Ä Princeton University.

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Dentiche Geiftesiehen

Berausgeber Wi

(helm Stapel

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Aufruf zur Mitarbeit an Politiker und Schriftiteller!

Der Deutfche Schugbund (Deutfcher Schugbund für die Grenz- und Aus- landsdeutfchen) fest unter den nachfolgenden Bedingungen eine Summe von

jehstaujend Mart zur Auszeichnung von Aufjägen

aus, die fein Arbeitsgebiet zum Gegenftand der Behandlung haben.

1. Die Auffäge zen das Gefamtarbeit3- er des Deutf Schugbundes oder Teile Davon 4. 9 Hottabftimmungefragen,

Minderheitenfchug, Minderheitenrecht, Or- —— behandeln; ſie können auftlárenden und werbenden, anregenden oder kritiſchen Inhaltes ſein.

2. Die Auffäge miiffen bis zum 15. Febr. 1921 in einer in Deutfcher Sprache erfcheinen- den Tageszeitung oder Fegerg abgedruckt ſein. Ausgenommen ſind Zeitſchriften, die ausſchließlich a —* tſächlich Fragen des a uud Auslandsd behandeln.

ise, die in der gleichen Zeitung oder

in SFortfegungen erfcheinen und

as als Teile eines Ganzen gelennzeichnet find, werden alg einheitliche Arbeit

Die Beteiligung mit mehreren Wuffagen fteht den Bewerbern frei.

3. Die Auffäge können Durch den Verfaffer, den Verleger oder auch durch jede beliebige Perfon zum Bewerb um die Auszeichnung unter dem Kennwort „Wettbewerb“ eingereicht werden. Einreichun fteng ¿wei er ore Zeitung oder

von wenig-

usgaben ber

ift Bedingung.

Berfaffer des Auffages fein.

i en Riv eng 10 Tage öffentlichung eingereicht fein. wird f nae w beftätigt. Ein r nas e wird in der nad)

pr Ausgabe der bem Zs, Geb, 101 eh ——

„Das Vereinsleben“ E nd Das Ver-

gelchnie wird allen Te em an dem

bewerb zugeftellt.

4. Die drei beiten Auffäge werden mit je eintaufend, Die

ur nächftbeften mit je Mart ausgezeichnet Wenigftens eine "Auszeichnung von 1000

Settele ber Futpciónura fann nur ber.

Mart und zwei Auszeichnungen von je 600 Mart miiffen für Auffáge im Umfange eines Tageszeitungsartitels zuerkannt werden.

Die ausgefegten Auszeichnungen in den angegebenen Abſchnitten unter a Umftänden zur Verteilung.

5. Die Entfcheidung über die Zuteilung der Auszeichnung erfolgt Durch die Herren:

Wilhelm Helle, M. b. R., Chefredat- ` teur der „Hilfe“, Berlin, Dr, A. Hommerich, Chefredakteur der „Bermanta“, Berlin, vid) Nippler, M. b. R., Heraus- geber bd. „Zäglihen Rundſchau“, Berlin.

6. Die Entfcheidung wird am ;1. März 1921 allen Beteiligten unmittelbar, außerdem u den Mitteilungsblättern des Deutfchen

Schutzbundes befanntgegeben.

e Zuftellung der Auszeichnung erfolgt gleichzeitig mit der Mitteilung des Ergebniffes.

7. Durd die Suftellun EM der Auszeichnung erwirbt der Deutjche bund von dem Berfaffer das ya adi nae t; es vom Ver- u iſt Sache des Deutſchen

Schutzbundes.

e ausgezeichneten Auffäge werden in den Mitteilungsblättern des Deutfchen Schug- bundes abgedrudt und allen Teilnehmern an dem Wettbewerb zugeftellt werden.

8. Zur Einführung in die Kenntnis der Ziele und der bisher geleifteten Arbeit des Deutfhen Schugbundes werden auf Auf- forderung foftenfrei verfandt:

a) oon spa a hn ee des Deutfchen

Schugbundes am Februar 1920 in Berlin,

b) Führer durch den Deutfchen Schugbund mit Bericht über die erfte Gundestagung und Bericht über die Arbeiten für die Boltsabjtimmungen.

Berlin NW. 52, im Dezember 1920.

Deutiher Schugbund. ARONA

ANNO

Deutſches Volkstum

Monatsſchrift für das deutſche Geiſtesleben

Herausgeber:

Dr. Wilhelm Stapel

23. Jahrgang

Januar bis Dezember 1921

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Hanfeatifhde Verlagsanftalt, Hamburg

——— At AL. JJ,

Inbalts-Derzeichnis

Broße Auffäge

Seite Gottesdienftiormen junger Menfden. Bon einem Sungveulfhen . 4 at 82 Boed, Cvcitiian, stritiche Selvitvitie Kiterarifches Urteil . K&igenleven in oer iteratur +

Bröder, Poul, Son ven Mägern des be: rufsſtändiſchen Blaues . + . . 178 ‘Das Boll ald Xehemelen `. . 251 Elaffen, Waltyec, Antijentitis ‚mus, Roller Thitue und Religion . oe | Colsmann, Dr, alte r, Das. Ewige se 881 Dofe, Helene, ela Mauve und die Moy ftir . 267 Ehreutre i o. Dr. Alfred, Die onhitit im Bletismus . 387

Fecchau, Dieirich, Die deutſche Oberſchuie 208 Grunewalo, Dr Maria, Matthias Grítnemwalo . 5 Hab, vermann, Ser Jdealismus der Pejrei- ung 3tat bon 1813 175 Hebden, Hrang, Bom. toclfaen Raabe uno feinem IMondlied . 291 —— und Geſtaltung in deutſcher Lyrit. 1. Claudius’ Wiegenlied. . . 141 2, Storms Julilied . . . 214 3. Klopftod, Die frilben Gräber . 356

Ylltes, Arthur, Zeitlunft oder VollSlunft? 69 Rleibömer, Georg, Was foll aus dem Theater werden? . . < 2 202.0. 10 Lorena, Proj. Dr. Karl, Raabe in der Guile k we Su SE 2: os S. Re S Sap 4 . s SE Neuendorff, Edmund, und Stupel, Dr. Wilhelm, Die Zerfplitterung der natio-

nalen Jugend . < Q < q ele en < BAT land, Reinhold, Karl Chr. sane cd

Seite Robben, Dr. Peter RER Homer im shüßentgraben °. cee < e s LE ‘Das Buppenipiel . 233 Röttger, Karl, Worte eines Dramatiters an ble Gdaufpieler ents š Ww. 39 80) Schaulal, Dr. Rigard bon, Vemerfungen sum Weert bes Züdiſchen . . . 42 Sidel, Brot, Paul, ‚SERBIEN sant ub dem . . 246 Söhle, Prof. "start, unſere Setibttngsm Tanten . y 137 Meine Grinnerunaen an ` Wilhelm WORD: a ere a . « + 204 Stapel, Dr. Wilbelm, Das Deutfchtum mn die Kirchenſpaltung , . 1

Recht uno Unrecht im Aintifemitismas - . 46 Sarl Thylmann als Didter . . . 83 Das geiflige Deutfchland und die Re: publil. Offener mete an Konrad Sánifd) 2... 101 Bom «ammitielbaren” "Reben «6 « . 203 Ueberfegungen . of reine | 142 + Raabes Deutfchheit ` a 210278 Die Deutung der ,, Frau Salome“ Wil: beim Raabe . 286 = Bauerndämmerung oder Banernherr: fhaft? . o AAAS Gottes und Marien Sohn ay Mov . 377 Straffer, Dr. Karl Theodor, Karl daupt. ae mann Torge, Gite, Sons vᷣluhers oAniifeminis·

u Hr Li = ann, Sermann, Die. deuiſche

Steiners »Dreigliederung” . ë - 318 Volt —— und das UFER Boed, Bilbelm, Márdenfymbolit ` ; 144 „im AuSlanbe” . , . . 76 Braldinger, Edmund Rudolf, ‘Bett itn: Xirol boran! . . . +. 169

garn ein Zeil der Oftmarl . . . ¿ 171 ®Berfönlichleit und Nation . 201 Ralf, Hans, Nolde und JUies 2 327 Unger, Dr. Hermann, Die Taft als” bolts: Ritter , Dr. Starl Rang care Totengedägt- bindende und bollderziehende Mabt . . . 15

nisfier . + + + . 345 Bwmep, Dr. Rudolf, Berthold Otto. . . . 113

Bücherbriefe Seite Seite Bauer, Dr. Eonftantin, Ranbefgriften . 298 Hebden, Fran, meine cido eo Beng, Dr. Nihard, Wilder poe: Sordjai follen wir lefen? . . . < 991 SPESEN Ban. 103 «117 | greibómer, Georg, Dramen antes der

mae E ` ee u Ara ade ns atohen Bühne, 1.2. . “0.332, 368 El affe n, —— Leben Jeſu Rider : a 86 Söhle, Prof. Karl, Zur m@rabmëtiteratur . 255 Bitlboqen, Dr. Goltfried, Das Ausland- Stapel, Dr. Wilhelm, Mus dem num,

deulfichtum in Guropa . , . 52 das. nus die anemias m

Das Wuslanddentjaium in ‘Ueberfec . 216 brodt bat . . o BT Grunewald, Dr. Marcia, Grünewald Lebensläufe bow 1914 2 QQ w UB A >. or ante A er Neuere Bilderbücher - . 2 + . . . 397 Rleine Beittäge

Seite Seite

Aus einem deutſch amerilanifhen Briefe . . 123 Yitibogen, Dr. Gottfried, Die Edil Der gebundene Grundbefit . . ; 220 bewegung in Giebendiirgen . . 363

Benningaboff, Dr. Ludwig, 3atoba t bart Grunewald, Or. Maria, Eine Me fe im Scemierds Holsfeonitte . . 132 Sudjenland . . BER ahi py. . 302 Jofua Leander Gampp teo Are LBS Salou, B, Defpee š zo jah sar BOO: and Schroedter . . . . . ., « +. 194 Harmſen, Sans, Böbmerlund » . 26

- Midael Kohlhaas . . a 309 Siretfámer, Wer, Das Turnen uno "die Meifter Brandes Altarbilder 00.406 Soltshbohfinnle . . 93

Beng, Peter, Der Müßiggang - . . . 124 Lorenz, Dr Subdiwla, Ambroife Got in Beng, Dr. Richard, Deutíde und romanildye Berlin . —— 91

Birtihaftsgeiinnung - - 92 Neuendor fi. "Edmund, Menten und Boed, Ehriftian, Johann Sinri6 debes rat stöpfe . » Bra aungazl, Richard, Alois Kolb . + 370 Wertun ber Zurnzenfur —— 127 Fechner, Prof. Hanns, An Earl Haupt 2 Baulfen, Rudolf, Zum revlon bid Gorm 126 MAR a SUS A 0412 ja S y MOL Birtliäfet . . . . . 499

Ar. XD) O C # ds < o My Nn WV >

Peter, Karl, Sultur-Senfation . . . . 361 Alfred, Das Kind obne Bibel . . 59 Ritter, Dr. Karl sic Stirb und mwerbel ihr: We, ee ae da 28 Was bleibt? . ms e BS Der Heilige und ber Wolitifer « 90 €ntwidlung .... . « „122 DELI a os, a wre s w 159 Muffabrt A) Joealismus und Religion ` š oe + 210 Beftelung +... ew wo we . . 301 Demut . . . 336 Robben, Dr. Peter Richard, ` Bur meta: pbofif bes Puppentheater . 61 err Mar Dan war und bie Srangofen . 338 Rifiger, Dipl.” ing. ‚Sans Detleb, "Srieb- tid Oftendorf . . 226 Schneider, Dr. Sarl, "Sprasvitege und Vollseinheit . 113 Stäblin, Dr. Bilden, voiuu und” Welt anfhauung 24

Stapel, Dr. Wilhelm Der Rriegäfeller- mann und ber Rebolutionslellermann . 30 Hermann Lieg ¿ur Jubdenfrage . .

Geite ,Radbilfeftunben ¿ur —— —— 225 Eine Antivort an Herrn n

Kattowitz Eee

Wurgelplaftit ER ss tar 5 2.209

Bom geiftreichen Raabe |: . . . 304

Raabes Lyrif . 5 a Fe ud

Rubige Erwägungen in ber aufgere egte

Beit. —— Er N "337

5. 6. . + 360

Bücher für unfern reis . 367 Bum Serftándni3 bes Lutherfchen Kin

berliede3 auf die Weibenadt . . . 403 Ullmann, Dr Hermann, Zeitgenoffen.

3. Der Hoffnungsbole . . . +... 29

= E Der Feuilletonift . . . . . 63

5. Der neue Beamte . . . 126 6. Der Mann mit ben Berdindun-

ie . 192

7. Der Amateur-Unternehmer. ` & Vollsvertreter Nulple. . . . . 222 Rebew «2 we tw 2387

Unger, Dr. Hermann, HauSlongerte. . . 27

Gibt eine ,demofratifme Muſil“? . 130 Raifer Künftler Dieb. . . 162

Bu ben Holzſchnitten Albert x 64 = Wege zur neuen Mufil . \ 223

= alter Rebn . . es . 94 Die ammermuflf im Dienfte “ber

Die deutfche Zulunft DL e . 160 Voll8bildung . . 2 2 . ., « +. +. 8365 Bedichte

Seite | Seite Bwölf Gedidte bon WilbeIm Raabe. . 307 Luthers Weihnadts- und Marienlieber . 400

Der Beobachter Gelte 32, 05, 96, 133, 168, 196, 228, 260, 340, 372. Zwiefprache Seite 35, 07, 99, 135, 167, 198, 230, 262, 310, 342, 374, 407.

Stimmen der Weifter

„Wer Jebta, š eiten leben will.” Lieb aus bem 16. Jahrh. (Seite 36). UHland, Gaftredt (68). Karl Thylmann, Erbe (100). Seinrid b. Kleift, Gólubberfe ber Sers (136). Goethe, Sanymed

(168). E. M. Arndt, Verbeibung (200). $. b. Kleift, Bon der Ueberlegung (231).

Goethe, rear ima] (264). Raabe, Muthaben (312). Gottfrted Keller, ,Mehrheiten” und „Der Verleumber” (344). Aleranber b. Humboldt, Wee fen ber Gprame (376). ,Belenntni3” aus einem Gefangbud bon 1712 (408).

Bilderbeilagen

Heft Meifter Grande: Geburt Ebrifti. Ans» betung ber Slönige. Die Frauen unterm Kreug. Der heilige Thomas . . . . . 12 Eespinadon ber Meifter Brande.

®ampp, Jofua Reander: Vier Selónungen 6 (Benningboff fiber Gampp. 6. 163.) Grünemald, Matthias: Ser Aufers ftebende. Maria Magdalena. Mufizierende Engel. Straub bom Stubpader Altar. . 1 (Maria Grunewald über Grítnemal. ©. 5. Grunetwald-Sdriften. ©. 19. Seemsterd, Jacoba ban: Bier Holz f&nitte 4 (Benningboff über Jacoba ban Seems. ferd. ©. 132.) 9 Leds: Arthur: Sterbender Siegfried. Pro-

b (Ralfs über Nolde und” giles. `e. 327.) Kolb, Alois: Wanderer und Tod. Hexen» men, Midael f —— Zum Eee n . (Braungart über "Rol. ©. 370.) `

10

ft König, Albert: E eros Birken tae Raubretf. Wald. Licht, dad burd das

Duntel bridt. Butter. . 2 (Stapel über Königs Holafdnitte. 6. 64.) Nolde, Emil: Grablegung. Knecht 10

(Ralfs über Nolde und Due €. * 327.) Oftendorf, Sriedrich: 2 Bauten und 2 Entwürfe . . (Rófiger über Dftendorf. 6. 226.) Raabe, Wilhelm: Handzeihnungen . . . ri dagu in der Zwieſprache.

Rebn, Walter: Euferftebung. Enttäufung. Sorgen. Der Gel tentoeg 8 sal über Rebn. $. 4.) Robben, Beter Ricard: Sclvedvtidacen . 8 a „gohdens Uuffap „Das Buppenfpiel”.

Saroenter, Hans: ir tt Jung fried. Der Einfiedler. m Sunt er enningboff über chen. 3 194.) Strauch, Maz: 4 Wurzel-Plaftilen . . (Stapel über Murzel-Plaftit. ©. 259.)

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Aus dem Deutihen Volkstum

Matthias Grünewald, Auferitebender Chriftus

Nad dem Mappenwer! „Grünewald's Ifenheimer Altar“ Verlag R. Piper & Co., Münden

Deutiches Dolfstum

J.Seft sine Monatsfchrift 192)

Das Deutiftum und die Nirchenfpaltung.

ie Hauptfache ijt, dak ich mich durchfege in der Welt, fagt der Weltmenfch. Die

Hauptfade ijt, daß ich die ewige Seligfeit erlange, fagt der fromme In— dividualift. Der eine denkt an das Geld, der andre an Gott, beide aber denken zuerjt an fid) felbjt. Der eine wünfcht Hd fiebzig Jahre angenehmen Erdendafeins, der andre legt hierauf nicht ganz fo viel Wert und möchte fid) lieber für die Ewigkeit in Sicherheit bringen. Beide unterfcheiden fid) nicht der Art nad, fondern nur durd die Richtung ihres Blides.

Wirklihe Frömmigkeit ift aus härterem Stoff al3 aus Wunfch und Sehnſucht und Genuß. Sie denkt gar nicht an die eigene „Seligfeit“, fie gehordt unmittelbar Gott, was immer er fordert. Wenn Gott fie in Yammer und Elend ftößt, flennt fie nicht über Ungerechtigkeit, fondern greift den Jammer an. Wenn Gott fie in die Hölle ſchickt, geht fie in diz Hölle und fürchtet fich nicht. Denn fie ift nichts für ſich, fie ift ganz nur Dienerin Gottes. (Das fei allen religiöfen Schwätzern unferer Zeit zum Trog gefagt, die aus jedem Gefühlchen, das fie beim Anblid der Sterne haben, aus jeder Rührung, die fie beim Lefen eines Gedichtes überfommt, ein „religiöfes Erlebnis” machen. Gott ijt Gott und Sentimentalitat it Sentimentalität, und die ift um fo abjcheulicher, je mehr fie fid) mit großen, heiligen Worten aufplujtert.)

Wir find in bejtimmte natürliche und gefchichtliche Gemeinfchaften hineingeboren worden, ohne dak wir fie uns ausfuchen durften. Die große natürliche Lebensgemein- ſchaft jedes Menfchen ift fein Volt. Aus feines Volkes Vergangenheit und Gegenwart lebt und zehrt ein jeder, feine Sprache fpricht er, in feinen Rechtsanfhauungen, Sitten und Ordnungen bewegt er fic). Mit Körper und Seele gehört er feinem Volle an, mag er wollen oder nicht. Er ift und bleibt ftet3 ein Glied des großen Lebens Volt”. Jeder Menfch, der nod) un willkürlich lebt und nicht in Theorien und Ideo— logien als in einem intelleftuellen Lebenserfag lebt, fieht fein Volt als feine ihm vom Schickſal zugewiefene Aufgabe an: er lebt „für“ fein Volt. Dit mein Leben für mein Bolt, fo ift auch mein veligiofes,Leben, alfo der Dienft Gottes, für mein Volt. Was hülfe mir, daß ich felig werde, wenn mein Volk verdammt würde? Gs ift ja gar feine Seligfeit auszudenten, die ich haben fónnte und haben möchte, wenn mein Volt, deffen ich ein Teil bin, fie nicht hatte. Denn was ift eine Seligfeit, der man fic) vor andern ſchämen muß?

So hat Jefus gefühlt und gedacht. Er fagte Eärlich, daß er zu feinem jüdifchen Volke gefandt fet. Nur ungern ging er über die Grenze. Sein Herz befiimmerte nicht das Schidfal Roms, Athens, Alerandriens, fondern das Sdidjal Yerufalems und Rapernaums. Er hielt fid) nicht zu den jüdischen Affimilanten der helleniftifchen Kultur, fondern er hielt fic) zu den nationaljüdifchen Pharifáern und ftritt mit ihnen um feines Volfes Seele. Und wenn er wirklich feine Jünger in die Fremde fandte daß die Echtheit jener Worte aus philologifden und gefchichtlichen Gründen be- jtritten wird, fonnen tir hier übergehn fo fandte er fie zu den andern „Völkern“, nicht „Menfchen”. Ibm war der Gottesdienft immer Boltsangelegenheit..

Nicht anders empfand der jüdifche Apoftel, der das Evangelium den Völkern der belleniftifchen Kultur brachte und der dazu beftimmt mar, der Botjchaft von Bethle-

1

hem und Golgatha die Form zu geben, in der fie die Fahrhunderte des Völferzerfalls und der Volterneubildung überdauern fonnte. Man follte nicht fo rafd über das Selbjtbefenntnis hinlefen, das fid Paulus im neunten Kapitel des Rómerbriefes von der Seele gefchrieben hat: „ch fage die Wahrheit in Chrijtus, ich lüge nicht, denn mein Gewiſſen (Syneidefis) bezeugt e8 mir im heiligen Geift: es gibt für mich einen großen Kummer und eine unausgefegte Qual für mein Herz. Gern ware ich ja felber fort- gebannt bon Ehriftus für meine Brüder, meine Stammwermwandten nach dem Fleiſch, die den Namen J8raeliten tragen, denen die Sohnfchaft gehört.“ Was hat diefen Mann feine Berufung über fein Volt hinaus gefoftet eine immer blutende Wunde!

Die hriftliche Wahrheit hat fic) in jedem Volk; in dem fie gefchichtliche Wirk- licpteit wurde, verwirklicht in den Vorftellungen, Gefühlen und Lebensordnungen, die eben diefem Volke eigentümlich waren. ALS fie zu den Germanen fam, twurde Gott der „Gefolgsherr” und die Chriften wurden die ,,Gefolgsmannen”, die fic) ihm „gelobten” und den alten Göttern den Dienft „verfagten”. Als die Deutfchen wieder eigene fromme Lieder zu dichten und eigene fromme Bilder zu malen begannen, da geftalteten fie den Gott Vater, die Gottesmutter und den Heiland de ut ſch. Blond und blau und braun, fo ſchön und fo häßlich, wie die Deutfden nun einmal jind. Die Offenbarung Gottes blieb diefelbe, aber fie wurde unter den Deutjchen deutſch erlebt. Wäre das nicht fo getvefen, fo wäre die ganze Uebernahme des Chrijtentums nur eine intelleftuelle Künftlichfeit und innere Uniwahrhaftigfeit getvefen. Die Offenbarung Gottes pflanzt fich nicht Í o fort, daß eine Yoeologie von Kopf zu Kopf weitergegeben wird, fondern fo, daß eine neue Gefinnung, ein neues Leben von Herz zu Herzen zündet. Offenbarung ijt nicht eine Erfenntni3 durch den Verftand, fondern ein Feuer, das Gott in die Seele wirft und das den jeweiligen Gedantengehalt des Kopfes fhmilzt und neu formt. Das Leben der Wifjenfchaft ift ertennen, aber das Leben der Religion ift entzünden. Go fchufen fid) die von Gott ergriffenen und entflammten Deutfchen ihr deutjches Chriftentum.

Nun aber haben wir feit vierhundert Jahren in unferm deutfchen Volfe ¿wei Chrijtentiimer in zwei Kirchen. Zwar Gott ift für beide derfelbe, der Heiland und die Erlöfung aud. Aber die Kirche hat für Katholifen und Proteftanten einen grundverfchiedenen Sinn. Senen ift fie der irdifche Teil des ewigen Lebens, diefen ift fie eine äußere Ordnung tie andere Ordnungen aud. SYenen ift fie heilig, diefen weltlih. Der Katholif kann nicht Proteftant werden, weil er dann auf die Kicche, in der er die wirkliche Gemeinfchaft mit Gott und allen Heiligen hat, verzichten müßte und fid) damit von Gott abfehren würde. Der Proteftant tann nicht Katholit werden, weil er dann einer.äußerlichen Ordnung, einer Kirche mehr gehorchen müßte als Gott. Der Katholit fühlt fic) frei durch die Kirche, welche die Verantivortung für ihn übernimmt; der Proteftant fühlt fich frei durch die Verantwortung, die er feiner Kirche übertragen fann. Der Katholif würde fid) in der proteftantifchen Kirche von Gott verlaffen fühlen, der Proteftant würde fid) in der fatholifchen Kirche von Menſchen getnechtet fühlen. Der Katholif fürchtet bie Yrrtümer des Herzens und des Kopfes, der Proteftant fürchtet die Jrrtümer der Kirche. So fonnen und werden fie nicht gufammenfommen.

Aber höchft merkwürdig ift es nun, dak es deutfche Frömmigkeit gibt, von der man nicht fagen fann, ob fie fatholifd) oder proteftantifch fei. Erſtens: Ludwig Richter ift unzweifelhaft ein echter Chrift in feinem Leben wie in feiner Kunft gerejen, er hat nicht weniger zu Gottes Freude als zu der Menfdjen Freude gelebt. Aber er war fowohl in der proteftantifchen mie in der fatholifchen Kirche zu Haufe. Beide tönnen ihn beanfpruchen, und feine von beiden fann ihn bean{pruden. Zweitens: War die deutſche Myſtik des fpáten Mittelalters in ihrem innern Wefen tatholifd) oder proteftantifh? Beide Kirchen erhalten echte und wahrhaftige Anregungen von ihr, obwohl beide ihre Vorbehalte machen. Und hat der Fatholifche Angelus Silefius

o

nidt aud den Protejtanten, der proteftantifche Jakob Böhme nicht auch den Katho- lifen etwas zu fagen? Hier ift chriftliches Leben, das fich mit beiden Kirchen verträgt. Drittens: Iſt der Gefreuzigte und Auferjtehende des Matthias Grünewald, der Schmerzensmann Dürers, das Hundertguldenblatt und die Streuzabnahme Rem- brandts fatholifch oder proteſtantiſch? Und ebenfo fragen wir in der Mufif. Es ift, als ob die beiden Begriffe Katholiſch und Proteftantifch plöglich nicht mehr gufaffen und greifen können, es ift, al3 wollte man die lodernde Lohe des Feuers mit einem Löffel in ein Gefäß fchopfen. Vierten3: Freuen fic) gebildete Proteftanten nicht herzlich der katholiſchen Marienlieder, obwohl fie feine Marienverehrung wollen? Laffen fie fich nicht durch religidfe Lieder und Predigten fatholifher Dichter und Kanzelredner erbauen? Wiederum, wird fic) ein gebildeter Katholif dem goethifchen Fauſt verfchliegen, und wird er fid) nicht an vielen proteftantifchen Predigten erbauen fónnen?

In all dem, was aus deutjcher Seele gedacht, gedichtet, gefungen, gemalt, geſchnitzt ijt, lebt ein eigentümlicher feelifdher Gehalt, der nicht anders zu bezeichnen ift al3 mit dem Wörtlein „deutſch“. Diefen Gehalt tonnen wir in den Werfen fremder Völker, auch wenn fie der gleichen Kirche zugehören wie wir, nicht haben. Der Ratholit fann feines Chriftentums exft dann ganz innig und herzlich leben, wenn er es hat in feiner Mutterfprache, in feiner deutſchen Gefühlswelt, in den Bildern, die ihm gemäß find. Sonſt bleibt es ihm immer in einer gewiſſen Ferne und Fremdheit. Nicht anders geht es dem Proteftanten. Die deutjchen Katholiten und Proteftanten haben alfo nicht nur in ihren: weltlichen Wejen, fondern aud) in ihrem Chrijtentum eine feelifche Gemeinfamfeit, die fie mit franzöfifchen, englifchen, italienischen Glaubensbrüdern nicht haben. Daran ijt nicht zu rütteln Gott felbft hat diefe Gemeinjamfeiten und Unterfdiede gewollt, denn er machte fie vom menſchlichen Willen unabhängig. Ich fann gwar Kleidung, Sprache, Ge- danken nad) Belieben wechfeln, aber nie und nimmer mein Blut und meine Seele, meine natürlihen Begabungen und Nichtbegabungen, meine Gefühlsweifen, nie und nimmer mein Volkstum!

Darin, dak wir, Katholifen wie Proteftanten, Deutfche find, haben wir alfo ein gemeinfames Leben, auch ein gemeinfames religiofes Leben. Aber darin, Dah die Kirche für uns etivas wefentlich verjchiedenes bedeutet, find wir durchaus verfchieden. Es ware wohl ſchön, wenn wir Deutfche alle in einer Kirche mit Gott verbunden wären; aber das Schidfal, das Gott nad) Fatholifcher Auffaffung gugelaffen, nad proteftantifcher Auffafjung gewollt Dat, das alfo immer nicht ohne Gott ift, hat anders entfchieden. So ftellen wir in einem Bolfe ziwei Weifen des Chriftentums dar, von der jede den Anfpruch erhebt, die rechte zu fein. Ein jeder von uns fteht in Der Kirche, in die er, ohne eigene Wahl durch Gottes Fügung, hineingeboren ift. Und für jeden gilt, folange nicht Gott felbft ihn zu eigener Entfcheidung wedt und drängt, das Geſetz der Treue: er fei gehorfam dem göttlichen Schidjal und fomit treu feinen Eltern und feiner Gemeinfchaft. Ein jeglicher achte die Treue des andern.

Aber da erhebt fid) der Zweifel: Fd) bin nicht nur aus Gewohnheit, fondern aus flarer Ueberzeugung Proteftant. Ein anderer ift ebenfo Satholif. Feder von beiden Hält feine Kirche für die vechte. Muß er nicht aus Liebe zu unferm Volke verfuchen, das ganze Volf zum „wahren“ Chriftentum zu bringen? Müffen wir nicht durch Werbung fiir die eigene Kirche unferm Volte ein einiges Chriftentum zu geben verfuchen? I

Ich meine, das hieße eingreifen in das Amt Gottes. Wir find ja nicht ein Volt, dem die Botfchaft des Chriftentums unzugänglich wäre. Bei uns ift beiderlei Form des chriftlichen Glaubens zugänglich für jeden, der danach begehrt. Der, den Gott unruhig macht in feinem Gewiſſen, fann die andre Form fennen lernen und prüfen,

3

ob Gott ihn dahin treibt. Die Gottesdienfte ftehen offen, die Bücher liegen da, und wenn jemand zu dir fommt und fragt, fo belehre ihn mit ganzer Wahrhaftigfeit. Im übrigen laffe Gott walten. Beirre nicht diejenigen in ihrer Treue, die nicht von Gott felbft zur Entjcheidung getrieben werden. Seve nicht deine menfchliche Freude am Rechthaben und deinen menjchlichen Eifer des Obfiegens an die Stelle des heiligen Wirkens Gottes. Erweden zum Glauben ift gut, befehren zum andern Glauben ijt nur gut, wenn Gott felbjt es wirkt. Verwechſelt nicht die Verfündigung der frohen Botſchaft Gottes mit der Propaganda” für die Kirche.

Aber da ift noch ein anderer Streit zwifchen uns deutfchen Chriften: Luther. Wir Broteftanten können nicht umbin, ihn zu feiern, weil er uns der immer lebendige Mabner und Führer zu Gott ift. (Go feltfam das euch Katholiten auch erfdeinen mag.) Ihr Katholiken aber könnt nicht umbin, ihn zu verabfcheuen, weil er der heiligen Kirche und damit Gott ſchweren Schaden getan hat. Erwägen wir dazu Folgendes.

Erften3: Würde man von den meiften Liedern Luthers und von einem nicht geringen Teil feiner Schriften nicht wifjen, daß fie eben von Luther ftammen, wären fie etwa ohne Namen überliefert worden, fo könnte jeder Satholit fie ohne Anſtoß und mit großem Mugen lefen. Vergeffen mir nicht, daß Luther in feiner Beit bis zu gewiffen Grenzen auc) die Zuftimmung aufrichtiger Katholiken hatte und dak mande feiner Forderungen mehr oder weniger erfüllt worden find. Zweitens: Luthers Bedeutung für das deutfde Geiftesleben, für, das fatholifche nicht minder wie für das proteftantifche, ift nicht wegzudenken. Man vergleiche nur das Luther- deutjch mit dem Deutſch feiner Zeitgenoffen welch eine von taufend Wundern volle Schöpfung ift Luthers Sprache, die nun unfere ift! Das aber if eine Tatfade, die da ift, wie der Regen draußen, der da regnet, ob es mir lieb oder unlieb ift. ES liege fich nod) manderlei aufzählen, was alle Deutfchen von Luther empfangen haben, ohne e3 zu wollen und zu wiffen, ohne es entbehren zu fónnen.

Vie nun alfo? Man kann fu auf zweierlei Weife zu gefchichtlichen Perfönlich- feiten verhalten. Einmal unmittelbar in Liebe oder Hak. Wir fegen uns dann perjónlid) mit dem Leben auseinander, das fid) in ihnen offenbart. Wir wollen etwas von ihnen oder gegen fie. Oder aber, wir verhalten uns gefhihtlidh. Dann erheben wir uns gleichfam aus der Sache über die Sade. Das Blidfeld eriveitert fih. Aus Lieben und Haffen wird ein Sich-erfreuen und Bedauern. Aus der Leiden- fchaft des Kampfes wird Ergebung in die großen Zujfammenhänge der Gefchichte. Wir entfagen dem eigenen Befferwiffen und vertrauen den Fügungen Gottes. Der Eifer wird gemildert durd) Güte, das Wiffen wird vertieft durch Weisheit. Sicherlich ware e8 ſchlimm, wenn wir das Leben nur gejchichtlich nehmen würden, denn fo würden wir unfähig, Gefchichte zu maden. Aber ebenfo gewiß bleibt ein jeder Geift eng und ärmlich, der unfähig ift zu gefchichtlicher Erfaffung des Lebens.

Uns Proteftanten tan n Luther nicht nur eine gefchichtliche Perfönlichkeit fein. Wäre er uns nicht mehr unmittelbares Leben, fo waren wir nicht Proteftanten. Euch Katholifen aber, deren Frömmigkeit andersivo quillt, deren unmittelbares religiöfes Leben nicht von Luther Geftalt und Ordnung hat, fonnt feine Perfönlichfeit ge- Ihichtlih nehmen. Ihr könnt euch, in gefhihtliher Erhebung über die Ereigniffe, aud) eines Luther freuen und das, was ihr für euer Leben ablehnt, in den großen gefhichtlihen Zufammenhängen würdigen. So fann die Geftalt Luthers beiden zum Gegen werden, denen, die feine Tat verurteilen, wie denen, die ihr Leben nicht ohne diefe Tat denken fonnten und möchten.

Gott hat ung Deutfdhen ein eigentümliches Schidfal beſchert: Ihr müßt uns ertragen und mir euch. Und nicht nur das; obwohl wir religiös tief gejchieden find, müffen wir doch einander lieben mit der natürlichen Liebe, die Brüdern eines Volkes geziemt. Alfo dienen wir als ein einiges Volt dem einen Gott auf zweierlei Weife.

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Das erfordert viel Selbftzud)t, eine nicht geringe fittliche Reife, ein tiefes geiftiges Erfaffen Gottes und des Dienftes Gottes. So ijt auch im religiöfen Leben die Aufgabe der Deutfchen ſchwieriger als die Aufgabe andrer Völfer. Wir müffen, in- folge unfres zwiefpältigen Lebens, mit unferm Leben ganz in die Tiefe dringen, um die wahre Einheit (nicht bloß eine Einheitlichkeit von Vorftellungen und Begriffen) fchließlich zu erringen. Mögen wir unfre Aufgabe wahrhaft lofen, nicht durch die Kämpfe menfchlicher Leidenfchaften, fondern durch Gehorfam gegen ben ftillen, heiligen Willen Gottes. St.

Matthias Grünewald.

Wien der bildenden Sunft ift ſchwer in Worte zu faffen; das lebte läßt fid) überhaupt nicht fagen. Formen reden ihre eigene Sprache, die fic) mit der Wortſprache nicht bedt und fich künftlerifchem Empfinden unmittelbar mitteilt. Darin liegt das Mejentlihe der Wirfung. Dennoch bedarf die Aufnahmefähigfeit felbft des Begabtejten einer Schulung und fie fann nicht anders erteilt werden als durch hin— weifende Worte. So wird erflärende Rede vor Kunftiverten notwendig und kann trog ihrer Unzulänglichkeit oft viel zum Erkennen der Schönheit beitragen.

Sobald man nun das dem Auge fic) mitteilende Gebilde dem Ohr zu deuten verjucht, ift man genötigt, einheitlihe Wirkung in Teilvorftellungen aufzulöfen. Anders fann fie nicht befchrieben werden. Das Uebliche ware, zunächit Inhalt und Form zu jcheiden. Es liegt diefer begrifflichen Teilung die Annahme zugrunde, daß der Künftler fein Werk fchafft, indem er einen feelifhen Inhalt in entfprechender Horm geftaltet. Doch verhält fih, wenn man näher zufieht, die Sache nicht ganz fo einfach. Betrachte ich 3. B. Oritnervald3 Maria mit dem Kinde und Engeln vom Sfenheimer Altar, fo werde ich zwar nicht irregehn, wenn ich behaupte, ber Meifter habe den Inhalt in bolltommener Weife in Form gefaßt. Aber tie viele haben die heilige Nacht anders dargeftellt und in ihrer Weife auch vollendet! Dürers Mutter- gottes im befchloffenen Gartlein von 1503, feine Maria mit den vielen Tieren und die Marien vieler anderer Künftler find in ihrer Art meifterlich, obwohl fie ganz anders ausjehn als das Werk Griinewalds. Man könnte fagen, e3 liegt auch ein abweichender Inhalt zugrunde; jeder Geftalter empfand die Gottesmutter und ihre Beziehung zum Kinde in eigner Weife. Das trifft zu.

Es gibt aljo verfchiedene Darftellungen eines Gegenftandes, weil mancherlei Auffaffungen feiner möglich find. Bis dahin Tiefe fich die Betrachtung eines Kunft- werkes als eines aus der Seele des Schaffenden heraus willfürlich geformten Inhalts fefthalten. Wie erklärt fic) aber die Tatfache der gefchichtlich wechjelnden Stile? Dem Funftgefchichtlich Erzogenen werden die Kreuzigung und die heilige Nadt, feelifch durch Abgründe getrennte Welten, eines Meifters des 16. Jahrhunderts ein- ander ähnlicher vorfommen, al3 eine heilige Nacht des 11. und eine folde des 16. Jahrhunderts, obwohl beide den gleichen Inhalt haben. Eine einheitliche Formen- ſprache beherrfcht die ganze Kunft einer Zeit. Auch das ift Ausdrud einer Stimmung; die allgemeine feelifche Einftellung fpricht fic) aus. Ebenfalls neigt jedes Volfstum beftimmter Linienfiigung zu, und endlich hat der Künftler feinen perfönlichen Stil. Alle Formungen find Spiegel des Gemüt und die genannten Stilarten können fid) im perfönlichen Träger geiftig und formlich feindlich durchkreuzen oder ergänzen und fteigern. Es ergibt fich, daß die Gejtaltung eines Inhalts zwar Ausdrud der Perfönlichkeit des Schaffenden oder fogar feiner willfürlichen Auffaffung ift, dak aber BPerfönlichkeit und mwillfürlihe Tat durch taufend Einflüffe bedingt werden, über die er nicht Herr zu fein vermag.

Grünewald hatte das Glüd, einer Zeit und einem Volt anzugehören, die mit feiner Berfönlichkeit in denkbar vollfommener Weife übereinftimmten und ihm

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Steigerung über Steigerung innerlich gufommen lafjen konnten oder, beffer gejagt, feine Perfonlidfeit und fein Stil erwuchfen aus Volt und Beit als deren lebter Ausdrud, getragen von unaufhirlich guftrdmenden Kräften einer gleichgerichteten Umwelt, die ſich in ihm gleichfam felbjt vollendete. So fonnte er zum reinen Aus- drud deutfcher Volkheit werden, Träger der Volksſeele und zugleich Führer.

Sn jedem Stilgepräge handelt es fich wiederum um zwei Beftandteile: die Natur- auffaffung und den formlicden Charakter. Welcher von beiden die Grundlage des andern ift, läßt jd nicht ermitteln. Am beften nimmt man wohl an, daß beide einheitlich aus einheitlich geftimmter Seele hervorgehn.

Griinetwalds Naturauffafjung ift höchft bedeutfam und für fein Werk bejtimmend. Sie zeigt fich fehr perfönlich und zugleich völkiſch. Ihre Eigenart erfaßt man am beften durch Vergleich, und zwar wäre Gegenüberftellen des zeitgenöffifchen Italien das Gegebene. Während die Meifter ber Renaiffance die raube, lebendige Linie der Natur zu glätten fuchen man vergegenivártige fic) Raffael um eine von ihnen fo empfundene Schönheit in ihr Gemälde zu bringen, gibt fich Grünewald wie jeder echte Deutfche ohne Rüdhalt dem Zauber ewig reger, ſchäumender Erdfraft Hin. Herzerfriſchend ted und naturempfindend heilig tief ift feine Zeichnung eines fingen- den Engels. Strogende Fülle tommt ungehemmt zum Ausdrud: im Spann ber Muskeln entftehn beulige Formen, dagwifden tief gehöhlte Gruben. Das merf- witrdig Inollige Gefüge hat ben Künftler erregt. Darin pulfte ihm Lebenswirfen, drángende, unaufhaltfam mwallende und geftaltende, dem Urgeift entftrömende Kraft. Wie Vorwelt-Riefengröße redt es fich auf, felfentürmender Eddageift, bem Natur rüdfichtslofes Gefchehn bedeutet.

Leider gibt es noch heute Deutfche, die foldem Geftalten italifche Glatte vorgiehn. Aber wie fann uns eine durch Abſchwächen leblos gemachte Form Schönheit bedeuten! Sollte nicht vielmehr als höchſte Schönheit das braufende Leben empfunden werden, deffen Darftellung unfern großen Meiftern lebtes Ziel war! it eine andere Cin- ftellung für ung nicht ein Seren, eine Krankheit? Man verſenke fich in die jprühende Gewalt der Deutfchen, man verfinfe in Grünewalds Geftalten, und e8 fann nicht fehlen, daß in uns als Deutfchen, im verwandten Blut der verwandte Lebensſtrom eine neue Schönheit, eine glühende, purpurne, aufjauchzender Seele gebiert.

Nah Hagen würde die befdriebene Zeichnung nicht einen Singenden, fondern einen Schreienden darftellen. Das ändert an dem erläuterten Charakter nichts. Man vergleiche fchreiende Menfchen Raffaels in den Vatikaniſchen Fresken.

