gemeinsame Ab- stammung von einem und demselben Aelternpaare. Andererseits unterschied man ohne Bedenken zwei nächstverwandte Formen als zwei verschiedene ‘gute Arten’, sobald man bei einer untersuchten Anzahl von ähnlichen Individuen eine‘ constante Differenz, wenn auch nur in einem verhältnissmässig untergeordneten Charakter nachgewiesen hatte. Auch hier kümmerte man sich nicht darum, ob die beiden verschiedenen Reihen wirklich nicht von gemeinsamen Vorältern ab- "stammten und wirklich miteinander keine oder doch nur unfruchtbare Bastarde zeugen könnten.“ Dass diese gründliche Verurtheilung der nachlinn&i- schen Speciesmacherei nicht zu hart, geht daraus un- ter anderm hervor, dass innerhalb der Zunft die allergrösste Uneinigkeit über die Begrenzung der Spe- cies herrschte und bis heute herrscht, dass man sich

über das Fundament der Speciesbeschreibung, die _ ScHNIDT, Descendenzlehre. 6

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ae er ae Ne a De en a a FE

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4 Er a 1 DE a Fa ad 5 Fe = 82 | Der Artbegriff.

„wesentlichen Merkmale“ durchaus nicht verständigen 4

kann. Wenn auch Agassiz das Recept für die Species aufstellt, so ist abc in jedem einzelnen Falle über die Verhälfnisse der Theile, die Ornamentation u. a. zu entscheiden. Da man, ohne Vogelbälge, Schnecken-

häuser, Schmetterlinge u. s. w. vor sich zu haben,

nicht von vornherein angeben kann, was die „wesent-

lichen Merkmale“ der daraus zu machenden Arten seien,

so ist, wenn es an die Aufstellung der Arten gehen

soll, der subjectiven Ansicht und der reinen Willkür

der grösste Spielraum gelassen, und es gibt nicht

zwei Autoritäten unter den Systematikern innerhalb

eines gewissen, nach seinen Formen wohlbekannten Gebietes, die über die Zahl der Arten, in welche sie

das vorliegende Material eintheilen sollen, einig wären. Die völligste Zügellosigkeit in der Artmacherei hat aber einige Jahrzehnte hindurch bei den Paläontologen geherrscht, wo aus dem Bestreben, die Unterabthei- lungen der geologischen Schichten durch ihre organi- schen Einschlüsse möglichst sicher zu stellen, die Art-

spaltung nach den kleinlichsten, oft nur individuellen

Abweichungen bis in das Unglaubliche gegangen. Eine

gewisse Veränderlichkeit der Arten musste sich zwar

auch dem blödesten Auge aufdringen; man zweiste

Unterarten und Spielarten, Varietäten ab, welche man

nach „minder wesentlichen“, durch Klima und Züch-

tung erworbenen Merkmalen charakterisirte, mit dem

Vorbehalt, dass ihre Kreuzungen untereinander und mit der Hauptart fruchtbare Nachkommenschaft her- vorbrächten, während sie gegen andere Arten sich wie die Hauptart verhielten. Natürlich war das subjective Urtheil bei dieser Trennung der Art in die Unterarten noch weniger als bei der Artbeschreibung an Tradi- tion und Gesetz gebunden. Die ornithologische Lite- ratur der lezten vierzig Jahre dürfte von der hiermit

eingerissenen babylonischen Verwirrung die geeignetsten

Tausende von Beispielen geben. Es soll nun durchaus nicht in Abrede gestellt werden,

Da Artbegrit 85

Mass ein grosser, vielleicht der grösste Theil der jetzt existirenden Organismen für die Naturbeschreibung sich in einem Zustande befindet, wonach sie als so- genannte Arten in ihren äussern und innern Verhält- nissen charakterisirt werden können und behufs der _ Wiedererkennung und überhaupt der wissenschaftlichen Behandlung gekennzeichnet werden müssen. Diese "Stabilität ist aber, wie sich theils direct, theils nach Analogien zeigen lässt, unter allen Umständen nur eine zeitliche, und wir haben ganze Klassen von Or- ganismen, auf welche der alte Artbegriff mit seiner Constanz der wesentlichen Merkmale sich auch mit dem weitesten Vorbehalte nicht anwenden lässt. Kön- nen wir den Beweis unwiderleglich führen, dass solche ‚artlose Gruppen existiren, so ist mit der es Syste- matik und dem Speciesdogma ein für allemal auf- ‚geräumt und das positive Fundament einer neuen Lehre gewonnen. Dieser Beweis ist geführt in zwei Richtungen. Einige Klassen von Organismen befinden "sich in ihrem gegenwärtigen Zustande in einem solchen Schwanken und Fliessen der Formen, dass „Artkenn- zeichen“ und „Gattungskennzeichen“ überhaupt nicht festzuhalten sind. Sie befinden sich in einem extre- men Grade der Veränderlichkeit, welche bei andern einer scheinbaren Ruhe gewichen ist. Andere Reihen von Thatsachen der offenbarsten Artveränderlichkeit zeigen gewisse vorweltliche Gruppen in der Aufein- anderfolge der „Arten“ genannten Formen.

Schon vor dem Erscheinen von Darwin’s Werk über

die Entstehung der Arten war der Physiolog und Zoo- "log Carpenter in London durch seine Untersuchungen der Foraminiferen zu dem im Einzelnen nachge- wiesenen Resultate gekommen, dass in dieser Gruppe niedriger Organismen, welche äusserst zierliche Kalk- gehäuse absondern, nicht von „Arten“, sondern nur von „Formenreihen“ die Rede sein könne. Formen, ‚welche die Systematiker in verschiedene Gattungen "und Familien gebracht, sah er sich auseinander ent- 6*

a De A Dr a) j Fu re ENT) RE C r - \ -

84

wickeln. Indessen sind diese Foraminiferen von so

einfachem Bau, man kennt ihre individuelle Entwicke- lungsgeschichte oder Ontogenie noch so wenig, sie bieten so wenig mikroskopisches Detail zur Controle der Art-

umwandlung, dass den Vertheidigern der Artconstanz allenfalls die Ausflucht geblieben wäre, die Formen- reihen von Carpenter seien Varietäten und bewiesen

nur, dass man die wahren „Arten“ noch nicht gefun- den. Da ist denn nun die Klasse der Schwämme oder Spongien hülfreich eingetreten, auf deren Wichtig- keit in der Artfrage zuerst ich hingewiesen habe. 2

Es handelt sich bei ihnen, so fasste ich meine Unter-

suchungen zusammen, nicht blos, wie bei den Fora- miniferen, um den allgemeinen Habitus der Form, um die variable Gruppirung der Kammersysteme, sondern die Variabilität ist an dem mikroskopischen Detail ebenso und noch specieller vorhanden, als an den gröbern Bestandtheilen. Bei den Foraminiferen kann man wol von mikroskopischen Formen, aber nicht eigentlich von mikroskopischen Bestandtheilen sprechen. In den Spongien aber belauschen wir die Umbildung der feinern Formbestandtheile, der Elementarorgane,

und dadurch wird die Wandelbarkeit des Ganzen so

durchsichtig. Es verhalten sich in dieser Beziehung die Kalkschwämme etwas anders, als die übrigen, und

besonders die Kieselschwämme. Bei jenen ist die Va-

riabılität der mikroskopischen Theile auf einen klei- nern Formenkreis beschränkt, dafür aber der Habitus der Individuenreihen von einer ganz unglaublichen

Biegsamkeit. Wir vermissen nun zwar diese Biegsam-

keit des Gesammtkörpers auch nicht bei den Kiesel- spongien, wir sehen z. B. bei der Gattung Tedania, von Gray zusammengestellt aus einigen meiner frühern Renieren, wie deren eigensinnig zusammenhaltende Nadelformen von Triest bis Florida und Island unter den verschiedenartigsten Verkleidungen auftreten. Die

eine dieser Nadeln neigt aber in einigen Varietäten

schon zu Abschweifungen. Und gerade dieser Punkt,

Formenreihen der Sp ongien. 85

dis bis ins Einzelne zu verfolgenden Umwandlungen derjenigen Organe, welche als vermeintlich stabil der £ Systematik die wesentlichste Grundlage zur Aufstellung der Gattungen und Arten zu bieten schienen, macht _ die Untersuchung besonders anziehend. Schon in den algierischen Spongien habe ich frappante Beispiele en Diese häufen sich in dem Masse, als der Gesichtskreis sich erweitert. Schritt für Schritt machen _ wir die Wahrnehmung, dass auf kein „Merkmal“ ein leidlicher Verlass TE dass bei einiger Constanz der mikroskopischen Bestandtheile die äussere Körperform _ mit ihren groben Kennzeichen weit über die Grenzen E der sogenannten Arten und Gattungen hinaus abändert, bei gleichem äussern Habitus aber die, wie wir er F ten, specifischen innern Theilchen uns en unter - der Hand zu andern werden. „Wer bei den Spongien“, - so schliesst jener Abschnitt aus meinem Werk über die atlantische Spongienfauna, „sein Hauptgeschäftt auf die Species- und Gattungsmacherei verlegt, wird ad absurdum geführt, wie Haeckel in seinem Prodro- mus zur Monographie der Kalkschwämme mit köstlicher Ironie gezeigt. Während ich mich in meinen speciellen Untersuchun- gen im wesentlichen auf die Kieselschwämme beschränkte _ und den, bisher von den sonst so lauten Gegnern der Artconstanz unanget&steten Beweis durch Tausende von mikroskopischen Beobachtungen, durch Messungen, _ Zeichnungen, durch Thatsachen und Schlüsse geführt, dass bei ihnen Arten und Gattungen, mithin feste systematische Einheiten überhaupt nicht existiren, hat _ Haeckel mit unerreichter Meisterschaft die andere Ab- theilung der Klasse, die Kalkschwämme, monogra- phisch bearbeitet.” Er konnte nicht nur meine Aus- - führungen bestätigen, sondern beidem geringern Umfange _ und der grössern Uebersichtlichkeit der zum Studium gewählten Gruppe mit’ grösserer Consequenz und Lücken- losigkeit von der Detailbeobachtung zum Ganzen fortschreiten, Morphologie, Physiologie und Entwicke-

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86 Artveränderung in der Zeit.

lungsgeschichte in möglichster Vollendung darstellen

ind den: Männern des Stillstandes den es

werfen, dass man je nach subjectiver Ansicht eine oder 591 Species der Kalkschwämme annehmen könne, „dass eine absolute Species überhaupt nicht existirt, und dass Species und Varietät nicht scharf zu trennen sind.“ Wer nach diesen Darlegungen auf dem Hirngespinst der Species beharrt, ohne entweder zu beweisen, dass die Thatsachen falsch beobachtet sind, oder dass sie anders und zu Gunsten der Stabilität der Art aus- gelegt werden müssen, wer, wie Agassiz vor einigen Jahren, ohne von solchen Untersuchungen Notiz zu neh- men, öffentlich versichert, man habe noch in keinem einzigen Falle die Veränderlichkeit einer Art gezeigt,

hat kaum noch das Recht, an dem grossen, die Natur-

wissenschaft bewegenden Streite sich zu betheiligen. Nun gibt es aber, wie oben erwähnt, noch eine zweite Richtung, in welcher die Beweglichkeit der

„Art“ nachgewiesen werden muss, nicht die Richtung

1 Keen

due)

in die Breite, sondern in die Höhe und Tiefe. Jene

Veränderlichkeit der Schwämme liefert den höchst wichtigen Nachweiss, dass, um mich so auszudrücken, eine ganze Klasse gegenwärtig eine verhältnissmässige Ruhe noch nicht gefunden hat. Man verlangt aber mit Recht zur Constatirung der Artveränderlichkeit r . T .. 4 = e 7 ke den Nachweis der Veränderlichkeit ım Laufe der Zeit,

des Ueberganges der sich in den Erdschichten_histo- risch folgenden Formen. Wir glaubten bis vor Kurzem

als ein sehr lehrreiches Beispiel der im Verlaufe der Zeit eintretenden Artveränderung die von Hilgendorf *°)

untersuchte Tellerschnecke aus dem Süsswasserkalk von

Steinheim anführen zu dürfen. Allein dieser Fall hat gezeigt, wie vorsichtig wir mit den Beweisen sein müssen, indem spätere Untersucher vergebens sich nach der von jenem behaupteten regelmässigen Schichtenfolge und der darin enthaltenen Gestaltveränderung des Pla- norbis multiformis umsahen, sich vielmehr überzeugten, dass die ganz ungewöhnlich auseinander gehenden For-

N

Artverändernng in der Zeit. 87 men dieser Schnecke bunt durch einander vorkommen. Indessen ist an andern grossartigern Belegen kein Mangel, und der Eifer einiger neuerer Paläontologen, wie Waagen, Zittel, Kayser, Neumayr, Würtenberger””,

in der Verfolgung der sogenannten Arten der Arm- füsser und Ammoniten durch ganze geologische Zeit- räume hat gezeigt, dass für diese wichtigen Abthei- lungen die Unmöglichkeit vorliegt, sie in „Arten“ zu

_ trennen. Wir lassen diese Forscher für uns sprechen. Kayser zieht aus der Untersuchung der Armfüsser (vgl. S. 63) der devonischen Schichten der Eifel fol- gendes Resultat: „Vielleicht spricht keine Thierordnung

so sehr zu Gunsten der darwinschen Theorie, als ge- rade die Brachiopoden. Wer gleich mir Gelegenheit ‘gehabt, eine Menge von Brachiopodenarten Schicht - für Schicht durch einen ansehnlichen Stratencomplex zu verfolgen, wem die gewöhnlichern Arten zu Hun- - derten durch die Hände gegangen, der wird bei der Wahrnehmung, wie weit die Veränderlichkeit vieler Arten geht, oft haben staunen müssen, und nicht selten wird ihm der Muth entsunken sein, bei manchen For- men jemals zu einer scharfen Speciesbegränzung ge- langen zu können, immer weniger wird er den Gedanken, dass unsere Arten in der That, wie Darwin behauptet, nur künstliche Begriffe oder Rubriken sind, gänzlich von der Hand weisen können“. Kayser sieht sich daher genöthigt, die Gränzen seiner Arbeit künstlich zu ziehen und Formenreihen zu bilden, ähnlich wie die andern Erforscher der Ammoniten. Waagen erinnert daran, dass Quenstedt schon längst vor Darwin an den ge- netischen Zusammenhang der verschiedenen Formen aus den auf einander folgenden Schichten gedacht und fährt dann fort: „Unter den Paläontologen, welche in neuerer Zeit unter dem Einflusse der Ideen der Descendenz- theorie sich eingehend mit Ammoneen beschäftigt haben, sind wol wenige zu finden, welche nicht von den That- sachen eben dahin geführt worden wären. Die Existenz

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88 Veränderlichkeit der Ammoniten.

von Formenreihen, wie sie in letzter Zeit mehrfach

nachgewiesen worden sind, innerhalb deren jede jüngere

Form von der nächst älteren um ein geringes abweicht, bis durch die Summirung dieser kleinen Abweichungen

eine grosse Differenz von der ursprünglichen Art her-

vorgebracht ist, die Existenz solcher Formenreihen führt mit zwingender Nothwendigkeit zur Annahme eines genetischen Zusammenhanges“. Eben so Zittel; eben so Neumayr. Letzterer sagt: „Kaum eine That-

sache spricht so entschieden für die Richtigkeit der

Descendenztheorie, als die Existenz von Formenreihen, wie sie schon jetzt in vielen Fällen nachgewiesen wer- den konnten und noch viel öfter werden gefunden werden, da jetzt die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt gelenkt ist. In ganz besonders schöner Weise stellt die hier beschriebene Form der Oppelia darwinii den Ueber- gang von den normal gebildeten Pennilobaten zu den abnorm gestalteten Semiformen her“. Mehrere Haupt- resultete Würtenbergers, die wir zuletzt anführen, werden von Neumayr bestätigt. L. Würtenberger stellte seine Untersuchungen an Tausenden von Exemplaren an aus den Gruppen der Planulaten-Ammoniten mit berippten Schalen und der Armaten-Ammoniten mit bestachelten Schalen. Indem er seine Ergebnisse zusammenfasst, sagt er unter anderm: „Wie man bei den Ammoniten der Planulaten- und Armatengruppe die Species gegen- einander abzuzweigen habe, darüber möchte und könnte ich keinerlei Anweisung geben, indem mir diese Frage als eine ganz verfehlte erscheint. Denn bei Gruppen fossiler Organismen, wo man, wie in diesem Falle, zwischen den extremsten Formen so zahlreiche Ver- bindungsglieder wirklich vor sich liegen sieht, dass der Uebergang ganz stetig vermittelt wird, lässt sich der Species noch viel weniger ein Begriff unterschie- ben, als bei den organischen Formen aus der Jetzt- welt, welche letztere doch wenigstens die heutigen Grenzen der Zweige des grossen Stammbaumes der

organischen Welt bezeichnen. Bei jenen fossilen

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Arten und Bastarde. 89

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Formen jedoch ist es im Grunde vollständig _ einerlei, ob man ein ganz kurzes oderein län- geres Stück irgendeines Zweiges mit einem

besondern Namen beehrt und als Species be- trachtet. Die stacheltragenden Ammoniten, wel- che man unter den Armaten zusammenfasst, reihen sich so innig aneinander, dass es zur Unmöglichkeit wird,

_ die hier angenommenen Arten scharf voneinander zu

trennen. Ganz dasselbe gilt auch von jener Gruppe, deren vielerlei Formen sich durch ihre berippten Scha- len auszeichnen und die man als Planulaten aufführt.“ Es hat sich ferner ergeben, dass die Armaten aus den Planulaten entstehen.

Wir kommen später wieder auf Würtenberger’s vor- läufige Mittheilungen zurück. Hier war es uns darum zu thun, unsern Lesern an die Hand zu geben, wie und wo die neuere Naturforschung mit dem Artgespenst aufräumt, und sie in Stand zu setzen, selbst zu be-

urtheilen, welche Beobachtungsreihen den Versiche-

rungen, dass noch in keinem einzigen Falle der Ueber- gang einer Art in eine andere Art nachgewiesen sel, entgegenstehen. Die alte Schule kommt nämlich nach und nach in die Verlegenheit, ganze Ordnungen und Klassen als ‚Arten‘ zu proclamiren und die früher so schön gekennzeichneten Arten als Varietäten.

Die Unhaltbarkeit des physiologischen Theiles der Artdefinition ist von Darwin und dann von Haeckel überzeugend dargethan. Dass gute „Arten“ auch im freien Zustande sich nicht selten vermischen, und dass gezähmte Arten, wie Pferd und Esel seit Jahrtausenden gekreuzt worden, ist bekannt. Aber die Producte

dieser Mischungen, die Bastarde, sollten nur aus-

nahmsweise selbst fruchtbar sein und jedenfalls nur auf wenige Generationen eine fruchtbare Nachkommen- schaft haben. Dagegen sollte es fest stehen, dass die Producte der Kreuzungen von Varietäten in ununter-

brochener Folge fruchtbar seien. Der Lehrsatz von

der Unfruchtbarkeit der Bastarde hatte sich zuerst

90 Bastarde.

ohne alle experimentelle und allgemeinere Beobachtung ausgebildet, und wurde unglücklicherweise durch eine

der ältesten und bekanntesten DBastardirungen das Maulthier und den Maulesel, scheinbar bestätigt. Diesem

landläufigen Beispiele,wo die Fruchtbarkeit der Bastarde fehlschlägt, setzen wir nur eins der neuern Zeit gegen- über, die durch viele Generationen geglückte Fort- pflanzung von Hasen und Kaninchen, zweier noch nie für blosse Varietäten erklärten au Arten“. Die so zahlreichen und voneinander abweichenden Formen des Haushundes hat die Schule für Varietäten einer Art erklärt, weıl sie sich fruchtbar miteinander ver- mischen. Liest man aber die sorgfältige Zusammen- stellung der Nachrichten über das Verhältniss von gewissen Wolfsarten zu den Hunden wilder Völker- schaften und des europäischen Wolfes zum ungarischen Hunde bei Darwin®®, so wird man mit Darwin es als höchst wahrscheinlich annehmen müssen, dass an ver- schiedenen Punkten der Erde zu verschiedenen Zeiten wilde Arten der Gattung Canis gezähmt wurden, die in fast unbeschränkter Weise miteinander fruchtbare

Nachkommenschaft erzeugen. Aehnliches gilt von der

Hauskatze. Für die Formen der europäischen Haus- katze steht die Sache so, dass ihre Herkunft theils von einer nubischen Art, theils von der europäischen Wildkatze kaum bezweifelt werden kann. Man drehte sich also mit den Schlüssen im Kreise: die Formen gehören zu einer Art, weil sie sich fruchtbar kreuzen, und weil sie zu einer Art gehören, kreuzen sie sich fruchtbar; und auf der andern Seite: weil die und die Formen bei Kreuzungen keine fruchtbare Nachkom- menschaft hervorbringen, bilden sie verschiedene Ar- ten, und weil sie verschiedene Arten sind, zeugen sie keine fruchtbare Nachkommenschaft. Die Fälle der nachhaltigen Fruchtbarkeit der Bastarde sind zwar eben nicht häufig, aber doch so weit constatirt, dass die Behauptung des Gegentheils den Thatsachen offen widerspricht. Aber auch umgekehrt hat der Satz, dass

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Blendlinge. Forster gegen den Artbegriff. 9

‚die Blendlinge, die Kreuzungsproducte der Varietäten,

fruchtbar seien, so allgemein hingestellt keine Gültig- keit. Die Varietät, welche sich in Paraguay aus un- serer Hauskatze‘ abgesondert, paart sich „mit ihrer Stammart nicht mehr; ebenso wenig das zahme euro- päische Meerschweinchen mit der brasilianischen wil- den Stammart. Wenn aber auch im allgemeinen

Kreuzungen von Varietäten sich leichter vollziehen

und häufiger fruchtbare Producte geben als die immer- hin seltenern Kreuzungen von Arten, so ist überhaupt das öftere Fehlschlagen der Artkreuzungen in völligem Einklang mit der oben dargelegten Artveränderung im Laufe der Zeit. Für uns soll vorläufig nur feststehen, dass Blendlinge und Bastarde hinsichtlich ihrer Frucht- barkeit und der Fähigkeit zu constanter Fortpflanzung im wesentlichen sich gleich und nur gradweise ver- schieden verhalten, und dass auf diese Eigenschaften eine nähere Bestimmung und Eingrenzung des Species- begriffes nicht begründet werden kann.

Wenn die ältern Definitionen des Artbegriffes auf das Paradies zurückgehen und die heute lebenden Or- ganismen in directer Linie von den anfänglich auf wunderbare Weise geschaffenen und nie abgeänderten

Stammältern herleiten, so wurde das, wie aus den naiven

Aeusserungen Linne’s hervorgeht, als etwas Selbstver- ständliches angenommen und an den, überhaupt un- möglichen, Beweis nie gedacht. Dass übrigens schon im vorigen Jahrhundert gegen diese oberflächliche Be- handlung des Speciesbegriffes sich die Stimmen tiefer bliekender Naturforscher erhoben, geht unter anderm aus einem Briefe Georg Forsters an Peter Camper hervor, vom 7. Mai 1787. Man gründe Systeme auı diesen Begriff, und doch sei alles schwankend, solange dieser Ausdruck nicht unverrückbar festgestellt sei. Aber alle bisherigen Definitionen dieses Wortes seien hypothetisch und nichts weniger als an sich selbst klar. Wolle man nun so viele Species annehmen, als geschaffen worden, wie solle man dann eine erschaffene

92 „Gute“ und „schlechte“ Arten.

Art von einer, aus der Vermischung einiger anderer hervorgegangenen unterscheiden? Auf die Schöpfung zurückgreifen, heisse sich ın das Unendliche und Un- fassbare verlieren. „Wir werden damit nie etwas be-

greifen, und die Definitionen, welche sich auf eme

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unerklärbare Grundlage stützen, auf ein Mysterium,

sollten auf immer aus der Wissenschaft verbannt sein.“

Ohne dass man irgendeiner Theorie zu huldigen braucht, wird man zur Anerkennung der Thatsache

genöthigt, dass noch gegenwärtig in verschiedenen

Gruppen der Organismen eine solche Unstetigkeit der Formen, ein solcher Grad von Variabilität obwaltet, dass die Gezwungenheit und Künstlichkeit des syste- matischen Scheidens auf der Hand liegt. In vielen

andern Gruppen, z. B. den meisten Ordnungen der

Säugethiere, ist an die Stelle dieses Stadiums der Be- weglichkeit eine gewisse Ruhe getreten und erscheinen die zur Beobachtung und Vergleichung vorhandenen Formen so gegeneinander abgegrenzt, dass sie ohne

Schwierigkeit sich dem System als „gute Arten“ ein-

fügen. Beurtheilt man aber die guten Arten mit den bei den „schlechten“ gemachten Erfahrungen, und will man nicht zu der widersinnigen und den gesunden Menschenverstand verleugnenden Annahme greifen, dass die „guten Arten‘‘ auf eine wunderbare, unserer Erkenntnis unzugängliche Weise entstanden seien, die Entstehung der „schlechten Arten‘ sich aber analysiren lasse, so ist nur der andere Fall möglich und denk- bar, dass, wie Haeckel sagt: „alle Species ohne Aus- nahme ‘schlechte Arten’ im Sinne der Speciesfabrikan- ten sein würden, wenn wir sie vollständig kennen würden.“ Wir kennen also schon genug schlechte Ar- ten, um mit Gewissheit auf das allgemeine Gesetz schliessen zu können. Allein dennoch ist jede weitere Bestätigung und Auffindung „schlechter Arten“ will- kommen. Früher von den Systematikern nur als Un- bequemlichkeiten betrachtet und als unbrauchbare

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Berechtigung. ‚der Arten. 93

| Steine von den Bauleuten verworfen, sind sie jetzt die Ecksteine der Wissenschaft geworden. Soll man nun vielleicht, fragen wir nochmals, die Species ganz aufgeben? Aus mehrern Gründen nicht. ' Selbst vorausgesetzt, dass sogenannte „gute Species“ im Sinne der Systematiker gar nicht existirten, würde der menschliche Verstand in dem Bemühen nach Ueber- sicht genöthigt sein, die Formen zu benennen, wenn nicht alle wissenschaftliche Behandlung unmöglich ge- macht werden sollte. Ausserdem aber ist die Bei- behaltung der Species wissenschaftlich berechtigt und nothwendig, sobald man nur die bestimmenden Mo- mente berücksichtigt und die Definition mit der Wirk- lichkeit in Einklang bringt. Die Species wird nicht blos gebildet von ähnlichen Individuen, da ja schon - die Geschlechter selbst im Falle der Entwickelung ohne Verwandlung erheblich voneinander abweichen. Er- innern wir uns aber an die stufenweise eintretenden Gestaltveränderungen der einer Metamorphose unter- _ worfenen Organismen und an die in regelmässiger Folge im Generationswechsel einander ablösenden For- men, so werden wir, statt von Individuen, von den die verschiedenen Phasen und Reihen der Individuen umfassenden Zeugungskreisen reden müssen. Diese bleiben sich gleich, solange sie unter gleichen äussern Verhältnissen existiren. Inwieweit die Zeit an sich auf das Bestehen und Vergehen Einfluss übt, ist dun- kel. Jedenfalls ist die Zeit ebenso wol wie die äussern Verhältnisse in der Zeit ein Factor der Artverände- rung. Indem wir die Art als absolut veränderlich und nur relativ ständig betrachten, nennen wir sie ‚mit Haeckel „die Gesammtheit aller Zeugungskreise, welche unter gleichen Existenzbedingungen gleiche Formen zeigen“,

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‚94 Die Natitphilosepiile 8

Die Naturphilosophie. Goethe. Prädestinirte Um- bildung nach Richard Owen. Lamark.

Wir haben uns bisher wesentlich mit der Betrach-

tung der Erscheinungsweisen der Thierwelt als gege- bener Thatsachen beschäftigt, ein Eingehen auf den Zusammenhang der Thatsachen und eine Kritik der Erklärungsversuche möglichst vermeidend. Dennoch war es nothwendig, einzelne Momente aus der Ge- schichte unserer Wissenschaft hervorzuheben, deren Nachwirkungen bis in die Gegenwart reichen und deren Kenntniss zum Verständniss herrschender Anschauungen, Richtungen und Vorurtheile verhilft. Aus diesem Grunde greifen wir nochmals in die Entwickelungs- geschichte der Biologie und vergleichenden Anatomie zurück, um die Strömungen der Gegenwart an ihren Quellen aufzusuchen. Es hat seit der Mitte des vori- gen Jahrhunderts durchaus nicht an leitenden Ideen in den organischen Naturwissenschaften gefehlt, wie solche z. B. in Buffon’s grossartigem Entwurf eines Weltgemäldes enthalten sind. Wenn aber von einer einheitlichen, umfassenden Durchdringung der organi- schen Welt die Rede ist, so wird man zunächst immer an die Naturphilosophie denken, wie sie in den ersten zwei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts das Verdienst für sich in Anspruch nahm, das Weltganze aus einem Prineip zu verstehen, nicht nur die Materie an sich, sondern auch Sein und Werden der organischen Kör- per aus dem Ganzen abzuleiten. Nachdem die Identitäts-

philosophie die Gesetze des Geistes ohne das Studium -

der Leiblichkeit zu begründen begann, und die Iden- tität der Körperwelt mit der Geisteswelt an den Im- ponderabilien und den anorganischen Körpern nach ihrer Weise geprüft hatte, musste sie ihre Constructio- nen auf den Organismus ausdehnen. Dieser Versuch der Verallgemeinerung der Schelling’schen Principien

Dr = von Oken gemacht worden?’, indem er in seinem System die gesammte Natur als einen Process der Entwiekelung auffasst. Die Naturwissenschaft ist ihm die Wissenschaft von der ewigen Verwandlung Gottes, - das heisst des Geistes, in die Welt, ist also im um- fassendsten Sinne Kosmogenie. Jedes Ding im gene- _ tischen Process des Ganzen gedacht, enthält neben dem Begriff des Seins auch den des Nichtseins, oder Position und Negation, indem es in einem höhern aufgeht. In diesen Gegensätzen ist die Kategorie der _ Polarität enthalten, die sich in der Bewegung, dem Leben der Dinge offenbart. Die einfachern elemen- tarıschen Körper treten zu höhern Gestalten zusammen, ‚welche nur potenzirte Wiederholungen jener, als ihrer Ursachen sind. Daher stellen die verschiedenen Gat- tungen von Körpern parallele, sich entsprechende und in»ihrer Gliederung sich bedingende Reihen vor, deren _ vernünftige Anordnung sich mit innerer Nothwendig- - keit aus ihrem genetischen Zusammenhange ergibt. In den Individuen aber kommen jene niedrigern Reihen abermals während ihrer Entwickelung zur Erscheinung. - Die Gegensätze im Sonnensystem, des Planetaren und - Solaren, wiederholen sich in Pflanze und Thier, und da das Licht das Prinzip der Bewegung, so hat das Thier die selbständige Bewegung vor dem vorzugsweise der Erde angehörigen Pflanzenorganismus voraus. Der Embryologie wird in einem allgemeinen Satze ihr Recht gegeben: „Die Thiere vervollkommnen sich nach und nach, indem sie Organ an Organ setzen, ganz so, wie sich der einzelne Thierleib vervollkommnet.“ Im Men- schen aber, als dem höchsten Thiere, ist die ganze Thierwelt enthalten, er ist der eigentliche Mikro-. - kosmus. Ä | Wir können heute das abgerundete, in 3562 Sätzen - niedergelegte System Oken’s "mit den consequenten Phantastereien vom Position, Negation und Polari- - tät, den absolut inhaltsiosen Formeln des + 0 —, ohne - irgendeine wirkliche Durchdringung des Thatsächlichen

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gewiss keine Naturphilosophie mehr nennen, sofern

diese der Ausdruck und die logische Verknüpfung aller gut beobachteten Thatsachen sein soll. Es sind da-

durch aber mannichfache und wichtige Anregungen E

zur Forschung gegeben, und wir haben hier um so

mehr auf dieses System aufmerksam machen wollen,

als es mindestens ebenso viel besagt, wie die vagen

Formeln und Begriffe von „innerer Entwickelung‘“, „Vervollkommnungsprineip“, „Umprägung des Niedern zum Höhern“, und. die ganze Litanei der Halbheit

und Unklarheit, die sich in unsern Tagen breit macht.

Wir halten in diesem Abschnitt nicht die chrono- logische Reihenfolge ein, sondern charakterisiren ver- schiedene Auffassungen der organischen Natur, und dürfen deshalb nunmehr zurückgreifen zu Goethe, welcher nach Haeckel’s Auffassung in der grossen, uns in dieser Schrift beschäftigenden Frage seiner Zeit vör- auseilte und als der selbständige Begründer der De- scendenztheorie in Deutschland zu feiern sei.°® Wir vermögen nicht, Goethe diese Bedeutung beizulegen,

denn eben der Hauptpunkt, worauf Haeckel das grösste

Gewicht legt, dass Goethe die Arten nicht blos als die veränderten Erscheinungen des beweglichen Gat-

tungsbegriffes, sondern als die in ihrer Realität ver-

änderlichen Summen von Körpern ansieht, müssen wir

verneinen. Was uns vornehmlich bewegt, Goethe’s

hier ausführlich zu gedenken, ist seine Durchdringung der Typusidee, welche von Buffon an ein paar Men- schenalter hindurch der Leitstern einer höhern, den reinen Systematikern fremden Forschung war. Goethe verarbeitete dieselbe in sich auf Grund einer aller- dings etwas vornehmen Specialkenntniss des organi- schen Materials und stand jedenfalls an der Schwelle der Lösung. Wie seine naturwissenschaftliche Thätig- keit ein nothwendiger Ausfluss seines Wesens war, habe ich in den citirten Abhandlungen auseinderge- setzt. Andere Nachweise haben Helmholtz und Virchow gegeben.

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Goethe. STIER

Be, Goethe’ N Aufzeichnungen über seine ‚Stellung zur "Natur und seine Forschungen umfassen einen Zeitraum or von mehr als funfzig Jahren. Um das Jahr 1780 fällt 2 unter der Aufschrift: „Die Natur“ eine Art Hymnus E: an dieselbe, der mit den schönen Worten endigt, die g ihn als reinen Pantheisten erscheinen lassen: „Sie hat _ mich hereingestellt, sie wird mich auch hinausführen. E Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten. - Sie wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht _ von ihr. Nein, was wahr ist und was falsch ist, alles hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist ' ihr Verdienst.“ Und kurze Zeit vor seinem Tode, im März 1832, ist er mit ganzer Seele dem wissen- schaftlichen Streit über die verschiedenen Methoden der Naturforschung und die Grundprincipien der An- ' schauung beschäftigt, welcher im Schose der franzö- sischen Akademie zwischen den beiden berühmten Vertretern der in das Einzelne gehenden und der aus dem Ganzen urtheilenden Richtung: Cuvier und Geoffroy St. Hilaire, hell emporschlugs. Was Goethe hier am Spätabend seines Lebens niedergelegt, ist eine Art von wissenschaftlichem Glaubensbekenntniss, und es erfüllt mit der grössten Bewunderung, wie der drei- undachtzigjährige Greis mit denjenigen Grundsätzen auf der Höhe der Zeit und über den Parteien steht, die er in der Blüte des Mannesalters funfzig und vier- zig Jahre früher aus eigenen Kräften sich bildete. In den genialen siebziger und achtziger Jahren, wo Goethe, im Mittelpunkte des weimarischen Lebens - stehend, sich oft aus dem Geräusch der Stadt und des ‚Hofes in die einsame Natur zurückzog, empfing er die- Anregungen zur „Metamorphose der Pflanzen“. Es fesselte ihn die wechselvolle Erscheinung des Pflanzen- _ lebens, und er musste über die vorausgesetzte, diesem Wechsel zu Grunde liegende Einheit und Regel nach- - sinnen. Das war ihm eine neue Quelle Be Unruhe, - die ihn verfolgte, als er 1787 sich gewaltsam den _ weimarischen Einflüssen entriss und nach Italien floh. k Scuuıpr, Descendenzlehre. 2

98 | Goethe.

Dort, in Sicilien, fand er die Lösung des Räthsels:

das Blatt schien ihm das Grundorgan der pflanzlichen

Bildung zu sein. Und als ihm nach der Rückkehr in

Christiane Vulpius ein neuer Stern aufgegangen, legte er die Quintessenz seiner Ideen über die Metamorphose

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der Pflanzen in jenem vorzüglichen Gedichte nieder, w

dessen Zeilen

Alle Gestalten sind ähnfieh, und keine gleichet der andern,

Und so deutet der Chor auf ein geheimes Gesetz, Auf ein heiliges Räthsel

allen gegenwärtig sind, welche sich je mit Goethe’scher Muse bekannt gemacht haben. Er sah nun, als er mit geistigem Auge, wie er vom Naturforscher ver-

langt, sehen gelernt hatte, in den verschiedenen Thei- len der Pflanze das einigende Princip. „Einerlei

Organ kann als zusammengesetztes Blatt ausgebildet und als Stipula (Nebenblatt) in die grösste Einfalt

zurückgezogen werden. Ebendasselbe Organ kann sich nach verschiedenen Umständen zu einer Tragknospe oder zu einem unfruchtbaren Zweige entwickeln. Der Kelch, indem er sich übereilt, kann zur Krone werden,

und die Krone kann sich rückwärts dem Kelche nähern. Dadurch werden die mannichfaltigsten Bil- dungen der Pflanzen möglich, und derjenige, der bei seinen Beobachtungen diese Gesetze immer vor Augen hat, wird davon grosse Erleichterung und Vortheil ziehen.“ In diesen wenigen Zeilen ist der Kern der bis in die Zwanzigerjahre unseres Jahrhun- derts hinein die Zeitgenossen höchst anregenden Lehre

von der Metamorphose der Pflanzen. Bei der Viel-

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seitigkeit seiner Beobachtung musste aber der einmal

gefasste Gedanke sich auch auf die übrige organische

Welt ausdehnen. Vor Goethe hatte kein Naturforscher .

die Insekten anders betrachtet, als wie eine gegebene Summe durch bestimmte Merkmale zu unterscheidender Einzelbildungen. Ihr Inneres war allerdings von ein- zelnen grossen Männern, wie Malpighi, Swammerdam

RE WERE Goethe.

Lyonet aufgeschlossen worden, aber weder an eine wahrhaftige Vergleichung der ve und Gattungen ' hatte man gedacht und noch weniger an eine Erklä- _ rung des Insektenkörpers aus seinen Theilen. Das that Goethe und zwar in der geistreichsten Weise, _ indem, wie es vollkommen richtig, in seiner Anschauung E ‚die Aniro, die im Insekt vom Kopf bis zur Leibes- A spitze sich aneinander reihen, sich ebenfalls wie die ; Pflanzenorgane als blosse Men eines und des-

selben dorgans darstellten. Dort das abstracte

Blatt, das Urblatt oder die Urpflanze, hier der Ring.

Be sprach er es war 1796 in den Vorträgen über den Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die

_ vergleichende Anatomie eine Wahrheit aus, welche

_ erst mehr als vierzig Jahre später von einem der aus- £ gezeichnetsten Zoologen, Milne Edwards, wieder er-

kannt und für die Erkenntniss der Thierwelt verwerthet - worden ist. Es ist die Idee von der Vervoll- IR _ kommnung der organischen Wesen durch die 2 eenartig nett der Ausbildung ihrer im - Grunde gleichen Theile. Raupe und Schmetterling dienen hierfür als Beispiel. ‚So ein unvollkommenes und vergängliches Geschöpf ein Schmetterling in seiner Art, verglichen mit den Säugethieren, auch sein mag, so zeigt er uns doch durch seine Verwandlung, die er - vor unsern Augen vornimmt, den Vorzug eines voll- _ kommenern Thieres vor einem unvollkommenern. Die E Entschiedenheit ist es seiner Theile, die Sicherheit, dass keiner für den andern gesetzt noch genommen _ werden kann, jeder vielmehr zu seiner Function be- _ stimmt und bei derselben auf immer festgehalten bleibt.‘ Nun trat aber auch bei den vollkommensten Geschöpfen, den Wirbelthieren, ein solches innerhalb des Indivi-

duums sich metamorphorisirendes Grundorgan ihm vor > Augen: der Wirbel. Er verfolgte ihn in seinen Um- wandlungen im Verlauf der Wirbelsäule. So unmög- lich es sei, aus der Nebeneinanderstellung des ersten - Halsknochens mit dem letzten Schwanzknochen auf die

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selbe in dem allmählichen re hervor. Was

liegt aber vor dem ersten Halswirbel? Ist der Schä- : del etwas absolut anderes, ein Neues, mit der Wirbel- säule nicht -Tdentisches?. Das war wieder Or

unruhigender Gedanke, der Goethe auf Schritt und Tritt verfolgte. Er sann und verglich, es konnte nicht anders sein, der Schädel musste zur Wirbelsäule ge- hören, nichts als ein Theil der Wirbelsäule sein. Er war durch das Schwanken ım Wahren, wie er sich

später einmal bei einer andern Gelegenheit ausdrückt,

als „redlicher Beschauer in eine Art von Wahnsinn

versetzt“. Da, als er 1790 auf dem Judenkirchhof in

Venedig einen gebleichten Schafschädel aufhob, „offen-

barte sich ihm der Ursprung des Schädels aus Wirbel-

knochen“. Die speciellere Geschichte der vergleichen-

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den Anatomie hat nachgewiesen, wie ungemein fruchtbar

diese vermeintliche Entdeckung gewesen, obschon die

Sache viel complicirter ist, als Goethe und seine Nach-

folger sie sich dachten.

Noch einer wahrhaftigen Entdeckung Goethe’s müs- sen wir gedenken, welche seine eigenste Weise offen-

bart. Es gilt den Zwischenkiefer des Menschen. Goethe arbeitete im Anfang der Achtzigerjahre in Jena unter Loder’s, eines namhaften Anatomen, Anleitung über Knochenlehre. Dass alle höhern Thiere einen die obern Schneidezähne haltenden Knochen als den sogenannten Zwischenkiefer besitzen, ist überaus deutlich. „Hier

trat nun der seltsame Fall ein“, erzählt Goethe, „dass

man den Unterschied zwischen Affen und Menschen darin finden wollte, dass man jenem ein os inter- maxillare (Zwischenkiefer), diesem aber keins zuschrieb; da nun aber genannter Theil darum hauptsächlich merkwürdig ist, weil die obern Schneidezähne darin gefasst sind, so war nicht begreiflich, wie der Mensch Schneidezähne haben und doch des Knochens ermangeln sollte, worin sie eingefügt stehen.“ Es war ıhm darum

nicht begreiflich, weil sich ihm aus der Vergleichung

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Goethe. 101

in der Natur die Idee gebildet hatte, „dass alle Ab-

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theilungen des Geschöpfes, im einzelnen wie im ganzen,

bei allen Thieren aufzufinden sein möchten“. Den

Menschen als eine Ausnahme nicht nach diesem Schema

zu bemessen, wollte ihm nicht in den Sinn, der Mensch

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musste einen Zwischenkiefer haben, und entgegen den Ansichten der grössten Anatomen der damaligen Zeit,

_ wie Peter Camper, wies Goethe nach, wie dieser Zwi- schenkiefer beim Menschen zwar später fast spurlos

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mit dem eigentlichen Öberkiefer verwächst, während der Entwickelung und in den ersten Lebensjahren aber vollkommen deutlich als eigener Theil vorhan-

- den ıst.

Wir haben aus der bisherigen Darstellung schon

_ mancherlei gewonnen. Goethe fand an der Betrach-

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tung des Einzelnen und den Einzelnheiten gar kein

Gefallen. Die Natur und die Naturobjecte als Gewor-

'denes, Fertiges machten auf ihn nur den Eindruck,

alsogleich das Werden und damit den Grund zu un-

tersuchen. Die Dinge nach den Endursachen, nach

einem vorausgesetzten, von der Vorsehung voraus-

bestimmten Zwecke zu beurtheilen, erschien ihm als „ein trauriger Behelf“, der völlig beseitigt werden

müsse. So gibt er der „genetischen Denkweise“ die

volle Ehre, deren sich der Deutsche nun einmal nicht _ entschlagen könne. Er schuf für diese von ihm be- folgte Naturbetrachtung, wonach alles Lebendige im

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innern Zusammenhange, die äussere Gestalt als Andeu-

- tung des Innern aufzufassen sei, den Namen der Mor-

phologie, der Gestaltungslehre. Er erforschte, ‚wie die Natur im Schaffen lebt“, und aus dem Erstaunen über

das ewige Gestalten und Umgestalten, aus der Ver-

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wirrung, in welche ihn die Mannichfaltigkeit der Ge- staltungen versetzte, haben wir ihn herauskommen

_ sehen durch das Suchen und Finden von Urgestalten. 3 Schon vor der Verwirklichung der Metamorphose der

Pflanzen, als er von Knochen und ganzen Skeleten in _ seinem wissenschaftlichen Beinhause in Jena umgeben

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war, erschiem ihm als ein Leitstern die Aufstellung eines anatomischen Typus, eines allgemeinen Bildes, „worin die Gestalten sämmtlicher (Wirbel-) Thiere, der Möglichkeit nach, enthalten wären, und wonach man jedes Thier nach einer gewissen Ordnung beschreibe“. „Die Erfahrung muss uns vorerst die Theile lehren, die allen Thieren gemein sind und worin diese Theile verschieden sind. Die Idee muss über dem Ganzen walten und auf eine genetische Weise das allgemeine Bild abziehen.“ Man soll also, von dem Einzelnen abstrahirend, sich in Besitz eines gewissen Urbildes setzen. Da weder der Mensch zum Masstab für die Thiere genommen werden könne, noch umgekehrt die unendliche Complication des Menschen völlig durch die thierische Organisation erklärt würde, so müsse ' ein über beiden Schwebendes zu Hülfe kommen. An dieses an sich undarstellbare Urbild, dieses Abstractum, und nur an dieses hat sich nach Goethe die Natur in ihrem Schaffen zu halten, „ohne dass sie im min- desten fähig wäre, den Kreis zu durchbrechen oder ihn zu überspringen“.

Wenn man Goethe zu einem offenen Verkündiger oder auch nur zu einem gewissermassen poetisch in- spiririrten Propheten der Descendenzlehre machen will, so legt man auf seine Aeusserungen über „unaufhalt- sam fortschreitende Umbildung“ und ähnliche zu viel Werth, oder geht nicht in den Sinn ein, den er damit verbindet. Nehmen wir einmal die folgende Stelle, die unserm Freunde Haeckel als eine entscheidende gilt: „Dies also hätten wir gewonnen, ungescheut be- haupten zu dürfen, dass alle vollkommneren organi- schen Naturen, worunter wir Fische, Amphibien, Vögel, Säugethiere und an der Spitze der letztern den Men- schen sehen, alle nach einem Urbilde geformt seien, das nur in seinen sehr beständigen Theilen mehr oder weniger hin und her weicht und sich noch täglich durch Fortpflanzung aus- und umbildet.“ Ist hier

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Pr ee a A A FF u ee re Pe A 0 u En a ae N Ba Ge a a ee N a Te N 1 rar Kur

» : Goethe. | 103 Asa etwa gemeint, dass die beständigen den unbeständigen Theilen gegenüberzustellen seien? Durchaus nicht. Goethe hat schon vor Geoffroy St. Hilaire von einem Gesetz gesprochen, was aber kein Gesetz ist und auch nicht ein Ausdruck von Thatsachen, dass die Natur in ihren Bildungen mit einem gewissen Budget schalte, mit dessen Posten sie ausgleichend verfahre. Er scheint nicht gewusst zu haben, dass Aristoteles genau dasselbe behauptet hat, dass die Natur nämlich, wenn sie ein

Organ vergrössere, es nur auf Kosten eines andern

thäte. Auch ein zweites der vermeintlichen, von dem

Franzosen entdeckten Grundgesetze, dass ein Organ - eher zu Grunde ginge, als es seinen Platz aufgebe, hat Goethe damals aufgestellt. Die Natur wirthschaf- _ tet also nach Goethe immer mit denselben Theilen. Die Natur ist ihm unerschöpflich in der Modificirung und Realisirung des Urbildes, dem aber, ‚was ein- mal zur Wirklichkeit gekommen“, klebt das zähe Be- harrlichkeitsvermögen an, eine vis centripeta, welcher in ihrem tiefsten Grunde keine Aeusserlichkeit etwas anhaben kann. Wenn er also von der täglichen Aus- und Umbildung durch die Fortpflanzung redet, so versteht er in Betreff der schon zur Wirklichkeit ge- kommenen Geschöpfe nur jenen Verlauf der Entwicke- lung und Metamorphose, welche ein Bild der uner- schöpflich erscheinenden Natur ist. Die Einflüsse, welche die Natur auf die Theile ausgeübt hat, stellt er sich noch gegenwärtig vor, aber von einem eigent- lichen Umwandeln bestehender Arten in neue, wie es die heutige darwinistische Descendenzlehre verlangt, ist bei Goethe ganz und gar keine Rede.

Was sollte denn auch nach Goethe’s Anschauung umgewandelt werden? Das Urbild doch wol nicht. Er sagt freilich: „So bildete sich der Adler durch die Luft zur Luft, durch die Berghöhe zur Berghöhe. Der

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Maulwurf bildet sich zum lockern Erdboden, die Phoke

zum Wasser, die Fledermaus zur Luft“, und im allge- meinen: „Das Thier wird durch Umstände zu Umständen

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104

gebildet.“ Aber die Erläuterungen, welche er in dem Entwurfe vom Jahre 1796 hierzu gibt, zeigen ganz evident, dass an ein Umbilden vorhandener Arten nicht gedacht wird, sondern an blosse Erscheinungs- weisen des Typus und Urbildes, wie sie in den gegebenen Arten vorliegen. Da heisst es: „Die Schlange steht in der Organisation weit oben. Sie hat ein entschiedenes Haupt mit einem vollkomme- nen Hülfsorgane, einer vorn verbundenen untern Kinn- lade. Allein ihr Körper ist gleichsam unendlich, und er kann es deswegen sein, weil er weder Materie noch Kraft auf Hülfsorgane zu verwenden hat. Sobald nun diese in einer andern Bildung hervortreten, wie z. B. bei der Eidechse nur kurze Arme und Füsse hervor- gebracht werden, so muss die unbedingte Länge so- gleich sich zusammenziehen und ein kürzerer Körper stattfinden. Die langen Beine des Frosches nöthigen den Körper dieser Creatur in eine sehr kurze Form, und die ungestaltete Kröte ist nach diesem Gesetze in die Breite gezogen.“ Es ist gut, sich diese etwas triviale Stelle gegenwärtig zu halten, um in die poe- tische Verherrlichung der Metamorphose der Thiere nicht mehr zu legen, als wirklich darin enthalten ist. Wenn Goethe in diesem prächtigen Gedicht sagt:

Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Thieres, Und die Weise des Lebens, sie wirkt auf alle Gestalten Mächtig zurück

so klingt das allerdings, wir geben es zu, höchst ver- _ führerisch. Man wird aber ernüchtert oder vielmehr auf den richtigen Standpunkt geleitet, wenn man die höchst anziehenden Bemerkungen Goethe’s über d’Alton’s Skelete der Nagethiere (1824) liest. Da zeigt es sich, dass Goethe auch nicht im entferntesten an eine that- sächliche Umwandlung eines Nagethieres in ein anderes durch die Nöthigung der äussern Einflüsse denkt. Der Leser mag selbst urtheilen. „Suchen wir das Geschöpf in der Region des Wassers, so zeigt es sich schwein-

| Goethe.

er als’ Biber sich an frischen Gewässern anbauend; als- dann immer noch einiger Feuchtigkeit bedür fend, Hräbt 2 sichs in die Erde und liebt wenigstens das Verne, _ furchtsam-neckisch vor der Gegenwart des Menschen und anderer Geschöpfe sich versteckend. Gelangt end- _ lich das Geschöpf auf die Oberfläche, so ist es hüpf- - und springlustig, sodass es aufgerichtet sein Wesen treibt und sogar zweifüssig mit wunderbarer Schnelle sich hin- und herbewegt. Ins völlig Trockene gebracht, _ finden wir zuletzt den Einfluss ‚der. Lufthöhe und des alles belebenden Lichtes ganz entscheidend. Die leich- teste Beweglichkeit wird ihnen zutheil, sie handeln a wirken auf das behendeste, bis sogar ein vogel- " artiger Schwung in einen SShamnliren Flug übergeht.“ So belegt Goethe den Einfluss der Umgebungen und äussern Verhältnisse auf die Gestaltveränderungen; man sucht ganz vergeblich nach den realen Gestalten, eiche verändert werden. Nicht der Biber wird zum mauseartigen Erdgräber; nicht die Maus zur Spring- _ maus; nicht die Springmaus zum Eichhörnchen, dieses nicht zum Flughörnchen, sondern „die unaufhaltsam fortschreitende Umbildung“ stellt sich nur dem gei- stigen Auge dar. In der Wirklichkeit findet auch - Goethe nur Angepasstes. So sehr er geneigt ist, Mo- difieationen auf Rechnung. der äussern Verhältnisse zu E stellen, ebenso entschieden spricht er auf der andern Seite: Die- Theile des Thieres, ihre Gestalt unterein- ' ander, ihre Verhältnisse, ihre Bed Eigenschaften, bestimmen die Lebensbedürktisse des Geschöpfes“, und wenn wir innerhalb des eingeschränkten Bildungskrei- _ ses dennoch die Veränderungen der Gestalt ins Un- endliche möglich werden sehen (Entwurf 1796), so abstrahiren wir dies mit den einzelnen durch die ewig _ eine und schöpferische Natur zur Erscheinung gebrach- ten Arten als den Variationen des Urbildes. Mit dem Worte Art sind wir bei dem wichtigsten - Punkt unserer Darstellung der Goethe’schen Natur-

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artig im E srmpfe (das sogenannte Wasserschwein),

106 Goethe. | ET anschauung angelangt, wenn nicht etwa schon aus dem Bisherigen sich zweifellos ergeben haben sollte, dass Goethe durchaus nicht als ein wahrer Vorgänger Dar- win’s angesehen werden könne. Darwin und seine Anhänger behaupten die Veränderlichkeit der sogenann- ten Pflanzen- und Thierarten. Die Frage ist einfach,

ob Goethe auch schon, gleich seinem Zeitgenossen La-

mark, von dieser Veränderlichkeit überzeugt war.

Wenn er einmal sagt, dass „aus dem Samen immer

abweichende, die Verhältnisse ihrer Theile zueinander

verändert bestimmende Pflanzen sich entwickeln“, so ist das an und für sich zweideutig; es kann auf die Entstehung neuer Arten nnd auch auf die Variabilität der ihrem Wesen nach unveränderlichen Art bezogen werden. Ein andermal spricht er von der „Natur- bestimmung‘“ des Pferdes. Ich kann nur eine einzige Stelle in Goethe’s Schriften finden, wo von einer wirk- lichen Umwandlung eines Geschöpfes, wenn nicht zu einer neuen Art, so doch zu einer sehr ausgeprägten constanten Varietät die Rede ist. Ein Dr. Körte lie- ferte 1820 die Beschreibung eines im Halberstädtischen gefundenen Urstieres und stellte Vergleichungen und

Betrachtungen an, wie nach und nach unter dem Ein- fluss der Zähmung unser vielfach abweichendes Haus-

rind aus jenem hervorgegangen sei. Dieser Fund und

ein anderer in Thüringen .(1821), welches letztere

Exemplar von Goethe für das Jenaische Museum ge-

wonnen worden, gaben ihm Veranlassung, Körte bei- zustimmen und die Möglichkeit dieser immerhin leich- ten Umwandlung mit einem wirklichen Vorkommniss

zu illustriren.

Von hier bis zur Anerkennung der Umbildung der Art ist aber immer noch ein weiter Weg, und Goethe hat ihn nicht zurückgelegt. Wir haben eben gesehen, dass der Gedanke, einzelne gegenwärtig lebende Thiere von untergegangenen „Stammrassen‘“ abzuleiten, ihm nicht fremd war. Auch würde die Bemerkung, welche er macht „haben wir doch von organischen Ge-

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“schöpfen, die sich in lebendiger Fortpflanzung nicht

verewigen konnten, die entschiedensten Reste‘‘ diese Bemerkung würde nicht ausschliessen, dass er im all-

. gemeinen den unmittelbaren, auf directer Fortpflanzung

beruhenden Zusammenhang der heutigen Thierwelt mit

ganz anders gestalteten fossilen Geschlechtern ange-

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nommen hätte. Denn es ist ja ganz richtig, dass viele Arten, Gattungen und Gruppen nicht nur die Blüte- zeit, sondern auch ihren Verfall und gänzlichen Un- tergang vor der gegenwärtigen Periode bestanden. Noch mehr. In aphoristischen Aufzeichnungen, die er Probleme nennt, geschrieben vor dem Jahre 1823, spricht er von „charakterlosen Geschlechtern, denen man vielleicht kaum Species zuschreiben darf, da sie sich in grenzenlose Varietäten verlieren“, und stellt sie den Geschlechtern gegenüber, ‚welche einen Cha- rakter haben, den sie in allen ihren Species wieder darstellen, sodass man ıhnen auf einem rationellen Wege beikommen kann“. Goethe hält sich an dieses Factum, um seine von uns schon oben gewürdigte Idee

der Metamorphose zu erläutern, und wir haben nicht

das Recht, die charakterlosen oder „liederlichen‘ Ge- schlechter im Sinne unseres Darwinismus zu erklären, dass sie solche seien, deren Formen sich nicht be- festigt hätten, während die charaktervollen deshalb in wohl unterscheidbare Arten zerfallen, weil eine Menge von Zwischenformen im Verlaufe der Zeit im Kampfe um das Dasein unterlegen sind. Goethe gab diese Probleme seinem kunstsinnigen jungen Freunde Ernst Meyer, um sie zu verarbeiten und seine Betrachtungen dem Altmeister mitzutheilen. Meyer sagt nun: „Je leichter jene (die charaktervollen Gattungen) sich fügen, desto schwerer ist mit diesen (den charakterlosen) fer- tig zu werden. Wer sie aber mit Ernst nnd mit an- haltendem Eifer beobachtet und des angeborenen, durch Uebung ausgebildeten Taktes nicht ganz ermangelt, der wird sicherlich, weit entfernt an ihnen sich zu verwirren, die wahrhaften Arten und deren

108 | Goethe.

Charakter aus aller Mannichfaltigkeit der

Formen gar bald herausfinden. Sollte wirklich in irgendeiner formenreichen Gattung durchaus keine Grenze, welche die Natur selbst achtet, zu finden sein,

was hindert uns dann, sie als eine einzige Art, alle

ihre Formen als ebenso viele Abarten zu behandeln? So lange der Beweis fehlt, der schwerlich je zu füh-

ren, dass überhaupt in der Natur keine Art bestehe,

sondern dass jede, auch die entfernteste Form durch Mittelglieder aus der andern hervorgehen könne: so lange muss man uns jenes Verfahren schon

gelten lassen. Mag nun der Meister den Schüler belehren oder nach alter Sıtte ihn vertreten.“ Und er vertritt ihn, da er das, was der Schüler über die Probleme vermeldet, „als ein Zeugniss reiner Sinn- und Geistesgemeinschaft“ in seine morphologischen Schriften aufnimmt.