Wie in der genannten Zeichnung pulft ftoßende Urkraft im Inolligen Mobren Mauritius, durdflutet wallend den Körper des Auferftehenden, drängt fühn und ftart und rauh in den Köpfen des Sebaftian und des Verkündigungsengels.

Aud in Mariens Antlig zittert Erde. Und gwar offenbart fd hier Neues. Sie Jungfrau der Verkündigung des Ffenheimer Altar und die Mutter der heiligen Nad)t gehören zufammen; jene ift Vorjtufe, diefe Vollendung. Die erfte ein natür- liches Gewächs wie Blume des Feldes, Baum oder Strauch, unbewußt, pflanzengleich, fider und erdennah, die zweite aus Gottestiefen erleuchtet, bon Himmelsatem durch- weht. ES find diefelben Züge des deutfchen Kindes der Vertiindigung, nun aber verflart. Und das Wefentliche ift, daß ſowohl unbefangene Natürlichkeit, als audy jenes felige Licht in ganzer Tiefe aufleuchten tónnen nur in der Betvegung germani- ſcher Form. Die geglättete italifche macht legte Sprache des Innenlebens unmöglich; an ftarrer Sinie zerfchellt tiefe Gewalt. (ES ift taufendmal der Say bon der Inner- lichteit germanifcher Kunft ausgefprochen worden. Wichtiger wäre zu betonen, daß Innerlichkeit hervorwächſt aus jener rüdfichtlofen Naturnähe und eben nur aus foldem Grunde wadfen tann. Lebensfülle ift das eigentliche germanifde Mertmal und Seelentiefe Teilerfcheinung, toftbare Blüte des ftarten Baums.

Köpfe und Geftalten der Engel im großen Marienbild haben wie Quellwaffer

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erquidende, Wiefenduft atmende Frifde. Die beiden Johannes der Kreuzigung find erdgeboren.

Was von den Köpfen gefagt ift, gilt von den Leibern man beachte den Auf- erftehenden und insbefondere von den Händen. Auch in ihnen wächſt Seele aus lebendigen Gejtalten und namentlich bringt rückſichtsloſe Naturnähe tiefe Wahr- baftigfeit des Geiftes zum Bewußtſein. Das unglaublich ftarte und mwahrhaftige Zeigen Johannes des Taufers und des Verfündigungsengels fonnte nur gefunden werden aus derbem Naturbewußtjein. Nührende Hilflofigteit der gefalteten Hände Mariens am Kreuz wacht aus demfelben Grunde auf. Feinheit und Seele des Faffens der Mutter in heiliger Nacht, zitternder Sieg nach Todesqual in über- irdifch Teuchtenden Händen des Ueberwinders entwidelt fi) aus jener tiefen Wurzel.

Große Schönheit fieht Grünewald im feidigen Fluten goldener Haare. Schim- mernd umiliefen fie die heilige Jungfrau, den Leth Magdalenens. Mit unendlicher Zartheit hat der Meijter das Licht diefer goldigen Seide empfunden. Daß ift wieder echt germanifd, Sinn für ftoffliche Eigenart ift ein maßgebender Charakterzug unfrer Kunft.

Ah, wenn wir uns doch gewöhnen könnten, die künftlerifche Schönheit da zu jehn, wo unfre Großen fie fahen! Nicht in glatter Linienführung, fondern im un- gebundenen, erfdjiitternden Reichtum lebendiger Form, aber auch im feidigen Glanz der Haare, im weichen Schimmer der Haut, im riefelnden Bitter des Lichts. Nicht bloß ein Fafjen der Oberfläche ift liebevolles Herausarbeiten des Stoffliden, wie Michelangelo, von italifher Auffaffung ausgehend, eS meinte e3 ift fichtbares Ausdrüden des Lebens der Tiefe, quellender Säfte, webender Kräfte im Innern der Natur. Dal ijt der Sinn der Vorliebe der Germanen für ftoffliche Erfheinung und nicht8 anderes. Der verborgen rinnende Lebenzitrom offenbart ſich im Weſen der Oberflähe und lebendiges, den Weltenraum durdhflutendes Licht antivortet ihm. Alles ift durchwebt und durchwallt von geheimnisvollen, fidtbar aufraufchenden Strömen. Oberfläche ift Ausdrud verborgener Geheimniffe der Natur.

So fah Grünewald nicht nur Menfchen, fondern auch Gewänder und Blumen in zitternder Dafeinslujt, in ſchwanker Linie, in duftig farblicher Oberfläche. ES ftrablen Lilien aus dem Strauß neben der Stuppadher Muttergottes auf, lebendig ranfen Rofen, [oder und natürlich ift das Gebinde in den erdhaft warm empfundenen, bäuerlichen Henfeltopf gefebt! Es riefelt Licht um die ſchöne Jungfrau der heiligen Nacht, gleitet über goldene Haare, raufcht auf den vollen, großen Falten des Getvands, loft den Kopf der Rorallengelrónten in Saud auf und läßt den Auferftehenden leuchten wie Sonne. Herrlich ift das Gewand der fnieenden Magdalene. Wie Wafferwogen aus Meerestiefen mwallt es empor in mächtigen Formen vollendeter Schönheit.

Deutſcher Naturauffaſſung entſpricht als Formgefüge auch der ſpätgotiſche Stil. Das Geflimmer der Netzgewölbe, des Maßwerks, der Krabben und Kreuzblumen, der wirbelnden Gewandfalten ift der Ungebundenheit der Natur verwandt. Grüne- wald lebt zur Zeit ausgehender Spätgotik. Wäre nun das Weſen ſeines Stils durch Einordnung in jene erſchöpft? Sicher nicht. Der Begriff iſt zu eng. Es empfiehlt ſich, ihn nur da anzuwenden, wo ſpätgotiſches Gefüge den Bildausdruck beherrſcht, etwa für die Holzſchnitt-Offenbarung Dürers, die Stiche Schongauers, die Schnitz— werke Riemenſchneiders. Aber bei Grünewald finden wir etwas anderes. In der Kreuzigung des Iſenheimer Altars iſt von ſpätgotiſchem Linienwerk nichts zu merken, ebenſowenig in der Auferſtehung oder im Erasmusbild. Am meiſten wird vielleicht die heilige Nacht an jenen Stil erinnern. Im Gefält Mariens klingt Winkligkeit nad, das Zierwerk der Kapelle beherrſcht ftart das Bild, und das Gewwirr der mufizierenben Engel ift entfprechend. Und dod! Wieviel faftiger und voller, wieviel weniger edig gegirfelt und rein formlich ift das Gewand! Hier überwiegt die Emp-

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findung des Stoffes, der fick) in ſchönem Gefälle ftaut, im Gotifden das Linienfpiel, das mie zufällig an einem Gewande in Erfcheinung tritt, aber auch ein Nebgewolbe fein tónnte.

Allgemein wird nun in funftgefhichtlichen Ausführungen die Zeit um 1500 als Wende von Spatgotit zu Renaiffance bezeichnet. Was nicht fpätgotifch ift, wird als Renaifjance angefprochen. Fit nun mit dem legten Begriff Grünewalds Kunft zu faffen? Auf feinen Fall. Von einer deutfchen Renaiffance zu fprechen, ift ein Unding. Die Antike fann in Deutfchland nicht wiedergeboren werden, da fie bei uns überhaupt nicht geboren ift. Es macht fic) aber nad) 1500 ein italifierender Stil bemerkbar. Indeſſen nicht bei Grünewald. Yn feinem Werk fpüren wir das Verflingen der Spätgotif und das Herauswachfen eines Neuen. Das Neue aber ift nicht italifch, fondern germanifh. Ein germanifcher Stil wächſt auf ohne fpatgotifden Einfchlag. Beites Beifpiel ift das Erasmusbild in München. Frei und fühn gefügt, echt ger- manifd, läßt es doch nichts mehr von dem fraujen Gewirr der Spätgotif fpüren. Es ijt aber auch beileibe nicht italifierend. Rein Staliener der Zeit ware fähig. getvefen, eine foldje Anordnung zu erfinden; man vergegenwärtige fid) als Gegen- beijpiel zweier Geftalten in Begrüßung die Heimfuchung des Pontormo. Und feiner hatte die Figur des Erasmus fo prachtvoll ftarf, einheitlich und ungegliedert Hin- gefebt. Auch der fnollige Kopf des Mobren, feine Bewegung find unitalienifch, viel zu lebendig.

Man hat den Begriff des gotischen Stils fo erweitern wollen, daß alle germani- fen Erſcheinungen darunter fallen. Das bedeutet aber für die wiffenjchaftliche Erkenntnis feine Klärung, fondern Verwirrung. Die Gotik ijt in ihrem Ausdrud gu bejtimmt und fie ift ficher nicht Grundlage des germanijchen Stils, fondern ein Bweig. Wir können das Werden unferer Kunft nur verftehn, wenn wir den Begriff De germanifchen Stils einführen, von dem Gotik eine Abart ift. Der Meifter der Naumburger Stifterfiguren, Jan van Eyd, Konrad Wik, Grünewald, Rembrandt find feine Vertreter. Nur auf Grundlage einer folden Zufammenfaffung gewinnen wir eine einheitliche Linie. Es empfiehlt fic), das Gebiet des Stils möglichit weit zu nehmen und als gotifch oder italifierend nur das abzugrenzen, was ausgeſprochen den Eharafter trägt. Obwohl in Grünewald Spätgotik deutlich nadtlingt, obwohl er Anregungen von Jtalien empfangen hat, rechnen wir fein Werf am beiten ganz dem germanischen Stil zu, weil die bezüglichen Merkmale am ftärkften fprechen.

Welches ift nun das bezeichnende Formgefüge des Stils? ES it frei, kühn, ungebunden und dod) von heimlichem, man möchte jagen, muſikaliſchem Geſetz beftimmt. Zu den ſchönſten Schöpfungen gehört die heilige Nacht unferes Meisters. Ein jauchzendes Quellen der Form erfüllt bag Gemälde. Nechts groß und bedeutend die heilige Jungfrau mit dem Kinde. Links als Gegen eine reich geſchmückte Sapele, etivas in den Hintergrund gerüdt, erfüllt von fchwarmendem Gewimmel großer und Heiner Engel, umranft von üppigem fpätgotifhem Bierrat. Obwohl das Gebau groß ijt, tann e8 doch der Bedeutung der Muttergottes nicht das Gewicht halten und wird deshalb nach born verftärkt duch einen einzelnen, größeren, jchwer an den Bildrand gerüdten Engel. Gen Maria hin ftrebt es in der Himmlifchen Erſcheinung der Korallengefrönten. (ES ift formlich bedeutend, wie die Jungfrau rechts in der Tiefendehnung gleichfam die Mitte einnimmt zwiſchen Kapelle und Engel des Bild- rand3. Ihre Größe und Bedeutung wird gefteigert durch freie Landichaft, riefelndes Licht und geballte, quellende Wolfen des Himmels. Aud) die Geräte des Kindcheng, die neben ihr ftehn, verjtärfen die Erfcheinung, indem fie zu ihr Hinleiten. Etwas Schwantes und Singendes ijt in der Ordnung, unergriindlid) und fider tinende Melodie.

Jm Münchner Gemälde beherrfcht die breite Geftalt des Erasmus machtvoll das Ganze. Mauritius fehreitet auf ihn zu, erreicht faft die Mitte. Nad) rechts 8

und hinten ftaut fic) Gefolge. Kühn und rüdfichtslos ift die Erfindung in der über: mäßigen Belaftung des linten Bildrand3. Und dod! Nichts möchte man anders wünjchen. Grad fo muß es fein. Wir fühlen den innerlich gefegmáfigen Gang im drangenden Schritt der Form. Das ift Schöpfertat von tiefer Notwendigfeit, die wie Geheimnis heilig verborgen wirkt. Mufitalifch ſchmelzend und wirbelnd erglänzt die felige Fülle Heiliger Nacht, wie getitemtes Urgeftein trobt die Bewegung der Heiligen.

Vermandtichaft des Gejetes beider Erfindungen mit gotifchem Stil ift offenbar. Und doch wird man fie nicht gotifch nennen. Es überwiegt für den Eindrud nicht Formenfpiel wie etiva in Dürers Offenbarung Formliches und Dingliches halten fid Gleichgewicht. Figuren werden nicht in Fleden und Ranten aufgelöft. Weit entfernt ift die Ordnung von Stalienifchem. Seine Spur von Geometrifierung des Gefüges, wie fie dort üblich ift. Bei Grünewald haben wir fowohl im Natürlichen, al3 auch im Formliden germanifden Stil reiner Prägung.

Abgefehen vom Gefüge im ganzen ift weiterhin auf Geftaltungstraft gegenüber

"Natur hinguweifen. Man betrachte die tnieende Magdalene der Iſenheimer Kreuzi- gung. Wie fniet diefe Frau? Kniet fie überhaupt oder fteht fie? Wie ftedt der Körper im Gewand? Wir wiffen e8 nicht. Wie Maffermogen raufcht e3 auf, breit fangen Falten Flut goldener Haare auf, drängen empor und flingen aus im Schrei des Antliges, im Verzweiflungslaut der Hände. Und wie merfwürdig find die Arme! Wie windet und drängt das Tuch um fie, ſchnürt hier in Enge ein, blabt fic) dort beulig auf (Ellenbogen)! Dal ift nicht mehr natürlich im alltäglichen Sinn, es ift gejtalteter Ausdrud. Unendliche Klage weint in Linien und Flächen, umftrömt die Seele mit formlidem Rlangtum.

So auch umivallt eS den Himmelanftürmenden. Der Bau des Körpers ift natürlich unklar, Entfernung von Achfel zu Knie zu kurz. Aber aufwärts fchnellt es blighaft eindrudsvoll. Wie ein Wetter zadig niederfährt, fo fliegt die Lichtbahn im Winkel-auf und zerplagt oben zu freisrunder Sonne. Auch niederftürzende Wächter find über Wirklichkeit hinaus geformt, und die Ohnmacht Marien am Kreuz, inntg umfangendes Faffen, efeurantendes Umfchlingen des Johannes, Bewegung der Engel in heiliger Nacht wachſen aus gleichem Empfinden auf.

Und nun gibt e8 einen Sab, der unaufhörlich feine Runde durch deutjches Schrifttum madt. Er heißt: ES ift deutfch, den Inhalt höher zu fchägen als die Form. Rein Wort ijt fcharf genug, eine foldje törichte Behauptung zurüdzumeifen. Es mag Deutfde genug geben, die den Inbalt höher fchagen als die Form. Sie mögen gute Deutfche fein. Aber gewiß find fie nicht Künftler. Wer den Inhalt über die Form ftellt, faßt die Welt nicht als Künftler auf; denn Kunft ift niemals etwas anderes als geformter Inhalt. Ja, ſchönes Formenfpiel an fid) ohne allgemein feelifdjen Inhalt fann Kunft fein, aber niemals der legte ohne Form. Man febe fich unfere Großen an und lerne von ihnen. Sie waren Meifter des Geftaltens. Das genannte, irreführende Urteil ift offenbar nur entítanden auf Grund unferer Ver- fflabung durch Antike und Renaiffance. Man hatte fid) gewöhnt, als Form nur das anzufehn, was dort als folche galt. Da man fie im eigenen Lager nicht entdedte, bie tiefe Seelentraft der Werke aber wohl merkte, erfand man fich jenen Sag. Er ift, wie gefagt, nicht ſcharf genug zu befämpfen; eine folche Meinung, die fich verfeftigte, würde gradezu den Untergang unferer Kunft bedeuten.

Die Geftaltungstraft der Germanen ift größer, führer, erfindungsreicher als diejenige der flaffifden Kunft. Sie muß e3 fein, teil fie fic) auf breiterem und tieferem Naturgefühl aufbaut. Je ungehemmter die Naturauffaffung, defto ge- waltigere Formtraft ift notwendig, fie fünftlerifch zu bewältigen.

Kühn und erfindungsreich auch ift Grünewalds Farbtum. Es feheint in Gold und Rofa das Kleid des Erasmus, es bligen rote Feuer durch das Vertiindungsbild.

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Schwärmend flirt Blumenglanz im wimmelnden Engeldor, beftridend mifden fich Blond und Roja der Magdalene; im Regenbogenftrahl fährt der Held auf.. Gang tief ift Eigenwert und namentlich feelifche Bedeutung der Farbe empfunden, den Sinn des großen Deutfchen für die formliche Seite der Kunft auch nach diefer Rich- tung kräftig bezeugend.

Alles bisher Erwähnte ift als feelenvolle Form erläutert worden, ohne dak der riftliche Inhalt befonders betont wäre. Und doch ijt er legten Endes das Ent: fcheidende. Nicht fo fehr der einzelne Vorgang: Kreuzigung, Geburt, al3 vielmehr der Glaube an die Gottlichfeit des Gefchehens. Nimmer hatte Griinewald folche Bilder finden können, wenn feine Seele nicht den Himmel in fic) trug. Gottes Nähe läßt ihn in Farben befennen, in Lichtern ſchwärmen, in gewaltig tönenden Formen Hagen. Das ift fchlieklich der Inhalt, der fein Geftalten jo überlebendig und durch- dringend mabt. Er fpricht bie Sprache feiner Zeit und feines Volkes, er fpricht feine perfönliche fünftlerifche Sprache. Er ift feiner Begabung nad) einer der ganz großen Geftalter, nicht jeder Gläubige vermag Erleben in Farben auszudrüden. Aber was er formt, da3 fagt er getrieben von höherer Macht, vom heiligen Geift. Und das zündet, das fchlägt ein wie ein Wetter, das durchbohrt mit zweifchneidigem Schwert. Das webt als unfaßbar Geheimnis, wie heimlich Leben der Seele in Gott in feinen Werken. Und das läßt aud) alle Worte ganz befonders arm und nidtsfagend zer- fchellen vor einer Offenbarung, die nur in Farbe Zartes und Tiefes, Abgründiges mitteilt. Das ift e8, weshalb man immer twieder fic) innerlich ſcheut und fid zwingen muß, überhaupt von ihm zu fprechen. Es it Heiliges da, das nur durchs Auge heimlich in Seele fic) fenft und das Worte, man fühlt es, nur tie grobe Hände berühren, den legten himmliſchen Duft zerftörend. Maria Grunewald.

Was foll aus dem Theater werden? Gime Theater find ſchon in diefem Jahre eingegangen, andere haben mit Müh

und Not die Millionengufdiiffe von Stadt oder Staat erhalten, ohne die fie aud ihre Tätigkeit hätten einftellen müffen. Unfere Geldverhältniffe werden ſich bis zum fommenden Herbft nicht von Grund auf beffern, die allgemeine Armut wird im Gegenteil noch zunehmen. Damit werden die großen Zufdiiffe an die Theater noch fraglicher al3 in diefem Jahre. Anbererfeit3 wird der Theaterbetrieb nicht billiger werden; ſchon die Gehälter und Löhne werden unerfdwinglide Summen verlangen. Geniale Neuerungen im Theaterbetrieb find bid heute nicht gemacht worden. Alle Berfuche: moiglidfte Ausnugung des Theaterraumes durch zeitiweilige Vermietung auch an Kinos; volle Au3nupung des Perfonal3 durd) Wander- und Stadtebund- theater; Organifation der Zufchauer um volle Haufer zu fihern; Erhöhung der Ein- trittspreife; alles das liegt auf der Linie des bisherigen wirtſchaftlichen Betriebs unferer Theater und konnte den grundfaglid) veränderten Umftänden feine grund- fägliche Neueinftellung gegenüberftellen.

Schließen wir darum nicht die Augen, bis wir am Abgrund ftehen, fonderu rechnen wir fon Heute mit dem Zufammenbruch des Theaters! Was foll dann werden?

Eine „Rultjtätte für dDramatifche Kunft“ ift grundfäglich unfere Bühne bis heute nicht getwefen, fondern die Stätte, wo alles fzenifch Darftellbare geboten wurde. Erkennen mir das und nehmen uns vor, aus dem fommenden Zufammenbruch nur das Theater al3 Kun ft ftatte, nicht alg Unterhaltung sgelegenheit zu retten, fo haben wir fon eine allgemeine Richtung gewonnen. Someit da8 Theater dem Unterhaltungsbedürfnis dient, wird es fic) ſchon aus fic) felbft erhalten. Und wenn nicht, dann nicht.

. 8 ift richtig, daß bag Theater wie alle anderen wirtfchaftlichen Betriebe nach Angebot und Nachfrage arbeitete, fo muß e8 alfo im ganzen bisher dem Allgemein- 10

bedürfnis nad) Dober Runft entfprochen haben. Ein einfaches UÚeberzáblen der Sahresfpielpläne zeigt uns dann, bag ein Verlangen nach dramatifder Hochkunft bei weiten nicht in dem Maße vorhanden ift, dak dafür die vielen Hunderte Theater in Deutſchland nötig waren. Eine Einfchränfung ware alfo vom Standpunkt der Kunſt nod) fein Verluft. (Hier mag aber gleich die entgegengefebte Seite hervor: gehoben werden: Hat das Theater in feiner bisherigen Form alles Verlangen nad) Kunft befriedigen fonnen? Und wir antworten: Das konnte es bei feinem gewaltigen Betrieb nicht; die Meine Stadt und das flache Land blieben unberüdfichtigt. Das zu betonen tft mir fchon darum wichtig, weil die Gefundung des deutfchen Volkes und damit der Unterbau des neuen Reiches ficher nicht in den großen Städten liegen wird.) Noch eine andere Ueberlegung mag uns einen Mafftab geben für die Be- urteilung des Bedürfniffes nad) hoher dramatifcher Sunft: Wer felbft germ das Theater befuchte, wird fejtgeftellt haben, daß bet dem erigen Wechfel zwiſchen Unter- haltung und Kunft ein häufiger Theaterbefuch möglich war, daß aber beifpielsweife ein raſch ablaufender gefchloffener Kreis großer Dramen, fagen wir ein Schiller Zyklus, fo ermüdend auf die Nerven wirkt, dak damit dann für längere Beit das Theaterbedürfnis geftillt ift. Mithin ift der Einzelmenfch gar nicht fähig, ein fehr hohes Mak großer Kunft aufzunehmen.

Wie fteht der Schaufpieler als Künftler im heutigen Theaterbetrieb? Wäre das Theater al3 Kunftitätte von der Bühne als Amüfiermittel getrennt, fo würde zu einem großen Teil das Lotterleben, das fich im Bühnenhaus immer nod erhält, von dem Kreis fünftlerifch ftrebender Menſchen, die fid) fo feltfam mit der Liederlichfeit mifchen, getrennt, ganz gewiß nicht zum Unfegen für die Kunft. Denn wer vom Künſtler fchlechthin verlangt, daß er alg Menfch etivas vom Feiertäglichen feines Berufs zeigen foll, der wird auch den Schaufpieler in den Kreis diefer Künftler einbeziehen wollen. Daf die Belaftung ernfter Bühnenfünftler zugleich mit Schwank⸗ und Poffenrollen als wiinfdenswert bezeichnet wird, weil dadurch der Künftler Viel- feitigfeit und „Routine“ erhielte, bedeutet, aus der Not eine Tugend machen, bedeutet ferner, durch die oft unerhörte Rraftausnubung des Schaufpielers ihm das nötige geiftige Ausruhen unmöglich machen, das er fo gut mie jeder andere Künftler braucht.

Mir müffen uns alfo darüber. Har fein, dak wir die Schaufpieler nicht voll beichäftigen werden, wenn wir das Theater nur als Stätte der Kunft erhalten wollen. Andererfeits haben wir aber aud) feitgeftellt, dak wir eine geringere Befchäftigung um der Kunſt willen für wünfchenswert halten.

Aber alles, was wir bisher durchdachten, trifft doch nicht die Hauptfache. Wir müßten por allem und gu lauteft fagen: Geht das Theater ein, fo liegt die unerfchöpf- liche Fülle deutfder dDramatifcher Kunft brach, ungetwertet oder doch wenigſtens bom 2 lebendigen bühnenmäßigen Wirkfamkeit ausgefchloffen und befchräntt auf das

en.

Iſt das aber wahr? Aft das hohe Gut unferer dramatifchen Dichtkunft auf Gedeih und Verderb mit unferm Theater verbunden? Greifen wir eins der reinften Dichtwerke heraus: Iphigenie. Ob die wobl je wieder fold) einen fünftlerifch reinen Eindrud erivedt Dat alg bei ihrer erjten Aufführung im Garten zu Belvedere? Auf nadter Erde, zwifchen naturgeivachfenen grünen Heden, ohne Theatermalerei und Beleuchtung. „Heraus in eure Schatten, rege Wipfel des alten heilgen dicht- belaubten Haines tret’ ich.” Ob wohl ein Menfch unter den Zufchauern war, der in diefem Augenblid den alten dichtbelaubten Hain nicht gefehen hat? Mit zwei Zeilen fparte der Dichter die ganze Kuliffenwelt! Es fet auch gleich daran erinnert, tie diefe erjte Iphigenieaufführung, die mir nad mandeer Richtung beachtensivert zu fein jcheint, von tüchtigen Künftlern und tüchtigen Liebhabern gemeinfam gefpielt wurde, b. D. von Menfchen, die an innerem Wert etivas bes deuteten. Und hat nicht mancher Lehrer mit dem „Wilhelm Tell” die gleiche

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Erfahrung gemacht wie ich, daß dieſes Kunſtwerk fogar auf dem Schulhof in Stambul, wo Feigenbaume und Cypreffen die natürliche Umgebung bildeten, aus dem Bann diefer Umgebung heraus und in den Zwang der Dichtung und ihrer Welt hineinzog? Wer will behaupten, daß Hebbels Nibelungen auch nur einen geringen Teil ihrer Wirkfamteit aus den Mitteln des Bühnenhaufes bezogen? Wer will das pon Schillers Wallenftein behaupten? Unfere großen Dramen ausgenommen nur die rein naturaliftifchen, bei denen die Menfchen nur durch die Umgebung verftanden werden fónnen find, auch wenn fie vom Dichter für die heutige Kuliffenbühne gejehen find, doch bon diefer nicht fo abhängig, bab um ihretmwillen diefe Bühnenform müßte erhalten werden! >

Wer diefe Behauptung als richtig anerkennt, fieht dem kommenden Theater- zufammenbruch nicht al3 einem fünftlerifchen Weltuntergang entgegen.

Sch will aber nod) einen andern Gedanken aufwerfen, und wer dem auch zuftimmt, der wird fogar einen Gewinn aus dem jcheinbaren Unglüd erhoffen.

Denkt an Bayreuth; und wer nicht da war, dente an die Freunde, die ¡hm bon ihren Eindrüden aus Bayreuth erzählt haben. Fit es nicht faft immer diefelbe Erfcheinung, dak der Erzähler in Erinnerung an das Erlebte einen etwas feierlichen Ton anfchlägt, fo daß wir merten: Er war an dem Ort, wo unfer Theater: ih in fünftlerifch veinfter Form zeigt und alfo die-höchften Wirkungen erreicht? Und worin bejtebt diefe höchfte Wirfung? Darin, dak der Zufchauer [eine Seele bis ins tiefjte erfcehüttert und bis ins höchſte erhoben fühlte. Immer werden mir von einem Eigenerlebnis des Zufchauers hören. Müßte aber nicht wenigjtens von diefer Bühne bei diefem Sunftivert ein gewaltigeg Gemeinfchaftserlebnis aus— gehen? Hören wir, dah die Feltfpielbefucher Bayreuth verlaffen mit der gehobenen - Stimmung, fic) al3 deutfches Volt erhoben und geläutert nefühlt zu haben? Ich glaube, den meisten Menfchen, denen man diefen Gedanken entgegenbrächte, fame er fo unangebradt, fo unerwartet vor, al3 würde da eine Forderung ans Theater geftellt, die unberechtigt wäre. Gehen mir mit unferen Gedanken aber einmal zurüd in die Zeiten, da das Theater wirklich etwas bedeutete im Volt8leben. Sei es bei den Griechen, fet e3 bei Shakefpeares Königsdramen, fei es bei frommen Volt3fpielen des Mittelalters: zum Volts erlebnis ward jede Vorftellung. Zuſammengeſchweißt und -gefettet alg Volk wurden die Zufchauer durch ihr Theater. Nur unferer Zeit ift eg vorbehalten geblieben, allabendlid) in Hunderten von Theaterräumen die tausende und abertaufende Glieder eines Volkes zu vereinen und fie wieder zu ent- laffen, ohne daß fie fic) al8 Eins gefühlt hätten, dagegen gehoben und geftártt in ihrem Gefühl als Individuum, während fie mit taufend Volt3genoffen zufanmen- fagen! Ja, können wir uns denn das erlauben, bab die befte Gelegenheit, Ge - meinfdmaftserlebniffe lebendig zu machen, einfach ausgefdaltet wird? Dit ea nicht vielmehr unfere höchfte Not, dak wir vor lauter Individualismus auseinander- gefallen find, wo fefteftes Gemeinfchaftsgefühl vonnöten ware?

Moran mag es liegen, dak unfer Theater nicht die Wirkung ausübt, die früher von ihm ausging, die überhaupt von jeder Verfammlung vieler Menfchen ausgehen fonnte?

Daß ed nicht an den dramatifden Dichtungen liegt, geht daraus hervor, dak bie auf3 allgemein Bölkifche geftellten Dramen wie Tell, Wallenftein, Nibelungen ufro. ebenfo wenig oder doch fa ft ebenfo wenig nad) diefer Richtung hin wirken wie die indiidualiftifchen.

Ich glaube, daß die Form unferes Theaters zu allermeift ſchuld ift. Sei e3 die reihenmäßige Anlage des Parketts oder die abgefchloffenen Logen, die Trennung ber Bufdauermenge durch die übereinander geordneten Range, alles fdeint nur darauf berechnet zu fein, den einen vom andern abjufdliefen, damit er für fich allein genießen möge. Denken wir dann einmal an die Form des griechifchen Theaters, fchauen wir

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die 21D bildungen der Shafefpearebühne an, denfen wir an die Stierfampfarena, an derr Zrifchauerplag bei Pferderennen oder Fubballfpielen, an das antife oder das modextte Stadion: Von all diejen Pläten geht ein ftarfes Gemeinfchaftsgefühl auf de werxfammelte Menge aus. Was haben alle diefe Plage gemeinfam? Die ert, bie FES große Menfhenmaffen ¿ufammenballen, das Kreisformige. Die dem Kreis uftre b ende Zufammenfaffung der Menfchen (mag man das nun pfychologifch ver- ke He ze oder nicht) erzeugt das Gemeinfchaftsgefühl. Weil unferm Theater diefes fehlt,

mil es durd feine Anlage bag individuelle Erlebnis fördert, darum jpielt mfexr Wheater, trog der Fülle höchſter Leiftungen unferer Bühnendichter, im Volf8- kB xt eine fo unbedeutende Rolle. Gch verweife bei diefem Gedanken, der nicht MEE Siſtiges Eigentum ift, auf meinen Bücherbrief über Schriften zur Bühnenreform m Tax Dibeft.

SESS as nun?

RES ar ftellen uns auf unfere Armut ein, lernen uns befdeiden und legen, indem bie FEE + £ einfachſten Mitteln das Theater als Kunſtſtätte zu erhalten fuchen, die Grund- lagexa Fiir ein neues Theater, das dereinft in befferen Tagen dann weniger primitiv aus ſe n mag alg das des nächften Winters.

SERS as das Theatergebäude anbelangt, fo ijt e8 uns zu teuer. Wir richten unfer Kater darauf ein, daß e3 in vorhandenen Galen fpielen fann. Ein Saal ift in jeder =%=3 orítadt, in jeder Sleinftadt und in Form einer Scheunendiele fcjlieflich in dere Dorf. Benugen wir diefe „Iheaterpaläfte”, fo tragen wir die Kunſt zugleich MAILS SBoltztreife hinein und machen das Theater nicht mehr unberechtigterieife zu MEE <Morzugsgefchent an die Großſtädter. el er Gaal mut ift uns darum fo außerordentlich gut geeignet, weil er uns ee die Anordnung der Site im Verhältnis zum Spielraum dem Beifpiel des ra Theaters oder des Zirkus anzunähern. Wir ziehen den Spielplag in die Aut E A rermenge hinein; erreichen damit eine Gemeinfchaft auch ziwifchen Spieler und * Hauser. Dem Künftler ftellen wir damit fine neue Aufgaben, denn er, der auf ie Ti obnten Bühne immer nur einfeitig fpielte, muß hier mehr runbdtórperlid Dont SEE, mehr als dreidimenfionales Wefen. Auf alle Fälle wird das eine Vervoll-

FEE AT 219 der Schaufpielfunft bedeuten. quis te Bühne wird der zu Shatefpeares Zeit ähneln. Sehr einfach und leicht —— €x xwten, wird fie einen erhöhten Spielplatz für die Einzeldarſteller haben, während bip + T3enen fid in der „Orcheftra“, dem im Zufchauerraum freigebliebenen Halbrund, we und um weiteſte Anforderungen des Dichters in bezug auf Schauplatz⸗ den zu befriedigen, wird fie einen Aufbau haben für Obergeſchoß, Fenſterſzenen, unfex- as ex machina uſw. Schlicht aus Holz, in der Form den legten Anfprüchen fuli ES fortgefhrittenen Kunſthandwerks entfprechend. Alle Hintergründe und zuria m werden durch ein paar Vorhänge erfest. Und unſere Koftüme werden auch) dere LT ebren aus der Verirrung, da ein dramatifches Runftivert mit einer wiffenfdaft-

Diab Fulturhiftorifden Studie verwedfelt wurde. Wir brauchen nicht in den Krie Eon über Koſtümkunde nachzuſchlagen, wie die Uniformen im dreißigjährigen

von se ausfahen. Wir überlaffen es der Phantafie der Zufchauer, die ganze Buntheit

{rate Sailfenfteins Lager bor fic) zu fehen. Mag der Nörgler denn ruhig hierin ein

(uta Des Zugeftändnis an die Armut unferer Zeit fehen und diefe Vereinfachung

ber EXD über fid) ergehen laffen. Auch ihm wird durch diefe Prüfungszeit die Göttin,

IR) y ` Dethe vor allen Himmlifchen den Preis geben wollte, bie Phantafie, wieder

are, > Er unfer Theater, das hierin ber Wegbereiter des Kino gerejen ift,

a worden ift. wie er fpielt auf unferm Theater? Eine fleine Schar ausgefuchter, als Künftler

—— Menſch tüchtiger Schauſpieler, die ſich zu einer Lebensgemeinſchaft zuſammen⸗

YU Haben, um dadurch eine rationellere Wirtſchaft führen zu können. An ihrer

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Spitze fteht der fe h x tüchtige Spielleiter, der durch feine Kunft aus dem Wenig oder Nichts unferer Bühnenausfhmüdung ein Schönes zu machen verjteht und der zugleich unfere nod) nicht an die neue Bühnenform gewöhnten Künftler führt.

Da unfere Schaufpieler nur K un ft werke fpielen, brauchen fie nicht jeden Abend aufzutreten; denn tir wiſſen ja, daß die Nachfrage nicht fo fehr groß ift, fo dak jeden Abend müßte Theater gefpielt werden. Da wir mit unferer Bühne zudem die ver- ſchiedenen Vorftädte der Grofftadt, außerdem aber auch das umliegende Gebiet befuchen, fo braucht aud) nicht fo oft ein neues Stüd gefpielt zu werden. Unfere Schaufpieler find alfo nur halb bejchäftigt, Tonnen vechtlicherweife nur ihren halben Lebensunterhalt für ihre Tätigkeit erwarten. Als tüchtige, wertvolle Menfchen find fie nicht voll befriedigt durch die Tätigkeit, und fo find fie damit einverftanden, daß der Theaterunternehmer dem eigentlichen Theater einen andern Betrieb angliedert, der wirtfchaftlich einträglicher ift. Warum foll einem Theaterbetrieb nicht 3. B. eine Gärtnerei angefchloffen fein, in der die Schaufpieler täglich arbeiten, um ihren achtftündigen Arbeitstag Herauszubelommen? Den gärtnerifchen oder lanbivirt: fchaftlichen Beruf greife ich heraus, nicht nur, weil er es am leichteften ermöglicht, die Arbeiter ftundeniveife hHerauszunehmen, fondern zugleich auch, weil ich die Rüd- fehr der Menfchen, befonders der Geiftesarbeiter, zum Zufammenhang mit der Natur für nötig halte zur Gefundung unferer Geiftigfeit. Aber e8 kann natürlich auch irgend ein anderer Betrieb fein. Der Einzelfall wird das ergeben. Wefentlich ift mir nur gu fagen, daß der Schaufpieler neben feiner Kunft noch einen produftiveren Beruf haben muß. Sch bin überzeugt, daß das, was ich für den Schaufpieler fordere, auch den andern geiftigen Arbeitern in der fommenden Not nicht twird erfpart bleiben. (Und wieder fehe ich feinen Verluft darin!) Mag es mandem Künftler und mancher Künftlerin zuerſt „unwürdig“ erfcheinen, wenn fie für die „Truppe“ wieder Tochen und nähen fol. Schadet nichts! E3 wollte den vielen, die ihren Pla im erjten Rang den Kriegsgewinnlern einräumen und auf den dritten Rang überfiedeln mußten, auch erft als eine „Schande“ erfcheinen; heute lachen fie darüber.

Und nun müffen wir nod) ein leptes bedenfen. Die Truppe bon tüchtigen Künftlern, die unfern neuen Theatergedanten tragen follen, wird nur flein fein. Uns fehlen nod) die nötigen Spieler für die Kleinen Rollen und die Statiften. Die ftreichen wir im Perfonenverzeichnis des neuen Theaters ganz. Und tun damit eine gute Tat. Denn das Leben diefes Teils des Theaterperfonals ift heute und war ſchon gejtern nad) jeder Richtung fo beflagensiwert, daß wir der Kultur einen Dienjt erweifen, wenn mir fie überflüffig maden. Und fie werden überflüffig durch die Liebhaber, die wir Herangiehen. Das Vol€sbiihnenfpiel blüht auf in den legten Jahren. Ueberall wird gefpielt, und e8 ift durch die entftehende ftraffere Organifation diefer Liebhaberbühnen möglich, die Teilnehmer ernfter für das Schaufpielen zu bilden. Und dann find folche guten Liebhaberfpieler dem Kunſtwerk viel wertvoller als ſchlechte Berufsſpieler.

Dem Theaterſpielen des Volkes müſſen wir alſo mehr Aufmerkſamkeit als bisher zuwenden. Wir wollen es auch. Denn nur wenn wir das echte Volksſpiel wieder

beleben, ſchaffen wir uns das unverbildete Theaterpublikum, das wir brauchen. Wo

Anfänge ſind, da ſollen wir ſie unterſtützen und pflegen. Denn aus der Heimatliebe und der Freude am alten Volksſagen- und Märchengut muß unſer neues Theater ſich aufbauen. Darum ſind die Heimatſpiele allüberall zu beleben. Sei es in der Weiſe, wie Müller-Eberhart auf dem Kynaſt in vorhandener Burganlage das mittelalterliche Leben wieder auferſtehen läßt, ſei es wie wir es hier an der Oſtſeeküſte machten, daß wir auf ſchlichteſter Naturbühne die Ortsſage in der gegebenen Land⸗ ſchaft ſpielten.

Aus dem Heimatsboden ſaugen wir unſer Volksgefühl. Ohne ſolche boden- ftändige Grundlage werden wir fein neues Theater ſchaffen, das feiner größten Auf- er Volksgefühl zu pflegen, entfpreden fan. Georg Kleibömer.

Die Diujif als volfsbindende und volfserziehende Macht.

IS enn das gefeffelte deutſche Volt nicht gleich jenem fagenbaften Simfon die Säulen des volfertragenden Palaſtes umftürzen und mit fic) alles in den Unter gqarng reißen will, muß es fich nach Waffen umfehen, die ihm feine Macht der Ede zrrehr rauben kann.

> wäre freilid) ganz verfehrt, diefe neuen Waffen allein auf geiftigem Gebiete jupexe Zu wollen. Damit würde eS nur denjenigen einen neuen Dienft erweifen, die hr Beute wieder mit Ciferfudt ein Wiedererftarten deutfcher Gefchäftstüchtigkeit vraız—Fehen Aus England, dem Zentrum induftrieller Nebenbuhlerfchaft, erſcholl breit Zu Anfang des Krieges der Iodende Ruf: „Laßt die Deutfchen weiter das Volt de De ze ter und Dichter fein, laßt fie Sinfonien und Dramen fchreiben, aber haltet fie fm x Martt und Markigefchrei.” Reinete Fuchs hätte keine gefdidtere Rede eine we fünnen. Dasjelde England hat während des Krieges die ftártiten Anftren- gYWgexe gemadt, um auf dent Wege über die Schweiz deutfche medizinifche und hertt > E> e Jadliteratur, deutiche Präparate zu befommen. Dasfelbe England treibt dlecd £ =< es heute, io fein Krieg getvonnen, einen einfeitigen und überſchwänglichen

Kult xx Et dem Berliner Pbhyfiferphilofophen Einftein, um von neuem die Aufmerf-

Rhmfe++ zer Welt vom materiellen Deutfchland auf das reingeiftige abzulenken.

3 vielgerühmte „deutfche Wefen” ift demnach mehr als ein fpezielles Hinneigen

u wrie; es befteht vielmehr in dem Sihdurchdringen reinfpetulativer und pratti-

{her _ ~SPerte. Sonft hätte eS nicht möglich fein tonnen, dak gerade Wiflenfchaften,

keiner foldjen Verquidung bedürfen, bei uns ihre Hochblüte erlebten, daß deutfche

Aers te, deutſche Chemiker nirgend anderswo ihresgleichen finden, dak unter den

Hntber, der Gejchichte fid) vorwiegend deutfde Namen befinden, daß unfer Volt

"biefem vergangenen Krieg der Nerven und der Mafchinen zugleich auf fich felbft

serra. ja von feinen Bundesgenofjen bis aufs Blut ausgenugt, die ganze Welt in Sac gehalten hat.

Sa 3 Ber: Vorrang verpflichtet. Und fo müßte unfere erfte Sorge in diefer Zeit der

von Te Laing neuer Kräfte fein die Vereinigung von Theorie und Praxis, die Abkehr

El =FIer unfruchtbaren Einfeitigteit, die Zuſammenfaſſung aller tulturfórdernden

We = Ette. Denn jede Kultur, von der antifen angefangen, befteht in der gegenfeitigen

ae Telmirtung geiftiger und weltlicher Mächte. Das gilt, mehr nod) als im Wert:

Ber, in der Wiffenfchaft, am allermeiften jedoch in der Kunft.

deut y te in vielem, fo ijt auc bier der Ertrag aus der Revolution gering genug;

in. Dex Eigenfinn und deutfche Eigenbrödelei haben es ftatt zu einer Sammlung zu

Und Se rfplitterung der Kräfte gebracht, der gegenüber bisher jedes Mittel verfagte.

eine FWas das ſchlimmſte dabei: diefe „Dezentralifation“ ift weniger das Ergebnis

gen =. Me cHthaberifchen Kopfes als eines nimmerfatten Magens; der bisher allgewalti-

Bieter oliſchen Kirche verfagen lohnhungrige Arbeitermaffen die Gefolgichaft; dasfelbe infor L=wmnbexg, das der Geiftesbildung feiner Proletarier Millionen opfert, fah fid ithe Da Des Steuerabzugs in Bürgerkrieg verwidelt, im Mejten wurden Stener- gi) Stige durch den Hinweis auf das reichere Frankreich umgarnt. Und der tote Kin. ite Kapitalismus feiert auf Koften ber gemeinfamen Kultur Auferjtehung im Sie tangel tie in Snobeditionen einer Literatur und Mufik, welche fic) an die ye e = ftatt an das Herz wenden. Was aber nügen alle wirklich ehrlichen Verſuche, Bole ax rithafte Kultur aus Staatsmitteln zu unterjtügen, Volkshochſchulen, Volkschöre,

on STE onjerte ing Leben zu rufen, wenn diefe Einrichtungen bom Tage ihres Beſtehens Q Sum Zankapfel der Parteien gemacht und lieber fabotiert als einer interparteilichen Pang überlafjen werden, wenn der innerpolitijde Seelenraub felbft auf die Schulen SR wird? A

—— oe =

Es gilt fomit, zunächſt einmal eine Macht zu finden, die am ebejten dem perfón= lichen und politifchen Eigennuß entriidt und dadurch zum Band neuen Gemeinfchafts- gefühls gemacht werden fann, deren Geltung in der übrigen Welt aber zugleich fo unumftritten fein muß, daß von ihr nicht Mißtrauen und Neid, fondern Verfühnungs- wille ausgehe. Was weder dent deutfchen volferdemofratifden Gedanfen noch der franzöfifchen Dichterverjtändigungsidee gegliidt, was weder Spengler vom politischen nod) Graf Kevferling vom philofophifchen Standpunkt aus gelungen: die Kultur- nationen der alten Welt zu einigen, das müßte jene noch zu findende Macht leiten. Und fie würde außerdem das einzulöfen haben, was nod) immer die Grundbedingung für jede Verföhnung der Welt mit dem deutfchen Volte bildet, die Wiederherftellung deutfcher Einigkeit in fich felbjt.

Es fann fein Zufall fein, daß gerade aus deutfchen Munde das Wort von der „gejellichaftsbildenden Kraft wie von der Meltgeltung deutfcher Mufit” ftammt. Freilich, der e8 prägte, Paul Better, hat fich unterdeffen zum Wortführer einer Kunit- partei hergegeben, die, bei aller Anerkennung der Ernfthaftigfeit ihres Streben3, auf der einen Seite zu erbitterten Kämpfen und zerfegenden Streitereien Anlaß geliefert, und die auf der andern das deal der gefeb-, alfo aud) zufammenhanglofen und damit bolfstumfrembden Yndividualitätsfunft proflamiert hat. Denn twas Hilft es, daß Scheren in anerfennensivertem Feuereifer den Proletariern in der Hafenbeide Mozart vordirigiert und dak Bartof die rumänifche Bauernmufik ftudiert, wenn die beiden Führer, Schönberg und Schrefer die im engjten Zufammenhang mit denr eignen Volf3tum entftandenen und auch von den Groften bisher immer nur jeweils erweiterten Formgefege verneinen und wenn ihre literarifchen Vortámpfer dem fubjeftiven Sinnenreiz des ,,Cinfalls” und feiner farblich-melodifchen Auskoftung den Vorrang bor der formal-ethifchen Entwidlung und Durchführung des thematifden Materials einräumen? Der hier und dort protlamierte Anfchluß an das „Volkstum“ tft fomit nicht mehr als eine Phrafe, eine Verbeugung vor dem Geifte der Primitivitát, wie fie den Kunftanfängen aller Völker, nicht des deutfchen allein, eigentiimlid ift. Nicht minder verkehrt und unfruchtbar ift freilich die von Heuß geforderte Rückkehr zu jener „Einfachkeit“, wie fie in Konfervatoriumsfälen in reaftionárer Beharrlichkeit gezüchtet wird und mie fie von einem lebendigen Zufammenbange mit dem Volfstum der Beit genau fo weit entfernt ift al3 die von ihm verivorfene übermoderne Muff. Daß es einen Mar Reger gab, der ebenfo wie fein Vorbild Brahms mit heißem Bemühen nad) der „höheren Einfachheit“, wie Däubler fie nennt, ftrebte und fie in mindeftens gleicher Weife wie jener erreichte, Daß auf dem von ihm begangenen Wege Yofeph Haas und andere feiner Schule weiterfdreiten, wird im Lärm des Meinungs- tampfes überfehen.

Liegt denn überhaupt alle Schuld bei den Shaffenden, wenn der Anfchluß an die Volksmuſik fo unendlich ſchwer erreichbar fcheint? Oder ftehen wir nicht eher bor der gleichen Erfcheinung wie in der hohen Politif, wo der Schrei nad) „Die plomaten” deshalb bisher ungebort verhallte, weil inmitten eines unpolitifchen Voltes

unmöglich politifche Genies ertwachfen können? Haben wir denn nod) eine Volt8-

muſik, ein Volkslied? Mute diefes Lied, aus dem Arbeitsrhythmus geboren, nicht ¿ugleid) mit der Mechanifierung der Arbeit gugrundegehen? Sind nicht gerade die einzigen Dichtungen unferer Beit, die wir „volkstümlich“ nennen können, von folden Männern gefchrieben worden, die, wie Heinrich Lerfch, bie Mafchinen zu Trägern bon Jdeen und Symbolen zu machen fudten? Der Mangel an Symbolen ift, wie der theinifche Dichter Brues richtig hervorhob, die Haupturfache unferer fünftlerifchen Unfruchtbarfeit. Die rühmenswerten Sammlungen bon Dichtungen und Vertonungen aus Standefreifen, Studenten-, Vagabunden-, Yager- und Soldatenlieder, die der Freiburger Ethymolog Kluge und deutfche, vor allem aber öfterreihifche Behörden

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argejtellt, wenn wir vom „Kaijervolfsliederbuch“ abfehen, haben da nicht viel helfen Öönnere. -

[x da wieder ergibt fich ungezwungen die Notwendigfeit eines Zufammen- birferıSs gelítiger wie materieller Kräfte: erft muß unfer ganzes Leben neu von dichte- tiichezxt, jymbolifhen Werten erfüllt fein, ehe. eine neue Volksmuſik entjtehen fann. Und eBe eine folde befteht, Ut an eine Auffrifhung der zeitgenöfjifchen Kunftmufit mie 3u denen.

SES zelleiht aber gibt es noch einen zweiten Weg, um die Volksmuſik und durd fie de S x nitmujif neu zu beleben: die Durddringung des Volkes mit echter alter mejt Ea T ifcher Volkskunſt und folder, die auf halbem Wege der volfstiimliden Art atgezenfommt Anjtatt in zahllofen „populären Konzerten” die Flaffifche „Höhen- tft” = mmer und immer wieder vorzuführen, zu deren Verftändnis doch eben mehr der Yx eniger große „Differenziertheit” gehört, wäre es von Nuten, leichtere und vH Ze Diegene Kunft zu bieten, die gleichzeitig dem nun einmal vorhandenen Unter- haltız ze <ysbediirinis der Menge entgegentommt. So allein wiirde die mitfchaffende Titi F e it ber Hörer wachgehalten, während fie durch das SGichverfenftenmiiffen in pathe cj che Tiefen, in myſtiſche Abgründe allzuangeſtrengt erlahmen und einer ſchäd— lidere «CS leidgitltigteit Plag machen muß. Solche, im beiten Sinne „einfache” Kunft ge Eh auc) ihrem Aufbau nach ohne Schwierigkeiten darlegen, wogegen die „hohe“ Surt Pt q acobuftion immer wieder dazu verführen wird, getreu der längft veralteten Ufek t e relehre mufifpoetifche Romane zu erfinden und fo den Sinn für das vein: mito X ijche zu verwirren. Dem Schullehrplan ein Mindeſtmaß theoretifcher Kennt- tile ei rızuvderleiben, deren Weiterbildung den Bolfshochfchulen wie den Univerfitäten OT a Tr würde, muß erreichbar fein. Dem rhythmiſchen Unterricht nach Dalcroze Br <= ein gehörbildnerifcher nad) Battfe entfprechen. Die gegenwärtige Vertenerung BL < = L aviere muß unbedingt dazu ausgenutzt werden, der Geige, der Laute, ben TL Y toumenten neue Freunde zuzuführen. Den Gefang- und Sportvereinigungen Ex ſolche inſtrumentaler Art gegenübertreten. Nur fo wird Kammermuſik und No ee Orchejterliteratur ing Haus getragen. Was nod) immer überfehen wird: teje I efen ijt wichtiger alg Notenf pielen oder gar Notenfchreiben! Und Noten- den = Eann auch derjenige lernen und für die Dauer zu eigenem Vor= und Nach— lán “Ben des Zuhörenden behalten, der aus beruflihen Gründen nicht an ftunden- "SSS Singerüben denten darf. they oe zeitgenöffische Mufikliteratur aber würde fo in den Jiang berjegt, aud Relt Tei 8 einfache und doch ſchmackhafte Soft zu geben und endlich damit aufzuhören, Bo EAtfel in Harfengliffandis und Trommelmwirbeln zu löfen. Die Angjt vor der

22 Laritit” muß verſchwinden. Wie heute die katholiſchen Priefter von dem Dichter

cee Crufgefordert werden, wieder als echte „Brüder im Oeifte des Herrn” unter fine Olfe und mit ihm zu leben, ebenfo fann der fchaffende Mufiter nur inmitten Gef = Dolfes deffen Wefen und Wirken ftudieren, das bon jenem an Symbolen Ure <“AFFene empfangen und zur Kunft im höchſten Sinne erhoben und geläutert

‚ab Ee iden. Denn das Volfslied im eigentlichen Sinne it nichts weniger alg irte”, es mag erftarrt fein in Eaffiziftifchen Formen. Aber gerade das STLied mit dem ihm eng verfdiwifterten Choral enthält in feiner urfprünglichen

tez - Sit der Rhythmen und Freiheit der Melodik von neuzeitlicher Tonalität alles, DR —llermodernften Bejtrebungen entgegentommt und fie weiter enttwideln fann. an = WMarfit ins Volk tragen” bedeutet keineswegs allein, ihm Sondertonzerte vorfegen,

PE en immer nur ein Heiner Teil der Bevölkerung wird teilnehmen dürfen; es es vielmehr: die Mufif in die Fabriken bringen, in die Rranfenhaufer, in die St Len, auf die Sportpläße, auf die Promenaden, auf die Märkte als vofale ty ANodmufifen”. Lefehallen und Schulaulen miiffen da den Raum und das Publi

iefern. 17

So allein wäre die Möglichkeit gerwonnen, den Mufiferftand geiftig wie wirt» fchaftlich zu heben und zu verhindern, daß fic) in ihm ein Künftlerproletariat zu dem bedenklich anfchtwellenden wiffenfdaftliden Proletariat finde. Denn den aus- übenden Mufifern wiirde in der Mitwirkung bei volfsbildnerifchen Veranftaltungen ein weites Feld der Betätigung und der Erwerbsmöglichkeit, den jchaffenden ein eben= folche3 auf dem Gebiete der Volfsbelehrung erwadfen. Wie Bülow fid) einft den „Sapellmeifter des deutichen Volkes” nannte, ebenfo follte e8 auch wieder der Ehr— geiz des deutfchen Romponiften fein, fünftlerifcher Fürfprecher feines Volte3, nicht mehr Liebling einer Gejchmadsklique zu heißen. Und diefes fein Volk wird fich deffen erinnern müffen, daß es ein ſchweres Unrecht an den Lebenden bedeutet, wenn die Aufführungen Elaffifher und romantijder Werfe abgabenfrei bleiben und dadurch mit denjenigen abgabenpflichtiger moderner in Wettftreit treten, und daß e3 gilt, eine Ehrenfchuld gegenüber all den Somponiften einzulöfen, deren Ar- beiten bisher wegen mangelnder Spekulation auf fchlechten Maffengefdmad der Veröffentlichung vergeblich harren mußten. Gegen diefen Geſchmack einer uner- ¿ogenen, aber erziehbaren und noch zu erziehenden Menge muß von Staats- und Volks wegen eingewirkt werden: parteilofe ſtädtiſche Bildungsämter haben zu ver- hindern, daß das Schlagwort „fürs Volt” zum Aushängefchild und zur Lodfpeife von Agenten mißbraucht werde, welche fid) nad) Bülows Wort einer „muft- kaliſchen Nahrungsmittelfälfchung” ſchuldig machen. Das gleiche Amt hat weiter dafür Sorge zu tragen, dak „Volkskonzerte“ auch wirklich vom ,Volte” befucht werden und daß nicht, wie leider ſchon gefchehen, die, für die fie beftimmt waren. ihre Eintrittsfarten mit mehr oder weniger Nebenverdienft an andere tveiterver- faufen, die bildungshungriger find als fie. Ebenſo hat diefes Amt zu verhüten, daß die Kunft zu Parteigweden mißbraucht und daß politifhe Gefichtspunfte in Runftprogramme bineingetragen werden. (ES darf fic) ebenfo wenig gefallen laffen, daß man feine Vermittlung umgeht, um dem Verein, der Berufsgenofjenihaft ein weniger ernfthaftes, dafür aber „unterhaltfames” Konzert vorzufegen allein in der Abſicht, felbft „von Partei wegen” alg der Spender, der Fürforger gu erfcheinen exempla adfunt! Dem Bildungsamt muß e3 obliegen, den Gegenfaß zwifchen Beruf3- und Gelegenheitsmufifern auszugleichen, diefen und jenen ihr Betätigungsfeld an— gurveifen; ihm wird es auch gufommen, mufiffritifden Freibeutern auf die Finger gu feben, da mangel3 einer beftehenden Organifation nod) immer ausübende und Ihaffende Mufifer wie öffentlihde Meinung deren nicht immer beredtigten und fegensreichen Einwirkung ausgejegt bleiben. Wenn heute felbft geprüfte Lehrer von einem Elternrat auf ihre volfserzieherifche Tätigkeit hin überwacht werden dürfen, fo ift fein Grund zu fehen, weshalb nicht ein gleiches mit den Machern der Tages- meinung gefchehen foll, deren Amtsbefähigung nicht immer bon einer Berufsaus- bildung abhängig, deren erzieherifche Macht jedoch nicht zu unterfchägen it.

Das ift wohl ein langer Wunfchzettel und zugleich ein ftarter Wechfel auf die Zukunft. Aber er muß eingelöft werden, ehe man von einer Klärung der beftehenden mufitalifchen Berhältniffe wird reden fonnen. Dann jedoch wird auch nicht allein Arbeit auf rein fünftlerifchem Gebiete geleiftet fein, fondern, was noch wichtiger, auf fulturellem und fozialem: Iſt die Muſik erft einmal fo von all den innerlich wie äußerlich drüdenden Hemmungen befreit, fo vermag fie erft ganz ihre das Wefen und Leben des Volt3 durddringende Kraft zu entfalten. Unter ihrem Zeichen vermögen fid) die Menfden der verfchiedenften Lebensanfchauungen und Berufs- ftände zu vereinigen und fo wieder zur Volksgemeinſchaft zu werden, die wir für die Zukunft erfehnen. Und weiter: im Zeichen diefer immateriellften aller Fünfte wird die Entmaterialifierung unfre3 gefamten Volkslebens beginnen können, deren wir dringend bedürfen, nicht zu einer nur den Feinden nütlichen und erwünfchten Selbſtbeſchränkung auf rein geiftige Gebiete, vielmehr zur Förderung mwechfelfeitig 18

ſich erggänzender und jteigernder pfochifcher wie phyfifcher Kräfte zum Zivede einer Wiedergeburt des deutihen Volkes aus Gugerem und innerem Zufammenbrud. As einem Simfon, der in blinder Rachewut fic) und feine Bebriider in einen ferretar famen Untergang zieht, würde dann ein Atlas werden, der die ganze Welt mit +Bxcen Schmerzen, aber auch mit ihrem Zufunftsglüd, ihren Hoffnungen auf

fire Schultern nimmt und fie einer ſchöneren Zeit entgegentrágt. Hermann Unger.

Diicherbriefe

Oriinewald-Orbhriften.

=> grundlegende Werk über Matthias Grünewald ift die Arbeit von $. A. ' ` €== Hmid. Sehr ausführlich, breit angelegt, bringt fie ſowohl urkundliche Nad- tidtere Band gejdhidtlide Einzelheiten bis auf folde, die nur irgendivie den Meijter bert bare xa, als auch die künftlerifche Würdigung feiner Gemälde. Auch erwetft fie ſich TE CD £ nur alg gründlich durch die Breite des behandelten Stoffes, ſondern aud) m —— Betracht als ſorgfältig und geiſtig überlegen, ſodaß ſie bis heut maßgebend —— iſt. Es gibt wenig kunſtgeſchichtliche Schriften, die ſich an Fülle und Cre £ xw ng mit ihr vergleichen laſſen. Wer unſern Meiſter nach jeder Richtung aime Eennen lernen will, muß fih an dies Werk halten. Die Darftellung ift von fi eu ener, einfacher Sachlichkeit. Mehrere Jahre vor Abſchluß der wiffenſchaft⸗ i siqa earbeitung mar die begleitende Mappe mit vorzüglichen Abbildungen er- Man bekommt durd die Aufnahmen, ſoweit das bei einfarbiger Wieder: ambglid ift, eine gute Anſchauung des Grünewald-Werks. Streng hat ber it eS Seber felbft jeden Drud beurteilt und Heine Mängel mit peinlicher Genauig- TEE Singelnen-nambaft gemadt. fuere "u dere Abfiht verfolgt eine ziveite, fehr wichtige Arbeit, das Buch Osfar Berte >. Er Hat es ſich zur Aufgabe gefegt, vor allen Dingen die künftlerifchen und = Berauszuheben und fie, grundfäglich mit Schmid übereinftimmend, erweiterter Safe “leid gedrungener darzulegen. Der kühn erfindende Geift und die geftaltende Reize Des Meifters werden dem Lefenden fehr Iebendig und find bis in innige buri Birein erlaufcht. Auf fone Weife wird die Fülle der Anfchauung gefättigt untere <wxx8 dem Gebiet der Mufit herangezogene Vergleide. Gute Abbildungen ſich bee ne teen die ausführliche Darlegung. Wer Griinetwalds Eigenart ſcharf auf Bete cen lafjen will, muß das Buch lefen. Selbſt der Kenner wird außer beftig xs eignen Erlebens ſicher Neues finden, das fein Verftehn des Meifter3 ligex- Let. Für den Laien hat es bor der Veröffentlihung Schmids den Vorzug, angey Araf die Hauptiade zufammengefaht zu fein. Allerdings erwartet den Lefer gede nte Geiſtesarbeit; eine leichte Volkstümlichkeit wird in dem Werk nicht < deuty Orederbar freilih mutet es an, daß der Verfaffer, der fo offenen Sinn für wird Re 3 Mejen befigt, eine mit Fremdwörtern überladene Sprache ſchreibt. ES em Ausdrud dadurd) die Herzlichkeit und Einfalt, ja, man möchte fagen, die pen Ttigfeit genommen. Der Stil der Sprache fest fd dem Geift Grünewalds, ENP und Natürlichkeit vor allem auszeichnen, entgegen und man Det die großartige Reinheit feines Weſens wie Durch einen hemmenden Nebel. Nast tne Bemerkung wire auch dem Inhalt hingugufiigen. Die Auffaffung des Exs ift volltommen, das fet nod) einmal betont. Leider aber ift unfere gefamte

RVIngeſchichie feit jeher „Klaffifch“ verfeucht gewefen. D. 5. es gibt bis zum heutigen 19

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Lage troß der Menge diesbezüglicher Schriften feine rechte Geſchichte der deutfchen Kunft. E8 gibt aber eine ausgezeichnete der italienifchen, an der alle Völfer Europas mitgearbeitet haben. Uns fehlt das Bewußtfein einheitliden Zufammen- han gg der germanifchen Schöpfungen. ES muß die Arbeit der nächjten Jahrzehnte fein, ihn zu finden und eine wefenhafte Gefchichte unferer Kunft aufzubauen. Auch bei Hagen empfindet man e3 wunderlich, daß fleinen Entlehnungen aus Stalien, die an innerer Bedeutung für Grünewalds Schaffen nicht befonders in’ Gewicht fallen auch nad) der Meinung Hagens nicht —, ausführliche Behandlung gegönnt wird, während die Einordnung in die heimatliche Erzeugung magerer ausfällt. Sehr ſchön und breit gwar wird der mutmaßliche Einfluß der Glasmalerei dargelegt. Jm übrigen find Holbein, Schongauer, Dürer genannt; e3 fällt einige Mal der Name Rembrandt. Es wird aber nicht bewußt die große völfifche Einheit gwifden Ver- gangenheit, Gleichzeitigfeit und Zukunft hergeftellt. Warum ware die Beziehung Grünewalds zu Mafaccio und Caftagno erwähnenswerter al3 diejenige zu Konrad Wik? Die übliche Auffaffung fchreit nad) einer Umivertung der Werte. Das Herborheben des Gegenfages zu Dürer fann man gelten laffen. Faft wichtiger aller- dings erfchiene mir das Aufzeigen des Gemeinfamen. Der Meifter der Melancholie, der Mutter von 1514, des Hieronymus von 1506 offenbart weſentliche völfifche Ver- wandtſchaft mit dem rheinifchen Zeitgenofjen.

Aud fehlt ein allgemeiner Stilbegriff für Grünewalds Kunft. Die Gotik ift aus, das fagt der Verfaffer deutlih. Start und richtig betont er im Gegenfaß zu ihr die Sinnlichkeit, Körperlichkeit der Anfchauung. Aber welchem Stilbegriff würde er die Kunftart unterordnen? Die übliche Gefchichte hat, weil aus Stalien abgeleitet, nur die Renaiffance zur Hand. Hagen nennt feinen Namen. Freilih „Nam' ift Schall und Rauch“. Und doch wird es ein übles Ding, wenn uns für wichtige Erfcheinungen unferer Kunft das ftilbezeichnende Wort fehlt. Unabfehbar unbheilvolle Folgen brüten folde Unterlaffungsfünden aus. Wir ſchlagen uns mit fremdländi- ſchen Vorftellungen herum und fommen nicht zum fidern Bewußtfein unfer jelbit.

Leider krankt aud) Hagens Werk, fo deutſchbewußt es ift, etwas an der über- lieferten Kniebeuge vor Stalien. Mit welcher Ehrfurcht werden italienische Werke genannt, denen die unfern, von deutfcher Empfindung aus beurteilt, überlegen find! Warum verdient Mantegna fo ftaunende Bewunderung, wenn feine Geftalten gegen- über dem, was Grünewald aus ihnen gemacht hat, weichlid) und fúBlid erfcheinen? (Hagen ©. 38. Vgl. Rieffel im Rep. f. Kſtw. 1920 ©. 224 und 237.) Einfach fach- liches Anertennen auch des Fremden in feiner Eigenart ware an diefer Stelle pafjender geivefen. Gradezu grotest wirkt es, wenn ein Erläuterer Grünewalds, diefes Orkans der Leidenfchaft, bei Befprehung des Erasmusbildes von dem lebhaften Temperament der Siidlander und dem Phlegma des Germanen fpridt. Der Süd— länder ift zwar hier Afrifaner und tatfächlich halt fich Erasmus fehr ruhig. Nämlich „in monumentaler Würde der gewaltige Kirchenfürft“, wie Bod richtig fagt. Hagens Gegenfag aber ift in fo allgemeinem Ton gehalten, daß die übliche Vorftellung von der Lebhaftigkeit des Südens, etiva Jtalien3, und der Bedächtigkeit und Pedanterie etiva Deutfchlands durdflingt. Welch eine feltfame Auffaffung eines Kenners deutfcher und italienischer Kunft! Wo toben gewaltige Leidenschaften, wo raufchen Urtiefen des Gefühls auf, im Süden oder im Norden? Und mo findet man Kälte, ' geometrifd) abgezirtelte Starrheit? Iſt Gotik der Stil auffhäumender Bervegung ,. oder bie italifche Renaiffance? Wo entfaltet barode Bautunft ihren glühendften Raufh? Warum ift der Begriff eines furor teutonicus entftanden, nicht latinus oder gallicus? Eine Antwort erübrigt fid).

Es ift mir immer ratfelhaft geweſen, wie die erwähnte Vorftellung fich hat bilden fonnen. Schließlich bin ich zu der Ueberzeugung gefommen, daß der Einfluß tlaffi- ſchen Geiftes uns tatfächlich ins Niüchterne hinein verändert und jenes Urteil hat

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entiteber laffen. Er Hat natürliche Frifche, Lebendigkeit, Leidenjchaft allmählich sebrochen und uns mit alademifcher Kälte erfüllt, die allerdings nun leicht ing Begriffliücde, Pedantijdhe, Kleinliche geht, der alles Feuer des Lebens zu fehlen ſcheint. So »erbBielt es fid) aber nicht zur Zeit Grünewalds es tauchten freilich damals bie 23 or Boten der Zerjtörung auf und deutjch ift das auch nicht, fondern gefnechtete, duch Tr emben Geift im Lebensteim gefnicdte, faum noch zu erfennende Voltheit. :— xvohl die genannten Schwächen des Hngenfchen Buches neben dem Wert des Gerzerz Faum zählen, mußten fie grad an diefer Stelle ausführlich befprochen werden, mil es ih um eine wichtige völfifche Angelegenheit und nicht nur um Fehler des Ver T <= ffers, jondern um eine falſche Einftellung unferer gefamten Kunft- geſch D te handelt. Auf die fachwiffenfdaftlid) in Betracht tommende Stichhaltigkeit oder MU xe wahridheinlidfeit einzelner, den fünftlerifchen Wert Grünewalds nicht be- titers Der Annahmen (Hypothefen) fet nicht eingegangen. _ VS x ct diel fpäter gab Hagen eine große Mappe des fenheimer Altar mit emerrt SE egleitivort heraus. Wir finden die Vorzüge des Verfaffers wieder. Außer— dem MO ad der Zufammenhang der deutfchen Kunft ftárter betont. Es fehlen aber no) Lee rer flar herausgearbeitete leitende Begriffe, wie wir fie für die italifche befiger« = Der Stil Griinetvalds wird nun benannt: „Nationale Renaiffance!” Mine Anficht nach ift die Bezeichnung unglüdlich gewählt und irreführend. Zus nächſt Dcurf man keinesfalls einen rein germanifden Stil mit einem Fremdwort Mera _ 3d) verfuche zu überfegen: Alfo „Wiedergeburt.” Was aber ift national“? Ein LES Ct, das id) nie verftanden habe. Vaterlándify? Das tame für die Kunft nicht tau Setracht wegen des vorherrfchenden Staatsbegriffs. Völkiſch? Alfo Völkifche Biber q e burt? Und warn war die erfte Geburt? Das hatte dargelegt werden - IH wiirde fagen: Neue Blüte und Weiterbildung des germanifchen Stils, ee T48 im dretzehnten und fünfzehnten Jahrhundert ich deutlich geprägt hatte. —— Da der Verfaffer? Ach fürchte, er meint etwas ganz anderes, und es wird do POE e ber einmal aus Unachtfamteit und gewiß unbewußt beiliges Voll3gut ans tónn ick verkauft. Es follte mich freuen, wenn der Verfaffer fic) entſchließen =. Fold tleine Schäden, die den Wert feines Werkes doch etroa8 beeinträchtigen, it be TS Etigen. Ship Aid ber als die breite und grundlegende Arbeit Schmids erfchienen zwei nobire f< vr geringeren Umfangs von Bod. Sie tranten leider an etivas wilden An- bee = En der Aufitellung des Grünewald-Werks. Infolgedeffen wird ein Teil der Sunfe Tr>ertlos. Schön ift der fehr betonte Ausſpruch des Verfaffers, man folle unfere ; Ueber eee Ch nad) fremden Wertmaßftäben, fondern aus Eigenem heraus beurteilen. ith = “22 pt zeigt fid die Ausführung von echtem Deutfchbewußtfein getragen und gelame Be Y fern erquidend. Auch die Empfindung der Einheit und Eigenart unferer wert Erzeugung rauſcht lebendiger auf als in anderen Arbeiten. Das iſt lefens- der 4 FED warm zu empfehlen. Nur hält die geftaltende Kraft des Darftelleng mit ttt Do. der Auffaffung nicht ganz Schritt. Der Verfaffer gibt auch eine über- y = Gefcidte der Entdedung Grünewalds. allgerey <= SD Bod fucht nach einem Stilbegriff für des Meifters Kunft, um fie in den des E Men Gang der Gejchichte einzuordnen. Er fagt: „Grünewald ift der Vater pon od im Norden.“ Gefährlicher al3 die Erweiterung des Begriffs der Gotif, auf d in meinem Grünewald-Auffag die Rede ift, erfcheint mir die von Bod u. a. feat De Meifter angewandte Bezeichnung „baroden” Stils. Yn dem Begriff „Barod“ as De x Sinn des Uebertriebenen, Seltfamen, Gefuchten. Er ift in Stalien geprägt pen E= ` Empfindung des Gegenfages zur Haffifch-regelmäßigen Linie. Auch haftet votes | Geinungen, um die es fic) dort handelt, tatfächlich etwas Gefuchtes, Gefün- Ñ enlace. An. Die deutiche Kunft baut aber auf anderer Grundlage auf. Nicht auf der 9 teten, Maffischen Linie, fondern auf ber ungeberdigen der Natur. Die raufdende

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Fülle und Mannigfaltigteit der Natur ift nicht feltfam und übertrieben, fondern eben natürlih. Grünewald ift nicht barod, fondern germanifd. Wenn der Verfaffer ihn barod nennt, fo tut er grad das, was er abzulehnen wünſcht, er mißt ihn nad) fremdem Wertmaßjtab.

Freilich denkt Bok nicht an die eben befchriebene Seite des baroden Stils, fondern an breite Fülle der Darftellung, die über das Gotifche hinausgeht, und an die Lichtbehandlung. Doch die Lichtauffaffung Jtaliens ift im Gegenfaß zu der nordifchen unbedeutend, es handelt fid) alfo bei Grünewald um eine ausgefprochen germaniſche Cigenfdaft. Solche Stileigentümlichkeiten find nicht barod, fondern germanijd) zu nennen. Wenn wir unfere unit beftändig in fremde Stilbegriffe preffen, jo tommen wir zu Ausfprüchen iwie eta: die „barode Grazie” Grünewaldſcher Gejtalten (Aug. 2. Mayer). Weldhe Vertennung des Meifters! Seine Grazie ift nicht barod, gefucht. „Srazie” hat er überhaupt nicht. Sondern Anmut, lebengmarm und göttlich wie Wiefenblumen im Morgentau, blintendes Bächlein im heimlich duftenden Wald.

„Er (Grünewald) ift nie frivol. Die Ploglichfeit der Wirkung, die er anjtrebt, erinnert, mie fo vieles, an den Barod, aber er ift fein Virtuofe der Brutalität und fein Birtuofe in hyſteriſchen Schmachtköpfen, er ift auch nicht pathetifch um des Pathos willen, er ijt im Grunde überhaupt nod) nicht pathetifch, er fennt noch feine Bravourarien, e8 ift ein Ernft in feinen Darftellungen, der mit feinem furdtbaren Ernſt wieder verföhnt,” jagt $. A. Schmid (S. 36).

Aud) die Brudmannfche Mappe farbiger Wiedergaben des Sfenheimer Altar mit einer Einführung Friedländers ift älter alg die Arbeit Schmids. Fede farbige Wiedergabe eines Gemäldes ift mehr nod) al3 die einfarbige ein Notbehelf. Die Zone erfdheinen immer verändert und die Verkleinerung drängt frak zufammen, was nur in der urfprünglichen Ausdehnung mit den bermittelnden Webergängen die beabfichtigte Wirkung tut. Dennod wird man die Farbdrude begrüßen. Sie können, borfihtig aufgenommen, die Kenntnis Griinewalds unterftügen. Mit den drei großen Wappen von Schmid, Hagen, Friedländer find ausgezeichnete Hilfsmittel zu feinem Studium gegeben. Schmid hat in feinem Buche die Farbdrude Brudmanns bis in Einzelheiten genau beurteilt. Die Einführung Friedlanders ift ſachlich. Schön der Hinweis auf die innere Verwandtſchaft Griinewalds und Luthers, der fic) auch bei Schubring findet und von Hagen aufgenommen und weiter ausgeführt wird. Auch mir war bereits die Wefensähnlichkeit der beiden großen Deutfchen aufgefallen, von denen der eine der fchärfite Gegner des Katholizismus, der andere wahrſcheinlich tiefgläubiger Katholit war. Aber Ernft, Aufrichtigfeit, Rüdfichtslofigfeit der Ge— finnung ift beiden gemein. Merkwürdigerweiſe findet Hagen, deffen Stil von Fremd- wörtern überfließt, e8 an Luther rühmenswert, daß er zur Erlangung einer guten Sprache empfiehlt, den „Kindern und Bauern aufs Maul” zu fehn.

Ausgefproden volfstiimlich find die beiden, vom Kunftwart und bon Seemann herausgegebenen Mappen und die Bücher von Joſten, Mayer und Kehrer.

Die Abbildungen der Kunftwart-Mappe könnten beffer fein. Verkündigung und Engel3tonzert wirken zu verſchwommen, in der Kreuzigung erfcheint der Wechfel von Hell und Dunkel zu grell. Das Vegleitwort von Schubring ift anfprehend und leicht lesbar gefchrieben. Leider hat er Meine Jrrtitmer überfehn. So blidt Maria am Kreuz nicht mit „kohlſchwarzen“ Augen auf den Sohn, fondern hat die Liber ge- ſchloſſen. Die Vermutungen über die Lebenszeit Griinewalds find durch fpátere Forſchungen berichtigt worden. Ausmalung der einzelnen Lebensumftände ſchwankt bei allen Verfaffern, da anftelle von Tatfahen nur Annahmen gegeben werden fonnen. (Die Mappe ift zur Beit vergriffen.)

Für den, der genauere Einführung in die Kunft des Meifters wünſcht, wiffen- Ichaftliche Arbeiten aber zu ſchwer lesbar findet, wäre Jojteng Buch das Gegebene. Er bringt das Wiſſenswerte, aud) ausführlih den Zufammenhang mit den

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Khörert, lieblih frommen finnbildlihen Beziehungen, die das Mittelalter erdachte. Die DAarffaſſung it von wohltuendem Ernit. =y**ex miglidft furz Grünewald in der Hauptfache fennenlernen will, halte fic an PE ata. 2. Mayer. Er hebt das funftgefhichtlich Wefentliche heraus und feine Abbi ID 1engen find eindrudsvoll ausgewählt und zufammengejtellt. Allerdings fällt ‚srtir auf, daß den Berfaffer beim Anſchaun Grünewalds Gedanken an Velasque;, ndiTcHes, Indianiſches kommen, nicht aber an Konrad Wik oder Michael Pacer. Inde TF | xt find ähnliche, bejtändig ins Ausland führende Gedanfengänge in unferer Sutrftoe Ihihte ja die üblichen.

>Ure Verfafjer und Verlag möchte id) die Bitte richten, Untertitel und Dedel- zeich TAR au g bei einer neuen Auflage zu ändern. Einen Großen, der das Heiligtum 23 <> I Fe in Händen hält und offenbart, veflamehaft, ja, man fann jagen, finohaft _ arteizerı ,Romantifer des Schmerzes“ zu nennen, ift fürchterlich, verlegt im Üftere und wird den graden Sinn manches, der nicht die nötige ſeeliſche Wider- mos £ x——.t hat, verbiegen, das Unterjcheidungsvermögen zwifchen Wahrhaftig und Glei Be we D trüben. Ebenfo retlamebaft hyſteriſch ift die Dedelzeihnung. Warum find WI ECE + einfaltig und groß, wie Grünewald es war?

NS niger empfehlenswert wäre das Büchlein bon febrer. Zwar Titel und DedeL 4 xu hier wohltuend einfach. Aber die Abbildungen laffen zu wünſchen übrig und YO 24 xcber außerdem fo ungefdhidt zufammengeftellt, daß die künſtleriſche Empfin- dung x xx aer wieder einen Stoß erhält. Bei dem häufigen Nebeneinander von Aus- Ímitterr erheblich abweichenden Größenmaßftabs wird die Wirkung des einen durch ben are De rn aufgehoben. Auch hat fic) der Verfaffer die kunftgefchichtliche Arbeit gar neigt gemadt; wir werden mit ein paar hingeworfenen Broden abgefpeift. Wer aber Boy darauf legt, recht viel Abbildungen billig zu erwerben, gleichfam als Mare Y Notizen) für die Vorftellung „Grünewald“, der wähle diefe Ausgabe.

* —— Ee größeres, ebenfalls im Delphin-Verlag erſchienenes Werk von Aug. 9. Mayer Big te Seemann-Mappe (farbig) lagen mir nicht zur Einficht vor. Auch nicht das Mün SET von Nicolaus Schwarztopf, das eben im Verlag bon Georg Miller, Cb ext, erfhienen fein foll. Maria Grunewald. Befpprogene Bücher: H. A. Schmid. Die Gemälde und Zeichnungen des Matthias

Grine > š R A N, al. 1. Teil: 69 Lihtdrudtafeln in Mappe. Fol. Straßburg i. E. 1907. Verlag Setze Tia. 2. Teil: Tertband mit 5 cian und 82 Jlluftrationen im Text. 1911.

re fax agen. Matthias Grünewald. Mit 1

Grit DI. Münden 1919. Verlag Piper & Co. Franz Bod. Die Werke des Matthias —— Id. Mit Bildern. Strabbur 1904. Heit Mandel, Franz Bod. TMatiieg > ALTDO, 1. Teil. Mit Bildern. Verlag Georg D. W. Callway. Minden 1909. Nine ey SSriedlander. Grünemwalds „ienheimer Altar. Fol. mit 7 farbigen Tafeln. Ber. Brudmann 1908. Grünewald - Mappe. Herausgegeben bom SKunjtivart, xt Ë poes Matthias Grünewald. Bielefeld und Leipzig 1913. Velbhagen njtlermonographien 108. Mit 78 Abb., darunter 6 mehrfarb. Einfchalt-

MINE ek NEN Seine Beiträge FE En es ae AL a

Stirb und werde! 1

HS te - dunkle Schauer geht es über unfere Seelen hin, wenn wir die Jahre bedenken, ante te hinter uns liegen. Aus Stöhnen, Blut- und Flammenjdein wird ein Sang, —W SE alg der vom Ende der Nibelungen im brennenden Epeljaal. Der Elingt uns

Te eine Weisfagung auf die fehredenspollere Wirklichkeit unferes Endes. Und

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wenn wir in die Zukunft fpähen? Worauf warten wir? Hinter dem trügenden Scheine taumelnder Tage und Nächte lauert das bleiche Elend. Uns liegt in den Ohren der dumpfe Ruf des Todes, wir ahnen Trümmer und Tränen.

2.

Und dabei ſchreit es in uns nad Leben. Wir fónnen, wir wollen nicht müde, sweifelnd, boffnungsleer in den Untergang willigen! Wohin follen wir fliehen? Es gibt feine Slubt. Wir find diefem Schidjal unferes Volkes verhaftet. Wenn wir gleich fliehen fonnten an irgend ein einfames Meer, in irgend ein Idyll, abfeits vom Wege, unfer Herz duldete e3 nicht, es bräche, dürften wir nicht mitten inne ftehen, in Angjt und Not. Der Einzelne, der in der fatten Zeit des Glüds fich abſchloß und nur auf feinen Weg fab, ijt nicht möglich in diefer Zeit, in der ein allgemeiner Schmerz mit unfagbarer Gewalt uns beftürmt. Go fpridt der Dichter zu feinem Herzen:

„Die Welt brennt in Qual und Berlangen. Hilf ihre brennen, im ſchönen Läuterbrand.“

„Im ſchönen Läuterbrand!“ Das ift die Süße des Schmerzes, die tiefe Sehnſucht, die in diefem Leiden aufwacht. Das unfer Glaube, daß wir beben im Fieber der Erwartung neuen Lebens. (ES ift die lebenerzengende Liebe, die Schmerzen bereitet. Jm verzehrendeint Born Gottes greift feine Vaterlicbe nad) unferem Herzen.

Sefeqnet ei die Armut, die uns alles nahm, was uns den wahren Mangel unferes Lebens verhüllte, die ung befreite von täufchender Blendung und unedtem Schein. In diefem zehrenden Brand bleibt nichts, was nicht echt ift bis ins Innerſte. Ohne Pub und Berbrämung jtehen wir da, fein Volt mehr, nur eine Menge ohne Gott, ohne Liebe, ohne Feft und Freude. So fuen wir in unferer Armut nad neuen Formen, die uns zu- aid follen zu neuer Gemeinfdaft. Und wir beugen uns über den dunflen

runnen der Vergangenheit, aus dem die Bilder des Lebeng aufjteigen, das fam und ging. Und wir rätfeln und. fragen dem nad), was kommen foll.

Doch fommen neue Formen nur durd neues Leben. Sie werden gefchaffen nur vom neuen Menfhen. Wie fommt uns der neue Menfh? Wir ahnen das uralte, immer neue Geheimnis: Stirb und-werde! Uns faut an das Urbild des wahren Menfden, der „Menſchenſohn“. Wieder deutet uns Thylmann unfere Not:

„Berborgenem Urbild ſchmiegt Hd, ſchweren Atemzugs

Mein Leben ein.

Gefdhehene Dual und Drängnis feheint fon über mir

Als zeugend Licht.