Es kann keine Frage sein, dass Goethe tiefere Ge- danken über die organische Natur hegte, als seine Zeitgenossen. Vergessen wir aber doch auch nicht, dass die Hauptidee von dem sich umwandelnden Urbilde

schon vor Goethe und mit Goethe die hervorragenden Geister beherrschte, wie das in meiner kleinen, den

Fachgenossen bekannten Schrift: „Die Entwickelung der vergleichenden Anatomie“ (1855) zu finden ist. Wenn Peter Camper in seinen ‘populären Vorträgen seine Zuhörer damit amüsirte, dass er auf der Tafel aus einem Pferde eine schöne Frauengestalt hervorgehen liess, wenn er sagt, dass er so in die Studien über Wale vertieft sei und in die Vergleichung derselben mit der menschlichen Bildung, dass ihm alle Mädchen, hübsche wie hässliche, nur als Delphine und Cachelots

erschienen, so geschah dies, weil er von einem Ur-

bilde, einer Grundgestalt ausging. Goethe war nur consequenter und verlangte trotz der „peinlichen Ueber- legungen“, wie am Affen so auch am Menschen den Zwischenkiefer. Goethe sagt 1807: „Wenn man Pflan- zen und Thiere in ihrem unvollkommensten Zustande

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pr so sind sie kaum zu unterscheiden. So viel

aber können wir sagen, dass die aus einer kaum zu

- sondernden Verwandtschaft als Pflanzen und Thiere

nach und nach hervortretenden Geschöpfe nach zwei entgegengesetzten Seiten sich vervollkommnen, sodass die Pflanze sich zuletzt im Baume dauernd und starr,

' das Thier im Menschen zur höchsten Beweglichkeit und Freiheit sich verherrlicht. Aber das ist ja nichts

anderes, als eine nach Goethe’s „Art zu forschen, zu wissen und zu geniessen‘ symbolisch verbrämte Wie- derholung eines schon fast funfzig Jahre früher von Buffon aufgestellten und vielfach varlirten Satzes. Nicht erst Goethe in seinem Entwurf von 1796 dringt

auf die höchst fruchtbare Vergleichung identischer

_ Organe eines und desselben Körpers, das thut schon

der geistreiche Vicq-d’Azyr 1786. Mit einem Worte, die Idee des Typus, Urbildes, Grundplanes (dessein

= primitif) war eine Errungenschaft des Goethe’schen

Zeitalters, die nur in Goethe einen prägnantern und vielseitisern Ausdruck fand und uns deshalb bestechen- der erscheint, weil er damit den Begriff der Bewe- gung und Beweglichkeit verband, dies aber, in seinem ausgesprochenen Bedürfniss nach Symbolen, im figür- lichen Sinne.

Wenn Goethe „Gesetze“ gefunden zu haben meint, so ist er in derselben Täuschung befangen, in welcher sich die Naturforscher vom vorigen Jahrhundert an bis in die neuesten Zeiten gewiegt haben, indem sie eine blosse Constatirung von Thatsachen für die Er- klärung der Thatsachen, die Zurückführung derselben auf ihren Grund hinnehmen.. Goethe weiss von einer

_ „Spiraltendenz‘ und einer „Verticaltendenz‘ der Pflanze,

und gleich werden sie ihm zu „Grundgesetzen des

Lebens“. Nun sehen wir allerdings das verticale Stre-

ben ab- und aufwärts in Wurzel und Stamm, wir

_ sehen Windungen und Blattspiralen, wir haben diese

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Thatsachen auch schon in einfachere physikalische und physiologische Phänomene zerlegen können, ohne dass

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110 Richard On

wir auf den innersten Grund, das wahre Gesetz ge-

kommen wären. j

Goethe’s Ansicht über die Stellung des Menschen in der Natur ist im Obigen schon mit enthalten, Dass er, ein Geschöpf und Product der Natur, eine Aus- nahme von dem ihm offenbar so ähnlichen Thiere

machen solle, konnte Goethe nicht zugeben. Er bleibt ihm also unbedingt innerhalb des Typus, „dessen Theile durch alle Thiergeschlechter und Arten immerfort ver-

ändert werden“. Nun haben wir aber, glaube ich, genügend bewiesen, dass der eben angeführte und

ähnliche Aussprüche nur von der in den Geschlechtern

und Arten zum Ausdruck gekommenen potenziellen Veränderlicheit des Urbildes zu gelten haben. Also

ist ihm auch der Mensch ein in der Idee des Typus

und nicht durch die factische Fortpflanzung und Ab- stammung mit dem Thier verwandtes Product. Dies ist der von ihm gesuchte Aufschluss über die „schönste Organisation‘. Goethe war hiermit beruhigt. °®

Von Goethe zu unserm Zeitgenossen Richard Owen ist scheinbar ein weiter Sprung. Allein wenn es uns

daran lag, in Goethe eine Stufe der Naturanschauung

vorzuführen, welche mit einer zwar blendenden, schliess- lich aber doch nur unklaren Formel sich über den Zusammenhang des Lebendigen beruhigt, so wird uns ‘der berühmte englische vergleichende Anatom zeigen, wie man zwar den letzten Schritt thun und sich über- zeugen kann, dass die Aehnlichkeit der Arten einzig und allein durch die Blutsverwandtschaft ihre Lösung findet, und wie man dennoch durch Festhalten am Wunder und Dualismus die Frucht der eben erkann- ten Wahrheit sich aus den Händen gleiten lässt.°® Unter der persönlichen Anregung Cuvier’s, dessen Schü- ler R. Owen im Jahre 1830 war, suchte er sich Klar- heit zu verschaffen über den Grund der Homologien. Hatte Cuvier die Uebereinstimmung der Organe aus dem Zweckbegriff abgeleitet, indem er sagte, Organe seien gleich, weil und wenn sie gleiche Functionen zu

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Be erföllen hätteu, so zeit Owen in Goethe’s Weise nach einem Urtypus (archetype), um die Einheit in der E _ Mannichfaltigkeit und Verschiedenheit der Ausbildung zu erklären. Die sich im Organismus wiederholenden ; _ Reihen, wie die Wirbel, die Aufeinanderfolge der Or- ‚ganismen schienen ihm nicht verständlich durch wun- derbare Schöpfungen, sondern durch natürliche Gesetze und wirkende Ursachen, welche die Species in ordent- licher Reihenfolge und allmählicher Vervollkommnung hervorbringen; diese Gesetze und Ursachen sind aber nur Ausführungen eines vorausbestimmenden vernünf- tigen höchsten Willens.°! Als einem ausgezeichneten Kenner der fossilen Thierwelt konnte dem englischen Forscher nicht verborgen bleiben, dass, je weiter die = Beegechen Perioden entlegen, um so allgemeiner und weniger specialisirt die Organisation der Arten sei, 4 Er konnte dies besonders an der Bezahnung der Säugethiere, auch speciell an dem Verhältniss derjenie gen Hufthiere durchführen, welche mit den ältern Tertiärzeiten beginnen und nach und nach den Cha- rakter des Einhufers annehmen. Er beantwortet also die Frage, ob die Species durch Wunder oder Gesetz entstehen, damit, dass er das letztere in ununterbro- _ chener Wirkung annehme. Dieses „Gesetz“ ist aber etwas ganz anderes, als was die Wissenschaft mit diesem Namen zu bezeichnen pflegt. Warum ist das ‚Pferd geworden? Weil es für den Menschen durch _ die Gottheit vorausbestimmt und vorbereitet war.°? - Dies soll durch das Ableitungsgesetz (derivative law) geschehen. Das ist aber wieder einmal ein inhalts- loses Wort, eine Phrase, welche besagt, das Pferd ist nach nach zum Pferde geworden, weil es nicht anders hat sein sollen. Die Vorgänger des Pferdes ändern sich für Zwecke des noch nicht existirenden, aber von dem intelligenten Willen schon in Aussicht genommenen Menschen. Jene Vorfahren des Pferdes könnten wir also mit den Naturspielen vergleichen; die Umwandlung geschieht nicht, weil sie aus innern

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112 | Lamark.

Gründen geschehen muss, sondern weil es dem intelli-

senten Willen beliebt. Derartige „Naturgesetze‘“ müs- sen wir uns verbitten. Owen sagt: „Ich nehme an, dass eine angeborene, angemessene Zeitperioden hin-

durch wirkende Neigung zur Abweichung vomälterlichen Typus die wahrscheinlichste Art und Weise der Arbeit

des natürlichen Gesetzes gewesen, wodurch die Arten sich auseinander entwickelt haben.“°®® Er sieht vom Ichthyosaurus bis zum Menschen den Zusammenhang

der Abstammung, er verwirft den Einfluss der Um-

gebung als entscheidend, er verwirft zehnmal alles Wunder, klammert sich aber im nächsten Augenblick an das Wunder, nämlich das der angeborenen Neigung zu einer nicht durch die Umstände gebotenen und von ihnen abhängigen, sondern einem gewissen Künftigen, einem Zwecke dienenden Entwickelung.

So handeln die Halben, welche, die Consequenzen

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scheuend, durch ein Wort sich mit dem wissenschaft-

lichen Gewissen abfinden. Wir sind aber nun zu einem ganzen Manne ge- kommen, dessen Hauptwerk, Philosophie zoologique?*,

ein halbes Jahrhundert übersehen und fast vergessen |

war, bis es durch Darwin, vorzüglich aber durch Haeckel, und in Frankreich in neuester Zeit durch

Ch. Martins wieder zu verdienten Ehren gebracht.

wurde. Das ist J. B. Lamark, der die Abstammungs- lehre zuerst formulirte und 1804 eigentlich schon alle jene Sätze aufwarf, welche Darwin neu und besser begründete. Lamark sprach es aus, dass nur die un- serm Fassungsvermögen gezogenen Grenzen die Auf- stellung von Systemen verlangen, während alle syste- matischen Definitionen und Abstufungen ‚künstlicher Natur seien. Man könne überzeugt sein, dass die Natur weder Klassen noch Ordnungen, Familien, Gat- tungen oder unveränderliche Arten hervorgebracht habe, sondern nur Individuen, welche aufeinander folgen und denjenigen gleichen, von welchen sie ab- stammen. Diese Individuen gehören ‘aber unendlich

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= er einwirkt. ee von den Gabi constatirt _ er, was wir gethan, ihre Unbeständigkeit. Aus der Vergleichung der Thatsachen der Bastardirung und Varietätenbildung ergab sich ihm, ‚„dass alle organi- sirten Körper wahre Hervorbringungen der Natur sind, nach und nach in einer langen Zeitfolge zu Stande gekommen; dass die Natur in ihrem Fortgange an- gefangen hat und noch immer wieder anfängt mit der Bildung der einfachsten organischen Körper, und dass sie direct eben nur diese bildet, nämlich jene nie- drigsten Lebewesen, welche man mit dem Namen der freiwilligen Zenzüngen bezeichnet hat‘.

Ab- und Umänderungen treten nach Lamark ein durch äussere Einflüsse; sie werden im Verlaufe der Zeiten zu wesentlichen Verschiedenheiten, sodass nach

vielen aufeinander folgenden Generationen die Indivi-

duen, welche ursprünglich einer andern, Species an- gehörten, sich schliesslich in eine neue umgewandelt _ finden. Unsere eigene beschränkte Lebenszeit habe uns an ein so kurzes Zeitmass gewöhnt, dass daraus die vulgäre falsche Annahme der Stetigkeit und Un- veränderlichkeit hervorgegangen sei. Die Umwandlung

- vollzieht sich in der Nöthigung der Individuen, den

veränderten Lebensverhältnissen sich zu accommodiren. Neue Umstände rufen neue Bedürfnisse wach und neue Thätigkeiten, diese aber neue Gewohnheiten und Nei- _ gungen. Ein grosses Gewicht ist auf den Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe zu legen. ‚In jedem Thiere, welches noch in der Entwickelung begriffen ist, kräftigt der häufigere und nachhaltigere Gebrauch eines Organs nach und nach dasselbe, entwickelt, ver- grössert es und gibt ihm eine im Verhältniss zur Dauer dieses Gebrauches stehende Kraft; während der nach- haltige Nichtgebrauch eines Organs dasselbe unmerklich schwächt, verschlechtert, in zunehmendem Masse seine ı Leistungfähigkeit vermindert und es schliesslich ver- SCHNIDT, Descendenzlehre, 8

un Dee ne wen Ih, em ann u 25 FERN EEE REN, ee "7 fi . nah cr 4

PR z i ee 114 Lamark.

° E £ 9,7 kommen lässt.“ „Und so zeigt uns“, ae; er, „die =

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Natur die lebenden Wesen nur als Ind welche sich in Generationen aufeinander folgen; aber die Ar- ten haben nur eine relative Beständigkeit und sind nur zeitlich unveränderlich.“ >

Lamark berührt den Kampf aller gegen alle (I, 99 u.a.), findet aber nicht das Wort der natürlichen Züchtung. Er ist sich der beiden Factoren der Vererbung und Anpassung vollkommen bewusst, es fehlt aber seinen Anschauungen und Ueberzeugungen der Nachdruck der detaillirten Beweise. Wie fein er aber das Leben auf- gefasst, möge aus seiner Erklärung der Instincte her- vorgehen. Alle Acte des Instinctes werden nach ihm vollzogen unter Anregung, welche erworbene Neigun- gen (penchans acquis) auf das Nervensystem ausüben; _ und indem diese Acte kein Product einer Ueberlegung, Wahl oder eines Urtheiles sind, befriedigen sie immer sicher und fehlerlos die gefühlten Bedürfnisse und die aus der Angewöhnung hervorgegangenen Neigungen. Wenn aber diese Neigungen zur Erhaltung der Ge- wohnheiten und zur Erneuerung der darauf bezüg-. lichen Handlungen einmal erworben sind, so vererben sie sich alsdann in den Individuen mittels der Fort- pflanzung, welche den Bau und die Disposition der Theile in dem erlangten Zustande erhält, sodass die- selbe Neigung schon in den jungen Individuen sich vorfindet, ehe sie dieselbe ausüben. Allerdings reicht, wie Darwin gezeigt, diese Erklärung nicht für alle Thatsachen des Instincts aus, steht aber doch hoch über der heutigen „Philosophie des Unbewussten“, welche den die Instincete ausführenden Organismus durch ein ausserhalb desselben befindliches metaphysisches Wesen zweckmässig regiert werden lässt. ®?

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Ipeil und die neuere Geologie. Darwin’s Selections- theorie. Anfang des Lebens.

Solange die Menschheit auf dem geistigen Gebiete

_ mit Bewusstsein arbeitet, hat es hervorragende Männer

gegeben, welche, schneller combinirend als ihre Zeit- genossen, diesen im Begreifen grosser Wahrheiten, im Erkennen wichtiger Gesetze vorauseilten. Man ist aber leicht versucht, ein solches Vorgreifen einzelner

zu hoch anzuschlagen, und wird in allen Fällen, wo

es sich um dergleichen geistige Grossthaten handelt, her-

_ ausfinden, dass sie, sozusagen, in der Luft schwebten und dass nur die grössere Spürkraft und eine soge-

nannte, auf unbewussten Schlüssen beruhende Intuition

den Bevorzugten über die minder scharfsichtige Um-

gebung erhebt.

Grosse wissenschaftliche Wendepunkte, Revolutionen auf geistigem Gebiete bereiten sich langsam vor; selten wird das Losungswort frühreif und den Zeitgenossen unverständlich ausgesprochen; in der Regel, wenn der Umschwung überhaupt nicht ein allmählicher, fast un- vermerkter gewesen, sondern wenn durch einen jener

- erlesenen Geister der Vorhang plötzlich weggezogen

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wird, fällt es Mitarbeitern und Zuschauern wie Schup- pen von den Augen, und es liegt in der Schnelligkeit,

- mit welcher die neue Anschauung sich Bahn bricht, der beste Beweis, dass sie zur rechten Zeit Gestalt ° _ annahm und verkündet ward.

Dass auch die Descendenzlehre nicht als eine ganz überraschende Erscheinung, wenn auch als eine ge- wappnete Minerva, aus dem Haupte ihres grössten

Vertreters, Darwin, hervorsprang, dafür haben wir wenigstens einige der zahlreichen Belege angeführt.

Dass ihre Zeit wirklich gekommen war, ja dass es die höchste Zeit war, sollte die Lehre von den Lebewesen, 8*F

- = ° 2 > ; & ni "ai $ 116 Lyell und die

die allgemeine Biologie, nicht in ganz unwürdiger Weise-zurückbleiben, erhellt aus der Entwickelung der Geologie, welche dreissig Jahre vor Darwin nach mancherlei guten Anzeichen den richtigen Weg der Erkenntniss der Ursachen einschlug. Die Lehre von der Bildung und Entwickelung der Erde, namentlich in ihren jüngern Phasen, während welcher es auf un- serm Planeten in dem Sinne lebendig wurde und blieb, den wir gewöhnlich mit dem Worte verbinden, diese Wissenschaft der Geologie hängt innig mit unserm grossen Thema zusammen. Die neuere Geologie, wie sie sich besonders an den Namen von Charles Lyell

knüpft, musste über kurz oder lang auch zu ähnlicher Behandlung der Pflanzen- und Thierkunde zwingen, und man kann sich nur darüber wundern, dass der Durchbruch so lange auf sich warten lies. Das Ver- ständniss der Descendenzlehre wird daher nothwendiger- - weise eingeleitet und eröffnet durch einen, wenn auch nur kurzen Hinweis auf die neuere Geologie.

Die erste Auflage von Lyell’s Principles of Geology erschien 1830. In der zehnten von 1866 war ıhm Ge- legenheit gegeben, sich den Darwin’schen Lehren, zu deren Entfaltung er so grossen Anstoss gegeben, voll- inhaltlich anzuschliessen. Vom Jahre 1872 liegt die elfte Auflage des Meisterwerkes vor. Es handelt sich um die Untersuchung fortdauernder Effecte jetzt wir- kender Ursachen, um daraus auf die Vorzeit zu schliessen. Lyell nannte diese Effecte eine Autobiographie der Erde. „Die jetzt auf und in der Erde wirkenden Kräfte“, heisst es, „sind nach Art und Mass dieselben, wie die, welche in den entlegensten Zeiten geologische Veränderungen herbeigeführt haben.“

Schon sehr früh hat sich, wol infolge verheerender partieller Fluten und Erdbeben, der Glaube an grosse allgemeine Katastrophen gebildet, und Lyell knüpft an die indischen und ägyptischen hierauf bezüglichen Sagen die Bemerkung, dass der Zusammenhang der Ueberlieferung von solchen Katastrophen mit dem

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Glauben an wiederholte allgemeine Sittenverderbniss ‚sich leicht erklären lasse.

Am Ende des vorigen Jahrhunderts wurde vereinzelt die Ansicht ausgesprochen, dass das Untertauchen

grosser Landstrecken, wie das Auftauchen anderer,

langsam geschehen sei, und es bereitete sich die Lehre

vor, dass die Mineralmassen in verschiedene Gruppen

zerfielen, welche in bestimmter Ordnung aufeinander- folgten. Da trat Werner auf und gründete eire be- sondere Wissenschaft: „Geognosie.“ Er war nicht der erste, der die gesetzmässige Aufeinanderfolge der Ge- steine sah und lehrte, aber seine Anregung war eine allgemeine. Von da an datirt der heftige Streit der Vulcanisten und Neptunisten, und in diesen Streit hinein fielen die grossen Entdeckungen Cuvier’s über die Thiere der Tertiärformation der Umgebung von Paris. Durch Cuvier’s und Lamark’s Arbeiten über fossile Thiere stellten sich die Unterschiede der ehemaligen

von den heutigen Organismen heraus, und Cuvier’s An-

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sichten, sowol die zoologischen wie die geologischen, errangen den Sieg: es befestigte sich allmählich die Ueberzeugung, dass auf der Erde lange Perioden der Ruhe und des Stillstandes mit kürzern allgemeinen Katastrophen und Revolutionen abgewechselt hätten. °®

Die Katastrophenhypothese erhielt noch nach dem Erscheinen der Lyell’schen Grundzüge der Geologie ihre specielle Ausbildung durch Elie de Beaumont’s Theorie. über den Bau und die Entstehung der Ge- ‚birgsketten. Doch gleich anfangs trat Lyell dazwi- schen und zog folgendes Resultat aus einer Vergleichung der zwar langsamen, aber stetigen und bemerkbaren Hebungen und Senkungen, die in der geschichtlichen Zeit vor sich gehen, mit den allfälligen Veränderun-

2 gen, welche die Organismen unterdessen erlitten: „Mit einem Worte, die Bewegung der unorganischen

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Welt liest vor uni ist greifbar, und kann dem Minu- tenzeiger einer Uhr verglichen werden, dessen Vor-

. rücken man sieht und hört, während die Fluctuationen

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neuere Geologie. 117-

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118 Die Ko Geologie.

der lebenden Schöpfung kaum sichtbar sind und der Bewegung des Stundenzeigers gleichen. Nur wenn man ihn aufmerksam einige Zeit beobachtet und das Verhältniss seiner Stellung nach Verlauf einiger Zeit vergleicht, vermögen wir uns von der Wirklichkeit seiner Bewegung zu überzeugen.“ 37 -

Es hatte sich also der sorgfältigen Beobachtung und logischen Deduction gerade das Gegentheil ergeben von dem, wasCuvier behauptete, welcher grossentheils aus der ihm auffallenden Verschiedenheit der aufeinander fol- genden Organismen die geologischen Katastrophen ab- leitete. Während die Botaniker und Zoologen in Cuvier’s Sinne fortarbeiteten, gestaltete sich unter Lyell’s und seiner Anhänger Händen die Geologie um. Er ging aus von dem zunächst Greifbaren. Dass es zur Zeit der Kohlenformation geregnet, wie heute, sah man aus den Eindrücken von Regentropfen auf Platten jener Formation. Es wurde die bisher ver- nachlässigte Wirkung der Flüsse, die Absätze der Del- tas studirt, die kolossalen Schlammablagerungen, wie sie Nil und Amazonas zeigen, ferner die zerstörende Arbeit der unregelmässigen Bewegungen des Meeres und die theils zerstörende, theils aufbauende Arbeit seiner regelmässigen Strömungen. Es ward gemessen, wie die Gletscher pflügen, reiben und zermalmen, was die Mineralquellen auflösen und absetzen, welche Ma- terialverschiebungen durch die gegenwärtige Thätigkeit ausgeführt wird, wie die Umrisse von Land und Meer durch Hebung und Senkung umgeändert werden. Auch ergab die Vergleichung ehemaliger und heutiger Ko- rallenriffe und Austernbänke, dass diese stillen Bau- leute ihre Manieren nicht geändert hatten. Kurz, es erschien die Annahme ausserordentlicher, in der Gegen- wart unerhörter Ereignisse und Kräfte durchaus nicht nöthig, nur Zeit, und die stetige Entwickelung der Erdrinde war erwiesen.

So war die Bühne für die sich wiederholen- den Acte der Neuschöpfungen der Organismen

119 Pr sch und nach zusammengefallen, und die _ Annahme solcher wunderbarer Neuschöpfun- gen wurde ein Anachronismus, dem durch Dar- win’s Auftreten ein wohlverdientes Ende bereitet werden musste. Die Descendenzlehre mit dem Dar- _ winismus ist eine geschichtliche Nothwendigkeit. = Charles Darwin ist 1809 geboren und hatte als Naturforscher der Weltumseglung des „Beagle“ unter Kapitän Fitzroy von 1831—37 Gelegenheit, reiche Erfahrungen zu sammeln. Seine wichtige Arbeit über die Bildung der Korallenriffe gab die erste genügende _ Erklärung dieser aus dem Zusammenwirken geologi- scher Bewegungen und der organischen Thätigkeit der 2 Korallenthiere resultirenden Erscheinung; seine Mono-

Darwin.

graphie der Cirripedien zeigt, mit welcher muster- haften Sorgfalt er die minutiösesten Detailverhältnisse

zu beobachten und systematisch zu bearbeiten versteht, welche Bemerkung wir uns deshalb zu machen erlau- ben, weil noch immer die Gegner des grossen Natur- forschers sein Verdienst und seine Autorität damit herabzudrücken suchen, dass sie angeben, er sei eigent- lich ein mehr in allgemeinen Abstractionen sich be- wegender Dilettant®®, der scharfen, den Thatsachen vollständig Rechnung tragenden Beobachtung fremd. Wie Darwin zu seinem epochemachenden Gedanken gekommen, hat er in der Einleitung zu dem ersten sich mit der Descendenzlehre beschäftigenden Werke „Ueber die Entstehung der Arten‘ mitgetheilt, etwas - ausführlicher auch in einem Briefe an Haeckel, welchen _ letzterer in seiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte‘ veröffentlicht hat. Er lautet: „In Südamerika traten mir besonders drei Klassen von Erscheinungen sehr lebhaft vor die Seele; erstens die Art und Weise,

in welcher nahe verwandte Species einander vertreten und ersetzen, wenn man von Norden nach Süden geht;

zweitens die nahe Verwandtschaft derjenigen Spe- eies, welche die Südamerika nahe gelegenen Inseln _ bewohnen, und derjenigen Species, welche diesem Fest-

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120 Darwin:

lande eigenthümlich sind; dies setzte mich in tiefes Erstaunen, besonders die Verschiedenheit derjenigen Species, welche die nahe gelegenen Inseln des Gala- pagos-Archipels bewohnen; drittens die nahe Be- ziehung der zahnlosen Säuge- und Nagethiere zu den ausgestorbenen Arten. Ich werde niemals mein Er- staunen vergessen, als ich ein riesengrosses Panzer- stück ausgrub, ähnlich demjenigen eines lebenden Gürtelthieres.

„Als ich über diese Thatsachen nachdachte und

einige ähnliche Erscheinungen damit verglich, schien

es mir wahrscheinlich, dass nahe verwandte Species von einer gemeinsamen Stammform abstammen könnten. Aber einige Jahre lang konnte ich nicht begreifen, wie eine jede Form so ausgezeichnet ihren besondern Lebensverhältnissen angepasst werden konnte. Ich begann darauf systematisch die Hausthiere und die Gartenpflanzen zu studiren, und sah nach einiger Zeit deutlich ein, dass die wichtigste umbildende Kraft in des Menschen Zuchtwahlvermögen liege, in seiner Be- nutzung auserlesener Individuen zur Nachzucht. Da- durch, dass ich vielfach die Lebensweise und Sitten der Thiere studirt hatte, war ich darauf vorbereitet, den Kampf ums Dasein richtig zu würdigen; und meine geologischen Arbeiten gaben mir Vorstellung von der ungeheuern Länge der verflossenen Zeiträume. Als ich dann durch einen glücklichen Zufall das Buch von Malthus: ‘Ueber die Bevölkerung’ las, tauchte der Gedanke der natürlichen Züchtung in mir auf. Unter allen den untergeordneten Punkten war der letzte, den ich schätzen lernte, die Bedeutung und Ursache des Divergenzprincips.“ : Dass die Organismen nicht in starre Formen ge- bannt, sondern variabel sind, ist eine so allgemeine Erscheinung, dass die Variabilität als eine selbstver- ständliche Eigenschaft des Organischen gilt. Wir wer- den im nächsten Abschnitt untersuchen, inwiefern wirk- lich alles Organische der Veränderlichkeit unterworfen

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“Künstliche Züchtung. 121

_ sein muss. Auf der Thatsache dieser Eigenschaft be- ruht die seit den ersten Anfängen der Jagd und des u rbauce unbewusst und bewusst geübte künst- liche Züchtung oder Zuchtwahl des Menschen, deren Bedeutung, wie Darwin sagt,: „hauptsächlich in dem Vermögen liest, kaum merkbare Verschiedenheiten 1 auszuwählen, welche nichtsdestoweniger sich als der fe er oruns fähig herausstellen, und welche sich häu- fen lassen, bis das Resultat für das Auge eines jeden eaners offenbar wird“. Darwin Br in der „Ent- stehung der Arten‘ als Beispiel für die methodische Zuchtwahl bei der Rassenerzeugung die Taube gewählt, mit deren Zucht er sich jahrelang auf das eifrigste beschäftigte. Die Taube eignet sich zum Zweck der wissenschaftlichen Beobachtung der Zuchterscheinungen ganz besonders, weil sie wegen ihrer monogamischen Lebensweise sich leicht controliren lässt , we sie in kurzer Zeit zu auffallenden Abänderungen gebracht werden kann, die Nachrichten über ihre Zucht ziem- lich vollständig sind, und weil sie endlich eins der wenigen Hausthiere ist, über deren Stammart kaum ein Zweifel obwaltet. Die Hauptformen der von den Liebhabern hervorgebrachten Rassen lassen sich in folgender Weise gruppiren. Die Kropftauben haben einen mässigen Schnabel, verlängerte Beine und Kör- per, ihre Speiseröhre ist vom Kropf kaum getrennt und kann aufgeblasen werden. Eine zweite Gruppe umfasst die Boten-, Runt- und Barbtauben, welche im _ allgemeinen einen langen Schnabel, mit Hautanschwel- lungen über den Nasenlöchern und nackter oder auch mit Carunkeln versehener Haut um die Augen haben. In eine andere Gruppe mit verkürztem Schnabel und nur gering entwickeltem nackten Augenumkreis gehört die Pfauentaube, bei welcher die normale Zahl von 12 Schwanzfedern bis auf 42 steigen kann, bei ver- _ kümmerter Oeldrüse; ferner die Burzeltaube, in wel- cher der Schnabel eine extreme Kürze erreicht und bei der eine krankhafte, durch Zuchtwahl hervorgerufene

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122 Künstliche Züchtung.

und gesteigerte Disposition des Gehirnes, die sich im Ueberschlagen äussert, seit mehr als zwei und ein halb Jahrhunderten sich vererbt und zur Rasseneigenthümlich- keit befestigt hat. In der vierten Gruppe nimmt die Trommeltaube wegen ihrer eigenthümlichen Stimme eine bevorzugte Stelle ein, auch die Lachtaube, an welche sich noch mehrere Unterklassen anschliessen, die sich nur sehr wenig von der wilden Felstaube (der Columba

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livia) unterscheiden. Die letztere findet sich, in einige

geographische Rassen zerspalten, von den faröerschen und schottischen Küsten bis zu den Mittelmeergestaden und bis nach Indien, und die subtilste Untersuchung, ob jene so fabelhaft voneinander abweichenden Rassen der zahmen Tauben etwa auf acht bis neun wilde Arten oder einzig auf die weitverbreitete Felstaube zurückzu-

führen seien, schlägt entschieden zu Gunsten des letz-

tern Falles aus. Grössenverhältniss, Färbung und andere Skelettheile, welche in den verschiedenen Ras- sen viel weiter voneinander differiren, als dieselben

Charaktere und Eigenschaften bei wohlgeschiedenen

wilden Arten derselben Gattung oder auch Familie, sie verändern sich unter der Hand und nach dem

Willen des Menschen, und ganz ausgezeichnet lässt

sich gerade auch bei der Taube die Erscheinung ver- folgen, welche Correlation des Wachsthums ge- nannt worden ist und darın besteht, dass bei der durch Zuchtwahl beabsichtigten Veränderung eines

ÖOrganes ein anderes oder mehrere andere in Mitleiden-

schaft gezogen werden und sich zu unbeabsichtigten

Rasseneigenthümlichkeiten umformen. Davuts minutiöse Forschungen über die Bas

bildung der Tauben ist in seinem zweiten, die Descen- denzlehre behandelnden Werke über das Variiren der.

Pflanzen und der Thiere im Zustande der Zähmung ent-

halten, wo sich auch die eingehendsten Untersuchungen über die übrigen Hausthiere finden. Wer Gelegenheit

gehabt hat, eine der neuern Hühnerausstellungen zu besichtigen, wird über die Verschiedenheit der Rassen-

Künstliche Züchtung. 123

formen und über die Reinheit und Gleichförmigkeit

innerhalb derselben erstaunt gewesen sein. Nicht mit derselben fast absoluten Sicherheit, wie bei den Tau-

ben, aber doch annähernd gewiss ergibt sich auch für

die Hühner eine einzige Stammart, der indische Gallus

bankiva. Die von den englischen Landwirthen seit

‚dem vorigen Jahrhundert aus der Mischung des hei-

mischen Schweines mit dem indischen gezogenen Schweinerassen, ausgezeichnet verschieden in ihrer ganzen Erscheinung, Färbung, Grösse der Ohren, Länge der Beine, zum Theil auch Fruchtbarkeit, bewähren ebenfalls das cumulative Zuchtvermögen des Menschen,

noch anziehender dürften aber die beiden Rassen des

_ Schafes und des Rindes sein, welche mit den hervor-

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ragendsten jener Schweinerassen seit mehr als einem Jahrzehnt auf dem Continent besonders beliebt ge- worden sind, das Southdown-Schaf und das Shorthorn- Rind. Sie und so viele andere Hausthierrassen sind zu bestimmten Zwecken und für gewisse Vortheile der Wirthschaft und des Verkehrs erzogen und bewähren insgesammt die Plastieität der Art. Die Zuchtwahl arbeitet durch Befestigung anfänglich veränderlicher Merkmale, die in der Regel bei ihrem ersten zufälligen Auftreten nur von dem sorgsamen Kennerauge bemerkt werden. Aber auch nicht wenige Fälle sind consta- tirt, wo eine zufällige Diformität und eine nur bei

einem Individuum plötzlich hervortretende neue Eigen-

schaft zur schnellen Gründung neuer Rassen sich be- nutzen liessen. ,So wurde“, theilt Darwin mit“!, „1791 in Massachusetts ein Widderlamm mit krummen Beinen und einem langen Rücken, wie ein Dachshund, geboren. Von diesem einen Lamme wurde die halb- monströse Otter- oder Anconrasse gezüchtet. Da diese Schafe nicht über die Hürden springen konnten, so glaubte man, sie würden werthvoll sein, sie sind aber von Merinos ersetzt worden und auf diese Weise aus- gestorben. Diese Schafe sind merkwürdig, weil sie ihren. Charakter so rein fortpflanzten, dass Oberst

124 | Künstliche Züchtung. i

Humphreys nur von einem einzigen zweifelhaften Fall hörte, wo ein Anconwidder und ein Mutterschaf nicht einen Anconwurf erzeugt hätten.‘ „Einen noch in- teressantern Fall findet man in den Reports der Jury des grossen Ausstellung von 1851, nämlich die Geburt eines Merinowidderlammes auf der Mauchamp-Farm im Jahre 1828, welches durch seine lange, glatte, schlichte und seidenartige Wolle merkwürdig war. Bis zum Jahre 1833 hatte Mr. Graux Widder genug erzogen, um seiner ganzen Heerde dienen zu können, und wenige Jahre später war er im Stande, von seiner neuen Zuchtrasse zu verkaufen. Die Wolle ist so eigenthüm- lich und werthvoll, dass sie 25 Proc. höhere Preise: erhielt, als die beste Merinowolle. Selbst die Vliese von Halbzuchtthieren sind werthvoll und in Frankreich unter dem Namen Mauchamp-Merino bekannt. Als einen Beweis dafür, wie allgemein jede scharf gezeich- nete Abweichung in der Structur von andern Abwei- chungen begleitet wird, ist dieser Fall dadurch in-

teressant, ask der erste Widder und seine unmittelbaren

Nachkommen von geringer Grösse. waren, mit grossen Köpfen, langen Hälsen, schmaler Brust und langen Seiten. Dieser Fehler wurde aber durch sorgfältige Kreuzungen und Zuchtwahl beseitigt. Die lange, glatte Wolle tritt in Verbindung mit glatten Hörnern auf, und da Hörner und Haare homologe Bildungen sind, so lässt sich die Bedeutung der Correlation wohl ver- stehen. Läge der Ursprung der Mauchamp- und An- conrassen ein oder zweı Jahrhunderte zurück, so würden wir keinen Nachweis über deren Geburt haben, und viele Naturforscher würden ohne Zweifel, beson- ders bei der Mauchamprasse, behaupten, dass jede von einer unbekannten Stammform abstammte oder mit ihr gekreuzt worden sei.“

Vergleicht man die Obsorge für die Hausthiere in kleinen, vom aufmunternden Weltverkehr abgelegenen Bauernwirthschaften mit der raffınırten Rassenzucht auf den grossen Gütern, und steigt man von jenen

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_ abwärts zur Behandlung 3 wenigen Hausthiere oder des einen zahmen Thieres, des Hundes, bei wilden Völkern, so verschwindet die bewusste künstliche Zucht- wahl mehr und mehr, wird aber überall, wo der Mensch - Pflanze und Thier an seinen Wohnsitz fesselt, wenig- stens unbewusst ausgeübt. Das starke Thier, die reich- _ lieher Nahrung gebenden Pflanzenindividuen werden - ohne besondere Ueberlegung zur Fortpflanzung ver- wendet, und so ist die unbewusste Zuchtwahl von der methodisch geübten nicht zu trennen. Die Einleitung und Fortführung der Rassenbildung wird natürlich er- leiehtert durch die Möglichkeit, die zur Zucht aus- _ erlesenen Thiere in neue Umgebungen und Lebens- x bedingungen zu bringen, und es wird die Bildung neuer Rassen begünstigt durch die Leichtigkeit, mit _ welcher die Züchtung die Kreuzung der in der Bil- hang begriffenen Formen mit schon vorhandenen Ras- sen verhindern kann. & Ohne Zweifel sind eine Menge von Hausthierrassen nicht in dem Zustande, dass man sie als neue Arten bezeichnen kann, das will sagen, sie befinden sich mit ihren angezüchteten neuen Eigenschaften nur in einem Zustande künstlicher Stetigkeit und fallen, der zu- fälligen und regellosen Vermischung mit andern Rassen und der Stammrasse preisgegeben, nach und nach in dieselbe zurück. Dass aber überhaupt alle unbewusst _ oder bewusst gezüchteten Rassen keine neue Arten _ seien und, dem Naturzustande wieder überlassen, rück- schlägig a ist eine willkürliche und unrichtige Behauptung. Gesetzt, man überliesse sämmtliche Hühner- rassen sich selbst, so muss zwar die Möglichkeit zu- . gegeben werden, dass in Indien einzelne Formen sich rückwärts in Äas Bankivahuhn verwandelten, dass aber 'in Europa und Amerika nimmer aus unsern verwilder- ten Hühnerrassen die indische Stammrasse zum Vor- - schein kommen, sondern sich höchstens einzelne neue _ allgemeiner verbreitete und nach geographischen Be- zirken constant bleibende Mischformen bilden würden,

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Arten.

liegt auf der Hand. Noch niemand hat behaupten können, dass die verwilderten und von der Obsorge des Menschen gänzlich verlassenen Hunde des Orientes zu Wölfen oder Schakalen, ihren muthmasslichen Vor- fahren, geworden seien. Sie werden „schakalähnlich“, womit jedermann ausdrückt, dass der vor Jahrtausen- den zum Hausthier gewordene und gezüchtete Hund seine erworbenen Arteigenthümlichkeiten auch unter den zu der Entäusserung günstigsten Umständen bewahrt. Jene Versicherung, die Hausthiere seien’ keine neuen Arten, ist um so hinfälliger, als von man- chen Hausthieren die Stammarten gänzlich unbekannt sind, so wie Schaf und Ziege, über deren Vorfahren man nur vage Vermuthungen aufstellen kann. Auch die älteste uns bekannte Schafrasse, das ziegenhörnige Schaf aus den schweizerischen Pfahlbauten, gibt keine Auskunft, und auf dem Wege des Experimentes den Rückfall der heutigen Schafe zur Stammform zu beob- achten, ist völlig unmöglich. Dass das Pferd von einer gestreiften Stammart abzuleiten sei, ist wahr- scheinlich, eine solche ist aber trotz der vielen Genera- tionen, in welchen sich die grossen Heerden verwilder- ter Pferde in Südamerika ungestört fortpflanzten, nicht zum Vorschein gekommen. Die feinen Untersuchungen Rütimeyer’s über das Hausrind haben gezeigt, dass zu seiner Bildung in Europa mindestens drei, als Ar- ten wohl unterschiedene Formen der Diluvialzeit, Bos primigenius, longifrons und frontosus beitrugen. Diese Arten lebten einst geographisch getrennt, aber eleich- zeitig, und sie sind mit ihren specifischen Eigenthüm- lichkeiten untergegangen und aufgegangen in unsern zahmen Rassen. Diese Rassen vermischen sich un- bedingt fruchtbar miteinander, erinnern in Schädel- und Hornbildung an die eine oder andere der aus- gestorbenen Arten, bilden aber in ihrer Gesammtheit eine neue Hauptart. Dass aus ihren Rassen einmal wieder die drei oder eine der Stammarten im reinen

| eine ganz lächerliche Behauptung.

- Bei allen diesen zuletzt genannten Hausthieren, Hund, Schaf, Ziege, Pferd, Rind, ist nun die Um- _ änderung zu einer Periode der menschlichen Cultur

_ eingetreten, wo man an eine künstliche Züchtung im

heutigen Sinne nicht entfernt dachte, und wo der

' Hauptfaetor der Umbildung, abgesehen von der un- _ willkürlichen und en Zuchtwahl, einfach in

' der veränderten Lebensweise lag. Hiermit werden wir zu den Abänderungen im Naturzustande und zur natürlichen Zuchtwahl geführt. Beide, die natür-

- liche wie die künstliche Zuchtwahl, Babe auf der

_ unbestrittenen Thatsache der et Verschieden-

_ heiten der nächst verwandten Pflanzen- und Thier- _ individuen; auch das hat sich uns schon oben heraus- x gestellt, dass zweifelhafte Arten nicht, wie die alte Schule wollte, Ausnahmen sind, de de nn die - mangelhafte Kenntnis des Artenmateriäls daran schuld ist, dass nicht alle Arten als zweifelhaft und künst- lieh betrachtet werden. Erinnern wir uns hier noch- mals daran, dass auch die strengsten Speciessystema- _ tiker in vielen Tausenden von Fällen nicht anzugeben _ wissen, wo ihre Arten anfangen und aufhören, wie da beispielsweise Darwin eine Mittheilung von H. C. Wat-

son anführt, dass 182 britische Pflanzen, welche.

gewöhnlich als Varietäten betrachtet werden, alle auch schon von einzelnen Botanikern als selbständige Arten in Anspruch genommen wurden.** Darwin’s unsterb- liches Verdienst besteht nun darin, gezeigt zu haben, welche Macht auf die als Ale vorliegenden "Individuen und Arten einwirkt, und welche Resultate _ aus dieser Einwirkung hervorgehen müssen. Er hat . die Schlüssel in dem zu einem Wahrzeichen und Ge- meingut unserer Zeit gewordenen Worte „Kampf "ums Dasein“ (struggle for life”) gefunden und damit

% * Wallace’s Antheil an diesem Ruhm am Schlusse dieses _ Kapitels.

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128 Der Kanpf ums Das

die Begründung und Theorie einer Lehre gegeben, deren Wahrheit schon lange vor ihm einem Geiste wie Lamark klar geworden war. Er hat die Abstammungs- lehre durch die Selectionstheorie begründet, indem er nachwies, dass in der Natur durch den Kampf um das Dasein eine der künstlichen Zuchtwahl vergleichbare Auslese des Bessern nnd Passendern vor sich gehe, welche neue Rassen und neue Arten erzeugt.

Auch der Kampf um das Dasein, dieses bellum omnium contra omnes, ist eine unbestrittene und un-' abweisliche Thatsache, welche wir hier in ihren wei- testen Beziehungen nehmen. Nicht blos das Raubthier kämpft gegen die Pflanzenfresser, welche wiederum durch stärkere Vermehrung, Schnelligkeit und List sich im Gleichgewicht zu halten suchen; auch das allmähliche Vordrängen einer Pflanze ist ein Ringen mit natürlichen Hindernissen, bei dessen Siege in der Regel andere Pflanzen in ihren Lebensbedingungen geschädigt werden. Könnte die Vermehrungsfähigkeit eines beliebigen Organismus schlechthin und unein- geschränkt wirken, so würde jedes Wesen für sich in einer kurzen Reihe von Jahren die Erdoberfläche oder die Gewässer in Anspruch nehmen. Aber eines hält das andere im Zaum, und zu den lebendigen Feinden eines jeden Geschöpfes gesellen sich Klima und alle Einwirkungen der Umgebung, der Wechsel der Jahres- zeiten, mit denen der Körper sich abfinden muss. Die Organismen leben nur auf Kosten anderer und für andere, und der Friede und die Stille der Natur, die von dem Dichter besungen werden, lösen sich vor dem prüfenden Auge in eine unendliche Unruhe und Hast auf, das Dasein zu behaupten und zu befestigen, ın welchen nur der Gedanke der sichtbaren und noth- wendigen Vervollkommnung den Beobachter vor einer pessimistischen Weltanschauung retten kann. Die ein- fachsten Beispiele für das Abhängigkeitsverhältniss der Lebewesen untereinander sind zwar die besten und am meisten überzeugenden, welche grosse Folgen aber von

scheinbar geringfügigen Umständen und Verknüpfungen abhängen, und wie höchst zusammengesetzt das Ge- triebe zur Erhaltung des Gleichgewichts, hat Darwin _ mit einigen Beispielen belegt, welche wir, obschon sie seitdem tausendmal wiederholt sind, uns auch vor- zubringen erlauben. Während im Süden und Norden _ von Paraguay verwilderte Rinder, Pferde und Hunde - in Menge vorkommen, fehlen sie in Uruguay. „Azara und Rengger haben gezeigt, dass die Ursache dieser Erscheinung in Paraguay in dem häufigern Vorkommen einer gewissen Fliege zu finden ist, welche ihre Eier

ın den Nabel der neugeborenen Jungen dieser Thier- _ arten lest. Die Vermehrung dieser so zahlreich auf-

tretenden Fliegen muss regelmässig durch irgendein Gegengewicht und vermuthlich durch andere parasi- ‚tische Insekten gehindert werden. Wenn daher ge- wisse insektenfressende Vögel in Paraguay abnähmen, so würden die parasitischen Insekten wahrscheinlich zunehmen, und dies würde die Zahl der den Nabel aufsuchenden Fliegen vermindern; dann würden Rind und Pferd verwildern, was dann wieder (wie ich in einigen Theilen Südamerikas wirklich beobachtet habe) eine bedeutende Veränderung in der Pflanzenwelt ver- anlassen würde. Dies müsste nun ferner in hohem Grade auf die Insekten und hierdurch auf die insekten- - fressenden Vögel wirken, und so fort in immer ver- wickeltern Kreisen.“ Ein anderes Beispiel aus Darwin’s Schatze ist vielleicht noch anregender. „Ich habe“, sagt er“, „durch Versuche ermittelt, dass Hummeln - zur Befruchtung des Stiefmütterchens oder Pensees (Viola tricolor) fast unentbehrlich sind, indem andere Bienen sich nie auf dieser Blume einfinden. Ebenso habe ich gefunden, dass der Besuch der Bienen zur Befruchtung von mehrern unserer Kleearten nothwen- dig ist. So lieferten z. B. mir 20 Köpfe weissen Klees (Trifolium repens) 2290 Samen, während 20 andere Köpfe dieser Art, welche den Bienen unzugänglich gemacht waren, nicht einen Samen zur Entwickelung SCHMIDT, Descendenzlehre, 9

130 Der Kampf ums Dasein.

brachten. Ebenso ergaben 100 Köpfe rothen Klees

(Trifolium pratense) 2700 Samen, und die gleiche An- zahl gegen Hummeln geschützter Stücke nicht einen!

.Hummeln allein besuchen diesen rothen Klee, indem andere Bienen den Nektar dieser Blume nicht errei-

chen können. Auch von Motten hat man vermuthet,

dass sie zur Befruchtung des Kless beitragen; ich

zweifle aber wenigstens daran, dass dies mit dem rothen Klee der Fall ist, indem sie nicht schwer genug sind, die Seitenblätter der Blumenkrone niederzu-

drücken. Man darf daher wol als sehr wahrscheinlich

annehmen, dass, wenn die ganze Gattung der Hummeln

in England sehr selten oder ganz vertilgt würde, auch Stiefmütterchen und rother Klee sehr selten werden

oder ganz verschwinden würden. Die Zahl der Hum-

meln hängt in einem beträchtlichen Masse von der Zahl der Feldmäuse ab, welche deren Waben und Nester zerstören. Oberst Newman, welcher die Lebens- weise der Hummeln lange beobachtet hat, glaubt, dass durch ganz England über zwei Drittel derselben auf

diese Weise zerstört werden. Nun hängt aber, wie

jedermann weiss, die Zahl der Mäuse in grossem Masse von der Zahl der Katzen ab, sodass Newman sagt, in

der Nähe von Dörfern und Flecken habe er die Zahl -

der Hummelnester grösser als irgendwo anders gefun- den, was er der reichlichern Zerstörung der Mäuse durch die Katzen zuschreibe. Daher ist es denn völlig glaublich, dass die Anwesenheit eines katzenartigen Thieres in grösserer Anzahl in irgendeinem Bezirk durch Vermittelung zunächst von Mäusen und dann von Bienen auf die Menge gewisser Pflanzen daselbst von Einfluss sein kann.“

Der Kampf ums Dasein entbrennt um so :

je verwandtschaftlich näher einander die Mitbewerber stehen; denn je verschiedenartiger die Bedürfnisse nahe beieinander wohnender Organismen sind, um so weniger sind diese einander im Wege, um so mehr kann jeder für sich seine Umgebung ausnutzen. Hiergegen scheinen

Der Kampf ums Dasein. I 131

$ ‘zwar gleich die grossen Behr der geselligen Pflanzen und Thiere zu sprechen, allein auch sie machen bei näherer Betrachtung keine Ausnahme, indem sie oft gerade durch ihre Menge einander gegenseitig die Exi- stenz ermöglichen und erleichtern und gerade auch nur in dem Grade sich vermehren, als die Nahrungs- masse es zulässt. Tritt bei den geselligen Pflanzen und den Heerdenthieren eine Ueberproduction ein, so beginnt augenblicklich die Concurrenz und der Kampf, und überhaupt wird ganz unbedingt das Leben ebenso geregelt, wie bei den an Individuenzahl minder auf- fallenden Arten. Unser Satz, dass die Heftigkeit des Kampfes mit der Nähe der Verwandtschaft steigt, gilt also allgemein. Selten wird ein so rasch verlaufender Vernichtungskrieg geführt, wie zwischen der Hausratte (Mus rattus) und der Wanderratte (Mus decumanus), und viel häufiger haben wir den Eindruck, dass die einen Wohnbezirk theilenden Glieder einer Art, z. B. Hasen und Hirsche, einträchtig miteinander verkehren, als dass sie sich das Dasein verkümmern sollten. Und doch ist dem so. Die beiden mächtigen Triebfedern der Erhaltung des Individuums und der Erhaltung der Art spornen unausgesetzt zum Kampfe an, und unter ihrem Einfluss tritt jedes Lebewesen, die Pflanzen ein- geschlossen, in den Kampf mit den Artgenossen der _ nächsten Umgebung ein. In dieser Concurrenz um die Nahrung, verbunden mit der Abwehr gegen alle mög- lichen Feinde und andere Mitbewerber um die übrigen Vortheile der Existenz, behält der Stärkere Recht, der ‚Listigere, der Geschicktere, kurz der mit irgendeinem Vortheil ausgerüstet mit seinen Nebenbuhlern sich messen kann. Nicht nur beim Kampf um die Weib- chen, bei jeder Gelegenheit der Concurrenz werden die schwächern Individuen abgeschlagen und findet eine Auslese der stärkern und bessern statt. Aber die anfänglich geringen, oft kaum bemerkbaren Vortheile, geistige wie körperliche, welche jenen Individuen zum Siege und zum Ueberleben der die zufälligen Vortheile 9*

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132 Geschlechtliche Zuchtwahl.

entbehrenden oder schwächern Artmitgliedern verhal-' fen, haben Aussicht, fortgepflanzt zu werden, in den nächsten Generationen sich zu befestigen und zu stei- gern in wiederholter Auslese. Diese Auslese ist also ein natürlicher und nothwendiger Verlauf der Dinge, _ und es ist klar, dass sie nicht nur in ganz allgemei- ner und vager Bedeutung Anwendung findet etwa auf den äussern Habıtus, Grösse und Stärke der Indivi- duen, sondern dass bei der thatsächlichen Variabilität und Plastieität der organischen Formelemente, auch einzelne Theile und Organe in bestimmter vortheil- hafter Richtung abgeändert und vervollkommnet wer-. den können, um der Rasse und Art eine höhere Stel- lung ın der umgebenden Welt zu verschaffen.

Ausser dem allgemeinen Resultate des Rechtes des Stärkern, wo es sich um den Fortpflanzungstrieb han- delt, kommt in diesem Gebiete noch eine andere sehr einflussreiche Erscheinung zur Geltung, welche von Darwin als geschlechtliche Zuchtwahl bezeichnet und sehr ausführlich in dem Werke über die Abstam- mung des Menschen bearbeitet worden ist. Hier gilt es in erster Linie um die Bildung von Geschlechts- eigenthümlichkeiten der Männchen, um secundäre Eigenschaften, durch welche sie in den Bewerbungen um die Weibchen unterstützt werden, in zweiter erst um die Rückwirkungen dieser Eigenthümlichkeiten auf die Umänderung nnd Vervollkommnung der Art über- haupt.

Der Grundgedanke der Selectionstheorie Darwin’s ist also, dass in der Natur die Rolle des eumulativen Wahlvermögens des Rassen züchtenden Menschen durch den Kampf ums Dasein ersetzt wird, und dass durch die mit der Zeit eintretende Cumulirung anfänglich geringer, dann immer mehr hervortretender Vortheile die niedrigern Organismen in höhere verwandelt wer- den. Die Wirkung ist eine unausgesetzte. „Man kann figürlich sagen, die natürliche Zuchtwahl sei täglich und stündlich durch die ganze Welt beschäftigt, eine

Schwierigkeiten der Theorie. 133

Me Ei; auch die geringste Abänderung zu prüfen, sie = 'zu verwerfen, wenn sie schlecht, und sie zu erhalten _ und zu she wenn sie ge ıst. Still und un- merkbar ist sie überall und allezeit, wo sich die Ge- legenheit darbietet, mit der Vervollkommnung eines jeden Wesens in Beziehung auf dessen organische und anorganische Lebensbedingungen beschäftigt.“ *: Die folgenden Abschnitte werden uns näher in die "Theorie, ihre Wahrheit, Möglichkeit, Anwendung und Bestätigung einführen, während wir schon jetzt uns mit einigen Einwendungen gegen dieselbe, und zwar entweder speciell gegen die Selectionstheorie, oder gegen sie sammt der Umwandlungslehre als Ganzes, bekannt - machen wollen, deren wichtigste schon Darwin selbst sich vorgelegt und beantwortet hat. Wenn, so sagt man, alle Lebewesen in einem di- _ receten, ununterbrochenen Zusammenhange miteinander stehen sollen, wo sind die unendlich vielen Zwischen- formen geblieben, welche nothwendig existirt haben müssen? Unser Blick richtet sich zuerst auf die jetzt lebenden Organismen, und da. sie nach der Theorie die Endspitzen eines unendlich verzweigten Baumes sein sollen, welche offenbar sich dicht drängen und jede für sich nach allen Seiten in Varietäten ausein- ander gehen müssen, so verlangen wir die Zwischen- formen zu den jetzt nebeneinander bestehenden Arten. Wir können uns nun auf die früher (Seite 83 fg.) gegebenen Nachweise berufen, dass wirklich in ganzen _ grossen Gruppen von Organismen die neuere wissen- sehaftliche Forschung nichts anderes als Zwischenfor- men hat entdecken können. Auch wird die Reise, welche Kerner in seinem Büchelchen über „Gute und schlechte Arten“ mit dem Botaniker Simplieius aus dem europäischen Westen nach dem Osten unternimmt, dem nach weitern Material begierigen Leser eine er- götzliche Menge liefern. Die Verbreitung der Cytisus- arten, welche derselbe Naturforscher eingehend unter- sucht hat, zeigt gleichfalls das lückenloseVorhandensein

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134 Mangel an Zwischenformen. ER

von Verbindungsformen auf den Grenzgebieten von Arten, deren Verbreitungsmittelpunkte mehr oder weniger weit auseinander liegen. Es geht aus allen diesen Beispielen, welche nach Tausenden zählen, hervor, dass ein grosser Theil sich im Stadium der relativen Stetigkeit befindet. Dass aus diesem Grunde ihre Zwischenformen nur in der Vergangenheit ge- sucht werden können, ist ebenso wenig wunderbar, spricht nicht im geringsten gegen die Richtigkeit der Descendenzlehre, und die Forderung nach Zwischen- formen zu diesen local und zeitweilig formbeständigen Arten zeigt nur, wie wenig diesenigen, welche sie stellen, das Wesen der Descendenz begriffen haben. Es handelt sich aber bei dem Einwurf hauptsächlich um. solche Zwischenformen, welche die Arten mit den zeitlich vor ihnen liegenden Stammarten verbinden. Nach der Theorie waren die jetzt lebenden Arten durch Formen von der Qualität der Varietäten, der „werdenden Arten“, mit ihrer Stammart verbunden, die Stammarten wieder mit ältern u. s. w., sodass eine unendliche Anzahl von Formenvarietäten existirt haben muss. Wir haben zwar früher (S. 88) ebenfalls den Beweis geliefert, dass der Uebereifer der Paläon- tologen Arten, auch nach Tausenden zählend, aufge- stellt, wo blosse Umwandlungsformen und Varietäten vorhanden; wir haben erwähnt, dass eine Reihe aus- gezeichneter Paläontologen der Gegenwart die Fehler ihrer Vorgänger gut zu machen bemüht sind und die ununterbrochenen Uebergangsreihen aus den tiefern in die neuern Schichten klar legen, wo jene mit grossem Aufwande von Scharfsinn Artcharaktere ausgespürt zu haben meinten. Dennoch muss man zugeben, dass die Anzahl von Uebergangsformen, welche bisher wirklich gefunden sind, verschwindend klein ist gegen die un- zählbare Menge, welehe existirt haben müssen. Die- ser Mangel lässt sich aber vollkommen befriedigend erklären. Wir kennen von den versteinerungführenden Schichten einen sehr geringen Theil, und mit demselben

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x Mangel an Zwischenformen 135

Rechte, wie Lamark am Anfang dieses Jahrhunderts,

können wir noch heute auf die Armuth der Samm- lungen hinweisen. Wo immer der Paläontolog heute zugreift, findet er Zwischenformen, und das Material häuft sich von Tag zu Tag in dem Masse, als man es braucht. Man verlangt jedoch zu viel und verkennt die Bedingungen der Erhaltung, wenn man meint, alle Zwischenformen, welche je existirt haben und nach

- ihrer Leibesbeschaffenheit sich ganz oder theilweise

zur Erhaltung eigneten, müssten auch wirklich er- halten worden sein. Im Gegentheil, die grösste An- zahl derselben ist sicher spurlos verschwunden. Min- destens die Hälfte aller geologischen Ablagerungen

' wurde während langsamer Hebungen wieder zerstört.

Denn von dem Zeitpunkt an, wo ein früher in grösserer Tiefe liegender Meeresboden mit seinen wohlconser- virten Einschlüssen wieder bis ın das Bereich der Oberflächenbewegung emporgehoben ist, kann er zer- bröckelt und zernagt werden, und die in ihm ent- haltenen Versteinerungen haben nun dasselbe Schicksal, wie gewöhnlich die Reste der Bewohner seichter Ufer: sie werden vom Geröll zerrieben. Dazu kommt noch die sehr wichtige Erwägung, dass die die Uebergänge vermittelnden Formen meist eine kürzere Lebensdauer, nicht als Individuum, sondern als Form, gehabt haben werden, als die uns als Arten erscheinenden ständigen

Varietäten, wie unter anderm auch der so lehrreiche

Steinheimer Fund zeigt. Die Uebergangszeiten von einem geologischen Horizont zum nächstfolgenden glei- chen hierin den Grenzgebieten zweier geographischen Bezirke. Die Strecke des Uebergangs vom einen zum andern ist besonders geeignet, die Veranlassung zur Umformung der sie passirenden Organismen zu geben. Diese Umformung vollzieht und befestigt sich aber. erst auf dem neuen Bezirk. So sind die Uebergangszeiten in der geologischen Reihe die Perioden der verhält- nissmässigen Unruhe. Während derselben war die Nöthigung zur Anpassung und Umformung für die

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136 Plötzliches Erschäinen neuer ae

Pfanzen- und Thierwelt am grössten, die Existenz bedingungen aber zugleich am ungünstigsten; die In- dividuenzahl der zur Umbildung gelangenden Arten musste sich nothwendig verringern und konnte erst wieder in den darauf folgenden Ruheperioden steigen. Es ist daher nicht zu verwundern, dass der Katalog der Zwischenformen so sehr lückenhaft ist; ihr Mangel wird aber auch nur von denjenigen bemerkt, welche sie durchaus vermissen wollen. Zur Herstellung des wissenschaftlichen Beweises der Descendenzlehre haben wir eine Ueberfülle von ihnen.