Und fehweigfam bleib ich tnien, fett ich beftürzt im Traum

Mid felber jab,

Nadt auf das Kreuz gefpannt.” Der Weg des Leidens ift der Weg gum wefentliden Leben. Schmerz zieht nad innen, was nad) außen drängte und fid) verlor. Der tötende Tod ift das: weder nod. , Ad, daß du falt oder warm wäreſt, fo du aber lau bift, will id) dic) aus meinem Munde fpeien.” Tot ift der unbervegte, der nicht mehr leidet, der —— den nichts mehr rührt, der flache, deſſen Waſſer träge faulen. Das Leiden regt zum Leben auf. Gewaltig durchtobt uns der Sturm der Zeit, reißt unſern Geiſt empor ut verzüdten Schau orgenröten.

Doch über fliegende Hoffnungen hinaus wird das Leid in geduldiger Treue uns nicht laſſen, bis es uns gebildet hat zu Willen, bis es uns fähig macht einzuprägen leben— dige Form dem harten und trägen Stoff, mit ſichernder Form zu umfangen und zu be— greifen den Strom, zu wandeln in ſchaffendem Dienft Zerfall in Gemeinſchaft, in Bads- um.

Stirb und werde! (ES gilt uns allen, die wir dienen follen dem, das da tommen fol. Als ein Yefaias die heilige Herrlichkeit Gottes fchaute, da bebte er zurüd: Wehe mir, ich vergebe, denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volt von unreinen Lippen. Aber der Engel Gottes rührte feine Lippen mit wawapa Kohle an und entfühnte ihn. So mwurde er bereitet zum Boden des Halten wir ſtill dem Brand der heißen Kohle, daß unſer Mund lauter, daß unſer Leben ſtreng und klar werde. Dann können wir gehen, Boten des neuen Tages. Herr ſende uns! Karl Bernhard Ritter.

Politi! und Weltanfhanung.

9 weitverbreiteter Auffaffung gehören Politit und Weltanfchauung gwar verfchiede- nen Welten an und dürfen darum nicht mit einander vermengt werden. Aber dabei muß die Politik verwildern und die Weltanfhauung verfümmern.

2. Wer überhaupt Politik treibt, bekennt fd zu dem Glauben, bab wir Menſchen be- rufen find in das Gefdehen handelnd einzugreifen, und daß die Lebensnotwendigfeiten ber Gejamtheit irgendwie den Lebensanfpriiden der Einzelnen übergeordnet werden müſſen. Darum find afiatifher Quietismus einerfeits, ftaatsfeindlicher Anarhismus andererjeits überhaupt Feine Politik.

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3. Die größten politifchen Bewegungen (franzöfifche Revolution, engliſcher Imperialis— mus, Bolfdewismus) find ohne ihren ,Ideengebalt”, b. b. ohne die in ihnen wirkſame "WBeltanfhauung gar nicht zu begreifen; aud in den großen politiihen Parteien mijchen fic 71 it Intereffen wirtjchaftlider Gruppen bejtimmte Antworten auf die Fragen der BelFta uiſchauung; ſelbſt einzelne politiihe ECinridtungen und Forderungen (Steuergejep- ebrzrreg, Bodenteform, Yugendgeridte) dienen keineswegs nur politifhen und wirtichaft- ibexrtr Notwendigkeiten, fondern dem gegen den Ernſt ſittlicher Gedanken. 2. Umgetebrt find Wandlungen der ſeeliſchen Einſtellung immer aud irgendwie poli tif’ EXE die Erſcheinung getreten; fo hat da3 von Haus aus ganz ,,unpolitijde” Chriftentum ta tf & cB Lid eine ungeheure nod) keineswegs abgeſchloſſene Reihe politijder Wirkungen geitdt. 5. Der Weg der Weltanfhauung zur Politik ijt darin begründet, daß jede dee „Fleiſch hexrpe re“ will, daß alles Geijtige die Verwirklichung in Raum und Zeit fudt. Mer nicht blog „Meinungen“ über Gott und Welt, fondern eine fittlid) begründete Vella zwihauung hat, der muß notwendigerweife dafür fampfen, daß diefe feine Weltan- ae a über die m umgebende Welt Madt und Einfluß gewinnt. . = ie Politit ftellt den Menfden vor den Zwang harter Entjheidung, madt ihn für de < Egen jeiner Entfheidung verantwortlih. Diefer Zwang und diefe Verantivortung md < £ mu ernfte Zucht wider das leichtfertige Spielen mit „Ideen“ uyd wider unfrucht- bres —beoretijierem in Weltarfhauungsfragen.

*

=_ Unfere Beit ift reif, den Wert einer umfaffenden und einheitlihen Weltanfhauung as tiefe Lebensnotwendigkeit neu zu begreifen. Dabei handelt es fi) nicht um willfürliche Da xx Fen über Dinge, „von denen man eigentlich) nidts weiß“, jondern um die Cinfidt in me Fe T und giltige Rangordnung unter den Werten, auf die fid) unfer Leben, Begehren —* <= Ereben ridtet. Dieſer Rangordnung gegenüber können wir ung wohl irren, nicht wee EO Ukürlich die Dinge „auf den Stopf fe en”.

Pr - Einige Grundzüge diefer Rangordnung der Werte werden uns an der Schwelle vete we Zeitalter mit unerbittlidem Crnft deutlid madht: Perfonwerte find höher als Ole ee, <= ute, daher die Verächtlichkeit eines zivilifatorifchen Zeitalters, das feine Stärke aus- \ ite ES E te in Gachwerten hatte; das Leben ift wichtiger als feine Funktionen und feine fra ter, Die eiftigen Werte höher als die körperlichen, innerhalb des feelifchen Lebens die tt Des Öemüts „edler“ als die Fähigkeiten des Verftandes. Yndividuum und Maffe die eee Ste unfähig der höchſten menjdliden Werte, die vielmehr gebunden find an

= trreinfdaft als die out Verbundenheit des vielgeftaltigen Lebens. ber[ EO_ Bir fordern eine Politif, bie von ,,Jdeen” beftimmt und getragen ift; b. D. wir mina gen von dem Politiker, daß er überragenden Werten dienftbar ift, von dem politiſch idee = Gen Volt, bab es fähig und gewillt fet, die politifchen Fragen nicht A: vom Nütz⸗ Meine wee S Ttandpuntt, fondern bon fittliher Einficht aus zu beurteilen. Wer ftatt Tages- Eine a Ra —— verbreitet, pa are die dis politifher Gefinnung. Ha = ittlider Weltanfhauung gegrundete Gefinnung it die Vorausfegung aller ans nDiger Bolitit, 898 0 if jegung *

mo - 8 ift ein Jrrtum zu meinen, man fónne mit Jdeen und Yodealen allein Politik

zer Jedes offentlide Wirken fegt umfaffendes Wiffen, forgfaltiges Erwägen des

au r ar h > A H 4 | ane E> Lidlid Möglihen und ein Vermögen, die Wirkung eines bejtimmten Vorgehens zu

- oraus. o Daher ift Politit nicht eine erlernbare Sade des Verftandes und des Willens, X= eine „Kunft“.

it Das, was fein foll, kann politiſch nur dann verwirklicht werden, wenn es unter

1133 + Sinem Gefidtspuntt notwendig oder nützlich geworden ift. Wer in der Politik

ein ID „oder ſcheinbar Theorie durchführt, ftatt Bedürfniffe zu befriedigen, wird entweder A <w Xx oder ein Heudler.

a A- 3 ift ein Syrrtum zu meinen, man tonne jemals und irgendivo das, was die Welt-

als ſittlich notwendig fordert, reſtlos politiſch verwirklichen. Das an Boden,

volle Hs I und ET Sünde gebundene Leben ift ein ſpröder Stoff, der fic) nur un-

me ay When nad) der Forderung des Geijtes en läßt. Darum find Revolutionen,

= Tie aud elementar ,motivendig” fein, Mißverſtändniſſe der Weltgeſchichte.

eine So Es gibt nicht, wie der Liberalismus und der aus ihm geborene Pazifismus glaubt,

bebix. Sxmonie ber Yntereffen aller. Vielmehr ift der aus wirklichem Gegenfag der Lebens-

wee a a sie geborene Kampf der Stände, der Völker, der Staaten eine tragifde Not-

eit.

ua - Der tragifoje Zwieſpalt zwiſchen Weltanfhauung und Politik, gwifden dem, was

Koer; „Notwendig und dem, was praktifch möglich ift, gehört wefentlid zu menſchlicher

Sau weit. Die Inkarnation des Göttlihen in Raum und Beit ift, wie Sunft und

© da3 aus ihrem Gebiet erleben, fo aud) und gerade in der Welt der Politit immer

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eine ,Grniedrigung”. Die Anerkennung diefer Tragit ift felbft eine Forderung einfihtiger Weltanfhauung. š 17. Bor allem politifchen Handel liegt ein Gebiet le und Innerlich— keit. Nur die Einſicht in die Rangordnung der Werte bewahrt den Politiker vor der Gefahr, den Staat zum abſoluten Wert zu machen. Gerade Frauen werden in politiſcher Tätigkeit die Erinnerung an den beſonderen Wert des ganz perſönlichen Einzellebens pflegen und weden müſſen. 4 š 18. Senfeits alles politiffen Handelns liegen die treibenden Gewalten des geſchicht⸗ lichen Geſchehens, in dem menſchliche und außermenſchliche „Urſachen“ nur Faktoren find. Nur eine umfaffende Weltanfdauung bewahrt den politifch handelnden Menfdjen vor der „Hybris“, vor dem unfrommen Wahn, als ob Menfchen die Gefdidte maten. Gerade Frauen find berufen, bei ihrer Teilnahme am politifden Leben die Ehrfrucdht vor ber un- erforfdliden Gewalt, die die Schidfale der Menfchen und der Völker lentt, gu bewahren. Wilhelm Stählin.

Böhmerland,

J bin über das Rieſen- und Iſergebirge gen Süden getippelt tief ins böhmiſche land hinein bis gen Prag. Zu Haufe haben fie die Hände gerungen und Hd ge- forgt: Der Jung’ ijt in der Bidet -Slowatei! :

Als wir im Kriege noch mit Defterreih Rüden an Rüden jtanden, da wußte man im Reich, dak dort auch nod) Deutfche wohnen heut aber? Der Verfailler Frieden Dat Deutihböhmen aus feinem Voltstumsverband herausgetiffen und in jenes Mifgebilde aus fünf Volterftimmen eingeftedt. Der Deutfche aber zieht feinen Hut vor dem neuen „Aus— land“ und vergißt rafd, daß es deutjches Land ift, mit deutfhen Menfden.

Deutfhböhmen, wieviele denken hier im Retd) daran, dah dort über dreieinhalb Mil- lionen Deutfde mit den Slawen um die Erhaltung ihrer deutfchen Art támpfen? Wehe, wenn es fo bleibt. Schritt für Schritt würden die Tideden bordringen und endlich die Grenzmarten überrennen. Dann jteht die flawijde Flut in zwanzig Jahren an den Reichs- grenzen und dann wir haben felbjt Waffen zerfchlagen! Wir hatten die Britder, die bis in den Tod treu waren vergejlen. Das Volfstum muß in der Heimat wur - ¿eln, die Grengmart | ó ñ 8 und verteidigt es. i

Und wenn uns nidt dieje Gedanken fdon zwingen würden, unfere ge Liebe dort hinaus in die Randlander zu fenden und den fernen, einfam támpfenden Siedlungen Hilfe zu bringen, fo müßte ung die Einficht in die Wirtjchaftslage zeigen, wo unfere natur- gemäßen Bindungen liegen.

Wir jteigen bon den Sudeten, dem Erzgebirge oder dem Bairifd-bohmijdhen Wald hinab, mitten hinein in dies reiche, frudttragende Land. Ueberall blühender Aderbau und eine hodentwidelte Viehzucht. Jn mibjeliger Kieinarbeit, die zur Zeit von Chrijti Ge- burt einfegte (die Slawen famen il im fechften Jahrhundert n. Chr.), Ut diefes Land er- ſchloſſen worden, das jest zum größten Teil die Ernährung diefes neuen Staates trägt. Schwertragende Objtbaume die Straßen, und im Elbtal (dem Lande eines Ludwig Richter) blüht der Weinbau. Cine Forſtwirtſchaft nutzt bie Werte der weiten Wälder aus, aus denen jährlich große Mengen Holz nach Deutſchland in die Papierfabriken qas worden ift. Elektriſche Kraft liefern die Talfperren, die Brauntohlenlager machen

ie induftriellen Werke von fremden Kohlenlieferungen unabhängig. Es gibt fat fein Dorf, in dem nicht neben der Landwirtichaft gewerbliche Betriebe zu finden find; fet es nun Knopf⸗ oder Glas- und a re. Daneben ift an die große Zahl tunjtgererb= lider Heimarbeit zu denken. Einen Maßjtab für die wirtſchaftliche Bedeutung Beutfe- Bohmens mag uns die Tatfadhe geben, daß es im alten Defterreih ein Ab tel der ge-= famten Induftric= und Danibeiticos, ein Siebentel aller werf- tätigen Menjhen und ein Fünftel aller Heimarbeiter umfaßte.

Diefes Land, das ausfchlieglich von Deutſchen bewohnt wird, die mit allen Kräften nad) der Vereinigung mit dem Reiche e st foll uns verloren gehen und flawifd werden? Die Tſchechen kennen das Land und feine Werte gut. Feder, der es heut durchwandert, fic) erivandert, muß den Hak und den mit ¿aber Kraft und Ausdauer geführten Kampf um die pare Vormadt am eigenen Leibe fpitren. Der Tfeheche ijt heute durch jeine Gefege in der Borhand und nußt diefe Ueberlegenheit gründlihd aus. Er prägt alle Werte um, vernichtet oft felbjt ohne Rüdjiht auf den eigenen Vorteil alles Deutihe und folonifiert

toßzügig. ERDE läßt er fämtliche deutijhen Bezeichnungen verfdiwinden, Fein

traßenſchild, kein Cigenname darf deutich jein, ja felbjt die deutſche Sprade wird auf der Straße verfolgt. Er dringt in die Städte des Randgebietes ein. Durch ungeheure Vergewaltigung der alten Gefege (Angliederung fremder, willkürlicher Gebiete an einen Wahlkreis) [da ft er eine tſchechiſche Stadtmehrheit! Man verpflanzt nun auf Gemeinde- toften (die Mittel werden aus deutſchen Steuern aufgebradt!) befonders finderreiche tſchechiſche Familien in diefe ehedem rein deutfchen Städte. Darauf werden drei Viertel aller Schulen den Deutſchen enteignet und in tihechifche umgewandelt. Die Deutjchen

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müfjere fid mit der fdledtejten begnügen. Schulklaſſen, die weniger al3 vierzig deutjche Kinder haben, werden (einem diefer neuen Vernidtungsgefepe nad) geſchloſſen. Dies tft nur etrt kleines Bild aus der Schulnot der Deutfden; ähnlich ift es auf allen Gebieten, wo bie SF Been die Vormadt haben. Die ee hen Gefege dienen ihnen nur dazu, deutfaben Grundbefig zu enteignen, um tſchechiſche darauf anzuſiedeln. Das Gefets gibt jeden Vorteil dem Tſchechen jeden Verluſt muß ber I e tragen. Und dbetrt Dat die ganze Republik bei über 13 000 000 Einwohnern nur 6 200 000 Tfpeihen! < xc ogalledem hat fid das Deutſchtum bisher ait tein erhalten. Prag, biefe alte deitíabe Stadt ijt uns verloren und nur nod ein Außenpoften. Um fo enger aber ift der kreis Der einig dajtehenden kerndeutfhen Gemeinden. In ihnen allen lebt nur ein Wille: burtlcef> bleiben bis zum legten fie fönnen nicht glauben, daß „das Reid”, die Heimat, ker Dergift. xg den Volksbüchereien und den Volkshäuſern arbeiten fie mit unendlicher Liebe an dere arfbau der neuen Volksgemeinſchaft. Das heimatlide Kulturleben ift ihnen eine ker DE oye Kraft und foll das Band werden, das fie alle umſchlingt und ſtark macht. Aus te ge ees Haren Erkenntnis heraus, daß die wirtſchaftliche Macht nicht der letztentſcheidende Purifa Tan Leben der Völker ift, ringen fie um ihre (unfere) Kultur. Zu unverbrüchlicher leue «raid im tlcinjten ſchweißt fie die gemeinfame Not zufammen und der Wille, ihre Volt- heit ar wahren. Hier können und mujjen wir im Reid) helfen. Innerſte Aufgabe von uns De aitfden in der Heimat ift das Ringen um unfere völkiſche Reinheit und Rel x <A ion, dies it die Kraft, die wir den Brüdern geben. Denn aller SOUL, in den benz re arten ijt in erfter Reihe: ca um die Selbfterhaltung, Verteidigung des Ere Dbrbexr e +T und des alten Befiges. Wehe aber dem Volt, das nur nod diefes Ziel hat, es ntax 3 wergeben wie einſt die Germanen in Karthago und Rom. Der Kampf eines Voltes it rice um den Saup des Bejtebenden, es ijt das Ringen, das geboren wird aus dem unge > w xen inneren Machtgefühl einer veligiöfen Sehnſucht. bat < pete verfudt, einige wiederzugeben. Möchten doch recht viele ut? e enfden wieder ein fühl für den Zufammenhang mit unfern Auslands»

dutico e befommen. Wir tonnen ung nidt in willkürliche Staatsgrenzen eingwingen

fer ——— durd feinen Vertrag. Unfer Ziel ift die Vollsgemeinfchaft als eine Gemeinde

e w Deutihen. Wir müffen eins werden ein einig Volk. Hans Harmfen. Hauslonzerte.

Rs ex jemals an die sig teinigende Wirkung des Krieges geglaubt (und e3 waren ange zuridt die Schlechteiten, die das taten), der muß am Geiſte der Gefchichte irre werden Type TOD tS der heute ins Groteste gefteigerten Entwertung alles Geiftigen in Deutichland. ures An die fein Satiriker der Weltliteratur dachte, tein Ariftophanes, fein Herondas, fein jegt 3 ar=, Horaz, Fiſchart und wie fie alle heißen mögen, find entjtanden und leben nod Barret y YtEjehemmt ihr etelbaftes Dafein: Hamfter, Schteber, Warenfalfder. Altberühmte und Le ru treue gerät unter der Not des fümmerlichen Dafeins ing Wanken, Dankbarkeit ips = triarhaliihes Verhältnis der Angeftellten gegenüber den Lohngebern ift zum ertare tr Geworden. Demgegenüber die Sudht, alles, was früher als geiftig regierend ane ber Amurde, auf das Mittelmaß des Genofjenfhaftlichen herabzuzerren. Die altrömifche eb Won den Bliedern des menfdliden Körpers, die fic) weigern, vom Sopfe künftig nod) wd > = entgegenzunehmen, und die auf eigene Fauft drauflosregieren, bis alles drunter Nppe ber und zulegt dem Verfall entgegengebt, fpielt fich wie das viclangefeindete Welt- Muto y= £ £ D eater Gerhart Hauptmanns bor unfern Augen ab. Was ehedem als geiſtige vie C <t t disfuffionslos hingenommen wurde, muß heute die Auffid)t vow mehr oder mijo A Derftándnis- und —— Betriebsräten über ſich ergehen laſſen. Den akade— SSildeten Lehrern ſoll Rang und Beſtallung der Voltsfchullehrer fortan genügen. Kg RU iverfitätsdozenten werden noch heute Gebührniffe angeboten, die von keinerlei vitb e e O angetrántelt von jedem Mülltutfher mit Hohn und Veradtung abgelehnt wie giſſenſchaftliche Inſtitute, Laboratorien uf. leben auf Pump oder werden, as pean eine wertvolle ins ür at ſich in kürzeſter Friſt ein Proletariat geiſtiger Arbeiter herausentwickelt, das US ber endlichen Gefundung bedürftiges Voltstum eine unendlid) größere Gefahr fterbe, t, als alle die Arbeitsfdeuen- und Arbeitslofenmaffen, die unfern geduldigen, trratten Staat totdrüden helfen. p š zeite EXD dieſes Proletariat wird nod) ins Unendliche verſtärkt durch die bereits in Friedens— Hredenhaft angewadfene Menge der ,tonzertierenden Künſtler Deutjchlands”. tm= Senn wenn aud die aus der Dede des Krieges zu erklärende Sonzertivut des Publi- Saura tur ganz allmáblid abzunehmen beginnt, wenn nod) immer fic) junge Elemente zum Where Y nterrid)t drängen, fo wird das bald mit der noch immer ausgebliebenen Erkenntnis SI Bettelarmut mehr und mehr aufhören. Die Entwertung unjres Geldes, die Frage uke Aluta a non valendo wird Preife für Sonzertveranftaltung, für das Aushalten Cer Ordefter anwadfen laffen, denen tein ehrlich fein Geld verdienender Meno,

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feine Stadtverwaltung mehr entipreden fann. Dazu kommt, daß, abermals zur Ent» taufdung jener Idealiſten, welche an eine vertiefende Tuer bet Kriegsereigniffe geglaubt, die Anziehungskraft äußerlichen Birtuofentums auf die Menge cher gemadfen als ge- widen tft. Heute entícheidet der Name, die Senfation im Sonzertfaal, und es wird ned eine unabfehbare Zeit brauchen, bis durch Volfstongerte, durch Gründung von Volkschören und VolfZordeftern foviel mufitalifher Sinn in die große Maffe getragen fein wird, um diefer Sucht nad) brillantem Effett das Waffer abzugraben. E

Einftweilen werden alfo alle die „dei minorum gentium“, alle jene Konzertierenden, die weder Munbertinder nod Stars find, in den Hintergrund gejchoben werden aus materiellen mie ideellen Gründen. Ñ

Hier nun ware die Gelegenheit gegeben, die fo fehr im Kurs jtehende ,Vergefell= Thaftlihung” aud der Kunſt vorzunehmen. (o nicht dem Staate aufhalfen, wo man jelber helfen könnte. Wo bleiben denn all die mit einem Schlage reidgewordenen „Bolfs- fohne”, die früher £ gern das Wort bon der Zufammengebórigteit aller ,@enoflen” im Munde führten? Gemigt es ihnen wirklich, einen Abonnementplag in der Oper ergattert zu haben; genügt es ihnen, ein Pianola oder gar ein Grammophon mit „eriten Platten” zu befigen oder aber ein wirklich echtes Steinwayinftrument? Sollten fie nicht, anjtatt die Kinos zu bebóltern und deren Sterne anzubeten, ihnen Autographen abzuluren, ihre Photographien zu erftehen, die Geſellſchaftsabende in ihren, mit allem Sitio des Yue und Auslands gepolfterten, Bruntráumen durd) Herangiehen folder notleidender und dod and) Fünftlerifh nod) recht anftandiger BVolfsgenoffen beleben? Muß denn immer die Größe der Tafel, die von der gnädigen Frau Trimaldio fhamhaft-ftolz den werten Gäften augeflüfterte Preishohe ber Delikateſſen das Ausſchlaggebende für die Wuͤrde des Abends ſein? Will man, wie in ſo manchen Dingen des öffentlichen Anſtands, nicht auch darin England nachahmen, das in ſeiner Geſellſchaft den einheimiſchen Künſtlern Gelegenheit gibt, ſich hören zu laſſen, ohne dabei, wie im öffentlichen Konzert auch noch die mühſam erſparten Groſchen dreinzugeben?

Der Erfolg beſtünde nicht allein in einer Veredelung unſerer gegenwärtigen er {haftlicen Sitten, in einer Hebung des Niveaus feitlicher Einladungen, die bereits drohen, in die orientalifche Art des Effens, Trinfens und anfchließenden Glüdjpielens zu verfallen. Er beftünde aud in der Vertiefung des Zufammenbanges unferer Muſik mit dem Bolte, der zeitgenöffifhen Schaffenden, die bei folhen Gelegenheiten fehr wohl zu Worte tommen tönnten, mehr, al3 es in öffentlichen Veranftaltungen möglich und üblich ijt, mit ihrem Publitum. Manches töricht-oberflähliche und vom gutivilligen Zeitungslefer gläubig hin—

enommene Urteil einer allzurafchen Tagestritit tónnte hierbei durch intenfiveres Kennen— ernen des fchaffenden mie de8 ausübenden Mufifers korrigiert werden. Mande Anregung, fig mit nr neuerer Kunſt zu ales fonnte bon bier ausgehen, da nun einmal der Mufitalienbandel die Gelegenheit verjaumt, hier fid) eine würdige Kulturmiffion zu en und fid) damit begnügt, Ware auf Beftellung zu liefern, wie jeder andere Kramer aud.

Die unentwegte „Woche“ hatte unlängit in einem Preisausfchreiben gefragt, wie denn die neue gefellfhaftliche Lebenshaltung zu fördern fei. Der erfte Preisträger beantwortete die Frage damit, dak er vorjdlug, überall da, wo Zufammentiinfte jtattfänden, auch zu Arbeitszweden, die Künfte, vor allem bie Delt heranzuziehen. Damit wäre das Thema der ,Haustonzerte” erweitert zu dem der Gejellichaftsfonzerte im weitejten Sinne. Wir tamen dann zurüd zu der_urfpriinglidjten und primitivften, vielleicht aber gerade darum echteften Betätigung der Tonkunft: ihrer Anregung duch Rhythmus zur Arbeit, wie fie Karl Bücher nachwies und mie fie in feine Zeit bejjer gehören mag als in unfere, die nur eine Devije tennen will: Arbeit! Hermann Unger.

Menjden und Köpfe.

5 & wohnte unlängft an aufeinanderfolgenden Tagen zivei Naturgefhichtsitunden in bere ſchiedenen mittleren Klafjen bei: Betde Male wurde der Natterfopf (Edium vulgare) durdgenommen. „Warum hat der Nattertopf eine Pfahlwurzel?“ hieß es in der exjten Stunde. „Weil er in trodenem Erbreid) wächſt und eine ange Wurzel braucht, um wenigften8 aus der Tiefe Flüffigkeit auffaugen zu können,” war die fchneidige wiſſenſchaft— lide Antwort. „Warum fommt der Nattertopf Da in trodenem Boden vor?” lautete die Frage in der zweiten Klaſſe. „Weil er es ſich leiften fann, denn mit feiner langen Pfahlwurzel faugt er Flüffigkeit aus der Tiefe auf,” erfolgte die gleich ftreng wiffenfdaft- liche Antwort. Wiffenfchaft? Ich befragte lächelnd die beiden Amtsgenofjen darüber, twas denn das eigentlide priug wäre: das Vorkommen im trodenem Erdreich oder die Pfahliwurzel. Sie hätten dagegen fragen fónnen: was war früher: die Sonne oder das Auge? Sie taten es nit. Sie ſchüttelten unwillig die Köpfe. Was für eine ¿rage alg ob es ankäme! Wir haben doch nicht die abſolute Wiſſenſchaft zu lehren, fondern mit den Wegen bekannt zu machen, die zu ihr führen, wiſſenſchaftliches Denten zu üben, Geiftesgymnaftif zu treiben. ES ift nit nur pädagogiſch wichtiger, fon=

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berrz aud ethifeh wertvoller fiehe bitte Leffinga Wort von der Wahrheit. Alfo üben pir Seijtesgymnaitit! Beweifen wir, warum das Mädchen von Orleans jterben mußte; bara Berlin genau an der und der Stelle an der Spree entitehen mußte; warum die Frarızofen nad | étonner que den Konjunktiv jegen miiffen, übrigens nicht nur die Fran- ezz, was weniger intereffiert, fondern aud die deutiden Schiller; warum gas zu ine Xebre von der Gnade tommen mußte; warum... O diefe Berveife und die ya keit, te rota ihnen beilegen! O diefe erigen Warum-Fragen des Lehrers, während die diles das Tragen immer mehr berlernen. Alles wird nah Grund und Folge, Urjadhe und Wir Lax rig zerpflüdt, alles nad) Kaufalbeziehungen geordnet. Statt der ewigen Geheimnifie, eS weet tirlidh Gewordenen, der Schidfale, der lebendigen Schö un en ragen lange Staufal- webere aus dem Fad Religion, dem Fade Deutih, dem ¿jade Phyſik und den anderen bern um den Schüler empor. Verángitet fteht er zwiſchen ihnen, wie ziwifchen den (ye Eh langen, grauen und toten Häuferreihen der Grofftadt, und feine Seele wird int aAat ex ftiller, bid fie fih überhaupt nicht mehr ang Licht getraut. Ihre lebendigen Be- zu open zu Gott, Natur und Volt fterben. Der Verftand hat fie zernagt, weil er weiß, B tt eine Pfaffenerfindung ift, die Natur nad Zweckmäßigkeitsgründen fic aus dem ro tt x> > Tašma entwidelt hat und das Volt an den Staat gebunden ijt, den zufällig nach— barífg > wohnende Menfden durch einen Gefellfhaftsvertrag gefchaffen haben. ‚er bet FS es Er weiß nod) mehr, er weiß eigentlich alles. Und wir ehren und verhätfcheln in, xx=> < il er uns die Dampfichiffe, das elektriſche Licht, den künftlichen Dünger und fo viele ndexce praftifche Dinge gefdaffen hat. Und tro dem miiffen wir feine Uebermacht brechen Ber o Ywx> r gehen unter. Wir miiffen wieder Menfden werden, ftatt nur Köpfe zu fein. Ro Tr Ber Unterridht3minifter, der uns dazu verhilft? Er gebe uns Lehrpläne mit weniger ã ch e a ee, als wir fie heute haben, mit weniger wiſſenſchaftlichen Unterridtsftunden, alg mir le Beas se erteilen müffen. Dafür wollen wir ung auch mit Kunſt befdaftigen, wollen nrbr e een lehren und mehr Leibesübungen treiben. Dann werden wir beutjche en? en betommen, die zwar nicht in fabelhaft kurzer Zeit auf dem Weltmarkt wieder die gite solle fpielen, die aber dafür ein lebendiges Gefühl für die ungeheure Wichtigkeit der —— SSmeinſchaft haben und für fie arbeiten und denen die Lehre vom Kreuz nicht wie den

ugere der Welt eine Tohrheit, fondern denen fie eine Gottestraft ift.

dmund Neuendorff.

Zeitgenoſſen. 3. Der Hoffnungsvolle. enſchen ſeines Schlages hat es gewiß immer gegeben. Nur ein Unterſchied iſt in Mir = den Zeitläuften; bald enden folle Leute al3 anertannte Hochſtapler, bald auch auf FUE TF te xitiiblen. ; A erwartet trotz ſeiner Jugend bon unſerer Beit das Zweite mindeſtens. Das ijt das ttgenöffiie an ihm. | Gree== < ijt begabt und gewandt, ein Redner und Schaufpieler, vielfeitig, energifd und ge- met e g< g, nie verlegen. Von b 7 “ber - fie fit: ee _Bervorragendites unter feinen vielen Talenten, deren Zujammenfaffung und Blüte muß Az cyen. Natürlich nicht ae gewöhnliche Lügen, das jeder leiſten fann, wenn es fein >= Er ligt mit Virtuo

fan near EH zurü a und die Belogenen vor Hintertiirden ftehen ai die man fic nod

{ite Au fteigern. In ſchwankenden Zeiten ijt Vielgeftaltigteit ein herrliches Gut. Die

ica. t ändern fih und wir in ihnen: von einer Stunde zur andern fann man jene

den und Halblügelunft bald rechts, bald links auftauchen und von bei—

an e ig Jeria was lints brauchbar ijt, und Links, i

pfehlung eines Sozialdemokraten in eine eig e uengftellung gelangt, fo kann man den Antiſemiten bald doppelt Dienſte Tr. Hat man btefe genügend erforſcht, wird man wohl bei Sozialdemokraten wieder Sehört. Man muß nur öfter den Schauplat wedfeln. vᷣt reilid fallen wg bei Halbliigentunjt biele Glaubenswechſel auf. Außerdem Des Tebr jung, dant Krieg und , Revolution” in die „Politik“ gelommen. Er fieht über-

» mit feinem bartlofen Schaufpielergeficht, nod jünger aus als er ift. Jene Wand-

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lungen ſprechen fic) allmählich herum. So genügt am Ende aud feine Titdhtigteit und Gewandtheit nicht mehr. Er würde für fi) allein nicht genug Vertrauen Er ſucht alſo Anlehnung und Deckung bei andern. Mit Vorliebe bei ſolchen, wie ſie in unruhigen Zeiten mehr aus Pflichtgefuͤhl und äußerem Zwang, denn aus Neigung und Beruf von anderen “h en Betátigungen Der ins jogenannte öffentliche Leben gelangen, bei Männern, die in ftilleren Zeiten irgend einer flar umfchriebenen joliden TL dienen mürden, einer Sache und nicht dem Vielen zugewandt, jegt aber, wider ihren Willen, gezwungen werden, fic) um das ftumpfe Tier „Mehrheit“ zu bemühen. Diefen Männern nähert er fich, befcheiden, je nad) ihren Bedürfniffen fic) mehr oder minder unterordnend, ein Helfer, ein Schüler, nichts weiter. Er madt fic ihnen überaus nüglich, nimmt ihnen jene „Organifationsarbeit” ab, die heut alles tft, tritt als ihr Apojtel auf, nabrt Hd, won dem Vertrauen, das fie genießen, und fommt allmählich als ihr Vertreter und Adjutant in Kreife, die fich ihm fonjt nicht geöffnet hätten. Nad und nad) gewinnt er fefteren Boden unter den Füßen. Gein Ehrgeiz und fein Liigendrang, der eingedämmtert tar, regt fid. Er erwähnt nebenbei und in vollendeter Beſcheidenheit Leitungen und Heldentaten, für die Krieg utid Revolution ja reichlich Gelegenheit boten, und gewinnt damit hohe Schägung der Ahnungslofen. Hörte er von einer Unternehmung, die ungefähr in der Richtung feiner Intereſſen liegt, Ë ift er daran beteiligt; ja ex hat fie eigentlich eingeleitet und durchgeführt. Bemerkt er kritiſche Regungen gegen den, den er vertritt, jo fühlt er vorjichtig vor mit Bemerkungen, die feine Dijtang betonen, feine Selbftandigfcit merken laffen und zu den Gegnern hin neigen. Bald hat er noch einige Eijen im Feuer. Unter dem Schein, zu ver- mitteln und mit vertraulichen Aufgaben diefer. Art betraut, ftreut er halbe Gerüchte herum, verjchärft ——— und ſät Mißtrauen. Der Mann, der ihm ſein Vertrauen ge wird gewarnt. Er fühlt felbjt, daß fein „Helfer“ mehrere Gefichter hat. Aber ihm, er aus innerer Fremdheit derlei Schwierigkeiten unterfchäßt, jcheint es unmürdig, den en fleinen Ungenauigteiten feines Helfer3 nahzufhürfen. Er fieht in ihnen die

ehler jener Tugenden, denen er feheinbar eine fo angenehme Entlaftung verdankt. Ein wenig wohl auch dabei, wenn er die Warnungen zurückweiſt: ſollte er nad viel— jähriger Arbeit fic) fürchten vor den Intriguen und temen Eitelfeiten eines jungen, nod) fic) entwidelnden Menfhen? Allerlei Lügengefhichten freilich fommen zu Tage, die ans Betrügerifche grenzen. Er jtellt ihn offen zur Rede. Der junge „Bolititer” weicht aus. Der ältere wird vorjichtiger. Das reizt die Eitelkeit des Jungen. Was bisher nur Berehnung und vorfichtige Spielerei war, wird mit Leidenfdaft gewürzt: er tritt gegen ihn auf, freilich zunächſt nur hinter feinem Rüden. Gleichzeitig fordert er noch immer eine Stellung innerhalb des Tätigkeitsbereichs des älteren. Diefer erfährt von feinem Doppel» fpiel und weit ihn offen ab. Da nimmt der Hoffnungsvolle den „Kampf“ auf gegen den, der ihn ins Vertrauen der Leute gebracht hat. Eben die Tätigkeit, bet der er nod) geftern mitzuwirken als fein Lebensziel bezeichnet hatte, ift nun höchjt tadelnswert. Es zeigt fic), daß er von Anfang an „Material“, wie er e3 verftand, gejammelt hat gegen fie. Er rechnet, nicht unrichtig, damit, daß der andere weder Bett noch Begabung für derlei „Kämpfe“ hat, er bedient o. geitohlener Privatbriefe (die Tür des anderen ftand ihm jederzeit offen), nad) berühmten Mujtern, die auch Mintjter geworden find, verwendet vertrauliche Gefpräche, intrigiert, hordjt, trägt herum, kurz, ift in feinem Clement. Er fhult fich für die große „Politik“ und ftovt die ohnehin mubfelige Arbeit des anderen für Monate.

Wie wird es enden? Gein Glaube an fid) wird wadfen. Ye öfter er das Spiel wiederholt, defto ficherer wird er Hd) fühlen. Immer wieder weiß er ſich nützlich zu machen im Wechfel der ſchwankenden Zeit. Die ewigen Verfdiebungen der Kuliffen deden feinen —55 Rollenwechſel. Wo er kann, vermehrt er die Verwirrung, getragen von der

ewunderung der Vielen und Urteilsloſen, geſchützt von der Duldung der allzu Be— ſchäftigten und von poſitiven Aufgaben „Abgelenkten“. ft das Mißtrauen gegen ihn ewachſen, jo wächſt dod) auch feine ,Braudbarteit”. Und es tann wohl fein, daß er, ein

epráfentant der Zeit nach dem Sriege, ein ergangendes und böſes Gegenftüd zu unferer Heldenjugend, vor aller Reife des Charakters in Leiftung und Verantwortung geriffen, vorübergehend etwas daritellt.

Oder radt fic) die Untvabrbaftigteit feines Wefens an ihm felbft? Beginnt er an feine eigenen Lügen zu glauben und verliert er das Mag? Ueberſchätzt er am Ende doch die chaotiſchen Möglichkeiten der Zeit und fteht plöglich, unvermutet irgendwo einmal der Wahrheit gegenüber, ohne Gelegenheit, in eine neue Sade, einen „Kampf“, eine Affäre, eine andere politiihe Lage auszuweichen? Erweiſt fic) die innere Wahrhaftigkeit und Ein- fachheit der Dinge doch ftárter als das Nur-Zeitgenöſſiſche? Wird er dod ein anerkannter Hodftapler? Danad), wie es diejen Zeitgenofjen, diefem Typus der Nachkriegszeit ergeht, wird man geradezu den Lauf der Entwidlung beurteilen fonnen.

Hermann Ullmann.

Ter Kriegstellermann und der Revolutionskellermann.

¿Sernam gehörte einſt zur Zunft der Striegsberichterftatter. Fürs Berliner Tages blatt ijt er auf dem Pegafus geritten in die Sdlacht. Motto: Hurra! Rellermann 30

hat nad Journaliftenfitte aus dem +y. ein O Alo Bud) gemadt. (Es heißt „Der Krieg im Argonnerwald” und ift bei y. Bard erjdienen.

Die Tage haben fi) geändert. Aus dem andern Tag madt man natürlich ein andres Bud. Man ift nun mal Journalift, zu deutfch: Schreiber für den Tag. Das neue Bud, das Kellermann aus dem neuen Tag gemacht hat, heißt „Der neunte November”, und das ift bei S. Fischer erichienen.

Zu dem Bud „Krieg im Argonnermalo” hatte A Kellermann ein Vorwort fdreiben laffen vom Kronprinzen. Fur den „neunten November” hat fid) Kellermann fein Vorwort fhreiben lafjen. Denn Liebfnedht und Rofa Luxemburg find nicht mehr bon den Uebrigen ware feiner „entſprechend“.

Kellermann ſchwärmte in dem Kriegsbuche: „Unfichtbar weht die heilige Fahne Deutſchlands über dem Argonnerwald“.

ellermann jhwärmt in dem Revolutionsbude: „Hell gegen den funfelnden blauen Himmel, hell und leuchtend flattert die rote Fahne über dem Schloß”.

Kellermann burrate in dem Kriegsbuche: „Späteren Gefdlechterm werden fie wie fagenbafte E eriheinen. Spätere Gefchlechter werden fie in ihren Geſängen verherr— en in Hurra den Argonnenfampfern, Mann um Mann! Ein Hurra Offizieren und Generalen! Ein Hurra ihren ruhmbededten Führern!”

Kellermann verdammt in dem Revolutionsbude: „Die reife, die Graufamen, die Bermefjenen, die die Gefchide der Völker lenken, wird fie verzehren, die neue Sonne... Die Geſchichte wird ihre Namen verzeichnen, wie fie den Namen Neros verzeichnete, der als Fackeln brannte. Aber vor ihrem Namen wird Neros Namen verblaſſen.“

er Kriegskellermann ſchrieb: „Was ſie, die Tapferen und Kühnen, vollbringen, ver— mögen Worte nicht zu rühmen... Daf fie es vollbringen können: fie wiſſen, wofür fie es tun!”

Der Revolutionstellermann fchreibt: , Aud die Tapfern (nämlich die Revolutionäre) waren gefommen, die Mutigen, die felbft in den furchtbaren abren nicht den Glauben an den Sieg ihrer Sade verloren hatten. Gepriefen fei ihr Name!“

Diefe drei Obrfeigen mögen für den zwar nicht charaftervollen, aber charakteriftifchen Zeitgenoffen Kellermann genügen. Das Papier ware zu ſchade, um derartige Gage dugendweife zu ,fonfrontieren”. Und das Peinlichjte der beiden Bücher wäre damit noch nidt einmal beutlid geworden: in dem Sriegsbude das efle, unechte Pathos, in dem Revolutionsbude die Technik des Hinterftichs, durch die der Gegner entwertet und ver- ächtlich gemadt wird jene Technik, die bekanntlich das Berliner Tageblatt zur Virtuo- fitat ausgebildet hat.

Wenn wir fagen würden: Kellermann fehreibt rechts, fobald er damit Geld verdienen fann, und fdreibt lints, fobald er damit mehr Geld verdienen fann, fo würde er ganz ungeniert fagen: „Bitte Ich ich habe mid) befehrt! Es gibt Bekehrungen. Belchrungen find nicht unebrenbaft.” te deutfche Deffentlichkeit nimmt es nicht jo genau. Darauf fann man fic) getroft berlaffen. °

oer Kellermann wird folde Obrfeigen hinnehmen und fic) tröften mit dem „Erfolg“. So ijt diefe Art von Sournalijten. Er wird auc in die deutfche Litcraturgejdichte tommen. Rubrif: Heinrich Heines Yournalijtenfdule.