Mit dem vermeintlichen Mangel an Uebergängen hängt ein anderer oft gehörter Einwurf zusammen: dass nämlich zu wiederholten malen ganze Gruppen verwandter Arten plötzlich aufgetreten seien. Wenn man auch sonst die morphologischen und anatomischen Zwischenstufen sähe, so fehle bei diesen Gruppen, den Flugeidechsen, Vögeln u. a. aller Zusammenhang und jede Verknüpfung mit etwaigen vor oder mit ihnen lebenden Stammarten. Diese Ausstellung ist eine der schwächsten und gedankenlosesten, wenn sie erhoben wird, nachdem man sich überhaupt einmal über die Ursache des Fehlens von Zwischenformen Rechenschaft zu geben versucht hat. Sie ist nur ein specieller Fall in der Alternative, dass entweder alle Arten auf dem natürlichen Wege entstanden sind, den die in so aus- reichendem Masse vorhandenen Uebergangsformen be- zeichnen, oder alle durch Wunder. In den Fällen, welche man hier als grobes Geschütz spielen lässt, ist die Lücke bis zu den Stammarten allerdings grösser als da, wo es sich blos um den Sprung von Art zu Art oder Gattung handelt. Die für die minder auf- fallenden leeren Stellen gegebenen Erklärungen bedür- fen aber kaum einer Erweiterung, um auch hier zu genügen. Das Dunkel über die Herkunft der Vögel beginnt sich eben jetzt zu erhellen; warum soll nicht im nächsten Jahre der Ursprung der Flugeidechsen klarer werden?

Vollkommene Organe. 137

Eine besondere Schwierigkeit scheinen der Theorie ; ‚die sehr vollkommenen ÖOrgane- zu bereiten, nament- Br ‚lich die Sinneswerkzeuge mit ihren so reich Apparaten. In der That, nımmt man z. B. das Auge der Wirbelthiere, wir dürfen nicht einmal sagen, nur der höhern BE pelihiere: so ist der wunderbare Bau desselben wohl geeignet, die lebhaftesten Zweifel an der Descendenz und Selection zu erregen. Factisch liegt uns in den Reihen der Wirbelthiere auch nicht die Reihe von niedrigsten Anfängen vor, welche wir nothwendig als einst vorhanden voraussetzen müssen. Denn das Fischauge steht an Complicirtheit nur wenig gegen das Sehorgan der Säugethiere zurück, und der "Lanzettfisch ist völlig augenlos, gibt also auch keinen Fingerzeig. In andern Thierstämmen aber sehen wir in der systematischen Reihe der Jetztwelt noch alle _ möglichen Abstufungen, welche uns ein Bild davon geben, wie in der paläontologischen Reihe allmählich das vollkommene Organ aus den einfachsten Anfängen _ hervorgegangen. Die niedern Krebse bieten die denk- bar einfachsten lichtempfindenden Werkzeuge dar, an- dere zu höherer Ausbildung gelangte Krebse besitzen etwas vollkommenere, nicht blos lichtempfindende, son- dern auch bilderzeugende Augen, zwischen welchen _ und den in ihrer Art höchst vollendeten Augen der zehnfüssigen Krebse noch eine ganze Anzahl von Augen- bildungen vertreten sind, welche es deutlich machen, wie auch diese Organe unter das Gesetz der langsamen Anhäufung und Befestigung kleiner Vortheile fallen. In Betreff der Gehör- und Geruchswerkzeuge kann man sich in jedem Lehrbuch der vergleichenden Ana- tomie überzeugen, dass schon die jetzt noch lebenden Wirbelthiere Entwickelungsreihen darbieten, welche - die plötzliche und unbegreifliche Entstehung dieser Organe gleich im vollendeten Zustande abweisen. Wie - dieselben in noch niedrigern Stufen, als sie jetzt die ‚eigentlichen Fische zeigen, ausgesehen haben, darüber belehrt uns theils der Lanzettfisch, theils können wir

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138 Convergenz.

es uns nach den betreffenden Sinneswerkaeugen der niedrigen Weichthiere, Gliederthiere und Würmer vorstellen. Darwin hat das aus den Einrichtungen der vollkommensten Organe sich etwa ergebende Bedenken gegen seine Lehre so formulirt, dass er sagt, er würde seine ganze Theorie preisgeben, wenn man ihm nach- weisen könne, dass irgendeins dieser Organe sich un- möglich aus niedern Stufen durch allmähliche errun- gene Verbesserung habe bilden können. Diesen Nach- weis hat noch niemand unternommen, er wird auch nie mit Erfolg unternommen werden, da jedes tiefere Eindringen in die vergleichende Anatomie der Sinnes- werkzeuge das Gegentheil zeigt. Von höchster Be- deutung für das Verständniss der vermeintlich untadel- haft vollkommenen Sinnesorgane und ihrer Ableitung aus niederer Stufe, ist der gewöhnlich ganz übersehene Umstand, dass sie neben einer Menge von Vollkommen- heiten auch eine Reihe von Unvollkommenheiten und unzweckmässigen oder hinderlichen Einrichtungen be- sitzen, wie vor allen Helmholtz am Auge gezeigt hat.

Wir haben aber noch einen Punkt zu prüfen, welcher Bedenken gegen die Zulässigkeit der Descen- denzlehre erwecken kann, merkwürdigerweise noch sehr wenig von ihren Gegnern ausgebeutet und von Darwin auch nur im Vorübergehen berührt worden ist. Darwin theilt in der „Entstehung der Arten“ mit, dass H. C. Watton, wir wissen nicht wo, der Divergenz des Charakters, also der Neigung der Va- rietäten und Arten, sich voneinander zu entfernen, eine „Convergenz des Charakters“ entgegengestellt habe. Es seı denkbar, dass von verschiedenen Gat- tungen abstammende Arten sich unter Umständen so einander näherten, dass sie schliesslich unter eine Gattung zusammenfielen. Der Begründer der Selections- theorie hat sich begnügt, auf die grosse Unwahrschein- lichkeit eines solchen Vorganges hinzuweisen, der in dieser Einfachheit übrigens kaum das Wesen und die Wahrheit der Theorie beeinträchtigen wird. Er

„Convergenz. '139 sagt: „Es ist unglaublich, dass die Nachkommen zweier Organismen, welche ursprünglich in einer auf- fallenden Art und Weise voneinander abwichen, später je so nahe convergiren sollten, dass sie sich einer _ Identität durch ihre gesammte Organisation näherten. - Wäre dies eingetreten, so würden wir, unabhängig von einem genetischen Zusammenhang, derselben Form wiederholt in weit voneinander entfernt liegenden geo- logischen Formationen begegnen; und hier widerspricht der Ausschlag des thatsächlichen Beweismaterials jeder derartigen Annahme.“ ° Wir sehen, ein theoretischer Einwurf wird theoretisch widerlegt. Aber obgleich die Wahrscheinlichkeit einer bis zum Gleichwerden _ ausgedehnten Convergenz eine äusserst geringe ist, und sie durch den paläontologischen Befund nicht unter- stützt wird, so lässt sich doch ihre absolute Unmög- lichkeit von vorn herein nicht behaupten, und ich selbst habe in meinen Untersuchungen über die atlan- tischen Spongien auf solche sich bis zum Verwechseln nähernde Artengruppen hingewiesen. Chalina und Reniera sind zwei wohl unterschiedene, sogar verschie- denen Familien angehörige Gattungen. Höchst wahr- scheinlich hat sich von Chalina die Gattung Chalinula mit ihren höchst unbeständigen Arten abgezweigt, nicht umgekehrt, und die Formen von Reniera gehen ebenfalls in solche in keinem Charakter fest zu halten- den Arten über, die von den Chalinula-Arten auch von dem scrupulösesten Beschreiber nicht zu trennen sind. Wenn also die Convergenz oder die Annäherung von Zweigen verschiedenen Ursprungs nicht principiell ausgeschlossen werden kann, so bleibt der günstigste Fall der Uebereinstimmung aber doch noch im Bereiche der Analogienbildung, wo unter gleichen Anpassungs- verhältnissen verschiedene Stämme zu denselben, die vollkommene Aehnlichkeit herbeiführenden Auskunfts- mitteln und Differenzirungen gedrängt worden sind. Auch lehrt uns ein Ueberblick über die Welt der Or- ganismen, dass in den höhern Regionen eine solche

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Convergenz..

Deckung Bar Enden ungleicher Ursprünge immer un- denkbarer wird, und dass sie, wie meine Spongien- "studien lehren, nur da allenfalls eintreten können, wo die Organismen aus sehr einfachen, nach wenigen Rich- tungen hin sehr veränderlichen und von den äussern

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Verhältnissen sehr leicht beeinflussten Factoren be-

stehen. Von einer ernstlichen Gefährdung der prin- cipiell allgemein gültigen Divergenz durch den Aus-

nahmsfall der Convergenz kann keine Rede sein. Wenn wir oben von der Möglichkeit eines nicht.

leichten Bedenkens gegen die Descendenzlehre sprachen,

so haben wir damit auch einen andern Fall von Con-

vergenz im Sinne gehabt. Wir meinen nämlich solche

ähnliche Endresultate bei divergenten Reihen, welche darin bestehen, dass in hoch organisirten Thiergruppen,

welche nur = einem Zusammenhang durch niedrige

Stammformen gebracht werden können, gewisse wich- tige Organe in ihren Einrichtungen und Vollkommen- heiten die grösste Uebereinstimmung zeigen. Es ist

zur Zeit völlig unentschieden, wo und wann die wahren

Insekten von den wasserathmenden Krebsthieren sich abgetrennt haben; ja einige Naturforscher neigen sich

der Ansicht zu, dass diese beiden Klassen von einem

tiefer we gemeinsamen Stamme entsprungen

seien. So viel ist ım höchsten Grade wahrscheinlich, dass die Trennung in Krebse und Insekten stattfand, als die Ausbildung ihrer Sehwerkzeuge noch nicht jenen Grad der Vollkommenheit erreicht hatte, den wir heute bei den stieläugigen Krebsen und den In-

#

sekten antreffen. Gleichwol stimmen sie nicht blos in

den gröbern Verhältnissen überein, sondern, wie Max

Schultze nachgewiesen, bis in das feinste mikroskopi-

sche Detail. Wenn auch hier, wie unten näher er-

örtert wird und sich für unsern Standpunkt von selbst versteht, der Zweckbegriff als Erklärungsprineip aus- geschlossen ist, auch die einfache Vererbung in beiden Reihen, so haben wir einen andern befriedigenden Ausgang zu suchen. Der oben mitgetheilte Fall der

ug Convergenz. 141 convergirenden Spongienarten mag ein, wenn auch ‚nur spärliches Licht werfen auf die dunkeln Pfade der "organischen Werkstatt. Erinnern wir uns hier einmal an Goethe’s von uns schon eitirtes Wort: ‚Das Thier wird durch Umstände zu Umständen gebildet.“ Viel- leicht lässt sich- in der Zukunft etwas damit anfangen, “denn es handelt sich wirklich darum, zu erforschen, _ wie die Umstände, nämlich gerade die im Bereich der _ Sinneswerkzeuge wirkenden und bestimmenden Agentien auf einfaches Material einen solchen Einfluss ausüben, dass die sonst weit auseinander gehenden Nachkommen der verschiedenen Besitzer jenes einfachen Materials ‘oder unvollkommener Organe nicht nur Gleiches lei- stende, sondern nahezu gleichgebaute vollkommneere Organe erlangt haben. Noch nie hat der Darwinismus behauptet, schon alles erklärt zu haben; aber auch an diesem Punkte wird er nicht scheitern, im Gegen- 'theil, die Anregung zu tiefern Untersuchungen mit Bsnen Erfolgen gegeben haben. Ein anderes Bei- spiel von Annäherung in divergenten Reihen geben die Augen der höchsten Weichthiere, der Cephalopoden, verglichen mit denen der Wirbelthiere; allein hier bleibt es doch bei einer, wenn auch auffallenden Ana- logie. Nur der mikroskopische Bau der Nervenhaut ist in beiden Abtheilungen, mit Ausnahme der umge- kehrten Reihenfolge ihrer Schichten von innen nach aussen, höchst übereinstimmend. Der Fall. erscheint, an sich betrachtet, sehr verwickelt und ohne Aussicht auf Lösung; er vereinfacht sich aber ausserordentlich, wie oben angedeutet, wenn man die Frage verallge- meinert, etwa so: In welcher Weise werden die noch indifferenten Nervenendigungen von der specifischen Einwirkung der Licht- und Schallwellen u. s. w. affı- eirt, um die Form und Beschaffenheit specifischer End- ‚organe anzunehmen? Die Ergründung dieser Verhält- nisse mag noch fern liegen; uns musste nur darauf ankommen, den Vorwurf der Unzulänglichkeit der

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-

142 Typus gleich Stamm.

.s

Theorie zu beseitigen, indem wir die Möglichkeit der

Untersuchung nach unsern Gesichtspunkten zeigten. Indem von Darwin die Wirkungen der Naturzucht- wahl bei der Fortpflanzung und Abstammung ins Licht gesetzt und dieses Princip auf alle Erscheinungen der organischen Welt angewendet wurde, ist durch die so befestigte und begründete Descendenzlehre die

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Systematik der Umwandlung thatsächlich unterworfen

worden, welche Lamark vergeblich anstrebte. Die Systematik stellte die Organismen nach äussern und innern Aehnlichkeiten zusammen. Woher diese grössere oder geringere Uebereinstimmung, die Abstufung, die Mannichfaltiskeit, wusste sie nicht zu beantworten. Man meinte Grosses erreicht zu haben, indem man von Grundformen der Typen sprach, ohne dass man sich über das innerste Wesen dieser gleich den Ideen über den Erscheinungen schwebenden Typen Rechnung

ablegen konnte. Nun ist der Typus zum Stamm ge-

worden, und die Systematik hat die durchaus klare Aufgabe, die Stammbäume der verschiedenen Gruppen

der Lebewesen wiederzugeben und untereinander zu verbinden. Die Kenntniss der Stammbäume hat nun-

mehr erst einen wahrhaft wissenschaftlichen Inhalt ım

Vergleich zur alten Typensystematik; denn die Stamm-

bäume lassen sich nicht construiren ohne die Erkennt- niss ihres Wachsthums und der Ursachen, aus welchen die Aeste, Zweige und Sprossen getrieben sind. Jeder Stamm begreift also alle Formen, welche von einer einfachen Stammform abstammen. Die alte Systema- tik musste zufrieden sein, die Gliederung der einzel- nen Typen auszuarbeiten und ihre Grenzen abzustecken,

dann die Typen nach allgemeinen morphologischen und

physiologischen Principien gegeneinander abzuschätzen, um ihren relativen Werth festzustellen, alles ohne Be- wusstsein der natürlichen Ursachen dieser thatsäch- lichen Verhältnisse. Die Descendenzlehre verknüpft die Stammformen der Typen abermals unter dem Ge- sichtspunkt der Blutsverwandtschaft und schreitet tiefer

#7 "Unmlänsliehkeit der Selectionstheorie. 143

und tiefer bis zu den einfachsten Organismen und dem Anfang des Lebens.

Ehe wir uns jedoch über den Ursprung des Lebens, eine der Säulen der Descendenzlehre, zu verständigen

_ suchen, erscheint es zweckmässig, die Frage zu be-

rühren, ob die in ihren Mitteln und Wirkungen in

den folgenden Kapiteln noch näher zu erläuternde natürliche Zuchtwahl alle Abänderungen der organıi-

schen Wesen erklärt, ob zur Erklärung dieser Um- wandlungen immer die Zuchtwahl zu Hülfe gerufen werden muss? Mit andern Worten, ob die Selections-

theorie allen Anforderungen zur Begründung der De- scendenzlehre entspricht oder der Verbesserung fähig und bedürftig ist? Wir können dies um so unbefan- _ gener thun, als, wie neuerdings wieder der scharf- _ sinnige Verfasser des Buches „Das Unbewusste vom - Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie“ bemerkt hat“, die Wahrheit der Descendenzlehre un-

abhängig ist von der Tragweite und Zulänglichkeit der

Darwin’schen Theorie. ,‚‚Dieses Verhältniss“, heisst es,

„wird von den meisten Gegnern Darwin’s verkannt; in- dem dieselben Gründe für die Unzulänglichkeit der natürlichen Auslese im Kampf ums Dasein vorbringen, glauben sie in der Regel ebenso viele Gründe gegen die Stichhaltigkeit der Descendenztheorie vorgebracht zu haben. Beides hat aber direct gar nichts mitein- ander zu thun; es wäre ja möglich, dass Darwin’s Theorie der en Zuchtwahl absolut falsch und

unbrauchbar und dennoch die Abstammungslehre rich- tig wäre, dass nur die causale Vermittelung der Ab-

stammung einer Art von der andern eine andere als die von Darwin behauptete wäre. Ebenso wäre es möglich, dass zwar theilweise die von Darwin entdeck- ten Vermittelungsursachen des Uebergangs statthätten, zum andern Theil aber Uebergangserscheinungen vor- lägen, welche bisjetzt nicht durch diese Annahme er- klärt werden konnten, und daher entweder eine ergän-

zende Hülfshypothese zu der Darwin’schen verlangten,

747 Sise lb 2 Zefa he N El Fa Ba 1a as DEN Ede DE . Pr rn .

144 Wagner’s Migrationsgesetz.

oder gar ein coordinirtes Erklärungsprineip erforder- = ten, das bis heute ebenso wenig entdeckt wäre, wie E das Darwin’sche es vor 20 Jahren war. Eine solche theilweise Unkenntniss in den wirkenden Ursachen des Ueberganges aus einer Form in die andere kann die allgemeine Wahrheit der Descendenztheorie ebenso | wenig beeinträchtigen, wie das Fehlen gewisser Zwi- schenformen, oder die in manchen Fällen noch be- stehende Unsicherheit, von welcher gegebenen Form eine gegebene andere abstamme. Wenn selbst früher, wo noch jede Kenntniss über die den Uebergang ver- mittelnden Ursachen fehlte, die Abstammungslehre den bedeutendsten Köpfen aus allgemeinen naturphilo- sophischen und apriorischen Gründen gesichert erschien,

so kann jetzt, wo durch Darwin und Wallace die un- zweifelhaft wichtigste, wenn nicht allein hinreichende Ursache des Uebergangs als überall wirksam und als für zahlreiche Fälle ausreichend klar und schlagend nachgewiesen ist, um so weniger mehr ein Zweifel an der Descendenztheorie bestehen.“

Wir haben diese Worte eines geistreichen Philoso- phen allen denjenigen vorhalten wollen, welche so barock sind, das Kind mit dem Bade auszuschütten, und die Descendenzlehre ins Herz getroffen zu. haben meinen, wenn sie so glücklich gewesen sind, an Dar- win’s Selectionstheorie einige Austellungen machen zu können. Leistet also die Selectionstheorie alles? Sie leistet Vieles und Grosses, reicht aber in manchen Fällen, wie es scheint, nicht aus, und in andern Fäl- len bedarf man ihrer nicht, sondern findet die Lösung der -Artbildung in anderweitigen natürlichen Bedin- gungen.

Ein entschiedener Anhänger der Umwandlung und begeisterter Verehrer Darwin’s, Moritz Wagner, glaubte ein sogenanntes „Migrationsgesetz‘“ aufstellen zu kön- nen, nämlich das Gesetz, dass „die Migration der Or- ganismen und deren Coloniebildung die nothwendige Bedingung der natürlichen Zuchtwahl“ sei.” Nach

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Wirkung der Isolirung. FIAE

seiner Meinung entständen nur dann neue Arten, wenn in der Varietätenbildung begriffene kleinere Mengen von Individuen geographisch isolirt würden, da nur auf diese Weise die Kreuzung mit den zurückbleiben- den und von der Umwandlung nicht ergriffenen Art- genossen unmöglich gemacht, also der Rückschlag und das Verschwinden der noch nicht befestigten Charaktere verhindert würde. Dass Isolirung oft sehr vortheilhaft auf die Artbildung einwirkt, ist eine ganz allgemein anerkannte, namentlich an den Inselfaunen leicht zu constatirende Thatsache, dass aber die Artenbildung nur unter Mitwirkung der Isolirung vor sich gehen könne, ist von Weismann gründlich widerlegt worden. Er hat gezeigt, dass „eine Kreuzung der beginnenden Narietät mit der Stammform durch Isolirung nicht vermieden wird“, wenn auch das Beispiel des Stein- heimer Sees die Bildung neuer Arten inmitten der alten betreffend, sich als ungeeignet herausgestellt hat. Schon früher hatte Wagner: auf den Einwand Haeckel’s, dass "bei ungeschlechtlicher Fortpflanzung der niedrigen We- sen der Einfluss der Kreuzung gar nicht zu befürchten sei, die Nothwendigkeit der Isolirung auf die höhern Organismen mit getrennten Geschlechtern beschränkt. Allein Weismann macht mit vollem Rechte geltend, dass die Thatsache der Trennung der Geschlechter, über deren Hervorgehen aus einstigen hermaphrodi- tischen Arten man wol einig ist (die Schöpfungs- Gläubigen natürlich ausgenommen), als eines der aus- gezeichnetsten Beispiele der Varietätenbildung auf demselben Terrain dem Wagner’schen „Migrationsgesetz“ den Boden entzieht. Wie wir schon oben erwähnt, scheint es, dass wenn einmal der Anstoss zur Varietätenbildung da ist, diese Tendenz sich schnell ausbreitet. Der Nachweiss solcher Variationsperioden tritt aus den früher (8. 86 ff.) ange- führten paläontologischen Arbeiten hervor, Fällt in eine solche Periode Isolirung, so bewirkt sie die Befesti- -gung neuer Varietäten zu Arten ohne natür- SCHMIDT, Descenmdenzlehre. 10

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146 Morphologische AaHte EN liche Züchtung. Wie Darwin in seiner Schrift über die Entstehung des Menschen anerkennt, hat er dieser Bildung sogenannter morphologischer Arten früher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wir verstehen darunter Arten, welche von ihren Stammarten sich nicht durch irgendwelche physiologische Vortheile un- terscheiden, sich also nicht über sie erheben, auf welche also das Princip der Zuchtwahl im strengen Darwin’schen Sinne keine Anwendung findet. Zwei Schmetterlingsarten, welche nur in einigen Tupfen und Zeichnungen, in einigen Zacken der Flügel vonein- ander abweichen, sind nach unserm Ermessen von voll- kommen gleichem physiologischen Werthe; es sind morphologische Arten. Weismann begründet den Satz, „dass die Färbung und Zeichnung der obern Flügel- fläche bei Tagschmetterlingen, mit Ausnahme der Fälle von Mimiery und von schützender Totalfärbung als rein morphologische Charaktere der Art aufzufassen sind“, und führt an andern Beispielen aus, „dass neue, wie morphologische Charaktere unter gewissen Um- ständen und innerhalb eines ziemlich kleinen Spiel- raums blos durch die Wirkung der Isolirung fixirt werden können“. Auf die Nichtanwendbarkeit der natürlichen Züchtung auf die Hervorbringung der rein morphologischen Abänderungen hatte zuerst Nägeli hingewiesen. * Mit Bezug hierauf sagt der in seiner Bescheidenheit so grosse Darwin: „Ich gebe jetzt, nachdem ich die Abhandlung von Nägeli über die Pflanzen und die Bemerkungen verschiedener Schrift- steller, besonders die neuerdings vom Professor Broca ° in Bezug auf die Thiere geäusserten gelesen habe, zu, dass ich in den frühern Ausgaben meiner Entstehung der Arten wahrscheinlich der Wirkung der natürlichen Zuchtwahl oder des Ueberlebens des Passendsten zu viel zugeschrieben habe. Ich habe die fünfte Ausgabe der «Entstehung» dahin abgeändert, dass ich meine Bemerkungen nur auf die adaptiven (d. h. die für die nöthigen Anpassungen sich vortheilhaft erweisenden)

Veränderungen des Körperbaues beschränkte. Ich - hatte früher die Existenz vieler Structurverhältnisse nicht hinreichend betrachtet, welche, soweit wir - es beurtheilen können, weder wohlthätie noch schäd- lich zu sein Ban, und ich glaube, dies ist eins der grössten Versehen, welche ich bisjetzt in meinem Werke entdeckt habe.“ 51 Er Wir möchten meinen, dass das Versehen, dessen - sich Darwin anklagt, so gross nicht ist, indem es sich hier um die mehr en für die grosse Er- ; scheinung der fortschreitenden Entwickelung indifferen- ten Arten handelt, deren Entstehung aus der blossen 2 'Veränderlichkeit nnd allenfalls, wie wir oben gesehen, der Mitwirkung der Isolirung ee verständlich ist. Dem Werthe der natürlichen Züchtung geschieht 2 durch die Entbehrlichkeit der Theorie für die Erklä- _ zung der rein morphologischen Arten nicht der ge- _ ringste Abbruch. Für gewisse Fälle der Mimicry oder der Bildung der natürlichen schützenden Masken und Nachahmungen, für das Verständniss der organischen Schönheit scheint die natürliche Züchtung nicht aus- > zureichen. Was beweist es weiter, als dass, wie wir _ alle wissen, die künftigen Geschlechter den Eau wei- ter zu führen haben? Die Zuthaten, welche die Gegen- _ wart der Selectionstheorie hat bringen können, sind - kaum nennenswerth. - Indem der Typus zum Stamm geworden, und das System als der kürzeste Ausdruck oder die Zusammen- fassung der verwandtschaftlichen Beziehungen der Or- ' ganismen an der Wurzel des Stammbaums eine Anzahl niedrigster und einfachster Organismen, vielleicht nur eine einzige Urform unserer Vorstellung aufnöthigt, müssen wir uns mit dem Problem des Anfangs des - Lebens auseinandersetzen. Noch in neuester Zeit, im _ März 1873, hat Max Müller in Uebereinstimmung mit _ vielen Meinungsgenossen wieder proclamirt, dass die _ Darwin’ sche Theorie in Anfang und Ende verwundbar seid? „the Darwinian theory vulnerable at the beginning Fer 10*

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| Anfang des Lebens. 147

148 Anfang des Lebens.

and at the end“. Ob das Ende des Darwinismus, näm- lich die Anwendung der natürlichen Zuchtwahl auf ie die Entstehung des Menschen und seiner einzigen charakteristischen Eigenthümlichkeit, der Sprache, er- hebliche Angriffspunkte biete, haben wir noch Ge- legenheit zu untersuchen. Was aber der berühmte Sprachforscher den verwundbaren Anfang des Darwı- : nismus, die Entstehung des Lebens, nennt, hat mit dem eigentlichen Darwinismus, der natürlichen Züch- tung, eigentlich gar nichts zu thun, es sei denn, dass man das Princip der Zuchtwahl auch auf die unorga- nische Körperwelt ausdehnt. Wir verstehen aber natür- lich den Einwurf, welcher der Descendenzlehre, nicht der Selectionstheorie die Basis entziehen will und den Anfang des Lebens als unbegreiflich und übernatürlich darstellt, um für die Uebernatürlichkeit der Sprach- schöpfung einen Präcedenzfall zu haben. Zwischen Anfang und Ende dürfen wir Naturforscher walten nach Belieben. Es ist aber merkwürdig, dass man gerade von der Seite, welche uns gern Mangel an philoso- phischer Methode und Schlussfolgerung vorwirft, hier, wo das materielle Substrat nicht vorhanden, der Natur- forschung die Berechtigung der Consequenz des Ge- dankens streitig macht. Auf der letzten Seite der „Entstehung der Arten“ sagt Darwin: „Es ist wahr- lich eine grossartige Ansicht, dass der Schöpfer den Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder nur einer einzigen Lebensform eingehaucht hat, und dass, während unser Planet den strengen Gesetzen der Schwerkraft folgend, sich im Kreise schwingt, aus so. einfachem Anfange sich eine endlose Reihe der schönsten und wundervollsten Formen entwickelt hat. und noch immer entwickelt.“ Mit diesem Zugeständ- niss ist sich Darwin allerdings untreu geworden, und es befriedigt weder diejenigen, welche an das fort- dauernde Schöpfungswerk eines persönlichen Gottes glauben, noch die Anhänger der natürlichen Entwicke- lung. Es ist geradezu unverträglich mit der Descen-

Anfang des Lebens. lenzlehre, oder, wie Zöllner ®® sagt: „Die Annahme eines Schöpfungsactes (für den Beginn des Lebens) _ wäre keine logische, sondern nur eine willkürliche _ Begrenzung der Causalreihe, gegen welchen sich unser - Verstand auf Grund des Se innewohnenden Causa- - litätsbedürfnisses sträubt.“ Wer dieses Bedürfniss nicht hat, dem ist nicht zu helfen, und er ist nicht zu über- zeugen. Man bricht eben mit der gesammten Erkennt- nisstheorie, wenn man den Anfang des Lebens inmitten einer sonst ununterbrochenen Entwickelung als einen willkürlichen Schöpfungsact setzen will.

- Man pflegt die Entscheidung über den Beginn des Lebens von dem Standpunkt abhängig zu machen, den man zur Frage über die Möglichkeit der Urzeugung ‘oder freiwilligen Zeugung (Generatio aequivoca), in der _ gegenwärtigen Zeit einnimmt. Ein solches Verfahren ist nach unserer Meinung nur halb richtig. Die sub- tilsten Versuche über die freiwillige Entstehung, sei es aus organischem Stoffe, sei es aus Elementen, welche noch nicht zu Moleculen organischer Stoffe zusammen- getreten waren, sind nach keiner Seite hin entschei- dend gewesen. Weder die Unmöglichkeit noch die Möglichkeit ist experimental zu beweisen; immer bleibt für den Zweifler die Ausflucht, zu sagen, wenn nichts wird, dass eben die Umstände des Experimentes an dem Mislingen der Urzeugung schuld sind, und, wenn etwas zum Vorschein kommt, dass trotz aller Vor- sichtsmassregeln doch die Keime ihren Weg in die Infusion gefunden hätten. Die Ansicht über noch jetzt fortdauernde Urzeugung ist also schliesslich nur ein Ausfluss der gesammten Naturanschauung des Einzelnen. Wer die Möglichkeit offen hält, dass noch heute Le- bendiges sich aus dem Unlebendigen ohne Vermittelung von Vorfahren erzeugt, für den ist die Ueberzeugung der ersten Entstehung des Lebens auf diesem natür- lichen Wege ohne weiteres selbstverständlich. Aber ‚selbst wenn der Beweis geführt würde, der nie geführt

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150 Wallace.

werden kann, dass in der Jetztwelt Urzeugung nicht stattfindet, so würde der Schluss falsch sein, dass sie

nie stattgehaht habe. Als unser Planet bei jener Stufe der Entwickelung angelangt war, wo der Wärmegrad der Oberfläche die Bildung von Wasser und das Be-

stehen eiweissartiger Substanzen zuliess, waren die

Mengen und Mischungsverhältnisse der Bestandtheile

der Atmosphäre andere als jetzt. Tausend Umstände, die wir heute nicht in unserer Gewalt haben, und über

deren mögliche Beschaffenheit nachzugrübeln überflüssig

ist, konnten die Bildung des Protoplasma, dieses Ur- organısmus, aus den Atomen seiner Bestandtheile her-

beiführen.

Der einstige Anfang des Lebens ist also ebenfalls factisch nicht zu demonstriren; die Annahme des Ein- trittes des Lebendigen zu einer bestimmten Zeit der Entwickelung auf natürlichem Wege ist aber eine logi- sche Nothwendigkeit, und nicht im entferntesten ein verwundbarer Punkt der Descendenzlehre. °? |

Wir haben oben nur im Vorübergehen einen Mann erwähnt, der zwar nicht auf der Höhe Darwin’s steht, aber den Ruhm hat, unabhängig von jenem ebenfalls das Gesetz der natürlichen Zuchtwahl entdeckt und, nachdem Darwin mit seiner grundlegenden Arbeit her- vorgetreten war, die Selectionstheorie durch eine Fülle selbständiger Beobachtungen gestützt zu haben. Das ist Alfeed Russel Wallace.°’” Er wies in einem 1855 veröffentlichten Aufsatz die Abhängigkeit der Flora und Fauna von der geographischen Lage und geolo- gischen Beschaffenheit des Verbreitungsbezirkes nach, und den engsten Zusammenhang der Arten nach Zeit und Raum mit früher vorhandenen verwandten Arten; und in einer zweiten Arbeit über die Neigung der Varietäten, vom Urtypus unbegrenzt abzuweichen, aus dem Jahre 1858, finden wir die Bedeutung des Kam- pfes ums Dasein (the struggle for ezxistence) erörtert, die Folgen der Anpassung, die Auslese des Nützlichen

Vererbung. 151

nd den Ersatz der frühern Arten durch die befestig- ten werthvollern Varietäten. Wir werden wiederholt Gelegenheit haben, aus dem reichen Brunnen seiner Untersuchungen zu schöpfen.

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Vererbung. Rückschlag. Veränderlichkeit. Anpassung. Folgen des Gebrauchs und Nichtgebrauchs der Or- gane. Differenzirung führt zur Vervollkommnung.

Die beiden Eigenschaften der organischen Wesen, welche das Verhältniss der Nachkommen zu den Er- - zeugern bestimmen und regeln und den Individuen ihre Stellung in der umgebenden Welt anweisen und erringen helfen, sind die Fähigkeiten der Vererbung und Anpassung.

Die Vererbung ist das conservative Princip, die An- passung das fortschrittliche. Doch ist nicht alle Ver- erbung auf die Unveränderlichkeit gerichtet, und zahl- reiche Fälle) der Anpassung ziehen morphologischen und physiologischen Rückschritt nach sich. In der Klarlesung der vererbten Eigenthümlichkeiten der Or- ganismen reconstruiren’ wir ihren Stammbaum; an den

- durch die Anpassung erworbenen Eigenschaften er- proben wir die Biegsamkeit des Organismus im Laufe der Zeit und verfolgen die Verzweigungen des Stamm- baums. Organismengruppen mit vorherrschend conser- vativem Princip legen damit allerdings für ihre Wider-

. standskraft im Kampfe ums Dasein Zeugniss ab, kommen aber in ihrem physiologischen Werthe nicht weiter und werden von den progressivern, sich in die Hin- dernisse der Welt einlassenden und aus ihnen Vortheil ziehenden Gruppen überflügelt, wofür ja auch das menschliche Leben so viele Belege liefert.

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152 | Vererbung.

Da die Erscheinungen der Vererbung greller her- vorzutreten pflegen, als die Folgen der Anpassung, so °

hat die frühere Naturforschung die letztere fast gänz-

lich vernachlässigt. In der That, welche Vergleichung in der organischen Natur kann man wol häufiger und allgemeiner anstellen, als dass die Nachkommen den Aeltern ähnlich sind? Zwar hat ein Anatom in einem eigenen Buche den Satz durchführen wollen, dass die Aehnlichkeit der Kinder nicht auf der Vererbung be- ruhe, sondern ein Resultat der gleichen und ähnlichen, in den Familien vorherrschenden Einflüsse, Sitten und Gewohnheiten sei. Allein diese paradoxe Lehre bedarf keiner besondern Widerlegung. Es ist ganz richtig, dass gleiche Gewohnheiten und gleiche äussere Ver- anlassungen eine gewisse Gleichförmigkeit in Haltung und Miene hervorrufen; wenn aber der kleine Sohn des gravitätisch einherschreitenden Geldmannes seinen Vater copirt, so kann es uns doch nicht einfallen zu behaupten, er habe ihm auch die grosse oder kleine Nase u. s. w. abgeguckt oder aus dem gleichen An- passungsbedürfniss erhalten. Wir haben jene, dem allgemeinen Bewusstsein zuwiderlaufende Spitzfindigkeit. nur erwähnen wollen, und constatiren in Uebereinstim- mung mit demselben die Uebertragung der. älterlichen Eigenthümlichkeiten auf die Nachkommen. Die Thier- zucht insbesondere hat Gelegenheit gehabt, diese Ueber- tragungen speciell zu beobachten und aus der Com- bination und Beeinflussung der verschiedenen Formen und Grade der Vererbung ihre so staunenswerthen Fortschritte herzuleiten.

Bekanntlich werden nicht blos die normalen Zu- stände vererbt; auch Monstrositäten pflanzen sich durch mehrere Generationen fort oder können sich sogar, wie uns oben das Beispiel der krummbeinigen Schafe in Massachusetts zeigte, zu Rassencharakteren be- festigen, Es bedarf auch nur des Hinweises auf die Erblichkeit von Krankheitsanlagen, körperlichen wie geistigen, um uns diese innigste Verknüpfung der

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Vererbung. | 153

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$ kommen mit den Vorfahren zu vergegenwärtigen. Erst seitdem die Selectionstheorie die Modalitäten der # bung körperlicher Eigenschaften zum Gegenstande tiefern Studiums gemacht hat, konnte die allgemeine und die Völkerpsychologie die Anregung empfangen, auch auf dem geistigen Gebiete den Einfluss der Ver- _ erbung zu würdigen und nachzuweisen, wie mit den- molecularen Besonderheiten des Gehirns auch die An- lage des Charakters und der Intelligenz der Indivi- duen und ganze Vorstellungsreihen nach Stärke und Inhalt bei den verschiedenen Volksstämmen und Völker- familien sich nach den Gesetzen der Vererbung richten.

Es liegt auf der Hand, dass der Schlüssel für die Erscheinungen der Vererbung im Vorgang der Fort- pflanzung zu suchen ist. Die molecularen Bewegungen und Anregungen, welche dabei stattfinden, die über alle Vorstellung minimalen mechanischen Uebertra- gungen lassen sich freilich nicht beobachten, sie sind jedoch nicht „dunkler‘‘ oder „räthselhafter“, wie man sie gern nennt, als die unsichtbaren und doch nicht übernatürlichen Bewegungen, auf deren Controle und Berechnung das stolze Gebäude der theoretischen Che- mie und Physik sicher ruht. Mit dem Fortschritt von der ungeschlechtlichen zur geschlechtlichen Fortpflan- zung und von den einfachen zu den vollkommnern Organismen wächst die Schwierigkeit des Vorstellens, aber nicht des abstracten Begreifens. Wenn ein nie- driges Wesen, eine Monade, sich theilt, so weichen die Theilindividuen nur durch die geringere Körper- masse von dem Mutterindividuum ab, und der Unter- schied, wie sie jetzt functioniren, von dem, was sie als Theile des Ganzen leisteten, ist der Qualität nach Null. Auch wo sich Knospen und Keime von einem mütterlichen Organismus loslösen, ist die materielle Mitgift der Sprösslinge so gross, dass die Gleichheit der Form und Function von Erzeuger und Erzeugteın als selbstverständlich und natürlich erscheint. Aber

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154 Hypothese der Pangenesis. }

auch bei der geschlechtlichen Fortpflanzung der zu-

sammengesetztesten Organismen handelt es sich unter

allen Umständen, wie wir seit Widerlegung der alten

Lehre von der aura seminalis wissen, um die Ablösung

materieller Theile der älterlichen Organismen. Es

bleibt ein mechanischer Vorgang, der nicht unbegreif- lich und nur dann unerklärlich erscheint, wenn wir

den natürlich vergeblichen Versuch machen, das Unendlichkleine, welches dabei mechanisch und che- misch thätig ist, uns sinnlich vorstellen zu wollen. Darwin hat im „Variiren der Pflanzen und Thiere“ eine provisorische Hypothese der Pangenesis auf- gestellt. Er sagt, dass alle Erscheinungen der Ver-

erbung und des Rückschlags dadurch möglich würden,

dass in jedem Elementartheile des Organismus fast unendlich viele Keime producirt würden, welche sich in den Fortpflanzungsstoffen, also in jedem Ei, jedem Samenkörperchen aufspeicherten, durch Hunderte von Generationen latent bleiben und dann erst im Rück- schlag sich geltend machen könnten.°® Diese Hypo- these hat, wie uns scheint, keinen lebhaften Beifall gefunden, wir meinen deshalb, weil beim Versuch, über dieselbe. nachzudenken, alsbald die sinnliche Vor- stellung sich hervordrängt, um sich als unzulänglich zu erweisen. Hält man aber den Gedanken fest, dass auch die complicirtesten Erscheinungsformen des Lebens im Protoplasma, wie Rollet es treffend nennt?”, einen beharrlichen Zeugen ihres Zusammenhanges mit den einfachsten besitzen, so folgt die Gültigkeit der für die einfachsten Organismen als wahr bewiesenen oder wahrscheinlich gemachten allgemeinen Gesetze auch

für die vollkommensten von selbst. Das gilt auch für

die Fortpflanzung, die in ihren untersten Erscheinun- gen nichts bietet, was nicht durch die auf die imbi- bitionsfähige, zähflüssige lebende Substanz angewendete Molecular-Physik begründet und des vitalistischen Dualismus entkleidet werden könnte.

Je zusammengesetzter ein Organismus, d. h. je grösser

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Rückschlag. 99

_ die Differenzirung in der Entwickelung vom Proto plasma der Eizelle bis zur Körperreife, um so ver- schiedenartiger äussert sich die Vererbung. Diese Vererbungsarten sind von Darwin, und noch systema- tischer von Haeckel als ‚„Vererbungsgesetze‘“ formulirt und in den betreffenden Werken mit einer Fülle von Beispielen belegt werden. Wenn man die Vererbung überhaupt das Conservative im Leben der Arten nen- nen kann, so darf man doch noch im besondern von einer conservativen Vererbung sprechen, durch welche die alten, längst befestigten Merkmale und Eigenthümlichkeiten übertragen werden. Je hartnäcki- ger ein Charakter überliefert wird, oder, was auf dasselbe hinauskommt, über eine je grössere Anzahl ‚von Familien, Gattungen, Arten ein Charakter sich verbreitet, als desto älter muss er angesehen werden, desto früher ist er im Stamm aufgetreten. In den allermeisten Fällen findet diese conservative Vererbung in ununterbrochener Reihenfolge der Generationen statt, über welche von jedermann täglich zu machende Beob- achtung keine Worte zu verlieren sind. Die conser- vative Vererbung kann aber auch sprungweise zur Erscheinung kommen, indem entweder blos einzelne Eigenschaften der Vorfahren, nachdem sie eine, meh- rere oder viele Generationen hindurch latent geblieben sind, wieder zum Vorschein kommen was wir Ata- vismus oder Rückschlag nennen; oder indem die Art sich aus verschieden gebildeten und regelmässig sich einander ablösenden Zeugungsformen und Indivi- duen zusammensetzt. Diese besondere Art des Rück- schlags heisst Generationswechsel.

Niemand wundert sich darüber, wenn Kinder kör- perliche oder geistige Züge der Grossältern an sich tragen, die in den ÄAeltern pausirt haben. Am häu- figsten und auffallendsten ist aber der Atavismus der Hausthiere und Nutzpflanzen, ein zäher Gegner der Züchter. Ueber kein Hausthier hat man hinsichtlich ihrer Stammart eine ähnliche Gewissheit, als über die

156 | Rückschlag.

Taube. Nun gibt es Taubenrassen, welche seit meh- rern Jahrhunderten rein gezüchtet und in Färbung und Form zu neuen Wesen umgewandelt worden sind, gleichwol aber von Zeit zu Zeit entweder aus sich heraus oder in Kreuzung mit andern auffallenden Rassen Thiere hervorbringen, welche in Färbung und charakteristischer Zeichnung von schwarzen Binden auf Flügeln und Schwanz der wilden Felstaube glei- chen. „Ich paarte‘‘, erzählt Darwin°®, „einen weiblichen Barb-Pfauentauben-Bastard mit einem männlichen Bar- ben-Blässtauben-Bastard. Keiner von beiden hatte auch nur das geringste Blau an sich. Man muss sich erinnern, dass blaue Tauben äusserst selten sınd, dass Bläss- tauben schon im Jahre 1676 vollständig als solche charakterisirt waren und völlig rein züchten; und dies ist ın gleicher Weise bei weissen Pfauentauben der Fall, und zwar so sehr, dass ich nie von weissen Pfauentauben gehört habe, die irgendeine andere Farbe hervorgebracht hätten; nichtsdestoweniger waren die Nachkommen der beiden obigen Bastarde von genau derselben ‚blauen Färbung über den ganzen Rücken und die Flügel, als die wilden Felstauben von den Shetland-Inseln. Die doppelten schwarzen Flü- gelbinden waren in gleicher Weise deutlich; der Schwanz war in allen seinen Merkmalen genau jenen gleich, und das Hintertheil war rein weiss.“ Ein anderer oft zu beobachtender Rückschlag ist die Streifung der verwilderten europäischen Hauskatze, womit sie sich bis zum Verwechseln der Wildkatze nähert. Darwin hat die Gründe zusammengestellt, aus denen man auf eine gestreifte wilde Stammart des Pferdes schliessen darf; dahin gehört das Auftreten von gestreiften In- dividuen. Aber noch ein anderes seltsames Vorkommen bei Pferden findet seine Deutung im Atavismus. Es werden mitunter Fohlen mit überzähligen Zehen ge- boren. Diese ‚„Monstrosität‘ kann nur erklärt werden durch Rückschlag auf die dreizehigen historischen Vor- fahren der jetzigen Gattung. Diese Belege mögen genügen.

FR NE N LE N

"Progressive Vererbung. 157 Die gesammten Erscheinungen der künstlichen Züch- tungen, sowie die natürliche Zuchtwahl zeigen, dass nicht blos die von alters her überkommenen, sondern auch die neuerlich und jüngst erworbenen Eigenschaf- ten auf die Nachkommen übertragen werden können. Das ist die progressive Vererbung. Ohne sie wäre die Veredlung und der Fortschritt unmöglich, _ und ihre eigene Möglichkeit ergibt sich unmittelbar aus dem Wesen der Fortpflanzung. Je neuer eine nützliche Abänderung, desto weniger hat sie sich noch in Correlation mit dem gesammten Organismus setzen können, desto weniger ist noch das Fortpflanzungs- system von ihr berührt, desto ungewisser und schwan- kender ist also auch die Uebertragung durch die Fort- pflanzung, und es bedarf der Züchtung oder der Auslese durch die Natur, um die Möglichkeit des Fortschrittes durch wiederholte Vererbung zur Thatsache zu machen “und diese Thatsache nach und nach in die conserva- ‚tiven Vererbungen einzureihen. Die progressive Ver- erbung complicirt sich natürlich bei Trennung der Geschlechter, wo die sexuelle Zuchtwall in ihre Rechte tritt und die Vorzüge des einen Geschlechts durch den Geschmack des andern gezüchtet werden, dann aber entweder nur auf das durch die secundären Cha- ‚raktere bevorzugte Geschlecht übertragen werden oder der Art als Ganzes zugute kommen. In der Regel ‚sind die Männchen mit diesen Vorzügen begabt und haben dieselben in einem unvollkommenen Zustande ‚auf die Weibchen vererbt. Wir wollen uns nur durch ein einziges Beispiel orientiren. In der Insektenord- nung der Geradflügler (Orthoptera) sind die Männchen im Stande, durch Reiben der Flügeldecken aneinander, oder indem sie mit den Schenkeln der Hinterbeine an dieFlügeldecken streichen, eine die Weibchen anlockende Musik zu machen. V.Graber, ein ausgezeichneter jün-

. gerer Entomolog, hat nachgewiesen°®, dass die Zahn- leisten an den Streichinstrumenten dieser Thiere nur modificirte Haare sind, dass sich ihre Beschaffenheit

es

158 Vererbung in entsprechenden Lebensperioden.

aus dem Gebrauche erklärt, und dass sie höchst wahr-

scheinlich durch die sexuelle Zuchtwahl sich vervoll- kommneten, indem die besten und lautesten Musikanten die begünstigtsten Liebhaber waren. Die Weibchen der Geradflügler sind, mit einer einzigen Ausnahme, stumm; viele besitzen aber Spuren solcher den Männ- chen eigenthümlichen Zirpwerkzeuge. Entgegen der frühern Meinung, dass nur eine von den Männchen ausgehende Vererbung vorläge, hat Graber es „mehr als wahrscheinlich gemacht, dass sich die Tonadern

der Weibchen der musicirenden Ephippigera vi- tium ganz unabhängig von denen der Männchen,

doch auf die gleiche Weise, wie bei diesen, schritt- weise entwickelt haben“. In andern Fällen dagegen scheinen die schwaeh entwickelten und zum vernehm- baren Musiciren nicht geeigneten Tonadern der Weib- chen ein Erbstück von den Männchen her zu sein. Eine allgemein bekannte Erscheinung ist die Ver- erbung zu entsprechenden Lebensperioden. Die Anlage zu Krankheiten geht von Vater oder Mutter auf das Kind über, um in den Jahren, wo jene litten, durchzubrechen. Das Milchgebiss macht ven

Generation zu Generation zur selben Zeit der defini-

tiven Bezahnung Platz. Alle speciellen Fälle sind aber nur Ausflüsse des allgemeinen Gesetzes der Ent- wickelung, wo im Individuum .die Charaktere in der Reihenfolge auftreten, wie sie historisch erworben wur- den und vererbt werden konnten. Die. Vererbung im bestimmten Lebensalter, nach der Zeit, wo wir die eigent- liche Entwickelung für abgeschlossen ansehen, ist doch nur eine Fortsetzung der mit Theilung, Keim und Ei beginnenden: embryonalen Entwickelung, deren Bedeu- tung uns das neunte Kapitel kennen lehrt. Bei die- ser Entwickelung des Individuums, der Ontogenie, werden, wie unten ebenfalls näher zu beleuchten, oft Vorgänge zusammengedrängt, oder fallen ganz aus, welche einst, als sie erworben wurden und nachdem

sie sich befestigt hatten, grössere Zeit in Anspruch

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N rind rlchkäit, 159

' nahmen, im Verlaufe der Zuchtwahl aber von gerin- gerer Bedeutung für das Individuum wurden oder

einen physiologischen Werth nur als Durchgangspunkte behielten.

Die zweite grosse Klasse von Charakteren, nämlich derjenigen, welche neu erworben wurden und auf der Anpassung beruhen, setzt die Veränderlichkeit des Organismus voraus. Dieselbe ist eine Grunderschei- _ nung der organischen Körper. Sie inhärirt den klein- sten Formbestandtheilen, dem Protoplasma und den Zellen und den aus ihnen hervorgehenden Formelemen- ten, aus deren sich durchdringenden und bedingenden Einzelleben das Gesammtleben des Individuums resul- tirt. Das organische Formelement befindet sich im Zustande der Quellung, es imbibirt fortwährend und scheidet ab, ist also in seinem Bestande unausgesetzt von der Zufuhr des Materials für seine Thätigkeiten abhängis. Was im grossen und ganzen das Aussehen und die Beschaffenheit der Individuen bedingt, die Ernährung, vollzieht sich ja nur an den unzähligen . Zellen und ihren Derivaten. Jede Schwankung der Zufuhr in jedem Theile des Organismus, ja an jeder Stelle der Oberfläche eines mikroskopischen Bausteines, muss mit Nothwendigkeit eine Veränderung von Ge- webstheilen oder zu Organen vereinigten Gewebs- gruppen nach sich ziehen. So ist die Veränderlichkeit eine aus der eigensten Natur des Organischen sich von selbst ergebende Eigenschaft, abhängig von den äussern Verhältnissen, von welchen Fülle und Form, Ausbildung und Umbildung der Elementartheile, oder Verkümmerung und Rückbildung derselben bedingt wird. Man kann sich von diesen Wirkungen durch die Betrachtung eines Polypenstockes ein Bild machen, der als Ganzes dem Individuum, in seinen einzelnen Polypen den Zellen und Formelementen gleicht. Die Einzelindividuen sind der Anlage nach gleichwerthig, aber gewöhnlich sehr verschieden stark und entwickelt, selbst bei den Arten, wo die unstreitig durch Selection

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Pa: »*: 160 Veränderlichkeit.

hervorgerufene Differenzirung nicht zur Trennung in verschieden functionirende Personengruppen, zum 'Polymorphismus geführt hat. Das Wohl und Wehe der Polypen unsers Stockes ist gar sehr von der Stellung abhängig, welche sie auf demselben einnehmen; der Zufluss von Nahrung, auf welche in erster Linie die Einzelindividuen angewiesen sind, vertheilt sich ungleich und wechselnd, je nach Strömung und Bran- dung. Es gibt daher an jedem Polypenstock Regionen, wo die Personen besonders gut gedeihen, andere, wo sie sich eben noch erhalten, andere, wo sie ihre Rech- nung nicht mehr finden. Da aber der Polypenstock von einem die einzelnen Zellen verbindenden Kanal- system für die Ernährungsflüssigkeit durchzogen ist, so kommt der Ueberschuss der gut situirten Zellen denen zugute, welchen durch ihre zufällige Stellung ein schlechteres Los bereitet ist, und umgekehrt. Aus diesen sehr complicirten, aber für unsern Vergleich noch sehr einfachen Verhältnissen summirt sich Gestalt und Aussehen des Polypenstockes. Unter Hunderttau- senden von Stöcken wird man nicht zwei einander ab- solut gleiche finden. Selbst wenn zwei Individuen derselben Art, um auf die Veränderlichkeit der Orga- nismen zurückzukehren, unter den denkbar gleich- förmigsten Verhältnissen erzogen werden, hat noch nie die absolute Gleichheit derselben behauptet wer- den können. Dass die Veränderlichkeit bei den nie- dern Organismen geringer sei als bei den höhern, ist ein oft wiederholtes, durch das alte Artdogma be- festigtes Vorurtheil. Es stände schlimm um die Ab- stammungslehre und Auslese, wenn es so wäre, Wie aber der Hirt die Physiognomien seiner Schafe sicher unterscheidet, wo ein städtischer Spaziergänger nur ein allgemeines Hammelgesicht sieht, so löst sich auch dem aufmerksamen Naturforscher der Arttypus bei den meisten niedern Organismen in ebenso viele Variationen als Individuen auf, ganz abgesehen von allen den

Anpassung. 161

Fällen, wo die Feststellung des Arttypus i in gar keiner Weise Beine.

Die Anpassung als Veränderung unter gegebenen Verhältnissen ist also sowenig wie die Vererbung eine unbekannte Grösse, sondern eine Function der mechanischen Eigenschaft der Veränderlichkeit, oder, im weitesten Sinne des Wortes, der Ernährung. Die Anpassung geht vor sich, indem der Organismus oder Theile desselben sich unter den verschiedenen äussern Einflüssen biegsam und bildsam zeigt, sie überwindet, sich zu Nutze macht. Klima, Licht, Feuchtigkeit, Nahrung, alle Hindernisse und Fördernisse, welche direct oder indirect auf den Organismus einwirken, ‘sind dabei thätig. Von Organismen umgeben, sehen wir ihn ohne Ausnahme sich den Umständen anpassen, und wenn es uns um nichts anderes zu thun ist, als uns überhaupt von dem gestaltenden Einfluss der Le- bensweise zu überzeugen, so geschieht dies am leich- testen bei den Hausthieren. In seinen Studien über das Schwein hat der vielleicht wissenschaftlichste unter den berühmten Thierzüchtern, H. v. Nathusius‘’, ge- zeist, wie der Schädel des Hausschweines selbst in dem einfachsten Falle, wo ıhm nur der durch die Cultur mehr gelockerte Boden die Arbeit des Wühlens erleichtert, durch die weichern Formen des Schädels auf der Jugendform des Wildschweines stehen bleibt, "und wie jene extremen Kopfbildungen der Culturras- sen, welche durch Knickung und Verkürzung des Ge- sichts, sowie die Unmöglichkeit, das Gebiss vorn zu schliessen, charakterisirt sind, lediglich eine Folge der veränderten Lebensweise sind. Es ist bekannt, dass ‚Menschen, Thiere und Pflanzen, in eine weit von ihrem bisherigen Wohnort entfernte neue, fremdartige Umgebung versetzt, entweder nach längerm oder kür- zerm Bestreben des Organismus, sich heimisch zu machen, absterben, oder in die neuen Verhältnisse sich finden und sich acclimatisiren. Jede Acclimati- ‚sation ist also Anpassung, begleitet von sichtbaren

SCHMIDT, Descendenzlehre, an.

162 % Anpassung.

oder auch weniger bemerkbaren Aenderungen. So gehen infolge der verschiedenen Lebensbedingungen Volksstämme weit auseinander, die nach der Verwandt- schaft ihrer Sprachen eines Ursprunges sind, um von denen hier nicht zu reden, über deren Beziehungen die Sprachforschung noch nicht entschieden hat. Wie abweichend ist das Gepräge der Engländer von dem der Hindus; sie stellen somatisch und psychisch zwei Bigereichnete Unterrassen dar, deren Eigenthümlich- keiten der Anpassung zuzuschreiben sind, hier an ein Klima, welches Pflanzennahrung verlange die körper- liche und geistige Energie nicht herausfordert, eine träumerische Sinnlichkeit begünstigt, dort an ein Land, welches in allen Richtungen das Gegentheil der indi- schen Urheimat ist. Auch der jährliche Wechsel in den Lebenserscheinungen so vieler Organismen, wel- chen wir als Mauser bezeichnen, ist Anpassung. Sie wird sogleich modificirt, wenn der Organismus einem veränderten Klima ausgesetzt wird, oder vielmehr ist die Acclimatisation im wesentlichen die Accomodirung - der Mauser an das neue Klima.

In allen diesen Beispielen haben wir die Resultate directer Anpassung, wobei die Widerstandsfähig- keit der Individuen in Rechnung kommt, sowie die cumulative Anpassung bei der künstlichen Zuchtwahl und die Auslese des Bessern durch die Naturzüchtung. Ueberall, wo es sich um Anpassung handelt, werden ein oder einige Organe in erster Linie activ oder’ passiv betheiligt sein, und erst infolge der hieraus ableitbaren Umänderungen werden andere Organe in Mitleidenschaft gezogen. Dies ist correlative An- passung zu nennen. Man könnte vielleicht meinen, die parasitischen Thiere gäben hierfür die anschaulich- sten Beispiele, wo mit der Veränderung der Nahrung und der Nahrungswerkzeuge, namentlich der Mund- theile, eine oft bis zum gänzlichen Schwund gehende Um- und Rückbildung der Bewegungsorgane und der ganzen Körpergliederung verbunden zu sein pflegt.

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Anpassung. 5 a 163 |

K ‚Mein obschon hier die Grenze schwer zu ziehen, liegt E: die Ursache dieser Hand in Hand gehenden Khan _ rungen der Ernährungs- und Bewegungswerkzeuge weniger in der sympathischen Beeinflussung der einen _ durch die andern, als im gleichzeitigen Nichtgebrauch. Correlativ ist aber z. B. die Anpassung, dass bei den kurzschnäbeligen Taubenrassen auch Mittelzehe und _ Lauf verkürzt ist, und bei den langschnäbeligen Ras- sen jene Organe an der Verlängerung theilgenommen haben. In dem Falle jedoch, wo kurze Schnäbel mit

_ kurzen Füssen verbunden sind, hat an der Verkürzung der Füsse auch der Nichtgebrauch gewiss einen An- _ theil, während da, wo der Taubenliebhaber seine - Freude an der Verlängerung des Schnabels durch ge- häufte Zuchtwahl fand, die correlative Verlängerung des Fusses trotz des Nichtgebrauches eintrat. Die wich- - tigste Gruppe von correlativen Veränderungen oder "Anpassungen, dies Wort immer in allgemeinster Be- deutung gebraucht, betrifft die Geschlechtssphäre. Directe Eingriffe auf die Generationsorgane äussern ihre Wirkung auf den gesammten übrigen Organismus, wie die zum Zweck der Mastung und der Arbeit castrirten Thiere beiderlei Geschlechts am besten zeigen. Wir haben früher gesehen, dass der Grad der Voll- kommenheit, welche in den Stämmen der Gliederthiere, Würmer und Wirbelthiere, zum Theil auch der strah- lig gebauten Klassen erreicht wird, von der verschie- ‚denen Ausbildung der ursprünglich gleichartigen, hinter- oder nebeneinander liegenden Theile abhängt, also von der Theilung der Arbeit. Dies hat Haeckel die divergente Anpassung genannt. Auf ihr beruht der merkwürdige Polymorphismus, wie er. besonders in den wunderbaren Gestalten der Röhrenquallen her- - vortritt, und weiterhin die Gliederung der Thierstaaten _ der Termiten, Bienen u. a. Insofern Abänderung mit Anpassung übereinstimmt,

_ lassen sich den bisher besprochenen direeten Anpas- sungen eine Reihe sogenannter indirecter Anpas-

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sungen gegenüberstellen. Man kann darunter eine Reihe von Erscheinungen zusammenfassen, deren Ur- . sachen nicht in das Leben dieser Individuen fallen, sondern in Einwirkungen zu suchen sind, von welchen die Aeltern betroffen wurden. Wie man sieht, han- delt es sich um eine Berührung mit dem Gebiete der Vererbung, welche dem Thierzüchter sehr bekannt ist. So sagt H. v. Nathusius in seinen Studien über die Schädelbildung des Schweines®!: „Es ist aus den hier zusammengestellten Thatsachen klar, dass eine Ver- erbung, eine Uebertragung der Kopfform der Aeltern auf die Kinder nicht unbedingt erfolgt. Wenn die Form des Schädels, welche wir kurz die Culturform nennen wollen, ein Product der Ernährung und der Lebensart, also äusserer Einflüsse ist, wenn sich die- selbe an demselben Individuum verschieden gestalten kann, also nicht constant ist, dann kann von einer Vererbung dieser Form nur in beschränktem Mass die Rede sein. Die Form selbst wird nicht auf die Kin- der übertragen, wohl aber die Anlage zu dieser Form. Wir dürfen dies schliessen aus dem Umstande, dass sich die Form von Generation zu Generation, bis auf einen bestimmten Grad, in ihrer Eigenthümlichkeit steigert. Wenn wir ein gemeines Schwein neben einem veredelten erziehen, und wenn wir auf beide ganz die- selben Einflüsse der Ernährung und Haltung und in gleichem Masse einwirken lassen, dann erhalten wir nicht dieselbe Kopfform an beiden Thieren. Die Aus- bildung der Kopfform muss also unterstützt werden durch dazu vorhandene Anlage, diese müssen wir des- halb für erblich halten.“ Haeckel formulirt auch ein Gesetz der individuellen Anpassung, womit die Thatsache ausgedrückt wird, dass trotz nächster Ver- wandtschaft die Individuen in allerlei Abweichungen - auseinandergehen. Die Ursache dieser Verschiedenheit, die am augenfälligsten bei den Individuen eines und desselben Wurfes oder Satzes, ist, soweit sie nicht auf directe Anpassung zurückzuführen, in den Keimen

165

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gängliche Schwankungen und Differenzen der Ernäh- _ rungsverhältnisse der Aeltern übertragen. Andere - Erscheinungen der indirecten Abänderung sind das Auftreten von Misbildungen, deren Ursachen nur in g Ernährungsstörungen der älterlichen Organismen ge- sucht werden können, ohne dass die Erzeuger selbst _ merklich afficirt worden sind. Auch der Fall gehört - hierher, dass Einwirkungen, welche das eine Geschlecht betroffen haben, sich nur in den Nachkommen des- selben Geschlechts äussern. Wie man sieht, sind diese _ in ihren Anfängen der Beobachtung gänzlich entzoge- nen Vorgänge eng mit dem dunkelsten Gebiete der Ver- _ erbung verknüpft. Eine höchst interessante und wichtige Form der - Anpassung ist die sogenannte Mimicry (Nachäffung, - Nachahmung, Maskirung) oder der Schutz durch An- 'passung der Färbung und Form. Die ersten Ent- deckungen darüber wurden von dem bekannten „Natur- - forscher am Amazonenstrom“, Bates, gemacht; das _ meiste hat dann Wallace hinzugefügt. In Südamerika ist die Schmetterlingsfamilie der Helikoniden ausser- ordentlich verbreitet, ausgezeichnet durch verlängerte Flügel, Leib und Fühlhörner und durch schöne Far- ben. Man sollte meinen, sie wären den Verfolgungen _ insektenfressender Vögel und anderer Thiere ausgesetzt. _ Aber dies ist nicht der Fall, denn sie haben einen _ unangenehmen Geruch, der sie höchst wahrscheinlich jenen verleidet. Ihr Geruch und Geschmack ist also für sie ein Schutz, indem die Vögel und Eidechsen, welche einigemal sich an ihnen vergriffen haben, sicher sie später unangefochten lassen. Würden nun andere Schmetterlinge den Helikoniden ähnlich sein, “aber ohne den übeln Geruch zu besitzen, so würden _ diese, da die Insektenfresser nicht den einzelnen Fall prüfen, sondern sich einen Widerwillen gegen den Habitus der Helikoniden überhaupt angeeignet haben, an der Lebensversicherung der Helikoniden um so mehr

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166 _Mimicry.

theilhaben, als sie sich ihnen in der äussern Erschei- nung nähern. Dieser Fall ist nun wirklich eingetreten, indem Bates eine Reihe von Arten der von den Heli- koniden sonst sehr abweichenden Gattung Leptalis entdeckte, von denen jede einer Helikonide bis zum Verwechseln an Form und Farbe ähnelt. Die Lepta- liden haben auch die Flugweise der Helikoniden an- genommen, theilen mit ihnen die„Standorte und flie- gen, obschon sie den abstossenden Geruch nicht haben, ungestraft umher. Das Verhältniss würde nicht mög- lich sein, wenn die Leptaliden nicht bedeutend in der Minderzahl wären, sodass sie gewissermassen sich un- ter den Helikoniden versteckten. Wallace hat gezeigt, dass die durch Mimicry anderer Thiere geschützten Arten immer in der Minderzahl und oft sehr selten sind im Vergleich zu den nachgeahmten Arten. Weder die Erklärung, dass gleiche Lebensbedingungen die- selben Resultate hervorgerufen, noch die Annahme, dass wenigstens in einigen Fällen in der Mimicery Rückschlag zur gemeinschaftlichen Stammart vorliege, sind irgendwie befriedigend, und nur die natürliche Auslese lässt sich zum Verständniss vieler‘ Fälle an- wenden, derjenigen nämlich, wo schon vor dem Be- ginn der Nachahmung von vornherein eine solche Aehnlichkeit zwischen nachahmender und nachgeahmter Form stattfand, dass eine Verwechselung möglich war, wo also die Aehnlichkeit durch die Zuchtwahl, die sich hier so ausserordentlich nützlich für die Erhal- tung der Aehnlichern erwies, nur gesteigert zu werden brauchte. Auch Darwin ° meint, „dass der Process wahrscheinlich niemals bei Formen seinen Anfang nahm, welche in der Färbung einander sehr unähnlich waren“. Eine besondere, einfachere und längst bekannte Mi- miery ist diejenige, wenn Thiere in ihren Färbungen sich so dem Aufenthaltsorte accommodirt haben, dass sie die Aufmerksamkeit ihrer Feinde schwerer auf sich ziehen, oder auch ihre Beute täuschen. Wer hat nicht

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in der Zeit, wo man den Schmetterlingen nachjagte, erfahren, wie schwierig es ist, gewisse Abend- und Nachtschwärmer auf der Rinde der Bäume zu erkennen, wenn sie mit dachförmig niedergelegten bräunlichen ‘oder schwärzlich und grau gebänderten oder gespren- kelten Flügeln ruhig sitzen? Die Laub- und Gespenst- ‚heuschrecken können so täuschend Blättern oder Zwei- gen ähnlich sehen, dass man sich erst durch Berührung von ihrer Wesenheit überzeugt. Wallace erzählt, dass eine der Phasmiden (Ceroxylus laceratus), die er in Borneo erhielt, so mit blattförmigen hell olivengrünen Auswüchsen bedeckt war, dass sie einem mit Moos bedeckten Stabe glich. Der Dayak, der ihm das Thier brachte, versicherte, es sei, obschon lebend, doch mit Moos bewachsen, und der Naturforscher selbst konnte _ sich nur durch die genaueste Untersuchung vom Gegen- 'theil überzeugen. Ein vielen unserer Leser zugäng- liches ausgezeichnetes Beispiel von vortheilhafter Fär- bung geben die meisten Arten der jetzt so oft in den Aquarien gehaltenen Seitenschwimmer oder Schollen (Pleuronectides). Man beobachte die grauen oder bräun- lich gesprenkelten Thiere, wie sie durch einige Be- wegungen der Flossen ihre Oberseite zum Theil mit Sand bedecken. Ganz brauchen sie sich nicht einzu- wühlen, denn die nackte Haut ist nur bei schärferer Betrachtung vom Sandboden zu unterscheiden; und unter dieser theils künstlichen, theils natürlichen Hülle und Maske wartet das Thier auf seine Beute. Bei vielen mit Farbenschutz versehenen Thieren ist die Erscheinung complicirter und die Erklärung durch die natürliche Auslese weit schwieriger, indem sie willkürlich ihre Färbung den Umständen anpassen können, oder auch die Färbung durch unwillkürliche Reflexesichändert. Verany’sunübertreffliche Beobachtun- gen über die Cephalopoden haben uns mit der Farben- scala bekannt gemacht, über welche diese Weichthiere verfügen; Brehm’s Beschreibung des Farbenspieles des Chamäleons reiht sich an. Auf diese äusserst ver-

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wickelten Fälle wird vorderhand durch die Es . fachern einiges Licht geworfen, wo der ganz offenbare Farbenschutz sich ın Haut und Gefieder fixirt hat und

das Zusammentreffen mit andern Umständen kaum eine

andere Erklärung als durch Zuchtwahl zulässt. Hier-

für ist die anziehende Untersuchung von Wallace über die Vogelnester besonders lehrreich. Die grosse Mehr- zahl der weiblichen Vögel, welche in offenen Nestern brüten, haben ein bräunliches, grauliches, kurz nicht auffallendes Gefieder. Die Erklärung wird keinen Widerspruch finden, dass vorkommende Abänderungen des Gefieders, welche den auf dem Neste sitzenden Vogel seinen Feinden leichter verrathen, keine Aus- sicht haben, constant zu werden. Das Umgekehrte bei der den Vogel mit der Umgebung in Uebereinstimmung bringenden Färbung folgt von selbst, und eine wich- tige Stütze für die Richtigkeit der Auslegung der Thatsachen ist die andere Beobachtung, dass die mei- sten Vogelweibchen mit lebhaft gefärbtem und gefleck- tem Gefieder in bedeckten und verborgenen Nestern brüten. Es kommt dazu, dass der Nestbau nicht nach absoluten Regeln eines blinden Instinctes sich richtet, sondern von der Erfahrung der Thiere modificirt wird, einer Erfahrung, welche wir zwar fast nur mit dem Alter des Individuums sich entwickeln sehen, die aber wenigstens in mehrern Fällen auch als Fortschritt der Art nachgewiesen ist.

Eine grosse Beihülfe findet die natürliche Zucht- wahl in den Veränderungen, welche durch den Ge- brauch oder Nichtgebrauch der Organe her- vorgebracht werden. Die Nöthigung zum fleissigern Gebrauch, die Veranlassungen zum Nichtgebrauch lie- sen in den sich umgestaltenden Lebensbedingungen. Es handelt sich also in beiden Fällen um Anpassung. Durchgreifende Veränderungen sind am leichtesten als Folge vom Nichtgebrauch nachzuweisen, wenn wir uns in der Natur umschauen, von beiden Arten aber gibt die künstliche Zuchtwahl zahlreiche Beispiele,

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namentlich wo sie sich mit einseitiger Uebung ge- _ wisser Organe bei gleichzeitiger Vernachlässigung anderer verbindet. Solche Producte der Auslese mit einseitiger Uebung sind Rennpferd und das schwere Zugpferd.

‘Die Blindheit der Höhlenthiere erklärt sich nur da- durch, dass mit der allmählichen Entbehrlichkeit der Augen während der Accommodirung an das Höhlen- leben nach und nach der Stoffwechsel in den weniger fungirenden Organen sank und die Verkümmerung eintrat. Bestärkt wird die Richtigkeit dieser theore- tischen Betrachtungen durch die Wahrnehmung, dass viele blinde Höhlenthiere, namentlich Insekten und Spinnen, ihre nächsten Verwandten in der Nach- - barschaft der Höhlen haben, und dass die in “den noch nicht ganz dunkeln Strecken wohnenden - Höhlenthiere minder verkümmerte Gesichtswerkzeuge besitzen. Auch unter den wühlenden Säugethieren ‚findet eine ähnliche Abstufung statt, und Darwin theilt ‚ein Beispiel mit‘®, welches das Erblinden infolge der Lebensweise sehr schön verdeutlicht: ‚Ein südameri- kanischer Nager, der Tuco-Tuco oder Ctenomys, hat eine noch mehr unterirdische Lebensweise als der Maul- wurf, und ein Spanier, welcher oft dergleichen ge- fangen hat, versicherte mir, dass derselbe oft ganz blind sei; einer, den ich lebend bekommen, war es gewiss, und zwar, wie die Section ergab, infolge einer Entzündung der Nickhaut. Da häufige Augenentzün- dungen einem jeden Thiere nachtheilig werden müssen, und da für Thiere mit unterirdischer Lebensweise die Augen gewiss nicht nothwendig sind, so wird eine Verminderung ihrer Grösse, die Adhäsion der Augen- lıder und das Wachsthum des Felles über dieselben in solchem Falle für sie von Nutzen sein; und wenn dies der Fall, so wird natürliche Zuchtwahl die Wir- kung des Nichtgebrauches beständig unterstützen.“

Aus den Klassen der fliegenden Thiere hat eine grosse Anzahl das Fliegen aufgegeben, und wir finden nun ihre Flugwerkzeuge in einem Zustande der Ver-

TE I 170 Veränderungen durch Gebrauch kümmerung und Unvollkommenheit, der nur bei einer ganz schiefen Beurtheilung und Combination als ein Zustand der Fortentwickelung aus noch einfachern An- fängen aufgefasst werden kann. Wenn überall aus der grossen Familie der Laufkäfer einzelne Gattungen und Arten mit unvollkommenen Flugwerkzeugen, verwach- senen Flügeldecken u. s. w. angetroffen werden, wenn die ganze Familie der Staphylinen die Flugfähigkeit . nicht besitzt, so denkt niemand daran, diese Käfer als stehen gebliebene Formen aufzufassen, sondern es wird begreiflich, dass die Lebensweise, in der sie von ihren Ordnungs- und Klassengenossen abweichen, allmäh- lich bei ihren fliegenden Vorfahren die Angewöhnung des Nichtfliegens und damit die Reducirung der Flug- organe nach sich zog, womit, wie gerade die ange- führten Käfer beweisen, keineswegs überhaupt eine Erniedrigung der Organisation, sondern im Gegentheil äusserst nützliche Vervollkommnungen anderer Organe, der Fress- und Gehwerkzeuge, verbunden waren. Eine sozusagen summarische Reducirung des Flugvermögens ist in der Käferfauna mancher Inseln nachgewiesen. So können von 550 Arten Madeiras über 200 nicht oder nur unvollkommen fliegen, und es gibt keine an- dere Erklärung dafür, als die natürliche Zuchtwahl. Hier waren die minder guten und kühnen Flieger die Bevorzugten, während die andern durch die Winde ins Meer getrieben und eliminirt wurden. Die Nicht- anwendung einer früher erlangten speciellen Vollkom- menheit ist im „struggle for existence‘“ von Nutzen. In mehrern Familien der Eidechsen finden sich Gattun- gen, schlangenartig, wie man sie nennt, die bei ver- längertem Körper entweder blos Vorderbeine (Chirotes) oder blosse Stummel der Hinterbeine (Pseudopus) oder gar keine Spur der Beine (Anguis) besitzen. Sie stehen in demselben Verhältniss zu der grossen Klasse der regelmässig vierbeinigen Eidechsen, wie die nicht flie- genden Insekten zu ihrer Klasse: sie sind nicht in der Entwickelung stehen geblieben oder in der Entwickelung

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oder Nichtgebrauch der Organe. 171: zur Vierbeinigkeit begriffene Thiere, sondern, wie Fürbringer aus der Entwickelungsgeschichte und ver- gleichenden Anatomie nachgewiesen, ihre Gliedmassen und, wenn diese ganz fehlen, die Reste des Schulter- und Beckengürtels und des Brustbeines, tragen die unzweifelhaften Zeichen der Verkümmerung eines einst - vollkommenen Apparates an sich. Die weitere Ver- gleichung lehrt, dass diese Verkümmerung bei den Schlangen den höchsten Grad erreicht, dass sie aber dadurch ausgeglichen ist, dass Rippen und Rippen- muskulatur die Rolle der Gliedmassen übernommen. Auch hier fallen Nichtgebrauch und Anpassung sowie Differenzirung zusammen.

In der Klasse der Vögel wiederholt sich dasselbe Schauspiel, was uns eben die Käfer und Reptilien ge- währten: aus einzelnen Familien und kleinern Grup- pen sind ’einzelne Arten des Flugvermögens beraubt, und eine ganze grössere systematische Gruppe ist ebenfalls durch die Unfähigkeit zum Fliegen charak- terisirt. Bei der Dronte und den wenigen Anver- wandten, welche nach der Entdeckung ihrer einsamen, von ihnen wahrscheinlich viele Jahrtausende ungestört bewohnten Inseln ihrer Hülflosigkeit so schnell zum Opfer fielen, verknüpfen sich Veranlassung zum Nicht- gebrauch und Folgen in unserm Urtheil unmittelbar. Auf keinem andern Wege wird der nordische Pinguin (Alca impennis) einst zur Verkürzung seiner Flügel ge- kommen sein, und die sparsamen, aber weit zerstreu- ten Reste der Ordnung der Laufvögel deuten auf eine Zeit, wo ihre weit zahlreichern flügellosen Vorfahren in friedlicherer Umgebung von ihren Schwingen weni- ger Gebrauch machten und die natürliche Auslese ihren Beinen zu grösserer Stärke und Behendigkeit verhalf. Auch für die Wirkungen des Nichtgebrauches der Be- wegungsorgane liefert wiederum die künstliche Züch- tung den directen Nachweis.

Gebrauch und Nichtgebrauch in Verbindung mit Auslese erläutern die Trennung der Geschlechter und

172 Trennung der Geschlechter.

das auf anderm Wege völlig unbegreifliche Vorhan- densein der rudimentären Geschlechtsorgane. Beson- ders bei den Wirbelthieren hat jedes Geschlecht so auffallende Spuren von den das andere charakterisi- renden Fortpflanzungswerkzeugen, dass schon das Alterthum den Hermaphrodismus als einen natürlichen Urzustand des Menschen annahm. Die Lehrbücher der vergleichenden Anatomie geben den speciellen Nach- weis über diese theils so offenbaren, theils innere, versteckte Verhältnisse betreffenden Homologien. Wir können uns auf die Andeutung beschränken, ‚wie die Selectionstheorie sich auch hier bewährt. Dass in hermaphroditischen Thieren Schwankungen in der Ge- schlechtssphäre vorkommen müssen, wobei die eine oder andere Hälfte prävalırt, versteht sich von selbst.

-Sınd dieselben so stark, dass sich die natürliche Zucht-

wahl ihrer bemächtigt, so wird die Productionskraft des zurückl-leibenden Theiles mehr und mehr sinken, und es werden sich schliesslich, mit dem Erlöschen der physiologischen Eigenschaften, der Function, nur die morphologischen Reste als ein die Zweckmässig-

keitslehre oder Teleologie verhöhnender Ballast ver-

erben. Nur dann und wann kommt ein mehr oder minder auffallender Rückschlag, der sich aber fast nur auf die Nebenorgane und die secundären (wir meinen nicht die von dem einen Geschlechte erwor- benen, sondern ursprünglich gemeinschaftlichen) Ge- schlechtscharaktere bezieht. Die Zähigkeit, mit welcher diese Rudimente der Geschlechtsorgane ver- erbt worden, ist eine ganz enorme. In der Klasse der Säugethiere ist wirklicher Hermophrodismüs unerhört; durch ihre ganze Entwickelungsperiode hindurch schlep- pen sich die schon von ihren unbekannten Stammfor- men, wer weiss wie lange, getragenen Ueberbleibsel.

Wenn man nicht die Schmarotzerthiere zugleich mit ihren Wirthen, den Menschen mit seinen Bandwür- mern und andern unangenehmen Gästen aus dem Er- denkkbss erschaffen sein lässt und damit die Discussion

e.

‚abschneidet, so ist auch dieses gesammte Gebiet aus

-.

Schnsruiser, "3313

_ der Descendenz unter vorzüglicher Mitwirkung des

Nichtgebrauches zu erklären. Der im_nächsten Kapi-

tel auszuführende Satz, dass die Entwickelungsgeschichte des Individuums die Geschichte der Art vergegenwär-

tige, wird den Einfluss des Nichtgebrauches gewisser

Organe auf die Gestaltung der verschiedenen Parasiten zeigen. Am lehrreichsten sind wol die parasitischen Krebse, weil bei ihnen die vollständigste systematische Reihe vorliegt, die uns den allmählichen Schwund der

Organe bei immer engerer Verbindung des Parasiten

mit dem Wirthe vergegenwärtigt. Auch für mehrere Ordnungen der Eingeweidewürmer ist der Darmkanal

völlig entbehrlich geworden, aber weder Zwischenfor- _ men noch Entwickelungsstufen lassen sehen, wie. An-

ders bei den Schmarotzerkrebsen, wo das junge be- wegliche und wohlgegliederte Wesen in beweglich bleibenden definitiven Gattungsformen sein Abbild hat, von wo es nach der Anheftung zu einem unbeweg- lichen Sack herabsinkt. Alle diese Thiere mit Ein- schluss der Eingeweidewürmer haben, und das ist die wahre Bedeutung des Schmarotzerlebens, gerade durch die scheinbare Erniedrigung ihrer Organisation sich ihren Platz und ihren Bestand errungen. Sie zeichnen sich fast ausnahmslos durch ihre grosse Reproductions- kraft aus, und auf diese konnte, bei der Leichtigkeit

der Nahrungszufuhr, ohne Anstrengung der übrigen

Organsysteme, die Leibesthätigkeit sich concentriren. Wir haben bisher dargelegt, dass die Organismen

im unausgesetzten Kampfe um das Dasein zu fort-

währender Differenzirung gedrängt werden. Daneben bemächtigt sich die natürliche Züchtung auch solcher aus der blossen Variabilität des Organismus entsprin- genden Veränderungen, welche keinen physiologischen Fortschritt in sich schliessen, zur Erziehung rein mor-

- phologischer Arten. Aber auch diese werden unfehl-

bar früher oder später in den Strudel der Concurrenz hineingerissen. Das ist nach dem Bisherigen so selbst-

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174 Vervollkommnune. _

verständlich, dass es keines weitern’ Beweises bedarf. Auch wenn wir die Mannichfaltigkeit der Organismen

nicht vor Augen hätten, so würde a prior? aus dem Vorhandensein des einfachen Einförmigen und der

Nöthigung, den veränderten äussern Verhältnissen sich E

anzupassen, ein Auseinandergehen in Neues geschlossen

werden müssen. Mit der Ausbildung in verschiedener Richtung unter der Führung der natürlichen Zucht- wahl ist aber nothwendig die Vervollkommnung verbunden. Es ist eins der grössten Verdienste der Selectionstheorie, mit dem Zweckmässigkeitsbegrift, welcher. bisher dem Organischen die Vollkommenheit von aussen aufnöthigte, ein für allemal gebrochen und selbst auf dem Gebiete der Intelligenz und Moral, wo man mit Schiller sagt:

Es wächst der Mensch mit seinen grössern Zwecken

der einheitlichen naturwissenschaftlichen Methode Ein-

gang verschafft zu haben. Es ist überhaupt höchst

merkwürdig, wie die teleologische Naturbetrachtung so lange hat festgehalten werden können und zum Theil unter theologischem Einfluss noch festgehalten wird,

obgleich wir in der gesammten organischen Welt nur

eine relative Vollkommenheit wahrnehmen und die so

offenbaren tausendfältigen zweckwidrigen Einrichtungen

in den Organismen aller Grade der ausserhalb stehen- den dirigirenden Macht ein sehr schlechtes Zeugniss ausstellen. Die aus der anatomischen Vergleichung und der Abwägung der physiologischen Leistungen sich ergebende Vollkommenheit ist unter allen Um- ständen das Resultat der Anpassung und Zuchtwahl. Im Kampfe Aller gegen Alle gewinnen die Individuen,

welche in der Arbeitstheilung ihre Genossen um etwas

überflügeln, wobei sie -oft genöthigt sind, wenn die

Richtung der Thätigkeit sich ändert, Organe ausser Thätigkeit zu setzen, welche einst von Nutzen waren, in den neuen Verhältnissen aber unnütz und, man

darf dies allgemein behaupten, schädlich geworden

| Vervollkommnung und Zweckbegriff. 175°

sind. Die künstliche Züchtung erzeugt und hier können wir vom Zweck reden Vollkommenes, in-

dem sie bestimmte Theile, welche vervollkommnet wer-

a Pa

den sollen, durch mechanische und physiologische

Arbeit, das letztere vornehmlich in zweckmässiger

Ernährung, übt und die erzielten Vortheile der Fort- pflanzung übergibt. Was wir natürliche Züchtung nennen, ist Zusammenfassung der Vervollkommnungen, die auf dem Wege der Specification in der Anpassung gewonnen werden. Das getreueste Abbild der allmäh- lich errungenen Specification haben wir in der Ent- wickelung des Individuums, wo aus dem Indifferenten dureh immer weiter greifende Differenzirung das reife, auf der Höhe seiner physiologischen Leistung stehende Thier hervorgeht. Dass in den verschiedenen Thier- gruppen gewisse Grade der Vollkommenheit erreicht sind, ist eine unbestrittene Thatsache, bei jeder nähern Untersuchung aber zerbricht der Götze des Zweck- begriffes.. Der Organismus des Vogels erscheint höchst geeignet, um ihn abstract nach dem Zweck _des Flie- gens modificirt zu denken. Wer jedoch den Zweck über den guten Fliegern walten lässt, muss den Zweck- begriff bei den nicht fliegenden Vögeln aufgeben und, wenn er überhaupt sich etwas denken will, der An- passung ıhr Recht geben. Damit ist die ganze An- schauungsweise durchlöchert, und ähnlich in allen

übrigen Fällen. Wie die organische Vollkommenheit

sich zum Zweckbegriff stellt, hat der Verfasser des „Unbewussten‘ (S. 28) sehr scharf und klar aus- gedrückt: „Die Descendenztheorie lehrt, dass eine Unabhängigkeit der bei einer organischen Erscheinung cooperirenden Bedingungen nicht existirt, dass viel-

mehr ihr mehr und mehr Auseinandertreten aus ge-

gemeinsamem Indifferenzpunkt heraus Wirkung derselben Ursachen war, und die Theorie der natürlichen Zucht- wahl lehrt uns eine von diesen Ursachen, und wol unzweifelhaft die wiehtigste, als eine, solche kennen,

welche durch rein mechanische Compensationsphänomene

176 Vervollkommnung und Entwickelung.

zweckmässige Resultate hervorbringt. Die Descendenz-

theorie stellt das teleologische Prinecip nur in Frage,

ndem es ihm den Boden für einen positiven Beweis entzieht, die Lehre von der natürlichen Zuchtwahl

aber beseitigt dasselbe ganz direct, soweit als sie

selbst mit ihrer Erklärung reicht. Denn die natür- liche Auslese im Kampf ums Dasein, das Zugrunde- gehen des minder Zweckmässigen und das Ueberleben und Sichweitervererben des Passendsten und Zweck- mässigsten ist ein Vorgang von mechanischer Causa- lität, in dessen gleichmässige Gesetzlichkeit nirgends ein teleologisch bestimmendes metaphysisches Prineip eingreift, und doch geht aus ihm ein Resultat hervor, das wesentlich der Zweckmässigkeit entspricht, d. h. diejenige Beschaffenheit besitzt, welche den Organismen unter den gegebenen Umständen die höchste Lebens- fähigkeit verleiht. Die natürliche Zuchtwahl löst

das scheinbar unlösliche Problem, die Zweck-_

mässıgkeit als Resultat zu erklären, ohne sie dabeı als Princip zu Hülfe zu nehmen.“

In jedem Stamm was die Zoologie einst Typus

nannte, ist, wie wir gesehen, in der Descendenzlehre

zum Stamm geworden in jedem steckt die Möglich-

keit zu einer gewissen Höhe der Vervollkommnung,

und wir sehen in ihm, nachdem der Stammescharakter

in seinen Grundzügen sich festgestellt hat, eine Ent- wickelung vor sich gehen, deren Möglichkeit in der Anlage des Charakters, deren Verwirklichung und Nothwendigkeit in den äussern Verhältnissen liest. Auch uns ist daher die Vervollkommnung eine Ent- wickelung, aber nicht zu einer prädestinirten und prästabilirten Harmonie. Karl Ernst v. Bär °, wel- cher den Zweck, oder wenigstens das „Ziel“, kurz das

Vorherbestimmte in den Entwickelungsreihen der Natur retten will, sagt: „Jeder Grund erzeugt einen Vor-

gang, der wiederum weiter auf ein anderes Ziel hin- wirkt.“ Warum denn Ziel? Muss es nicht vielmehr

heissen: Jeder Grund erzeugt einen Vorgang, der

e | | Fortbestehen der niedrigen Organismen. 177

wiederum weiter als Grund auf einen andern Vorgang hinwirkt? Je weiter wir zurückgehen, um so tiefer und allgemeiner ist die Stufe, und die verschiedenen Abzweigungen sind in ihren Endgliedern auf sehr ver- schiedenen Stufen stehen geblieben oder angelangt. Ein oft gehörter Einwurf gegen diese Folge der De- scendenzlehre ist, wenn alles zur Vervollkommnung ‚dränge, wie es denn geschehe, dass neben den höhern Gliedern der Stämme so viele niedrige, und überhaupt neben den höhern Stämmen die niedrigen sich im Kampfe um das Dasein hätten erhalten können. Gegen- über den unabweisbaren Thatsachen der Vervollkomm- nung kann man sich begnügen, darauf hinzuweisen, dass die niedrigen Formen überall fortbestehen konnten und können, wo mit den übrigen Existenzbedingungen Raum für sie war. Während sie hier nur geringere Modificationen erlitten, führte dort nothwendige Zucht- wahl zu tieferer Umgestaltung, und die neugezogenen Wesen, an andere Existenzbedingungen gewöhnt, konn- ten bei späterer geographischer Verschiebung mit den zurückgebliebenen Arten wieder Meer und Land thei- len. Denn sowie die Verschiedenartigkeit durch die Zuchtwahl hergestellt ist und auch die Ansprüche an die Nahrung und die andern Bedürfnisse sich getheilt haben, muss nothwendig ein partieller Nachlass im Kampf eintreten.

Sehr vielen niedern Organısmen kommt für ihre Er- haltung augenscheinlich der Umstand zugute, dass, eben weil sie einfacher sind, ihre Fortpflanzung sich um so leichter bewerkstellist. Wenn also auch un- zählbare Arten namentlich in beschränktern Verbrei- tungsbezirken bei starker Concurrenz bevorzugter Va- rietäten der Ausrottung verfallen mussten, so schliesst der Kampf ums Dasein und die Vervollkommnung das Bestehen niederer Formen nicht aus. Was aber die Selectionstheorie erklärt, davon bleibt, wie uns scheint, die Teleologie die Erklärung schuldig. Das Zurück- bleiben der niedern Organismen trotz des innern - SCHMIDT, Descendenzlehre, 12

178 Zufall. 3

Dranges und des vorgesteckten Zieles ist unbe-

greiflich. Soll aber, so hört man oft fragen, wenn ihr von einem den Organismen innewohnenden „Principe der

Vervollkommnung“ (Nägeli), von dem „göttlichen Odem als innere Triebkraft in der Entwickelungsgeschichte

des Naturlebens“ (Braun), von der vom Schöpfer ein- gepflanzten „Tendenz zum Fortschritt“ (R. Owen), sogar von der „Zielstrebigkeit‘“ (v. Bär) nichts wissen wollt, soll der Zufall jene wunderbaren höhern Or- ganisationen zu Stande gebracht haben? Darauf lässt sich mit völliger Klarheit antworten, dass derjenige Zufall, dem die menschliche Beschränktheit eine so grosse Rolle anweist, wo sie nicht das persönliche Eingreifen eines höhern Wesens oder das allgemeine „schaffende und treibende Princip‘“ zur Hand hat, in der Natur gar nicht existirt, und dass uns die Ueber- zeugung von der Wahrheit der Abstammungslehre da- durch wurde, dass die Erscheinungsreihen vermittelt

sind als Ursachen und Wirkungen. Erinnern wir uns an die Weltformel von Laplace, in deren Besitz wir uns denken können, und mit welcher auch die künf-

tigen Entwickelungen sich würden vorausberechnen

lassen. In unserer Beschränkung freilich können wir

uns nur einiger Sicherheit in der Berechnung und

Kiarlegung der Reihen nach rückwärts nähern. Dabei

müssen wir das Wort Zufall streichen, da die Causa--

lität, die wir begreifen, dasselbe vollkommen entbehr- lich macht. Wer sich an den Anfang einer Entwicke- lung versetzt, sich z. B. gegenwärtig denkt bei der Entstehung der Reptilien, dem mag von dieser vor- weltlichen Umschau aus die Ausbildung des Reptils

#4

zum Vogel ein „Zufall“ sein, wenn er sie nicht etwa prädestinirt denkt. Uns, die wir den Vogel rückwärts

zu seinem Ursprung verfolgen, erscheint er als eine Folge von mechanischen Ursachen.

Fassen wir noch einmal zusammen, was wir mit der.

durch die Selectionstheorie begründeten Descendenz-

>-Un togenie und Phylogenie. 179

lehre gewinnen, so ist es die Erkenntniss des Zu- 'sammenhangs der Organismen als blutsverwandter We-

sen. Je grösser die Uebereinstimmung der innern und

äussern Kennzeichen, um so näher ıst diese Verwandt-

schaft. Je weiter wir den Stammbaum nach seinem Ursprung hin verfolgen, um so sparsamer werden die

_ bis zu diesen Wurzeln stichhaltigen Charaktere, um

\

so mehr dieser Charaktere stellen sich heraus als Er- werbe im Laufe der Zeit. Indem wir diesen Erwerb eliminiren und die vererbten Eigenschaften, je weiter wir rückwärts tasten, immer mehr beschränken, re- construiren wir die Stammbäume der verschiedenen

- Gruppen. °°. Wir thun genau dasselbe, was man bei der Sprach-

forschung höchst natürlich und wissenschaftlich findet.

Die Begriffe und Worte, welche den Individuen einer Sprachfamilie gemeinsam, sind die Mitgift aus dem geistigen und sprachlichen Besitzthum des Urvolkes,

von welchem aus sich der Stammbaum der Familie verzweigt hat. Nicht mehr und nicht weniger hat der sogenannte „Zufall“ in der Gestaltung der abgeleiteten Sprachen geherrscht, als in der Entwickelung der Or- ganısmen aus den Stammformen,

IX.

Die Entwickelung des Individuums (Ontogenie) ist

eine Wiederholung der historischen Entwickelung

des Stammes (Phylogenie).

Obschon die paläontologische Ueberlieferung voller Lücken, ist es doch, was selbst die meisten Gegner der Descendenzlehre zugestehen, ganz unverkennbar, dass von den ältern zu den neuern Perioden hin ein

Fortschritt von niedrigern zu höhern Organisationsstufen

stattfindet, wie er sich auch im System der heutigen 1233

180 Gleiche typische Entwickelung ö

Pflanzen- und Thierwelt ausspricht; und dass vielseitig die embryonale Entwickelung, sowie Metamorphose und Generationswechsel, kurz die individuelle Entwickelung („Ontogenie“, Haeckel) zur Vergleichung mit jenen paläontologischen Reihen, sowie mit der systematischen Aufeinanderfolge einladet. Der Parallelismus der pa- läontologischen mit der systematischen Reihe ist ent- weder ein Wunder, oder wird vermittels der Descen- denzlehre verstanden. Ein Drittes gibt es nicht. Und die Descendenzlehre hält die Probe vollständig aus; sie zeigt uns, wie die Abstammung der heutigen Or- ganismen von den ehemals existirenden auf der Ver- erbung der Eigenschaften der Vorfahren auf die Nach- kommen.und dem Erwerb der Individuen beruht. Die Erscheinungen der individuellen Entwickelung oder Ontogenie lassen keine andere Wahl: entweder sie bleiben unbegriffen, oder sie halten den Prüfstein der Descendenzlehre aus und ordnen sich dem grossen all- gemeinen Prineip unter.

Wenn:man die unzähligen Thatsachen ‘der Fort- pflanzung und Entwickelung mustert, so theilen sie sich .allerdings ein, sie ordnen sich zu analogen und homologen Gruppen, es ergeben sich Entwickelungs- typen, man spricht von Entwickelung ohne Metamor- phose, von Verwandlung und Generationswechsel. Welche nothwendige Beziehung aber die in der Verwandlung sich ablösenden Formen, die Gestalten des Generations- wechsels zum fertigen Thiere oder dem geschlechtlich entwickelten Hauptrepräsentanten der Art haben, warum so viele Thiere keine Verwandlungen bestehen, sondern „fertig“ aus dem Ei kriechen, warum die zu einer Klasse oder einem „Typus“ gehörigen Arten einen und. denselben Entwickelungstypus und Gang der Bil- dung besitzen, diese und ähnliche Fragen nach dem Verständniss dieser krausen Menge von Thatsachen drängen sich auf. Und: auch sie sind Prüfsteine für unsere Theorie der Abstammung. Die Lehre leistet hierin soviel, wie je von einer grossen Hypothese in

bedingt durch gleiche Abstammung. 181

eher speciellen Anwendung geleistet worden ist; und _ wenn sie auf alle oder wenigstens nahezu alle hier _ einschlägigen Fragen eine befriedigende Antwort gibt,

so sind das ebenso viele Zeugnisse und Beweise für

ihre Wahrheit, welche nach allem wissenschaftlichen Brauch und Recht und philosophischer Methode solange

; Geltung haben, bis nicht die Unwahrheit der Herlei-

tungen und Schlüsse nachgewiesen und eine bessere

Hypothese an Stelle der beseitigten gesetzt worden ist.

Der erste Satz, welcher aus der Descendenzlehre für die Erklärung der Thatsachen der Entwickelung der Individuen hergeleitet wird, kann lauten: die

$ Uebereinstimmung in den Grundzügen der Entwickelung beruht auf gleicher Abstammung, oder, etwas anders

gefasst, die Uebereinstimmung in den Grund- zügen der individuellen Entwickelung findet

ihre Erklärung in der gleichen Abstammung.

Wie uns schon bekannt, wies zuerst C. E. v. Bär nach, dass die in den Grundzügen ihrer Organisation über- einstimmenden Mitglieder der grossen Abtheilungen des Thierreiches auch durch je einen besondern ‚Typus der Entwickelung‘“ ihre Zusammengehörigkeit bekun- den. Man hat diese Thatsache immer als selbstver-

ständlich betrachtet, obgleich sie das grösste Wunder

wäre, wenn man sie nicht aus der Descendenz ablei- ten könnte. Es ist daher hier der Ort, uns einige

- der zum Theil schon im dritten Abschnitt betrachteten

Entwickelungsgrundformen vorzuführen, zugleich aber

auch die Bedeutung dieser Typen mit Hülfe der Ab- stammungslehre zu erläutern. Wir nehmen als erstes Beispiel die Stachelhäuter. Obgleich aus der ana- tomischen Vergleichung eines Haarsternes, eines See- sternes, Seeigels und einer Seegurke oder Holothurie sich die innige Verwandtschaft dieser Repräsentanten

_ der verschiedenen Abtheilungen der Stachelhäuter leicht

ergibt, weichen dieselben doch in ihrer Körperform und der Gestaltung des Skelets ausserordentlich von-

einander ab. Der relative Werth der Verschiedenheit

Er BER u ö 182 Entwickelung der Stachelhäuterr

einer Holothurie von einem Seestern, des Seeigels von der Comatel lässt sich etwa mit der Verschiedenheit des Säugethieres vom Vogel, des Amphibiums vom Fisch vergleichen. Dennoch verlassen, einige Aus- nahmen abgerechnet, welche eine specielle Bedeutung haben, diese verschiedenen Stachelhäuter das Ei in fast vollkommen gleicher Larvenform. Die Larve (Fig.12) gleicht einem Boote mit ausgeschweiften und an bei- den Enden verdeckartig übergeklappten Rändern. Die- ser Bord ist mit einem ununterbrochenen Saume von schwingenden Härchen besetzt, durch deren Thätigkeit das kleine Boot sich bewegt. Ein kurzer, mit einer Magenerweiterung versehener Verdauungskanal ist das erste wesentliche Organ dieses Körpers. Wir beschrei- ben nicht die höchst complicirten Verwandlungen der Larve hier in einen Schlangenstern, dort in einen Schildigel, dort wieder in eine See- gurke, sondern fragen nur, welches wol die Ursache dieser Ueberein- stimmung in den frühesten Stadien der individuellen Entwickelung sein | könne. Es gibt hierauf keine an- dere vernünftige Antwort als: die De eh este Form Abstammung aller uns bekannten Echinodermen von einer ältern Form, in deren Entwickelung unsere Larve ebenfalls auftrat und von wo aus diese gemeinsame Stufe der Entwickelung auf den ganzen Stamm vererbt wurde. Es muss aber gestattet sein, noch weiter zu fragen, wie man sich erklären könne, dass aus einer bilate- ralen, d. h. nach rechts und links symmetrischen Larve ein strahlig gebautes Thier, wie die ausgewachsenen Echinodermen meist sind, hervorgeht. Hierauf hat Haeckel eine Vermuthung aufgestellt, über welche an- fangs die Systematiker der alten Schule ausser sich geriethen, welche aber. mehr und mehr Boden und durch die neuesten vergleichenden Untersuchungen, z. B. Hoffmann’s: „Ueber die feinere Anatomie der See-

=

De Me Er 4 er,

Entwickelung der Weichthiere. 183

- sterne“, an Halt gewinnt. Die bootförmige Larve der Echinodermen, namentlich in einer bei den Seesternen

vorkommenden Modification, gleicht ganz auffallend einem gewissen Larventypus der Borstenwürmer des Meeres. Und da im Bau und in der Lagerung der Theile der Strahlen der Echinodermen, namentlich der Seesterne eine unverkennbare Aehnlichkeit mit den Lagerungsverhältnissen und der Folge der Theile der Gliederwürmer bemerkbar ist, so betrachtet Haeckel unsere Thierklasse als einen Seitenstamm der Glieder- würmer. Er meint, dass die ältesten, uns nicht be- kannten Echinodermen als Gliederwurmstöcke entstan-

den seien, in der Weise, dass am Kopfende des

- bilateralen, wurmartigen Mutterthieres Knospen in

strahliger Anordnung gesprosst seien. Noch jetzt kommt diese Knospen- und, wenn man will, Stock- bildung bei den Echinodermen vor, indem einige See- sternarten eine solche Reproductionskraft besitzen, dass ein einzelner abgerissener Arm oder Strahl sich zu einem vollständigen Thiere ergänzt. Ja, die Beobach- tungen von Kowalewsky machen es höchst wahrschein- lich, dass die Ablösung der Strahlen und die Wieder- ergänzung durch Knospung bei einzelnen Species ein regelmässiger Vorgang ist. Ueber Haeckel’s Hypothese lachen daher nur die, welche das Denken und Com- biniren scheuen.

Im Stamme der Weichthiere ist die sogenannte Segellarve ein Zeuge vom verwandtschaftlichen Zu- sammenhange wenigstens zweier der grossen Klassen. Die dritte, am weitesten vorgeschrittene Klasse, die der Tintenschnecken, hatte ihr Wahrzeichen vielleicht schon zu jenen Urzeiten verloren, wo sie uns zum er- sten male, wenn auch unter den etwas niedrigern For- men der Vierkiemer ihre Schalen in den silurischen

Schichten zurücklies. Aber die Muscheln oder Blatt-

kiemer und die Schnecken, welche in der anato- mischen Entwickelung weit auseinander treten und zwei natürliche Klassen ausmachen, haben eine gemein-

184

same Larvenform oder, wenn die Larven verschiedene Gestalten zeigen, ein sehr bezeichnendes gemeinsames Larvenorgan, das Segel. Die beistehende Abbildung gibt rechts die Segellarve einer Herzmuschel vom Rücken aus gesehen. Am Vorderende haben sich zwei fleischige Lappen ausgebildet, welche mit Wimpern besetzt sind, durch deren Schwingungen das junge Thierchen schon im Ei seine spiraligen, drehenden Bewegungen ausführt, und zwischen welchen sich ein kleiner mit einer längern Wimper versehener Hügel erhebt. Dieselben ineinander übergehenden Wimper- lappen oder Wimpersegel trägt links die Larve einer

Fig. 13,

Seeschnecke (Pterotrachea), die wir halb im Profil sehen, und zwar schon in dem Stadium, wo ihre Augen und die Gehörwerkzeuge, der Fuss mit Deckel und ein zartes Gehäuse zum Vorschein gekommen sind. Auch bei ihr tritt aus der Ebene des Segels ein klei- ner Fleischkegel hervor, der übrigens keine besondere Bedeutung hat. Die Anlage des Segels, der Zeitpunkt des Erscheinens dieses Larvenorgans, seine Lage zum Mantel, Kopf, Mund und Fuss, die spätere Rück- bildung, alles stimmt in beiden Klassen genau über- ein. Wir kennen zwar bisher nur von einer verhält- nissmässig geringen Anzahl der im Meere lebenden

Muscheln und Schnecken die Entwickelungsgeschichte;

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BT. Die übrigen Entwickelungstypen. 185

EN aber dürfen wir schliessen, dass bei diesen, E in ihrer ursprünglichen Heimat gebliebenen Thieren dieses Erbstück allgemein sich erhalten hat. Selbst Gattungen, die in ihrem ausgewachsenen Zustande kaum noch an den Weichthiertypus erinnern, der Ele- fantenzahn und der Bohrwurm (Dentalium, Teredo) - haben das Stadium der Segellarve conservirt. Dagegen finden wir bei den kiemenathmenden Süsswasser- 'schnecken (Paludina) das Segel wenig entfaltet, und bei den von ihren seebewohnenden Verwandten am weitesten abweichenden Landschnecken ist die Segel- bildung gänzlich verwischt, desgleichen auch bei den Büsswassermuscheln. Hat bei diesen Thieren die An- _ passung und Wanderung nach dem Lande jene Folge für die embryonale und nachembryonale Entwickelung gehabt, so haben wir uns vorzustellen, dass für die Cephalopoden trotz ihres Verbleibens im salzigen Was- . ser andere Ursachen den Verlust der Segelstufe und den ihnen eigenthümlichen Verlauf der Entwickelung nach sich zogen.

Hinsichtlich der übrigen Entwickelungsgrundformen können wir auf den dritten Abschnitt verweisen. Die Anlage der höhern Gliederthiere deutet auf wurm- artige, etwa den heutigen Gliederwürmern entsprechende Vorfahren, und wiederum die allmählige Vermehrung der Leibessegmente der Gliederwurmlarven, welche sich einer Knospenbildung vergleichen lässt, führt von diesen höhern Würmern auf die ee mit un- _ gegliedertem Leibe. Alle Wirbelthiere, den Menschen eingeschlossen, wenn sie nicht auf einem Zustande mit ungegliederter, noch nicht in einzelne Wirbelringe zerfallender Wirbelsäule verharren, erheben sich als Embryone aus diesem Stadium in das höhere defini- tive; und dass sie diesen gemeinsamen embryonären Zustand durchmachen, dies schliesst alle andern mecha- nischen Ursachen aus, ausser derjenigen der gemein- samen Abstammung von Urformen, welche eine ungegliederte Wirbelsäule, keinen oder einen unvoll-

er -. TE RT DE MEN VÜRREN ER ung a Unia. TELLER, . a . . Ph, 2 Y er: E

186 Generationswechsel und Metamorphose

kommenen Schädel und kein oder ein vom Rücken- mark nur wenig unterschiedenes Gehirn besassen. Karl Ernst v. Bär, welcher, während wir diese Blätter schrieben, seine Stimme gegen die Descendenzlehre er- hoben, hat die Thatsache der Entwickelungstypen und den Gang innerhalb der Typen ‚von dem Indifferenten zum Speciellen festgestellt; die Thatsache wird aber durch das Wort „Entwickelungstypus“ nur umschrie- ben, nicht erklärt, und wir ziehen es, es kann nicht oft genug gesagt werden, wir ziehen es vor, unter der klaren Vorstellung der Abstammung uns etwas zu den- ken, als die unbekannte höhere Macht sich in den Entwickelungstypen auf eine unbegreifliche Weise manifestiren zu lassen. Schliesst man die Verkettung der Reihen durch directe Abstammung und Vererbung aus, so ıst absolut nicht einzusehen, wie die höchste schö- pferische Macht, die Natur oder der persönliche Gott, indem er sämmtliche höhere Thiere an gemeinsame niedrigste Entwickelungsstufen knüpfte, sie damit so vielfachen unzweckmässigen Einrichtungen und grossen Gefahren aussetzte. Von den Milliarden junger Au- stern, welche jährlich aus dem Ei schlüpfen, gehen die _ allermeisten unter der Ungunst der äussern Verhält- nisse zu Grunde, weil die Auster das alte Erbtheil der schwärmenden Segellarve nicht abgelegt hat. Sie hat den Kampf um die Existenz mit Glück aufnehmen können, da sie gleich den meisten ihrer Klassengenos- sinnen sich der höchsten Fruchtbarkeit erfreute. Das lässt sich einsehen; dass aber ein persönlicher Schöpfer aus blossem Princip, um die Auster innerhalb des Entwickelungstypus zu halten, auch ihr das für sie höchst unpraktische Stadium der Segellarve gegeben, kann man, wie so vieles Unsinnige, nur glauben. Haben sich ganz im allgemeinen die Uebereinstim- mungen in den Grundzügen der Entwickelung aus der- Gleichartigkeit der Abstammung ableiten lassen, so kann man weiter schreiten zur Erklärung derjenigen Entwickelungserscheinungen, welche uns als Genera-

SW a > u) EEE nF" DE en nf rt a de ED Ben ne 7 Se ee A A ee en We) ee ee ee Ar WZ. : = I a Teen -

rn

als phylogenetische Erinnerungen. 487

& tionswechsel und Metamorphose bekannt sind.

Im ihnen sind die historischen Entwickelungs-

stufen ganzer Klassen und Ordnungen auf die

individuelle Entwickelung vererbt; ein Satz,

‚welcher nur eine Folge und Anwendung des vorher .erörterten ist, auch schon angedeutet wurde. In kei-

ner Klasse bietet sich eine solche Fülle von Erschei- nungen des Generationswechsels, welche der Erklärung

Fig. 14.

sich ohne jede Schwierigkeit fügen, als bei den Quallen. Wir haben oben (S. 38) die Entstehung des Cladonema an dem polypenartigen Stauridium kennen gelernt. Die Qualle ist die geschlechtsreife Form des Artkreises; ihre Eier .entwickeln sich zum Polypen, der Zwischen- form, die in ihrer Entwickelung innehält, das heisst nicht sich in das Thier verwandelt, von dem sie ab- stammt, sondern Knospen treibt. Erst in dieser Ge- neration kehrt die Art zur Geschlechtsform zurück.

8

188 Ontogenie und Phylogenie dee

Das Verständniss dieses Generationswechsels wird uns wenn wir von den einfachsten Quallenpolypen ausgehen. Ein solcher ist die beistehende Hydractinia carnea und zwar ein weibliches Individuum. Verglichen mit der Zwischenform Stauridium, als einer auf ungeschlecht- lichem Wege sich fortpflanzenden Vorstufe zu Clado- nema, erscheint Hydractinia höher, insofern als sie selbst Geschlechtsform ist. Die Zone von kugeligen Körpern in der Mitte des Leibes sind die Eierstöcke oder Eikapseln, welchen bei den männlichen Indivi- duen Samenkapseln entsprechen. Ein Generations- wechsel findet bei unserer Hydrac- tinia nicht statt, wol aber, wie auch in der Entwickelung des Cla- donemaeies zum Stauridium, eine Yerwandlung einerflimmernden Larve zum festsıtzenden Polypen. Es ist aber ersichtlich, dass die Rolle, welche bei der Hydractinia durch die männlichen und weiblichen Ge- schlechtsorgane versehen wird, im Zeugungskreise des Cladonema von den Geschlechtsthieren übernom- men wird. Und in der Verfolgung dieses Ueberganges eines unselbstän- digen Organes in das selbständige Thier finden wir die Lösung und das Verständniss des als Generationswechsel bezeichneten Vorganges. Zwi- schen den Gattungen, welche gleich Hydractinia, und denen, welche gleich Cladonema sich fortpflanzen, fin- den sich zahlreiche Gattungen, deren Fortpflanzung uns den allmähligen Uebergang des anfänglichen Ge-

Fig. 15.

schlechtsorganes in das dGeschlechtsthier vor Augen

stell. Wir können die Gattungen der „Quallenpoly- pen‘‘ so aneinander reihen, dass sich herausstellt, wie die Theile, welche bei Hydractinia blos die Eier er- zeugenden und umschliessenden Kapseln sind, immer vollkommener werden. Sie erhalten eine besondere

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Quallen und Eingeweidewürmer. 139

i Abzweigung des Nahrungskanales und Blutgefässe, wer- den glockenförmig und versehen sich mit den für die

Quallen charakteristischen „Randbläschen“, eigenthüm- lichen Sinnesorganen. Kurz, was an einem gewissen

Gliede der systematischen Reihe allenfalls noch als Organ bezeichnet werden kann, ist an dem nächsten

die sich ablösende und zur neuen Generation werdende Qualle: das Geschlechtsorgan ist zum Ge-

schlechtsthier geworden. Wie nun die indivi-

duelle Entwickelung von Cladonema und den andern sich gleich ihm vermehrenden Quallen mit der syste-

matischen Reihe der Quallenpolypen correspondirt, so ist die einzig vernünftige und denkbare Erklärung der

Ontogenie der den Generationswechsel zeigenden Qual- len die, dass in ıhm die historische Entwickelung der Gattung fixirt ist. Weder das Ei, noch das Huhn wurde geschaffen. Ehe die zartfarbigen Quallen in einsamer Pracht das Urmeer bevölkerten, waren die

Quallenpolypen an den in stetem Wechsel begriffenen Küsten die einzigen Repräsentanten der noch in der Kindheit liegenden Klasse. Warum einzelne Gattun- gen, nach Art der Hydractinia, streng conservativ geblieben, die andern in geringerm oder höherm Grade dem Fortschritt gehuldist, ob und wie Kampf ums Dasein und Auslese des Bessern hierbei wirksam ge- wesen, lässt sich allerdings für die einzelnen Arten nicht nachweisen. Entscheidend ist der Gesammtein- druck und der Umstand, dass die Theorie sich mit den Thatsachen deckt.

Zu gleichen Betrachtungen und Resultaten führt die Entwickelungsgeschichte der Eingeweidewürmer. Diese in ihrem Bau weit auseinander gehenden Thiere sind entweder in und mit ihren Wirthen zugleich ge- schaffen, oder später ihnen anerschaffen, oder sie haben sich auf natürlichem, rechtem Wege an sie gewöhnt. Dass sie dabei von einem eingepflanzten „dunkeln Drange“ geleitet wurden, von dieser Modification des dritten Falles dürfen wir wol absehen. Nach unserer

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190 Ontogenie und Phylogenie

Lehre stammen also die jetzt ihr ganzes Leben oder

einen Theil ihres Lebens als Schmarotzer auf oder

in andern Organismen verweilenden Würmer von frei lebenden Thieren ab, und die in ihrer Entwickelung

auftretenden Perioden, während welcher das Schma- rotzerthum mit freien Stadien vertauscht ist, bedeutet

den in allen Individuen sich regelmässig einstellenden Rückfall in den einst bleibenden Zustand der Vor-

fahren. Von den zur Klasse der Plattwürmer gehö-

renden Saugwürmern und Bandwürmern sind die letz- tern am weitesten von ihrem einstigen Ausgangspunkt entfernt; ihre Anpassung an das Leben in andern Thieren hat den Nahrungskanal entbehrlich gemacht, und so zeigen ihre Generationen und Verwandlungs- zustände weniger auf die Vorfahren hin, als dies bei einer andern Anzahl von Saugwürmern der Fall ist, mit denen jene durch eine Reihe anatomischer Cha- raktere als eng verwandt legitimirt werden. Beide wiederum theilen die Klassencharaktere mit den frei lebenden Turbellarien oder Strudelwürmern. Von sol-

chen, d. h. von Formen, welche den jetzigen Strudel- würmern nahe standen, müssen Trematoden und Ce-

stoden abstammen, und hiermit stimmt das freie

Schwärmstadium, welches die Larve des Doppelloches (Distomum) als sogenannte Cercarie und vorher als rundlicher über und über flimmernder Körper durch- macht. Auch viele Fadenwürmer die Abtheilung, zu welcher unter andern der Spulwurm gehört haben in ihrer Jugend eine Stufe freien Lebens, auf welcher sie von den Jugendformen der zahlreichen, nie zum Schmarotzerleben übergehenden Verwandten, die

sich vorzugsweise im Meere finden, nicht unterschieden

werden können. Der Uebergang zum Parasitenthum, den uns die Ontogenie recapitulirt, war nichts anderes als eine Ausbreitung auf neues, der Ernährung Vor- theile bietendes Terrain, und mit Bezug hierauf ist es höchst lehrreich, neben den Fadenwürmern die syste- matische Reihe der von van Beneden so ausgezeichnet

- vielfach varlürten und

der Eingeweidewürmer und Krebse. 191

beschriebenen egelartigen Saugwürmer zu vergleichen. Wir finden in ihr alle Uebergänge von ganz frei leben- den, räuberischen Gattungen zu gelegentlich schma- rotzenden, und von diesen zu solchen, welche unmittel- bar nach dem Auskriechen aus dem Ei sich für ihre ganze Lebenszeit fixiren. Der Parasitismus erscheint hier, wie überall, als eine Anpassung an neue Wohn- plätze, welche die Lebensgeschichte des Individuums aufbewahrt mit der Erinnerung an die einstige Gestalt.

Die Verhältnisse der parasitischen Würmer finden ihre Wiederholung in den parasitischen Krebsen, wie denn überhaupt eine höchst Bauliche Urform - des Krebsstammes in der _ Metamorphose mehrerer Ordnungen dieser grossen,

doch so zusammenhängen- den Klasse aufbewahrt ist. Die Larve, welcher, wie man mit grosser Si- cherheit annehmen darf, die Urform der Krebs- klasse sehr nahe stand, wurdeeinst für eine selb- ständige Gattung gehal- ten und empfing den Namen Nauplius. Man spricht also von einem Nauplius- stadium, welches sich namentlich bei den niedern Krebsen, den Copepoden, Parasiten, Rankenfüssern und den sich diesen anschliessenden merkwürdigen Wurzelfüssern erhalten hat, jedoch auch in der höch- sten Ordnung, den zehnfüssigen stieläugigen Krebsen nicht fehlt. Wir werden unten uns mit der sogenann- ten verkürzten Entwickelung bekannt zu machen haben, welche sich unter den Krebsen die Zehnfüsser ange- eignet haben, wie man früher glaubte, alle. Wäre dies wirklich der Fall, so würden wir zwar auch noch, zestützt auf die Analogie, für sie den directen Zu-

Fig. 16. Nauplius.

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192 Ontogenie und Phylogenie }

sammenhang mit den übrigen noch die Naupliusstufe >

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in der Entwickelung wiederholenden Ordnungen er- schliessen, allein es war doch eine hochwillkommene Entdeckung Fritz Müller’s, dass eine Garnele (ein Pe-

neus) noch heute ihre Entwickelung als Nauplius be- re ginnt, während alle andern Ordnungsgenossen, soviel

bekannt, im höhern Zo&astadium (vgl. S. 50) das Ei

verlassen. Da bisjetzt von Hunderten der stieläugigen Krebse kaum ein Dutzend nach ihrer Entwickelung

untersucht sind, so kann ‘man nicht zweifeln, dass hinsichtlich des Naupliusstadiums noch andere Arten sich jenem Peneus von der brasilianischen Küste an- schliessen werden. Aber selbst wenn dieser Fall ein

Unicum in der Ordnung bliebe, würde er als leben-

diges Zeugniss des Zusammenhanges der Gegenwart der Zehnfüsser mit den Urkrebsen ausreichen. Oder gibt es etwa eine andere Auffassung? Nein. Die Naupliusentwickelung des Peneus ist entweder ein glänzender Beleg für die Abstammungslehre, oder ein sinnloses Paradoxon. :

Nach dem Vorangegangenen erläutert sich die Ver-

wandlung der Amphibien von selbst. Ihre Vorgänger waren Wasserathmer, deren Gestalt und Lebensweise die langschwänzigen Amphibien, also die Tritonen und Molche, getreuer bewahren als die Frösche. Bei unsern Tritonen tritt die Geschlechtsreife nicht selten schon im Larvenzustande ein, das ist also auf einer Stufe, welche bei den Vorfahren der heutigen Gattun- gen die definitive war. Es gibt sogar noch eine Art, den mexicanischen Acholotl, der regelmässig auf die- ser Larvenstufe sich fortpflanzt. Höchst interessant ist Aug. Dumeril’s Beobachtung, dass von den Tau- senden von Acholotls, welche er in Paris zog, einzelne

über das bisher bekannte Stadium ihrer Entwickelung &

hinausgingen, nämlich ihre Kiemen verloren, ihre Kör- pergestalt nicht unwesentlich veränderten und aus Kiemenathmern und Wasserthieren zu Lungenathmern und Landthieren wurden. Es bedarf der weitern

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Fig. 17. Acholotl.