Johann Hinrid) Fehrs. m Hinrich Fehrs hat uns in feiner Dichtung vor allem nad) zwei Richtungen bin

bleibende Werte hinterlaffen, die gerade in dicfer Zeit, wo unfere eingig Rettung im Neubau unſeres völkiſchen und ſittlichen Daſeins beſteht, von größter Bedeutung jind. Zunächſt bietet er uns eine lebendige und anſchauliche Darſtellung unſeres niederſächſiſchen, insbeſondere holſteiniſchen Volkslebens im weſentlichen aus der Mitte und zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, an der tir unfere eiqne Wejensart in ihren beiten Zügen und Anlagen extennen und ftárten fünnen, und fodann bat er auf diejem Grunde einen Menſchentypus dargeftellt, in dem fittlides Werden und Streben dag Entfcheidende ift, und damit Beiträge zu einer fittlihen Erneuerung unferes Voltes geliefert. Das alles ijt natirlid) nidt in beftimmter Abficht gemacht, jondern auf dem Boden der eignen Berjón= lichkeit wie von felbft erwadjen und Geftalt geworden, wie eben das Werk des echten Dichters immer ohne Nebenabjidten in freier Entfaltung aus fd felbft entftebt.

Dak wir bei Fehrs eine wundervolle Darjtellung unferes Stammestums in ber dörflihen Kultur des vorigen Jahrhunderts befigen, drängt fic) jedem auf, der auch nur zwei jeiner Erzählungen gelefen hat. Aber bald befejtigt fic) daneben der Eindrud, bab die Menſchen, die er jo lebendig zu geftalten weiß, in ihren bervorragenditen Vertretern eine Form fittliher Bildung darftellen, in der die beften Kräfte und Antriebe unferer

eiftigen Kultur wirkjam find. Fehrs jchildert oft große und tiefeingreifende Menſchen— aber nie macht das Schickſal den Menſchen zum bloßen Spielball ſeiner Willkür, immer kämpft er mit ihm. Wohl unterliegt der Menſch des öfteren, ſelten aber, daß er hoffnungslos zerbricht, mie in Lüttj Hinnerk“ und „Dat Gewitter“, den beiden älteſten plaitdeutſchen Erzählungen; in Fehrs' größtem Werk „Maren“ geht wohl die Heldin

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unter, aber fie geht ſich felbft befiegend dahin als eine tragifche Heldin im alten, echten Sinne eich Begriffes. Meiftens jedoch ift es fo, dak der Menſch auch äußerlich den Sieg behält, bak er das Schidfal in fid) felbft beziwingt, bag unter dem Widerftand jich neue Kräfte in ihm entfalten, und feien es aud) nur die Kräfte des Entfagens. Aber nie it es ein f chmütiges Entfagen, immer eine Seelenerhebung, die zu neuer Tat, zu neuem Schaffen aufruft, fo im den Erzählungen „In't Forfterhus”, „Johanniſtorm“ und „Ehler Immer wirkt das Schickſal auf den Charakter ein, meiſtens und por allem in der Form, daf es ihn láutert und feftigend bildet, e feien in diefem Zur jammenbang nur die Gefdichten „Rein Gotts Wort“, „En fwaren Drom“, „Hannes Frahm”, „Better Krifdan”, „Binah banterott” genannt, von „Maren“ zu ſchweigen, in dem fic) alle diefe Formen vereinigt finden. Diefe Charatterlautarungen, die fo oft das Thema der Fehrsſchen Erzählungen find, laffen den Menfdentypus, zu dem all fein Dichten binftrebt, mur defto deutlicher erſcheinen: der freie, fraftvolle Menſch, der fic ee in fittlide Zucht nimmt und Welt und Det zu jeiner fittlichen NG AUT ich wirken läßt. Um der Echtheit jener Voltsdarftellung und der Schönheit und

Aus dem Umftand, dah es fid) bei Febrs fo oft um pd eines Charakters handelt, läßt fid) fließen, bab er mit feiner ganzen geiftigen Anlage im wefentliden

im Nadfolgenden aufgehoben würde. Jedes der genannten Werte und viele der ziwijchen ihnen liegenden behalten ihren eignen Wert und ihre felbftindige Bedeutung. „Aüttj Hinnert” 3. B. ijt fein bloßer, mehr oder weniger geglüdter Peru fondern in feiner Art etwas Vollfommenes und Abgerundetes, Dasjelbe gilt gleid) bon der zweiten Erzählung „Dat Gewitter“. Von völlig jelbftändiger Art find ferner Geſchichten und Bilder wie „Niklas“, „De Spinnfru”, „Uem hunnert Daler”, „Sünnabend“ und das ehaltvolle, nad) „Maren“ noch erichienene „Leben un Dod’. Die Linie bewegt ſich alfo eineswegs ftraff nad aufivärts, fondern fie verläuft in konzentriſchen Streifen. Aber immer deutlicher und wejentlicher tritt der menfdlice, der geiftige und fittlide Gehalt, den Fehrs allen feinen Werken mitgegeben hat, hervor. So wie er felhit alg Menſch jchein- bar gewadjen ift, einem Jabresring lebengeftaltender Weisheit und tiefmenfdliden Ber- fonlidfteitsgebaltes nad) dem andern anfebte, jo wuchs aud das Leuchtende, das jeme Werke an innerer: Lebensfülle befigen, zu immer höheren und weiteren Streifen.

Steht Fehrs wirklich mit feinem Dichten unter dem Gejeg des Werdens, dann könnte man denken, er hätte vielleicht etiwas als Dramatiker zu leiften vermodt. Er felbjt hat wohl mit dem Gedanken gefpielt. Er Dat auch einiges, das ihm als Dramatiker zu— tatten gefommen wäre, die Kraft der Menfchendaritellung und den ftraffen Dialog.

ber es hätte doch wohl die beige Leidenichaftlichfeit gefehlt, die dag Treibende beim Dramatiker ijt. Fehrs ift ausgeiproden Epiter; aud mit feiner Lyrik, die trog ihres ringen Umfanges ebenjo mannigfaltig ift wie feine Erzählungen, ftebt er dem pilhen nahe. Denn nicht bloße Stimmung ift es, worauf fein Schaffen ausgeht, fondern por allem das Charatteriftifde, das Geftaltete. ber im allgemeinen zeigt er das Ge— ftaltete nicht in feiner Rube, fondern in der Bewegung und im Werden. Chriftian Boed.

Der Beobarhter

C y manuel Kant holte aus der andadtigen Betratung des Sternenhimmels tiefite Ge- danten. Radi me tar cine fleine Stadt und war fehr dunkel, da konnte man die

Sterne in der Nacht wohl funteln fehn. Aber wir zwifchen den hohen Häufermauern in der tiinftligen Helle des Gaslichts und der ftrablenden Elektrizität fehen faum je den Sternenhimmel. Und was follten wir auc) dort oben hinaufftarren? Da ift wenig zu

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fehn. Ein leuchtende Punkte in lauter Dunkelheit. Wieviel intereſſanter iſt all das, was von 8 und Elektrizität umſtrahlt wird! Weil wir zuviel ande Licht febn, P. wir das Urlicht im Dunkel nicht mehr. Nur wenn wir all das fiinjtlide Licht unfrer

beorien und Philofopheme auslöjchen, vermögen wir das ewige Urlicht zu fehauen. Nur wenn wir unfern Blie von all den hellen Gegenftanden der erleuchteten Wirklichkeit ab- wenden in das jtille Dunkel des Geheimniffes, darin alles Licht aufftrahlt und verglibt, werden unfre Augen wieder empfindlich für den Keim des Lichtes: Gott.

LEB em Schäfer hat in der Frankfurter Zeitung Briefe an die Quaker veröffentlicht, deren [egter mit der Ueberſchrift „Antivort an die Quäker“ in Nr. 901 und 903 erfhien. Das find nit nur „Auffäge“, fondern Dokumente für das religiöfe Suchen unfter Zeit, die merkwürdig in der Umgebung ftehen. Die „Anttvort“ wird denn aud) mit der redaktionellen Bemerkung verjehn: „Wir laffen den Dichter Wilhelm Schäfer nod) einmal feine Auffaffung zum religiojen Problem der Zeit darlegen.“ Wir lafjen nod) ein- mal Dichter feine Auffaffung! Die folgende Stelle über die feeliiche Lage der Dentfegen möchten wir herausheben: „Wir Deutjche find nad) diefem Srieg dem Schidjal Tad al3 der Liebe; zwar haben wir ung den teutonifchen abgewöhnt, aber wir lächeln grimmig, wenn uns die andern Völker die Schuld an dieſem Krieg aufpacken wollen. Wir haben erkannt, wer am Webſtuhl dieſer Zeit ſaß; und wenn wir vor Gott un— regen befennen, fo till eine andere Hoffnung darin aufbluben als die, demnächſt mit im

ölterbund figen zu diirfen. Unmäßig wie wir find, haben mir mit um das goldene Kalb

etanzt, alg die ganze Welt darum tangte; nun aber die Erde barft von der Gottverlaffen- bei ber vergangenen Tage, wollen mir ebenfo unmäßig den Abgrund austoften: Eher zu

tunde geben, als nod) einmal das Dafein mitmachen, das fid am Tiſch der Gewalthaber von Berjailles olympiſch gebardet; eher zur Holle fahren, als mit frommem Augenauffchlag den Himmel erbetteln! ic find aufs tiefite Davon ergriffen, daß Gott mit der Menjd- heit zu Hadern begonnen hat, wit wollen für uns nichts von diefem Hader geſchenkt haben, ja wir zittern, daß er zu hadern aufhören möchte, bevor alle Gerechtigkeit an uns erfüllt it. Wir find troßig bereit, felber mit ihm zu hadern, wenn fid Euer himmlifder Vater uns nun nicht anders offenbaren wollte.“

Syatihland fann nur genefen, wenn die Schulerziehung auf ganz neue Grundlagen ge- ftellt wird.” ‚Deutichland fann nur genefen, wenn in den Schulen wieder Sinn für Autorität gepflegt wird.“ „Deutfchland tann nur genefen, wenn es die Sozialifierungs- erperimente aufgibt.“ „Deutfchland kann nur genefen, wenn es die Geldreform einführt.” „Deutichland tann nur genefen, wenn es fid) wieder emporzüchtet zur _Rein- tajfigteit.” „Deutſchland fann nur genefen, wenn es alle Wafferkräfte ¿ur Elektri- N ausnüßt.“ Jawohl, Deutjchland tann nur genefen, wenn fid alle jiebzi

illionen Deutſche hinter mir auf mein Stedenpferd aufhoden und mit mir bith! bib! rufen. Mein Lieber, Deutichland tann nur geneien, wenn du dein Maul hälft und die Aufgabe anpadjt, die juft vor deiner eigenen Nafe liegt. (Empórte Anmerkung des Lefers au jenen Stedenpferd: Das ift doch fehr einjeitig! Wohin follten wir denn kommen, wenn —.

wei Sorten von Menſchen haffe id), und ich rate jedem, auf der Hut vor ihnen zu fein.

Die eine tommt jedesmal, wenn man einen Sag hingeftellt hat, mit der Rede: „Ge- nau dasjelbe habe id) aud) immer gemeint!” Dann fagt fie des Langen und Breiten, was fie meint und fopiebt einem ſchwätzend ihren Wechjelbalg unter. Die andre Sorte aber fagt: ¿Bag andres wollen wir ja auch nicht!” Die find mit ung alsbald ein Herz und eine Seele und bleiben, twas fie waren. Es ift eine verzweifelte Gade, wenn man mit Menſchen zu tun bat, die nicht im Stande find, Unterfdiede zu fehn.

BW" Deutjchen haben e3 uns oft felbft zum Vorwurf gemacht, dak wir mit den Polen und (ſoweit biete franzöfifh waren) „mit fertig wurden“. Daraus haben wir unjre „politifche bat contd ae Die Engländer jind noch heut nicht mit den Gren fertig geworden. abrend unjre Polen und Franzoſen wirtſchaftlich borantamen und wenigſtens ein äußerer ine herrfdte, hat es England nah Jahr— hunderte langer Ausbeutung Jrland3 fchlieklich zu einem blutigen Rleintrieg „gebracht“. Sind nun alto die Englander noch „politifch nabi er” als wir? ber find nicht viel- mehr derartige Schlußfolgerungen i falſch? Auch die Deutſchen haben ihre politiſche Begabung, nur it fie andrer Art und anders gerichtet als die engliſche. „Jedenfalls ijt die politiiche Begabung der Deutſchen unblutiger und weniger graujam als die des Wikingervolkes auf der Kleinen europdifden Raubinfel. Das gut bezahlte moras life Flotentongert, das die Engländer zur Bejanftigung yee Opfer und derer, die es werden follen, anftimmen laffen, ändert an diefer gefdidtliden Tatfache nichts.

< as Nobeltomitee des norwegifchen Storthing hat dem Práfidenten der Vereinigten Staaten Woodrow Wilfon den Nobelfriedenspreis für 1919 erteilt.“ Der größte Zreubrud der menschlichen Gefdhidte wird alfo in Norwegen prei3getrónt. Schon feit

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Jahren unterhielt man fid) des öfteren über die eigentümlichen Degenerationserfdeinune en im gebildeten norwegijchen Volte. Hier ift ein beachtenswerter Beweis für die Un- tcherheit des moralifhen Gefühls in der norwegifden Bildungsihidt.

RAR ud) die Staatsbeamten folgen dem Zuge der Zeit und legen ſich das Streikrecht zu. Wenigen jcheint deutlich zu fein, daß damit eine völlig neue Anfhauung bom Wefen des Staates Play greift. Das Streifredht ift betanntlid als ein Gegengewicht gegen den „freien Arbeitsvertrag” entitanden. Weil der freie Arbeitsvertrag den Unternehmer berechtigte, den Arbeiter jederzeit furafrijtiq zu —— oder ſeine Arbeitsbedingungen zu ändern, entſtand als Gegendruck ber Streif. Das Verhältnis des Beamten zum Staat ijt aber nicht das des „freien Arbeitsvertrags”. Der Beamte kann nit „gekündigt“, fein Gehalt fann nicht ohne weiteres herabgejeßt werden, er hat eine bejtimmte „Karriere“ vor ji, und für Alter, Krankheit und Tod hat er bejtimmte Pen- fionsberedhtigungen. Wenn die Beamten nun das Streifreht in Anfprud nehmen, fo verändern fie damit ihr Nechtsverhältnis zum Staat. Sie hätten nun feinen Einwand mehr, wenn der Staat feinerjeits ein furgfriftiges Sindigungsredt einführte. Sie wären nicht mehr Träger des Staatswejens, fondern Angejtellte des Unternehmers Staat. Sie wären dem Staat nicht mehr mit ihrem Leben, fondern nur mit der Ware „Arbeitstraft” verbunden. Der Staat würde aus einem ,,Gemeinwefen” zu einer „Unternehmung“. Darum werden fid) die Beamten fehr bedenten miiffen, ob fie ftreiten wollen, und der Staat wird ebenjo bedenten miifjen, ob er fie zum Streik treiben darf.

Sy“ Name Wilhelm jeheint vielen nicht zur deutſchen Republik zu paffen. Man macht mehr und mehr ein „Wilm“ daraus. Zum Beifpiel zeichnet ber Warfdauer Sorre- fpondent des Berliner Tageblatts als Wilm Stein. Wenn jchon, denn fon jagen wir lieber glei: Siegfried Stein.

& it von Wolzogen fehreibt im Fachblatt der VBarietes, dem , Organ”: ES feien die Varictéleute gewefen, die ihn kürzlich in feiner Not und Krankheit am meiften unter- Er hätten, im Gedenken an einen ehemaligen Verfud, durd) das ,Ueberbrettl” das Variete fünftlerifch zu heben. „Das deutihe Theater hat fic) zu folder Tat der Danke barkeit nicht aufzufhmwingen vermodt. Wenn die deutſchen Bühnen dafür zu haben ge- tejen waren, meine jüngften Werfe von erprobter Schlagfraft in diefen Monaten zu fpielen, fo wäre mir die Beſchämung exfpart geblieben, auf meine alten Tage mich durch mwohltätige Gaben erhalten zu laffen! Die deutfchen Bühnenleiter, die deutſchen Verleger uf. fpielten die Rolle des Leviten und des Pharifaers im Evangelium: fie hätten den tranten Dichter wie einen Hund am Wege verreden lafjen; da kamen die Kunjtpfeifer, Steptanger, Baudredner ufim. und Kan ihm als barmberzige Samariter wieder auf die Beine.” Dazu ware zu bemerfen: Erjtens bat fid allzeit erfunden, daß unter den nicht begiiterten Künjtlern fowie unter dem fahrenden Volte viel mehr Des Güte und jtille Wobltat im Schwange w als unter den Leuten mit goldener Kette und Gehpelz. Zweitens, daß es ein deut ſches Theater überhaupt mi gibt, fondern nur ein Allerwelt3-Gejhäfts- theater, deffen Zived ift, Geld gi maden. rittens, daß fid) dem Gefchafte madenden Theater gegenüber eine große Anzahl deutfder Dichter in ahnlider Lage befinden wie Wolzogen. Vierten3, daß jene Worte des Dichters weder von der Voffifden nod) von der Frankfurter Zeitung nod) vom Berliner att (das doch Aufrufe für Wolzogen Eh fant wiedergegeben wurden. Aud vom Voriwarts nicht, obwohl die mitgeteilte Tatſache ehr bezeichnend für die fapitaliftiiche Welt ijt. Aber der Sozialismus des Vorwärts hat eine höchſt mertiviirdige Grenze: fie fällt mit der tulturcllen Gemeinfdaftsfront des Vor- warts und des Berliner Tageblatts zufammen.

E Beifpiel für die literariſche Technik, den politifen Gegner in den Augen harmlofer Lefer unmertlid zu entwerten. Die Frankfurter Zeitung, die diefe Technik (fie it —— als die Hinterſtichtechnik des Berliner Tageblattes) zuweilen übt, ſchrieb zum Georg Kaiſer: „Ein Dichter iſt mit dem Strafgeſetzbuche in Konflikt gekommen.

an wirft ihm Eigentumsdelikte, vor. Als übliche Begleiterſcheinung: die Re— aktionäre jubeln... (ES handelt fu námlid um einen modernen, fogar expreſſioniſtiſchen Dibter. Sie wittern Morgenluft für Wildenbrüche.“ Erxftens: id) habe nirgends in der ,Teattionáren Preffe” a nur ein Wort des „Jubels“ über den Fall Raijer gefunden. weitens: wer über den all „jubeln“ würde, wäre nicht ein ,Reaftionár”, fondern ein ump. Nun alfo die Technik: Man täufcht den Lefern ein moralifch Ver⸗ faite des andern bor, das Bild des Gegners wird mit winzigen Striden ins Abjtoßende tilifiert, und dann erhebt man fid) als der Vornehme, Weitherzige, intelligente über den Gegner. Der Zünftige weiß Beſcheid und lächelt. Aber all die braven deutfden Ober- lehrer, Amtsridjter, Aerzte, Pajtoren im Land fallen prompt darauf hinein. Stolz ſchwören fie auf ihre ,vornehme” und „objeltive” Zeitung und ahnen nicht, wie gefegult jene Leute ihr Handwerk üben, von denen fie ſich allmorgens und allabends einfetfen und über den Löffel barbieren laffen. Für die ganz Harmlofen fet es gejagt: daß fid eine gebe ge⸗ meinſame Verteidigungsfront im Berliner Tageblatt, im Vorwärts, in der Voſſiſchen

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und in der Frankfurter Zeitung alsbald nad) der Verhaftung Kaifers * hat ſeinen Grund nicht in einer beſonders feinfühligen Moral, ſondern einfach darin, daß Kaiſer mit zum Slingel gehört. So etwas follte mal Erich Schlaikjer paffieren die Entrüftung!

Ein: erprobte Logik für die Kritit der Strafgefebe: Die wenigiten Spigbuben werden abgefaßt und verurteilt, die meiften fommen „duch“. Die, telde verurteilt werden, müffen es als ungerecht empfinden, dag man gerade gegen fi e und nicht gegen die andern borgebt. Haben fie etwa Schlimmeres getan als die andern? Wenn der Staat nicht fähig ijt, alle Diebe zu faffen und zu verurteilen, fo darf er auch nicht einige fallen und verurteilen. Dadurd, SUR er etiwas erzwingen will, was er nun einmal nicht er- zwingen fa nn (nämlid alle Diebjtahle zu beftrafen), jet er jich felbft ins Unrecht gegen- uber den verurteilten Spigbuben. Folglich muß der Diebjtahl grundfäglih unbejtraft bleiben. Die Logik ift beliebig verwendbar, man braucht nur pa »Diebitabl” das je- eilig zu erörternde Vergehen oder Verbrechen einzujegen: Schiebung, Abtreibung, Ver— trieb erotifher Literatur, Raubmord. Man wird immer eine Menge Ejel finden, bie darauf hineinfallen.

RWerindranath Tagore iſt derzeit wohl der geleſenſte Dichter in Deutſchland (ſoweit Verſe in Betracht kommen). Aber iſt es nicht beſchämend, daß keine von allen Ueberſetzungen auf die urſprünglichen Werke, die in bengaliſcher Sprache geſchrieben ſind, zurückgeht? Daß keiner der Ueberſetzer je etwas von dem urſprünglichen Reiz der Werke, die er überſetzte, empfunden haben kann? Das in dem Volke Herders, Hum— boldts, Rückerts! Erſt wurden Rabindranaths Dichtungen ins Engliſche überſetzt, von da ins Deutſche. Was ſoll bei einem ſolchen Weg von dem Wefentliden einer Dich— tung noch übrig bleiben? Es zeugt von der ſeeliſchen Minderwertigkeit des deutſchen „Zejepublitums“, daß es feinen Anſtoß nimmt an dieſer doppelten Veränderung und Ver- dünnung. G8 ift eine wohlverdiente Sronie, daß wir in Dummheit aud die englifche Schreibmeife des Namens Tagore übernommen haben und es brav ausfpreden Ta-go-re! Mie die Frankfurter Zeitung Geftftentt, heißt der Mann (Familiennamen gibt'3 in Indien nicht) Rabindranath. Tagur it ein Ehrenname, den feine Familie erhalten hat, wie der- leihen vielfach bei Brahmanen gefdieht. Tagur (das erfte a ift lang und betont) haben ich die Engländer in ihre Orthographie umidrieben: Tagore. Und wir verfauderwelfden den Namen nun, indem wir auf die nata „Rechtſchreibung“ hineinfallen. Das fommt davon. Bleiben wir lieber bei dem Rabindranath (rabi, Indra, nath), deffen i betont und deſſen letztes a lang it.

Swiefprarhe

S atten mir das eme Jahr mit Bildern bon Rembrandt, das ziveite mit Bildern bon Dürer eröffnet, fo widmen mir diefes Heft, mit dem tir in das dritte Jahr geben, dem dritten unfrer größten Meifter: Grünewald. Und gedenken dabei, dak fein herrlichites Werk zu Kolmar in der Gewalt der Feinde ift. (ES hat einen eigentümlichen Reiz, fich die drei Keinungen Grünewald, Dürer, Rembrandt in ihrer Gefamtheit neben einander vorzujtellen und zu berfuden, das eine große Gefeg zu erfaffen, das in allen dreien taltet.

Die erjten drei Ausjchnitte aus Griinewalds Bildern (Der auferjtehende Chrijtus, Maria Magdalene, Mufizterende Engel) find aus dem groben Werk über Matthias Grine- wald von Oskar Hagen (Verlag von Piper u. Co. in Münden) entnommen. Wir vertweifen auf die Beiprehung im Bücherbriefe und möchten hier —— daß unter den mancher— lei Schriften über Grünewald gerade die von Hagen (auch die „Einführung“) dauernden Wert behalten werden. Hagen und Schmid müſſen als Grundlage für alles ernſte Studium Grünewalds gelten.

An die Sielle des früheren Umſchlags haben wir, da die Druckplatten erneuert werden mußten, einen neuen geſetzt. Uns ſind viele böſe Zuſchriften wegen des en llm: ſchlags zugegangen von Leuten, die das Glatte und Gewohnte vorziehen. Trogdem haben wir bis jegt an dem feſtgehalten. Er hatte fetne tiinftlerifden Werte, die bes fonders dann fühlbar wurden, wenn man andere Entwürfe daneben legte. lies’ Umfchlag Pa feineswegs von andern „übertroffen“ worden. Und denen, die in Unkenntnis des

tpreffionismus ihn „erpreffioniftifch” oder gar „undeutſch“ nannten, fet empfohlen, ihn einmal neben gewifje Teile in Ditrers „Offenbarung Johannis“ zu legen, um zu empfin- den, wie Deutfch im eigentliden Sinne er ijt. Gleichwohl haben wir nun ein anderes Umfchlagsbild genommen, um denen, die uns nod nicht kennen, den Zugang zu uns nicht durch jenes Titelbild, das eine nicht geringe Anforderung an den Befdauer Rent, u eve fhweren. Der neue Umfdlag ijt bon einem Schüler von Arthur lies, Georg Deme- triades in Hamburg, gezeichnet. Das Symbol bedarf feiner ertlárenden Worte.

Die wirtfhaftlihe Lage aller Zeitfchriften ift heute fchwierig. Wenn mande fo

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tun, al3 ging's ihnen fehr gut, fo ift bag fagen wir höflich: ,Bolitit”. Obwohl unfre Zeitfehrift nun nad) zwei Jahren einen bejtimmten feften Pla errungen hat, von dem aus fie weiter wadhjen kann, muß fie doch genau „rechnen“. Mande cof dd darunter ſehr angejehene, befinden fid) feit einiger Zeit auf der Mäzenatenjagd, jie gehen um unter den reichen Lenten und ſuchen, men fie erfeplagen tónnen. Wir beteiligen uns nicht daran. Aber damit der Verlag billiger und wirffamer arbeiten und damit die ganze Arbeit auf eine breitere wirt{daftlidhe Grundlage geftellt werden Tann, hat er fid mit pe Verlags- und Drudereiunternehmungen verfdmolgen zur „Hanſeatiſchen erlagsanftalt”. Die völlige Unabhängigkeit meiner Schriftleitung ijt gefichert.

Mber der Lefer darf nun nicht fagen: die Zeitjchrift ftebt ficher, ich fann es mit dem Bezugsgeld Ieicht nehmen. Wenn wir das Deutjche Volfstum in der bisherigen Weife ollen weiterführen können, fo bedürfen wir der pünktlichen Einfendung der Bezugsgelder.

ande find im Riidjtande. In Zukunft werden wir faumige Zahler ohne Umitánde pl Ein Boitihedformular zur Erfüllung der durch den Bezug eingegangenen Ver- pflihtung legen wir bei. Und mir bitten, in Zukunft immer ein halbes Sabe voraus⸗ zubezahlen. Es iſt für den Bezieher nicht weniger ärgerlich als für den Verlag, wenn ſich die & ulden aufjammeln und dann plóglid auf einmal hinterher beglichen werden follen. Die Lefer unfrer Zeitfchrift find ja fein eos „Publitum“, per fie find durch eine Gefinnung verbunden. Durch diefe Gefinnung follte fic jeder getrieben fühlen, bie wirtfchaftlihe Pflicht gegenüber der geiftigen Gemeinfchaft, die er fördern will, zu er- üllen. Mit der a von Probebeften wolle man bitte vorfichtig fein. Jedes Pet ftellt heute einen bejtimmten Wert dar, den wir nicht ins Zufällige hineintverfen ürfen.

Zu dem Beitrag über Turnen und Volkshochſchule fei bemerkt, daß Lefer, die für diefen Gedantentreis eine befondere Teilnahme haben, ſich an die SFichtenefellihaft (Sam- burg 36, Poſtſchließfach 124) wenden wollen oder an die Reichsdeutfche Geſchäftsſtelle des Deutfhen Turnerbundes, Leipzig, Losniger Str. 35.

Stählins Sage über Politit und Weltanfhauung bildeten urfprünglich die Leitfähe ———— Sei Kane Ss Wa *

Im nächſten ehandeln mir die Frage: Judentum - Antifemitismus. + Reitauffag na von Walther Claffen fein. St.

Stimmen der Meifter.

er jegig Zeiten leben will, Muß haben tapfers Herze,

Gs hat der argen Feind fo viel, Bereiten ihm groß Schmerze. Da heißt es ftehn ganz unverzagt qa feiner blanten Wehre,

fid) der Feind nicht an una wagt, Es geht um Gut und Ehre.

Geld nur regiert die ganze Welt, Dazu verhilft betrügen, Wer fi) fonft noch fo redlich hält, Mu fat bald unterliegen. Rechtſchaffen hin, rechtichaffen ber, Das find nun alte Geigen: Betrug, Gewalt und Lijt vielmehr, Klag du, man wird bir'8 zeigen.

Doch wie’s auch tommt, das arge Spiel, Behalt ein tapfers Herze, Und find der Feind auch nod fo viel, Berzage nicht im Schmerze. Steh gottgetrenlid unverzagt an deiner blanten Wehre,

enn fid) der Feind nun an ung wagt Es geht um Gut und Ehre.

16. Jahrhundert.

Herausgeber: Dr. Wilhelm Stapel. (Sũt ben Infalt verantwortlid). Syrtftlsiter: Dr. Lub- mig ninghoff. a riften und Cinfenbungen find zu ridten an die tiettung bes DentiHen Bolfstums, mburg 36, iftenplats unverlangte Cinfendungen wird feine Derant- wortung überuommen. Derlag und Drud: Hanfeatifhe Derlagsanftalt Rttiengejeliffaft, Hamburg. Deyugspreis: Dierteljährlih 7,50 Mart, Einzelpeft 3 Mart. PoftiHettonto: Hamburg 7363. Nadbrud bec Beiträge mit genauer Cinellenangabe ift von ber Schriftleitung aus erlanbt, unbefhadet e des Gerfaffers. 36

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Aus dem Deutfhen Voltstum Matthias Grünewald, Mufizierende Engel

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Probebánde des Volfstums

beftehend aus vier neueren Heften der Jahrgänge 1919 und 1920 find foeben fertig geworden und ftehen zu Werbe- sweden zur Verfügung. Wir bitten unfere Lefer, Freunde und Bekannte, die nod) nicht zur Vollstumpgemeinde ge: hören, auf diefe Probebánde aufmerkfam zu machen. Das Stüd foftet 4 MP. Sede Buchhandlung Fann fie be forgen, fonft der Verlag in Hamburg 36, Holftenplag 2.

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Albert König, Birken im Raubreif

Aus dem Deutfhen Voltstun

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Deutiches Dolfstum

2.5eft Eine Monatsfchrift J92J

Antifemitismus, Dölferfunde und NKeligion.

ET: Hak und Wildheit ift zu unferm Thema viel geredet worden; zum Teil aud) in großer Untwiffenbeit, in diefer Zeitfchrift aber mit Ruhe und Des fonnenheit. Nüchtern wollen auch wir fpredjen; anfangs wird der Weg mühſam fein, dann aber führt er zur Höhe.

Deutfchlands Yuden find bon dreierlei Urfprung. Juden famen ſchon mit den Legionen Roms nad) Deutihland. Sie haben alle Stürme der Volferwanderung überdauert und faft zwei Jabrtaufende alle Schidfale des deutfchen Volles im Guten und Böfen geteilt. Yn jener römifchen Zeit machten die Yuden nod) ftarte Propaganda für ihre Religion, nahmen Fremde in ihre Gemeinden auf. So muß e3 gefontmen fein, daß die Juden vielerlei Beimifchungen erhielten. Man kann geradezu fagen, die Juden find ein Reft der römifchen Frembbevolterung, der ſich in den rheinifchen Städten erhalten hat. So erflärt fic) denn aud) die ftarfe Raffen- mifchung der deutfchen Juden. C8 it in ihr enthalten ein wenig bom blonden nordifden Langichädel; doch nur fehr wenig; ebenfalls nur wenig vom brünetten Langichädel der Mittelmeerraffe,* obgleich bieje Raffe doch wohl einmal Träger der femitifchen Sprache und Hauptbeftandteil des Volles Israel gewefen ift. Hingegen find rundfdabdelige Typen unter den deutfchen Yuden recht häufig, darunter fehr oft der Typ des Heinafiatifchen Rundfchädels, der wohl voreinſt Träger der chetitifchen Sprache gerefen ift. Endlich mögen auch einige negerhafte Veimifdungen unter den Juden vorhanden fein.

Briinette Rundfchädel find aud) ftart in der Mifchung des deutfchen Volles vorhanden, jedoch meift vom alpinen brünetten, außerdem aud) vom ofteuropät- fen blonden Typ der Rundfchädel. Ferner gehören zur Miſchung des deutjchen Voltes alle drei Typen des europäifchen blonden Langfdadels. Der Mittelmeertyp ift auch in der deutfchen Mifchung vorhanden, aber felten.

Go find denn nad) der Raffenmifchung die Juden Deutfdlands und das deutſche Bolt tatfächlich verjchieden zufammengefegt, aber immerhin doch fo, daß die Raffen- beftandteile zum Teil diefelben find.

Zu diefen alten deutfden Juden ift über Holland in dem Ietten Jahrhundert eine weitere Einwanderung gefommen; diefe Yuden waren von Spanien und Pore tugal nad) Holland gefommen. ES ift fehr wahrſcheinlich, daß die Juden der iberifchen Salbinfel abftammen von Deportierten, die nach der Zerftörung Yerufalems 70 n. Chr. dorthin verpflanzt worden find. Go erflart e8 fic, dak unter ihnen das lang{dadelige Element der Mittelmeerraffe ſehr häufig zu fein ſcheint. Sie find oft ein ftolzer und hochgefinnter Menfchentyp genannt worden.

Endlich ftammen die Juden Deutfchlands aus Polen und Rufland. In jene Lander find fie zum Teil im Mittelalter eingetvandert, eingeladen bon polnischen Königen. Das Yiddifch, das fie fprecjen, ftammt ab bon einem niederrheinifch- deutfchen Dialekt. Außerdem aber miiffen in die Oftländer Juden von Byzanz und bom Schwarzen Meere her eingewandert fein, und zwar in einer Zeit, als die Suden

*) Genaueres über die Raffen Europas in meiner Schrift: ,Raffen und Valter”. Verlag des Deutfhen Boltstums. rif fl Volter

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noch erfolgreich Propaganda machten. Denn es find unter den Oftjuden viele bom blonden turztopfigen Typ, wie er in den Weichfellanden uralt einheimifch ift.

Das ijt der Urfprung der Juden Deutfchlands. (ES werden ihnen nun viele Eigenfhaften vorgeworfen, die das deutfche Voltsleben fchädigen follen. Da ift nun zunächſt zu bemerken: an fid) find die Anlagen jeder Raffe befondere. Da nun die Juden fehr ftart gemifcht find, werden fie die Träger mannigfadher Anlagen fein. An fid von Natur find aber die Anlagen einer Raffe weder gut noch böfe. Wer fo etwas redet, redet Unfinn.

Wohl aber fann die Miſchung mannigfacher Raffeneigenfdaften in einem Menſchen ftarte Spannungen hervorrufen, durch die er felbft fich unglüdlich fühlt und duch die er unberechenbar wird, ein Opfer von Launen und Stimmungen. Ferner fann der Menfch durch Kultur und Gefellfhaft gewiffe Neigungen und Fertigkeiten ftart herausbilden und dann auch vererben. Und folches Erbgut tann fogial förderlich, aber auch fozial ſchädlich fein.

Nun wirft man den Juden vor, fie befagen durch Vererbung ein großes Gefchid, mit foldem Handel Geld zu verdienen, der fein produftiver Handel fei. Das heißt, fie brächten Ware nicht deshalb von einem Play zum andern, weil fie hier vor- handen und dort begehrt fei, fondern nur, um durch das Hin und Her der Bare Geld zu maden, ja fie kauften Ware vom Markt weg, nur um fie teuer werden zu laffen und fie dann wieder zu verkaufen. Sie feien die geborenen Schieber und Wucherer.

Wir wollen es dahingeftellt fein laffen, ob dies eine jüdifche vererbte Gefchidlich- feit ift. Wir wollen zunächſt fagen, dak wir auch eine ganz befonders germanifche, Menſchen gegeneinander verfeindende Handelsanfdhauung beobadtet zu haben glauben.

Der Germane fühlt ftd) verpflichtet, folide Ware anzubieten. Durch das ganze Mittelalter ift da8 zu beobadhten. Wenn aber der andere dumm ift und paßt nicht auf, dann darf man ihm auch überreichlic Geld abnehmen. Warum ift er fo dumm? Das üt nun germanifd empfunden, mag zuweilen erziehlich wirfen. Aber gemeinichaftitiftend wirkt es ficher auf die Dauer nicht. Das germanifche Urteil geht aber noch weiter. Iſt der andere in Not und Bedürfnis, und ich habe, was er braucht, fo gebe ich ihm, aber ich halte ihn dafiir rücdfichtslos in Abhängigkeit bon mir. Go haben e3 die Hanfen immer gemadt. Und ift das Verfahren vieler Lanbleute in diefen Notzeiten nicht recht eigentlich bon der Art? „Sch habe, du haft nicht; alfo zahle tüchtig”. Das gilt durchaus für moralifch. Aber was beivirkt dies? Eine Verbitterung, die unfere nationale Einheit zerreißt. Uebrigen3 können Leute, die fo handeln, bei ſich zu Haufe höchſt ehrbare und fleifige und tüchtige Menſchen fein! Jn diefer legten Art zeigt Hd Ditingertum, roh und gewalt- tätig, in der erften Händlertum. Das fann man wohl fagen. Aber gejchieht das Wudern und Schieben gerade befonders durch Juden? (8 gibt aud) einen Typ blonder junger Leute mit Pelzen und Handfoffern von einer gewiffen unfeinen Eleganz. Die liegen auf unferen Eifenbahnen und machen ihre volfsverbvecherifchen Gefchäfte.

Und dod! Wir fommen Hier an einen Punkt, der wirklich etwas von der Eigentümlichkeit der Yuden erflart. Es ift ein Typ, dem das ftädtifche, Yauernde, jede Gelegenheit nugende Gefchäftsleben angepaßt ift. Die Yuden find hochgesitchtete ftädtifche Raffe, anpaffungsfahig an jede Lage, fähig jede Gelegenheit zu mugen. Aud) Deutſche erwerben fich diefe Fähigkeit im großftädtifchen Gefchäftsleben. Viel- leicht bleibt ein Unterfchied. Der Sube bleibt tit hl dabei, legt Gewinn zu Gewinn; halt feine Familie hoch. Der Germane, nod) neu in diefem Treiben, wird leiden= fhaftlich, genießt die Aufregung diefes Spiels, verſchwendet auch wieder, läßt Dabei oft feine Familie verderben. Für dieje Zivede ift der Jude der höher ge= züchtete.

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Wir mußten über diefe Dinge einmal ganz grob und ehrlich reden. Wir müffen ung jagen, daß fic) bier eine befondere Eigentümlichkeit der Yuden nicht feit- ftellen läßt, nicht etwas, was einer natürlihen Raffe erbeigen wäre. Nachkommen bon Germanen, die fich in diefer Mammonsjagd behaupten, werden, wenn fie fünf- hundert Jahre fo weiter leben müffen, genau fo fein.

Wir miiffen verfuchen, ob wir an einem anderen Puntte weiterfommen. Man fagt, der Jude fei finnlich, gefchlechtlich ausfchweifend, er habe eine Freude am zyniſchen Wik; er durchſeuche unfere Literatur und Kultur mit fexueller Vemeinbeit und gäbe die bloße fezuelle Erregung für Sunft aus. Hier wird allerdings ein entjegliches Kapitel unferer Kultur berührt. Man könnte nun auch bier fagen: jede Gropjtadt erzeugt diefe Zerfallserfcheinungen. Aber Hier heißt e3 vorjichtig fein. Als ich vor zwanzig Jahren in Englands Großftädten mich bemegte, habe ich viel Scheußliches gefehen, aber die eben bejchriebene Art der Gemeinheit doch nicht. Sa, wir haben fie in Deutfchland vor dreißig Jahren auch nod) faum gehabt. Was ift hier vor fic) gegangen?

Der Jude ift Nachkomme aus der VBedolferung fiidlidher Grog ftadte im Romerreid. Legen wir zunächſt Gewicht auf das Südliche. An fich kann der nordijde Menſch auch fehr finnlich, roh und geiwalttatig fein. Aber das heiße Klima teizt die Sinne in gefährlicher Weife. Die füdlichen Volter müffen viel Selbitbeob- abtung und gejellfchaftlihe Umficht aufivenden, um überhaupt miteinander leben zu Tonnen. Go werden fie ſcharfe Beobachter des Gejchlechtslebens. Der Jude, der dow immer irgend einmal herftammt aus jenen Ländern und [bon feit Jabrtaufenden in einer tomplizierten Kultur lebt, bat fozufagen eine ererbte Erfahrung auf diejem Gebiet. Er ift dazu weife in der Pflege und im Schuß feines Familienlebens. Die Juden bringen viele Aerzte hervor, die in der Beobachtung und Behandlung des feruellen Gebiet Großes leiften. Daraus tann man ihnen nun feinen Tadel machen. Aber eines muß doch wohl fo fein: der Jude it der alte Großſtadtmenſch füdlicher Zonen. Schauen wir uns in den Mufeen in Rom und Neapel um, fo fehen wir auch ſcheußliche Dinge. Wir erfennen: ein Phidias bildete die Götter rein und grok. Aber in der Tiefe der antifen Kultur lebte immer dieſes Higige Siüdvolf. Und wo nicht das eiferne Band ftaatlicher Zucht wie bei Römern und Spartanern eine fraft- volle Herrenſchicht erhielt, da wucherte die finnlid) erregte Phantafie entjeglich empor. Nun, heute find wir wieder fo weit. Die Bande der ftdatlichen Zucht und der häuslichen Sitte find loder. Jeder fucht feiner Individualität ehrlich gejagt: feiner tierifchen Perfonlichfeit zu leben. An diefer Lage ift nicht der Jude ſchuld. Das ift eine Krifisunferer Kultur. Aber der Sube, der nun einmal das alte fiidliche Blut in fic) hat, gibt fic) da dem Spiel feiner Phantafie gar zu gern bin. Und hier gilt es den jüdischen Mitbürgern zuzurufen: Haltet euve alte Zucht in euren Familien aufrecht! Ihr berderbt, wenn ihr diefem Trieb eures Wefens folgt, aud) ung, unfer ganzes Gemeinivefen. Bedentt, ihr, unfere jüdifchen Mitbürger, ihr feid die alte Großftadtraffe, das heißt, ihr habt einen fchnellen witzigen Verftand. Wenn ihr aber den über den feruellen Dingen fpielen laßt, dann treibt ihr einen wahren Teufelsdienft. Ihr verfündigt euch an der Mutter, deren Kinder wir alle find, an der heiligen, fchöpferifchen Natur.