Fig. 18. Amblystoma.

SCHMIDT, Descendenzlehre. 13

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194 Directe oder verkürzte

Forschung, ob nicht etwa, was jedoch unwahrscheinlich, in ihrer Heimat alle Acholotls, nachdem sie sich schon im Larvenzustande fortgepflanzt, die Metamorphose zu molchartigen Thieren (Amblystoma) durchmachen, oder ob die Versetzung nach Europa und die damit verbundene gänzliche Veränderung der Lebensverhält- nisse den Anstoss zu einer fortschreitenden Umwand- lung jener einzelnen Individuen gegeben, welche unter Andauer dieser Bedingungen in spätern Generationen auf immer mehr Individuen sich ausdehnen und schliess- lich der Art, als einer neuen, eigenthümlich werden würde.

Die bisher betrachteten Beispiele der Ontogenie oder individuellen Entwickelung hatten das Eigenthümliche, dass das geschlechtsreife Thier sich nicht unmittelbar aus seinem Ei gleich dem Phönix aus der Asche verjüngte, sondern verschiedene Gestalten und Wesen- _ heiten durchzumachen hatte, in welcher die Vorfahren der Art wieder greifbar und lebendig werden. Es fragt sich nun, wie zu dieser wahrhaft epischen, er- zählenden Entwickelung sich die Form der Fortpflan- zung stellt, welche die Systematik lediglich nach der Thatsache, ohne sich dabei etwas denken zu können, „directe Entwickelung‘“ oder „Entwickelung ohne Ge- nerationswechsel und Verwandlung“ genannt hat. Die flimmerhaarigen Embryone vieler Quallen werden nicht - zu polypenförmigen Zwischenformen, sondern gehen unmittelbar in die Qualle über. Die meisten höhern Krebse verlassen nicht als Nauplius das Ei, sondern schon mehr oder weniger vollkommen als Zehnfüsser ausgebildet. Der Vogel, das Säugethier, der Mensch, sie alle sind, wenn sie geboren werden, „ihren Aeltern ähnlich“. Erwägt man, dass die Vorgänge des Gene- rationswechsels an sich durchaus nicht vortheilhaft oder „zweckmässig“ sind man denke nur an die Schicksale der Eier des Bandwurms —, dass durch den Larvenzustand die Zeit der Kindheit und Schwäche verlängert, die Zeit der Reife und der erfolgreichen

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Entwickelung. | 195

. Obsorge für den Artbestand hinausgeschoben wird, so

folgt, dass Abkürzungen und Reductionen dieser Ent- wickelungsformen, welche infolge von Anpassungen eintreten, als vortheilhafte Aenderungen Aussicht auf Befestigung haben. Wie die Verlängerung des Larven- stadiums der Amphibien durch natürliche Umstände und künstliche Versuche herbeigeführt werden kann, so ist in gleicher Weise eine Zusammendrängung der Stadien der Verwandlung und überhaupt eine Ver- kürzung der Verwandlung denkbar, und es liegen serade aus der Klasse der Amphibien mehrere Bei-

‚spiele der verkürzten und modificirten Metamorphose

vor, welche die scheinbare Kluft zwischen der Ent- wickelung mit und der ohne Verwandlung überbrücken und die directe Entwickelung als allmählich er- worben begreiflich machen. Amphibien werden sich überall hin auszubreiten suchen, wohin sie genügende Insektennahrung einladet, und der schwarze Salamander des Hochgebirges (Salamandra atra) hat selbst das Hinderniss überwunden, welches man für ein unüber- steigliches halten sollte, den Mangel won Gewässern für seine Larven. Er legt seine Eier nicht, gleich seinen Verwandten, sondern nur zwei werden in die Eileiter aufgenommen, und die von deren Wandungen ausgeschiedene Flüssigkeit ersetzt ihnen und den hier auskriechenden Larven den Sumpf. Hier, nicht ausser- halb der Mutter, kommen die Kiemen zum Vorschein, während die allmählich nachrückenden übrigen Eier

von den nahrungsbedürftigen Larven gefressen werden.

Die Verwandlung des schwarzen Molches, über welche leider neuere Untersuchungen vermisst werden, geht also im Mutterleibe vor sich, und es macht keine Schwierigkeit, die Erwerbung dieser Eigenthümlichkeit durch die Nöthigung der Anpassung an aussergewöhn- liche Lebensverhältnisse sich vorzustellen. Wenn uns die Lebensweise des Beutelfrosches, dessen Junge in einer Hautfalte des Rückens ausgetragen werden, der surinamischen Kröte, deren Larven einzeln in waben- 13*

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196 Directe Entwickelung.

artigen Fächern des Rückens leben, bekannter wären,

als sie es sind, würden wir gewiss zu ähnlichen Re-

sultaten, wie beim schwarzen Salamander kommen. In Ermangelung dessen ist eine erst 1873 veröffent- lichte Beobachtung des Herrn Bavey, Marine-Pharmaceut in Guadeloupe, höchst wichtig.° Ein dortiger Frosch (Hylodes martinicensis) macht seine ganze Verwand-

lung im Ei durch. Er hat im Ei die Kiemen und den

Schwanz, und aus der kurzen Notiz, dass auf der In- sel nur schnell verrinnende Giessbäche, nirgends stehende Gewässer und Sümpfe sich finden, geht hervor, dass es sich auch in diesem Falle um eine die Entwicke- lung modificirende und verkürzende Anpassung handelt.

Sehen wir nun nach dieser Hinüberleitung die so- genannte directe Entwickelung näher an, so lässt sie sich durchaus der Metamorphose des Hylodes von Guadeloupe vergleichen. Die directe Entwicke- lung ist eine Verwandlung im Ei, und auch wo sie stattfindet, sind die embryonalen Entwicke- lungsstufen mehr oder weniger deutliche Wiederholungen der historischen Entwicke- lung des Stammes. Wir wollen nur an den der Metamorphose nicht unterworfenen Wirbelthieren einige Phasen des embryonalen Lebens hervorheben, welche

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Stufen einer verkürzten Verwandlung sind und stabile

Zustände der Vorfahren recapituliren. Dass bei allen Wirbelthieren die Wirbelsäule als ein ungegliederter Strangund eineungegliederte Scheide für dasRückenmark sich anlegt, ist wiederholt erwähnt. Es ist der blei- bende Zustand niedrigster Fische. Auch bei den höhern Wirbelthieren besteht das Gehirn anfangs aus einigen hintereinander liegenden Blasen, der definitiven Form der niedrigen Gruppen. Das embryonale Herz der Säuger und Vögel beginnt mit der Schlauchform

und besitzt später die Communication der Kammern,

welche bei den Reptilien sich nie schliessen. Die Kie- menbogen sind bei den Amphibien während der Lar- venperiode wirklich Kiemen tragend. Sie fehlen den

Entwickelung der Ammoniten. 197

Embryonen der Reptilien, Vögel und Säuger nicht, ebenso wenig als die Spalten, durch welche bei Fischen und Amphibienlarven das Athemwasser abfliesst. Sollen wir die einzig mögliche Erklärung dieser Thatsachen nochmals niederschreiben ?

Ehe wir auf die Erscheinungen hinweisen, welche für das Entsprossen der Stämme aus gemeinsamer Wurzel sprechen, wollen wir noch eines der bedeutend- sten Zeugnisse der neuesten Zeit anführen, welches die Artwerdung durch einen grössern geologischen

Fig. 19. Ammonites Humphresianus. Eine den Planulaten sehr nahe stehende Form.

Zeitraum verfolgt und die Beziehungen der individuellen zur Art-, Gattungs- und Familienentwickelung ins einzelnste darlest. Es ist L. Würtenberger’s Beitrag zum- geologischen Beweise der Darwin’schen Theorie, auf die wir uns schon einmal (S. 88) berufen haben. Es handelt sich um die beiden Ammonitenfamilien der Planulaten und Armaten, welche letztere nach Wür- tenberger’s Untersuchungen sich aus den erstern ent- wickeln, indem die Rippen der Planulaten allmählich in die Stacheln der Armaten übergehen. Uns interes- siren besonders folgende Stellen der vorläufigen Mit-

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198 Individuelle und historische

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theilungen über die Entdeckungen, welche an Tausen- den von Exemplaren gewonnen sind und wol erst in einigen Jahren mit allen Belegen veröffentlicht werden. „Es war für mich eine besondere Freude“, sagt Wür- tenberger, „als ich endlich nach mancherlei sorgfältig vergleichenden Studien eine interessante einfache Ge- setzmässigkeit in dem Variiren der Ammoniten auf- fand. Wenn nämlich eine Veränderung, welche später für eine ganze Gruppe eine wesentliche Bedeutung erlangt, zum ersten mal auftritt, so ist dieselbe nur aufeinem Theil der letzten Windungen ganz leicht angedeutet. Gegen jüngere Ablagerungen hin tritt diese Ver- änderung immer deutlicher hervor und schrei- tet dann, dem spiralen Verlaufe der Schale folgend, nach und nach immer weiter gegen das Centrum der Ammonitenscheibe fort; d. h. sie ergreift allmählich immer mehr auch die innern Windungen, je höher man die betref- fenden Formen in jüngere Schichten hinauf

verfolgt. Diese Fortpflanzung der in vorgeschritte-

nem Lebensalter auftretenden Aenderungen auf immer jüngere Lebensstufen geht indessen nur langsam vor- wärts, sodass wir an den innern Windungen mit grosser Beharrlichkeit die ältern Formen wiederholt sehen. Oft hat sich dann eine solche Aenderung erst eines kleinern Theiles der Windungen bemächtigt, bis aussen schon wieder eine neue hinzutritt, welche der erstern nachfolgt. So sehen wir, die Schichten von unten nach oben durchsuchend, Veränderung um Veränderung auf dem äussern Theile der Ammoniten beginnen und nach dem Centrum der Scheiben hin fortschreiten. Die innersten Windungen widerstehen indessen oft mit grosser Beharrlichkeit diesen Neuerungen, sodass man auf denselben gewöhnlich mehrere solcher Entwicke- lungszustände nahe zusammengedrängt findet, indem die Schale eines Ammonitenindividuums mit einem ältern Formentypus beginnt und dann

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Entwickelung der Ammoniten. 199

einander aufnimmt, wie dieselben bei der geologischen Entwiekelung der betreffenden "Gruppe in langen Zeiträumen aufeinander folgen.“ „Die Ammoniten erhalten also“, heisst es später, „in _ einem vorgeschrittenern und reifern Lebensalter erst wenn sie den von ihren Aeltern ererbten Entwicke- lungsgang möglichst in derselben Weise, wie diese, durchgemacht haben die Fähigkeit, sich nach einer neuen Richtung abzuändern, d. h. sich neuen Verhält- nissen anzupassen; jedoch kann sich dann eine solche Veränderung in der Weise auf die Nachkommen fort- erben, dass sie bei jeder der folgenden Generationen ein klein wenig früher auftritt, bis diese letzte Ent- wickelungsstufe selbst wieder den grössten Theil der _ Wachsthumsperiode charakterisirt. Eine solche letzte und längste Entwickelungsstufe lässt sich dann aber dureh neuere, sich auf gleiche Weise ausbildende kaum jemals. wieder ganz verdrängen: die Vererbung wirkt so mächtig, dass eine solche einmal vorherrschende Periode -der Entwickelung sich im jugendlichen Alter der Ammoniten, wenn auch oft kaum angedeutet, wiederholt. An einem Ammonitenindividuum aus einer jüngern Schicht müssen dann also die zurück- und zusammengedrängten Entwickelungsperioden auf den innersten Umgängen in derselben Reihenfolge auftreten, wie sie einander die Herrschaft abransen. Es ist äusserst interessant, an Inflaten des obern weissen Jura, die sich zu Ammonites lıparus, der auf den sichtbaren äussern Windungen nur eine Stachelreihe zeigt, stellen, Windung für Windung behutsam abzu- sprengen und so den Entwickelungsgang zu studiren: gegen innen zu sind auf einer Strecke immer zwei Stachelreihen vorhanden, weiter gegen das Centrum verschwindet die innere, sehr bald darauf auch die äussere, und der Kern von einigen Millimetern Durch- messer erscheint dann auf etwa einem halben Umgange

jene Veränderungen in derselben Weise nach-

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200 Die ammonitischen Nebenformen.

als Planulat mit deutlichen Rippchen, welche gegen den Anfang hin ebenfalls wieder verschwinden. Also selbst die Planulatenrippen, welche bei den liasischen Ahnen dieser Inflaten die Windungen beherrschten, jedoch schon im obern braunen Jura von den Stacheln verdrängt wurden, bezeichnen noch im obersten weissen Jura bei diesen späten und wesentlich veränderten Nachkommen eine kurze Periode des jugendlichen | Alters.“

Würtenberger zeigt weiter, wie diese Verhältnisse auf einfache Weise sich nur durch die Darwin’sche Theorie erklären lassen: „ohne diese letztere blieb uns hier blos ein wunderliches Räthsel“.

Es lag nahe, die Anwendbarkeit der Selectionstheorie auch an den sogenannten ammonitischen Neben- formen, wie Ancyloceras, zu er- proben, denjenigen Gattungen näm- lich, deren Windungen und Curven sich nicht, wie bei den echten Ammoniten, unmittelbar berühren, und zum Theil verhüllen, und welche als Spätlinge und Ausläufer der Gruppe den Verfallin sich zu tragen scheinen. Selection und Verfall!? Würtenberger zeigt, wie das Aufgeben der Berührung der Umgänge bei bestachelten Ammo- niten ein Vortheil war, der sich durch Auslese befestigen musste. Fig. 20. Ancyloceerase Wenn daneben andere Paläonto-

logen das mit der Auflösung der geschlossenen Spirale auftretende Schwanken der Form. als einen Ausdruck des Niederganges der Gruppe an- sehen, so scheint kein Widerspruch darin zu liegen, indem, was anfänglich als Vortheil von der natürlichen Züchtung ausgebeutet wurde, in seinen Folgen sich verderblich erwies. \

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Ursprung der Stämme. | 201

Wie wir gesehen, werden durch Abkürzung der Entwickelung gerade die frühesten Zustände in dem Grade verwischt, dass die Hinweisung auf die Be- schaffenheit der Vorfahren immer mehr zurücktritt. Unsere Lehre führt aber mit Nothwendigkeit zu der Ueberzeugung, dass die Stämme, innerhalb deren wir bisjetzt die Ontogenie mit der Phylogenie vergleichen konnten, sich in ihren Ursprüngen immer mehr ein- ander nähern, und rechtfertigt die Erwartung, dass

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Fig. 21. Gastrula.

wenigstens hier und da in der individuellen Entwicke- lung einzelner Repräsentanten der verschiedenen Stämme die Zeugen gemeinschaftlicher Abstammung auftauchen. Das trifft denn auch zu, und zwar in dem Masse, dass durch früheste Larvenstufen ein Band zwischen den niedrigsten und den höchsten Thieren hergestellt ist. Wenn man eine Anzahl von Gruppen niedrigster Lebe- wesen, bei denen das ungeformte Protoplasma die verschiedenen Lebensfunctionen der Ernährung, Reiz-

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202 Gemeinsame Entwickelungszustände |

barkeit, Bewegung und Fortpflanzung versieht, mit Haeckel deshalb als ein Mittelreich abscheidet, weil ihnen die geschlechtliche Fortpflanzung mangelt, so muss man wol weiter dem Genannten zustimmen, wenn er die sonst an jene Protisten sich anschliessen- den Spongien oder Schwämme wegen ihrer ge- schlechtlichen Vermehrung und der Art ihrer embryo- nalen Entwickelung und der ersten Larvenstadien Thiere nennt. Haeckel hat eine Larvenstufe der Kalk- schwämme mit dem Namen Gastrula belegt, wo das Thier einen Sack, oder, wenn man will, einen mit einer Mundöffnung versehenen Magen vorstellt. Die Wandung wird gebildet aus zwei Schichten von Zellen; die äussere besteht aus Geiselzellen, d. h. jede Zelle ist mit einer längern Wimper versehen. An der Sack- öffnung geht die äussere Schicht in die innere über, und aus diesen beiden Blättern baut sich der Spon- gienleib in ganz bestimmter Weise auf. Wenn nun diese Gastrulalarve zunächst bei den Cölenteraten, den Polypen und Quallen, wiederkehrt, wo man schon seit langer Zeit die allmähliche Entwickelung aus den beiden, Entoderm und Ektoderm genannten Blättern zu den complicirtesten Gestalten kennt, und wenn, wie Haeckel weiter gezeigt hat, der Vergleich des Osculums oder der grössern Oeffnung des Schwamm- individuums mit dem Munde des Polypen und der Qualle, der grossen Centralhöhle des Schwammes mit dem Magen jener, des Kanalsystems mit den Kanälen und Höhlungen der Cölenteraten sich genau durch- führen lässt, so ist im Zusammenhange der Tausende von andern die Descendenzlehre - bedingeuden und stützenden Thatsachen der Schluss unausbleiblich, dass in der Gastrula ein Zeuge der Blutsverwandtschaft der Spongien und Cölenteraten vorliege. Nun kehrt diese Gastrula aber wieder bei den Holothurien, also Echi- nodermen, bei Sagitta, bei den, unten im Stamm- baum der Wirbelthiere noch näher zu berücksichtigen- den Ascidien, endlich im Lanzettfisch, und wir

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verschiedener Stämme, 203

halten uns daher berechtigt, dieses Zusammen- treffen der frühesten Entwickelungszustände verschiedener Stämme als das Ueberbleibsel der gemeinsamen Wurzel zu betrachten, wel- ches in andern Stämmen, z. B. den Gliederthieren, in der Verkürzung der Entwickelung verloren gegangen ist. Die Bedeutung der „Keimblätter“ für das Wir- belthier war schon von Pander und in den bahn- brechenden Arbeiten von Bär erkannt worden; die Ausdehnung und Verwerthung dieser Beobachtung über das ganze Thierreich, wie man sie besonders Kowa- lewsky verdankt, bezeichnet einen der grössten Fort- schritte der vergleichenden Entwickelungslehre. Wir mussten früher den ausserhalb der Detailfor- schung unserer Wissenschaft stehenden Leser darauf aufmerksam machen, dass es Gegner der Selections- theorie gibt, wie Owen, welche gleichwol die Descen- denz als unbestreitbar annehmen. Auch der Paralle- lismus der Ontogenie mit der Phylogenie kann mit Zurückweisung der natürlichen Züchtung in den von uns verfochtenen natürlichen Zusammenhang gebracht werden unter der Voraussetzung einer unnatürlichen, will sagen übernatürlichen Leitung, welche jene schein- bar natürliche Einheit zum Wunder macht. Erst jüngst hat Al. Braun die Uebereinstimmung des botanischen Systems und damit der paläontologischen Folge mit der Entwickelung des Pflanzenindividuums hervor- gehoben, indem er sagt‘”: „In der weitern Ausbildung ‚des natürlichen Systems tritt der Stufenbau des Pflan- zenreichs und damit zugleich die Beziehung des Systems zur Entwickelungsgeschichte immer deutlicher, un- gesucht und unabweisbar hervor. Die Acotyledonen werden als blütenlose Pflanzen, wofür sie schon die alten Botaniker der vorlinne’schen Zeit hielten, con- statirt und dadurch ihr Verhältniss zu den Blüten- pflanzen klarer ausgesprochen; die Blütenlosen werden in zwei wesentlich verschiedene Abtheilungen, in denen sich gleichfalls Stufenfolge bestimmt ausspricht (Zellen-

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204 Gleichheit in den Kae

kryptogamen und Gefässkryptogamen Thallophyten und Kormophyten) zerlegt; zwischen den vollkommenen

Blütenpflanzen und den Blütenlosen wird eine Mittel- stufe, die der nacktsamigen Pflanzen nachgewiesen,

das Wichtigste aber ist der Umstand, dass

die gewonnenen vier Hauptstufen des Pflan-

zenreiches aufs genaueste den allen höhern Pflanzen zukommenden individuellen Ent- wickelungsstufen entsprechen,dem Keime, dem

vegetativen Stock, der Blüte und der Frucht.“ Warum aber dieser Parallelismus das Wichtigste sein

soll, wenn wir damit nicht zur Erkenntniss der wahren

Causalität geführt werden, ist uns nicht begreiflich.

Wir können uns wol denken, dass man sich mit den

„innern Ursachen‘ und dem „Princip der Vervoll-

kommnung“ als dem refugium ignorantiae abfindet,

nicht aber, dass sich die Forschung damit wirklich

beruhigt. Unserm Standpunkte muss daher die Ein-

stimmung der Resultate der botanischen Forschung

auch höchst wichtig sein, aber aus dem sagbaren Grunde, weil damit die Theorie abermals durch eine grosse Reihe von Thatsachen gestützt und befestigt _ wird.

Hat man einmal die Uebereinstimmung der Ent- wickelung der Stämme bis zur Gastrula verfolgt, so wird man dabeı nicht stehen bleiben, sondern auch die Gleichheit der Samenkörperchen und Eizellen von den Spongien bis zu den Wirbelthieren als uraltes Gemeingut auffassen, welches die Thier- und die Pflan- zenwelt verbindet, a vor dessen Erwerb nur solche Weisen der Fortpflanzung stattfanden, wie sie bei den Protisten und ım Generationswechsel erhalten sind.

Wie nun schon die Gemeinsamkeit der Grundlagen . der geschlechtlichen Fortpflanzung der verschiedenen , Stämme auf gemeinsamen Ursprung drängt, so führt die, wie wir gesehen, mit der geschlechtlichen Ver- mehrung in unmittelbarem Zusammenhange stehende ungeschlechtliche Fortpflanzung durch unbefruchtete '

BER ne und Elementen der Entwickelung. 205

- Eizellen und Keimkörper immer tiefer zurück in die Anfänge des Lebens. Die mit Kern und Hülle ver- 'sehene Zelle ist aber unablöslich von den kern- und hüllenlosen Protoplasmakörperchen, auf deren Wachs- 'thum und Theilung die Fortpflanzung der niedersten Lebewesen beruht. Ihre Entstehung aus der unorganischen Materie ist, wie wir oben auseinandergesetzt, ein Postulat des ge- sunden Menschenverstandes. An diesen Anfang des Lebens leitet uns, nicht, wie die Gegner der Descen- denzlehre sagen, eine dogmatisirende Afterphilosophie, sondern die aufmerksame und vorurtheilsfreie Betrach- tung und Combination der Thatsachen der Entstehungs- geschichte des Individuums. $3

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Die geographische Verbreitung der Thiere im Lichte der Abstammungslehre.

. Obwol schon seit dem Jahrhundert der grossen geographischen Entdeckungen das Material für Pflan- zen- und Thiergeographie sich anhäufte, ist die Grund- lage einer wissenschaftlichen Pflanzengeographie doch erst, abgesehen von Georg Forster’s Beobachtungen, in Humboldt’s berühmten ‚Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse‘‘ enthalten. Es ist die erste, das ge- sammte Areal der Erde umfassende Schilderung von Pflanzenformen, wie sie theils einzeln, theils combinirt ihren Verbreitungsbezirken ein eigenthümliches land- schaftliches Gepräge geben,- und wiederum ihrerseits sich in Harmonie mit den andern landschaftlichen Factoren befinden. Der berühmte Begründer der Kl- {| matologie, welcher den Erdball mit den Linien gleicher Temperatur, der gleichen Inclination und Declination der Magnetnadel umspann, in trockene und regenreiche

206 Vicarirende oder es

Zenen sonderte, wusste besser als irgendeiner seiner Zeitgenossen, dass Thier- und Pflanzenwelt von allen diesen Factoren abhängig seien. Allein weder er noch

seine Nachfolger bis auf Darwin sind über die Stufe

der Naturschilderung hinausgekommen, die schon Buffon

in seinem grandiosen Naturgemälde, den „Zpoques de

la Nature‘, eingehalten.

Eine selbstverständliche Folge der ausserordentlichen Erweiterung des geographischen Horizontes und der Vertiefung in die Specialuntersuchung war die immer sorgfältigere Feststellung der Verbreitungsbezirke der

Thier- und Pflanzenfamilien und ihrer hervorragenden

Arten, wobei man, wie gesagt, entweder gar nicht

nach den Ursachen der Verbreitung fragte, oder es sich so leicht machte, wie Louis Agassiz, der die Ar- ten nicht, wie Linne, von je einem Paare herleitete, sondern sie in beliebigen Mengen von Individuen über ihre Verbreitungsbezirke erschaffen werden liess. Dass

damit keine der sich jetzt uns aufdrängenden Fragen,

z.B.: warum nicht unter gleichen natürlichen Ver- hältnissen immer die gleichen Arten sich finden, oder umgekehrt? warum einander sehr nahe stehende Arten oft unter ganz ungleichen äussern Bedingen auftreten ? wie man sich das Verhältniss der sogenannten vica- rirenden Formen zueinander zu denken habe u. del., gelöst wird, ist zu erwarten. Wie neuerdings Rüti- meyer in seiner ausgezeichneten Abhandlung: „Ueber die Herkunft der schweizerischen Thierwelt“®®, bemerkt hat, hob schon Buffon jene Wiederholung der afrika- nischen in der amerikanischen Fauna hervor, wiez.B. hier das Lama ein verjüngtes und schwächeres Abbild des Kamels sei, der Puma der Neuen Welt den Löwen

der Alten repräsentire. Allein mit dem Wort „Reprä-

sentativform“ oder „vicarirende Form“ ist an sich nichts gewonnen, und ein Verständniss kommt in diese Thatsachen einzig und allein, wenn wir mit der An-

nahme an die Untersuchung gehen, Kamel und Lama‘.

Puma und Löwe seien gemeinschaftlicher Abstammung,

97

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h Ba analoge Arten. NT

"und ihre Sonderentwickelung sei im Laufe der Zeiten durch Trennung der Wohnsitze ihrer Vorfahren be- günstigt und bedingt worden.

Ein anderes, der Schlussfolgerung zugänglicheres Beispiel für die sogenannten vicarirenden oder „ana- logen“ Arten gibt die Vergleichung der südeuropäischen, namentlich spanischen Schnecken mit den nordafrika- nischen, worüber wir Bourguignat ausgezeichnete Beobachtungen verdanken. Derselbe hat in Ueber- einstimmung mit den übrigen faunistischen und flori- stischen Thatsachen festgestellt, dass die spanische und die nordafrikanische Molluskenfauna ein Ganzes bilden, sodass die algierische Schneckenwelt als ein blosser Anhang der südeuropäischen erscheint trotz der Trennung durch die Meerenge von Gibraltar. Nun ist es erwiesen, dass in jüngerer geologischer Zeit diese Strecke von Nordafrika in der That eine Halb- insel von Spanien war, und dass ihre Vereinigung mit Afrıka im Norden bewirkt wurde durch den Durch- bruch der Strasse von Gibraltar, ım Süden und Osten durch eine Hebung, welcher die Sahara ihr Dasein verdankt. Noch jetzt werden die Ufer des einstigen Saharameeres gekennzeichnet durch die Gehäuse der- selben Schnecken, die am Mittelmeerufer leben. Aber nicht alle nordafrikanischen Schneckenarten sind iden- tisch mit den spanischen, zu zahlreichen Afrikanern finden sich auf unserer Seite nur „analoge‘‘ Arten. - Wenn nun also gewisse spanische Arten zwar nicht selbst in Afrika vorkommen, aber doch durch sehr ähnliche Formen vertreten sind, so verbindet sich mit dem sonst bedeutungslosen Wort „analoge“ Arten für unsern Standpunkt zugleich der Begriff der gemein- schaftlichen Abstammung der einander ersetzenden Formen und der durch die Isolirung und die verän- derten Verhältnisse hervorgebrachten localen Umwand- lungen. Wer an die Sonderschöpfung der Arten glaubt, wird gerade bei den Land- und Lungenschnecken auf eine harte Probe gestellt, indem es sich zeigt, dass

203 - Analoge Arten.

auf isolirten Inseln und Inselgruppen diese schwer wandelnden und bodenständigen Thiere eine ganz ausser- ordentliche Mannichfaltigkeit erreicht haben. Auf der Madeiragruppe zählte man vor etwa zehn Jahren 134 Arten Lungenschnecken, von denen nur 21 Arten sich auch in der afrikanisch-europäischen Fauna fanden. Sie und die andern 113 Arten sind meist an enge Districte und einzelne Thäler gebannt. Sollen wir annehmen, dass die 113 Arten für Madeira und die 21 Arten für Madeira und Afrika-Europa einzeln ge- schaffen wurden? Müssen wir nicht vielmehr schliessen, dass einst ein Zusammenhang zwischen Europa und der heutigen Inselgruppe von Madeira stattfand, und dass jene 21 Arten blieben, was sie vor der Trennung waren, während aus den übrigen uns unbekannten, nur noch in analogen Formen auf dem Festlande vorhan- denen Arten die merkwürdige Fülle von neuen Arten hervorging? Ihnen und ihren Genossen auf andern isolirten Inseln war vielseitiger Kampf erspart, und ohne Zweifel geben sie ein günstiges Beispiel ab für das Wagner’sche Migrationsgesetz, indem bei der Schwie- rigkeit der Wanderung dieser Thiere und der Unwahr- scheinlichkeit eines reichlichen Nachschubes die sich absondernden Individuen auch unter geringen neuen Einwirkungen Aussicht auf Abweichung von der Stamm- art hatten. | Die unwissenschaftliche Meinung, dass unter gleichen oder fast gleichen äussern Verhältnissen gleiche oder ähnliche Organismen in grosser Anzahl geschaffen wor- den seien, erhält einen argen Stoss durch die Wahr- nehmung, dass oft das gerade Gegentheil eingetreten ist. Wir werden weiter unten mehr Thatsachen hier- für beibringen und wollen hier nur auf ein schlagendes Beispiel hinweisen. Warum hat Amerika in der heu- tigen Periode keine Pferde, obschon, wie sich gezeigt, die eingeführten Pferde vortrefflich gedeihen? Die Sache steht nicht so, dass wir erklären müssten, warum die fossilen Pferde, welche in Amerika so gut wie auf

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Ursachen der Verbreitung. 209

_ der östlichen Halbkugel existirten, erloschen sind, ohne * Nachkommen zu hinterlassen wir wissen die Ur- sache nicht, ergründen sie aber vielleicht noch _ sondern dass die Anhänger der Schöpfungslehre hier und in allen ähnlichen Fällen die Unzulänglichkeit ihrer Glaubenstheorie zu bekennen haben. Unsere bisherige Darstellung hat uns die jetzt leben- den Arten als Nachkommen früher lebender Organis- men gezeigt; die heutige Vertheilung über die Erde ist daher eine Folge der Verbreitung der Vorfahren der heutigen Organismen und der vielfachen Verschiebun- genvon Land und Wasser, von welchen jene unmittelbar ‘oder mittelbar betroffen wurden. Wir können nicht hoffen, je ein getreues Bild von den fortlaufenden _ Umgestaltungen der Erdoberfläche uns zu bilden. Erst wenn dies gelänge und wenn wir zugleich von den jedesmaligen Bewohnern der einstigen Inseln, Fest- länder und Meere genaue Verzeichnisse hätten, würde die Verbreitung der jetzigen Organismen vollkommen ergründet und begründet sein. Wir haben aber mit dieser Erkenntniss der Unvollkommenheit unserer sta- tistischen Hülfsmittel so viel gewonnen, dass wir mit Sicherheit den Weg der Untersuchung vorzeichnen können. Wir haben erstens in der Weise der ältern Pflanzen- und Thiergeographie fortzufahren in der Constatirung der natürlichen Grenzen oder der Ver- breitungsbezirke, und zweitens diese Thatsachen mit den Thatsachen der durch die jeweiligen geologischen ‘Verhältnisse bedingten Verbreitung der einstigen Vor- fahren der heutigen Lebewelt zu combiniren. Es ver- steht sich von selbst, dass auch für diese Arbeit Darwin die Grundzüge gegeben hat. Unter seinen Nach- folgern verdienen aber besonders zwei hervorgehoben zu werden, Wallace mit seinen, an feinen Beobach- tungen überreichen Untersuchungen über den Malai- ischen Archipel’®, und Rütimeyer in der schon ceitirten Abhandlung. Wir können uns im Folgenden wesentlich an letztern anschliessen. SCHMIDT, Descendenzlehre. 14

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210 Unzulänglichkeit der Booten

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Unsere Kenntniss der Verbreitungsbezirke der Thier- welt ist noch ausserordentlich mangelhaft. Was wissen wir z. B. von dem Vorkommen der Seethiere? Sind doch erst wenige Jahre verflossen, seit überhaupt die Tiefen des Meeres der Erforschung zugänglich gemacht wurden, dieses allerdings mit einem Erfolg, dass un- sere frühern Anschauungen über die geologische Be- deutung des Meeresbodens und seine Bewohnbarkeit nahezu ganz umgestossen wurden. Nach der mächtigen Anregung, welche Maury für die Erforschung der physikalischen Beschaffenheit des Meeres gegeben, sind wir jetzt.dabei, die unterseeischen Temperaturen und Strömungen, Beschaffenheit des Meeresbodens, Vor- kommen und Lebensbedingungen der Tiefseeorganismen festzustellen. Wir fangen also eben an, das Material für eine künftige Geographie der Meeresorganismen zu sammeln. Von Landthieren sind gewisse Gruppen, deren Verbreitung an sich bestimmt werden kann, für unsere allgemeinen Zwecke unbrauchbar. So die Schmetterlinge. Eine leichte Beute der Luftströmungen spotten sie der geologischen Barrieren, vor allen jener wichtigen Scheidewand, welche seit den tertiären Zei- ten zwischen Australien und Indien aufgerichtet oder vielmehr in den Meeresgrund eingesehnitten ist. ”t Aehnlich verhalten sich die Fledermäuse, auch die Wander-, Raub- und Wasservögel, während die an- dern Ordnungen dieser Klasse, wie Wallace zeigt, in den heissen Erdstrichen sehr zuverlässige und sta- bile Bewohner ihrer oft begrenzten und zur Auswan- derung scheinbar einladenden Bezirke sind. So bleiben ausser ihnen fast nur die Säugethiere übrig, auf deren Herkunft mit dem Vergleich ihrer gegenwärtigen Can- tonirung ein Ausdruck, den wir Rütimeyer ent- lehnen mit den Lagerstätten ihrer einstigen Ver- wandten mit Sicherheit geschlossen werden darf, woneben sich zugleich allgemeine Gesichtspunkte für die Ur- sachen der heutigen geographischen Vertheilung der Organismen ergeben. |

ie Verbreitungsbezirke der Säuger. >11 - ‘Beschränkt man sich also in der vorbereitenden Fest- ‚stellung des Thatsächlichen auf die Säugethiere, mit ‚Ausschluss der Wale und Fledermäuse, so ergibt sich schon bei oberflächlicher Musterung nicht nur für die einzelnen Arten, sondern meist auch für die Fa- milien, dass jede derselben einen gewissen Bezirk der grössten Dichtigkeit des Vorkommens, ein Verbreitungs- centrum hat, und dass von da aus Ausstrahlungen ‚je nach der Bequemlichkeit und Eignung des Terrains stattgefunden haben. Löwe und Tiger, Elefanten und Kamele sind über bestimmtes Areal verbreitet; die "Affen der Neuen Welt ünterscheiden sich nicht blos geographisch, sondern durch Familienkennzeichen von den altweltlichen. Die Beutelthiere sind zum grössten Theil auf Australien concentrirt, die Faulthiere und Gürtelthiere auf Südamerika. Und diese‘ leicht zu ver- mehrenden Beispiele weisen darauf hin, wie die Indi- viduen weit zerstreuter Arten und die Arten selbst aus einzelnen Punkten der Erdoberfläche hervorgequollen und über das jetzt eingenommene Verbreitungsgebiet ausgeströmt sind. Wenn nun aber zu dieser Beobach- tung die andere hinzukommt, dass auch in vergangenen Erdperioden dieselben Gruppen dieselben Verbreitungs- mittelpunkte hatten, wie denn z. B. Brasilien nicht blos jetzt die Faul- und Gürtelthiere beherbergt, son- dern einst von zahlreichern, zum Theil kolossalen Ar- ten dieser Familien bevölkert war, und Australien die zahlreichsten und ansehnlichsten fossilen Reste von Beutelthieren geliefert hat, so wird uns die Wahr- nehmung dieser dauernden Localisirung sehr bedeu- tungsvoll, und wir erklären die „Wiederholung‘‘ dieser _ Formen-aus der Abstammung.

Gelingt es nun, die auf den ersten Anblick äusserst zahlreichen Verbreitungscentren in nähere Verbindung zu bringen, der Zahl nach möglichst zu reduciren, da ja nach unserer Theorie die Säuger nur einen Aus- gangspunkt gehabt haben, gelingt es, hiermit auch die geologische Aufeinanderfolge der untersuchten 14*

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212 Die Bevölkerung der Inseln |

Organismen in Einklang zu bringen, also mit andern

Worten die horizontale Verbreitung mit der verticalen oder historischen Folge, so tritt die Thiergeographie

der Lösung ihrer Aufgabe nahe. Daher liegt in _Wal-

lace’s und Rütimeyer’s Arbeiten ein höchst wichtiger Fortschritt, indem von jenem der detaillirte Nachweis

gegeben wurde, dass die Fauna der complicirten und 3

ausgedehnten australsch Audiekhien Inselwelt durchaus

unselbständig sei und nur aus Ablegern der Fest-

länder bestehe, und von diesem in grossartigem

Ueberblick über die gesammte Erdoberfläche die Ver-

breitungseentren auf das einfachste bisjetzt mögliche Mass zurückgeführt wurden.

Von hohem Interesse ist natürlich zunächst die Ver-

gleichung der Inselfaunen mit den Festlandsfaunen. Denn sollte sich herausstellen, dass sämmtliche Inseln in ihrer Thierwelt blosse Anhängsel der Festländer, so würde das Problem schon ausserordentlich vereinfacht sein. Folgen wir Peschl’s lichtvoller Auseinandersetzung

über den Ursprung der Inseln’?, so handelt es sich zuerst um die Bruchstücke von Festlanden. Eine grosse Anzahl von Inseln geben sich ohne weiteres als Bruch- stücke noch bestehender Continente zu erkennen, so Britannien und die grossen asiatischen Inseln. Dagegen

ist Madagascar mit den Seychellen nicht, wie man ver- muthen sollte, ein Glied von Afrika, sondern der Ueberrest eines ehemaligen, in Flora und Fauna sehr eigenartigen Festlandes. Die übrigen Inseln rühren entweder von unterseeischen Vulkanen her oder von

Korallen, und im letztern Falle geschieht der Aufbau

von untersinkendem Lande aus. Es folet nun von selbst, dass auf den vulkanischen und den Korallen-

eilanden nur solche Thiere angetroffen werden, welche sie schwimmend oder fliegend erreichten. Die An- wesenheit von Säugern setzt daher Menschenhand oder

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ausserordentliche Zufälle voraus. Alle solche Inseln

werden, je älter, desto reicher an Organismen sein.

Umgekehrt werden die von Festländern losgelösten

Der Malaiische Archipel. 913

_ Inseln im allgemeinen um so reicher sein, je jünger sie sind, wofür Britannien Zeugniss ablegt. Je mehr ihre Fauna abweicht, eine desto längere Zeit muss seit ihrer Ablösung verflossen sein. So z. B. lässt sich das Verhältniss von Tasmanien und Australien auf- fassen; und wenn Neuseeland überhaupt je mit dem alten australischen Continent zusammengehangen, so ist die Losreissung in einer so frühen Zeit erfolgt, dass auf die heutige Physiognomie der neuseeländischen Thierwelt daraus gar kein Licht geworfen wird und umgekehrt.

Ein Muster thiergeographischer Untersuchung hat Wallace in der Beschreibung seiner Reisen im Ma- laiischen Archipel gegeben. Schon vor Jahren hatte G. Windsor darauf hingewiesen, dass die grossen In- seln Sumatra, Borneo, Java durch ein seichteres Meer mit dem asiatischen Continent in Verbindung gebracht sind, während ein ähnlich seichtes Meer Neuguinea und einige benachbarte Inseln an Australien weisen, mit welchem sie durch die Beutelthiere charakterisirt werden. Wallace hat diese Scheide näher bestimmt in einer Linie, welche eine tiefere Einsenkung des Meeresbodens bezeichnet. 'Sie zieht sich unterhalb der Philippinen hin, geht, Celebes südlich lassend, durch die Strasse von Macassar und trennt die beiden klei- nen Eilande Bali und Lombok. Wir folgen nun Wal- lace’s Schilderung (a. a. O., S. 10 fg.) mit verschie- denen Auslassungen.

„Man gibt jetzt allgemein zu, dass die gegenwärtige Vertheilung der lebenden Wesen über die Erdober- fläche hauptsächlich das Resultat der jüngsten Reihe von Veränderungen ist, welche dieselbe erlitten hat. Die Geologie lehrt uns, dass die Oberfläche des Lan- des und die Vertheilung von Land und Wasser immer einer leichten Veränderung unterliegt, und dass auch die Lebensformen im Verlaufe der Perioden, von denen wir Zeugnisse besitzen, an dieser allmählichen Um- änderung theilnehmen. Was den Malaiischen Archipel

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214 2 Die Thierwelt des

anbetrifft, so finden wir, dass die weite Seestrecke,

welche Java, Sumatra und Borneo voneinander und von

Malakka und Sıam trennt, so seicht ist, dass überall

auf ihr Schiffe ankern können, indem die Tiefe selten

über 40 Faden beträgt; und wenn wir bis zur

Linie von 100 Faden vorgehen, so können wir die

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Philippinen und Bali östlich von Java mit einschliessen. Wenn daher diese Inseln voneinander und vom Fest- lande durch das Sinken dazwischenliegender Land- strecken getrennt worden sind, so dürfen wir schliessen,

dass die Trennung eine verhältnissmässig junge ist, da

die Tiefe, bis zu welcher das Land gesunken, so

gering. Wenn wir nun die Zoologie dieser Länder : betrachten, so finden wir eine Bestätigung dessen, was

wir suchen, nämlich einen sehr überzeugenden Beweis,

dass diese grossen Inseln einst dem grossen Continent

angehört haben müssen und erst in einer sehr jungen

geologischen Epoche von ihm getrennt sein können. Der Elefant und Tapır von Sumatra und Borneo, das Nashorn von Sumatra und die ähnliche javanische Art, das wilde Rind von Borneo und die javanische Form, die man so lange für eigenthümlich hielt, von allen

weiss man jetzt, dass sie da oder dort auf dem Fest-

lande von Südasien vorkommen. Es ist unmöglich,

dass einst diese grossen Thiere die Meerengen über- schritten, welche jetzt diese Länder trennen, und ihre Anwesenheit beweist klar, dass, als die Arten ent- standen, eine Landverbindung existirt haben muss. Eine beträchtliche Anzahl der kleinern Säuger sind allen Inseln und dem Festlande gemeinsam; aber die

grossen physikalischen Veränderungen, die vor sich

gegangen sein müssen seit der Ablösung und dem

Untersinken so grosser Strecken, haben den Untergang

einiger auf verschiedenen Inseln herbeigeführt, und in einigen Fällen scheint Zeit genug zu Artumwandlungen gewesen zu sein. Vögel und Insekten bestätigen diese Ansicht; denn jede Familie und fast jede Gattung dieser Gruppen, welche man auf einigen Inseln findet,

malaiischen Archipels. 215

gehören auch dem asiatischen Festlande an, und in - einer grössern Anzahl von Fällen sind die Arten völlig ‚gleich. Die Vögel bieten uns eins der besten Mittel _ dar zur Bestimmung des Gesetzes der Vertheilung; denn obwol es auf den ersten Blick scheinen könnte, dass die Wassergrenzen, welche die Landvierfüsser ab- trennen, von den Vögeln leicht überschritten werden könnten, ist es in Wirklichkeit doch nicht so. Nehmen wir nämlich die Wasservögel als ausgezeichnete Wan- derer aus, so findet es sich, dass die andern, und be- sonders die Sperlingsvögel oder die wahren Hocker, welche die grosse Mehrzahl bilden, im allgemeinen _ durch Meerengen und Meeresarme ebenso streng ab- gegrenzt werden als die Vierfüsser. Beispielsweise ist es eine merkwürdige Thatsache, dass Java zahlreiche Vögel besitzt, welche nicht nach Sumatra hinüber- - gehen, obschon diese Inseln nur durch eine 15 eng- lische Meilen breite Strasse getrennt sind und Inseln in der Mitte liegen. In der That besitzt Java mehr eigenthümliche Vögel und Insekten als Sumatra und Borneo, ein Zeichen, dass es am frühesten vom Fest- lande abgetrennt wurde. Es folgt dann, was die Eigenthümlichkeit der Organismen angeht, Borneo, während Sumatra in allen Thierformen fast so voll- kommen mit der Halbinsel Malakka übereinstimmt, dass wir mit Sicherheit schliessen können, es sei die zuletzt losgelöste Insel.

„Die Philippinen stimmen in vieler Hinsicht mit Asien und seinen Inseln überein, bieten aber einige Abweichungen, welche anzuzeigen scheinen, dass sie in einer frühern Periode abgetrennt wurden und seit- dem einer Reihe von Umwälzungen in ihren physika- lischen Verhältnissen unterworfen waren.

„Wenden wir uns nun zum übrigen Theil des Archipels, so finden wir, das alle Inseln östlich von Celebes und Lombok zumeist eine ebenso auffallende Aehnlichkeit mit Australien und Neuguinea zeigen, als die westlichen zu Asien. Es ist bekannt, dass die

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216 Die Thierwelt des

Naturerzeugnisse Australiens von denen Asiens mehr abweichen, als die der vier ältern Erdtheile vonein- ' ander. Wirklich steht Australien für sich. Es hat keine Affen, Katzen, Wölfe, Bären oder Hyänen; keine Hirsche oder Antilopen, Schaf oder Rind; weder Ele- fant noch Pferd, Eichhörnchen oder Kaninchen: kurz nichts von jenen Familientypen der Vierfüsser, die man in jedem andern Theile der Erde findet. Statt dieser besitzt es nur Beutler, Kängurus und Opossums und das Schnabelthier. Auch seine Vogelwelt ist fast ganz eigenthümlich. Es besitzt weder Spechte noch Fasane, Familien, die überall sonst vorkommen. Statt derselben hat es die erdhügelbauenden Fusshühner, die Honigsauger, Kakadus und pinselzungigen Lories, die sonst nirgends leben. Alle diese auffallenden Eigen- thümlichkeiten finden sich auch auf den Inseln, welche die südmalaiische Abtheilung des Archipels bilden. „Der grosse Gegensatz zwischen den zwei Abthei- lungen des Archipels tritt nirgends so plötzlich in die Augen, als wenn man von der Insel Balı nach Lombok übersetzt, wo die beiden Regionen sich am engsten berühren. In Balı haben wir Bartvögel, Frucht- drosseln und Spechte; in Lombok sieht man diese nicht mehr, aber eine Menge von Kakadus, Honigsaugern und Fusshühnern, die ihrerseits wieder in Balı und allen westlichern Inseln unbekannt sind. Die Meerenge ist hier 15 englische Meilen breit, sodass man in zwei Stunden von einem dieser beiden grossen Distriete zum andern gelangen kann, die hinsichtlich ihrer Thier- bevölkerung so tief voneinander abweichen, als Europa von Amerika.* Reisen wir von Java oder Borneo nach Celebes oder den Molukken, so ist der Unter- schied noch auffallender. Dort sind die Waldungen reich an Affen, Katzen, Hirschen, Zibethkatzen und Öttern, und man begegnet zahlreichen Formen von

* Das ist zu unbestimmt gesagt. Es würde annähernd treffen, wenn es hiesse: als Europa von Südamerika. (0.S.),

Malaiischen Archipels. _ &T7

Eichhörnehen. Hier keines dieser Thiere; aber der Kuskus mit dem Greifschwanz ist fast das einzige Landsäugethier, ausgenommen die wilden Schweine, die auf allen diesen Inseln vorkommen und wahrschein- lich in neuerer Zeit eingeführte Hirsche auf Celebes und den Molukken. Die auf den westlichen Inseln zahlreich vorkommenden Vögel sind Spechte, Bartvögel, Fruchtdrosseln und Laubdrosseln; man findet sie täg- lich und sie geben dem Lande die eigenthümliche ornithologische Physiognomie. Sie sind auf den öst- lichen Inseln ganz unbekannt, wo Honigsauger und kleine Lories die gemeinsten Vögel sind, sodass der Naturforscher sich wie in einer neuen Welt fühlt und schwer sich vorzustellen vermag, dass er in wenigen Tagen, ohne das Land aus Sicht zu verlieren, aus einer Region in die andere übergegangen ist.

„Unzweifelhaft müssen wir aus diesen Thatsachen den Schluss ziehen, dass die östlich von Java und Borneo gelegenen Inseln im wesentlichen einen Theil eines frühern australischen oder pacifischen Continentes bilden, obschon einige von ihnen vielleicht nie mit ihm im wirklichen Zusammenhange gestanden. Dieser Continent muss schon zertrümmert worden sein, nicht nur ehe die westlichen Inseln sich von Asien trennten, sondern wahrscheinlich schon bevor die Südostspitze von Asien aus dem Ocean aufgetaucht war. Denn man weiss, dass ein grosser Theil von Borneo und Java einer ganz jungen geologischen Formation an- gehört, während diese grosse Verschiedenheit der Ar- ten, in vielen Fällen auch der Gattungen, von den Erzeugnissen der östlichen malaiischen Inseln und Au- straliens, sowie die grosse Tiefe der See, welche sie jetzt trennt, auf eine verhältnissmässig lange Periode der Isolirung schliessen lässt.

„Bezüglich des Verhältnisses der Inseln unterein- ander ist es interessant zu bemerken, wie ein seichtes Meer immer auf eine neuere Landverbindung deutet. Die Aru-Inseln, Mysol und Waigiu, sowie auch Jobie

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218 Inselfaunen unselbständig.

stimmen mit Neuguinea in ihren Säugethier- und Vögel- arten überein, und wir finden, dass sie alle mit Neu- guinea durch ein seichtes Meer verbunden sind. - In der That bezeichnet die Hundert-Faden-Linie von Neuguinea genau die Verbreitung der wahren Paradiesvögel.

„Man muss ferner bemerken und das ist ein sehr interessanter Punkt in Verbindung mit der Theorie über die Abhängigkeit der specifischen Lebensformen von den äussern Bedingungen dass diese Einthei- lung des Archipels in zwei durch eine auffallende Ver- schiedenheit ihrer Naturproducte charakterisirte Re- gionen durchaus nicht in Uebereinstimmung steht mit den wesentlichen physikalischen oder klimatischen Ab- theilungen der Oberfläche.“ Wir führen nur Folgendes an: DBorneo und Neuguinea, welche in ihrer physika- lischen Beschaffenheit einander so ähnlich sind, als zwei bestimmte Länder nur sein können, sind in zoo- logischer Beziehung polar entgegengesetzt; während Australien mit seinen trockenen Winden, seinen offenen Ebenen, seinen steinigen Wüsten und seinem gemässigten Klima dennoch Vögel und Vierfüsser besitzt, die den- jenigen eng verwandt sind, welche die heissfeuchten, überall die Ebenen und Gebirge Neuguineas bedecken- den Waldungen bewohnen.

Wallace gibt die speciellsten Nachweise, dass, wie die Theile dieser Inselwelt als die losgelösten End- glieder zweier Continente sich einander nähern, so auch mit ihnen zwei völlig verschiedene Faunen. Ebenso sind der Mittelländische und der Westindische Archipel ohne eigenthümlichen Charakter, sondern in Thier- und Pflanzenwelt lediglich von den benachbarten Fest- ländern abhängig. Von Madeira und seinen Land- schnecken war oben die Rede. Die Inselfaunen er- fordern also nicht die Annahme von mehr Schöpfungsmittelpunkten als die Continente darbieten, und Rütimeyer hat den Versuch gemacht, das Herkommen der Vögel und Säugethiere auf zwei Ausgangscentren zurückzuführen. Eine grosse Reihe

Hypothetischer Südcontinent. 219

thiergeographischer Thatsachen kann nur durch die Annahme des einstigen Bestehens eines südlichen Con- tinents erklärt werden, von welchem das australische Festland ein Ueberbleibsel ist. In Australien concen- triren sich die heutigen Beutelthiere. Ihr Vorkommen auf dem südwestlichen Theile des Malaiischen Archi- pels, Neuguinea eingerechnet, erscheint als eine Aus- 'strahlung von dort. Kein einziges Zeichen spricht dafür, dass Nachkommen der in frühern Perioden vom Jura an auf der nördlichen Halbkugel existirenden Beutler den vom Südcontinente aus gegen den Aequa- tor vordringenden entgegengewandert wären. Nur über _ die in Südamerika so verbreitete Beutelratte könnte man in Zweifel sein, der gehoben wird durch Betrach- tung einer Anzahl von Genossen, welche sämmtlich der vorherrschenden amerikanischen Bevölkerung fremd sind und auf Import, wahrscheinlich in tertiärer Zeit, deuten, wenn man nicht mit Rütimeyer meint, dass ihr Vorkommen vielmehr darauf hinweise, „dass pla- centalose Säugethiere auch ausserhalb Australien ge- schaffen wurden“. Da sind vor allen zu nennen die " Hügellosen Vögel, diejenigen nämlich, welche anato- misch und systematisch zusammengehören und welche wir heute über die Continente und einige grosse In- seln zerstreut finden. Der neuholländische und der amerikanische Casuar, die ausgestorbenen Riesenvögel von Madagascar und Neuseeland, der vom Süden nach dem Norden vorgedrungene afrikanische Strauss, sie können nicht in ihrer heutigen Isolirung entstanden sein. Zu gleicher Erwägung drängen die von Linne Bruta, von den Neuern wegen ihres unvollständigen 'Gebisses Zahnlose genannten Säugethiere, wozu, wenn man die letztere Bezeichnung annimmt, die tasmani- schen Schnabelthiere einzubeziehen sind. Diese Schna- belthiere nehmen unter den jetzt lebenden Säugern unstreitig die niedrigste Stufe ein; nicht minder fremd- artig aber verhalten sich die andern eigentlichen Zahn- armen zu den höhern Ordnungen, und ihr Vorkommen

220 Herkunft der Süsswasser- und

einerseits in Südamerika, andererseits in Südafrika und Südasien, sowie die Unmöglichkeit, sie aus einem einstigen gemeinsamen Centrum aus der nördlichen Halbkugel herzuleiten, weisen auf das verschwundene Südland, wo auch die Heimat der Vorfahren der Makis von Madagascar zu suchen sein mag. „Oder sollte‘, sagt Rütimeyer, „die Annahme eines theilweise vom Ocean, theilweise von einer Eisdecke verhüllten Polar- landes mit einst reichlicher Thierwelt als eine boden- lose Hpothese erscheinen für uns, die wir gewisser- massen uns soeben des Auftauchens aus einer ähn- lichen Eisdecke der nördlichen Hemisphäre erfreuen und in unsern Alpen von noch fortbestehenden, in un- serer Gletscherdrift von kaum entschwundenen Scenen arktischen Lebens umgeben sind!? Oder sollte die Vermuthung, dass die fast ausschliesslich vegetivoren und insectivoren Beutelthiere, Faulthiere, Gürtel- und Schuppenthiere, Ameisenfresser, Strausse einst in der südlichen Hemisphäre einen wirklichen Sammelpunkt fanden, von welchem die heutige Flora von Feuerland, des Caplandes und Australiens die Ueberreste sein müssten, auf Schwierigkeiten stossen in einem Moment, : wo Heer die frühern Wälder von Smithsund und Spitz- bergen aus ihren fossilen Ueberresten uns wieder vor Augen führt?“ |

Nachdem Rütimeyer den südlichen Continent mit einem Theile seiner fremdartigen, in seinen Ueber- resten versprengten Thierwelt zu reconstruiren sich. getraut hat, sieht er sich nach speciellern Belegen für die aus dem Gange der Erdbildung allgemein sich ergebende Annahme um, dass die Thiere dessüssen Wassers und mit ihnen die Landthiere dem Meere entstiegen seien. Da kann man denn nicht daran denken, die merkwürdige kleine Abtheilung der sirenoiden Fische (Lepidosiren, Protopterus), welche in der trockenen Jahreszeit Luft athmen, für Repti- lien zu halten, die sich dem Wasserleben anpassen, sondern umgekehrt. Das Organ, was bei den Fischen,

Landthiere aus dem Meere. 91

_ als hydrostatischer Apparat diente, die Schwimmblase, wird bei ihnen zur Lunge. Da muss man von den Landschildkröten zurück auf die Wasserschildkröten, und von diesen zurück zu solchen Meerbewohnern, die den im Jura so verbreiteten Enaliosauriern sich an- geschlossen haben. Da zeigt uns die Entwickelungs- und Lebensgeschichte der Landkrabben auf das deut- lichste, wie der Meerbewohner zum Landthier wird, eine specielle Aufgabe, welche, wie schon erwähnt, Fritz Müller vollständig gelöst und ‚für Darwin“ ver- werthet hat. Von den gewöhnlich, ‘aber fälschlich den Walen zugerechneten Sirenen, von denen die Mehr- zahl sich am liebsten vor den grossen Flussmündungen aufhalten, ist die eine Art gänzlich in die afrikani- schen Binnengewässer gedrungen, und gewisse Lachs- arten, sowie die Störe, welche periodisch zwischen Meer und Süsswasser wechseln, sind in dem Stadium, sich das Meerleben abzugewöhnen. Ich füge aus mei- _ nen speciellen Erfahrungen hinzu, dass die Brak- wasserspongien eine sichere Dependenz mariner Fami- lien sind und dass die Süsswasserschwämme unver- kennbar auf jene brakischen Formen hinweisen.

Hat man es in allen diesen Fällen mit allmählicher Umgestaltung und mehr oder minder freiwilliger An- passung zu thun, so fehlt es nicht an ausgezeichneten Beispielen gewaltsamer und fast plötzlicher Absperrung, d.h. von Landhebungen, wodurch einstige Abschnitte des Meeres zu Binnenseen wurden. Welche Verände- rungen die mitabgesperrten Fische und Krebse er- litten, zeigen die schönen Beobachtungen von Loven - über die Thiere des Wenern und Wettern, und von Malmgren über die des Ladoga. Letzterer Forscher liefert den Beweis, dass der Alpen-Sälbling (Salmo salvelinus) dem Polarmeere entsprungen ist und seinen leiblichen Bruder in dem skandinavischen Salmo alpi- nus besitzt.

Rütimeyer spricht die Ansicht aus, dass aus der

speciellern Verfolgung der Verhältnisse der Thierwelt

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NE EEE SED ARE 222 Die arktische hirw. 000° 0...

des süssen Wassers zu denen der Bevölkerung des Meeres die Thatsache des Kosmopolitismus der Süss- wassergeschöpfe ihre Erklärung finden werde, sowie auch das Verhältniss der antarktischen zur arkti- schen Thierwelt. Einstweilen jedoch stehen diese beiden grössten Thierprovinzen, in Beschränkung auf die höhern warmblütigen Klassen, in ziemlich scharfem Gegensatze sich gegenüber. Wir wissen nur aus spär- lichen Ueberresten, dass schon zur Jurazeit die nörd- liche Halbkugel mit Beutlern bevölkert war, offenbar nicht dicht. Wir müssen annehmen, dass, während auf dem Südcontinente die Beutelthiere mit Festhal- tung ihres Charakters ihre Anpassungsfähigkeit zu prü- fen hatten und sie bewährten, aus ihnen auf der andern Seite des Aequators eine Säugethierwelt von ganz anderer Physiognomie hervorging. Es ist diejenige, _ welche noch heute für die ganze Erdoberfläche vom Norden an bis zur Begegnung mit den antarktischen, mehr stabil gebliebenen Lebensüberresten charakteri- stisch ist. Während wir aber über ihren Ursprung nur auf Combination und Schlüsse angewiesen sind, liest der historische Zusammenhang der heute die Alte Weit und den grössten Theil der Neuen Welt bevölkernden Säugethiere mit ihren Vorgängern bis in die ältern Tertiärzeiten äusserst klar vor Augen.

Die Reste der frühesten hier in Betracht kommen- den Säugethiere finden sich in den eocänen Ablage- rungen der Schweiz und in entsprechenden Schichten Frankreichs und Südenglands. Vom Südrande des Juraplateau waren weder Alpen noch überhaupt Land zu. sehen, und das denselben bespülende Meer hat sich bis nach China hin verfolgen lassen. Die bekannt ge- wordenen Säuger dieser Periode belaufen sich, nach Rütimeyer’s Zusammenstellung im Jahre 1867, auf mindestens 70 Arten. Die Mehrzahl sind Hufthiere, also Pfanzenfresser, und unter diesen wieder bei wei- tem die grosse Hälfte Dickhäuter. Dies Verhältniss ist heute, wo kaum die gesammte Erde so viele Dick-

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_ häuter nährt, völlig verschoben. Nur das Schwein repräsentirt auf dem Schauplatze von Europa diese Abtheilung, und die Wiederkäuer sind überall vorherr- schend. Annähernd kann Afrika in seiner heutigen Thierbevölkerung mit dem eocänen Europa verglichen werden. Da aber zu jenen Hufthieren noch eine Anzahl viverren- und hyänenartigerFleischfresser kommen, und es jetzt sowol in Afrika wie in Asien Viverren gibt, da ferner die in jener frühesten Fauna vertretenen moschusartigen Wiıederkäuer jetzt ebenfalls asiatisch und afrikanisch sind, da endlich die damaligen fran- _ zösischen Beutelratten in Central- und Südamerika fortleben, „erhalten wır den Eindruck, als ob die älteste tertiäre Fauna Europas die Mutterlauge einer heutzutage auf dem Tropengürtel beider Welten, allein am entschiedensten in dem massiven Afrika vertrete- nen, echt continentalen Thiergesellschaft bilde“ (R.).

Weit mannichfaltiger ist das Bild des höhern Thier- lebens der mittlern und neuern tertiären Zeiten, das wir uns aus zahlreichen und zum Theil äusserst ‚reichhaltigen Lagerstätten der Ueberreste reconstruiren. _ Innerhalb dieser Perioden engere Grenzen ziehen zu wollen, ist ganz unthunlich, von Localıität zu Locali- tät, von Schicht zu Schicht findet sich Zusammenhang, nirgends tritt eine Art auf, die nicht von einer an- dern abgeleitet werden könnte, und unser Gewährs- mann sagt, dass Anatomie, Morphologie, Paläontolo- gie, geographische Verbreitung ihm keine Lehre mit grösserer” Energie und Consequenz vorzuführen schie- nen, als die, „dass getrennte Species eines Ge- nus, d. h. wirklich ohne allen historischen und daher auch einst localen Verband mit einem Urstamm, nicht existiren“. Der be- rühmteste Fundort der tertiären Säugethiere ist Pi- kermi, einige Stunden von Athen, eine Anhäufung von ganzen Skeleten und Skelettheilen, welche eine Thier- fülle voraussetzt, von welcher uns allenfalls die am

224 Eocäne und miocäne Säuger.

dichtesten belebten Gegenden Afrikas nach Living- stone’s Schilderungen eine Vorstellung geben können. Wiederum treten die reissenden Thiere gegen die Pflanzenfresser zurück, doch thun sich schon die katzen- artigen Raubthiere hervor, und unter den grossen tertiären Raubthieren finden sich Beispiele von ebenso grosser Ausbreitung, wie sie jetzt der Tiger hat. Da-

mals erstreckte sich das Gebiet des Schwertzahness

(Machairodus) über einen grossen Theil von Amerika und Europa. Gleich hier sei erwähnt, dass die hunde- artigen Thiere etwas später auftreten, und noch spä- tern Ursprungs die Bären sind. Das reichhaltigste Material steht auch in dieser Periode wieder für die Hufthiere zu Gebote. Noch immer überwiegen die Vielhufer. Am constantesten bleiben die Schweine und Moschusthiere. Allein zu dem an die alten Formen sich anschliessenden Tapir treten Nashorn, die eigent- lichen Pferde und die Elefanten. Ist schon das Nas- horn ziemlich unvermittelt, so ıst die Herkunft der Mastodonten, als der ältern Elefantenform, bisjetzt ganz unaufgeklärt.”® Und dennoch, wenn wir uns auch in der bekannten eocänen Säugethierfauna vergeblich nach ihren nächsten Stammformen umsehen, dennoch sind selbst für Europa und Asien eine Reihe Anzeichen vorhanden, dass ‚die meisten eocänen Genera als wahre Wurzelformen der miocänen zu betrachten“ (R.) sind. Dies ergibt sich aus den Funden von Nebrasca in Nordamerika, wo wichtige Gattungen, die in der Alten Welt mit der eocänen Periode auslebten, wie Palaeotherium, sich in die Gesellschaft der neuern Gattungen hineinretteten. Wir finden dort auch Mittel- formen zwischen Lama und Kamel, wodurch das einst bedeutungslose Wort der vicarirenden Gattungen für diesen Fall ebenfalls seine reelle Bedeutung erhält. Wir finden in Nebrasca ferner die dreihufigen Pferde (Anchitherium) und wissen damit den Ursprung der einhufigen Pferde in der Alten und in der Neuen Welt.

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1 ni x | Thierverbreitung in Amerika. 995

Was in der Alten Welt seitdem geschehen, beschränkt sich auf das Erlöschen vieler Dickhäuter, eine Ver- schiebung der Nashorne, Elefanten, Tapire, Fluss- pferde, und auf eine ausserordentlich reiche Entfaltung der eigentlichen Wiederkäuer und der aus ihnen zu einem Extrem in der Kopfbildung hervorgehenden Rinder. Bären und Hunde nehmen das Terrain ein, wo einst die Viverren und Hyänen herrschten, aber eg „bleibt eine starke Anzahl, unter der kleinen Fauna sogar die grosse Mehrzahl miocäner Geschlechter in zahlreichen local und historisch begrenzten Species im Besitz des alten, wahrscheinlich ohne Unterbrechung an Umfang zunehmenden Wohnplatzes“ (R.). „Niemand

wird in diesem allmählichen Wechsel der Dinge etwas

anderes erblicken können, als Erscheinungen derselben Ordnung, deren Zeugen wir noch sind“ (R.).

Wie die Verhältnisse in Amerika sich gestaltet haben, ist von Rütimeyer meisterhaft in folgenden Worten geschildert worden: „Amerika bietet schon vornherein in seinem Bau eine von der Alten Welt völlig verschiedene Grundlage für Thierverbreitung. Hier nur stelienweis durchbrochene Kämme, welche in der Richtung von Breitengraden das ganze Festland in gebirgige Zonen theilen, welche der Vertheilung der Temperatur entsprechen und so in doppelter Weise der Ausdehnung der Thiere bestimmte Bahnen von Ost nach West vorschreiben, während sie für die mei- sten Tniere eine Wanderung von Nord nach Süd

weniger durch ihre Höhe als dadurch hindern, dass

an ihnen der Norden fast unmittelbar an den greller Süden grenzt. Und hinter dieser Mauer überdies in der Ausdehnung vom Kaspischen Meer bis nach China eine Steppen- und Wüstenzone, welche die Thiere des Waldes noch wirksamer einzäunt als das Gebirge. In Amerika können nicht nur Raubthiere, sondern auch Pflanzenfresser ohne Hemmniss von den Flechtenzonen am Makenzie durch die Tannenwälder des Obersees nach den Magnoliengebieten von Mexico fortschreiten; SCHNIDT, Descendenzlehre. 15

TE FLIRTEN

_ 7 . er >

2936 Thierverbreitung- Bee

40—50 Breitengrade trennen die Extreme, welche sich

am Himalaya berühren, und die grossen Ebenen und

weiten Flusssysteme scheinen zu Wanderungen fast

einzuladen. Die Uebereinstimmung des gesammten

Thierlebens in Mexico und Guyana zeigt überdies, wie wenig der Isthmus von Panama ein Ueberschreiten nach Südamerika hemmt, wo von neuem ein mächtiges Flussgebiet ohne hohe Schranken an das andere stösst; ‘auch keine vegetationslose Wüste auf der ganzen Strecke von den canadischen Seen bis nach Patagonien.

„Man wird wol nicht irren, wenn man diesem Um-

stande die auffällige Verbreitung der fossilen und heutigen Säugethiere Amerikas zu einem guten Theile

zuschreibtt. Wie wir sahen, ist schon die miocäne

Fauna von Nebrasca eine Tochter der eocänen der Alten Welt. Die pliocäne Thierwelt von Niobrara,

welche auf demselben Boden wie Nebrasca, nur in

jüngern Sandsteinschichten, begraben liegt, belegt dies

noch in höherm Masse; Elefanten, Tapire und reich- liche Arten von Pferden sind kaum von den altwelt-

lichen verschieden, die Schweine sind, nach ihrem Ge-

biss zu urtheilen, Abkömmlinge europäisch miocäner

Palaeochoeriden. Auch die Wiederkäuer sınd in den gleichen Genera und theilweise in denselben Species

vertreten, wie in den gleichartigen Schichten von Eu-

ropa, als Hirsche, Schafe, Auerochsen; und die fleisch- fressende, sowie die ganze kleine Thierwelt macht davon keine Ausnahme. Viele Genera von exquisit altweltlichem Gepräge sind mit der Zeit selbst weit nach Südamerika vorgedrungen und erloschen daselbst nur kurz vor der Ankunft, oder vielleicht sogar unter Mitwirkung des Menschen, so die zwei Mammutharten

der Cordilleren und die südamerikanischen Pferde,

Als

deren heutige Nachfolger dann auf weit kürzerm Wege diesen insularen Continent erreichten. Sogar eine An-

tilopenart und zwei fernere horntragende Wiederkäuer (Leptotherium) fanden ihren Weg bis Brasilien. Heut-

zutage sind noch zwei Tapirarten, im Gebiss selbst‘

12 NZ Be Er Fe S

Bee, SA 2m Amerikar 297

_ für Cuvier’s Auge kaum von dem indischen unterscheid- bar, zwei Arten von Schweinen, welche den Charakter

ihrer Stammform im Milchgebiss noch erkennbar an sich tragen, und eine Anzahl von Hirschen nebst den Lamas, einem erst in Amerika geborenen und spätern Sprössling der eocänen Anoplotherien,lebende Ueber- reste dieser alten und auf so langem Wege nicht ohne reichliche Verluste an ihren der- maligsen Wohnort gelangten Colonie des Ostens. Man darf kaum zweifeln, dass ein guter Theil der Raubthiere, welche im Diluvium von Süd- amerika noch mehr als gegenwärtig altweltliche Stamm- verwandtschaft behalten haben, auf demselben Wege

hierher gelangten. Erinnern wir uns jetzt, dass selbst der eocäne Caenopithecus von Egerkingen schon ver- nehmlich nach heutigen amerikanischen Affen hinwies, und Didelphen (Beutelratten) in denselben Terrains von Europa begraben liegen, so sollte man fast glau- ben, dass die auf den Aufenthalt auf Bäumen an- gewiesene Abtheilung der Vierhänder sowie der Beutel- ratten es vorzüglich waren, welche dann in den ungeheuern Waldungen der neuen Heimat sich heimisch fanden und mit neuem Aufschwunge eine grosse Menge von speciellen Formen zeugten, ohne indess bis heute die Höhe der Entwickelung ihrer in der Alten Welt zurückgebliebenen Vettern erreicht zu haben.

„Hier ist es auch am Platze, auf die frühere Be- merkung zurückzukommen, dass eine solche Wan- ‚derung der Thiere den Süden der Neuen Welt nicht leer an Säugethieren, sondern vielmehr schon reichlich mit den zahnlosen Vertretern einer antarktischen oder doch mindestens südweltlichen Thierwelt besetzt fanden. Die diluviale Fauna von Südamerika, welche von Lund, von Castelnau und Weddell aus den Höhlen von Bra- silien und dem Alluvium der Pampas gesammelt wor- den ist, enthielt in der That unter den 118 aufgeführten Arten, neben den eben erwähnten von wahrscheinlich altweltlichem Stammbaum, nicht weniger als 35 Species

152

2928 Thierverbreitung in Amerika. |

von Edentaten, und zwar alles Thiere von bedeutender Körpergrösse. Sehen wir von 36 Nagern und Fleder- mäusen, überhaupt von der kleinern Fauna ab, so bilden sie fast die Hälfte der grössern diluvialen Thiere

von Südamerika überhaupt. Die vermuthlich früher

hier ansässig gewordene Gesellsehaft der Zahnlosen

hielt daher der Invasion aus Norden so ziemlich das

Gleichgewicht.

„Es ist begreiflich, dass die gleichen äussern Hülfs- mittel, welche den Zug der Kinder der nördlichen Hemikphäre stets weiter leiteten, auch die Glieder der antarktischen Fauna zur Ausdehnung nach Norden ein-

laden konnten. Wie wir noch heute die fremdartige Form des Faulthiers, des Gürtelthiers und des Ameisen- fressers in Guatemala und Mexico mitten in einer Thiergesellschaft antreffen, die guten Theils aus noch jetzt in Europa vertretenen Geschlechtern besteht,

\

finden wir daher auch schon in der Diluvialzeit riesige Faulthiere und Gürtelthiere bis weit hinauf nach Nor-

den verbreitet. Megalonyx Jeffersoni und Mylodon

=

Harlemi, bis nach Kentucky und Missouri vorgescho- bene Posten südamerikanischen Ursprungs, sind in dem Lande der Bisonten und Hirsche .eine gleich fremd-

artige Erscheinung, wie die Mastodonten in den Anden

von Neugranada und Bolivia. Mischung und Durch-

dringung zweier vollkommen stammverschie- dener Säugethiergruppen fast auf der ganzen ungeheuern Erstreckung beider Hälften des neuen Continents bildet überhaupt den her- vorstechendsten Charakterzug seiner Thier- welt, und es ist bezeichnend, dass jede Gruppe an

Reichthum der Vertretung und an Originalität ihrer‘ Erscheinung in gleichem Masse zunimmt, als wir uns

ihrem Ausgangspunkte nähern.“

Wir stehen also diesseit und jenseit des Oceans,

nördlich von jener vielfach gekrümmten Grenze der antarktischen oder südlichen Fauna, noch mitten in der diluvialen Thierwelt, die von den alten Continenten

a a Fe ee ae A Fe De ee 37 u N

Ca Stammbaum der Wirbelthiere. 299

über eine dem Nordpol sich nähernde Brücke sich nach dem amerikanischen Festlande erstreckte und dort in den Mastodonten und pferdeartigen Thieren länger ihr älteres Aussehen bewahrte.

- Drüben und hier ist die gegenwärtige Ordnung der Dinge, ist die Cantonirung der Thiere vielfach be- stimmt und modificirt worden durch mächtige Ver- gletscherungen und lange Eiszeiten. Von daher die Uebereinstimmung so vieler hochnordischer Pflanzen mit Alpenpflanzen, nachdem die europäische Pflanzenwelt von Osten her ihren Einzug gehalten. Seit jener Zeit die Verschiebung des Renthieres nach unserm Norden, die

Verdrängung des Moschusochsen und seine Vertilgung in der Alten Welt. Die vor dem Eise flüchtenden Elefantenarten sind nicht zurückgekehrt, auch das nach der Eiszeit mit einem Nashorn aus dem Nordosten einwandernde Mammuth hat nebst seinem Gefährten den Untergang gefunden. Andere seiner Genossen, wie der Urstier, sind kaum vor einigen hundert Jahren als wilde Thiere erloschen, andere, der Auerochse, der

Biber, sind als Bewohner von Europa dem Aussterben nahe, und noch andere, Hirsch und Reh, werden mit den Wäldern und Jagdvorrechten sterben. Aber fast für alle Arten, nach deren näherer Herkunft wir uns umschauen, liefert uns die Vorzeit ihre Geschichte und erklärt uns die Abstammung, und in der Abstammung finden wir mit lichten Zügen die Ursachen des geogra- phischen Vorkommens verzeichnet.

XI. Der Stammbaum der Wirbelthiere.

Das Endergebniss, nach welchem die -Descendenz- lehre strebt, ist die Darstellung des Stammbaumes der Organismen. Um ihn auszuarbeiten ist die ganze, fast unübersehbare Fülle von Thatsachen zusammenzufassen,

u)

230 . Berechtigung der

welche die beschreibende Botanik und Zoologie, ein-

schliesslich der Anatomie und Entwickelungsgeschichte,

im Laufe ungefähr eines Jahrhunderts angehäuft haben,

und ist das Detail an der Hand von Specialhypothesen einer Sichtung und erneuten Prüfung zu unterwerfen.

Wir haben daher für die Abstammungslehre dasselbe

Recht in Anspruch genommen, auf welches sich der

Fortschritt der Wissenschaft überhaupt stützt, das nämlich, nach bestimmten Gesichtspunkten zu üunter-

suchen und- das Wahrscheinliche als Wahrheit im Ge-

wande der wissenschaftlichen Vermuthung oder Hypo- these zu anticipiren. Es ist klar, dass, als die De-

scendenzlehre mit ıhrer durch Darwın versuchten Be- gründung ans Licht trat, nur die allgemeinsten Umrisse

jenes grossen Stammbaumes angedeutet werden konnten, -

den in seinen Einzelheiten darzulegen eben die Auf- gabe der neuen Richtung der Wissenschaft sein sollte.

Sowie und wo man aber an die Detailforschung ging,

musste man entweder am Abschluss der Untersuchun- gen dem Resultate die Form eines Theiles des grossen

Stammbaumes geben, oder man hatte von vornherein Grund, gewisse Verwandtschaften vorauszusetzen- und prüfte diese Vermuthung. Je weiter ein Forscher es in der Uebersicht über die Organisationsverhältnisse einer grössern Gruppe gebracht hat, desto weniger wird er sich der Stammbaumideen bei allem seinen Thun und Denken entschlagen können.

Das alies ist so selbstverständlich, dass, sollte man meinen, aus der Handhabung dieser Methode der De- scendenzlehre kein Vorwurf gemacht werden könnte. Dennoch geschieht es oft, dennoch verargt man es den

Vertretern der Descendenzlehre, häufig von blosser

Wahrscheinlichkeit zu sprechen, wobei man vergisst, dass selbst in den Fällen, wo das Wahrscheinliche schliesslich als unwahr sich herausstellt, die widerlegte Hypothese zum Fortschritt geführt hat. Soeben gibt uns die Sprachwissenschaft einen Beleg hierfür. Es ist bekannt, dass die Sprachvergleichung innerhalb des

‚Aufstellung der Stammbäume, 231

_ indo-germanischen Sprachstammes an die Reconstruction der allen zu Grunde liegenden Ursprache dachte. Johannes Schmidt’? zeigt nun, dass die Grundformen, welche erschlossen werden, in sehr verschiedenen Zei- ten entstanden sein können, und dass demnach die Ursprache, als Ganzes betrachtet, eine wissenschaft- liche Fiction sei. Nichtsdestoweniger wurde die For- schung durch diese Fiction wesentlich erleichtert, und hiermit hing die Aufstellung eines Stammbaumes der indo-germanischen Sprachfamilie eng zusammen als eine durch viele Anzeichen gestützte Hypothese. Man nahm eine Gabelung in eine südeuropäische Sprache, mit den Abzweigungen des Griechischen, Italischen und Celtischen, und in die Sprache an, aus deren aber- maliger Zweitheilung die nordeuropäische Grundsprache und die arische Grundsprache hervorgingen. Obgleich Johannes Schmidt nachgewiesen, dass dieser Stamm- baum falsch, da die Beschaffenheit des Slavolettischen die vorausgesetzte erste Zweitheilung als unmöglich erscheinen lässt, wird der Werth jener Stammbaum- hypothese deshalb doch nicht verkleinert. Sie war der Weg zur Wahrheit.

In unserer Wissenschaft hat von dem Rechte, hypothetische Stammbäume als Wegweiser für den Gang der Forschung zu entwerfen, Haeckel den aus- gedehntesten Gebrauch gemacht. Es kommt gar nicht darauf an, dass er selbst sich wiederholt hat ver- - bessern müssen, oder dass andere ıhn oft verbessert haben: der Einfluss dieser Stammbäume auf den Fort- schritt der Descendenz-Zoologie ist für den, welcher das Feld überblickt, ein ganz offenbarer, abgesehen davon, dass eine Reihe von Untersuchungen des letz- ten Jahrzehntes ihre Resultate in gute Stammbäume endgültig fixirt haben. Da wir blos eine Einführung in die Descendenzlehre beabsichtigen, so begnügen wir uns damit, darzulegen, wie in ihrer Anwendung auf die eine Gruppe der Wirbelthiere sich das System

932 Verknüpfung der Wirbelthiere

Säugethiere Vögel Reptilien (Amnioten)

(?) Enaliosaurier Amphibien

| Fische | Amphioxus

Mantelthiere

N Tr (Urwirbelthiere)

Würmer.

oder der Stammbaum derselben gestaltet. Zu diesem Zweck halten wir uns an das vorstehende Schema. Wie wir oben gesehen, sind in der Entwickelungs- geschichte der Individuen die wichtigsten Fingerzeige für den Stammbaum der Arten enthalten. Allein wenn auch alle Wirbelthiere hinsichtlich der Anlage des Keimes, sowie der fundamental wichtigen Organe, des Rückenmarkes und der Wirbelsäule, unter sich eine ihren verwandtschaftlichen Zusammenhang erweisende Uebereinstimmung zeigten, so schien jedes Kennzeichen ihrer Abstammung von niedrigern Thieren, wie die Theorie unbedingt fordert, zu fehlen. Es schien, mit andern Worten, bei sämmtlichen Wirbelthieren das Andenken an ihre erste Abstammung in der abgekürz- ten Entwickelung (vgl. S. 195) verwischt worden zu sein. So stand es, bis Kowalewsky vor einigen Jahren die Entwickelung des niedrigsten bekannten Wirbel- thieres, des Lanzettfisches (Amphioxus) studirte und nachwies, dass bei diesem Thiere den typischen Er-

mit den Wirbellosen. 233

scheinungen der Wirbelthierentwickelung Stadien vor- ausgehen, welche die Theorie verlangt hatte. Wir haben diese Entwickelungsform schon kennen gelernt (S.45 fg.) und heben hier nochmals die tiefe Bedeutung derselben hervor. Erst nachdem der Amphioxus die Stufe der flimmernden, mit einem Hohlraum versehenen Gastrulalarve durchgemacht, flacht sich die künftige Rückenseite ab und erheben sich die Wülste, die sich bald darauf zum Rückenmarksrohre schliessen, während darunter jener wichtige Zellenstrang entsteht, die Chorda dorsalis oder Rückensaite. Erst hiermit wird der Lanzettfisch zum Wirbelthier, und die vorausgehen-

7 N)

Fig. 22. Lanzettfischlarve (nach Kowalewsky).

den Stufen erinnern nicht, wie C. E. v. Bär einst solche Erscheinungen aufgefasst wissen wollte, durch Indifferenz ganz allgemein an das Niedrige und Un- entwickelte, sondern stimmen ın Werden und Anlage, in der Sonderung der Zellenlagen und in ihrer Tota- lität mit den Gastrulastadien wirbelloser Thiere überein.

Wir dürfen daher mit vollem Rechte diese frühesten Entwickelungsvorgänge am Amphioxus als eine Er- innerung an die Wurzeln des Wirbelthierstammes an- sehen, und dieser directe Hinweis auf die Abstammung der Wirbelthiere von Wirbellosen wird durch eine

| | ee > N ae ee a a ce ‚234 Verknüpfung der. Wirbelthiere

zweite, nicht minder wichtige Entdeckung des russi- schen Naturforschers unterstützt. Es ist die, dass eine

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Anzahl von Mantelthieren aus der Abtheilung der Ascidien während ihrer Entwickelung vorübergehend

-

mit den Wirbellosen. 235

ein Rückenmark und die Anlage der Wirbelsäule besitzen. Kowalewsky’s Untersuchungen sind in allen wesentlichen Stücken von Kupfer bestätigt und vielfach erweitert worden, und das Thatsächliche, was uns interessirt, lässt sich an der Abbildung 23, den Vordertheil einer ziemlich vorgeschrittenen Ascidienlarve darstellend, er- läutern. Der Körper der Ascidienlarven besteht aus einem Rumpftheil, den unsere Figur ganz zeigt, und ' einem Ruderschwanze. Die vom Rumpfe nach rechts vorstehenden Anhänge sind Haftorgane, mit denen die Larve sich behufs ihrer definitiven Umgestaltung festsetzt; . bei o entsteht die Mundöffnung, aus d entwickelt sich

Kiemenhöhle und Darmkanal, wobei wir beiläufig her-

vorheben, dass auch beim Lanzettfisch der Vordertheil des primitiven Darmes zur Kiemenhöhle wird. Die für die Beziehung zu den Wirbelthieren wichtigsten Theile der Ascidienlarven sind aber folgende. Sie be- sitzt ein wirkliches Rückenmark mit einem blasig auf- getriebenen Gehirn (r a). Anlage und Lage dieses Organs stimmt genau mit den entsprechenden Theilen des Wirbelthieres überein, und Kupfer hat sogar den Ursprung von Nerven entdeckt (s s s), welche die Gleichheit des fraglichen Organs mit dem Rückenmark und den paarigen daraus entspringenden Nerven der Wirbelthiere noch unwiderleglicher machen würden, wenn die Beobachtung sich bestätigte. Wir wissen aber, dass nicht das Rückenmark für sich, sondern seine Verbindung mit der Wirbelsäule den Charakter des Wirbelthieres ausmacht. Auch diese Wirbelsäule als Rückensaite besitzt die Ascidienlarve (c), und wie beim Wirbelthiere schiebt sich diese embryonale Wir- belsäule zwischen Darm und Rückenmark ein. Bis hierher geht die Uebereinstimmung, dann aber wird die Entwickelung dieser für das Wirbelthier wichtig- sten Theile bei der Ascidie eine rückgängige. Der Ruderschwanz mit dem in ihm enthaltenen Rücken- marke und der Saite wird, indem das Thier sich fest-

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-

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236 Das niedrigste Wirbelthier.

setzt, abgeworfen, das vielversprechende Larvengehirn schrumpft zu einem unansehnlichen Nervenknoten zu-

sammen, und das fertige Thier lässt keine Ahnung

von einem Anschluss an die Wirbelthiere aufkommen.

Bewiesen ist durch diese mühevollen Beobachtungen,,

dass die Wirbelthiere nicht das unbedingte Eigen- thumsrecht auf Rückenmark und Wirbelsäule besitzen, sondern diese Organe als Erbtheil von niedrigern Or-

ganisationsstufen als ihren Vorfahren empfingen. So- wenig es aber den Darwinisten einfällt, im Menschen

einen directen Abkömmling der heu- tigen Affen zu erblicken, ebenso wenig ziehen sie aus den mitgetheil- ten Beobachtungen über die Asci- dienlarven den Schluss, dass die

stammten. Die Uebereinstimmung nöthigt vielmehr zu der Voraussetzung. eines unbekannten Urwirbelthier- stammes, der aus irgendeinem Aste: der vielgestaltigen Abtheilung der Würmer entsprang. Von ihm grenz- ten sich nach der einen Seite die Mantelthiere ab, die man allenfalls. verunglückte Wirbelthiere nennen Fig 2 Kassewach- Könnte, nach der andern die eigent- lichen Wirbelthiere. ”° - Der Amphioxus, welcher an verschiedenen Küsten an seichten Stellen im Sande lebt, und z. B. bei Mes- sina täglich zu Tausenden gefangen werden kann, wird

Wirbelthiere von den Ascidien ab-

fünf bis sechs Centimeter lang, ist fischartig zusammen-

gedrückt, an beiden Enden zugespitzt und im leben- den Zustande fast durchscheinend. Er besitzt keine Spur von Extremitäten, am Schwanzende nur ein paar feine Hautsäume, die Andeutung von Rücken- und Afterflosse, und ist in seinem innern Bau so einfach, dass er mit Unrecht gewöhnlich als Fisch bezeichnet

Stammbaum der Fische. 237

wird. Sein Skelet beschränkt sich auf die Chorda und feine Knorpelstäbchen an Mund und Kiemen. Er hat kein Gehirn, Ausser einer vielleicht als Geruchs- organ zu deutenden wimpernden Grube kein Sinnes- werkzeug, sein Herz ist schlauchförmig. Und so be- steht zwischen ihm und den übrigen eigentlichen Fischen ein so weiter Abstand, dass die Möglichkeit offen bleibt, dass die Fische einen andern Entwicke- lungsgang als durch amphioxusartige Stadien zurück- gelegt haben.

Unsere Kenntnisse über die Verwandtschaftsverhält- nisse der Fische lassen sich in folgendem Stammbaum niederlegen:

Doppelathmer Knochenfische

Ganoiden Elasmobranchier Beutelkiemer.

Zwar zeigen auch die Beutelkiemer oder Rund- mäuler (Cyclostomi) so erhebliche Eigenthümlichkei- ten, wie Mangel der Extremitäten, gänzliche Abwesen- heit von Knochenplatten und Schuppen in der Haut, aber Gehirn, Herz und die weit über den Amphioxus sich erhebende, wenn auch durchaus knorpelig blei- bende Wirbelsäule vermitteln ihren unmittelbaren An- schluss an die Fische. Fossile Reste dieser, in der Gattung Pricke (Petromyzon) allbekannten Thiere sind nicht vorhanden, wie denn überhaupt höchstens ihre Hornzähne sich hätten erhalten können.

238 Stammbaum der Fische.

Nach diesen offenbaren Lücken unserer Kenntniss bieten die folgenden Ordnungen der Fische sich in desto übersichtlicherm Zusammenhange dar. Den Aus- gangspunkt bilden die Elasmobranchier, zu wel- chen die eigenthümlichen Chimären, die Haie und Rochen gehören. Gehirn und Kiemen zeigen die Ver- wandtschaft mit den Rundmäulern. In der Beschaffen- heit des Schädels und des Gesichtsskeletes, des Schul- tergürtels und der vordern Extremitäten, desHerzens und Darmes zeigen sie solche Bildungen, zu denen sich die gleichen Theile der Ganoiden entweder als Fortent- wickelungen oder als Reductionen verhalten, wie Gegenbaur in seinen classischen Untersuchungen nach- gewiesen. Auch Huxley hat zur richtigen Auffassung dieser Verhältnisse die Bahn gebrochen. Um hiervon vollständig sich zu überzeugen, ist allerdings ein De- tailstudium nothwendig; denn ohne solches kann man sich doch keine Vorstellung machen, wie bei den Elasmobranchiern noch der eigentliche Kieferapparat fehlt, und der Knorpelbogen, der bei ihnen die Kiefer vertritt, bei den Ganoiden theils als Gaumen, theils als Aufhängestil des wirklichen Unterkiefers verwendet wird, wie die innern Kiemen jener zu den äussern dieser werden, und wie ım Skelet der vordern Extre- mitäten sich Schritt für Schritt von den Haien und Rochen zu den Ganoiden, namentlich den dazu ge- hörigen Stören, die allmähliche Vereinfachung nach- weisen lässt, die einerseits in den Knochenfischen, andererseits in den höhern Wirbelthieren ihre Extreme erreicht, bei letztern unter der vielgestaltigen Ver- vollkommnung des Armes und der Hand, Es leben von den Ganoiden nur noch einzelne Ueberreste, die . Familie der Störe und einzelne amerikanische und afrikanische Gattungen, für welche, wie Rütimeyer sagt, die Flucht ins süsse Wasser ein Act der Rettung war. Sie reichen eben hin, um das Verhältniss der einst ungemein ausgebreiteten Gruppe sowol zu den Elas- mobranchiern als den Knochenfischen zu erklären.

ur u un, Br a ne = -z wi; * Pr. E Eee a GE 3 ns x Bu:

Uebergang zu den Amphibien. | 239

- In diesen, den.Knochenfischen, ist die bei den Ganoiden eingeleitete Umbildung der Organisation der Elasmobranchier weiter geführt. Sie sind nur sehr bedingt „höher entwickelt‘‘ zu nennen, etwa im Ske- let, worauf die ehemalige Zoologie zu viel Gewicht legte. Hirn, Herz, die Bildung der Extremitäten, das Fortpflanzungssystem sind zwar Sonderentwickelungen, die in Verbindung mit der äussern Form und den Hautbedeckungen eine sehr grosse Anpassungsfähigkeit bewährt haben, einer Weiterentwickelung aber nicht fähig gewesen sind. Die vergleichende Anatomie hat viele Mühe vergeblich darauf gewendet, aus der spe- ciellen Organisation der Knochenfische die Verhältnisse der höhern Thiere abzuleiten, oder die Eigenthümlich- keiten der Knochenfische von oben her zu erklären. Es war verlorene Mühe, weil nur der eben bezeich- nete Weg, die Abstammung der Knochenfische durch die Ganoiden von den haiartigen Fischen, zur Lösung führt. .

Mit den Knochenfischen schliesst also in der heutigen Periode eine Entwickelung ab, und wir haben uns nach einer andern Uebergangsstufe von den Fischen zu den Amphibien umzusehen. Eine solche ist in der spärlich durch nur einige Arten (Lepidosiren, Pro- topterus) vertretene Ordnung der Doppelathmer (Dipnoi) vorhanden. Diese fischartigen, in einigen in der heissen Jahreszeit austrocknenden Flüssen Afrikas und Amerikas lebenden Thiere sind nach Skelet und Beschuppung und in einigen andern Merkmalen Fi- sche; der Schädel ist jedoch fast amphibienartig, auch gebrauchen sie ihre Schwimmblase zeitweilig als Lunge und veranschaulichen in diesem Wechsel der Wasser- und Luftathmung den Uebergang der kiemenathmenden Larven der Amphibien in das Stadium der Luftathmung. Sie nähern sich unter den eigentlichen Fischen am meisten der in der Gegenwart durch den afrikanischen Polypterus vertretenen Familie der Crossopterygier, und durch die neuere Entdeckung eines sehr merkwürdigen

240 Stammbaum der Amphibien.

australischen Fisches, des Ceratodus, wird diese Ver- wandtschaft befestigt. Durch solche den Doppelathmern ähnliche Formen

hat sich also wahrscheinlich der Fortgang von den Fischen zu den Amphibien vollzogen; es ist jedoch auch möglich, wie mich ein wissenschaftlicher, in der Entwickelungsgeschichte sehr bewanderter Freund, ge- stützt auf die Vergleichung der Athemorgane der Rundmäuler mit denen der Amphibien, aufmerksam macht, dass Frösche und Salamander direct von Wesen abstammen, welche der Myxinoiden genannten Ab- theilung der Cyclostomen am nächsten standen. Es ist zu hoffen, dass diese sehr interessanten Beobach- tungen demnächst in die Oeffentlichkeit treten. Im allgemeinen sehen wir in der Ontogenie der Amphi- bien, dass geschwänzte Formen die ältern sind. So verhalten sich denn auch die ältesten amphibien- artigen Thiere, die Labyrinthodonten. Wir haben aus ihren, namentlich in der Kohlenformation ent- haltenen Resten (Archegosaurus u. a.) erfahren, dass sie unvollständige oder keine Gliedmassen hatten, ihre Bauchseite theilweise mit knöchernen Panzerstücken versehen, die Wirbel fischartig waren, und dass ihr Schädel mit Charakteren der heutigen Amphibien andere verbindet, welche theils an gewisse Knochenganoiden, theils an die später auftretenden Reptilien erinnern, Wenn nun auch am Schädel der eigenthümlich schlan- genähnlich verlängerten Schleichlurche oder Cöci- lien, welche jedoch schwanzlos sind und ohne Gliedmassen, einige Besonderheiten des Labyrintho- dontenschädels wieder zum Vorschein kommen, so müssen wir doch sowol für diese Ordnung, wie für. die beiden andern jetzt lebenden Ordnungen der Schwanzlurche und der Frösche unsere völlige Unkenntniss ihrer eigentlichen Vorfahren eingestehen. Wir sind also, wie gesagt, hier lediglich an die Ent- wickelungsgeschichte der Individuen gewiesen. Mit

welchem Rechte wir uns aus dieser ein der Wirklichkeit

Stammbäum der Reptilien. >41

mit grosser Wahrscheinlichkeit nahe kommendes Bild der Stammesentwickelung entwerfen können, wird der Leser aus den frühern Abschnitten entnommen haben. Wir sehen unter den geschwänzten Amphibien nicht blos in der Ontogenie den Uebergang von der Kiemen- . zur Lungenathmung, auch die systematische Reihe von Proteus zu Triton und Salamander vergegenwärtigt uns diese, an verschiedene morphologische Umwand- lungen gebundene physiologische Steigerung, welche sich zwischen den jungen und alten Exemplaren der Labyrinthodonten ebenfalls nachweisen lässt. Die Frö- sche gehen zwar in ihrer Entwickelung höher als die Schwanzlurche, sie schliesen sich aber, wie der oben schon erwähnte Freund mich belehrt, in der Beschaffen- heit der innern Kiemen ihrer Larven näher an die Myxinoiden an. Den Ueberblick über die Reptilien verschaffen wir uns zunächt durch. die umstehende Tabelle (S. 242), wobei wir uns aller nähern syste- matischen Bezeichnungen enthalten wollen.

Die Klasse bietet ein sehr reichhaltiges Bild dar, obschon in der Gegenwart nur vier Ordnungen existi- ren, von denen noch dazu zwei, die Eidechsen und Schlangen, kaum voneinander zu trennen sind. Dass die Schlangen, welche erst mit der Tertiärzeit auf- treten, ein unmittelbarer Ableger der Eidechsen sind, wird durch die vergleichende Anatomie und Entwicke- lungsgeschichte zur Gewissheit. Wir sehen innerhalb verschiedener Familien der Eidechsen mit der Streckung des Körpers und der Vermehrung der Wirbel die Fuss- losigkeit eintreten, und auch die Aenderungen, welche dem Schädel der „echten“ Schlangen eigenthümlich sind, werden in ganz allmählichen Abstufungen vom echten Eidechsenschädel an in der systematischen Reihe re- präsentirt. Wir können nicht die fossilen Gattungen angeben, mit denen die Umwandlung beginnt, ein Zwei- fel in diesem Falle würde aber nur eine eigensinnige Verneinung sein. Anders steht es mit den übrigen 'Ordnungen, welche in ihren uns bisher zugänglich. SCHMIDT, Descendenzlehre, 16

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gewordenen Anfängen schon so bestimmt ausgeprägte Verschiedenheiten zeigen, dass eine directe Ableitung‘ auch nur einiger aus bekannten Gliedern anderer nicht möglich ist. Ein sehr guter Kenner der Anatomie dieser Thiere, Huxley, lässt sich folgendermassen hier- über aus’®: „Wenn wir fragen, wie die frühesten Re- präsentanten dieser Ordnungen sich von den jetzt lebenden oder den spätest bekannten Gliedern der-

der Reptilien. 2435

‚selben unterscheiden, so werden wir in allen Fällen finden, dass die Grösse des Unterschiedes an und für sich und im Vergleich mit den dazwischen liegenden Zeiträumen merkwürdig gering ist. Meines Wissens gibt es keine Thatsache, von der man sagen könnte, dass sie einen Fortschritt der spätern Pterosaurier oder Ichthyosaurier über die jüngsten (ältesten?) repräsen- _ tire. Es ist nicht klar, dass die Dinosaurier der Wealden- und Kreideformation höher organisirt sind als die der Trias; wo aber ein Fortschritt in der Differentiation des Baues zu beobachten ist, wie bei den Lacertiliern oder Krokodiliern, geht derselbe nicht weiter als bis zur Veränderung der Wirbelgelenk- flächen oder des Grades, bis zu welchem die innern. Nasenöffnungen von Knochen umgeben werden. Die osteologischen Unterschiede, welche uns die Fossilreste- allein zu überliefern vermögen, sind ohne Zweifel von: manchen Veränderungen in der Organisation hinfälliger- Körpertheile begleitet gewesen, aber die Gesammtheit "der vorliegenden Thatsachen beweist doch, dass der Grad von Veränderung in der Organisation der Rep- tilien seit ihrem ersten bekannten Auftreten auf der Erde an und für sich nicht gross ist und ganz unbe- deutend erscheint, wenn wir die seitdem verflossenen Zeiträume, sowie die Veränderungen der äussern Um- stände in Betracht ziehen, welche durch die meso- zoischen und tertiären Formationen repräsentirt sind. „Aus dem Gesichtspunkt der Entwickelungshypothese ist die Annahme geboten, dass die Reptilien von einem gemeinsamen Stamme ausgegangen sind, und ich sehe keine Berechtigung für die Ansicht, dass diese Diver- genz vor der Trias bedeutender* gewesen sei, als sie zu irgendeiner spätern Zeit gewesen ist. Folglich müssen, wenn die Annäherung der ältestbekannten Ver- treter der verschiedenen Ordnungen aneinander sehr gering ist, Reptilien schon vor der Trias eine Zeit

* Muss wol heissen unbedeutender? 16*

a En en Be a8,

94 Stammbaum hindurch gelebt haben, mit welcher verglichen der von der Trias bis heute verflossene Zeitraum gering ist die Reptilien müssen, mit andern Worten, weit zurück in der paläozoischen Periode aufgetreten sein.“

Die Vergleichung weist uns also in Zeiten zurück, aus denen keine Kunde zu sicherer Ableitung jener Klasse vorliegt. Selbst die Ichthyosaurier und Plesiosaurier, welche so oft zusammen genannt wer- den, gehen in sehr wesentlichen, ihren etwaigen ge- meinsamen Ursprung weit hinausrückenden Charakteren auseinander. Wir erwähnen nur die ganz flossenarti- gen Extremitäten der erstern, welche in der Hand noch den Fischtypus an sich tragen. Wir werden also nur im allgemeinen auf solche Mischformen zurück- gewiesen, welche sich ähnlich wie die Labyrinthodon- ten verhalten haben mögen, ja es muss sogar die Frage aufgeworfen werden, ob nicht die Ichthyosaurier allein, oder auch mit ihnen die Plesiosaurier unab- hängig von den übrigen Aesten des Reptilstammes sich selbständig von Fischformen abgezweigt haben, welcher Eventualität in dem Stammbaum auf $S. 232 Rechnung getragen ist. Eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Schädel der Schildkröten zeigt derjenige der Dicynodonten. Auch bei ihnen waren die Kiefer, wie sich aus ihrer Gestalt ergibt, offenbar mit Horn- scheiden überzogen; zugleich aber enthält der Ober- kiefer zwei mächtige Hauzähne, und an einen directen Uebergang der in der Trias erscheinenden Dieynodon- ten in die spätere Schildkröte ist kaum zu denken. Die ältern Formen der Krokodile zeigen in einigen Punkten des Schädels sowie der Stellung der hintern Nasenöffnungen einen Anschluss an die Eidechsen, aus _ deren ältern unbekannten Formen sie sich wahrschein- lich abgezweigt haben. Auch die Flugeidechsen oder Pterosaurier dürften eine Abzweigung der Eidech- sen sein. Sie haben durch Anpassung einige Eigen- schaften erlangt, Gestalt und Leichtigkeit des Kopfes, Schlankheit und Pneumaticität der Röhrenknochen, die

der Reptilien, 245

sie mit den Vögeln theilen. Aber nicht in ihnen, son- dern in der Abtheilung, welche Huxley, unter Zu- sammenfassung mebrerer Familien, Ornithosceliden, d.ı. Reptilien mit Vogelbeinen, nennt, sind die eigent- lichen Vorfahren der Vögel zu suchen. Denn in ihnen bereitet sich einer der wichtigsten Charaktere der Vögel theils vor, sodass seine Entstehung auch noch im ausgewachsenen Thier erkennbar bleibt, theils voll- zieht sie sich, wie in der Gattung Campsognathus. Es ist jene von uns schon auf Seite 9 betrachtete Eigenthümlichkeit, dass der obere Theil der Fuss- wurzel mit dem Unterschenkel, der untere mit dem Mittelfusse verschmilzt, und dass mithin das Fersen- gelenk in die Fusswurzel hineingelegt wird.

Alle lebenden Reptilien unterscheiden sich durch einige, ihre Entwickelung begleitenden Erscheinungen scharf von den Amphibien und Fischen; sie besitzen zwei den Embryo umhüllende Organe, das Amnion, welches wesentlich eine Schutzhülle des sich ent- wickelnden Wesens ist, und die Allantois, wodurch der fötale Kreislauf, Ernährung und Athmung geregelt und vermittelt wird. Wir finden bei den Fröschen Andeutungen wenigstens der Allantois und müssen vor- aussetzen, dass der grösste Theil der fossilen Reptilien sich schon diesen Fortschritt der Gesammtorganisation angeeignet hatte. Ein Fortschritt nämlich liegt darin, dass die mit Amnion und Allantois sich entwickelnden Thiere während des embryonalen Stadiums weiter kommen als die niedrigen Wirbelthiere, dass sie mit- hin widerstandsfähiger das Ei verlassen. Wir müssen auch deshalb die Aneignung des Amnion und der Allantois in die entlegenen Perioden der Amphibien- und Reptilienentwickelung versetzen, weil sowol die Vögel, welche von echten Reptilien abstammen, als die Säugethiere, welche von wahren Reptilien nicht ab- stammen können, mit ihnen im Besitz jener embryo- nalen Hüllen und Organe sind.

Die Vögel schliessen sich anatomisch so eng an die

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246 Stammbaum

Reptilien an, dass Huxley, welcher die Vergleichung am schärfsten durchgeführt hat, beide Klassen zu einer grössern systematischen Einheit unter dem Namen Sauropsida, d. i. eidechsenähnliche Thiere, zusam- menfasste. Eine Eidechsenschuppe und eine Feder scheinen zwei gänzlich verschiedene Dinge zu sein; sie sind aber in ihrer ersten Anlage völlig gleich, und die Feder hat eine weit grössere Uebereinstimmung mit der Schuppe als mit dem Haar. Die Befiederung, welche dem Vogel einen specifischen Charakter auf- zudrücken scheint, ist also aus der Schuppenbildung - abzuleiten. Von den innern weichen Organen wollen wir nur Herz und Lungen hervorheben. Alle ältern Zoologen stellten das Vogelherz dem Säugethier- und Menschenherzen gleich; es ist jedoch in seinen spe- ciellen Einrichtungen nur aus dem Reptilienherzen zu verstehen, und die Luftröhre verästelt sich nicht gabelig-baumförmig wie beim Säugethier. Dass in den Reptilien ein allmählicher Uebergang zum Vogelbein vorliegt, ist wiederholt hervorgehoben. Auch das Becken des Vogels, welches durch die Länge der Scham- und Sitzbeine auffällt und vorn offen ist, stellt nur eine geringe Weiterentwickelung der Beckenbildung vor, welche schon verschiedene Ornithosceliden zeigen. So sagt Huxley vom Sitzbein des Hypsilophodon, dass „die bemerkenswerthe Schmalheit und Verlängerung diesem Knochen einen ganz wunderbar vogelartigen Charakter gebe‘. Am Schädel endlich sind die Eigen- thümlichkeiten, welche der Vogel im Gegensatz zum Säugethier besitzt, wie der einfache Gelenkhöcker am Hinterhaupt, das Quadratbein, die besondere Form des Schneckentheiles des Gehörlabyrinthes, die Zu- sammensetzung des Unterkiefers und seine Einlenkung am Schädel durch Vermittelung des Quadratbeinesu.s.w., nicht specielle Vogel-, sondern allgemeine Reptilien- charaktere. Diese Gleichheit des Reptilien- und Vogel- typus wird schon vollkommen klar aus der Vergleichung lebender Vögel mit lebenden Reptilien. Der Beweis

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Be - der Vögel. | 247

der Abstammung des Vogels vom Reptil wird aber durch die, wenn auch sparsamen Funde fossiler Zwi- schenformen unantastbar. Vom Becken und Bein der Ornithosceliden ist schon die Rede gewesen. Wir haben aber weiter aus den solnhofner Schiefern leider nur einen verstümmelten und durch den Druck vielfach beschädigten Vogel kennen lernen, den Archaeopteryx (Fig. 23. Abdruck des Schwanzes von Archaeopteryx macrurusOw.), derunseine höchst erwünschte und interessante Mittelstufe zwischen Reptilien- und Vogelschwanz zeigt. Unter den heutigen Vögeln besitzt nur der amerkanische Strauss (Rhea) zahlreiche gesonderte Schwanz- wirbel; der Schwanz dieses Vo- gels tritt aber so wenig hervor, dass man dabei nicht an den Eidechsenschwanz denkt. Ar- ehaeopteryx nun zeigt uns einen mit zwei Zeilen steifer, im Ab- druck wunderbar vollkommen erhaltener Federn besetzten langen Schwanz. Der Schädel des kostbaren, im britischen Museum aufbewahrten Exem- plares ist so zerstört, dass man vonseiner Beschaffenheitsich kein Bild machen kann. Namentlich NM lässt sich nicht entscheiden, ob | die Kiefer Zähne trugen. Das Fig. 23. Beispiel der Schildkröten lehrt,

dass innerhalb des Reptilientypus die Zahnbildung durch Hornscheiden ersetzt wurde, ohne Entwickelung des Thieres zur Flugfähigkeit; die Flugeidechsen wiederum verbinden mit der Flugfähigkeit einen leichten, aber doch mit zahlreichen Zähnen versehenen Kopf. Der Unklarheit, in der wir uns bezüglich dieser Theile der

248 Stammbaum der Vögel _

ältern vorweltlichen Vögel befanden, ist durch eine Entdeckung des amerikanischen Naturforschers Marsh’? ein Ende gemacht. Er. fand in der obern Kreide von Kansas die Reste zweier Gattungen von Vögeln, die

einmal durch ihre biconcaven Wirbel an die Merkmale

der ältern Reptilien erinnern und schon damit als höchst werthvolle Zwischenstufen sich darstellen, die aber auch ferner in beiden Kiefern Zähne trugen. Die- selben sind klein und spitz, und waren so zahlreich,

dass im Unterkiefer des Ichthyornis dispar genannten

Thieres jederseits zwanzig gezählt werden konnten. Somit sind wir heute über die Verwandtschaft der Vögel nach aussen vollständig im Reinen. Der Vogel ist ein dem Luftleben angepasstes Reptil, und die- jenigen Vögel, die wir dem Fluge mehr entfremdet

sehen, haben die mit der. geringern oder grössern

Flugunfähigkeit verbundenen Eigenschaften erst im

Wege der Rückbildung erworben. . Desto schlimmer sieht es mit der innern Ordnung dieser Thierklasse aus. Mit einer gewissen Sicherheit lässt sich theils

aus der geographischen Verbreitung, theils aus ana-

tomischen Merkmalen, namentlich des Schädels, folgern, dass die straussenartigen Vögel nicht etwa wegen ihrer Schenkelstärke und Geschicklichkeit im Laufen die

jüngsten, wol gar den Säugethieren am nächsten

stehenden Mitglieder ihrer Klasse, sondern dass sie die ältesten der jetzt lebenden sind. Die Art der Unvollkommenheit ihrer Flügel weist, wie gesagt, darauf hin, dass dieselben sich im Zustande der Ver- kümmerung und Rückbildung befinden. Ueber diese allgemeine Erfahrung kommt man nicht hinaus. Hat man den Vogel als ein Flugthier im Auge, so sind natürlich von diesem Gesichtspunkt aus diejenigen die höchsten im Range, welche am besten fliegen gelernt haben. Diese Palme kommt bekanntlich im allgemei- nen den Raubvögeln zu, obschon auch andere Ord- nungen an hervorragenden Fliegern nicht arm sind. Brehm und andere halten die Papagaien wegen ihrer

und Sängethiere. "249

Gelehrigkeit für die höchsten Vögel. Aber das alles ist Willkür und kann nur zufällig in einzelnen Thei- len der wahren, noch unbekannten Verzweigung des Vogelastes am Stammbaum der Wirbelthiere ent- sprechen.

Die ältesten Reste von Säugethieren sind aus der Trias bekannt; etwas häufiger kommen sie in den mittlern mesozoischen Schichten vor, und sie alle ge- hören Beutelthieren an. Da nun die Beutler im Ver- gleich zu den niedern Wirbelthierklassen, von denen sie abgeleitet werden müssen, sehr hoch entwickelt sind, und wir in den Monotremen (Schnabelthier und Schnabeligel) Säugethiere besitzen, welche offenbar weit unter den Beutlern stehen, so sınd wir hinsichtlich des Ursprunges der Säuger lediglich auf Vermuthungen und Schlüsse angewiesen. Diese führen auf amphibien- artige Wesen, in denen gewisse Eigenthümlichkeiten des Schädels der Säugethiere, z. B. der doppelte Ge- lenkknopf am Hinterhaupte, vorgebildet waren, und welche durch Amnios- und Allantoisbildung sich den eigentlichen Reptilien näherten. Diese Vorfahren der Säugethiere sind jedoch in keiner der jetzt existiren- den Ordnungen der Reptilien oder Amphibien noch repräsentirt. Auch der Stammbaum ($. 250), in welchem wir die genauer bekannten fossilen und die jetzt leben- den Säuger gruppiren, enthält erhebliche Lücken und beruht zu einem guten Theile auf Hypothese, gibt aber doch ein annähernd wahrscheinlich richtiges Bild über die Blutsverwandtschaft der Ordnungen und muss, verglichen mit dem System, wie es vor dem Wieder- aufleben der Descendenzlehre in den Lehrbüchern auf- gebaut wurde, als ein grosser, gedankenvoller Fort- schritt gelten.

Die auf Australien mit Tasmanien beschränkten Monotremen (Ornithorhynchus, Echidna) sind in An- betracht ihres Schädelbaues, der Beschaffenheit des Schultergürtels und der auf dem embryonalen Stadium der übrigen Säugethiere verharrenden Einmündung der

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Nager ER Sirenen Hyrax Elefanten BT Raubthiere Phoken Wale i i=| | : =} Es 8 A E Hufthiere Halbaffen RL . 8 » 8 RN (Ur - Hufthiere) (Ur-- Raubthiere

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(Placenta Säugethiere)

Beutler

Monotremen

250

der Säugethiere. | 251

Darm-, Harn- und Geschlechtswege in eine Kloake die niedrigsten Glieder ihrer Klasse, und müssen als ein Rest einer aus unbestimmbaren Zeiten in die Gegen- wart hineinragenden Abtheilung angesehen werden. Es ist zu vermuthen, dass sıch aus einer ähnlichen Stufe die Beutelthiere entwickelt haben. Die An- passungsfähigkeit dieser letztern hat sich hauptsächlich in Australien bewährt, wo die Unterabtheilungen der Ordnung, welche gewöhnlich als Familien bezeichnet werden, nach Zahnbildung und Lebensweise sich analog zu verschiedenen derjenigen Ordnungen entwickelt haben, die auf dem zweiten grossen Schauplatze der Säugethierentwickelung, auf der nördlichen Halbkugel, auftreten.

Im Skelet weit vorgeschritten vor den Monotremen bleiben sie im Fortpflanzungssystem auf einer niedrigen Stufe und theilen mit den Monotremen die Placenta- losigkeit. Die embryonalen Blutgefässe treten nämlich nicht in jene enge Beziehung zu den Blutgefässen des mütterlichen Fruchthalters, wodurch die vollständigere Ausbildung der übrigen Säuger im Mutterschose er- möglicht ist. Durch diesen Charakter und die damit verbundene Beutelbildung behufs des Austragens der unreif geborenen Jungen werden die, wie erwähnt, gleich den übrigen Ordnungen auseinander gehenden Familien der Beutler zusammengehalten.

Abgesehen also von den beiden obengenannten Ordnungen ist bei den übrigen Säugethieren der Em- bryo durch die sogenannte Placenta mit dem mütter- lichen Organismus verbunden. Die vermittels der Allantois an die Wandung des Uterus gelangenden Blutgefässe des sich entwickelnden Jungen bilden Zotten und Schlingen, zwischen welche ähnliche Auswüchse und Anhänge der Blutgefässe des Fruchthalters hinein- wachsen, sodass durch die Wandungen der sich be- rührenden Blutgefässe hindurch ein reichlicher Aus- tausch der beiderseitigen Flüssigkeiten und damit eine längere Ernährung und eine weitere, vollkommenere

959 Stammbaum

Ausbildung des Fötus stattfindet. Der höhere, in den anatomischen Verhältnissen schon meist klar ausgespro- chene Charakter der placentalen Säugethiere findet also seine Begründung in dem Vorhandensein des Fruchtkuchens. Indessen fehlen alle Zwischen- stufen, die auf den directen Uebergang von placenta- losen zu placentalen Säugern mit Sicherheit schliessen liessen. Die offenbar niedrigsten unter den placen- talen Säugethieren, die Zahnlosen (Edentaten, Bruta) stehen zu den Beutlern so ausser aller nähern mor- phologischen Beziehung, dass wir nur ganz allgemein mit dem Hinweis und der durch die geographische Verbreitung und Geologie unterstützten Wahrschein- lichkeit uns begnügen müssen, dass die Edentaten einen sehr alten Ast der Placentalien repräsentiren. Es sind, wie wir schon im zehnten Abschnitt gesehen, versprengte Ueberreste, die nur gezwungen sich in eine Ordnung fügen. Faulthier, Gürtelthier, Ameisen- fresser sind unter sich mindestens so verschieden, wie Nager, Insektenfresser und Fledermäuse. Die Descen- denzlehre bethätigt, indem sie mit diesen Bruchstücken einer untergegangenen Thierwelt nichts anzufangen weiss, nicht ihre Unfähigkeit, sondern steht wegen Mangels an Material gegenwärtig vor einer Unmög- lichkeit.

Um den Verwandtschaftsverhältnissen der übrigen Ordnungen auf den Grund zu kommen, hat die neuere Systematik, auch die Descendenzsystematik, grosses Gewicht auf die An- oder Abwesenheit der sogenann- ten Decidua legen zu müssen geglaubt. Dies bedarf einer kurzen Erörterung. Bei zahlreichen Ordnungen der Säuger wachsen die gefässreichen Wucherungen und Zotten der Wandung des Fruchthalters so fest in den fötalen Theil der Placenta hinein, dass bei der Geburt diese gesammte Hautschicht des Fruchthalters sich ablöst und mit ausgestossen wird. Bei den an- dern legen sich die beiderseitigen Gefässzotten nicht so eng aneinander, sie weichen bei der Geburt ohne

_ der Säugethiere. 208

‚grössere Zerreissungen, und es wird mithin keine ab- fallende Haut (Membrana decidua) ausgestossen. Nun sind, wie mir scheint, die speciellen Verhältnisse der Deciduabildung noch viel zu wenig verglichen, als dass man von der blossen Thatsache, dass Theile der Wan- dung des Fruchthalters bei dem Geburtsacte verloren gehen, auf nähere Verwandtschaft schliessen müsste. Vielmehr muss von vornherein zugegeben werden, dass ab- hängig von Nebenumständender verschiedensten Art, und daher bei entfernt verwandten oder überhaupt nur als placentale Säuger verwandten Ordnungen, eine Deci- -dualbildung auftreten könne. Wir halten daher die Decidua für ein untergeordnetes systematisches Moment, wo anatomische und morphologische widersprechen. Wir gehen noch weiter. Die neuere Systematik be- nutzt auch die Form der Placenta zur Gruppirung der Ordnungen. Wenn man nun unter den Deciduaten als Ordnungen mit scheibenförmiger Placenta die Halb- affen, Nager, Insektenfresser, Fledermäuse und Affen zusammenstellt, so wird diese Vereinigung allerdings durch eine Reihe anderer Gründe gestützt, und es ist alle Wahrscheinlichkeit, dass die Form der Placenta innerhalb dieser Ordnungsgruppe auf Homologie, d. i. auf Abstammung beruht. Wenn aber ferner als Ord- nungen mit gürtelförmiger Placenta aufgeführt werden die Raubthiere, Elefanten und die Klippschliefer (Hyrax), so befinden wir uns in derselben Lage, wie da, wo die Decidua über die nähere Zusammengehörigkeit entscheiden sollte, und meinen, dass die untergeordnete Form der Placenta auf verschiedenem Wege in analoger Weise zu Stande kommen konnte, gleich wie sie inner- halb der sicher begründeten Abtheilung der Hufthiere zu verschiedenem Aussehen sich entwickelt hat. Wir können, um unsere Ansicht mit einigen Beispielen zu belegen, allerdings über die Abstammung der Rüssel- träger nichts Sicheres angeben. Dass jedoch durch die übliche Zusammenstellung wegen der gürtelförmigen Placenta absolut nichts gesagt ist, ist ebenso sicher.