So, jegt find wir erjt wirklich bei unferem Problem angefommen: wie verhalten fid) deutjches Volt und Juden zueinander? Wir mußten erft duch Schmug und Sumpf hindurd), um auf die Höhe Klaren ruhigen Denkens zu fommen. Nun aber wollen wir ohne Zorn reden, ja vielmehr mit Zartheit und Liebe. Wir werden allein feine glatte Antwort finden; aber wir wollen foweit fommen, dak zur weite- ten Verhandlung nichts pon Wut, Haß und Wildheit übrig bleibt.

Alfo, daß die Yuden raffenmagig anders zufanmengefegt find alg die große Maffe des deutfchen Volkes, ift fein fo großes Hindernis für das Zufammenleben.

Die Not, die zwifchen ung liegt, ift von zweierlei Art: exftlic), wir Deutfchen

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find Lanbraffe, aud heute nod); der Jude ift Stadtraffe. Zweitens, die Juden lebten bid vor bundertfünfzig Jahren doch geiftig ihre Volksgeſchichte für fih allein. Erſt dann fingen fie an, geiftig mit ung zu leben

Die Fuden find Stadtraffe. Darum dürfen fie nicht tlagen, wenn wenige bon ihnen Offiziere oder StaatSgetwaltige werden. Dazu gehört Eifen im Blut; ber Stadter wird nun einmal weich; Sport und Turnen find Gegenmittel; aber das befte Gegenmittel, welches gründlich) die Raffe härtet, ift ein anderes: Sandarbeit, arbeitsvolles Lanbleben. Damit ift eS uns ganz ernft. Auch der Jude muß einige feiner Söhne und Töchter Landarbeit lernen, Landwirte werden laffen. Dann

\ werben fie jene harte Kraft gewinnen.

Dies gilt übrigens auch für die Juden in Polen. Mit Hilfe aller ihnen nugbaren Beziehungen follten die Juden forgen, dak ihre Genoffen in Polen wentg- ften8 zum Teil Siedler auf feftem Befig werden. Bauerlidhe Arbeit wird fie erlöfen von den vielen Fehlern, die ihnen vorgeworfen werden, Natur hat wunder⸗ bare Heilkraft. Sollte died unmöglich fein? Der tategorifde Imperativo gebietet. Wer die Pflicht erkennt und an den Gott, der ihm gebietet, glaubt, der wird ftart.

Bäuerlihe Juden im Often könnten ein Vorpoften wefteuropaifder Kultur werden, feinesmegs gleichgültig für Deutfchland.

Nun das Zweite, was zwijchen den Juden und uns liegt. Da mag der Abftand noch febr groß fein. Vererbung fpielt in einem Volfsleben die größte Rolle. Neis gungen, fittlide Richtung, Phantafie, poetifche Art all das wird in hohem Maße bererbt. Das Wefen im Volfstum beruht geradezu auf folchen erivorbenen und per erbten Eigenſchaften. Der Deutfche lebt in feiner ich entividelnden Kultur feit Jahr⸗ taufenden. Der Jude hat feit hundertfiinfgig Jahren fi) in diefe einzuleben bes

gonnen. Einen Unterſchied muf das bedeuten. Aber einen unüberwindlihen?” ~~

Und eine Wurzel gibt es, die ift deutſchem und israelitiſchem Geiftesleben ge- meinfam, die altisraelitifhe Religion, eine erhabene Erſcheinung im Leben der Menfchheit. Hermann Eohen, der Marburger Philofoph, dem viele deutſche Männer einen ftarfen Teil ihrer geiftigen Ausbildung danken, hat mit der Kraft jeines begeifterungsfähigen Herzens in diefer Religion gelebt, fie fic) jozufagen kantiſch verfchärft und vertieft! Die isvaelitifche Religion ift aber dod) auch Wurzel der driftlidjen gerejen.

Allerdings erfcheint uns heute das Judentum erftarrt. Aeußeres drängt fid groß und wichtig neben das Innerliche. Viel mag die jüdifhe Religion heute nod) der Familie geben, aber ein Selbitgefühl und Gottrmohlgefälligicheinen gründet fich auf eine in Formen erftarrte Gefeglichteit. Dagegen hat fon Jeſus gefampft. Da jchied er fich vom Judentum feiner Tage, welches doch wohl nod) das Judentum ber Gegenwart ift.

Hier ift der Punkt, wo wir unfere Verhandlung mit einander fruchtbar führen fonnen. Wir fragen folgendermaßen: „Unfere chriftlichen Gelehrten haben mit Fleiß und Ehrfurcht das Alte Teftament erforfht. Sie fagen: die Religion der Propheten war groß. Altisrael und Propheten fprechen nod) heute zu unferen deutfchen Herzen. Sie erweden in und Buße und Erhebung und Troft. Seit Luther haben wir dies |

ı Gut mit euch gemeinfam. Nun aber fagt ung unfere Forfdung: das Judentum iſt . nad) dem Exil erftarrt; um fich felbft zu erhalten und abzufondern, tft e8 formen-

eifrig und pharifäifch geworden, hat uralt heidnifche Gebräuche, nur weil fie israe— litifo) national waren, auch alg jüdifch religiös gebeiligt. Was fagt nun ihr Juden zu diefer unferer hiftorifchen Kritit? Sit fie nicht auch für euch einleuchtend?”

Und mir fragen weiter: „Ihr glaubt und zivar mit Eifer und Treue vor Gott eure Pflicht abzuverdienen, ertwartet dafür feine Gnade. Wir aber glauben, Gott führt uns, macht uns durch Leid und Schidfal reif. Würdig feiner Gnade find wir nie, aber feine Liebe hilft ung, daß wir endlich ftart und frei werden. Was antwortet ihr Hierauf?” i

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Mander Jude hat ja ſchon in diefer Frage uns recht gegeben. Er ift Chrift gemorden. Dann geht er und feine Nachfommenfchaft im deutſchen Volke auf. Und wahrfcheinlich nach einem Eimatifchen Gefeg überwiegt dann tt der Nachfommen- [haft der nordifche Raffenteil. Aber die Juden, alg Gefamtheit, find diefen Weg noch nicht gegangen. Und doch wollen fie Deutjche fein.

Darum meine ich: dies Judentum als Ganges muß zu unferer Religionsfrage eine Antwort haben. Ich meine, fie müffen prüfen, ob nicht unfere fritijde Ane ſchauung von der Gefchichte ihrer Religion recht hat. Und fonnen fie nicht auch ein- räumen, daß die Ethik der Bergpredigt Jefu die ſchönſte Weisheit J3vael3 in Jeſus Sirach und Salomo und Hiob tveiterbilbet und vollendet? Yd) meine, der Jude fann die ethifde Größe Jefu anerkennen. Ya, er fann und das könnte für unfere Verftändigung ſehr wichtig fein, Luther verftehen und lieben den fWeinen Katehismus und die Erklärung des Vater-Unfer. Wobhlgemertt, ich verlange nicht, die Juden follen Sefus als Mefjias anerkennen. Wollen fie ihres Mejias harren dann dürfen wir ihnen das nicht verargen. Ya, ich glaube, Gott, der Herr aller Welten und Völker, bat noch irgend ein Biel mit der jüdischen Religionsgemeinfchaft. Warum hätte er fie fonft fo lange erhalten?

Aber fónnen die Juden mit folder Erwartung Deutfche fein? Wenn fie es wollen ich möchte es ihnen nicht wehren. Wir müffen e8 erproben.

Gewiß gibt e3 manches, wo der Jude anders empfindet alg wir. Es fann nidt gleichgültig fein für das Leben des Gemüts, ob einer alg Kind Laubhütten- und Verföhnungsfeft feiert, oder ob er unter dem Tannenbaum und oor der Krippe des Chriftustindes Weihnachtsfreude und Gottesahnung erlebt.

Aber ba8 Land, in dem wir nun leben, die Sprache, die wir fpreden, tónnen mir fie nicht beide lieben? Wenn wir beide, jeder feine Religion pflegen, aber das Judentum die feine in Reinheit, das Chriftentum feine in Reinheit: „Es ftrebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in feinem Ring an Tag zu legen! fomme diefer Kraft mit Sanftmut, mit herglider Verträglichkeit, mit Wohls tun, mit innigjter Ergebenheit in Gott, gu Hülf'!“ (effings Nathan III, 7).

Denn wir beide den Goethe, Schiller, Kant uns erarbeiten, dann werden mir jedenfalls miteinander Gemeinfchaft halten können.

Nur eines, das ftört unfere Gemeinfamfeit: wenn fich viele erheben und Gott und Religion verachten und berfpotten. Wer keine Treue fennt gegen unfere gottesfürchtigen Väter, wer fid) überhebt und fich ftolz Hinftellt: Yeh bin Menfch, bin frei, wiffenfchaftlich groß und herrlich und fittlich gut, der zerftört alle Kraft zur Gemeinschaft. Er predigt eine allgemeine Bildungsherrlichkeit und Gemeinfchaft aber da ift die Menfchheit Gott. Was ift die Menfchheit? Die Anftiftecin des Welt- trieg3! Die Menfchheit ohne Gott, ohne ihren Herrn und Schöpfer in der dee follen wir Gemeinfdaft finden? Und diefe Helden überfchütten mit hodymiitigem Spott, twas ung beilig-ift, fie wiffen in ihrem narrenhaften Hochmut nicht, daß die, deren Geift uns Chriften und Juden einigen foll, Leffing, Goethe, Schiller, Kant, Humboldt, Fichte, Ranke und fo fort lauter fromme, gottesfürchtige Männer gervefen find.

Nein, mit verfchiedener Religion fonnen wir uns wohl verjtándigen, ohne Reli- gion, al3 Gottverächter, werden wir nur Serftorer fein, Feinde der fchöpferifchen Natur, fiirwigige, unfruchtbare Großftädter; da loft fic) Gefellfdaft, Sitte und Staat auf in Raub und tierifchen Genuß.

Nein, die Verjtindigung zwiſchen Chriften und Juden ift mur möglich, wenn beide Teile ganz ernft, ganz religiös urteilen und fühlen. Da fagen wir ung gegeneinander: Wir wiffen legtlich noch nicht, was Gott mit Deutfchen und Juden vorhat. Aber unfere mit religiöfem Ernft geführte Ausfprache verliert Haß und Wut.

Wir können ſchon viele große Gemeinfdaft haben und müffen vielleicht die Aussprache nod) lange fortfegen. Das wird uns fein Leiden fein. Nur eines, wir

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miiffen fromm fein; da mag denn jeder in feiner Frömmigfeit fid) alg Gott nahe empfinden. Sd wenigftens befenne und darf es nicht verſchweigen —, daß mir meine Religion die der größeren Weisheit zu fein fcheint: |

„Das Gebot ift durch Gott in unfer Herz gegeben: Wir alle, jeder an feinem Plage und Volf, und endlich von Volt zu Volt auf Erden, follen Gemeinschaft werden. Doch wir tónnen e3 nicht. Unfer böfer Wille zerreißt immer wieder die Gemeinſchaft. Darum ift das unermeßliche Leid unter ung. Darum ftellvertretendes Seiden der Bejten unter uns. Ihr Blut verbindet uns wieder. Nicht ich mich felbjt, Gott erlöft mich nach dem Gefe des ftellvertretenden Leidens zur Kraft und Freiheit, _ fein Gebot zu erfüllen”.

Das ift nun heute unfer legtes Wort zu diefer Debatte. Mögen andere fprechen aus heiligem Ernft. Spotter aber und Heber werden wir nicht hören.

Darum fliegen wir mit dem Pſalmwort:

„Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlofen, noch tritt auf den Weg der Sünder, nod) fist, da die Spotter ſitzen, I

Sondern hat Luft zum Gefeg des Herrn, und vedet bon feinem Gefey Tag und Nacht!

Der ift wie ein Baum, gepflanzet an den Wafferbächen, der feine Frucht bringet zu feiner Zeit, und feine Blätter verwelfen nicht; und was er macht, das gerät wohl.”

Walther Elafjen.

Bemerfungen zum Wefen des Cjiidifchen.-

W arum wohl die Juden ſtets ungehalten, meiſt aufgebracht, oft wütend darüber ſind, daß der Nichtjude die Tatſache des Jüdiſchen feſtſtellt? Warum ſie beleidigt auffahren, wenn man es, wenn man ſie beim Namen nennt? Niemand kann ärger über das Jüdiſche ſpotten, alg der Jude ſelbſt, aber, wenn er den Scherz über ihn, ja felbft den Spott nod) am Nichtjuden verträgt, gegen den Ernft muß er fic), faft nie ohne Ausfälle gegen eine angebliche Hep-Hep-Sefinnung, zur Wehr fegen. Der $Zudemwillbeiden NihtjudennihtalsYudegelten, Unter fich“ find fie bereit, fic) alg Juden zu nehmen, im jüdifchen Solidaritats- gefühl ſchwelgt der jüdifche Weltgeift, aud) den einzelnen darf der Nidhtjude als Suden anfpreden, aber „das Jüdiſche“ zu betrachten, vom „Juden“ auszufagen, wird ihın als Vergehen gegen die „Toleranz“ verargt. Welche fonderbare Zein- fühligfeit, weld) ein merfwürdiger Hautfchauder der jüdischen Natur!

Und doch ift dem Nichtjuden nichts natürlicher als ſolche Betrachtung, folches Erbliden zumindeft des AnbderSgearteten, feitdem dieſes Andere fid) ihm überall aufdrängt. Wenn er auf der Gaffe, in Automobilen, in den Theatern, in Badeorien, fur; wo immer fi) Wohlleben zeigt, auf den Juden ſtößt, wenn ihn das öffentliche Leben in Preffe, Literatur, Kunſt, Politif, Wirtfdaft ftets mit dem nichts weniger als zurüdhaltenden Yuden zufammenbringt, müßte er blind fein, wenn er ihn nicht bemerkte. Ya, im Gegenteil: der Sube hat durch fein unaufhörliches Betonen feiner Anwejenbeit exft den Blic des Nichtjuden gewedt und auf fid) gezogen, zumal durch das nicht eben Geſchmack verratende Aneignen gerade von Lebensgebieten, die den anderen gemäß find. Wenn fic) mehr oder minder gefällige jüdiſche Frauen und Mädchen der alpenländifchen Trachten bemächtigen, wenn die Yuden mit Vorliebe ihre Kinder in diefe ihnen nicht anftändige Verkleidung fteden, wenn fie fic) der germanifchen Vornamen bemeiftern fo zivar, daß 3. B. Siegfried be- reits ein jüdijcher Name geworden ift wenn manche jüdiſche Eltern mit tranthafter Vorliebe ihre getauften oder ungetauften Knaben in geiftliche Anftalten, wenn ſich jüdifche Jinglinge mit Selbftentwiirdigung gegenüber unzweideutigen Zeichen der Mißachtung in die vornehmſten Saballerieregimenter drängten, ja den nicht zu feinem Vorteil vom Hochadel mit Bejchlag belegten diplomatifden Beruf durch

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Geld und Snobismus fid) erzwingen, muß der inftinttive Widerftand gegen das durch teinerlei „Xiberalismus” zu redjtfertigende anmafende Gebahren Unbe- fugter wenn nicht Hohn, Bitterteit und Haß, doch gumindeft durch den am Tage liegenden Gegenfat des Anfpruds gegenüber der Erfüllung, Aufmertiamteit erregen, Kritik zeitigen.

Am meiften hat zu einem als „Antifemitismus” verfchrienen natürlichen Wider- ftreben der von einer Dtinderheit Ueberfluteten der Umitand beigetragen, daf fich die Suden durch den Uebertritt zu einem chriftlichen Belenntnis des Judentums ent- äußert zu haben meinen. Das einmal für den Raffegegenfab gefchärfte Auge fann fid) durch die Außerliche Wandlung einer inneren Zugehörigkeit nicht im geringften beirren laffen, wird im Gegenteil durch den Widerfpruch der lebendigen Erfahrung mit der behaupteten Veränderung nur mißtrauifcher gegenüber der unfichtbaren Angleichung.

Ich habe in meiner Jugend zwei Brüder aus wohlhabenden jüdifchen Haufe gekannt, die fich, frühzeitig getauft, der eine der politifchen, ber andere der militärischen Laufbahn zumwendeten. Während mir die Geftalt des allgemein geachteten Vaters, eines Rechtsanwalts, aus den Erzählungen von Verwandten, insbefondere eines alten Oheims aus vornehmftem Patriziergefchlecht, ftet3 tro unverfennbaren Raffezügen als das Urbild eines bürgerlichen Ariftofraten in der Vorftellung lebte, während ich die hochgebildete und fid) von Progentum wie von Spiekbürgerlichkeit ſelbſtbewußt ausjchliegende Mutter, eine angenehme, unbefangene Erfcheinung mit uneingejchränf- ter Verehrung betrachtete, wurden mir die beiden Söhne, fo oft ich fie nach Unterbre- Hung wieder erlebte, durch den fic) von Mal zu Mal fteigernden Widerfpruch ihres zur Schau getragenen Andersfeins mit ihrem wahren Wefen immer lächerlicher, ja abjtogend. Zumal der Reiteroffizier, deffen betonte feudale Laffigteit fchreiend bon den häßlichen jüdifchen Gefichtszügen abftach, erregte mehr und mehr meinen Abfcheu. In Freundestreifen hatte fid) bald das boshafte Wort eingelebt: „Schade, bab nicht nod) ein dritter Sohn da ift, er könnte Domberr werden!” Was ift damit gefagt? Dak e3 Lebensgebiete gibt, die dem Juden nicht bürgerlich ,verwehrt”, wohl aber ethnifd nihtanftändig find. Bismard hat im Vereinigten Landtag bon 1847 dem Gefühl feiner ummillfürlichen Auflehnung gegen einen jüdifchen Richter den befannten beredten Ausdrud gegeben.*) (Wohlgemerkt: dem jüdischen Richter im arifchen Behördengefüge des deutfchen Staatsweſens. Der jüdische Richter inner- halb feines Volkes ift, weil unauffällig, als Richter genau fo an feinem Plage wie der jüdische Heerführer eines jüdifchen Heerhaufens.)

2.

Den Zufammenhang der Revolution mit dem Judentum, mehr: ihre Entitehung aus der jüdifchen Geiftigfeit, braucht man nicht nachzumeifen: ein Rundblid in der revolutionären Welt genügt. Ueberall treten Juden an die Spike der „neuen Ordnung“. Dak der „mwiffenfchaftliche Sozialismus”, getreu der Weberlieferung feiner Begründer, bon den ftammverwandten Nachfahren, die dem ,,Proletariat” die politifhe Macht und fid) deren Ausübung erfampft haben, bei der erjten günftigen „Selegenheit” in die Tat umgefegt wird, ift bei der ausgefprochenen doftrinär- intellettwaliftifchen Veranlagung der Juden nicht verwunderlich. Auch bab fich die Mafje der Fabrifarbeiter von ihnen ins fozialiftifche Paradies führen läßt, wird begreiflid), wenn man die feit Jahrzehnten mit Gefchid betriebene Agitation für die „Emanzipation des Hafjenbewußten Proletariats” bedenkt: bis zur Verhekung fcharfe Kritik der vom bürgerlichen Staate aufrechterhaltenen Gefellfchaftsordnung hatte die wirffamen Schlagivorte namentlich mit Hilfe der ausgezeichneten Parteipreffe emp-

_ *) Die Stelle fehlt in der (von Vallentin von Bismarck einge- leiteten) während dez Krieges von der ,Sdhwabader Verlagsbudhandlung” in Stuttgart veranftalteten Ausgabe der „Geſammelten Reden” (3 Bände in einem Band)!

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fangliden Gemütern zu unverlierbarem Beli eingeimpft. Dak auch das bürgerliche Sudentum im großen und ganzen mitgebt, tft aus der Tatfache erflärlich, daß „Sozial- pofitif” die von dem jüngeren Gefchlecht feit zwei Menfchenaltern vorzugsweiſe gepflegte Difziplin getvefen ijt; der Einwand, daß fic) die Verwirklichung des fogia- liftijhen Programms aud) hier gegen ,,Befigende” richte, erweiſt fic) bei näherer Betrachtung deshalb als hinfällig, weil die jüdifchen „Sozialpolititer” als „Führer“ der Bewegung und Verwalter des neuen Zuftandes unmittelbar ſowohl wie mittelbar al3 Advotaten, Beamte, Journaliften, Organifationsangeftellte uf. durchaus auf ihre Rechnung kommen (und ihr Einfluß hinwiederum hindert im allgemeinen die praftifde Gefährdung ihrer mehr oder minder „Lapitaliftifchen” Angehörigen und Freunde). Was aber auf den erften Blid vertvundern könnte, ¿umindejt auffällig bleibt, ift die Erfahrung, dak fich die ganze jüdifche Literatentuelt einmütig, ja mit einer oft fanatifchen Begeifterung, nicht nur der neuen Staats- lehre, fondern insbefondere ihrem äußerjten Ausläufer, dem anarchiſtiſch-kommuniſti-— fhen „Ideal“ der Bolſchewiken und Spartafiften zur Verfügung geftellt, ja, wo immer fih dazu auch nur die flüchtigfte Gelegenheit geboten hatte, bie Herrichaft des Schredens auf das Higigite und Grauſamſte errichtet hat. Lyriker, Dramatiker, Romanfdretber und Effayiften der verfdiedenen modernen Richtungen wetteifern an politifcher Raferei mit Winkeladvofaten und Rebolverjournaliften, brüllen an allen Eden und Enden ihr „Nieder mit dem Eigentum!“ und zertrümmern an der Spite bon roten Garden und fonftigen betvaffneten Haufen alg veraltet und überlebt, was fic) irgend an den Grenzen des Radifalismus nod) zurüdhält. ES ift intereffant, zu beobachten, dak ſich darunter immer wieder jüdifche „Neokatholiten” befinden, Menſchen angeblider exſtatiſcher Inbrunſt, Myſtiker oder zumindeft Herausgeber von Myſtikern, alle freilich „andrerfeits“ Erotiter, ja zu nicht geringem Teil Porno- graphen. Sit es bloß die neue ,Senfation”, die diefe innerlich eigentlich unergiebigen, nur auf Reize ,reagierenden” Gebirne lodt? Bei vielen von ihnen, die fic) von den befcheideneren journaliftifchen Brüdern bloß durd) die literarifde Anmaßung unter- fcheiden, möchte alg äußerer Anlaß die Senfation genügen. Aber auch bei ihnen ift der Grund tiefer zu fuen. ES iſt die anarchiſtiſche Naturdes Juden— tums, die das Zerfegende, das Zerftörerifche in der fozialen Bewegung anzieht, magifch geradezu. (Gch erinnere mid) daran, daß, als ich auf der Gymnafialbant ſaß und faum nod) an Hebbel und Otto Ludwig in fnabenhafter Auflehnung gegen das fchulgemäß „Klaſſiſche“ über Schiller „Hinaus“ gelangt mar, einer der drei, vier „überlegenen“, da8 heißt alg Kind ſchon untindliden Juden Niegfhe in die Klaffe brachte, wie er kurz vorher fic) zu meinem Erftaunen über den unerfindliden Reig diefer mit damals bloß langweiligen Lektüre an Laffalles Reden erbaut hatte.)

Der «Jude ift der geborene „Neuerer“, nicht Er neuerer, er will es „anders“ haben, er experimentiert, unbefümmert darum, ob das zweifelhafte Ergebnis des Experiments ficheren Beftand lodert. ES liegt ihm nichts am Bejtehenden, deffen Wurzeln nicht mit ihm, dem Fremden, zufammenhängen.

‚Das Ht der Kern des Judenproblem3 in unferer abendländifchen Welt: die fubjeftive Frembbeit des Hinzukömmlings. Der unbefangene Antifemitismus geht nicht gegen den Juden, er geht vom Juden aus. Wir Nichtjuden müffen erft auf den Juden fommen, ihn erfennen, ehe tir und gegen ihn auflehnen. Und dak wir ihn erfennen miiffen, das ijt fein Werf, die Wirkung feiner Einftellung auf unfer ihm bon vornherein gaftfreundliches feelifch-geiftig-fittliches Dafein. Der Sube ift neugierig mie alle geijtig Bewweglichen, er ift eindrudsfähig und zur Nahahmung geihaffen. Dod) er nimmt das ihm Frembartige wohl an, aber nicht auf, geſchweige denn ein: fein raſſiſcher Gegenfaß, der ihm unbewußte, hindert ihn daran. Deshalb fühlt er fic) nicht wohl im Dauernden, das ihm fremd bleibt. Indem er e8 angreift, wird er ihm feindfelig. Nicht von vornherein greift er es alg Feind an (wenn aud) das organifierte Judentum längft als unmittelbar feindliche Macht gegen das Träg-

heitöprinzip des Beharrenden anlämpft.) An feinem zerftörerifchen Eingreifen aber in das ihm Gewohnte, Liebe, das, woran er hängt, erkennt ihn der Nichtjude, und nun fegt, anfangs nod) inftinftiv, allmählich immer betoufter, der Widerftand ein. Denn AUntifemitismus ift Widerftand, Auflehnung, niht Angriff.

Man betrachte das lehrreiche Beifpiel der jüdischen „großen“ Preffe. Als Anwalt der ‚Freiheit“ ift fie aufgetreten. Alles, was fich freizumachen ftrebte von überlebtem Zwang namentlich im rein Geiftigen, hat fich ihr ergeben. Mühelos hatte fie ihren großen nichtjüdifchen Anhang gewonnen, der fie geijtig, ja materiell aufrechthielt (denn die große jüdische Preffe ift nicht bom jüdifchen Kapital gefchaffen worden, fondern vom „liberalen“, und das war in der Frühlingszeit der „Liberalen Ideen“ bor allem arifches). Aber einmal zur Macht gelangt, begann diefe Preffe, der bis dahin alles zur Verfügung geftanden hatte, was fic) als „Fortſchritt“ fühlte, den jüdifhen Journalis mus zu züchten und die Intereffen der jüdischen, einer internationalen Welt, immer augfchlieglicher zu vertreten. Man made fich den Zuftand tar: ein von Yuden nach jüdifcher Denkweiſe gefchriebenes, jüdifcher Gemeinfdaft vom politifchen über den perfönlichen bis zum Anzeigenteil hinab dienendes Blatt befpricht alg Organ des „Fortichritts”, gleichfam im Namen feiner gu überwiegenden Teil nichtjüdifchen Abnehmer, ¿. B. die öfterreichifchen Kirchen- verhältniffe, polemifiert etiva auf Seiten einer liberalen Regierung gegen die Bes ftrebungen des fatholifden Klerus. Weiter: wer ift diefes Blatt, das alfo „Liberale“ gegen ,tleritale” Politik treibt? Ein Herr x y, der Seitartitler. Der Eintvand, dah es in jedem Blatt, gleichviel ob jüdifcher oder nichtjüdifcher Geiftesrichtung, etn Herr x y, ber Seitartifler, der politifde Redakteur, fei, der die Politit des Blattes treibe, geht nicht auf das Wefen. Es handelt fic) darum, daß e3 ein Jude fei, der fich getragen bon der politifchen Bedeutung feines Blattes einer durch das Kapital feiner Hintermänner und die Eharatterlofigteit einer diefem Kapital verfchriebenen jetveiligen Regierung gemachten Bedeutung die Vertretung bon Nichtjuden anmaßt, vom Standpunkt feiner jüdifhen Weltanfhauung aus einen politifden Kampf führt innerhalb einer nichtjüdifchen Welt, für eine nichtjüdifche gegen eine nichtjüdifche politifche Meinung. Und wie führt er den Kampf? Vielleicht bevollmadtigt, aber nicht befugt, vielleicht überzeugt, aber nicht maßgebend, vielleicht wirkungsvoll, aber nicht begründetermaßen.

Soweit die Preffe, deren Einfluß das uneinfidtige, urteil3lofe Publifum, zumal die Lefewelt der Proving, völlig unterliegt.

Ich habe 3. B. die „Neue Freie Preffe” immer wieder als tägliche geiftige Nah- rung, oft al3 die einzige, in den Häufern des wohlhabenden nichtjüdiichen Biirger- ftandes gefunden. ‚Erfüllt von den dort breitgetretenen politifchen Tagesmeinungen lebte der fonft leidig felbjtandige Hausvater, angeregt bon den literariichen Offen- barungen des Feuilletons träumte die heranmwachlende Tochter dahin. Dak es jüdifcher Geift ware, der da über und unter dem Strid) wirkſam mar, davon batten die daran Gewohnten feine Ahnung. Und nun bedenke man das Umfichgreifen diefes Geiftes in einer nad) dem Verlaffen der Schule auf die Zeitung als einzige Weiterbildung befchräntten, nun um fo zäher an dem ftet3 Wiedergefäuten feft- baltenden breiten Schicht, einer Schicht, bie den Durchfchnitt des „befferen” Be- figenden bedeutet! Seit fünfzig Jahren find gwei Generationen mehr oder weniger arifch vermurzelten Bürgertums durch die Preffe planmäßig und mit Erfolg geiftig berjudet worden. ((Erft die dritte hat im fchärfer fid) fpaltenden Parteileben des Tages den Anftog menigftens zur Befinnung erhalten.)

8.

Der Jude ift Nachahmer. ES fällt ihm nichts ein, aber er faßt leicht und greift raſch alles auf. Mit Gefdid, aber ohne Tiefe, das if ohne Seele. Er ift Materialift. Daran darf nicht taufden, dak er Rantianer oder etwa

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Myſtiker ift. Das find geiftige Betätigungen, die ihn intereffieren, tie ihn, der niemals Künftler gewefen war, im neunzebnten Jahrhundert die Literatur, bie Malerei, bie Muſik intereffiert und er ihre Technik erlernt hat. Nicht mehr. Weder Heine nod) Liebermann nod) Mahler um die bedeutendften Vertreter zu nennen find über die Technif hinausgelangt. Sie haben die Technif bloß gefteigert und durch die Beherrſchung der Mittel den Eindrud der Bewältigung der Sade vorgetäufht. Nicht immer bewußt. So Mahler nicht, der ein genialer Dirigent, mehr: ein Herrfder getvefen ift und mit feinem ungeheuren Willen und feiner außerordentlichen Feinfühligkeit auch die Kunft erzwingen zu fónnen glaubte. Der moderne jüdische Künftler ift durchaus bemufter Macher. ES mangelt dem Juden die Grundlage des Künftlers, die Chrfurcht. Er hat dafür die intellektuelle Ueberlegenheit, die fid) bis zum Zynismus auslebt. Er glaubt nicht an die Welt Der Ideen, das Objekt, er glaubt blog an den Geift, die Auffaffung der Welt, das Subjeft. (Daher ift der Jude als Philofoph vornehmlich Kantianer, aber er pfychologifiert Kant, deffen Tran3zendentali3mu3 er, fo fcharffinnig er ihn erfaßt, im Tiefften doch nicht begreift, da ihm das Mögliche feinem pofitiviftifch gearteten Intellett gemäß, unerlebbar bleibt.*) Rihard von Schaufal.

Recht und Unrecht im Antifemitismus.

1.

pi le die Reibungen, die fic) aus dem Zufammenleben mit andern Völkern er= geben und die jene eigentümliche foziale Erfcheinung des „Antifemitismug” hervorrufen, fommt man nicht mit der oberflächlichen Formel hinweg: Die Unter- fchiede des Volkstums haben im fozialen Leben feine Bedeutung, nur moralifde Unterfchiede dürfen ‚gelten; wer andre als moralifche Unterfchiede macht, handelt unmoralijd.

Zwei Tatfaden follte man über folchen Behauptungen doch nie vergeffen. Erften3: Der Antifemitismus geht durch die Jahrhunderte feit der Romergzeit, und er ift bet allen Völkern zu finden, wo Juden wohnen, in der neuen mie in der alten Welt, in England, Frankreich, Kalten, Deutfchland, Polen, Rußland und two immer. Zweitens: der Antifemitismus ala Gefühl der Artfremdheit ift aus- geprägt gerade bei bedeutenden und fchöpferifchen Perfonlidfeiten, fo bei einem Luther, Goethe, Fichte, Schopenhauer, Richard Wagner, auch bei Gelehrten mie Treitſchke, Mommſen. Yeh felbft habe ihn ernft nehmen gelernt erft dadurch, daß id ibn fo häufig bei Künftlern fand, auch bei foldjen und gerade bei folchen, die mit Juden verkehren. Diefe Menfchen von feiner Beobadtungsgabe und fenfitivem Gefühlsleben find auffallend oft antifemitifch geftimmt, auch wenn fie es fich als wohlerzogene Menfdjen im Verkehr nicht merken Taffen.

Daraus folgt: Antifemitismus ift nicht eine befondere Bösartigkeit einzelner Menfchen oder Völker, Antifemitismus it auch nicht bloß eine zu irgendivelchen politifchen oder wirtfchaftlihen Zwecken betriebene Hete.

Daraus folgt: Ym Antifemitismus muß irgend eine Wahrheit und irgend ein Recht fteden. Es muß fic) alfo lohnen, ihn aus dem Gebiet trüber Leidenschaften und halb bewußter Inſtinkte herauszuholen, ihn in das Licht ernfthajter und red- lider Prüfung zu ftellen und feine Wahrheit als Wahrheit anzuerkennen. Nicht durch Augenſchließen und lautes Reden, fondern durch flares Erkennen defjen, was

_ *) Es fet hier aber unumwunden zugeftanden, daß das tiefite Mikverftändnis Kants, ' wie e8 Ferdinand Jakob Schmidt in feiner ausgezeichneten Arbeit „Kant-Orthodoxie“ (1903, Preußifche Jahrbücher, Bd. III, 1. Heft) unwiderleglich nachgewieſen bat, dem Neutantianismus zur el fällt, der auf Fr. A. Lange guriidgeht, und daß der Kant frembejte Bofitivismus beſchränktem arifchen Wefen entitammt (mie ja ftets in Welt- und Beitgejchichte der Arier den Arier am vernichtendften befämpft hat).

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ift, und Anerfennen deffen, was ein Recht hat zu fein, überwinden wir die Schwierige teiten des Lebens.

= 2

Den Streit zwifchen Juden und Antifemiten twird man nicht verftehn, wenn man ihn nur al3 einen Streit von Individuen betradtet. (3 Handelt fich nicht darum, daß einzelne Menfchen diefer Art mit einzelnen Menfden andrer Art nicht austommen fónnen. Sondern eS handelt fic) um den Gegenfag von Völ— fern. Ein Volt ift durch das Schielfal unter andre Völker geworfen worden. Daraus entwideln fic) Kämpfe, unter denen die einzelnen nicht als einzelne, fondern al3 Vol tS glieder zu leiden haben. Voltsinftintte, Volt3anlagen, Volfhetten ftoßen aufeinander.

Darum wird die Frage nicht durch Wobhlwollen gegen einzelne Glieder des Bolles oder durch das Ablehnen einzelner gelöft. Sondern die Frage muß fo ge- ftellt und gelöft werden: wie fónnen die vom Schidfal in diefe Lage gebrachten Völker als Völker mit einander leben, ohne fid) zu verwirren oder gar zu zer- jtoren?

Was ift angefichts einer foldjen Aufgabe erreicht mit dent oft wiederholten Sab: Wenn der Menfch nur gut und tüchtig ift, fo ift eg mir gleich, ob er Jude, Deut-

\ jeher oder Chinefe ift? Wer fein lebhaftes Inftinttleben führt, wer nicht empfindlich

iſt für Artunterfchiede, mag mit fold) einem Grundfaß in feinem perfönlichen Leben auskommen; er foll aber nicht glauben, damit die „Judenfrage“ gelöft zu haben er hat fie überhaupt nod) nicht ertannt.

Nimmt man die Judenfrage alg Volfsfrage, fo find damit ohne weiteres drei Vorausfegungen gemacht worden.

Erftens: Vulter find unmöglich ohne Vollsverfhiedenheiten. Wer das Dafein von Völkern als irgendwie notwendig anerkennt, der erfennt auch Volt3- berfchiedenbeiten alg notwendig an. Ein Jude it alfo völfifch anders al3 ein Deutfcher und muß es fein.

Ein einzelner Sube mag fic) oft wenig von einem einzelnen Deutjchen unterfcheiden. Aber nicht darauf fommt e8 an. Wer fid) über die Bedeutung des Volklichen nicht tar ift, mache das Experiment, nad) einander in einen Gaal mit einer jüdifchen und in einen mit einer deutfchen Verfammlung zu gehen. Wer dabei nicht die Verfchiedenheit und den fozial beftimmenden Wert des Volkstums empfindet, ift untauglich zur Erörterung unfrer Frage. ES ift tatfächlich fo, daß, unangefehen alle individuelle Verfchiedenheit oder Gleichartigkeit, die Voller als folche verfchieden find, und daß aud) hier eines fich nicht für alle fchidt.

3weiten3: Jedes Volt will das Volt bleiben, das e8 nun einmal von Natur it, e8 liebt feine Eigenart und will beftehen in feiner Eigenart. Würde e8 das nicht tun, fo würde es nicht fich felbft achten. Ein Leben ohne Selbſtachtung aber ift die Holle. Jedes Volt muß alfo fich felbft wollen und fid) gegen eine Auflöfung feiner Volksart wehren.

Drittens: Jedes Volt8glied ift an fein Volt gebunden. Der Volksgemeinſchaft die Treue zu wahren, ift eine jelbftverjtändliche Pflicht. Diefer fittlihen Ver— pflichtung darf fic) nur entziehen, wer durch eine untiderlegliche Stimme der Natur oder burd) den Ruf Gottes aus jener feiner natürlichen Gemeinfchaft herausge- hoben und in eine andre berfegt wird. Dies Lebte ift nicht möglich ohne ſchwere

innere Kämpfe. (Vgl. Paulus an die Römer, Kap. 9.) Aus eignem Willen aber fans -man-die Volkszugehörigkeit nicht beftimmen, weil fie in Blut und Seele bom Schickſal ohne unfern Willen gegeben und vom. Gewiffen durch die Pflicht der | Treue fittlich befeftigt ift. Durch fein Denken, Wollen und Eifern, durch keine cri wird man feiner Volt3art ledig und einer andern Volksart teil- | Yaftig. Aus den fo gegebenen Vorausfegungen folgt: Sobald ein Volt die Eigenart

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eines andern Volte3 angreift, hemmt oder verändert, fei e8 durch den Verfud, die Führung an fid) zu bringen, fet e8 durch abfichtliches Sich-vermifchen, hat diefes andre Volt ein Recht, die Führung oder Vermifchung zu befampfen. In Bezug auf das Völkifche hat alfo der Antifemitismus recht, wenn er fic) gegen eine Führung der Deutfden durch Yuden oder gegen eine Vermifdung beider Völker wehrt.

3

Man wendet ein: Volfheit und Volt3tum ift etwas Veränderliches, warum alfo fol fic) das Deutfche nicht durch jüdtfchen Einfluß oder jüdifchen Einſchlag ver- ändern?

Antwort: Freilih ändert fich ein Volk wie jedes Lebervefen unaufhörlich, aber nad) einem ihm inne twohnenden einheitlihen Wachstumsgefeg, das fein „Wefen“ ift. Ein Volt ,foll” fih nur folgerichtig verändern, weil es ſich felbft treu bleiben fol. Es foll da 3 werden, was e3 nach feinen natürlichen Anlagen zu werden beftimmt ift, und foll nicht gleichfam nur ala Boden für eine ihm fremde Entwidlung dienen.

Ferner: Eine Veränderung fann zur Zerftörung des Volkes führen, wenn das in fein völtifches Leben eindringende fremde Volt ihm jehr -frembartig if. Aud unter Völkern gibt es Verwandtichaft und Fremdheit. Manche Volfermifdung ergibt ein eigentümliches, in fic) gefchloffenes neues Volt, eine andere wiederum ergibt nur gemifchte Maffe, aber nicht ein Volt”. Die eine formt neues Leben, die andre loft auf. Ob Volksgarten auf einander abgeftimmt und verwandt find oder nicht, das zu beftimmen liegt nicht in unferer Willfür, es ift Schidfal. Auch fann es niemand für jeden Fall „wiffenichaftlich” vorauswiffen. Verwandtſchaft oder Fremdheit der Art wird nur „empfunden“, wird nur durch den Inftintt er- fühlt, der die eine Art „mag“, die andre aber „nicht mag”, ohne dod) Rechenfchaft darüber geben zu fonnen. Das Erlöjchen diejes Inſtinktes ift „Entartung”.

4.

Die jüdifchen Auseinanderfegungen mit dem Antifemitismus überzeugen nicht, weil fie durchweg nur von verjchiedenen Individuen handeln, aber niemal3 bon verfdiedenen Volfern*. So begreifen fie das Recht des Gegners nicht und behandeln ihn al3 moralifch minderwertig. Das ift bequem, aber unfrudjtbar.

Die völkifche Lage der Deutfchen ift in großen Zügen diefe:

Erſtens: Ws die Deutfchen fic) zu einem gefchichtlihen Volte herausbildeten, lam über fie die große Woge der römifch-helleniftifchen und hriftlichen Kultur. Das Deutfche kämpfte fic) hindurd. Troß der lateinifchen Sprache und Kultur fam die Volksſprache „Hoch“, entjtand eigentwüchfiges politisches, wirtſchaftliches, fiinftleri- ſches und religiöfes Volt3leben. Aber mit dem romifden Necht und dem Huma— nismus famen neue Ueberflutungen der deutfchen Art. Das Recht wurde unvolfs- tümlih (mit genialer Intuition hat Goethe in feinem Gig diefe Verhältniffe bars gejtellt), Didtung und Kunft wurden aus einer Angelegenheit des Volkes zu einer Angelegenheit gebildeter Gndividuen. Wiederum fam eine neue Woge fremder Kultur: mit dem fiebzehnten Jahrhundert brad) das Franzofentum mächtig herein. Seffing mar der legte und fiegreiche Kämpfer gegen diefen Einfluß. Abermal3 tam dann, in ganz neuer Weife, mit Winkelmann die Antike über uns. Sprache, Kunft, Religion, Politik, Wirtfhaft, Recht, alles trägt die Spuren diefer Kämpfe. Sm Wejentlichen hat das Deutfche Fd) behauptet, aber es ift unendlich reich, abgeftuft und -- unbejtimmt geivorden. Nun kommt feit der Judenemanzipation wieder eine

*) Als ein finnfalliges Beifpiel dafür möchte id einen Sak aus Erich Mühfams Ausführungen „Zur Judenfrage” in der -Weltbühne (1920, Nr. 49) anführen: „Wir haben fo viel und fo wenig mit einander zu ſchaffen, wie „wir Deutſche“, „wir

ranzofen”, „wir Fabrgájte im felben Omnibus“!

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Welle fremden Geiftes über uns, nicht nur mittelbar durch Kunſtwerke, politifche Ideale und dergleichen, fondern durch die jüdifchen Menſchen felbjt. Sie reden unfre Sprache, gebrauchen unfre Begriffe, gehen auf all unjer Leben ein, denn fte wohnen in einem Lande und einem Staate mit uns. Aber Blut und Seele find jüdifch und alfo werden Sprache, Begriffe, Kunftmittel zu einem Ausdrud ihres Rolfstums. Die jüdifche Seele erjcheint im deutjchen Leibe. Was das bedeutet, weiß der Siinjtler; der Bildungsphilifter freilich, der obenhin lebt, ahnt e3 nicht. Die Ehtheit und Urfprünglichfeit des deutjchen Volkstums gerät in Gefahr. Ach febe hier nebeneinander links einen Vers von Heine, recht3 einen von Eichendorff: Die Luft ift fo kühl, und es dunkel, Rings waren [don verduntfelt

Und ruhig fließet der Rhein, Die Täler und der Rhein; Der Gipfel des Berges funtelt* In ihrem Brautſchmuck funtelt Im Abendjonnenfcein. Nur noch der Abendfchein**

Man lefe beides laut, oft, hingegeben. „Schön“ ift beides, „tief“ und „urfprünglich“ aber ift mur Eichendorff. (E8 liegt mir fern, damit Heines Lyrik als „wertlos“ binzuftellen, fie hat ihre großen Werte, aber fie ift nicht „Nationalliteratur”.)

Nun haben die Yuden eine eigentüimliche zugleich gefhäftliche und geiftige Be— gabung. Sie gelangen mit ihrer durd) Yahrtaufende langes Grofftadtleben erwor⸗ benen Schmiegfamkeit und Betriebfamteit an die Stellen, von wo aus gefchäftlich wie geijtig ein befonders ftarfer Einfluß auf die deutfche Kultur ausgeht: Theater, Kino, Kunfthandel, Kritik, Zeitungs» und Buchwefen. Unmillfürlicd met fie find, wie fie find hauden fie allem ihre Seele ein. Sie unterdrüden, ironifieren, entiverten das, wofür fie keine feelifche Faffungstraft haben, fie bevorzugen, loben, fördern, mas ihrer Art gemäß ijt. Das nennt man die ,Verjudung” der deutfchen Kultur. Und das ijt ein Urfprung des Antifemitismus: hieraus entfteht der deutfch- jüdifhe Rulturtampf.

Zweitens: Das jüdifche Volt lebt gerftreut ¿roifejen andern Völkern. Diele von ihnen wollen nicht mehr Juden fein, einige von ihnen find es nicht mehr. Aber dadurch wird die Tatfache nicht aufgehoben, dak es ein jüdifches Volt (nicht eta nur ein jüdifches Bekenntnis) gibt. Aud) die meiften, welche nicht Juden fein möchten, können dod nicht umbin, es trog allem zu fein. Nicht nur werden fie dure) das Fremdheitsgefühl der andern Völfer immer wieder auf fd felbft zurüd- getrieben, ihr natürliches und unmillfürliches Empfinden können fie nicht völlig durch Reflerion verdrängen.

Für die Juden als Volk nun gibt es ¿mei politifche Möglichkeiten: entweder den Zionismus oder den Ynternationalismus. Der Zionismus bejaht ein in fid geichloffenes jüdifches Volt; eS liegt ihm fern, fein politifches Ziel andern Völkern alg ihr Biel vorfchreiben zu tollen; Zioniften und andre Völker können alfo freundnachbarlich mit einander ausfommen, wenn man fic nicht gegenfeitig ver- ächtlich macht.

Anders verhält es ſich mit dem jüdiſchen Internationalismus, wie ihn Eduard Bernſtein folgerichtig entwickelt hat. Er ſagt: das geſchichtliche Schickſal hat die Juden in die verſchiedenſten Staatsverbände hineingeführt. Daraus erwächſt ihnen die Aufgabe, in dieſen Staaten auf eine friedliche Geſamtorganiſation der Welt hin— zuwirken. Denn für die Juden iſt jeder Völkerkrieg Bruderkrieg im eigentlichen Sinn. Der Jude iſt alſo der geborene Pazifiſt, das Schickſal hat ihm den Pazifismus als feine Weltfendung gugetviefen. Nun können aber Umftände eintreten, daß ein Bolt den Pazifismus und Ynternationalismus für fic) ablehnt, weil er ihm infolge

*) Man beachte aud die Unficerbeit dez Wortgefühls. Ein Brautfhmud ,funtelt” im Abendfchein, aber nicht ein Berggipfel. Heine verwendet das Wort originell, aber nicht original, nicht aus urfpriinglidem nordiſchen Lichterleben.

**) Aus der „verlorenen Braut”, einer Romanze bon Eichendorff.

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gewiffer Ereigniffe eine ewige Knechtfchaft und Lebenshemmung bringen würde. In diefer Lage find wir Deutfde. Wir wollen ein friedliches Volterleben, aber als freies Volk, das fich felbft beftimmt. Dem jüdifchen Ynternationalismus jedoch liegt weniger am Schidfal des deutſchen Volfes als vielmehr an der friedlichen Orga- nifation aller Völker. Er ift bereit, die Unfreiheit der Deutfden mehr oder weniger „vorläufig“ mit in Kauf zu nehmen. Er madt eben feine Politit und fett fie rüdfichtlos als die moralifd) Höhere. Für uns aber al3 Unterworfene tft das oberfte fittliche Ziel des politifchen Lebens die Freiheit. Das ift der zweite Urfprung des Antifemitismus: hieraus entfteht der Kampf zwifchen den „VBöl- kiſchen“ und den „Menfhheitlidhen“.

Sowohl im Sulturtampf wie im politifhen Kampf wehrt fich das deutfche Volk dagegen, aus feinen eigenen Bahnen in die Bahnen eines andern Volkes hin- eingedrängt zu werden. Diefes Sich-wehren ift ein gutes Recht des deutfchen Volkes, niemand darf einen folchen Antifemitismus fittlich verächtlich machen.

5. -

Jüdiſche Art und deutfche Art find nicht Begriffe, fondern Lebendig- feiten. Man fann diefe Lebendigkeit niemals rational mit fejten Begriffen um— gitteln. Eine Volf8art wird gwar mit Begriffen mehr oder weniger deutlich 5 e= fhrieben, aber fie wird nicht begriffsmäßig vol ertannt. Erkannt wird fie inftinttio. Wer die Fremdheit oder Gleichartigfeit nicht erfühlt, wird fie mit Begriffen nie erjagen.

Darum ift der Dogmatifde Antifemitismus eine Verirrung. Er fest an die Stelle des fichern lebendigen Gefühls bloße Begriffe und wendet diefe Begriffe Ihematifch auf die Menfchen an, ohne Empfindung dafür, ob fie „paffen“.

Die Fndividuen eines Voltes find niemals gleih. Es gibt Deutfche, die aufs Slawentum, andre, die aufs Angelfadfentum, andre, die aufs Frangofentum ab- geftimmt find. Dabei find fie doch alle deutſche Menfchen. Auch das jüdiiche Bolt ift nicht in fic) einheitlich, e8 bat mancherlei Blut und manderlei feelifche Einflüffe aufgenommen. Darum it ein Unterfdied zwiſchen den uralt eingefeffenen Juden im Südweſten, zwifchen den über die Niederlande und den über Polen und Galizien zu uns gefommenen Yuden. Go fremdartig ung das jüdische Volt3tum als folches anmutet, eS gibt doch jüdifche Inbividuen, die auf das Deutſche ,,ge- ftimmt” find (was freilich nicht in ihrem Wollen, fondern in ihrem Gein be- gründet ift). Es gibt affimilierbare und nicht afjimilierbare Yuden. Wo dal eine oder das andre der Fall ift, das jagt mir fein Begriff, fondern nur der wahre und gefunde Inſtinkt. Wie ein Gfendes Tier gewiffe Kräuter nicht anrührt, fo rühre ich gewiffe Juden nicht an. Nicht etiva aus moralifhen Gründen fie fónnen die ehreniwerteften, bedeutenditen Menfchen fein. Yeh fann auch fehr wohl mit ihnen verkehren, aber immer mit dem Gefühl, mich fremder Art gegenüber zu befinden, mit der eine Gemeinfhhaft in wahrem Sinne unmöglich ift. Anders verhalte id) mich denen gegenüber, die ich inftinftiv al8 ihrem Wefen nad auf mein Volt3tum gejtimmt erfühle.

Ein Antifemitismus, der auf gefunden Syn ftin f t gegründet ift, wird niemals Niedrigkeiten gegen jüdifche Menfchen begehn. Ein fühllofer Begriffsantifemitismus aber ift leicht rohen Feblgriffen ausgefegt. Haben wir es nicht erlebt, dak ein Trebitfch-Lincoln von Antifemiten aufgenommen wurde, nur weil er dem Dogma gemäß auf die Yuden mitjchimpfte, während harmlofe und redliche Juden verbittert wurden?

Noch auf eine zweite Gefahr im Antifemitismus möchte ich hinweisen. Wie alle Lebetvefen fo find aud) die Völker nicht „reinlich” vow einander zu fcheiden. Man kann nie haarfcharf fagen: dies gehört zu dem einen, das aber zum andern Wefen. Es gibt Individuen „zwifchen den Völkern”. Durd) Geburt oder durch

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un

Sdidjal gehören fie zwei Völkern an, aber feinem ganz. Sie haben oft ſchwere innere Kämpfe. Sie haben auch durch ihre befondere Lage befondere Aufgaben. Man muß fie als die, die fie find, nehmen und mit Achtung behandeln. Aud hier weiſt allein das gefunde, unbeftechliche Gefühl den rechten Weg. Theorien aber und Dogmen verführen leicht zur Graufamfeit.

6.

Was folgt aus diefen Erwägungen für unfer prattifdes Verhalten?

Erftens: Die Löfung der Judenfrage durd) ,Affimilation”, alfo Teglich durd) Vermifdhung der Völker lehnen wir ab. Es gibt wohl einzelne Yuden, die im deutfchen Volte aufgehen können. C8 gibt allen Theorien zum Tro’ fogar einzelne, die fchlechthin deutfch find. (Eine Erklärung mag man aus den born von Walther Claffen mitgeteilten Tatfachen verfuchen, wenn man durchaus „er flären” twill.) Aber e3 geht nicht an, daß ein im Ganzen unfrer Art fo fremdes Volt wie das jüdifche, das von Often her einen ſchier unerfdopfliden Zuftrom hat, in das deutfche Blut und die deutfche Seele einfließt. Wir Deutfchen leiden (don an allzu großer Miſchung, an allzu mannigfaltigen Begabungen. Wie viel unein- beitliche, unglüdliche, zerriffene Menfchen miiffen aus einer Vermifchung des jüdi- {hen Volles mit dem deutfchen entjtehen! Dabei ift zu beachten, daß die Mifchung nicht in den tragenden Schichten des Volkes, bei den Bauern und Arbeitern ftattfindet, fondern in den führenden Schichten der Gebildeten. Dadurch würde fih die Ungebeuerlichteit ergeben, daß ein in feiner Art noch ungebrochenes Volt durd) Menfchen, die in ihrer Art gebrochen find, ſowohl in Kultur wie in Politik und Wirtfehaft geführt würde. Die Inſtinkte der Führung würden nicht mehr mit denen der Geführten übereinftimmen, und e8 müßte notwendig zu auflöfenden Rei- bungen fommen.

Zweitens: Ebenfowenig wie durch Affimilation ift die Judenfrage durch Auf- ftadelung des Hafjes zu löfen. Man mag damit vielleicht politifche Augenblid3- erfolge erringen, aber für die Volksgefchichte im Großen ift auf diefe Weife nichts zu gewinnen. Sid in Flugblättern die Nerven entlaften, Bettelden antleben, Hafen- freuze anmalen was wird damit gebeffert? Du follft nicht nur den Namen deines Gottes, fondern auch den Namen deines Volkes nicht mißbrauchen. Und ebenfotvenig deine Symbole. Ein Safentreuz, das an alle Wände gefchmiert ift, bat jegliche Würde verloren. Nun ift freilich nicht abzumeifen, daß manche rohen Flugblätter von folden verfaßt find, die bequeme Gelegenheiten zur Betámpfung des Antifemitismus fuden, und dak das Hafenfreug an manchen Stellen von jüdt- ſchen Händen gezeichnet wird, um es lächerlich zu machen. Aber eben darum follen Leute, denen e3 mit dem deutfchen Volt3tum ernft ift, fic) exft recht in der Gewalt behalten. Die Aufgabe ift ja nicht, den andern zu ärgern, fondern mit den andern fo auszufommen, daß unfer Volt3tum nicht Schaden letdet.

Eine befondere Gefahr in dem Kampf zwifchen Juden und Antifemiten find die, welche Geld durch diefen Kampf verdienen. Ein bedeutender jüdifcher Gelehrter ſchrieb mir: „Was die vielen Schreiber anlangt, fo vergeffen Sie, wie ich glaube, deren Hauptmotiv, das Geldverdienen faure, häßliche Arbeit um Brot.” Es gibt ein folche8 Geldverdienen mit „aktuellen“ Auffägen und Schriften bei Juden und Deutfchen. Da gilt e8, auf Sauberkeit zu achten.

Drittens: Die Vorbedingung zur Lofung der Judenfrage ift die Wedung eines gefunden Inſtinktes für eigenes und fremdes Volfstum. Menfchen, die ihres Volt3- tums inftinftiv ficher find, werden fid) nicht durch fremdes Volkstum blenden laffen. Nur echte feidialbafte Liebe, niemals aber blofes Wohlgefallen oder gar bloße Sinnlichkeit wird fie zum andern Volte treiben können. Auch vermögen fie Achtung und Liebe wohl zu fondern. Weil fie eine Have innere Abgrenzung gegen andre haben, werden fie auch äußerlich flare Formen finden. Sie laffen fich nicht beroun-

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dernd bon Fremden bei Seite drängen, aber fie werden fremden Leiftungen die An- erfennung nicht verfagen. Sie werden unmittelbar wiffen, wo fie den andern zu— laffen, wo nicht. Sie werden feinerlei Beihimpfung ihres Voll3tum8 dulden, und fie werden auch dem andern feines Volkstums wegen feinen Schimpf antun.

So ware die Möglichkeit denkbar, daß zivei Völker in fich gefeftigt und far abgegrenzt, dabei offen und ohne Engherzigkeit, als einander Fremde, aber doch als bom Schidfal zum Zufammenleben Gezivungene mit einander austommen, ohne dak ihr Volkstum überfrendet und ihre Geſchichte verfalfdt wird. St.

Bächerbriefe Das Auslanddeutfchtum in Europa.

Dt Siteraturbrief hat nicht den Zived, eine Ueberfidjt über die gefamte Literatur des Ausland-Deutfhtums in Europa zu geben. Er will der Praxis dienen; er will dem, dem das fo außerordentlich wichtige Gebiet bisher fremd geblieben ift, antworten auf die Frage: wie made ich e8, um auf dem fürzeften Wege, ohne Zeitverluft, mir den Zugang dazu zu erobern? :

Nicht bloß in der Tagespreffe, auch in der einfchlägigen Literatur herrſcht große Verworrenheit über die Grundfrage: wer ift Ausland-Deutfher? Und das Schwanten von Begriff und Sprachgebrauch ift felbftverftändlich für die Sabe nicht forderlid. Eine Klärung ift im Werden*), und zwar in diefer Weife: 1. Es gibt, bom deutfchen Staat aus gefehen, nur zwei Arten von Deutfchen: folche, die dem Deutfchen Reid) als Staatsbürger angehören, und folche, die ihm nicht angehören, alfo Reichs- deutfche und Nicht-NReichsdeutiche, Ynlanddeutfde und Wuslanddeutfde. Darnad) find al3 Auslanddeutfche alle Deutfchen zu bezeichnen, die feine Reichsdeutſchen find. Insbeſondere ift zu beachten (und das gibt am leichteften zu Verwechslungen und Srrtümern Anlaß), daß nad) diefer Begriffsbeftimmung die Reich 3 deutichen, die fic) lángere oder fürzere Zeit im Ausland aufhalten, troß des geographifchen Auf- enthalt3 feine „Auslanddeutfchen” find; denn fie gehören zum Reid, fie find ihrer politifchen Stellung nah Ynlanddeutfhe, am fürzeften: Ausland-K ei ch 8 = deutfche.

Mit dem Frieden von Verfailles ift nun eine weitere Komplikation eingetreten. Viele Deutjche, die bisher Reichsdeutſche waren, find infolge der Abtretung deutfchen Bodens Bürger eines fremden Staates geivorden. Dem Begriff nach gehören fie alfo jebt unter die große Zahl der Auslanddeutfchen. Tatfächlich nehmen fie aber infolge ihrer bisherigen politifchen Zugehörigfeit zum Deutfchen Reid und ihrer geographifchen Lage unmittelbar an unfern Grenzen unter den Auslanddeutichen eine ganz befondere Stellung ein, fo bak man git tut, fie unter einem eigenen Namen eben alg Grenzlanddeutfche zufanmenzufaffen. Wir haben alfo eine Gliederung des deutfchen Gefamtvolfes in drei Gruppen: Reid sdeutihe, Grenzland- deutfche, Au sland deutiche.

Nur von den legteren foll hier die Rede fein. Dabei kann weiter zweifelhaft fein, ob die Deutfchöfterreicher zu den Ausland- oder zu den Grenzlanddeutfchen zu rechnen find. Geht man von der Vorfriegszeit aus, da erjcheinen fie al3 Ausland- deutfche. Geht man von dem Tage aus, da der Anſchluß an das Deutjche Reich bejchlofjen wurde, fo erjcheinen fie als Inlanddeutſche, die nur gewaltfam vom übrigen Staatskörper abgeriffen find, alfo als Grenzlanddeutfche. Entfprechend waren dann aud) die ibrerfeits wieder von Oejterreid Iosgeriffenen Deutjchen, alfo die Volfs-

72 Vergl. meinen Aufſatz: „Wer ift Auslanddeutſcher?“ in Nr. 43 der Hilfe b 23. Oftober 1919. fiat Í tſcher?“ in r Hilfe bom

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genoffen in der Tſchechoſlowakei, in Jugoflawien, in Südtirol, als Grenzlanddeutfche zu betrachten. Wie man fic) aber auch abfindet, immer werden die Deutfden des ehemaligen Oeſterreich fet e8 unter den Grenglanddeutfden, fei e8 unter den Aus- landdeutſchen eine fo bedeutfame Stellung einnehmen, daß ihnen eine befonbere Betrabtung zu widmen ift. 4

Mit unferen Begriffsbeftimmungen haben wir nun (nad dem Gag: divide et impera!) das praftifche Ergebnis gewonnen, bab mir die unüberfichtliche Maffe des deutfhen Volkes in verfchiedene Gruppen gegliedert haben und uns nun. jeder einzelnen bon ihnen zuwenden fónnen. Wir alfo haben e8 nun lediglich mit ben Auslanddeutfhen zu tun und fchließen die Deutfchen des ehemaligen Defter- reich als Grenzlanddeutfche von der folgenden Betrachtung aus.

Wie alſo mahen wir uns am einfachften mit dem Leben der Auslanddeutichen, ihrer Vergangenheit und den Nöten ihrer Gegenwart vertraut?

Am beiten wiederum nach dem Gag: divide et impera! Ein einheitliches „Aus— landdeutfchtum” gibt es ja gar nicht. Nur das Wort verführt zu diefer unbejtimmten Borjtellung, in Wirklichkeit gibt es nur eine größere Anzahl deutfcher Bevöllerungs- fplitter im Ausland, die unter fid) oft recht verfchieden find und die meift feinen Bufammenhang miteinander haben.

Bei diefer Sachlage wendet man fich am beften, ohne ſich mit Allgemeinheiten aufzuhalten, einer beftimmten Einzelgruppe zu, wie das gerade die jeweiligen Inter— effen und Zufäligfeiten mit fd bringen. Diefe eine Gruppe mag einem zunächſt al3 Paradigma für das ganze fogenannte „Auslanddeutfchtum” bienen. An ihr fann man gewiffe Grundfage ftudieren, die fich bei den andern wiederholen. Von ihr aus mag man dann allmählich weiterfchreiten, wie e3 Zeit und Luft erlauben.

Am gründlichiten und lebendigften lernt man natürlich eine deutfche Auslands- gruppe kennen, tenn man fie felbft befucht. Iſt das augenblidlich auch fehr erſchwert und größtenteils jebt einfach nicht möglich, fo wird e8 doch fünftig wieder möglich fein. Und namentlich die Jungen unter uns mögen folde Befuchsfahrt zu den Volks. genoffen als Einzelreifende oder alg Wandervögel in Gruppen für künftige Sabre ins Auge faffen. Wer aber auf Reifen geht, foll, wenn auch Selbftfdau allem Bücherwiſſen überlegen ift, doch nicht verfaumen, fich mit der einfchlägigen Literatur bertraut zu machen. Die Arbeit und das Nachdenken der anderen, die vor ihm ba waren, tann er fid nur auf diefe Meife zu Nuke machen. Wer fich nur mit dem begnügt, was er zufällig fiebt, dem würde doch vieles entgehen.

Ju der Heimat aber ift es für jeden wertvoll, dak er in einen Kreis Gleich- empfindender und Gleichitrebender eintritt und nicht mit feinem Bud für fic) allein bleibt. Diefen Kreis braucht er fic) nicht mehr zu fuchen und zu fchaffen: er ift langft vorhanden im BereinfürdasDeutfhtumim Ausland (Hauptgefchäfts- ftelle Berlin O. 62, Kurfürftenftraße 105, mit vielen Ortsgruppen. Mindeftbeitrag 3 Mart). Wie die Ausbreitung des Chriftentums bon den verfchiedenen Miffions- gefellichaften getragen wird, fo hat die Sorge für die Erhaltung des deutichen Volts. tums im Ausland ihren Rüdhalt an diefem Volt8verein. Gemeinfchaft ſtärkt und belebt, Gemeinſchaft lodt zur Betätigung je nachdem: durd) Mitarbeit oder durch Opfergaben. Und Ertvedung freudigen Opferfinns ift die Hauptfade. Ohne Opfer- finn aber tft ein großer Teil des Auslanddeutichtums auf die Dauer verloren. Alles Biderftudium auf diefem Gebiet fann ja nie Selbitziwed fein, fondern immer nur Dienft am Volkstum, es muß fich irgendiwie in Leben umjegen.

Die einfchlägige Literatur nun befindet fic) in feinem fehr giinftigen Zuftand. Krieg und Nachkriegszeit haben auch bei den Auslanddeutfchen viel verändert; faft alle Literatur fann daher nur handeln von der Zeit, die einmal war. Mie es aber in der Gegentwart ift, wiffen wir nur unvollfommen. Aber darum ift diefe Literatur dod) nicht wertlos: die Vergangenheit bleibt immer die Vorausfegung der Zukunft. Nicht felten begegnet: man auch Schriften, die auf den Ton geftimmt find: wie herrlich

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weit haben wir Deutichen es doch gebracht, wie fehr find wir in allem den andern Völkern überlegen! Golde Schriften, in denen wenig Stoff und wenig Geift mit ftarfemt völkifchem Pathos zufammengerührt find, Hinterlaffen einen üblen Nach» geihmad. Hoffentlich bleiben fie nun aus.

Wer irgendwelche perjönlichen oder wifjenfchaftlichen Intereffen für ein beftimm- te3 Diafporagebiet hat, laffe fid) ruhig davon leiten. An fich ift e8, wie gejagt, gleich- gültig, an welchem Puntt der Erde man feine Wanderung beginnt.

Sonft könnte man etwa dort beginnen, wo die befte Literatur das Studium am leichteften und ergiebigiten macht. Das ift unzweifelhaft der Fall bei den Sieben- biirger Sachfen und bei den deutfchen Balten. Beide Volksſtämme haben kraft ihrer tulturellen Höhe genügend eigene geiftige Arbeiter hervorgebracht, die ihre Gejchichte erforjden und darftellen konnten. Die Gefhichte wurde ihnen beiden zudem zu der widtigiten Waffe im Kampf um die Selbjtbehauptung; fie lieferte ihnen das nötige Bemwußtfein, um fich felbft, ohne das fich keine deutfche Minderheit dauernd in fremd- bölfifcher Umgebung behaupten kann, und damit den geiftigen Grund, auf dem fie ftehen.

Das Zentrum für alle Erforfchung der eigenen Vergangenheit war und ift bei ben Siebenbürger Sachſen der Verein für fiebenbürgifche Landeskunde. Auf Grund einer Unfumme bon Cingelforfdungen aller Beteiligten haben dann die beiden Biſchöfe und Hiftorifer ihres Volles GeorgDanielTeutfch (+ 1893) und fein Sohn und (ziveiter) Nachfolger Friedrid Teutſch (fett 1906 im Amt) in einem dreibändigen Werke die „Geſchichte der Siebenbürger Sachſen“ (Verlag von Y. Krafft, Hermannftadt. Band I in 3. Auflage 1899, Band 11 und III: 1907 und 1910) ihrem Golf dargeftellt, und zwar bis zu dem fritifchen Jahre 1867, das den Dualismus in Oefterreich-Ungarn einführte und damit Siebenbürgen an Ungarn und die Vorherrfchaft der Magharen auslieferte. Für auswärtige Lefer, insbefondere für ung Reichsdeutfche, hat dann Friedrich Teutfch neuerdings die Haupttat- fachen in einem einzigen Band zufammengefaßt, unter dem Titel „Die Sieben- bürger Gadfenin Vergangenheit und Gegenwart” (Verlag von K. F. Koehler, Leipzig 1916, als erften und bisher einzigen Band der „Schriften zur Erforfhung des Deutſchtums im Ausland”, welche die Gefellichaft zur Erforfchung des Deutfchtums im Ausland herausgibt). Darin hat er auch die Gefchichtserzählung bis auf die jüngfte Beit fortgeführt: er jhildert die heftigen nationalen Kämpfe, welche die Sachfen infolge der magyarifchen Bedrüdungspolitif durchzufechten hatten, verfolgt die allmähliche Herftellung eines freundlideren Verhaltniffes zwiſchen beiden Nationen, und ſchließt mit der freudigen Feititellung: dak nun, mit dem Ausbruch des Krieges, ein dauernder Friede gefdloffen fet und die Sachfen fich jest endlich rüdhaltlos in das Königreich Ungarn eingegliedert hätten. Zwei Fabre darauf hatte das Schidfal anders entichieden, fie waren rumänifche Staatsbürger geworden. Eine gute Einführung in die Yndividualitat Ddiefes Stammes gibt aud Müller- Sangenthal in feinem Sud „Die Siebenbürger Sadfen und ihr Band’. Berlin 1912. Heimat- und Meltverlag.

Neben der Gefchichte erfreut fd die einheimifche Literatur in hochdeutfcher Sprade wie im Dialett befonderer Pflege. Einen guten Weberblid über bie lyriſche Dichtung gewährt die Auswahl von Rihard Efaki, Jenfeits der Walder. Eine Sammlung aus adt Jahrhunderten deuticher Dichtung in Sieben- bürgen (Hermannftadt bei W. Krafft, 1916. Mit einer Literaturgefchichtlihen Ein- leitung). Die genannten Schriften enthalten weitere Literaturangaben, fo daß der Liebhaber tiefer in den Stoff eindringen Tann.

Die übrigen deutfchen Gruppen, welche früher mit den Siebenbürger Sachfen gemeinfam dem Königreich Ungarn angehörten, und die wegen diefer alten Schidfals- und Kulturgemeinfchaft, trogdem fie inzwiſchen alle an andere Staaten überiviefer find, bier angereiht werden, können ein ähnlich tüchtiges Schrifttum nicht aufweiſen. 54

Die Zipfer Sadjen haben mit ihrer größtenteild dem Magyarentum erliegenden «Intelligenz fein Wert hervorgebracht, das fich den Forſchungen ihrer Siebenbürger Volt3genoffen würdig zur Seite ftellen ließe. Einftweilen dienen alg Aushilfe das ältere Bud) von S. Weber, Zipfer Geſchichts- und BZeitbilder (Leutfchau 1880) und die jüngere Flugichrift von Arthur Weber, Die Zipfer Deutjhen (Berlin 1919, Nr. 5 der „Schriften zum Selbjtbeftim- mungsrecht der Deutjchen außerhalb des Reiches“, die Dr. Paul Traeger im Auftrage des Vereins für das Deutjchtum im Ausland herausgegeben hat).

Bei den Deutichen im ehemaligen Südungarn, den „Schwaben“ des Banats, der Batſchka und der ſchwäbiſchen Türkei, die jet überiviegend dem jugoflawifden Staat anheimgefallen find, war alle Kraft in die landwirtfchaftliche Tätigkeit geftedt; geiftige Arbeit und Pflege des Volfstums war darüber zu kurz gelommen. Erft feit der Jabrgundertivende trot eine kräftige Gegentvirtung ein. Einer der widtigften Förderer diefer Bewegung war der (in Wien lebende) Schriftitellee Adam Müller-Guttenbrunn. Als Erfag für eine Geſchichte der Schwaben, die ed noch nicht gibt, mögen einftweilen einige Schriften von ihm dienen: „Deutfche Sulturbilder aus Ungarn” (2. Auflage, München und Leipzig 1904, Verlag von Georg Müller), in denen er die Zuftände in feiner Banater Heimat fcbildert, und feine Romane, in denen er fein ſchwäbiſches Volt3tum darftellt; der befte dürfte der ztveite fein, der unter dem Titel „Die Gloden der Heimat” (bei Staadmann in Leipzig) erfdienen it. Dod) darf man natürlich nicht vergeffen, dak der Romandidter fein Hiftorifer ift, bab er nicht die Wirklichkeit einfach abphotographiert, fondern dak er das Recht hat, ein idealifiertes Bild zu zeichnen, wie es feinen Zwecken als Volkserzieher entipricht.

Die Deutjchen im ehemaligen Weftungarn, die fogenannten Heingen, die nach dem Friedensvertrag von St. Germain mit Deutjchöfterreich vereinigt werden follen, hatten gleichfalls fein nennengimertes völfifches Eigenleben und daher auch feine eigene Literatur hervorgebracht. Ein guter Ueberblid über die dortigen Verhältniffe ift aus Anlaß des Friedens erfdienen: Benno Ymendorffer, Deutfh-Weft- ungarn (Nr. 10 der „Schriften zum Selbjtbeftimmungsrecht der Deutfchen außer- halb des Reiches”, Berlin 1919).

Bliden wir zurüd zu den Deutfchen, die mit den Siebenbürger Sachfen jest im Königreich Großrumänien vereinigt find, fo bleibt nur noch wenig zu fagen. Für die Schwaben im öftlichen Teil des VBanat8, die rumänifch geworden find, gilt dasfelbe mote für ihre jugoflawifch gewordene Mehrzahl. Für die Deutfden in der Dobrudfcha fteht eine Veroffentlibung erft bevor. Die Deutfden in der Bukowina hat der ehemalige Hiftorifer der deutfchen Univerfität in Gzernowig Raimund Friedrih Kaindl zufammen mit den Deutſchen des Nachbarlandes behandelt: Die Deutfhen in Galizien und der Bulowina, Frankfurt a. Me, Verlag von Heinrich Keller, 1916.

Die Gefchichte aller bisher erwähnten Gruppen hat derfelbe Hiftorifer in feinem großen Nachfchlagewerf behandelt: Gefhihte der Deutfhen in den KRarpathenländern. 3 Bande. Gotha 1907—1911, bei Y. A. Perthes. ES umfaßt die Gefchichte jamtlicher „Karpathendeutfchen” (nad) der bon Raindl ge- fchaffenen Bezeichnung), das ift: der Deutfchen in Ungarn, Siebenbürgen, Rumänien, Galizien und der Bukowina.

Damit fommen tvir zu den Deutfchen im ehemaligen Galizien, deffen weftlider Zeil ficher, deffen öftlicher Teil vielleicht zu Polen gehören wird. Die Schrift von Raindl ift fon erwähnt. Mitten aus feiner praktifchen Arbeit heraus hat der Führer der Deutfchen Galizieng, der Pfarrer Dr. Theodor Zödler in Stanislau, eine lebensvolle, farbenreiche Schilderung des Lebens diefer deutfchen Minderheit ge- geben; unter dem Titel Das Deutfhtumin Galizien (Vereinigung Heimat

‘und Welt, Weimar 1915). Eine Gefdichte ihrer jegigen Sdidfalsgenoffen im felben

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Staat, der Deutfchen im ehemaligen Ruſſiſch-Polen, gibt es nod) nicht; als Erfag muß dienen die Brofhüre von AdolfEichler, Die Deutfhenin Qon, gregpolen. (Nr.2 der „Schriften zum GSelbftbeftimmungsreht der Deutfchen außerhalb des Reiches”, Berlin 1919). Die Polen überwiefenen ehemals reichs- deutfchen Teile von Pofen, Weftpreußen (und vielleicht Schlejien) follen als „Srenzlanddeutfche” hier nicht behandelt werden.

Unter den Deutfchen im übrigen Ofteuropa verfügen die Balten in den heutigen Republiten Lettland und Ejthland über eine ausgezeichnete Literatur. Das wiffen- Ichaftlih grundlegende Werk ift die Livländifhe Geſchichte von E. Sera- phim. (2. Auflage, Reval 1897—1904). Außerdem find, meift durch das den Balten jugewandte Gntereffe der Kriegszeit veranlaft, mehrere volfstiimlide Darjtellungen erjchienen; ich nenne davon beifpiel8meife die Arbeit von Valerian Tornius, Die Baltifmen Provinzen, die in der Teubner'fdhen Sammlung „Aus Natur und Geifteswelt” (Band 542, 2. Auflage) bequem und verhältnismäßig billig zugänglich ift; und, ihrer großen politifden Gefidtspuntte wegen, die Darjtellung von PaulRohrbadh, DerKampfumlivland. Deutſchruſſiſches Ringen durd) fieben Fahrhunderte. F. Brudmann, Münden 1917. Wer ettva an eine Wus- wanderung und Anfiedlung in Lettland denkt, findet in dem Buch von Bruno Marquart, Die landpwirtfhaftliden Berhältniffe Kur- Land8,2 Bände, Berlin 1916 und 1917, Verlagsbudhandlung Paul Parey (Bd. 1: Klima, Grund und Boden, Bevölkerung, Bd. 2: Gebäude- und Ynventarfapital, Ar- beitstraft, Betriebsweiſe) reiche und tiefeindringende Belehrung eine Belehrung, die allerdings für die heutigen Verhältniffe nicht mehr ohne weiteres zutreffend ijt.

Ein von Otto Grautoff herausgegebenes Sammelwert „Die Baltifchen Provinzen” gibt in 6 Bänden eine Selbitdarftellung des Baltentums. (Feliz Leh— mann Verlag, Berlin-Eharlottenburg 1916. Bd.1: Stadt und Land (Bilder mit kurzer Einführung), Bd. 2: Novellen und Dramen, Bd. 3: Bauten und Bilder (mie 1), Bd. 4: Die jungen Balten (Gedichte), Bd..5: Märchen und Sagen, Bd. 6: Bilder aus baltifcher Vergangenheit). Aber es geht wie fo leicht bei Auswahl-Werfen: Die Aus- ſchnitte können weder das Ganze felbft, nod) die Darftellung des Ganzen erfegen, und man hat fchlieklich doch nur Stüde in der Hand.

. Trog ihrer fo fehr viel größeren Menſchenzahl haben die deutfden Koloniften im übrigen (ehemaligen) Rußland, weil ihnen die geiftigen Arbeiter fehlten, feine entfprechende Literatur hervorgebradt. Am wichtigften find unter ihnen die deutfden Kolonisten an der Wolga und die Bauern in Südrußland (d.h. dem Gebiet des Schwarzen Meeres). Die betreffenden Bücher ftammen nit von Eingeborenen, fondern von Reichsdeutfhen. Die Schrift von E. Schmid, Die deutſchen Bauern in Südrußland(mit Unterftügung der Gefellichaft zur Förderung der inneren Kolonifation herausgegeben, Berlin 1917, Deutfche Landbuchhandlung) beruht aber auf einem ziwanzigjährigen Zufammenfein und Mitarbeiten unter den füdruffifden Koloniften. Und eben diefe genaue Kenntnis der Dinge (aud) ohne viel Benugung von Literatur) verleiht der Schrift ihren bedeutenden Wert. Umge— fehrt beruht der Wert der „Sefhihtederdeutfhen KRolonienan der Bolga” von Gerhard Bontvetfd [Bd. 2 der „Schriften des deutfchen Aus- lands-Inſtituts in Stuttgart, 1919], der felbft nie an der Wolga gewefen ift (doch ftammt fein Vater von dort), auf der genauen Benugung und Verarbeitung der Quellen. Jm richtigen Augenblid bat Bonwetſch die exfte wiffenfdaftlide Gefchichte der Wolgafolonien gefchrieben: Die Zeit bis zum Kriege ift in fic) abgefchloffen, eine neue Periode (duntlen Inhalts) beginnt.

Damit ift, da die Deutfchen in der Schweiz, in Luxemburg, im belgifchen Bezirk von Arel, die begrifflich auch zum Auslanddeutfchtum gehören, ihrer Sonderentivid- lung wegen für unfere Zwecke außer Betracht bleiben können, der Rundgang wenig- ften3 zu den Hauptgruppen des europäifchen Auslanddeutjchtum beendet.

* Gottfried Fittbogen.

Aus dem Schrifttum, das „die antifemitifche Welle uns gebracht bat.

m den Revolutionsmonaten traten unter den Revolutionáren auffallend viele

Jubden hervor. Die Folge war, dak man fid) mehr denn je in Deutfchland mit Yuden und jüdischen Wefen befchäftigte. Eine Fülle von raſch gefchriebenen Heften und Büchern entftand, die vielleicht niemals völlig gefichtet wird. Hier ein Beitrag zur Sichtung.

Die üblichen „antifemitifchen Schriften” pflegen allerlei intereffanten und wert— vollen Stoff zufammenzuftellen, der zur Beurteilung des Wefens und der Stellung des jüdiihen Volkes von Wert ift (etiva Langemann, Der deutfche Zuſammenbruch und das Judentum; Heinrich, Der Duden Einfluß; Walter Lief, Der Anteil des Sudentum3 am Zufammenbrude Deutfdlands; Grimpen, Antifemitismus und Ehriftentum; Grimpen, Judentum und Sozialdemokratie), aber fie überzeugen den tritifden Lefer nicht oder, wenn er überzeugt ift, befriedigen fie ihn nicht. Woher tommt das? Nehmen wir die größte und ziveifellos wirkſamſte diefer Schrife ten zur Hand: Wilhelm Meifter, Judas Schuldbuch (Deutfcher Volfsverlag, Mün- den). Eine Fülle von Material! Aber ich vermag nicht lange darin zu lefen. Es fehlt an Rube, es überfluten den Lefer erregte Worte, hin und wieder laufen Irrtümer unter, die mißtrauifch machen, und fchließlich herrſcht eine eigentüm- lid) argmwöhnifche Einftellung der Seele vor, die man wohl als Reaktion auf die politijdhen Ereignifje begreifen fann, die man aber doch nicht als völlig gefund und flar empfindet. Wer Eritifch lieft, wird manches aus dem Buche lernen. Mer aber alles harmlos und gläubig hinnimmt, der weiß fic) wahrfcheinlich am Ende aus lauter Angft por den überall lauernden Yuden und vor Wut auf fie gar nicht zu laffen. Id mwünfchte, dak in einem derartigen Bud) der Stoff mit wiffenfchaft- lider Sorgfalt gefichtet und mit Ruhe dem, der lernen mil, vorgetragen würde. Das fónnte viel zur Klarheit beitragen. Die jüdifchen Gegenfchriften find übrigens nicht ettva wertvoller. Es ift in ihnen gar fein Gefühl für das, worauf es anfommt. Merkwürdig, wie an diefem Punkt der pſychologiſche Spürfinn einfach verfagt.

Aud Delitzſch' vafch befannt gewordene „große Täuſchung“ ift nicht ein objektiv in den Stoff eindringendes und ruhig belehrendes Buch, fondern eine leidenfchaftliche Streitfdhrift. Inhaltlich gibt ein Gelehrter wie Delitich felbftverftändlich viel Ernit- bafte3 und Richtiges, aber alles erfcheint in die Beleuchtung der Voreingenommenbeit und des Uebelwollens geriidt. Dadurch verliert aud) das Richtige feine Wirkung. Ein jo ern{thaftes Thema wie die Darftellung eines fremden Volfstums fann ohne ein gerifjes Mak pon Boblivollen und ohne den felbjtkritifchen Willen zur Geredtig- feit gar nicht fruchtbar behandelt werden. Hermann Guntel fcheint mir in feinem Vortrag in Halle über den altifraelitifchen Volksgeiſt die „Voſſiſche Zeitung“ brachte darüber einen bemerfensiwerten Bericht den rechten Weg eingefchlagen zu haben. Hoffentlich erfcheint Gunfels Arbeit im Buchhandel. Eine gute Wirkung des Buches von Deligfd) war es, dak dadurd die Frage, welche Bedeutung das Alte Teftament noch für den chriftlichen Neligionsunterricht habe, wieder erregt wurde. Der befte Auffak, den ich in legter Zeit darüber lag, ift der von Gottfried Traub in den „Eifernen Blättern” vom 28. November 1920: „Deutfchtum, Chriftentum, Judentum”. Diefe woblabgermogenen Ausführungen über die Bedeutung des Alten eftaments und über den Wert des germanifchen Mythos möchte ich dringend empfehlen.

Aus den fleineren Schriften zur Judenfrage Debe ich zwei heraus, die um ihrer Verfaffer willen interefjant find. Zunächſt: Emil Kloth, Sozialdemokratie und Juden- tum (Deutfdher Volfsverlag, München). Kloth ift feiner von denen, die erft plöglich in der unrubigen Zeit auftauchten, er war lange Beit fozialdemotratifer Gewerkſchafter

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und ift unter dem Eindrud der politifchen Ereigniffe nad rechts (wie andre nad lint3) gegangen. Die andre Schrift ift: Friedrid) b. Oppeln-Bronifowsti, Anti- femitismus? (Deutiche Verlagsgefellfchaft für Politit und Gefchichte, Charlottenburg.) Diefer Verfaffer gehört der deutfchnationalen Partei an und tritt dafür ein, daß feine Partei den Antifemitismus aufgabe und Yuden heranzöge. Sein Wunſch ift, daß die deutfchen Yuden national werden und im deutfden Volke aufgehen. Ueberzengend find feine Ausführungen deshalb nicht, weil eine Behandlung der Vollstumsfrage fehlt. So fympathifch die vornehme Haltung des Verfaffers ift, eine wirklich ein- leuchtende Löfung der Judenfrage zeigt er nicht, es bleiben zuviele „Aber” beftehn.