254 Stammbaum Man wird aber der Wahrheit näher kommen, wenn man den Zweig unbekannten Ursprunges schematisch demjenigen der Hufthiere näher bringt, als demjenigen der Raubthiere. Wenn man nun ferner die Wale als deci- dualose Säuger den Hufthieren näher verwandt hält als die Carnivoren, welche eine Decidua haben, so entscheidet dieser Umstand in unsern Augen nicht, da gewichtigere Gründe dafür sprechen, dass von raubthierähnlichen Gat- tungen aus die Entwickelung der Wale begonnen hat. Schon in der Darlegung der geographischen Ver- breitung der Thiere hatten wir Gelegenheit, uns von Rütimeyer über die Verwandtschaftsverhältnisse, nament- lich der Hufthiere, unterrichten zu lassen. Für keine

Nashorne Tapire E | \ Hipparion | Macrauchenia Anchitherium 1} Paläotheriden

andere Abtheilung liegt ein so reiches fossiles Material vor. Wir treffen in den ältern Tertiärschichten die Reste zweier Hufthierfamilien an, der Paläotheriden und Anoplotheriden, welche wesentlich in der Be- zahnung sich unterscheiden und der Ausgangspunkt der heute zum Theil sehr isolirt erscheinenden Gruppen der Hufthiere gewesen sind. Die Wurzel, auf welche jene beiden Familien zurückführen, ist unbekannt, da- gegen erhellt theils aus der directen Vergleichung der betreffenden Gattungen mit den heutigen Hufthieren, theils durch zahlreiche Mittelglieder aus dem Miocän,

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der Säugethiere. 255

Plioeän und Diluvium, dass mit der Zeit die die Gegen- wart charakterisirende Spaltung eintrat und durch das Aussterben der Mittelglieder die scheinbare Isolirung hervorgebracht wurde. Durch dieselbe wurde die ältere Systematik veranlasst, drei Ordnungen von Hufthieren: Vielhufer, Zweihufer, Einhufer, aufzustellen. Der aus den Paläotheriden erwachsene Specialstammbaum um- fasst von den heutigen Hufthieren die Pferde, Ta- pire und Nashorne. Ganz direct ist der Uebergang vom Paläotherium in das Pferd zu verfolgen, und zwar in den beiden wichtigsten Charakteren, den Zähnen und den Füssen. In Anchitherium und Hipparion voll-

Fig. 26. Fussskelet von Anchitherium (P), Hipparion (Z) und Pferd (E).

zieht sich die Umwandlung des dreizehigen in das einzehige Hufthier, und Rütimeyer’s glänzende Unter- suchungen haben gezeigt, wie im Milchgebiss jeder Gattung das definitive Gebiss der Stammgattung sich wiederholt, und in der Ontogenie die Phylogenie einen unzweideutigen Ausdruck findet. Anchitherium ist ein dreizehiges Pferd, dessen Mittelzehe jedoch schon die Hauptaufgabe übernommen hat. Bei Hipparion aber sind die beiden seitlichen Zehen dem Boden gänzlich entrückt und werden im Nichtgebrauch der beim Pferde vollendeten Verkümmerung entgegengeführt.

256 | Stammbaum

Die Tapire sind in der Beschaffenheit der Backzähne dem Stammtypus am treuesten geblieben. Der Um- stand, dass der Tapir vorn vier Zehen hat, während die uns bekannten Paläotherien drei besitzen, beweist jedoch, dass nicht die Gattung Paläotherium selbst der Stammvater der Tapire sein kann. Denn die An- nahme, dass der Tapir die vierte Zehe erworben habe, widerspricht aller Erfahrung über die Extremitäten- bildung. Auch die Rhinocerote sind vorn vierzehig und es wird ihre nähere Verwandtschaft mit den Ta- piren durch den Zehenbau und eine Reihe von Einzel- heiten des Skelets bewiesen.

Flusspferde Schweine Traguliden Hirsch e Antilopen Rinder

\

Anoplotheriden

Eine isolirte Abzweigung der Paläotheriden scheint die fossile Gattung Macrauchenia zu sein, welche Merkmale der Pferde und der Rhinocerote mit denen der Kamele verbindet. Inwiefern die letztern als Wiederkäuer etwa direct mit den Macrauchenien zu- sammenhängen, oder ihre den Pferden sich nähernde Schädelbildung auf wahre Homologien hinweist, lässt sich zur Zeit nicht sagen.

Auch die Anoplotheriden zeichnen sich durch eine gewisse Indifferenz des Zahnbaues aus, von wo eine Reihe von Specialbildungen nach verschiedenen Rich- tungen ausgehen konnten. In gerader Linie stammen

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der Säugethiere. >57.

von ihnen die Traguliden ab, eine kleine Gruppe, welche den Moschusthieren ähnelt und auf Südafrika ‚und Südasien beschränkt ist. Als Wiederkäuer schliessen sie sich enger an die übrigen bekannten typischen Ruminantien an, auf der andern Seite nehmen sie eine vermittelnde Stellung zu den übrigen nicht wieder- käuenden und in der Vorwelt mit jenen durch die Anoplotheriden vereinigten Mitgliedern der ganzen Ab- theilung ein. Die Suiden oder schweineartigen Thiere waren in der Eocän- und Miocänzeit sehr reich vertreten. Einem Seitenast dieser zu den Ano- plotheriden hinablangenden Vorgänger entstammen die Flusspferde oder Hippopotamiden. Die Function des Wiederkäuens ist bekanntlich an eine complicirte Structur des Magens gebunden, sowie an besondere Vorrichtungen der Schlundrinne. Es lässt sich natür-

lich nicht bestimmen, bei welchen fossilen Thieren _

diese Einrichtungen begonnen haben, doch scheint es sehr früh geschehen zu sein, indem möglicherweise der zusammengesetztere Bau einiger nicht wiederkäuenden Gattungen, wie von Hippopotamus und dem Nabel- schwein, von den Zeiten der Anoplotheriden her ererbt sind, und die so augenfällige Uebereinstimmung der wiederkäuenden Traguliden mit den Anoplotherien letztere mit ziemlicher Sicherheit zu Wiederkäuern stempelt.

Sehen wir von den schon oben erwähnten, ihrer Stellung nach unsichern Kamelen ab, so zerfallen die typischen Wiederkäuer in die hirschartigen und in die hörnertragenden. Durch die ungehörnten Moschus- thiere sind die Hirsche mit den Traguliden und den ältern Gattungen verbunden. Einen Seitenzweig bil- den die Giraffen. Wenn aber auch in dem der Giraffe nahe stehenden, einst auf athenischem Boden heerdenweise lebenden Helladotherium und in dem in den Vorbergen des Himalaya gefundenen kolossalen Sivatherium die in der Jetztwelt ganz unvermittelte SCHMIDT, Descendenzlehre, I%

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958 Stammbaum °

Stellung der Giraffe etwas ausgeglichen wird, bleibt das Nähere ihrer Abstammung doch noch sehr unklar.

Von den Antilopen zu den sich eng an sie an- schliessenden, voneinander kaum zu trennenden Gat- tungen Ziege und Schaf, sowie zu den Rindern bieten sowol die systematische als die paläontologische Reihe, als auch die ontogenetischen Stufen diejenigen Uebergänge dar, aus denen die Stammverwandtschaft unwiderleglich hervorgeht. Höchst interessant ist, ausser den auch hier von Rütimeyer im Detail verfolgten Beziehungen des Milchgebisses der Tochtergattungen zu den Stammgattungen, die allmähliche Umgestaltung des Schädels, welche in den Rindern ihr Extrem erreicht, und von Antilope und Schaf durch Ovibos, Bubalus (Büffel), Bison (Auer), zu Bos (Ochs) fortschreitet. Im letztern erreicht die steile Stellung der Scheitelbeine ihren äussersten Grad, und diese Umgestaltung des Antilopenschädels wiederholt sich individuell im Kalbe.

Die gewöhnliche Zusammenstellung der Sirenen ‘oder Seekühe mit den Walen war entschieden ein systematischer Misgriff, hervorgegangen aus der ein- seitigen und dazu nur oberflächlichen Berücksichtigung der Bewegungsorgane. Alle übrigen charakteristischen Merkmale, vor allen Dingen der Bau des Schädels und die Beschaffenheit der Zähne entfernen sie ebenso von den Walen, als sıe dieselben den Hufthieren nähern. Wir haben schon ım Flusspferd ein fast zum Wasser- thier gewordenes Mitglied dieser Ordnung. Von an- dern unbekannten und wahrscheinlich sehr früh ab- gezweigten Gattungen ausgehend, haben wir uns die Entstehung der Sirenen zu denken.

Eine sehr ungewisse Stellung nehmen die Hyra- coiden ein, gegenwärtig nur durch einige Arten der Gattung Klippdachs (Hyrax) repräsentirt. Wenn man sagt, dass ihre Merkmale theils an die Hufthiere, theils an die Nager, theils an die Insektenfresser erinnern, so ist damit keine Aufklärung gegeben. Bei der grossen Wichtigkeit, welche die Backzähne für die

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der Säugethiere. b 959 Entscheidung der Abstammung haben, ist wol der grösste Nachdruck auf die Aehnlickeit derselben bei Hyrax mit denen des Nashorns zu legen, und wir be- trachten mithin die Klippdachse als einen Ableger eines alten Hufthierstammes. Hinsichtlich der Vorfahren der Rüsselträger ent- halten wir uns jeder Vermuthung. Später als die Pflanzenfresser scheinen die Fleisch- fresser und insonderheit die Raubthiere auf dem Schauplatz der arktischen Thierwelt erschienen zu sein.

Gibt man die Möglichkeit zu, wie man wol nicht

anders kann, dass Placentabildungen auf verschiedenem Wege entstanden sind, so liegt auch die Möglichkeit vor, dass die Fleischfresser, und freilich auch andere Ordnungen, wie namentlich die Nager, directe Ab- kommen fleischfressender Beutler sind. Die ältesten bekannten Raubthiere sind katzenähnlich oder gleichen den Viverren und Hyänen. Dann kommen die Hunde, und am spätesten die Bärenartigen. Ein Seitenast sind die Seehunde nach Schädel, Gebiss und Ex- tremitäien. Ohne dass an eine speciellere Verwandt- schaft der ÖOttern mit den Robben gedacht werden kann, erleichtert doch die Vergleichung dieser bei- den miteinander die Vorstellung, wie aus wahren Raubthieren und Landthieren die seltsame Gestalt der Seehunde hervorgehen musste.

Wenn sich unsere oben ausgesprochene Vermuthung, dass die Zerreissungen und Abstossungen im Bereiche der Placenta, welche die Erscheinung der Decidua bilden, in stammverwandten Gruppen sehr verschieden- artig ausfallen und in nicht näher verwandten ähnlich werden können, bestätigen sollte, so würden in un- serm Stammbaume die Wale in der Nähe der Raub- thiere ihren Platz finden. Zwischen einem Löwen und einem Bartenwal liest freilich in Winkelform eine un- übersehbare Anzahl von Zwischenformen. Wir haben uns aber immer gegenwärtig zu halten, dass es sich nicht um die Ueberbrückung der Lücken zwischen den

TIEF

260 Stammbaum

heutigen, die Enden der Entwickelungsreihen vor- stellenden extremen Formen handelt, sondern um das Auffinden der Ausgangs- und Knotenpunkte. Fossile

walartige Thiere kennt man aus der Tertiärzeit, so

Zeuglodon und Squalodon. Die vorzüglich erhaltenen Reste der erstern kolossalen Gattung werden in Berlin aufbewahrt, wo Johannes Müller ihre Beziehungen theils zu den Robben, theils zu den Walen entdeckte. Die Bezahnung ist robbenartig, im Skelet manches wie bei den Walen, und obgleich den Zeuglodonten eine grosse Reihe von Arten vorangegangen, und eine, wenn auch weniger lange, doch immer noch ansehnliche Reihe gefolgt sein muss, ehe die heutigen Wale daraus hervorgingen, so erscheint eine solche Entwickelung doch höchst wahrscheinlich und natürlich. Die ältern Glieder der eigentlichen Wale sind, wegen der noch vollständigen Bezahnung und der noch verhältniss- mässigen Dimensionen des Schädels, die Delphine.

Ihnen haben sich die Potwale oder Physeteren an-

geschlossen, und das späteste Glied sind die Barten- wale. Das geht daraus hervor, weil die Barten sich erst dann entwickeln, nachdem in den Kiefern des

Embryo hinfällige Zähne zum Vorschein gekommen

waren, ein Erbtheil von den reichlich und zeitlebens bezahnten Vorfahren.

In den sogenannten Halbaffen oder Lemuriden vereinigt das System die heterogenen Reste einer Thier- gesellschaft, welche man wegen der greifenden, mit einem opponirbaren Daumen versehenen Hinterfüsse für Ördnungsgenossen der „eigentlichen“ Affen hielt. Das

sie zusammenhaltende Band ist nicht ihre anatomische .

Beschaffenheit sie gehen in Schädelform und Be-

zahnung weit auseinander —, sondern mehr ihr geogra-

phisches, auf Madagascar und einige vorgeschobene

Posten Asiens beschränktes Vorkommen; auch hat man sich, was allerdings sehr unwissenschaftlich, durch einen gewissen besonders fremdartigen Eindruck, den sie auf den Beobachter machen, leiten lassen. Ihre Gehirn-

ee © m r 7 RE | der Säugethiere. 261

beschaffenheit weist ihnen auf der Leiter der Säuge- thiere eine sehr tiefe Stufe an. Da sie nun nicht in ihrer Gesammtheit Beziehungen zu einer bestimmten Ordnung der Säuger zeigen, sondern nach den ein- zelnen Gattungen auf diejenigen Ordnungen weisen, welche allesammt mit ihnen eine kreisförmige Placenta besitzen, so sprechen die meisten Gründe für die An- nahme, dass die jetzt lebenden Lemuriden die letzten wenig veränderten Ausläufer einer einst viel reicher entfalteten Abtheilung der Säugethierwelt, und dass Nager, Insektenfresser, Fledermäuse und Affen Zweige dieses Astes sind.

Die Nager sind darum besonders interessant, weil sie mit zäher Festhaltung der höchst charakteristisch ausgebildeten und von mehrern Eigenthümlichkeiten des Schädels begleiteten Bezahnung die ausserordent- lichste Anpassungsfähigkeit an Baum und Steppen- boden, Land und Wasser zeigen. Die Insekten- fresser, obwol nicht entfernt so reich an Arten, bieten ein ähnliches Bild der Anpassungen dar, wodurch ihre Gattungen gleichsam zu Wiederholungen von Na- gern geworden sind; und die Fledermäuse können in ihrer am zahlreichsten vertretenen Abtheilung als ein Seitenzweig der Insektenfresser angesehen werden, wenn sie nicht direct aus halbaffenähnlichen Thieren hervorgegangen sind.

Zu welcher geologischen Periode die Herausbildung von Affen aus lemuridenartigen Formen geschehen, wissen wir nicht. Die wenigen bekannt gewordensn fossilen Affen gehören höhern Affenfamilien an und setzen eine lange Reihe von Ahnen voraus. Zu derselben Voraussetzung nöthigt die geographische Isolirung der amerikanischen von den altweltlichen Affen, welche mit erheblichen anatomischen Differenzen verbunden

ist, ohne dass es dem Zoologen und vergleichenden

Anatomen einfallen könnte, ihre engste systematische Zusammengehörigkeit zu leugnen,

RE EU

262 Der Mensch ‚als Object

Das Verhältniss der niedrigern Affen zu den höhern bedarf noch weiterer Erörterungen, welche wir mit der Besprechung des Verhältnisses des Menschen zu den Affen verbinden. |

XI. Der Mensch.

Wenn Goethe einmal äussert: „Wir tasten ewig an Problemen. Der Mensch ist ein dunkles Wesen; er weiss wenig von der Welt und am wenigsten von sich selbst‘ 78, so wiederholt er ungefähr, was J. J Rousseau ım Emil sagt’®: „Wir haben keinen Massstab für diese ungeheuere Maschine (der Welt); wir können die Be- ziehungen derselben nicht der Rechnung unterwerfen; wir kennen weder ihre Grundgesetze noch ihren End- zweck; wir kennen uns selbst nicht; wır kennen weder unsere Natur, noch das in uns thätige Princip.“

Solche und ähnliche Citate hält man uns gern ent- gegen, um damit die Behauptungen über die Beschränkt- heit unsers Erkenntnissvermögens und die Grenzen der Wissenschaft mundgerecht zu machen und zu be- kräftigen. Allein dem vortrefflichen J. J. Rousseau können wir in der Anthropologie unmöglich eine grössere Autorität als einem Kirchenvater beimessen, und dem Goethe, dessen gelegentlich hingeworfene Worte Ecker- mann der Nachwelt überliefert, stellen wir den andern Goethe entgegen, welcher im Vollgefühl der Jugend- kraft ausruft:

Freue dich, höchstes Geschöpf der Natur, du fühlest dich fähig Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang, Nachzudenken 80

und welcher die schönste Organisation, wie er den Menschen nennt, in völliger Harmonie mit jenem höch- sten Gedanken begreift.

der Abstammungslehre. a0

- Unsern bisherigen Betrachtungen und Ausführungen würde der Abschluss mangeln, sollte der Mensch aus- geschlossen sein, sollte nicht alles, was über Werden und Zusammenhang der Thierheit gesagt ist, auch für die Erkenntniss seines Wesens unmittelbar verwandt werden können und müssen. Alles Unbehagen an der Abstammungslehre, der Zweifel an derselben, der Zorn _ über sie concentrirt sich auf ihre Anwendbarkeit und vollzogene Anwendung auf den Menschen. Und wenn man uns auch nothgedrungen die Leiblichkeit preisgibt, so soll wenigstens die geistige Sphäre des Menschen ein Unerforschliches, ein Noli tangere für die Natur- forschung sein. Vor einigen Jahren noch hatten die Gegner der Descendenzlehre den Trost, dass Darwin selbst über den Menschen sich nicht direct ausgespro- chen. Man eiferte über seine Anhänger, welche Dar- win überdarwint hätten. Dazu kam das unglückselige Misverständniss, als ob die Vertheidiger der Descen- denzlehre das Menschengeschlecht aus der Veredlung vom Orang, Schimpanse oder Gorilla, kurz, von noch lebenden Affen hervorgehen liessen.

Aber jeder einigermassen logische Denker musste _ vom ersten. Auftauchen der darwinistischen Lehre an den Menschen ebenfalls als veränderlich und aus der Veränderlichkeit der Arten hervorgegangen ansehen; und nun hat uns auch Darwin in seinem Werke „Ueber die Abstammung des Menschen“ gesagt, warum. er diesen selbstverständlichen Schluss nicht schon in sei- ner ersten Schrift ausgesprochen habe:, er wollte da- durch nicht die Vorurtheile gegen seine Ansicht ver- stärken und herausfordern; er verschwieg den Schluss als ein Kenner der menschlichen Schwachheit. „Es schien mir hinreichend‘ , sagt er, „in der ersten Aus- gabe meiner «Entstehung der Arten» darauf hinzuwei- sen, dass durch dies Buch Licht auf den Ursprung des Menschen und seine Geschichte geworfen werden würde, und. dies’ schliesst doch den Gedanken ein, dass der Mensch mit andern organischen Wesen: bei jedem all-

264 a Vorläufige = 2 ER

gemeinen Schlusse in Bezug auf die Art seiner Penn nung auf der Erde inbegriffen sein müsse.“

Ja, noch weiter ist nun Darwin selbst gegangen; « er hat zum Entsetzen aller, die sich den Menschen kaum anders als rasirt und mit dem Complimentirbuch er- schaffen denken können, ein allerdings nicht schmeichel- haftes und in manchen Stücken vielleicht auch nicht zutreffendes Porträt unserer muthmasslichen Vorfahren entworfen, auf der Stufe, wo die Menschwerdung erst im Zuge.

Ehe wir das ernste Thema ernst behandeln, ge- statten wir uns, ein leichteres Urtheil eines geistreichen Feuilletonisten voranzustellen.° ‚Nehmen wir, blos zum Scherz, an, die Natur, welche wir immer und überall vom Einfachsten bis zum Zusammengesetzten, vom Niedrigen zum Höhern schreiten sehen, hätte die- sem Gesetze nicht angesichts des Menschen plötzlich entsagt; sie hätte seinetwegen nicht ihre Entwickelung plötzlich aufgegeben; sie hätte in ihm nicht plötzlich eine neue Schöpfung begonnen, sondern sie wäre hierbei wie bei allem übrigen hübsch sachte, allmäh- lich, natürlich vorgegangen, und der Mensch wäre demnach nichts als das letzte Glied der endlosen Reihe von Thieren, nichts als ein «entwickelter Affe». Das Erste, was sich uns dann aufdränge, würde die Be- merkung sein, dass in den Thatsachen dadurch nicht das Geringste geändert sei, dass der Mensch ganz der- selbe bliebe, der er ist, mit derselben Gestalt, dem- selben Gesicht, demselben Gang, denselben Geberden, denselben Anlagen, Kräften, Gefühlen, Gedanken, und mit derselben Herrschaft über den Affen, wie bisher. Dies ist sehr einfach, sehr selbstverständlich, aber auch sehr wichtig. Denn es gibt ihm, dem Menschen, die starke Empfindung davon, dass er, sowie er jetzt ist, ein ganz eigen geartetes, auch von den verwandtesten Geschöpfen sehr verschiedenes Wesen, und dass diese Eigenart zugleich sein eigenstes Eigenthum ist, er mag es nun als ein fertiges Geschenk empfangen oder

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"Folgerungen. | - 265

es aus einem niedern Zustande mühsam in Jahrzehn- tausenden herausgearbeitet haben. Ist nun aber seine gegenwärtige Beschaffenheit durch seinen (vorausgesetz- ten) thierischen Ursprung nicht im geringsten beein- trächtigt, so können auch seine Ziele und Aufgaben, seine Bestrebungen und Berufsarten, kurz seine ganze Zukunft keine andere sein, als er sie sich seinem gan- zen Wesen nach vorstellen und denken muss. Oder sollte der gebildete Theil der Menschheit durch den Gedanken, vom Affen abzustammen, wirklich so tief entmuthigt werden können, dass er, an der Möglich- keit verzagend, seine Bildung, welche ihm keineswegs als reife Frucht in den Schos fiel, sondern die er sich schwer errungen hat, aufrecht zu erhalten und fort- zuführen, seinen Handel und Wandel, seine Rechts- und Staatsformen, seine Kunst und Wissenschaft auf- gäbe und sich zu dem Austral-Neger herabsinken liesse? Dass er das, wodurch er sich über den Affen so hoch erhoben hat und immer höher erhebt, fahren liesse, weil es ihm einst schwer geworden, sich auch nur um eines Haares Breite über jenen zu erheben? Aber welcher von der Natur zum Herrscher bestimmte Mann hätte deshalb nach der Krone nicht gegriffen, weil sein Vater ein Knecht gewesen? Oder welcher geborene Rafael hätte deshalb Pinsel und Palette weg- gelegt, weil sein Erzeuger das Handwerk eines An- streichers ausgeübt? Die Menschheit wird, wie jeder einzelne, ihre Kräfte üben und ausbilden, weil sie sie hat, nicht weil sie sie von da oder dort her hat.“ Wir geben solchem flüchtigen Sprühfeuer sein Recht, verlangen aber eingehendere Begründung, um das End- urtheil schöpfen zu können. Denjenigen, welche sich in die Descendenzlehre vertiefen, ist die Anwendung derselben auf den Menschen ein einfacher Deductions- fall aus einem fallgemeinen, durch die Methode der Induction gewonnenen Gesetze. Wie Goethe den Zwi- schenkiefer für den Menschen postulirte, noch ehe er ihn gesehen und nachgewiesen, so muss die Descendenz-

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266 Wesen der Menschheit. ER

lehre alle ihre Resultate und mehr oder weniger schon klar gelegten Gesetze auf den Menschen übertragen. Die Jnduction wurde durch die gehäuften, sich decken- den, controlirenden und bestätigenden Beobachtungen der vergleichenden Anatomie, der Entwickelungsge- schichte und Paläontologie bewerkstelligt. Es bleibt daher für alle, welche der Wunderglaube und die Unterwerfung unter die Annahme einer Offenbarung nicht befriedigt, nichts übrig, als die Abstammungs- lehre. Dieselbe auf den Menschen anzuwenden, ist nicht gewagter, ist vielmehr ebenso innerlich noth- wendig, als wenn wir Zoologen danach irgendeinen bisher unbekannten Polypen, einen Seestern, eine Maus beurtheilen. Unsere Gegner verneinen das. Der Mensch habe Eigenschaften, welche ihn absolut vom Thier trennen und die Anwendbarkeit der Descendenzlehre, dieselbe überhaupt vorausgesetzt, in diesem einen Falle ausschliessen. Dieser sehr oft zu hörenden Behaup- tung setzen wir zunächst eine allgemeine Bemerkung, die Auffassung des menschlichen Wesens betreffend, entgegen. _ |

Man pflegt zu übersehen, dass man, ganz abgesehen von der Gültigkeit der Abstammungslehre oder von deren Existenz überhaupt, einer merkwürdigen Inconsequenz hinsichtlich des Begriffes der Menschheit sich schuldig ge- macht hat. Die Philosophie der Geschichte hat das Wesen der Menschheit in die Veränderlichkeit, nämlich in das Vermögen zum Fortschritt gesetzt. Wenn man . aber irgendwelche untrennbare Abhängigkeit des Gei- stigen vom Körperlichen zugab, wie es, eine extreme spiritualistische Richtung ausgenommen, geschah, so war doch die Vervollkommnung des Geistesvermögens des Menschengeschlechtes nicht denkbar ohne eine ge- wisse damit parallel laufenden Umbildung des körper- lichen Substrates, welche über die Grenzen der blossen Variabilität hinausging. Selbst unter der Voraussetzung, dass der Geist sein Organ, das Gehirn, sich selbst bilde, hätte man den specifischen Begriff des Menschen

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EN | Der Leib des Menschen. 267

in die Fähigkeit auch zur körperlichen Vervollkomm- nung gegenüber der vermeintlichen Starrheit des thie- rischen Organismus setzen müssen. Denn im Princip ist es ja einerlei, ob Arme und Beine sichtbar, oder ob die Moleculen der Gehirnsubstanz für das Auge un- sichtbar sich verändern. Wir holen also nur eine Versäumniss der Philosophie nach, wenn wir der kör- ‚perlichen Veränderlichkeit des Menschen diejenige Aus- dehnung zuerkennen, welche ihr aus der Anwendbar- keit der Descendenzlehre auf den besondern Fall zukommt.

Die leibliche Uebereinstimmung zwischen Mensch und Thier lässt für die Abstammungslehre wenig zu wünschen übrig, sodass die. Befürchtung des Mephistopheles, es möchte dem grübelnden Menschen am Ende noch vor seiner Gottähnlichkeit bange wer- den, viel eher auf die Thierähnlichkeit angewendet werden könnte. Der menschliche Leib, wie der jeden Thieres, weist in seiner Ausbildung auf ein Heraus- arbeiten aus der indifferenten zur specificirten Form. Und wenn die Gesammtanlage des Körpers, die Ent- wickelung der einzelnen Organe dem Menschen mit allen Säugern, und in den frühern Stadien des embryo- nalen Zustandes mit allen Wirbelthieren gemein- ist und auf diese allgemeine Verwandtschaft führt, so stellt uns das Vorhandensein einer kreisförmigen Placenta, insofern wir nicht eine besondere wiederholte Neu- ‚schöpfung dieses Entwickelungsorganes belieben, wobei der Schöpfer sich an das Muster der Placenta der Halbaffen, Nager, Insektenfresser, Fledermäuse und Affen gehalten hätte, vor die Alternative, dass ent- weder bei der natürlichen, uns unbekannten Entwicke- lung des Menschen der Zufall oder eine ganz andere Kette von Ursachen zur kreisförmigen Placenta, wie dort, geführt habe, ‘oder dass die Uebereinstimmung in der Blutsverwandtschaft mit den discoplacentalen Säugern ihren Grund habe. Wir haben oben ($. 253) unsere Bedenken ausgesprochen dagegen, dass man aus

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Ä 268 Anatomischer Vergleich‘

der oberflächlichen Uebereinstimmung der Placenta auf die Verwandtschaft von Säugethierordnungen mit Sicher- heit schliessen könne, haben uns daher hier, wo wir auf die Uebereinstimmung der menschlichen mit der Affenplacenta Gewicht legen, zu rechtfertigen. Die obengenannten Ordnungen besitzen sämmtlich eine Placenta von geringerer Ausdehnung und scheibenför- miger Gestalt. In der Form dieser Scheibe und in der Vertheilung und Anzahl der Blutgefässe im Nabel- strange, wodurch die fötale Athmung und Ernährung vermittelt wird, kommen mancherlei Varietäten vor. So zerfällt in der Familie der pithecoiden Affen die Placenta in zwei Scheiben, während die Nabelstrang- gefässe mit denen des Menschen übereinstimmen; bei den amerikanischen Affen dagegen ist die Placenta einfach und die Gefässe verhalten sich abweichend. Ueber diese Organe beim Orang und Gorilla wissen wir nichts; aber der Schimpanse stimmt darin mit dem Menschen überein, dass er eine einfache scheibenför- mige Placenta hat mit zwei zuführenden Gefässen (2 arteriae umbilicales) und einem zurückführenden (vena umbilicalis).

Bei allgemeiner Gleichförmigkeit der menschlichen Placenta mit derjenigen der discoplacentalen Säuger steht der Mensch speciell wenigstens einem der so- genannten anthropomorphen Affen näher, als dieser den übrigen Affen. Und so ist allerdings die Beschaffen- heit der Placenta von grosser Bedeutung für die Be- urtheilung der systematischen Stellung des Menschen. So ungeheuer unwahrscheinlich jener oben in Betracht gezogene Zufall, so wahrscheinlich, so einzig annehm- bar ist die Blutsverwandtschaft, und mit Berücksich-

tigung der gesammten Organisation muss bei einer

speciellen Vergleichung des Menschen mit den Säuge- thieren der Affe in den Vordergrund treten.

Diese Vergleichung ist ausgezeichnet durchgeführt worden von Huxley und Broca.°* Der letztere hat sich die Aufgabe gestellt, abgesehen von allem Prin-

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nn re Ze E des Menschen mit dem Affen. 269

eipienstreit und unbekümmert um die Abstammungs- ‚lehre, als rein beschreibender Anatom und Zoolog zu untersuchen, ob die anatomische Beschaffenheit des Menschen, verglichen mit derjenigen der Affen, nach aligemeinen zoologischen Grundsätzen die Vereinigung beider zu einer Ordnung Primaten rechtfertige. Huxley zeigt, dass die anthropomorphen Affen (Gibbon, Schimpanse, Orang, Gorilla) von den niedrigen Affen viel mehr abweichen als vom Menschen, und dass, wenn man sich zur Annahme der Blutsverwandtschaft sämmtlicher Affen unter sich genöthigt sieht, die ge- meinsame Abstammung der anthropomorphen Affen und des Menschen mindestens ebenso natürlich sei.

Zwischen den Endgliedern der systematischen Affen- - gruppen, z. B. zwischen den amerikanischen Sahuis und den altweltlichen Pavianen und den Anthropo- morphen, bestehen höchst erhebliche Differenzen, sowol in der Beschaffenheit der Gliedmassen und der andern Theile des Skelets sammt der dazu gehörigen Weich- theile, namentlich der Muskulatur, als in der Bezah- nung und Gehirnbildung. Es ist falsch, die Affen Vierhänder zu nennen, vielmehr trıtt innerhalb der Ordnung der Affen der Gegensatz zwischen Hand und Fuss in ihren ‘wesentlichen anatomischen Attributen hervor, und hat bei den anthropomorphen Affen, am entschiedensten beim Gorilla, fast dieselbe Ausprägung, wie beim Menschen.

Der durch seine sorgfältigen Schädelmessungen be- kannte Anatom Lucä will in der Stellung der Schädel- achse eine höchst wichtige Marke zwischen Menschen und Affen sehen. Bei den Affen nämlich liegen die drei, die Schädelachse bildenden Knochen, unteres Hin- terhauptsbein und die beiden Keilbeine, fast in einer Linie gestreckt, während beim Menschen eine doppelte Knickung dieser Achse eintritt; und zwar vergrössern sich mit dem Alter bei den Affen die Winkel, welche beim Menschen kleiner werden, und umgekehrt. Auch stellt sich das Hinterhauptsloch beim Menschen mit

270 * Anatomischer Vergleich

dem Alter horizontaler, beim Affen steiler. Allein das alles zeigt nur, was die Descendenzlehre behaup- tet, dass beide Reihen, Affe und Mensch, auseinander- gehen und die jugendlichen Individuen sich mehr gleichen als die alten, dass der Affe, indem er wächst, thierischer, der Mensch, wie schon das Räthsel der Sphinx andeutet, menschlicher wird. Die Kniekung des Grundbeines und die horizontale Stellung des Hinter- hauptsloches hat den aufrechten Gang im Gefolge, womit die völlige Scheidung von Hand und Fuss sich vollzieht. Jene Knickung der Schädelachse mag daher immerhin als menschlicher Charakter den Affen gegen- über hervorgehoben, ein besonderer Ordnungscharakter kann daraus schwerlich abgeleitet werden, und zumal für die Abstammungsfrage scheint uns dieser Umstand nicht im geringsten entscheidend zu sein. |

Die anthropomorphen Affen stehen nicht nur in Be- ziehung auf Hand und Fuss, sondern auch auf Gebiss und Gehirnbildung dem Menschen viel näher als jenen niedrigen, den breitnasigen neuweltlichen Affen. Diese nämlich haben sechs Backzähne und ihr Gehirn zeigt die Unvollkommenheiten des Gehirns der Halbaffen und der Nagethiere. Mit den Affen der Alten Welt haben dagegen die anthropomorphen Affen fünf Back- zähne, und jeder Theil des menschlichen Gehirns, bis auf den kleinen Pferdefuss, ist bei ihnen auch vor- handen. Der Streit um diesen unbedeutenden Hirn- theil, welchen R. Owen als ein ausschliesslich mensch- liches Merkmal ansprach, hat nur noch ein historisches Interesse, nachdem es mit dem hintern Horne der seitlichen Hirnhöhlen durch eine Reihe der ausgezeich- netsten Anatomen bei Orang und Schimpanse nach- gewiesen ist. Und so bleiben für denjenigen, welcher von der Hoffnung auf specifische Unterschiede zwischen Menschen- und Affenhirn nicht lassen will, nur die an der Oberfläche des grossen Gehirnes befindlichen Furchen und Erhebungen, die sogenannten Gehirn- windungen übrig. Aber auch hier sucht man vergeblich

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des "Menschen mit dem Affen. 971

nach fundamentalen Unterschieden, wofern man nicht darauf das Hauptgewicht legen will, dass beim mensch- lichen Embryo die Faltung des Gehirns mit den Stirn- lappen, beim Affen mit den Schläfenlappen beginnt. Die constanten, allen menschlichen Gehirnen gemein- samen Hauptwindungen zeigen sich auch bei Orang und Schimpanse. Diese Windungen verlieren sich, oder vielmehr sind unvollkommener vorhanden bei den, den Anthropomorphen näher stehenden Affen, sie fehlen ganz bei den Ouistitis. So gross aber ist die Aehn- lichkeit der Gehirnoberfläche der beiden genannten Affen mit der des Menschen, dass es, wie Broca sagt, „des Auges eines geübten Anatomen bedarf, um nach Zeichnungen, welche auf dieselbe Grösse reducirt sind, ihr Hirn von menschlichen Hirnen zu unterscheiden besonders wenn man zu Vergleichsobjecten Hirne von Negern oder Hottentotten nimmt, die einfacher sind als die der Weissen“. Einen äussersten Versuch zur Rettung specifischer menschlicher Hirncharakter machte der zu früh verstorbene pariser Anatom Gratiolet. Der Mensch sollte sich durch eine der sogenannten Uebergangsfalten unterscheiden. Diese Uebergangs- falten sind Windungen, durch welche der hintere Lap- pen des grossen Gehirns mit den vordern und seit- lichen Theilen verbunden wird. Allein Broca hat sehr lichtvoll ausseinandergesetzt, dass es sich mit diesem wie mit den andern Merkmalen verhält, z. B. das Verhalten der Uebergangsfalten des Orang vielmehr denen des Menschen, als denen des Schimpanse gleicht, und dass überhaupt die vorhandenen Unterschiede höchstens den Werth von Art- und Gattungscharak- teren haben können.

Der Abstand zwischen den niedern und den höhern Affen ist weit grösser als zwischen letztern und dem ' Menschen, und wenn über die Blutsverwandtschaft der gesammten Affenheit nach darwinistischer Anschauung entschieden ist, so kann um so weniger über den ver- wandtschaftlichen Zusammenhang der altweltlichen Affen

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272 Anatomischer Vergleich

mit dem Menschen ein Zweifel sein. Die Form des fertigen Schädels und des Gebisses, um diese Organe hervorzuheben, lassen aber den Gedanken gar nicht aufkommen, dass der Mensch seine unmittelbaren Ahnen unter den jetzt lebenden Affen hätte. Der wohlfeile, mit vielem Behagen vorgebrachte Witz, warum man denn nicht das interessante Schauspiel der Umwand- lung des Schimpanse in einen Menschen, oder des Menschen rückwärts durch Verkümmerung in einen Orang vor sich gehen sähe, zeugt von nichts als der gröbsten Unwissenheit in Angelegenheit der Descen- denzlehre. Sowenig als einer dieser Affen zum Zu- stande seiner Urvorfahren zurückkehrt, weil er sich seiner erworbenen und durch die Vererbung fixirten Eigenschaften nicht entäussern kann, es sei denn auf dem Wege der Verkümmerung womit nichts weniger als ein Urzustand erlangt wird —: ebenso wenig kann er über sich hinaus zum Menschen werden; denn der Mensch liegt eben nicht in gerader Entwickelungs- richtung vor ihm. Die Entwickelung der menschen- ähnlichen Affen hat einen Gang genommen abseits von den nächsten menschlichen Vorfahren, und der Mensch kann ebenso wenig sich in einen Gorilla umformen, als ein Eichhörnchen sich in eine Ratte verwandeln wird. Der Affenverwandtschaft des Menschen wird daher kein Eintrag gethan durch die bestialische Stärke des Gebisses des ausgewachsenen männlichen Orangs oder Gorillas,. durch die Leisten und Auftreibungen an den Schädeln dieser Thiere.. Ein namhafter Zoo- log, einer der wenigen, welche beim alten Glauben geblieben, hat sich die unnütze Mühe gegeben, nach- zuweisen, dass der ÖOrangschädel sich unmöglich in das Menschenhaupt umwandeln könne. Als ob je die Descendenzlehre solchen Unsinn behauptet hätte! Der knöcherne Schädel jener Affen ist bei einem Extrem ! angelangt, vergleichbar dem des Hausrindes. Dieses Extrem tritt aber erst nach und nach im Verlaufe des Wachsthums hervor, und das Kalb weiss davon

des Menschen mit dem Affen. 973

noch wenig, sondern besitzt, wie wir schon oben er- wähnt, die Schädelgestalt der antilopenartigen Vor- fahren. In den heutigen Antilopen, auch noch bei den Ziegen und Schafen ist jene beim Kalbe vorübergehende Form stabil geblieben. Indem nun der jugendliche Schädel der anthropomorphen Affen unwiderleglich deutlich die Abkunft von Vorfahren mit einem wohl- geformtern, noch bildsamen Schädel und einem, dem menschlichen ganz nahe stehenden Gebiss zeigt, so hat bei ihnen die Umformung dieser Theile mit dem Gehirn, letzteres wegen des stabil gebliebenen geringen Volumens, einen sozusagen verhängnissvollen Weg eingeschlagen, während in dem menschlichen Zweige die Selection in der grössern Conservirung jener Schä- deleigenschaften wirkte.

Hiermit fällt auch der noch jüngst von dem ehr- würdigen Karl Ernst v. Bär erhobene Einwurf, dass man sich nicht vorstellen könne, wie aus dem zum Klettern und Umfassen eingerichteten Fusse des Affen der zum platten Auftreten und Gange geschickte Men- schenfuss sich im Kampfe ums Dasein habe entwickeln sollen, in sich zusammen. Die Anlage, die grosse Zehe den übrigen entgegenzusetzen, also zum Greif- fuss, ist bekanntlich auch dem Menschen eigen, und diese Anlage ist jedenfalls ererbt. Wie weit aber die Fähigkeit zum Klettern bei den Urahnen ausgebildet sein mochte, ist ebenso unbekannt, als diese Urahnen selbst. Es steht demnach die Geschicklichkeit der mei- sten heutigen Affen im Klettern mit dem Ungeschick des Menschen hierzu nur im entfernten Zusammen- I hange, und kommen diese Eigenschaften bei der Be- Jurtheilung der Blutsverwandtschaft kaum in Betracht. Indem die Descendenzlehre einen gemeinschaftlichen 4Ursprung des Menschen und der menschenähnlichen Affen in logischer Schlussfolge fordert, weist sie, wie nochmals hervorzuheben eigentlich überflüssig, die un- verständige Forderung nach Zwischenformen zwischen Mensch und Gorilla zurück. - Was künftige Zeiten

Schmipr, Descendenzlehre, f 18

274 ‘Wie der Mangel an fossilen

vielleicht noch entdecken, sind Zwischenformen, welche zu der gemeinschaftlichen Ausgangsform der heutigen

Affen und des Menschen zurückgehen. Und so besteht trotz der intimsten bisher besprochenen Beziehungen die Kluft, welche etwa in dem Verhältniss des Ge- wichtes des niedrigsten bisher gemessenen Menschen- gehirnes zu dem des Gorillagehirnes ihren Ausdruck findet. Das Gewicht eines, nach ihrer Stammesweise noch normal fungirenden Buschmannweibes betrug

872 Gramm (Cuvier’s Gehirn wog 1629 Gramm), das

eines Gorilla lässt sich nach der Capacität des Schä- dels auf etwa 563 Gramm schätzen; das ergibt das ungefähre Verhältniss von 3:2. Allein wie erhaben der Mensch in seiner Leiblichkeit sich über dem Thiere fühlen mag, auch hierin macht er für sich keine Ausnahme, insofern ja zahlreiche Thier- formen zu ihren unverkennbar nächsten Verwandten eine ebenso isolirte Stellung einnehmen.

Werden wir an eine doppelte Schöpfung ax Wir- belthiere denken, weil der Lanzettfisch jetzt um eine ganze Stufenleiter nicht mehr vorhandener Zwischen formen von den Fischen absteht? Sehr lehrreich für unsern Fall ist unter anderm das Beispiel des Pferdes. Vergegenwärtigen wir uns, dass diese Gattung sich in der Beschaffenheit der Gliedmassen und des Gebisses von allen jetzt lebenden Pflanzenfressern viel bedeu- tender unterscheidet, als der Mensch vom Affen. Hätte man die fossilen Hufthiere, welche den gemeinsamen Ursprung des Pferdes mit den Zwei- und Mehrhufern klarlegen, nicht gefunden, so würden wir gleichwol das Pferd für keine besondere Wunderschöpfung hal- ten, sondern seine wirkliche Verwandtschaft mit den übrigen Hufthieren unanfechtbar deduciren. Diese ‘reine Deduction ist aber deshalb nicht nöthig, weil, die Vorfahren des Pferdes in ausgezeichneten Ueber- resten da sind und, wie wir frähet sahen, schon vor einem halben Jahrhundert in R. Owen die Ueberzeu- gung von einer directen Verwandlung der dreizehigen

Be Zwischenformen aufzufassen. TED

Gattungen in die einzehige hervorriefen. Das Be- kanntwerden der dreizehigen Pferde ist ein Glücks- fall; sie waren in Theilen Europas heimisch, welche am fleissigsten für die Paläontologie blossgelegt und durchwühlt wurden.

Dass uns aber die fossilen Vorfahren des Menschen in den Museen noch fehlen, ist nicht auffallender als. der bisherige Mangel der Zwischenformen, welche z. B. die Stellung des Dinotherium im System endgültig entscheiden würden. Auch auf den Elefanten weisen wir nochmals hin, der mit dem ihm nächstverwandten Mastodon eine viel ısolirtere, durch keine Fossile er- läuterte Stellung zu* den andern Dickhäutern ein- nımmt, als der Mensch zu den Affen. Wir wollen damit. erörtert haben, dass der Einwurf, der Mensch ver- rathe durch unüberbrückte Eigenthümlichkeiten auf- rechten Gang, relative Haarlosigkeit, Kinn, Ueber- gewicht des Gehirns u. a. eine absolute Sonderstellung, für die vergleichende Anatomie und Paläontologie nicht: besteht, und dass das Verlangen, die Anhänger der Descendenzlehre möchten doch die nothwendig einst. vorhanden gewesenen Zwischenformen vorzeigen, nur von solchen Dilettanten erhoben werden kann, denen. das Reich des Lebendigen in seiner Ganzheit ein ver- schlossenes Buch geblieben.

Wie wir nun oben bemerkten, lässt man sich wol herbei, wie man sagt, die Leiblichkeit des Menschen der Naturforschung preiszugeben, um die andere Seite: des Dualismus desto gewisser zu retten. Aber auch hierin lassen wir uns das Wort und eigenes Urtheil nicht nehmen. Die geistigen Kräfte des Menschen sind | in ıhrem Entstehen, Wachsen und Wirken der Natur- iforschung auch zugänglich, und nur zu lange meinte | die Psychologie der Physiologie entrathen zu können. 1Gehen wir also getrost an eine kurze Prüfung. | Man gibt allgemein zu, dass eine gewisse Verwandt- ischaft oder Analogie des seelischen Vermögens .der “Ihöhern Thiere mit dem Menschen bestehe. Nur die

187

276 Entwickelung der Vernunft.

Vernunft, sagt man, der Inbegriff der Seelonthatige]| keiten, womit der Mensch zum Selbstbewusstsein ge- langt ned sich zum Abstracten erhebt, Begriffe com- ER namentlich religiöse, in Kunst -—: Wissenschaft lebt, diese Vernunft besitze das Thier nicht. Wir erwidern, dass allerdings diesen Grad der geistigen Entwickelung die Thiere nicht besitzen, aber auch der Mensch nicht auf niedern Entwick Die Seele des neugeborenen Kindes ist in ihren Aeusserungen von der des jungen Thie- res gar nicht verschieden; ihre Aeusserungen sind Functionen des kindlichen Nervensystems; mit diesem wachsen sie und entwickeln sich zugleich mit der Sprache. Die Stufe, bis wohin im allgemeinen diese Entwickelung steigt, ist von den vorausgegangenen Generationen abhängig. Die Seelenfähigkeiten jedes Individuums tragen den Stammestypus an sich und sind durch die Gesetze der Vererbung bestimmt. Denn es ist einfach nicht wahr, dass unabhängig von Farbe und Abstammung jeder Men on unter übrigens gleichen Bedingungen eine gleiche Höhe der geistigen Entwicke- lung erreichen könne. Man hält uns, um diese prin- cipielle Gleichheit der Menschheit zu beweisen, ein- zelne Beispiele begabter Neger und Indianer vor. Allein diese haben ungezählte Generationen, geübt in vielfacher Industrie, gewandt in einem, wenn auch | einseitigen Menschenverkehr, hinter sich; und wenn] man diese seltenen Phänomene gründlich untersucht, so bleiben sie doch hinter den Durchschnittsindividuen der vorgeschrittenen Rassen zurück. ‘Nun macht aller- dings in jeder Rasse jedes Individuum die untern Stu- fen der Leiter geistiger Entwickelung durch, welche, durchaus analog den anatomischen Entwickelung gesetzen, allgemeine Geltung haben, während nac oben die psychologischen Sonderheiten der Rasse zur Geltung kommen. In der Menschheit aber ist es wie im Individuum: sie hat sich im Verlaufe der Zeit die

Geistiger Fortschritt, 277

höhern Geistesfähigkeiten errungen, die wir in der Vernunft zusammenfassen. _ Die Geschichte zeigt, wie niemand leugnet, einen geistigen Fortschritt, aber nur bei Völkern, welche an der Geschichte Selbst sich betheiligt haben, und nur so lange, als diese Betheiligung und die Uebung der Geistesorgane stattfand. Es gibt aber auch nie- drige Menschenrassen, wir können sie auch Menschen- arten nennen, die sich zu den andern ähnlich ver- halten, wie niedrige Thiere zu höhern. Man könnte sögar die Menschengattung damit charakterisiren, dass ihre Arten so ganz ausserordentlich verschiedene Stufen des Geisteszustandes einnehmen. Wir lassen uns durch die gegentheiligen Behauptungen von Missionaren und andern Menschenfreunden, durch das Reden von Men- schenwürde und Gottähnlichkeit nicht irremachen, auch nicht auf die noch zu erwartende Entwickelung aller bisjetzt zurückgebliebenen Völker vertrösten. Selbstverständlich ist es zwar aus der Descendenz- und Selectionstheorie, dass viele der gegenwärtig in geistiger Hinsicht tief zurückstehenden Stämme es künftig viel weiter gebracht haben werden. Für an- dere aber, wenn wir die Ethnographie und Anthropo- logie der Naturvölker nicht vom Standpunkt des Phi- lanthropen und Missionars, sondern des kühlen und nüchternen Naturforschers betrachten, ist infolge ihres, von den allgemeinen Entwickelungsverhältnissen ge- regelten Zurückbleibens das Unterliegen im Kampfe um das Dasein der natürliche Verlauf der Dinge. "Wenn wir den geistigen Zustand der Menschheit untersuchen und mit den Seelenfähigkeiten der Thiere vergleichen, so dürfen wir nicht den europäischen oder indischen Durchschnittsmenschen zum Massstab nehmen, sondern jene Austral- und Papuastämme, die zum Theil auch körperlich auf einer Stufe zurückgeblieben sind, welcher die übrigen begünstigten längst in vor- historischen Zeiten entwuchsen. Allerdings machen viele es sich leicht, indem sie, von einer egalisirenden

278. Geistiger Fortschrit.

Menschenwürde, wie von einem nicht weiter zu be- gründenden Dogma überzeugt, für alle jene tief unten gebliebenen Rassen die Redensart bereit haben, man könne nicht zweifeln, dass sie aus einer einst reichern Geistesentwickelung zurückgebildet und zur Barbarei herabgesunken seien. Allein, wenn man diese Mög- lichkeit für einzelne Stämme, wie die Feuerländer, zugeben könnte, für die andern, z. B. die Australier, mangelt jeder urkliche Beweis dieses ehemaligen men- schenwürdigern Zustandes.

Die höhern geistigen Vorzüge, welche den Mänschö vom Thiere trennen sollen, ee sich um etwa fol- gende Punkte. |

Der Mensch allein, heisst es, sei entwickelungsfähig oder fortschrittsfähig. Specifisch menschlich ist aller durch die menschliche Sprache denn auch viele Thiere besitzen die Gabe der Mittheilung bedingte und vermittelte Fortschritt. Wenn wir uns aber den Menschen nicht als von Ewigkeit her fortschreitend denken wollen, so fragt es sich, wie der Anfang die- ses Fortschrittes beschaffen war, und so reducirt sich die ganze fundamentale Angelegenheit auf die Frage nach dem Ursprung der Sprache. Wir kommen darauf zurück. Fortschritt im allgemeinen ist aber auch dem Thiere nicht abzusprechen. Wer kann in Abrede stel- len, dass einzelne Hunderassen, deren Abstammung von stupiden Schakalen und Wölfen so gut wie sicher, sich geistig hoch über diese Vorfahren erhoben haben? Wer kann zweifeln, nachdem er die reichhaltigen Un- tersuchungen von H. Müller, dem Bruder unsers Fritz Müller, gelesen, dass die Honigbiene, indem sie all- mählich ihre körperlichen Vorzüge und Eigenthümlich- keiten erreichte, auch die ihrem feiner und detaillirter organisirten Gehirn entsprechenden höhern Geisteskräfte entwickelte. Der Mensch, das ist unser, vorbehalt- lich der Sprachfrage, aufzustellender Satz, ist nur durch den Grad und das Mittel des Fort- schrittes von vielen Thieren verschieden. Es

Freier Wille. Gewissen. "279

_ ist nämlich unwissenschaftlich, hierbei abstract Mensch- heit und Thierheit gegenüberzustellen.

Der Mensch allein, wird weiter behauptet, hat freien Willen. Insofern der höher entwickelte Mensch nach philosophischen, sittlichen und religiösen Grund- sätzen handelt, welche er der Erziehung und Unter- _ weisung verdankt, insofern er Ideale fassen und ihnen nachstreben kann bei geistiger und körperlicher indi- vidueller Befähigung, mag man dieses Gebiet des Willens gern zugeben, obschon wir wissen, dass auch diese „Freiheit“ das Gesammtresultat natürlicher Ur- sachen ist. Je einfacher und einförmiger aber die Lebensbedingungen, desto mehr verlieren die Hand- lungen des Menschen den Anschein und den Charakter der Freiheit, und desto mehr handelt das Individuum nur im Stammeswillen, ich möchte sagen, im Heerden- willen, das heisst instinctiv. Es handelt alsdann nicht einmal mit der staunenswerthen Ueberlegung, mit wel- cher einzelne glücklich organisirte Thierindividuen oder alle Individuen einzelner Arten sich in scheinbar ganz freiem Willen die Umstände zu Nutze machen. Der freie Wille des ethisch erhobenen Menschen ist kein Gemeingut aller Menschen.

Der Mensch allein, und alle Menschen sollen ein Gewissen haben. Wir meinen dagegen, dass das Ge- wissen, welches bekanntlich auch in den civilisirtesten Staaten vielen Individuen total abhanden kommt, über- haupt gleich dem sittlichen Willen ein Erziehungs- resultat einzelner Rassen und Stämme sei. Furcht, nach schlechter That ertappt zu werden, ist kein Gewissen; und dass wohlerzogene Hunde Regun- gen der Gewissensscham haben, welche hoch über der thierischen Furcht wilder Kannibalen nach vollbrachter Tödtung ihrer Mitmenschen stehen, kann unmöglich geleugnet werden. Die Belege hierzu sind überreich in dem anthropologischen Sammelwerke von Waitz aufgespeichert.

Auch dass ein Gottesbewusstsein Grund-

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280 . Der Gottesbegriff‘

eigenthum aller Menschen, stellen wir in Ab- rede. Es ist eben wiederum eine feststehende Phrase, dass auch die rohesten Völkerschaften von einem, wenn auch dunkeln Gefühle und Drange nach dem unbekann- ten Gotte geleitet würden. Diese Annahme ist so alt, als der bekannte Versuch des Beweises vom Dasein Gottes: ,De quo omnium natura consentit, id verum esse necesse est.“ (Worin alle in angeborener Weise übereinsämmen, - das muss wahr sein.) Wie oft ist diese ciceronische Sentenz gedankenlos nachgesagt wor- den! Es ist aber dieser Gottesbegriff ebenso wenig angeboren, als die Unterscheidung von gut und böse durch das Gewissen. Andere behaupten das Gegen- theil. So sagt Gerland von den Australiern®: „Nir- gends zeigt sich die Behauptung, dass der australische Bildungszustand auf eine höhere Stufe hinweist, klarer wie hier (im religiösen Gebiet), wo alles einzelne wie verhallende Stimmen aus früherer reicherer Zeit her- überschallt, wir aber keineswegs den Eindruck er- halten, als hätten wir es mit Halbentwickeltem, Stehen- gebliebenem zu thun. Daher ist denn diese Ansicht, die Australier hätten keine Spur von Religion oder Mythologie, eine durchaus falsche. Aber freilich ist diese Religion ganz ausgeartet, ganz zu Grunde ge- gangen in wilder, zusammenhangsloser, oft unglaublich abgeschmackter Dämonologie, in abergläubischer Ge- spensterfurcht.“

Wenn aber wenige Zeilen später in dem citirten Werke mitgetheilt wird, dass die Eingeborenen west- lich der Liverpoolkette alles in der Natur, was sie sich nicht selber erklären können, auf „Devil-Devil“ zurückführen, und dass dies offenbar nur ein aus dem Englischen devil (Teufel) abgeleiteter Name einer Gott- heit sei, welche allerdings nicht mehr deutlich vor- gestellt würde, so dürfen wir wol von der Seichtigkeit dieses Beweises für die Annahme eines ehemaligen, nun aber in Vergessenheit gerathenen höhern Stand- punktes auf die übrigen Fälle schliessen. Wir haben

ist nicht allgemein. 281

weit mehr Veranlassung, diesen niedrigen Stand der geistigen Entwickelung mit der körperlichen in Ein- klang zu finden, wenn wir hören, dass die Eingebo- renen des Vincentgolfes und der Umgebung von Adelaide eine sehr starke Behaarung haben, und dass selbst das braun gefärbte Flaumhaar der Kinder so reichlich und lang ist, dass die Haut fünf bis sechsjähriger Jun- gen ein fellartiges Aussehen annimmt. Aller Erfah- rung und Geschichte entgegen sollen wir aber glauben ®*, dass die Bewohner des australischen Nordens die ur- sprünglichsten seien, denn „sie sind, wie die ge- bildetsten, so auch körperlich und geistig am besten entwickelt, sie die allein sesshaften; und jedenfalls ist die Annahme leichter und naturgemässer, dass die übrigen Eingeborenen bei ihren ewigen Wanderzügen verkommen sind, als dass jene, durch das bequemere Land fixirt, sich gehoben hätten‘.

Das heisst das, was man bisher Anthropologie ge- nannt, auf den Kopf stellen. Uebrigens gibt es sogar recht vorgeschrittene Völkerschaften ohne Gottesbewusst- sein. Schweinfurt erzählt, dass die Niam-Niam, jenes höchst interessante innerafrikanische Zwergvolk, ein Wort für Gott nicht haben, also wol auch den Begriff nicht; und Moritz Wagner hat eine ganze Auswahl von Nachrichten über den Mangel religiösen Bewusst- seins niedriger Völker gegeben.®” Wenn trotzdem allen diesen Bekräftigungen immer wieder entgegen- gesetzt wird, dass sich doch auch bei den niedrigsten Wilden irgendwelch dunkles Gefühl von höhern Mäch- ten manifestire, so kommt der Streit schliesslich auf eine Silbenstecherei hinaus, welche für die Descendenz- lehre weiter kein Interesse hat.

Und doch können wir diesen Gegenstand nicht ver- lassen, ohne noch eine zwar allbekannte, aber in die- sem Zusammenhange auffallenderweise noch nicht be- nutzte Thatsache zu berühren, welche, wie es scheint, allein hinreicht, um die Behauptung zu entkräften, dass der Gottesbegriff der menschlichen Natur immanent

.282 | Die Sprache

sei. Wir meinen die Thatsache, dass viele Millionen

aus den gebildetsten Völkern, und darunter die aus-

gezeichnetsten, klarsten Denker, den persönlichen Gott "nicht in ihrem Bewusstsein finden, die Millionen, als deren

Sprecher der heldenmüthige David Strauss aufgetreten,

indem er Ulrich’s von Hutten, seines Lieblings, Devise zur seinigen machte: Ich hab’s gewagt Jacta est alea!

Aber die Sprache?! Alle Sprachforscher der neuern Zeit stimmen darin überein, dass die Sprachen sich entwickeln, und dass höchst wahrscheinlich alle Sprach-

familien drei Stufen durchmachen. Auf derjenigen der

isolirenden Sprachen sind alle Wörter Wurzeln, und diese werden blos nebeneinander gestellt. Auf der zweiten Stufe, der der agglutinirenden Sprachen, de- finirt eine Wurzel die andere, und es wird die defi- nirende Wurzel schliesslich blos determinirendes Ele- ment. Endlich in den flectirenden Sprachen wird das determinirende Element, dessen determinirende Bedeu- tung längst aus dem Volksbewusstsein geschwunden, mit dem formellen zu einem Ganzen vereinigt. Wie

gesagt, diese Entwickelung, in welcher auch die Rück-

bildung ausgedehnt sich geltend macht, wird allgemein zugegeben. Allein über die Entstehung des Sprach- materials, welches als „Wurzeln“ den Scharfsinn der Forscher herausfordert, weichen die Ansichten ab. Eine grosse Autorität, Max Müller°‘, sieht in dem Vorhandensein der Wurzeln den Beweis der absoluten Trennung des Menschen vom Thier. Während Locke sagt, der Mensch unterscheide sich vom Thier dadurch,

dass er allgemeine Begriffe bilden könne, müsse der

Sprachforscher sagen, die menschliche Sprache unter- scheide sich von der thierischen Fähigkeit zu Mitthei-

lungen dadurch, dass sie Wurzeln bilde. Alle Wörter

auf Nachahmungs- und Ausrufungslaute zurückzuführen, sei unzulässig, da man vielmehr am häufigsten auf

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Wurzeln von fester Form und allgemeiner Bedeutung

komme, die an sich unerklärbar seien. In dem Vor- handensein dieser fertigen Wurzeln, vor welchen die

- entwickelt sich. 983

Sprachforschung rathlos stehen bleibe, sei ein unüber-. steigliches Hinderniss, den Menschen als Glied in der allgemeinen Entwickelung der Organismen aufzufassen.

Abgesehen von diesem Punkte gibt der berühmte Gelehrte natürlich alle jene Erscheinungen der Ver- erbung, der Erwerbung, der Verkümmerung zu, die in den Sprachgesetzen sich aussprechen und ihre voll- kommensten Analogien in unserer Descendenzlehre fin- den. Wenn wir z. B. das Zend mit dem Sanskrit vergleichen, gewisse Worte desselben erklären hören, so werden wir durchaus an die rudimentären Organe und ihre Deutung erinnert. Eine Menge von Anoma- lien sind gleich den in der Gegenwart isolirt stehenden Organismen uralte, ganz eigens normale Ueberbleibsel und Zeugen vergangener Sprachperioden. Kurz, bis ins einzelnste hinein stösst man in der Sprachforschung auf Uebereinstimmung und Analogie mit der Lehre der Abstammung der Organismen. Und da sollen wir vor dem Ursprung der Sprache als vor einem Unbegreif- lichen, Unerforschlichen halt machen?!

Das tbun denn auch die meisten Sprachvergleicher. der Gegenwart nicht. Wenn Max Müller die Wurzeln. „phonetische Grundtypen‘‘ nennt, „die durch eine der menschlichen Natur innewohnende Kraft hervorgebracht werden‘, wenn nach ihm der Mensch „in einem voll- kommenern Zustande das Vermögen besessen haben soll, den vernünftigen Conceptionen seines Geistes einen bessern, feiner articulirten Ausdruck zu geben‘, so bezeichnet der geniale Lazarus Geiger?” die Annahme eines jetzt erloschenen Vermögens zur Sprachbildung und die damit zusammenhängende von einem vollkom- menern Urzustande als eine Zuflucht zum Unbegreif- lichen und eine Rückkehr auf einen mystischen Stand- punkt. Denn das Unbegriffene ist nicht das Unbegreif- liche. Es ist nicht unsere Sache, Partei zu nehmen für Geiger, der die Gesichtswahrnehmungen beim Her- vorrufen der Worte wesentlich betheiligt sein lässt, oder für Bleek, G. Curtius, Schleicher, Steinthal und

284 Mit der Sprachentwickelung

so viele andere, welche der Schallnachahmung den

ersten Platz in der Spracherweckung einräumen. So- viel steht jedoch fest, dass der Standpunkt Max Müller’s zwar sehr vielen, welche nicht selbst Kritik üben, ein sehr bequemer zum Nachbeten ist, aber ein vereinsamter innerhalb der Wissenschaft, und dass die Ueberzahl der Autoritäten auf diesem der Natur- forschung so innig verwachsenen Gebiete sich . aus sprachvergleichenden und sprachphilosophischen Grün- den zu dem Schlusse genöthigt sah, dass aus dem vernunftlosen Urzustande menschenähnliche Wesen allmählich zu Menschen wurden, indem mit der Sprache, einem Werke von vielen Jahrtausenden, die Vernunft sich einfand. Schon 1851, als es von der Descendenzlehre noch ganz still war, sagt Steinthal®®: „Indem Sprache wird, entsteht Geist.“ Zehn Jahre nach Darwin’s Auftreten schreibt Geiger: ‚Die Sprache hat die Vernunft ge- schaffen; vor ihr war der Mensch vernunftlos.“ Ihm und allen, welche den mystischen Standpunkt über- wunden, ist die Menschheit „eine in der Entstehung

und Enfaltung ihres Sonderwesens aus “der Thierheit-

heraustretende Gattung“. Und dieser Schluss ist nicht entlehnt, wie die Orthodoxie und Reaction gern der Menge aufbinden, ist nicht entlehnt dem Dar- winismus, sondern von der Sprachforschung auf ihrem eigenen Wege, aber mit naturwis- senschaftlicher Methode deducirt. Es sei nur angedeutet, wie Geiger an vielen Beispielen historisch nachweist, dass „langsame Entwickelung, der Hervor- tritt des Gegensatzes aus unmerklichen Abweichungen die Ursache ist, dass dasselbe Wort verschiedene Be- deutung erlangt“, dass also Sprachschöpfung auf die- sem Process beruht, nirgends katastrophisch eintritt; dass die sogenannten Lautgesetze Lautgewohnheiten sind, dass die Sonderbedeutung, die ein Laut im Laufe der Zeiten schliesslich erlangt hat, immer ein Resultat

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wird die Vernunft entwickelt. 285

des blossen Zufalles, oder mit anderm Worte der Ent- wickelung ist.

Diese Schlussfolgerung der Sprachforschung bestätigt mithin in vollkommenster Weise das Resultat der Naturforschung. Und wer sich die Mühe gibt, den Gang der Sprachwissenschaft zu verfolgen, wird sich, wie gesagt, überzeugen, wie ihre Vertreter, etwa Bleek, Schleicher und Friedrich Müller ausgenommen, den Einfluss der Descendenzlehre eher abzuschwächen als anzuerkennen bestrebt sind. Um so höher schlagen wir es an, und der mächtigste Ein- wurf gegen die Einbeziehung des Menschen in das grosse Entwickelungsgesetz ist damit beseitigt.

Das übrige ist Nebensache und Ausführung. Die oft ventilirte, jetzt eigentlich abgeschmackte Frage, ob die Menschheit von einem oder mehrern Paaren abstamme, erledigt sich damit, dass aus den thieri- schen Vorfahren der Stamm, in welchem später die Sprache zum Durchbruch kam, sich natürlich allmäh- lich absonderte, und dass die zur Sprache und Ver- nunft führende. Zuchtwahl in grössern Individuen- gemeinschaften vor sich gehen musste. Näher an den Begriff der biblischen Einheit des Menschengeschlechts würde man gelangen, wenn alle Sprachstämme auf eine Quelle zurückwiesen. Liesse sich aber zeigen, dass gewisse Sprachstämme auf unbedingt unvereinbare Wur- zeln führten, so würde die Naturforschung ihr Jawort zu der nothwendigen Folgerung geben können, dass an verschiedenen Stellen der Erde Sprachen entstan- den, mit andern Worten, dass das Auseinandergehen in Arten früher stattfand, als die Zuchtwahl auf dem Punkt der Sprachbildung angekommen. Der letztere Fall ist der bei weitem wahrscheinlichere, wird sogar von den meisten mit dieser Frage beschäftigten Sprach- forschern als der einzig mögliche angenommen und am nachdrücklichsten von Friedrich Müller vertreten. 9 „Der Mensch“, sagt er, „war damals, als es nur Ras- sen und keine Völker gab, ein sprachloses, der geistigen,

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Australier Arktische _Amerika- Malaien Mongolen nische Rasse

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Stammbaum der Menschenrassen. 987

auf der Sprachthätigkeit beruhenden Entwickelung noch völlig ermangelndes Wesen. Zu dieser Annahme wer- den wir, abgesehen von den entwickelten naturhisto- rischen Voraussetzungen, durch die Betrachtung der Sprachen selbst gedrängt. Die verschiedenen Sprach- stämme nämlich, auf welche die Wissenschaft die Sprachen zurückzuführen im Stande ist, setzen nicht nur bei den verschiedenen Rassen vermöge ihrer tota- len Verschiedenheit in Form und Stoff mehrere von- einander unabhängige Ursprünge voraus, sondern sie weisen selbst innerhalb einer und derselben Rasse auf . mehrere voneinander unabhängige Ursprungspunkte hin.“

Wir theilen den nebenstehenden Stammbaum, in wel- chem sich Friedrich Müller eng an den Entwurf Haeckel’s anschliesst, mit, um dem Leser eine Vorstellung zu geben, wie man sich allenfalls den Zusammenhang der Völkerfamilien zu denken habe. Es ist in demselben von Menschenarten und Menschenrassen die Rede, wobei die Arten als nicht mehr existirend be- trachtet und die gegenwärtigen Menschenformen blos als Rassen unterschieden werden. Wir wollen hierüber nicht viele Worte machen, da es sich, bei Licht be- sehen, nur um Worte handelt. Der Mensch bildet in der Ordnung der Primaten Eine Familie und reprä- sentirt sie jedenfalls nur durch Eine Gattung. Ob man "nun die Neger, Kaukasier, Papuas, Amerikaner u. s. w. Arten oder Rassen nennt, ist fast gleichgültig. Die Leichtigkeit der Kreuzungen der verschiedenen Men- schen würde für den Rassencharakter sprechen; da aber die Kreuzung der Arten durchaus nicht prineipiell von der Rassenkreuzung verschieden, und da zu den körperlichen, in Farbe, Haar, Schädel, Extremitäten und andern Merkmalen sich aussprechenden Verschie- denheiten auch die so tief gehenden Sprachunterschiede kommen, so erscheint uns die Zertheilung der Men- schengattung in Arten, welche in viele Rassen ausein- andergehen, doch mehr naturgemäss. Es ist aber schliesslich, wie bei der Artfrage überhaupt, das in-

2838 Sprachen innerhalb der Rasse,

dividuelle Gefühl des einzelnen entscheidend. Ob es ein glücklicher Griff gewesen, die Stellung der Haare,

in einzelnen Büscheln oder gleichmässig über die Kopf-

haut vertheilt, sowie weiterhin ıhre auf dem Querschnitt mehr platte und ovale oder kreisrunde Form, endlich die Neigung sich zu locken oder straff und schlicht zu bleiben, der Eintheilung des Menschengeschlechtes zu Grunde zu legen, muss die Zukunft lehren.

Die zwölf in der obigen Stammtafel aufgeführten Rassen sind nach naturhistorischen Merkmalen zu kenn- zeichnen, und da innerhalb der am besten bekannten Rassen sich Sprachen und Sprachfamilien finden, welche einen gemeinschaftlichen Ursprung ausschliessen, so folgt daraus, dass die Sprachbildung erst begonnen, nachdem der noch sprachlose Urmensch in Rassen aus- einander gegangen war. Alle Zeitrechnung für geolo- gische Perioden und Urgeschichte sind zwar höchst trügerisch, dennoch wollen wir uns eine Schätzung gefallen lassen, welche Friedrich Müller für die Ent- wickelung der Sprachen innerhalb der mittelländischen Rasse angestellt hat. Die Sprachstämme innerhalb der, vorzugsweise das Becken des Mittelmeeres umwohnen- den Völker sind: Baskiısch, kaukasische Sprachen, hamito-semitische Sprachen, indo-germanische Sprachen. „Die Sprachen aller dieser vier Stämme“, sagt Müller, „sind, wie von den competentesten Sprachforschern allgemein angenommen wird, miteinander nicht ver- wandt. Wenn wir nun sehen, dass die mittelländische Rasse vier miteinander in keinem verwandtschaftlichen Verhältnisse stehende Volksstämme umfasst, so liegt der Schluss nahe, dass, nachdem man jede Sprache auf eine Gesellschaft zurückführen muss, die eine Rasse nach und nach in vier Gesellschaften zerfiel, deren jede selbständig ihre Sprache sich schuf, Eine weitere Folgerung ist die, dass der Rasse als solcher keine Sprache zukommt, indem ja, wenn dies der Fall wäre, Rasse und Sprache sich gegenwärtig decken müssten, was nicht der Fall ist,

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Alter der Menschheit, DE 289

„Wir müssen also annehmen, dass dem Menschen damals, als die verschiedenen Völker der mittelländi- schen Rasse eine Einheit bildeten, damals, wo der Mensch keinem Volke, sondern nur einer Rasse an, gehörte, die Sprache noch gänzlich gefehlt habe.‘- Müller hält annähernd 3000 Jahre für hinreichend für den Zeitraum von dem Auseinandergehen der Rasse in noch sprachlose Gesellschaften bis zu dem Zeitpunkt, wo sie durch Sprachen geschiedene und charakterisirte Völker bildeten, eine Zahl, welche manchem als viel zu gering geschätzt scheinen dürfte. Wenn man nun ferner an das alte Culturvolk der Aegypter an- knüpft und die Zeit seiner muthmasslichen Wanderung aus Asien veranschlagt, so „erscheint wenigstens das Jahr 6500 vor Beginn unserer Zeitrechnung als jener Zeitpunkt, wo wir von. einem hamito-semitischen Ur- volk im Norden Europas reden können“. Es bestand also bereits vor 12000 Jahren eine mittelländische Rasse. Welche Zeit aber nöthig war, den Urmenschen in die Rassen sich scheiden zu lassen, liegt völlig ausser Be-

rechnung, und dies um so mehr, als nicht die ge-

ringsten Spuren von ihm bisjetzt gefunden worden sind.

Mit dem allgemeinen Nachweis der Geologie, dass die Perioden der Erdschichte unmerklich ineinander übergingen, und dass insbesondere von den Tertiär- zeiten durch die Diluvialperiode in die Gegenwart die Continuität nur local unterbrochen wurde, hat die ehemals für cardinal geltende Frage nach dem ,„fossi- len Menschen“ ein anderes Aussehen erhalten. In Europa hat der Mensch mit dem für uns, weil sie ausgestorben, „fossilen“ Mammuth und dem Rhinoce- ros mit knöcherner Nasenscheidewand (Elephas primi- genius, Rhinoceros tichorhinus) zusammen gelebt. Es ist behauptet worden, schon in der obertertiären Zeit habe der europäische Mensch existirt, allein die Be- weise dafür sind anfechtbar. Was man von Ueber-

ScHuipt, Descendenzlehre. 19

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gev 3 5 hat, neigt eine hohe En E b unbedingt der Periode an, wo der Mensch s der en das Werkzeug a hatte, die Set

Belege und Citate.

1 Luthardt, Apologetische Vorträge, 7. Vortrag, S. 129.

2 Philosophia quaerit, theologia invenit, religio possidet:

veritatem.

3 Tageblatt der Naturforscher- Versammlung in Leipzig, 1872, S. 12. Die Rede ist auch im Sonderdruck erschienen.

4 A. Fick, Physiologie, 1860.

5 Wer sich tiefer über das Problem der Empfindung als einer allgemeinen Ureigenschaft der constituirenden Elemente der Materie unterrichten will, ist auf das höchst klare und interessante Werk zu verweisen: ,„Das Unbewusste vom

Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie“ (Berlin.

-1872). Anonym erschienen. ; 6 L. Geiger, Ueber den Ursprung der Sprache (Stuttgart

1869), S. 207.

- 7 Rollet, Ueber Elementartheile und Gewebe und deren Unterschei@äung. Rollet, Untersuchungen etc., 1871.

8 Karl Ernst v. Bär, Ueber Entwickelungsgeschichte der Thiere. Beobachtung und Reflexion, 1828.

BEA. QD.,:L, 223.

10° A. a. O.,I, 230 fe.

11 Credner, Elemente der Geologie, 1872, S. 353.

12 Aoassiz, Essay on classification, 1858. „It exhibits every- where the working of the same creative Mind through all times and upon the whole surface of the globe.“

13 Rütimeyer, Beiträge zur Kenntniss der fossilen Pferde. Verhandlung der naturforschenden Gesellschaft in Basel, 1863, IH, 642.

14 Die Stellen sind aus einer Gelegenheitsrede: Oratio de tellüare habitabili, welche in den Amoenitates academicae enthalten ist. „Initio rerum ex omni specie viventium uni- eum sexus par fuisse creatum, suadet ratio.“

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292 Belege und: Gile.

15 A. a. O.: „Non multum a veritate me aberraturum ; fido, si dixerim, omnem continentem terram fuisse in infan- tia mundi aquis submersam et vasto oceano obtectam, prae- ter unicam in immenso hoc pelago insulam, in qua commode habitaverint animalia omnia et vegetabilia laete germinaverint.‘“

16 „Tot numeramus species, quot ab initio creavit infini- tum ens.“

ı7 E. Geoffroy St.-Hilaire schrieb an Cuvier: „Venez Jouer parmi nous le röle de Linne, d’un autre legislateur de V’histoire naturelle.“

18 Ossements fossiles.

1% L. Agassiz, An Essay on classification, 1859, S. 253.:

„As representatives of Species, individual animals bearthe closest relations to one another; they exhibit definite rela- tions also to the surrounding element and their existence is limited within a definite period.

„As representatives of Genera, these same individuals have a definite and specific ultimate structure, identical with that of the representatives of other species ete. Dazu S. 261:

„Branches or types, are characterized by the plan of their structure;

„Classes, by the manner in which that plan is executed, as far as ways and means are concered;

„Orders, by the degrees of complication of that structure;

„„Families, by their form, as far as determined by structure;

„@enera, by the details ofthe execution in special parts; and

„Species, by the relations of individuals to one another and to the world in which they live, as well as by the pro- portions of their parts, their ornamentation etc.“

20 Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen (Ber- lin 1866), I, '323 fg.

21 L’espece est „la r&eunion des individues descendant Yun de Yautre et des parents communs, et de ceux qui leur ressemblent autant quils se ressemblent entr’eux“, Cuvier, Le regne animal.

»2 0. Schmidt, Die Spongien der Küste von Algier, 1868, und Versuch einer Spongienfauna des atlantischen Gebietes, 1870. | 23 Haeckel, Die Kalkschwämme. Eine Monographie in zwei Bänden Text und einem Atlas mit 60 Tafeln Abbil- dungen (Berlin 1872).

?* Hilgendorf, Ueber Planorbis multiformis im Steinheimer Süsswasserkalk. Monatsbericht der Berliner Akademie aus dem Jahre 1866, S. 474 fe.

®5 Waagen, Die Formenreihe des Ammonites subradiatus. Beneke’s Beiträge, 1869, Bd. 2.

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Belege und Ct. . - 298

Zittel, Die Fauna der ältern Cephalopoden führenden

Tithonbildungen. Paläontologische Mittheilungen, 1870. Kayser, d. Brachiopoden des Mittel- u. Ober-Devon der Eifel. Jahrb. d. geol. Ges. in Berlin. 1871. Neumayr, die Fauna d. Schichten mit Aspidoceras ac. 1873. L. Würtenberger, Neuer Beitrag zum geologischen Be- weise der Darwin’schen Theorie (,‚, Ausland“, 1873).

Darwin, Das Variiren der Pflanzen und Thiere im Zu- stande der Domestication. Uebersetzt von Carus (Stuttgart 1868). Unsere Citate beziehen sich auf diese Ausgabe.

27 L. Oken, Die Zeugung, 1805. _Lehrbuch der Natur- philosophie, 1809—11, 3 Thle.

28 Ich entlehne die folgende Darstellung meinem Essay:

- „War Goethe ein Darwinianer?‘“ Gratz, Leuschner und Lu-

binsky, 1871. Dazu ein anderes Schriftchen von mir: „Goethe’s Verhältniss

zu den organischen Naturwissenschaften‘“ (Berlin 1852).

Zu den im Text mitgetheilten Stellen, welche Goethe als Darwinianer erscheinen lassen könnten, sei noch folgende aus Eckermann’s „Gespräche mit Goethe“ mitgetheilt (3. Aufl., S. 191): „So hat der Mensch in seinem Schädel zwei un- ausgefüllte hohle Stellen. Die Frage warum? würde hier

‚nicht weit reichen, wogegen aber die Frage wie? mich be-

lehrt, dass diese Höhlen Reste des thierischen Schädels sind, die sich bei solchen geringern Or- ganisationen in stärkerm Masse befinden, und die sich beim Menschen, trotz seiner Höhe, noch nicht ganz verloren haben.“

2% Ein etwas abschätziges Urtheil über Goethe’s Bedeutung auf unserm Felde fällt V. Carus in seiner „Geschichte der Zoologie“ (München 1872). Der Leser möge vergleichen: „Wie wenig ihm trotz seiner wiederholten Beschäftigung mit Anatomie ein wirklicher Einblick in den gesetzmässigen Bau der Thiere gelungen war, be,reist seine Einleitung in die vergleichende Anatomie. Er findet hier keinen andern Weg, zwischen dem trockenen Detail der beschreibenden Anato- mie und der ihm unbestimmt vorschwebenden Morphologie zu vermitteln, als die Idee eines Urtypus für die Thiere anzudeuten, welchen er aber weder definiren, noch durch allgemeinere Andeutungen einigermassen anschaulich machen kann. Seiner ganzen Eigenheit nach war ihm ein solcher Typus Bedürfniss, aber nicht wissenschaftliches, sondern ästhetisches u. s. w.“ S. 590.

30 R. Owen hat sich über seine Stellung zur Descendenz- lehre im Schlussheft seines „Lehrbuches der vergleichenden Anatomie der Wirbelthiere‘‘ ausgesprochen. Dasselbe ist

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294 Belege und Citate.

separatim ausgegeben u. d. T.: ,„Derivative hypothesis of life and specıes“, 1868. B-

31 A. a. O. „— such cause being the servant of predeter- mining intelligent will.‘

s2 .No one can enter the saddling ground at Epsom be- fore the start for the Derby, without feeling, that the glossy-coated, proudly-stepping creatures led out before him are the most perfect and beautiful of quadrupeds. As such, I believe the Horse to have been predestined and prepared for ‚Man Aa: DIS HE

3 I deem an innate tendency to derivate from parental type, operating through periods of adequate duration, to be the most probable nature or way of operation of the secondary law, whereby species have been derived one from the other.“ A.a. O., S. 22

3% Lamark, Philosophie zoologique (Paris 1809). Im Text sind folgende Stellen berücksichtigt:

„Aussi l’on peut assurer que, parmi ses productions la nature n’a r&ellement forme ni classes, ni ordres, ni familles, ni especes constantes, mais seulement des individus qui se succedent les uns aux autres, et qui ressemblent & ceux qui les ont produits. Or, ces individus appartiennent ä des races infiniment diversifi&es, qui se nuancent sous toutes les formes et dans tous les degres d’organisation, et qui chacune se conservent sans mutation, tant qu’aucune cause de changement n’agit sur elles.“ I, 22.

„La supposition presque generalement admise, que les corps vivans constituent des especes constamment distincetes par des caracteres invariables, et que l’existence de ces especes est aussi ancienne que celle de la nature m&me, fut etablie dans un temps, ou l’on n’avait pas suffisamment observe, et les sciences naturelles etaient & peu pres nulles. Elle est tous les jours d&mentie aux yeux de ceux, qui ont beau- coup vu et qui ont long-temps suivi la nature.“ I, 54.

„Les especes n’ont reellement qu’une constance relative & la duree des circonstances dans lesquelles se sont trouves tous les individus qui les representent.“ I, 55.

„— les considerations ete. nous font voir:

„1) Que tous les corps organises de notre globe sont de veritables productions de la nature, qu’elle a successivement executees a la suite de beaucoup de temps;

„2) Que dans sa marche la nature a commence&, et recom- mence encore tous les jours, par former les corps organises les plus simples et qu’elle ne forme directement que ceux- la, c’est a-dire que ces premieres ebauches de l’organisation, qu’on a designees par l’expression de generations spontanees;

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Belege und Cilate. 995 A

3) Que les premieres ebauches de l’animal et du vegetal etant forme6es dans les lieux et les circonstances convenables, les facultes d’une vie commencante et d’un mouvement or- z ganique etabli ont necessairement developpe peu a peu les | organes, et qu’avec le temps elles les ont diversifies ainsi

que les parties;

„4) Que la faculte d’accroissement dans chaque portion du corps organise etant inherente aux premiers effets de la vie, elle a donne lieu aux differens modes de multiplication et de regenerations des individus; et que parla les progres

. acquis dans la composition de l’organisation et dans la forme. et la diversite des parties, ont &te conserve6s;

„D) Qu’ä l’aide d’un temps suffisant, des circonstances, qui ont ete necessairement favorables, des changemens que tous { les points de la surface du globe ont successivement subis | dans leur’etat, en un mot, du pouvoir qu’ont les nouvelles situations et les nouvelles habitudes pour modifier les or- ganes des corps doues de la vie, tous ceux qui existent maintenant ont ete insensiblement formes tels que nous les voyons; 5

,„6) Enfin, que d’apres un ordre semblable de choses, les corps vivants ayant Eprouv& chacun des changemens plus on moins grands dans l’etat de leur organisation et de leurs parties, ce qu’on nomme espece parmi eux a ete insensible- ment et successivement ainsi forme, n’a qu’une constance relative dans son etat, et ne peut &tre aussi ancien que la nature.‘ I, 65 fe.

„La progression dans la composition de l’organisation subit, ca et lä, dans la serie generale des animaux des anomalies re operees par l’influence des circonstances d’habitation, et par 2 celle des habitudes contractees.“ I, 135.

„Dans tout animal qui n’a point depasse le terme de ses developpemens, l’emploi plus frequent et routine d’un or- gane quelconque, fortifie peu & peu cet organe, le deve- \ loppe, Vagrandit, et lui donne une puissance proportionnee -

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& la duree de cet emploi; tandis que le defaut constant = d’usage de tel organe l’affaiblit insensiblement, le deteriore, 4 diminue progressivement ses facultes et finit par le faire Re, disparaitre. er

„Tout ce que la nature a fait acquerir ou perdre aux in- dividus par influence des circonstances leur race se trouve depuis long-temps exposee, et, par consequent, par 5: Yinfluence de l’emploi predominant de tel organe ou par RE celle d’un defaut constant d’usage de telle partie, elle le Zu conserve par generation aux nouveaux individus, qui en ®

proviennent.“ I, 235. (22

296 Belege-und Ciiate:

„La volonte dependant toujours d’un jugement queleon- que, n’est jamais veritablement libre; car le jugement qui y/ donne lieu, est, comme le quotient "d’une, operation arith- metique, un rösultat n&cessaire de ensemble des elemens qui l’ont forme.* I, 342. 3

„Les animaux contractent, pour satisfaire a ces ERS diverses sortes d’habitudes, qui se transforment en euxen autant de penchans, auxquels ils ne peuvent resister et qu’ils ne peuvent changer eux-mömes. De la l’origine de leurs actions habituelles et de leurs inclinations partieulieres, auxquelles on a donn& le nom d’instinct. Ce penchant des ani- maux & la conservation des habitudes et au renouvellement des actions qui en proviennent, etant une fois acquis, se propage ensuite dans les individus, par la voie de la repro- duction ou de la generation, qui conserve l’organisation et la disposition des parties dans leur tat obtenu; en sorte que ce me&me penchant existe deja dans les nouveaux indi-

vidus, avant m&me qu’ils l’aient exerce.‘“ I, 325.

Zu der 1873 in Paris bei Savy erschienenen zweiten Auflage der „Philosophie zoologique‘‘ hat der ausgezeichnete Pro- fessor in Montpellier, Charles Martins, eine vorzügliche Lebensbeschreibung und Würdigung Lamark’s als Einleitung gegeben.

»5 Der scharfsinnige Verfasser des Werkes: „Das Unbe- wusste‘‘ (s. Note 3), definirt im wesentlichen den Instinct nicht anders als Lamark: „In diesem Sinne kann man sagen, jeder Instinct sei seiner Entstehung nach in letzter In- stanz ererbte Gewohnheit, und das Sprichwort: Gewohn- heit ist die zweite Natur erhält dadurch die unerwartete Ergänzung, dass die Gewohnheit zugleich auch das Prius und der Ursprung der ersten Natur, d. h. des Instincts ist. Denn immer ist es die Gewohnheit, d. h. die häufige Wie- derholung der nämlichen Function, was die gleichviel wie hervorgerufene Handlungsweise den Centralorganen des Ner- vensystems so fest eingräbt, dass die so entstandene Prädis- position vererbungsfähig wird. A. a. O., S. 182.

36 Die wichtigste Lehre, welche Lyell mit seiner reichen Erfahrung begründet, ist ebenfalls von Lamark in der „Phi- losophie zoologique‘‘ klar und bündig ausgesprochen: „Si l’on considere, d’une part, que dans tout ce que la nature opere, elle ne fait rien brusquement, et que partout elle agit avec lenteur et par degres successifs, et de l’autre part, que les causes particulieres ou locales des desordres, des bouleversemens, des deplacemens etc. peuvent rendre rai- son de tout ce que l’on observe & la surface de notre globe, et sont neanmoins assujetties & ses lois et & sa marche

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Belege und Citate. 297

generale, on reconnaitra, qu’il n’est nullement necessaire de

supposer qu’une catastrophe universelle est venue culbuter et detruire une grande partie des operations m&mes de la nature.“ I, 80.

37 Principles of Geologie.

38 Sowol im Jahre 1870 als 1872 stellte die Majorität der französischen Akademie Darwin dieses Zeugniss aus. Der wiederholte Vorschlag, ihn zum Mitglied zu wählen, fiel durch, allerdings nicht ohne dass Männer wie Lacaze - Duthiers, Milne-Edwards und Quatrefages den wissenschaftlichen Richtern den Standpunkt klar machten.

39 Wir eitiren folgende Uebersetzungen und Auflagen von

'V. Carus: Ueber die Entstehung der Arten durch natür-

liche Zuchtwahl, oder die Erhaltung der begünstigten Ras-

sen im Kampfe ums Dasein (5. Aufl., 1872).

Die übrigen hierher gehörigen Werke sind:

Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication (oben Note 26).

: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl (2. Aufl., 1871).

Ueber den Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren, 1872.

40 Malthus (1798) untersucht die Bedingungen der Zu- und Abnahme und des Gedeihens der menschlichen Bevölkerung. Er findet, dass die Zunahme der Bevölkerung nothwendiger- weise beschränkt ist durch die Subsistenzmittel, und dass das

"Wachsthum im Verhältniss zu den Subsistenzmitteln zu-

nimmt, abgesehen von einigen besondern und leicht zu ent- deckenden Hindernissen. Diese Hindernisse, welche die Bevölkerung noch immer unter dem von den Subsistenz- mitteln gewährten Masse zurückhalten, sind der moralische Zwang, das Laster und das Unglück. Malthus schildert den Kampf ums Dasein, ohne das Wort auszusprechen; er weist

nach, dass die Träume von zukünftiger seliger Gleichheit

der gesammten Menschheit auf der zu einem grossen Garten umgestalteten Erde auf Täuschungen beruhen. Jedes Indi- viduum muss vielmehr in unermüdlicher Thätigkeit sein, um seine Lage zu verbessern. Aus den Erfahrungen der Thier- züchter und Gärtner weiss er, dass Thiere und Pflanzen

verbessert und veredelt werden können, und zwar durch

Zuchtwahl. Von einer organischen Veredlung des Men- schengeschlechts im ganzen sei nichts zu merken, auch könnte das Menschengeschlecht nicht anders veredelt wer- den, ale indem man die weniger vollkommenen Individuen zur Ehelosigkeit verdammte. -

Es sind wol diese und ähnliche Gedanken des Werkes

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298 Belege und Citate. |

von Malthus, durch welche Darwin, wie er angibt, zu seiner

Theorie angeregt wurde.

‘1 Das Varliren, II, 252.

42 Sehr lehrreich in Bezug auf die Artfrage sind auch die Abhandlungen von A. Kerner: „Gute und schlechte Arten“

(Innsbruck 1866), und „Die Abhängigkeit der Pflanzenwelt

von Klima und Boden. Ein Beitrag zur Lehre von der Ent- stehung und Verbreitung der Arten, gestützt auf die Ver- wandtschaftsverhältnisse, geographische Verbreitung und Geschichte der Cytisusarten aus dem Stamme Tuboecytisus _ D. C.“, 1869. Eine vorzügliche Untersuchung über Ver- änderlichkeit, Anpassung und Artbildung ist endlich Kerner’s neueste Schrift: „Die Schutzmittel des Pollens“ (Innsbruck 1873).

43 Die Mittheilung in der „Entstehung der Arten“ (5. Aufl., Kap. 3; nach der 6. engl. Aufl.).

+ Ebend., S. 96.

#5 Ebend., S. 141.

16 8. 7. Die folgenden Seiten enthalten eine Zusammen-

fassung der Einwürfe über die Unzulänglichkeit der Selections-

theorie.

47 Moritz Wagner, Die Darwin’sche Theorie und das Mi- grationsgesetz der Organismen, 1868. Hierzu 48 u. 49.

48 August Weismann, Ueber den Einfluss der Isolirung auf die Artbildung, 1872.

#9 Nägeli, Entstehung und Begriff der naturhistorischen Art (Sitzungsberichte der bairischen Akademie der Wissen- schaften), 1865. Die neuern Untersuchungen Nägeli’s (Sitzungs- berichte der mathematisch-physikalischen Klasse der Münchner Akademie, 1872, S. 305) bestätigen die Descendenzlehre. Er weist nach, dass die Geselligkeit nahe verwandter Arten und ihrer Varietäten für die Speciesbildung sich förderlicher er- weisen als die Isolirung. ‚Die in Gesellschaft beisammen- lebenden Formen gewisser Alpenpflanzen haben sich mit Rücksicht auf ihre Merkmale gleichsam gegenseitig ge-

modelt, sie zeigen, um mich so auszudrücken, einen spe-

cifischen Gesellschaftstypus, der für jede Gesell- schaft, somit für jede Gegend ein anderer ist. Diese Thatsache zeigt unwiderleglich, dass die Formen, seit sie beisammenwohnen, sich veränderthaben „Ihr specifischer Gesellschaftstypus besteht darin, dass sie in gewissen Merkmalen eine bemerkenswerthe Uebereinstim- mung zeigen, während sie in andern Merkmalen Extreme darstellen und darin zuweilen über alle in andern Gegenden vorkommende Verwandte hinausgehen. | „Aus diesen Thatsachen ergibt sich unzweifelhaft, dass

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Belege und Citate | 299

die Bewegung in den coenobitischen (d. i. gesellschaftlich lebenden) Formen eine divergirende ist. Denn in ihnen sind extreme Merkmale entwickelt, während die eremitischen Formen in ihren Merkmalen ihre mittlern Bildungen dar- stellen.“

Nägeli weist nach, dass und in welcher Weise bei Alpen- pflanzen seit der Eiszeit eine Veränderung stattgefunden hat. . 5% J. Broca, L’ordre des primates. Parallele anatomique de l’homme et des singes, 1870.

51 Abstammung des Menschen, S. 132.

52 Der Inhalt von Professor Max Müller’s: ‚Three lectures on Mr. Darwin’s Philosophy on language“ liegt uns im Mo- ment, wo wir dies schreiben, leider nur in unvollständigen Referaten der Tagesblätter und dem Programm mit Inhalts- angabe vor.

53 Zöllner, Ueber die Natur der Kometen (1. Aufl., S. 305).

54 Zur weitern Information des Lesers wollen wir über die vor unserm Verstande sich sehr einfach erledigende Angelegenheit des Uranfanges des Lebens noch einen Phi- losophen und einen Naturforscher reden lassen. Es handelt sich um Hypothesen über das Werden. In der kritischen Beleuchtung der Philosophie des Unbewussten (7) heisst es S. 22: „Die Philosophie des Unbewussten sagt S. 558: Es ist wahrscheinlich, dass vor der Entstehung der ersten Organismen schon organische Verbindungen niederer Stufen ‘vorhanden gewesen seien, welche sich (S. 556) unter dem Einflusse einer feuchten und sehr kohlensäurereichen Atmo- sphäre, sowie der höhern Wärme, des Lichtes und starker elektrischer Einflüsse gebildet hatten. Eignet man sich diese Voraussetzungen an und fügt die Betrachtung hinzu, dass, wenn solche der Urzeugung günstige Bedingungen ein- mal, wie doch nothwendig, stattfanden, sie wol auch durch ansehnliche geologische Zeiträume hindurch bestanden, so ist in der That die Folgerung nicht zu umgehen, dass im Laufe der Zeit und im Wechsel der Umstände diese organi- schen Stoffe in zahllose Combinationen zueinander treten. Unter diesen zahllosen Anordnungsweisen, Gruppirungen und Verbindungen musste der bei weitem grösste Theil auf der Stufe der unorganischen Form stehen bleiben, weil er nicht die zu einer solchen nothwendige chemische Zusammen- setzung und physikalischen Eigenschaften erlangte; ein sehr viel kleinerer Theil der aus diesen Combinationen organi- scher. Materie hervorgegangenen Resultate mochte vielleicht vorübergehend sich der organischen Form nähern, oder auch wirklich in dieselbe eintreten, dabei aber nicht die zur längern Behauptung derselben erforderliche Beschaffen-

300 Belege und Citate,

heit besitzen; ein dritter noch kleinerer Theil vermochte etwa für sich selbst diese Form im Wechsel des Stoffes so lange zu behaupten, als etwa noch jetzt die ungefähre Lebens- dauer der primitivsten Protistenarten beträgt, entbehrte aber derjenigen Eigenschaften, welche durch Theilung und Fort- pflanzung die Species auch nach dem natürlichen Absterben des Individuums erhalten; ein vierter Theil mochte sowol die zur Selbsterhaltung als die zur Gattungserhaltung nothwen- digen Eigenschaften besitzen, entbehrte aber jener eigen- thümlichen Tendenz, abzuändern («Philosophie des Unbewuss- ten», S. 591) oder doch jener Tendenz, in der bestimmten Richtung abzuändern, welche allein zur Entwickelung in höhere Formen führen konnte; ein fünfter Theil endlich be- sass auch diese Eigenschaft zu den übrigen. Die Nachkom- men der vierten und fünften Klasse unserer Unterscheidung sind es, welche noch heute Meer und Erde bevölkern*: von welcher Art von Moneren die Fortentwickelung zu Infusorien ausgegangen ist, ob von einer der jetzt noch lebenden, oder von einer untergegangenen Art, davon wissen wir noch nichts; das aber schon können wir als sicher annehmen, dass die Mehrzahl der Protisten, die wir heute noch kennen, zu jener entwickelungsunfähigen vierten Klasse gehören. Die ephemeren Schöpfungen unserer zweiten und dritten Klasse konnten natürlich nur so lange ihren Bestand als Arten gesichert sehen, als die günstigen Bedingungen ihrer stets erneuten Urzeugung fortdauerten; die erste Klasse aber würde vom teleologischen Standpunkt aus als die der gänz- lich mislungenen Schöpfungsversuche zu bezeichnen sein.“ Diese und ähnliche mehr oder minder ansprechende Phan- tasien, auf die wir gar kein besonderes Gewicht legen, schö- pfen insgesammt aus Haeckel’s Hypothese der Autogonie („Generelle Morphologie der Organismen“, I, 179 fe.), die er nach seinen schönen Entdeckungen über die jetzt existi- renden einfachsten Organismen, die Moneren und andere Protisten, aufstellte.e Wir heben daraus folgende Stelle her- vor: „Zweifelsohne haben wir uns den Act der Autogonie, der ersten spontanen Entstehung einfachster Organismen, ganz ähnlich zu denken, wie den Act der Krystallisation. In einer Flüssigkeit, welche die den Organismus zusammen- - setzenden chemischen Elemente gelöst enthält, bilden sich infolge bestimmter Bewegungen der verschiedenen Moleculen gegeneinander bestimmte Anziehungsmittelpunkte, in denen

* Einfacher und wahrscheinlicher ist wol die Erklärung, dass diese niedrigen Organismen deshalb noch existiren, weil Platz für sie ist. Sie bleiben übrig trotz der Differenzirung und infolge der Differenzirung.

Belege und Citate. = BIOJE

Atome der organogenen Elemente (Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff) in so innige Berührung miteinander treten, dass sie sich zur Bildung complexer ternärer und quaternärer Moleculen vereinigen. Diese erste organische Atomgruppe, vielleicht ein Eiweissmolecule, wirkt nun, gleich dem analogen Kernkrystall, anziehend auf die gleichartigen Atome, welche in der umgebenden Mutterlauge gelöst sind,

und welche nun gleichfalls zur Bildung gleicher Moleculen _ zusammentreten. Hierdurch wächst das Eiweisskörnchen und gestaltet sich zu einem homogenen organischen Individuum, einem structurlosen Moner oder Plasmaklumpen, gleich einer Protamoebe u. s. w. Dieses Moner neigt, vermöge der ‚leichten Zerlegbarkeit seiner Substanz, beständig zur Auf- lösung seiner eben erst consolidirten Individualität hin, ver- mag aber, indem die beständig überwiegende Aufnahme neuer Substanz vermöge der Imbibition (Ernährung) das Uebergewicht über die Zersetzungsneigung gewinnt, durch Stoffwechsel sich am Leben zu erhalten. Das homogene or- ganische Individuum oder Moner wächst nur so lange durch - Intussusception, bis die Attractionskraft des Centrums nicht mehr ausreicht, die ganze Masse zusammenzuhalten. Es bilden sich, infolge der überwiegenden Divergenzbewegungen der Moleculen nach verschiedenen Richtungen hin, nun in dem homogenen Plasma zwei oder mehrere neue Anziehungsmit- telpunkte, die nun ihrerseits anziehend auf die individuelle Substanz des einfachen Moners wirken und dadurch seine Theilung, seinen Zerfall in zwei oder mehrere Stücke her- beiführen (Fortpflanzung). Jedes Theilstück rundet sich alsbald wieder zu einem selbständigen Eiweissindividuum oder Plasmaklumpen ab, und es beginnt nun das ewige Spiel der Anziehung und Abstossung der Moleculen von neuem, welches die Erscheinungen des Stoffwechsels oder der Er- nährung und der Fortpflanzung vermittelt.“

Haeckel hat ferner, gestützt auf die bekannten Eigenthüm- lichkeiten der chemischen Verbindungen des Kohlenstoffes, diesem in seinen Vorstellungen über die erste Entwickelung des Lebens und der physiologischen Erscheinungen der nie- drigsten Organismen die wichtigste Rolle angewiesen. Dies ist die bei seinen Gegnern so berüchtigte „Kohlenstofftheorie.“* Die Geister würden sich weniger darüber erhitzen, wenn man sich gegenwärtig halten wollte, dass durch eine Widerlegung dieses, wieHaeckel sagt, „gewagten Versuches‘, der Vorstellung des Geschehens zu Hülfe zu kommen, an der zwingenden logi- schen Nothwendigkeit der Anerkennung der Erweckung des Lebens auf natürlichem Wege nicht ein Haar geändert wird. - Die Gründe gegen die „Kohlenstofftheorie‘ sind unter anderm

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entwickelt von Preyer: „Ueber die Erforschung des Lebens“.

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(Jena 1873). Es wird geltend gemacht, dass der Kohlenstoff

in seinen jetzigen terrestrischen Zuständen fast ausschliess-

lich auf organischen Ursprung führe und bisjetzt keine ge-

nügende Kohlenstoffquelle für die erste Bildung lebender Körper auf der Erde nachgewiesen sei. TE

55 A. B. Wallace, The Malay Archipelago (3d ed., London 1872), und

Contributions to thetheory of natural selection (2ded., 1871).

56 „Die Hypothese der Papgenesis, wie sie auf die ver- schiedenen grossen Klassen von Thatsachen, welche jetzt erörtert wurden, angewendet wird, ist ohne Zweifel äusserst

complieirt. Aber sicher sind es auch die Thatsachen. Die

Annahme indessen, auf denen die Hypothese ruht, kann man

nicht als in irgendeinem extremen Grad complicirt ansehen,

nämlich dass alle organischen Einheiten ausser dem Ver- mögen, was allgemein zugegeben wird, durch Selbsttheilung zu wachsen, noch die Fähigkeit haben, zahlreiche äusserst

kleine Atome ihres Inhalts, d. h. Keimchen abzuwerfen.

Diese vervielfältigen und verbinden sich zu Knospen und

den Sexualelementen. Ihre Entwickelung hängt von der =

Vereinigung mit andern in der Entstehung begriffenen Zellen oder Einheiten ab; und sie sind einer Ueberlieferung im

schlummernden Zustande auf später folgende Generationen

fähig. In einem hoch organisirten und complicirten Thiere müssen die von jeder verschiedenen Zelle oder Einheit durch

den ganzen Körper abgeworfenen Keimchen unbegreiflich _

zahlreich und klein sein. Jede Einheit eines jeden Theiles muss, wie er sich während der Entwickelung verändert (und

wir wissen, dass manche Insekten mindesten zwanzig Meta-

morphosen erleiden), ihre Keimchen abgeben. Ueberdies er- halten alle organischen Wesen viele von ihren Grossältern und noch entferntern Vorfahren, aber nicht von allen ihren Vorfahren herrührende schlummernde Keimchen. Diese fast unendlich zahlreichen und kleinen Keimchen müssen in jeder

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Knospe, in jedem Ei, Spermatozoon und Pollenkorn einge-

schlossen sein. Eine solche Annahme wird für unmöglich erklärt werden, aber Zahl und Grösse sind nur relative

Schwierigkeiten, und die von gewissen Thieren und Pflanzen

producirten Eier oder Samen sind so zahlreich, dass sie

vom Verstand nicht erfasst werden können.“ Darwin, Das E Variiren, I, 526. a

5” A. Rollet, Ueber die Erscheinungsformen des Lebens

und den beharrlichen Zeugen ihres Zusammenhanges. Alma-

nach der kais. Akademie der Wissenschaften (Wien 1872). Darwin, Das Variüren, I, 247.

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BA rab I Alchir des nur ‚der Toren zum Darwinismus. . Zeitschrift für wissenschaftliche

logie, Bd. 22. ; Hermann v. N athusius, Voktudiea fer Gechichte ind + ‚Zu cht ‚der Hausthiere, zunächst am ‚Sehweineschädel, 1864.

$1 Ebendaselbst, S. 108. BB, Na Abstammung. des Menschen, S. 367. 6 Entstehung der Arten, $. 153. 64 Lamark hat am Schluss seiner „Philosophie Zoologique* ch schon einen Stammbaum construirt, in dem er die

ern Ausgangspunkt anweist. Er et: daher zwei durch ıgung entstandene Urformen für das Thierreich an. Er 2a also en Is 5 Tableau

Tnfüshikeh Polypes Radiaires

Insectes Arachnides Crustacees

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Poissons Reptiles

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Mammales amphibiens

M. cetaces

M. ongules

- 5 E - - £ . v ae: rl RL yr - N S 304 FE EN

Eine Vergleichung dieses Stammbaums mit dem, welchen 3% wir heute aufstellen, ist höchst interessant und zeigt den

Fortschritt unserer Kenntnisse.

65 „Zum Streit über den Darwinismus.“ Augsburger

Allgemeine Zeitung, 1873, Nr. 130. i 66 Die vorläufige kurze Mittheilung in: „Revue scienti- fique‘‘ (Paris 1873), Nr 37.

°” Braun, Ueber die Bedeutung der Entwickelung in der >

Naturgeschichte (Berlin 1872). „Das Pflanzenreich zeigt uns:

„I- Gewächse, welche in ihrer vegetativen Entwickelung der

Stufe des Pflanzenkeimes die erste ungeschlechtliche Gene-

ration in meist thallusartiger Ausbildung darstellen (Keim-

pflanzen, Bryophyten, wozu die Thallophyten der Autoren, nebst den Characeen und Moosen);

Knie,

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„II. Gewächse, bei welchen die erste Generation transito-

risch ist und erst die zweite sich zum vegetativen, blatt-

bildenden Pflanzenstock entwickelt, jedoch ohne bis zur Blütenpflanze fortzuschreiten (Stockpflanzen, Cormophyten,

wozu die Farrn u. s. w.);

„II. Gewächse, bei welchen die Metamorphose bis zurBi-

dung einer Blüte fortschreitet, jedoch ohne die letzte For- mation, die der Fruchtblattbildung zu erreichen (Blüten-

pflanzen ohne wahre Früchte, gymnospermische Anthophyten);

„IV. Gewächse, welche in einer wahren Fruchtbildung den

letzten und höchsten Abschluss vegetabilischer Entwickelung

erreichen (angiospermische Anthophyten, wozu Monocoty- ledonen und Dicotyledonen als untergeordnete Abstufungen).‘,

Da wir in diesem Abschnitte die individuelle Entwicke- lung in Beziehung auf die allgemeine historische Entwicke-

lung besprochen, müssen wir hier wol auch der sonderbaren

Gegnerschaft gedenken, welche der Descendenzlehre in

Kölliker erwachsen ist. Derselbe hat seine Ansichten in sei- ner „Monographie der Pennatuliden‘‘ und in einem Separat- abdruck niedergelegt, welcher den Titel führt: „Morphologie

und Entwickelungsgeschichte des Pennatulidenstammes, nebst allgemeinen Betrachtungen zur Descendenzlehre“ (Frankfurt

1872). Während der Darwinismus die Continuität und Ein- heit der organischen Welt aus der Variabilität, der natür-

lichen Züchtung, der Vererbung und Anpassung, kurz aus greifbaren, sichtlich wirkenden Ursachen ableitet, ist Kölli-

ker der Meinung, „dass dieselben allgemeinen Bildungsgesetze, die in der anorganischen Natur walten, auch im Reiche des Örganischen sich geltend machen, und dass es somit durch- aus nicht nothwendig eines gemeinsamen Stammbaumes und einer langsamen Umbildung der Formen ineinander bedarf,

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um die Uebereinstimmungen der Formen und Formenreihen der belebten Weit zu erklären und zu begreifen‘ (a. a. O., S. 3). Es erhebt wol niemand, ausser den ausgesprochenen Dualisten, Einspruch gegen den ersten Theil des Kölliker’- schen Satzes. Allein die Identifieirung der Entwickelung der organischen Individuen unter Ausschliessung der Gesetze der Vererbung mit dem reinen Krystallisationsprocess oder irgendeinemuntergegebenen Verhältnissen sich wiederholenden chemischen Verbindungsvorgange ist eine doch kaum der eingehenden Widerlegung bedürftige Aufstellung. Kölliker sagt und sucht zu beweisen, dass die sogenannte monophy- letische Hypothese, wonach die verschiedenen Stämme der Organismen von einer einzigen Urform abzuleiten seien, mit unüberwindlichen Schwierigkeiten zu kämpfen habe. Grössere Wahrscheinlichkeit besitze die vielstämmige (polyphyletische) Descendenzhypothese. Gebe man dies aber zu, so und nun kommt ein kühner Gedankensprun „sieht sich der Anhänger einer polyphyletischen Descendenzhypothese in der Lage, nicht nur den höhern Abtheilungen, sondern selbst den Gattungen verschiedene Stammbäume und Urformen anweisen und eine selbständige Entstehung derselben an- nehmen zu können. Ja, es erscheint sogar gedenkbar, dass eineund dieselbe Art in verschiedenen Stammbäu- men auftritt, da bei der unabweisbaren Annahme allge- meiner Bildungsgesetze nicht abzusehen ist, warum gleiche Anfangsgestalten nicht auch unter Umständen zu gleichen Endformen sollten führen können“ (a. a. O., 8. 21). Ja, noch viel mehr leistet diese Hypothese, da „auch wenn In- dividuen Einer Art an weiter entfernten Localitäten sich finden, wie z. B. Pennatula phosphorea, Funieulina quadran- gularis, Renilla reniformis u. s. w., es wol passender ist, eine selbständige Entstehung derselben anzunehmen.“ Die Kölli- ker’sche polyphyletische Hypothese macht allen Schwierig- keiten ein Ende, so unter anderm erklärt sie die sogenann- ten in unserm zehnten Abschnitte zu erwähnenden Repräsen- tativformen, denn es sei von jenem „Standpunkte aus auch edenkbar, dass diese Formen genetisch gar nicht zusammen- hängen, sondern besondern Stammbäumen angehören‘‘(S. 23). Und alles dieses und noch vieles andere soll begreiflich sein, weildie Welt der Organismen in ihrer successiven Entwicke- lung innern Ursachen oder bestimmten Bildungs- gesetzen folge, „Gesetze, welche die Organismen in ganz bestimmter Weise zu immer höherer Entwickelung treiben“. Dabei erwägt Kölliker (S. 38), „ob nicht ebenso wie hier - Keime und Knospen, so auch frei lebende Jugendformen von Thieren die Fähigkeit besassen, eine andere Entwickelung ScHMIDT, Descendenzlehre, 20

| Belege und Citate. 305.

306 Belege und Citate,

als die typische einzuschlagen“, bei welcher Freiheit das

Entwickelungsgesetz, das an entgegengesetzten Polen Indivi- duen derselben Art schaffen kann und schaffen muss, arg in. 4 E

die Brüche kommen müsste. Kölliker fasst (S. 44) seine

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Grundanschauung dahin zusammen, „dass bei und mit der ersten Entstehung der organischen Materie und der Orga- $ nismen auch der ganze Entwickelungsplan, die gesammte = Reihe der Möglichkeiten potentia mitgegeben wurde, dass Be:

aber auf die Entwickelung im einzelnen verschiedene äussere

Momente bestimmend einwirkten und derselben ein bestimm- tes Gepräge aufdrückten“. Damit ist trotz der wissenschaft- R lichen Einkleidung der Dualismus fertig. Während die a sik und Chemie ihre für die unorganische wie für die orga- nische Natur gültigen Gesetze nach Form, Inhalt und Wir kung verständlich machen, weiss Kölliker von der Beschaffen- heit seiner Gesetze auch nicht ein Wort. Die Lehre der natürlichen Züchtung lässt uns Ursachen und Wirkuägen der Vererbung und AÄnpassune erkennen und stellt die Er- scheinungsreihen unter der Form von Gesetzen auf. Gesetze

7

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aber, welche sich blos auf einen künftig zur Ausführung

kommen sollenden Plan gründen, im Dienste dieser Mitgift der unvollkommenen Organismen stehen, kennt die Natur- wissenschaft nicht.

Ueber die Herkunft unserer Thierwelt. Eine zoo-

geographische Skizze von L. Rütimeyer (Basel 1867).

Wir benutzten im Text vielfach dieses höchst inhaltreiche Schriftehen.

’o A. B. Wallace, The Malay Archipelago (3d ed., London 1870). Die von uns im Text weiter unten mitgetheilten Stellen finden sich S. 10 fg.

@. Koch, Die indo-australische Lepidopteren-Fauna in ihrem Zusammenhange mit den drei Hauptfaunen der Erde (2. Aufl., Berlin 1873).

e Peschl, Neue Probleme der vergleichenden Erdkunde,

1870:

’3 Desto klarer ist die Zusammengehörigkeit von Masto- don und Elefant. Zwischen dem pliocänen Mastodon Borsoni und Elephas primigenius schieben sich 20 Arten ein, zu denen unsere noch lebenden, die indische und afrikanische Ark =

gehören. Es wird damit die Grenze der beiden Gattungen

völlig verwischt. Elephas primigenius, der Mammuth, selbst zerfällt nach andern Angaben in mindestens vier geographi- e sche Spielarten, denen sich amerikanische Arten anreihen. Eine Zwergart des Elefanten ist in Höhlen auf Malta ge-

funden, welche dem Zahnbau nach sich an den afrikanischen B-

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on] oh. Schmidt, Die Verwandtschaftsverhältnisse der indo-

_ germanischen Sprachen, 1872.

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75 Verschiedene Gegner der Descendenzlehre haben ihrer

_ moralischen Entrüstung, dass man den Stammbaum der

"Wirbelthiere und damit den des Menschen sogar über die Wirbelthiere hinaus bis zu so gemeinen Wesen wie die Ascidien verfolgte, in den schärfsten, eine wissenschaftliche Erörterung ausschliessenden Ausdrücken Luft gemacht. Ein anderes ist es mit solchen Kritikern der Beobachtungen Ko- walewsky’s und Kupffer’s, welche das Thatsächliche aner-

- kennen, in der Auslegung aber abweichen zu müssen glauben.

Dahin zählt A. Giard in einer Arbeit über „Emybrogenie des Ascidiens‘“ („Archives de Zoologie experimentale‘‘, Paris 1872). Der Schüler von Lacaze-Duthiers sagt: „La chorde

et l’appendice caudal sont chez la larve Ascidienne des or-

ganes de locomotion d’une importance assez secondaire

malgr& leur generalit& pour qu’on les voie disparaitre pres-

que entierement dans le genre Molgula ils sont devenus inutiles par suite des. m@urs de l’animal adulte; ’homologie entre cette chorde dorsale et celle des vertebres n’est done qu’une homologie d’adaptation determinee & remplir l’iden- tite des fonctions, et n’indique pas de rapports de parente immediate entre les vertebres et les Ascidiens.* Der Ver- fasser leugnet also die Blutsverwandtschaft der Wirbelthiere und Aseidien und führt dieder Gleichheit nahe kommende Aehn-

lichkeit der beiderseitigen Organe auf die Anpassung zurück.

Die Folgerungen in jenen wenigen Sätzen scheinen uns voll- ständig verfehlt zu sein. An der Wichtigkeit der Thatsachen

wird durch den Umstand, dass die Entwickelung bei Mol-“

gula und so vielen andern Mantelthieren einen andern Gang genommen, ebenso wenig etwas geändert, als etwa der Be- deutung der Naupliusentwickelung des von Fritz Müller beobachteten Peneus, sowie der der Segellarven der Weich-

thiere dadurch Eintrag geschieht, dass die übrigen Decapo-

den das Naupliusstadium, oder dieLandschnecken das Segel- larvenstadium eingebüsst haben. Worin aber die Gleichheit der Fwmetionen bestehen soll, welche bei den Wirbelthieren

. die Chorda, notabene mit dem Rückenmark! (was Herr

Giard ganz vergisst), dort aber die homologie d’adaptation hervorzubringen.im Stande wäre, ist uns geradezu unver- ständlich. Wir sehen im Gegentheil diese Organe in den beiden Gruppen schon deshalb ganz verschieden functioniren, weil sie in der einen für das ganze Leben fundamental wich-

22 tig bleiben, bei der andern nicht. Wir legen daher um-

gekehrt auf die morphologische Gleichheit bei functioneller

Belege at ae RER

- Verschiedenheit den Nachdruck. Giard nichts vorgebracht. 4 ‘* T, H. Huxley, Handbuch der Anatomie der Wirbele 7 thiere. Uebersetzt von Ratzel, 1873, S. 230. 22 ‘7 March, American Journal of sciences and arts, Februar 1873. BE "8 Eckermann, Gespräche mit Goethe, II, 132. en, Rousseau, Emile ((Euvres, Paris 1820, IX, 17). „Nous n’avons point la mesure de cette machine immense, nous. n’en pouvons calculer les rapports; nous n’en comnaissons ni les premieres lois ni la cause finale; nous nous ignorons nous memes; nous ne connäissons ni notre nature ni. notre S: principe actif.“ | 7 80 Metamorphose der Thiere. EN:

A

&I R. Valdek in der „Presse“, 1865, Nr. 327, Ei 82 Huxley, Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der r Natur, 1863. Uebersetzt von Carus. $ Derselbe, Handbuch der Anatomie der Wirbelthiere, 1873. . Uebersetzt von Ratzel. = Broca, L’ordre des Primates. Parall&le anatomique det 3 I’homme et des singes (Paris 1870). B. s3 Waitz, Anthropologie der Naturvölker, 6. Thl., S. 796 Kr (bearbeitet von Gerland). ER s4 Ebend., S. 708. | 55 Augsburger Allgemeine Zeitung, 1873,Nr.92—94, Beilage. 86 Die Vorlesungen, welche dieser Gelehrte in Strassburg _

„Ueber die Resultate der Sprachwissenschaft‘ Bei llen habez

ich mit grossem Interesse und Nutzen gehört. . 87 L. Geiger, Der Ursprung der Sprache, 1869, 837. nd ®® Steinthal, Der Ursprung der Sprache, 1851. 3 2. Ir. Müller, Allgemeine Ethnographie (Wien 1873). a

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

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