Und nun einige Schriften, die zunächſt gefhichtlich, darüber hinaus aber. auch fachlich von Bedeutung find. Mar Maurenbrecher hat eine Reihe von fieben Heften ericheinen laffen: „Goethe über das Judentum”. Die Hefte follen laut Antündigung als abgefchloffenes Buch herausfommen im Deutſchen Volt8verlag in München. Maurenbreder hat mit forgfamem Fleif alle erreichbaren Aeuferungen Goethes über das Judentum e3 find erftaunlid) viele zufammengetragen und ohne polemifches Hineinreden, nur mit erläuterndem, wohltuend rubigem Verbindungstert überfichtlich geordnet. Es it ein ungemein auffchlußreiches Bud) geworden, ſowohl in bezug auf Goethe wie in bezug auf die Judenfrage. Etwas Aehnliches erftrebt K. Grunsfy in feiner Schrift „Richard Wagner und die Yuden” (Deutſcher Volks— verlag, München). Grunsty übt nicht die Selbftbefchränfung wie Maurenbrecher, er ift polemifcher, ftellt mehr dar, aber aud) er gibt viel wertvollen Stoff. In diefem Zufammenhang feien die beiden Auffäge bon Karl Mary erwähnt: „Zur Juden- frage”, herausgegeben von Stefan Grogmann (Ernft Rowohlt, Berlin). Man ver- fpreche fic) nicht zuviel davon: fie find zeitgefchichtlich bedingt und zum großen Teil durch die „dialeftifche Methode” ungeniekbar. Der ziveite Auffag ift noch Heute intereffant, nur muß man den Begriff des „Juden“ auch fo nehmen, wie Marz ihn gefaßt hat, fonft mißverfteht man feine Meinung.

Zum Schluß fet auf zwei Schriften aufmerffam gemacht, die ſachlich Hären und weiterführen: Yohann Plenge, Ueber den politifden Wert des Judentums (G. D. Baedeler, Effen), und Paul Broder, Klaſſenkampf und Raffentampf (Deutfchnationale Verlagsanftalt, Hamburg). Plenge, der Nationalotonom in Miinfter, gibt zum Teil fehr „gewagte“, geiftreiche Gedanfengange in den beiden Vorlefungen, die in dem Heft gedrudt vorliegen. Er fucht den politifchen Wert des heiligen Schrifttums und des religiöfen Glaubens der Yuden forvie die politifchen Auswirkungen des religiöfen Judentums deutlich zu machen. Anregend und lehrreid). Broder gibt eine auch für einfache Lefer berechnete, plaftifd) aufgebaute Darftellung der Beziehungen des Gewerkſchaftsgedankens und des völfifchen Gedankens, die eigenartig und gerade in ihrer überfichtlichen Einfachheit geiftretd ift. Er polemifiert nicht, jondern zeigt den Weg zu einer vernünftigen Löfung. <

Maurenbreder, Plenge, Broder haben dauernden Wert und fonnen getroft in die Bücherei geftellt werden. Grunsty über Wagner und Großmanns Ausgabe von Mary’ beiden Auffagen find immer zum Nachfchlagen und Nachlefen willtommen. Die übrigen genannten Schriften werden nad) ihren Tageswirfungen berfinten. St

Rieine Beiträge

Mas bleibt?

OR ins fügt fic) an Ring in der Kette der Verganglidfeit. Die Zeit eilt dahin, „als flöge He davon“. Se höher du fteigft, dem Gipfel entgegen, da, wo die falten Horften, umfo Heiner werden die vielen Dinge des Tages, die dir da unten fo unentbehrlich waren und dich fo wichtig umlärmten. Zuerſt glaubtejt du, ohne dies, ohne das nicht leben

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zu fonnen. Nun ift es dir entf hmwunden und du atmeft nur freier, dein Herz pocht feinen alten Taft. Du Sofa e8 bier oben, in der feierlichen Stille. Höher hinauf und die Stille wird zum ang, zu Orgelbraufen der Ewigteit.

Du haft da unten dt nur für did) gelebt, im engen Kreis. Du halt dich eingefest ür das Ganze, bingegeben an dein Volk in feiner Not. Haft dir fein Ausruhen gegönnt, aft um feine Seele gerungen bis zur legten Grenze deiner Kraft. Und wuchſeſt über did inaus, befhwingt von der Sehnſucht nad) dem großen Biel, das dir voran leuchtete. Und

doch, bier oben verblaft aud) diejes Bild. Yn der itberflaren Luft ſchwindet das Gefühl für Raum und Beit. Was ift fern und was ift nah? Was find Völker und Zeiten? Sie ſchwinden dahin, heute, morgen. Es gibt fein geftern und gibt fein morgen mehr! Mas bleibt hier oben, was bejtebt die unerbittliche Helle diefes Gipfellicht3? Die Erkenntnis? C8 wird erzählt vom weifen Konig Salomo, daß er alle Gee imniffe fannte und daß die dichten Wände der Dinge für ihn wie Glas waren. Sein umſchloß den Stein, der ihm die Kraft gab, alles Irdiſche zu durchſchauen. Und König Salomo befannte am Ende feines Lebens: Alles ift eitel! Alle Herrlichkeit des Verjtandes, alle Auftlárung, alles Wiffen endet im Brweifel, in der Müdigkeit der Unter- p dala . Mie ftolz, wie eitel mar dod) diefe unfere Zeit in dem Vertrauen me die adt der Tijfen{dhatt. Und nun verzweifelt fie in der Schattenwelt ihres Begreifens. Mas bleibt?

Es ſtehen falſche Propheten auf in unferen Tagen, die lehren: der Weg zum wahren Leben geht durd) die Schulung der geijtigen Fähigkeiten. Wede die verborgen i lummern= den Kräfte deiner Seele und du wirft des Raumes und der Zeit máctig und dringjt ein in bis dahin unbetannte Tiefen und Abgründe deines inneren, haft Gefichte einer jen« feitigen höheren Geifteswelt. Und wenn ich Glauben hätte, aljo das id „Berge verfegen tónnte”, was bliebe? Diefe und alle anderen Welten, die deine Seele zu fdjauen ver- möchte, fie ſchmelzen dahin im Lichte der Emigfeit.

Was bleibt? Nichts Vergangenes und nichts Butiinftige3, fein Draußen und fein Drinnen, tein Diesfeits und fein Jenfeit3, feine Erkenntnis und fein Biel. Was bleibt?

_ Bas fragit du nod), bu Tor? Bijt du ihm nicht nahe? Biſt du es nicht felbit? Durde dringt bid) nicht die ewige Sonne mit ihren Strahlen? Lebft du nicht eben dies, und dies allein: Ewige Gegenwart, ewige Einheit, Zeit und Ewigkeit in Einem? Das ift Leben, das bleibt, das ift der Sinn und das Wefen. Du bleibit nicht irgend ein Bwed, nicht irgend ein Biel fondern du, ganz gereinigt, gana befreit, qana im Frieden, ganz in der großen Stille, ohne Unruhe und ohne Sehnjudt. Daß du die Sonne in dich faffeft! Gott in dir und du in Gott! Ewige Gegenwart, nenentwärtige Emigteit!

Da ftehit du mitten im Sturm der Bergänglichkeit, und dod) bift du über alles Vers ganglide hinaus. In dir ſchlägt das Herz der Welt. yu dir lebt die Liebe. Laß tretfen, ag umfdwingen die Fülle der Erſcheinungen, fie alle bewegt liebend der Unbewegte, der Mittelpunkt der Welt, Gott.

Nun ift das Fernjte nah, das Engfte weit und groß. Jn der Armut hat die Liebe die Fülle und aller Reichtum ift ihr die einfache Freiheit des armen Herzens. Die Liebe gibt fich bin und tft dod gana und für fd, befriedet. Sie erlöſt aur höchſten Höhe sab Ueberfhau und bindet alles aneinander und ineinander zu untrennbarem Zur ammen.

Doch wie ſollen wir von der Liebe reden? Sie erfährt nur der Liebende. Sie iſt die letzte Gnade. immer Gabe der ſtillſten Stunde. Da dir alles entſchwand, gab ſie dir alles zurück. Ihr Gehorſam macht frei. Karl Bernhard Ritter.

Das Kind ohne Bibel.

Nie haben mid fonjt die Protefte gegen die weltliche Schule erregt. Das ift ja das Entfegliche an unferer modernen Preffetultur: die echten Notfdrete erjtiden unter dem Wuft verlogener Aufrufe. „Den Sad fchlägt man, den Efel meint man.” Wenn nicht folde Namen unter den Hosen ftanden, deren Trager ich als ehrlihe Menſchen felber kennen gelernt hatte, jo blieben mir alle flammenden Protefte nur bedrudtes Zei- tungspapier. Und das ftintt gewöhnlid. Warum die Empörung gegen bie wmeltlide Schule? Gebetet wurde in den Hamburger Voltsjchulen Sn fon lange nicht mehr. Zuviel Katechismus haben wir vor zwanzig Jahren dort aud {don nicht herleiern miiffen. Und Gefange haben wir zweifellos zu wenig gelernt. Nun madt ihr auf einmal fold Gefdret, weil jet a das legte Gebet einer „noch“ frommen alten Schulmeifterin und bom Katehismus die Erflárungen, die ung Kindern dod) nie „Erklärungen“ waren, und das Belenntnis wegfallt? Denn von den drei Gefangen, die wir in apt Schuljahren zu lernen batten, waren zwei Weihnachtslieder, aljo VolkSweifen, die and) ohne Sdul- religion bleiben werden. Aber euch paffen unfere jungen Lehrer nicht mit ihren gewiß etwas wilden Re —— So dachte ich und glaube, daß ich mid) deshalb nicht cin- mal zu ſchämen braude. Wenn unfere Gugend nur die Bibel kennen lernt, dann ijt dod) alles gut, und weiteres, wenn aud) nicht gerade abbrüdjig, fo bod) überflüffig. Jet, nad)

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über zwei abren wurde mir in einer Stunde umfo Harer, mie unter dem Dedmantel

„tonfelfionslofe Schule” an der Kindesfeele pro worden ift. Eine Stunde, die fo

eindringlich war, daß fie mir feine Rube läßt, bis felbft diefer Mabnruf gedrudt auf Papier

Aa werden fann. Bis die Ungeheuerlichkeit einer abendlandifden Volksſchule ohne ibel einer faum glaubhaften Vergangenheit angehört!

Die neunjährige Erni fommt mit Kladde, Federhalter und Grammatifbud zu mir in bie wärmere Stube und fragt, ob fie wieder bei mir die Schularbeiten maden dürfe. Mutter fet bei der großen Wajde in der Küche; die Bimmer feien kalt. „Und die kleine Erni fann allein wieder nicht mit dem dritten und vierten Fall fertig werden, nicht wahr?“

Die Arbeit ijt getan. Alle Kürzungen find (hoffentlich!) mit den richtigen Endun- gen zu hübfcheren Mortbildern ergänzt worden. Bogernd bleibt das Kind nod vor einem

ilde ftehen und fragt: „Wer ift denn das mit dem langen Barte? Der fieht ja fo uns pia aus!” „Das it doch Mofes, wie er zornig bom Berge Sinai auf das untreue olf Israel herabfhaut!” Die Kinderaugen weiten fic) und guden mid noch fragender an. „Kennſt Du denn nicht Mofes?” Nie hat das Kind bon diefem Manne gehört. „Aber Jeſus tennft Du dod) aus der Bibel?” Wieder bilflofe Kinderaugen. „Aber Erni, Euer Rees at Eud dod) von Adam und Eva und bent Paradies erzählt?“ Nie find dem inde aud nur diefe Namen genannt worden. Da bin ich denn nod erftaunter als das Kind. Ich laffe die Kleine die Bibel aus dem Bücherregal fuchen. Das Buch der Bücher tft ihr fremb: et twas fürn dides, ſchweres Bud!" Und nun fieht das aig Hck ind gum erften Male Bilder aus der biblifhen Gejhichte, den Sündenfall und die Vere treibung aus dem Paradies. „Das find die erjten Menfden?” fragt es immer wieder im grenzenlofen Erjtaunen. In feinem Gehirn war der Begriff der erften Menfden noch nicht erftanden. Er feffelt e8 allgewaltig. Und das guterzogene Kind verfteht, dak Adam und Eva aus dem Paradies verjagt wurden, weil fie ,ungehorfam” gewefen find. Diefes furze Kapitel in den einfachen Maren Worten, das ung erſchauernde Cinblide auf den pſychologiſchen Urgrund er Sünde gibt, faßt das Kindergemüt, weil Urweisheit zu ber Nur-Seele ,fpridt”. Und begierig laßt das Heine Menſchenkind fd die unjterbliden Ge— fhichten der Menſchheit erzählen, die abfolut find in ihrer Geelenfunde, die von feiner Hirnesarbeit, von feiner Relativitatstheorie auch nur unterhöhlt werden fonnen.

IH aber frage mid): Kann man es verantivorten, daß man unferm, Nachwuchs diefe Bibelwahrbeiten nehmen läßt? Daß man ihn um die tieffte des GeijteS- und des Gemiitslebens betrügt? Ihm ein Seelengut unterjdhlagt, für das es feinen Cre

fat gibt? š Was tft denn das für eine Schule, die unfer junges Gefdledht ohne den Kulturunter- grund der Bibel aufwahfen läßt? Ei, fo hort doch, was plappern die Kinder für eine umme Sprade, die für fie feinen Sinn mehr hat. Sie fingen: da mehet Gottes Obdem, fie deflamieren: befeelte Staubgeborene, fte lefen vom verlorenen Paradies? Goll man nod mehr Beifpiele ae wo doch die ganze landlánfige Sprade in ihrer Urweisheit das Bildnis der Bibel ift? Und die bildende Stunft? Obne Bibel, was bliebe da wohl an hödhften Kunftwerken übrig? Man maa sae itehen, mo und wie man will, über die Bibel als das Buch der Bücher voll unerſchöpflicher Weisheit, voll wuchtigſter Kraft und wahrfter Schönheit tann fein Zweifel fein! Und wenn gelatifche Menſchen freireligiöfen e de mit dem tonfeffionellen Befenntni3 aud) die Bibel aus der Schule verbannen, weil fie die Worte Gott und Jeſus austilgen möchten (die Toren! den Gott, der fie felbft ganz offenfichtlich exzittern macht, der ihrem Herzen feine Rube läßt!), dann müſſen folde Geifter, denen feelifdhe Tiefe verfagt ift, in ihre engen Schranten aurüdverwiefen werden. Wohl fteht den Eltern mit vollem Redte die Enticheidung über einen Belenntnisunterricht zu, aber damit dod) nod) nicht über die Bibelfunde. Und wenn nun Hunderte von Eltern aus Fanatismus und Taufende aus Gleichgültigkeit ihre finder in der befenntnislofen Schule laffen, wie es dod) nad) dem Wortlaut unferer neuen Verfaffung wahrſcheinlich ift, die eine Willensäußerung nur zur RKonfeffionsfdule ver— langt, b muß dod) die Bibelfunde genau fo ein Pflichtfach bleiben wie die Geſchichts- und die Geſangsſtunde.

_ Was war denn die Verfiindigung an uns durch den dogmatifden „Religions”-Unter« vicht unjerer Schulzeit gegen das Verbreden an der heutigen Gugend, die zwar gang ohne Bibel, aber trogdem nicht ohne Bons „Hug“ gemadt wird? Was hat uns denn fhließlich das Dogma anhaben können? Der erwadjende Getft hat es doch fo leicht von fich

ejhüttelt und der nie eriwachende fann ja dod) nicht ohne Dogma fein. Dann bleibt es ich wirklich gleich, meld) ein Dogma ihn magnetijiert. Aber wir tragen alle in uns bes tout oder unbewußt ben feelifhen Reichtum der Bibelerlebnifie! Was fdhulmeijterlicde Penfumsvorfdrift am heiligen Erleben verjchladen machte, das hat doch auch die alles flárende Zeit zur reinen Glut durchglühen laſſen. Oder hat nicht das neue Tejtament auch an uns ,aufgetlárten” Kindern der Haffenbewußten Arbeiterfhaft feine Urgeralt a bart? Wir, die {don im elften Lebensjahr trogig und erhaben in die neu ibel ſchrieben: „Es gibt feinen Gott Gott ijt die Natur!“, wir, deren herrliche ideale Vater, die ebrlid unfer Beites wollten, uns fdon mit fieben Jahren die hypothetiſche 60

Aftrophufit der Genefis des alten Teftaments entgegen festen, wir, die nad dem Vor: bilde bes Heinen Asmus Semper aus der idealerfüllten Tabafarbeiterftube bei der Ein- egnung mit feinem Jalaut unfere Gláubigteit gelobten und dem Abendmahl „demon- trativo” fernblieben, wir vergaßen jedes Auflehnen gegen Gott und Gottes Sohn, wenn te Leidensgefchichte das Schulzimmer zum wirklihen Gotteshaus erhob, wenn der er- prsi Choral ,O Haupt voll Blut und Wunden“ den Konfirmandenfaal durdflagte.

hne das Erlebnis von Golgatha, was waren wir dod tros aller Pfeudo-Naturwifjen- ſchaft als u für armfelige Kinder gemefen!

Nad dem neuen Geldledhte darf nad) dem Willen oder der VillenSlofigteit der Eltern A eme ganze Welt verloren gehen? Mit Recht wollt doch auc) ihr Bibelverächter dic

arden richt im ae miffen. Und die Bibelgejhichten, deren Worte und Bilder klarſte Arifchaulichkeit, deren Weisheiten taufendmal unergründlicher find, die haben —— dürfen, die ſind dem märchengläubigen Kinderherzen einfach unterſchlagen worden?

Die Bibel wird ſiegen. Man kann fie aud nur einem Geſchlechte verhehlen, vere agen. Was taujende von Jabren die wedfelvolle Menſchengeſchichte int Wefentliden une erührt überftanden hat, das wird aud nod leben, folange fid Menſchen fehnen. Es gibt eben fein Menfchjein ohne Gottesworte!

Nicht aus Gorge um die Bibel, fondern aus Empörung über das Verbreden an der Kindesjeele muß gegen die bibellofe Schule Sturm geblafen werden. Wir dürfen unfere ſchon jo arg vernadláffigte Jugend nicht nod) mehr berauben le:

Alfred Pfarre.

Zur Metaphufit des Puppentheaters.

< er Menfd) [eibet daran, daß er ein Zwitterding ift ziwifchen Körper und Seele. Bom Standpunkt des Körpers aus ift die Seele ein Konjtruftionsfehler; bon der Materie aus gejeben, ijt der Geijt ein höchſter Luxus. Diefe innere Zwieſpältigkeit madt den Denen unfdon. chon ift alles, was einer eindeutigen Gefeblidfeit unterliegt der rubende Kriftall, die brandende Welle, die wiederfauende Kuh. Schön ift daher aud die Puppe, denn fie einem einzigen Geſetze: der Schwerkraft. Laſſe ich den Armfaden der Marionette L ten, fo fintt ihre Hand auf dem fiirgeften Wege nad unten eine in fich gefchloffene, völlig harmonifde Bewegung. Lodere ich den Kopffaden, fo befchreibt der Oberkörper der Puppe einen Bogen. ES entjteht eine Verbeugung, wie fie mit folder Sicherheit und ee tändlihen Anmut aud der gefdidtejte Tanger nicht auszuführen vermag. Denn ie Angit, fic) die Nafe zu zerjchlagen, hindert ihn, fic) hemmungslos ber zu überlaffen. te anmaßende Einbildung, mehr zu fein alg „Natur“, der Wahn, eine Nafe Ë befigen, die e8 wert ijt, vor dem Zerbrechen bebittet zu werden, ftört das ruhige Wirken es Naturgefeges, vernichtet die Schönheit. pe und Himmelfahrt, der Puppe ein leichtes, find dem hochmütigen Kriechtiere Menſch gleich fern, gleich unerreichbar.

Schön müßte mithin aud ein Wefen fein, das, von den Feffeln des Körpers befreit, nur Seele wäre. Die Griechen hatten hierfür den richtigen Inftinft, wenn fie thre Götter— bilder mit höchſter Schönheit ſchmückten. In der Tat, der Menſch wird finer in dem Mage, al3 er fich vergeiftigt. Die eigentümliche Schönheit, die von den Gejtalten eines Buddha, eines Franzistus von Affifi ausgeht, entipringt der mühelofen Selbjtverjtandlid- keit, mit der dad Gefeg ihrer Seele hindurchleuchtet durch ihre geringíte forperlide Bee wegung. Der Körper ijt gwar nod) vorhanden, aber er ijt derart in die Rolle des Dienen- ben herabgedrüdt, daß feine Gebärde nur nod) eine fhattenhafte Begleitmufit darftellt für die Regungen der Seele.

Zwiſchen diefen beiden Polen, Puppe und Heiliger, liegt nun das Reid der Mühe, des Schwigens, der Häßlichkeit. Der AStet, der fid) die Gebarde des Heiligen anquált, der einen Körper tafteit, ihn abtötet, um fi valine zu erhungern, ift abfheulich. Er ift ür den Seen dasfelbe, was für den Menſchen der Affe Ut: „ein Gelächter und eine hmerzlide Scham”. Denn nichts ijt widerlicher als die leere, inhaltiofe Gebarde ohne Ergriffenheit. Was uns den Komödianten erträglich macht, tft nur das offene Einge- ai der Taufdung, des Spieles, des „Als-ob“. Turmbod über dem Heudhler fteht er Tölpel, der für den Ausdrud feines Gefühles die sra nicht zu finden vermag.

Die Puppe ijt von allen diefen Verzerrungen befreit, fie ift ein negativer Heiliger. Hanswurjt hat feine Seele. Sie ift ftets irgendwo zum Ausbeffern, fie ijt genau ges nommen nirgendwo. Daher hat der Teufel über ihn feine Gewalt, denn er findet feinen Anfagpuntt fiir feine Verlodungen. Fauft, der Menſch, unterliegt; Safperl, die Puppe, tellt den Satan, denn er weiß nichts bon Tugend und Lajter. Es wäre falſch, ihm den

orwurf der geigheit zu maden. Sein natiirlider Selbjterhaltungstrieb weicht der Gee fahr aus, wie das Tier bor der Peitſche zurüdicheut. Aud ijt Hanswurft nicht treu, feine vermeintliche Treuherzigfeit ijt nichts als beharrende Trägheit, er hängt an feinem Herrn mit der naiven Zärtlichkeit, die der Hund für den warmen Plat inter dem Ofen emp.

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findet. Bratwurft und Maßkrug find feines Lebens Leitfterne. Sein hölzernes Dafein tft befdloffen in dem ehernen Ring von Hunger und Sättigung. a8 gibt nun aber den Gebarden der upp felbft für das Bemwußtfein des Er- wachfenen, die eigentiimlide Anziehungstraft?? Was rührt unfere Herzen fo quien an der baroden Plumpheit diefer Welt des Holzſchnitts? Der Duft verlorener Paradiefes- berrlichkeit, der fie umivebt! Ein jeder denfende Menſch fpiirt wohl gelegentlich (mit Ladheln vielleicht, vielleicht auch mit Schreden) in fich die müde, hoffnungslofe Sehnfudht, eine mwiederfäuende Kuh zu fein. (Es liegt ein geheimnisvoller Reiz in dem Gedanten, einmal, und fet eg auch nur für einen furzen Augenblid, alles Ringen und Streben hinter fic zu een und ausſchließlich dem animalifchen Gefeg zu geborden. Selbſt den Griechen, eren Lebensführung ob ihrer Einfachheit und Einfalt heut ftets bon neuem neidvolles Er- er in uns auslöft, feheint diefes Gefühl nicht fremd gewefen zu fein. Würden fie onft ihre herbfte, ihre erhabendite Göttin mit dem Beiwort „kuhäugig“ gefdmiidt haben, eine Huldigung bor der großartigen Gelaffenheit diefes Tieres, wie fie ftarter faum im Stiertult der Aegypter und Ynder zum Ausdrud fommt? Wahrjheinli liegt ein bee beutender Teil der befänftigenden Wirkung, die von dem Geelenwanderungsglauben des Orientalen ausgeht, in der Möglichkeit, die fi) dadurch eröffnet, zurückzuflüchten aus der Bwiejpáltigteit des menſchlichen Dafeins in die leidlofe Ruhe der Tierbeit. enn unfer ganzes Leben ift eingefpannt in den erbarmungslofen Rhythmus bon Wollen und Vollbringen, Mittel und Zweck. Was eben nod) ala höchſtes Biel, als [egter Rubepuntt erfchien, entpuppt fic, kaum erreicht, [don morgen wieder als Mittel, alg Stufe zu einem höheren Gipfel. Einzig das Kind ift von diefem zwedhaften Denten nod) frei. Sede feiner Gebärden ift nod) Selbſtzweck, ift Spiel, tft der natürliche ungetritbte Ausdrud feines feelifden Seins. Das Kind Schafft und zerjtört, baut auf und ‚vernichtet mit dem verfdwenderifden ahnungslofen Reichtum der Natur. Das Band, weldhes Kind und Buppe umfdlingt, ift innere Artgleichheit, beider Dafein erfchöpft fd im Spiel, beider Gebärden find Zeichen, find Symbole einer tranfzendenten Welt. Dem Sind das Puppenfpiel wieder augängli gu machen, heißt deshalb, ihm einen Teil der Welt zurüd- eben, die ihm die morderne ivilifation raubte und auf die es doch ein Anrecht hat. Das Hrhundert des Kindes wird erft dann anbreden, wenn es wieder feinem fleinen hölzernen Freunde zujubeln kann. Peter Rihard Rohden.

Hermann Lieg zur Judenfrage.

n den Lebenserinnerungen bon Hermann Ließ, auf die wir nod) in den Bücherbriefen

eingehen werden, findet fid auf Seite 185 bis 187 eine Ausführung, die pſychologiſch und pädagogifch für bie Yudenfrage bon erheblicher Bedeutung ift. Da diefe Worte Lievens bisher nirgends öffentliche Beabtung gefunden haben, teilen mir fie hier im Wortlaut mit. Er ſchreibt in dem Abfchnitt über das Landerziehungsheim Haubinda:

„Aus Stadt und Land, dem «Inland tote Ausland lamen unfere Schüler. Kinder bor allem der Iiretlenden und unabhängigen Kreife, der Landwirtfchaft, der Yndujtrie, des Grofhandel3. Keineswegs unterfhäßte ich die Bedeutung bes Elternhaufes * die Er⸗ ziehung. Wo Einflüſſe, Umgebung und Lebensweiſe ihrer Entwicklung günſtig waren, blieben die Kinder jedenfalls am beſten zuhauſe. Aber viele unſerer Heimbürger hatten beide Eltern oder wenigſtens einen bon beiden verloren. Andere fanden in ihrer Um— gebung feine paffende Schule, dritte follten vor förperliher Vertiimmerung bewahrt und getráftigt werden. Mande, und das war uns am erwünfchteften, wurden uns lediglich . aus Begeifterung für die Art unferer Erziehung gebradt. Neben Kindern von Auslands- ; deutfchen drängten mit der Zeit aud) zahlreiche race und ausländifche herein. Das ` dur wurde der einheitlihe und nationale Charakter de3 Heims in Droge geftellt.

Schweitzer Schüler blieben nad Heims Glarigeng fort, ebenjo englifde ine folge des ftárter merdenden politifden Gegenfages. Befonder3 zur Zeit des _ ruffifd- japanifden Krieges und der ruffifhen Revolution fuchte man für zahlreiche polnifde und ruffifhe Kinder um Aufnahme nad. Aber konnte man darüber erfreut fein? I Die halb oder ganz femitifden Schüler zeigten meift wenig Luft und ähigkeit für praktiſche Arbeiten. An geiſtiger Gewandtheit, Schlagfertigkeit ü ertrafen ie die Kameraden, die ihnen gegenüber oft ſchwerfällig und ſchüchtern erfchienen. Be- onder3 deutlich trat das bei den Erörterungen der ganzen Schule über Landerziehungs- im3-Angelegenbeiten und allgemeine Fragen in der Sapelle zutage. Schließlich fam es dahin, daß außer den Sfraeliten fic) faum einer an den Debatten Noch wurde es, als id) einen jüngeren iſraelitiſchen Privatgelehrten angeſtellt hatte. Mit ihm war ein Mittelpunkt für alle halben oder ganzen Semiten bei uns gegeben. Ein offener wieſpalt trat dadurch bald hervor. In dieſen wie ſpäteren Fällen habe ich den groben Kin gemadt, in der Wahl meiner Mitarbeiter lange nicht vorfidtig genug gu fein. on meinem faft blinden Vertrauen auf wobltlingende Beteuerungen hin mußte ich erft durch argen Schaden geheilt werden. Ich mußte lernen, Gutmiitigtett und Mitleid da nicht mitfpreden zu laſſen, two lebiglidh das Intereſſe der Sache entfdeiden darf.

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Mir felbft lagen von Haufe aus antifemitifhe Neigungen durhaus fern. Der Vater lebte in den von Leſſings Nathan. Auf den Schulen, die ich beſucht hatte, waren nur ganz wenige Iſraeliten geweſen. Soweit ſie von den Kameraden nicht gut be— handelt wurden, hatte id) mid) ihrer ſtets aus Mitleid und Gerechtigkeitsgefühl anges nommen. Mit einem von ihnen war id befreundet. Ich hatte Yiraeltten in das Lande erztehungsheim aufgenommen, wenn fie unferen allgemeinen Bedingungen einigermaßen entfpraden. Nun aber mußte ich erleben, wie unfere ſachlichen Beftrebungen durch gar manchen von ihnen geitört, wie die förperlihe Arbeit und die [lite ländlihe Kultur herabgefegt, mie jede Art ftädtifhen Wefens ihr ge genüber bevorzugt wurde, obwohl doch Uebereinftimmung mit unferen Grundfagen Vorbedingung der Zugehörigkeit zu unferem SKreife war. Ungufrieden zogen fih die Anbersdentenden vor diejem lauten Treiben zurüd. Wenn e3 aber fo weiter ging, würde ich fchlieglih nur noch SYuben, Polen und mien in meinem Heim gehabt haben. Bevorzugung des Perjonliden gegenüber dem Sadlicden, des lauten Wortes anftelle der füllen Tat, dies und vieles damit Verbundene war durdaus nicht nad) meinem Sinn und das gerade Gegenteil von dem, was ich mit der Gründung der Heime bezwedt hatte.

Dara wollte ich jenem Wefen ein Ende machen und betonte in meinem Profpelt ftárter alg zuvor den deutfchnationalen und germanifhen Charakter meiner Heime, in die nur ausnahmsweife und in fleiner Anzahl Ausländer und Sfraeliten aufgenommen werden follten. Dennod wurde von feiten meines jüdifhen Mitarbeiters eine ee ihe Werbetatigteit gegen mid begonnen. Bald mußte fie zum Bruch führen. Die tieferen Beweggründe meiner Denk- und Handlungs- weije fonnten vielen, zumal den Giingeren, umfo weniger far werden, alg e3 mir fern lag, mid zu verteidigen.”

Das find Erfahrungen eines Mannes, der alles andere eher alg „antifemitifh pers bett“ oder irgendiwie bösiwillig war. Darf man fie mit Adfelzuden beifeite fehieben?

Zeitgenoſſen. 4. Der Feuilletoniſt.

Sw Lebenszwed ift: Veröffentlihung. Sein Sinnen und Tradten bet Tag und Nacht: die Pointe. Seine Leidenfchaft, der er alles opfert, aud) Wahrheit, Rüdfichten auf Freunde, ihr Vertrauen, fofern er es je Pet bat: bie ftilijtifde Wirtung. Nicht etwa die Klärung und Prägung der Dinge, dazu fieht er die Dinge gu wenig und fich felbft gu viel: fondern die Spiegelung feines Talents und feines Gerjtes im gedrudten Wort. Die Sprade, zumal die deutfche, tft ihm nicht heilig gewadjfene Natur, die man ehrfürchtig adjten muß, fie ift ihm ein gelentes Werkzeug für Tine birtuofe Willtiir. Er fann nicht ein Wort fchreiben, das nicht affettiert, nicht einen Gedanten denfen, der ihm nicht gleich in Be en zu Papier und Druckerſchwärze erfdeint, nicht ein Gefühl hervor— bringen, Das nidt fogleid) mit fic) felbft totettiert. Er verwertet fic) auf Schritt und Tritt. Sein tompligiertes und wandelbares Ich ift ein Kapital, das ihm reichliche wu trägt. Er kennt feine Diskretion, er tft in diejer Beziehung gegen fi) genau fo unerbittlid wie gegen andere. Diskretion tft Untüchtigfeit, und Tüchtigfeit in feinem Fach ift ihm Lebensinhalt. Jedes Gefprad, jede Bewegung, jeder Gommerfrifdentag, jede exjte Frith- Imgswelle und die erſte Herbftpremiere, dad Lächeln einer za und die Gebärde des Bettlers: alles Feuilleton. Ein ee natürlih. Ein Hodjtapler des Gefühls: fo würde ihn ein pathetifcher unerfahtener ann aus der Provinz nennen. Tüchtig und ges udt heißt er in Berlin, wo er meiſt ftd, vollendet, oder in Wien, woher er meijt tommt.

tft fo vorfichtig, teinerlei Selbfttritit in fid auflommen zu a denn gefdett wie er ift, würde derlet agli genug ausfallen. Hinter einer namenlofen Arroganz verbirgt er fic und andern feine innere Unfiherheit und Leerheit. Seine Wurzellofigteit, fein Mangel an inneren Beziehungen zum wirklichen und gefunden Leben, feine Hilflofigtett und Frembd- heit gegenüber dem Volte machen ihn zum leidenfdaftliden Freund zweier Raufdmittel, die für ihn offenbar viel Verwandtes haben: des Theaters und der , Revolution”. Wobet „Revolution“ einen hee ae nicht etwa ein peto begrenztes, gefchichtlihes Er- eignis bedeutet. Cr ijt eben ,Rebolutionár”, blutiger Feind der „Reaktion“, nicht gerade Sogialdemofrat (das ware banales Mitlaufen und Parteinehmen), aber gefühls- mäßiger Freund der „Unterdrüdten”, ,Enterbten”, des Proletarierd (den er gar nicht tennt). Er wohnt, it und fletdet fich fer, fehr bürgerlich, aber die „revolutionäre“ Pofe fteht thm nicht fchlecht. Voltsverfammlungen, in denen er theatralifd)-wobhlberednete, auf Schlichtheit und Entrüftung jtilifierte Anfpradjen Halt, find ihm wwillfommene Raufd- und Sptelmittel wie das Theater. Alle Augenblide wittert er einen neuen Umfturz, er ift lüftern danad, feine Augen glimmen, wenn er ihn prophezeit, aber jeine Miene zeigt tribunenhaft-väterliche Beforgnis um das arme Voll. Er ift ftändig auf Senfation be- gierig, und verfegte man ihn dorthin, wo's feine gibt, aus ber a hinaus, er ware wie der Bild auf dem Trodenen. Er braudt feine Wiefen und Fernjichten, feine Sonnen- tage im Gebirge: er tann jahrein jahraug auf dem Asphalt leben, ohne daß ihm etwas

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fehlt. Das macht ihn den andern, denen, bie doch immer wieder einmal etwas erleben müffen, ehe fie ſchreiben können, fo überlegen. Er wird nie überreich fein, aber er ift aud nie lahm. Die Schöpferifhen bleiben weit hinter ihm. Das PBublitum der geiftig ge- hobenen Schieber, die neue Gefellfchaft liebt feine Leiltungen und bezahlt fie gut. Brot er und Salz fehlt dabei nie und man unterhält fich, indes man fehr gebildet Icheint. Wie ele: den Feuilletoniften in fo verfdiedenen Rollen zuhaufe zu fehen: bald als glühenden

evolutionár, der ſich entjchuldigt, daß er nicht unter den Dachſchützen war, bald als tons fervativen Lobredner faijerlider Heerführer, bald als entriiftungsftarren Cato, bald als elegant frivolen Nadhtlebenschronijten, immer mit der hübſchen Gefte des ungegogen-offen- berzigen Bohemien, der alles beim rechten Namen nennt, er fann einmal nicht anders, er ift nun einmal fo, auf jede le bin und fofte es, was es molle.

E3 muß aud) folde Käuze geben, folche Teichtgewandten Spieler und Honigfauger: wenn fie nur nicht auch pathetifche Rollen fpielen, in Politif und Lebensangelegenheiten der Nation fid) mengen wollten. Aber ihr Ehrgeiz läßt fie nicht ruhen: fie wollen „führen“. Und wo fie das verfuden, geht aller Humor zum Teufel. Dort verdienen fie einfach ey- fhlagen zu werden. Hermann Ullmann.

Zu den Holgidnitten Albert Königs.

ir bringen wieder einmal einen Künjtler, der noch nit in Berlin abgeftempelt ift, - und bor deffen Blättern der berühmt madende Kunftjournalift ſchwerlich mit funft- verftändiger Wichtigkeit ftill fteht. Albert König arbeitet unbetimmert feitab vom Ge- triebe. Das hindert feinen, der ihn ſchätzt. Und uns madjt es gerade die rechte Freude.

Wir haben hier nämlich einen Meifter der niederfächliichen Heimat vor ung, der etwas Erheblihes tann, und gwar nicht weniger durch tüchtige eigene Arbeit als von Gottes Gnabden.

Bu Efdede in der Heide 1881 geboren, führte ihn feine Luft zur Malerei und Mufit in die Lehre gum Nachbar Malermeifter, und er wurde ,,Deforationsmaler”. Mit 21 Jahren ging er für ein halbes Jabr auf die Düffeldorfer Kunftgewerbefchule, diente dann feine zwei Jahre al Soldat und trieb nachher, wie wir das aus Gottfried Sellers Griinem Heinrich kennen, eine Weile fein Leben auf opens Fauft. 1908 ging er nad Minden und arbeitete in einem Gefdaft. Mit dem Geld eines guten Meniden konnte er fih dann im Zeichnen weiterbilden. Von da ging er zu Teppert nad Berlin, und endlich landete er wieder in feinem Heimatsdorf Efchede, wo er ftill für fid) malte. Auf Anregung eines Freundes begann er Ende 1911 mit Holzichnitten. Dieje Holsfdnitte madten thn allmählich weiterhin bekannt, die Bremer und dann die Hamburger Sunfthalle eat) fauften Blatter von ihm, auf der Amfterdamer internationalen Ausjtellung

tadten fie thm eine Auszeichnung ein. Die Holzfchnitte find e8 nun, mit denen mir unfere Lefer befannt machen modten.

Der eigentümliche Wert derfelben liegt in der meifterhaften Wiedergabe der finnlichen der Gegenſtände. Wie iſt der Farrenteppich eines Waldes und das verſchiedene Laub der Bäume (in „Wald 2“, einem Blatt, das wir nicht wiedergeben, weil es bie ftarte Verkleinerung nicht vertrüge) durchgefühlt und dargeftellt!! Man ftreicht untill- fürlich mit der Gand über die Fladhen. Und wie finnlic gegenwärtig find feine Wiefen, u gepflügten Aeder und Stoppelfelder! Oder das Zweiggewirr des „iterbenden

aldes”. Ein paar Blatter geben das Luft- und Wolfenleben des Himmels mit den kräftigen Linien und Fleden des Holzſchnittes wieder, die Weite des Raums, das Gewühl bon hell und dunkel in den Wolken, das ftrahlende Licht. Aud) die holzgefchnittenen Bild- niffe zeigen mit großer Eindringlichleit die gerrungelte Haut de3 Alten oder die Frijde eines Dorfiungengefichtes. “yn einem guten weiblichen Att ift mit einfaden Mitteln die weiche Rundung des Fleifdes, die Straffung der Haut an den geftredten Gliedern und die Jejtigteit der Gelenfe herausgearbeitet.

Jn all dem jtedt ein wobltuender Fleiß, eine gute deutihe Handwerkzähigkeit, die nidt Rube hat, ehe das Ziel nicht erreicht ijt. Selten, bab die Hand erlahmt und ſchematiſch arbeitet. Die zeichnende und ſchneidende Hand beſitzt nicht nur eine große Unermüdlid- keit, fondern auch eine immer wieder frifhe Lebendigkeit, fodaß fie faum je gleichgültig oder langweilig wird.

So {chr wir das gute Handwerk hervorheben müſſen, e3 würde das doch fchlieklich wenig bedeuten, wenn diefe Fähigkeiten nicht im Dienfte einer innerliden, befeelenden Auffaffung der Dinge ftiinden. Cine liebevolle, fic) herzlich verfenfende Betradtung in die Natur, ein aufgefdloffener Sinn für den zauberifhen und márdenbaften Reiz der Baume, des Waldes, des Himmels, Liebe zu Menſch und Tier find die Triebtráfte diefer Kunft. Und die Formtraft der Phantafie fügt das Erfühlte und Erfhaute zu ſchön ge- ſchloſſenen Bildflähen ¿ufammen.

Bu den drei Landihaftsbildern, die wir in diefem Hefte bringen, branden wir nichts zu fte überzeugen durch Hd) ſelbſt. Die Urdrude find etwa 35 mal 70 Zentimeter groß, die Wiedergaben find alfo ftart verkleinert. Doc) die Schnitte find fo kräftig, dab

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t

aud) in ben Wiedergaben nod) etwas von dem Bee der fonnenbefdienenen Reifland- ſchaft, des Riefenwaldes und dez fampfenden Lichtes bleibt. Aber vielleicht wundern fich einige Lefer, marum mir gerade die PButtenbildehen (unverfleinert) bringen. Man blättere nicht darüber bin, fondern ie fie genau an: fie find nämlich vortrefflid gelungen. Golde Blatter find gar nicht fo leicht zu maden. Die beiden fic prügelnden Kinder oder das Büblein, das jih an der Wandtafel unniig macht, wolle man daraufhin anfehen, wie ihre drallen Glieder (die zum Hineintneifen berloden) aus dem Holz herausgeholt find, wie leicht und ficher fie fic) beivegen und im Raum zufammenfügen. Wieviele Exlibris und sur fieht man fich bald über! Diefe Putten aber machen immer wieder bon neuem ergniigen.

Wir zweifeln nicht, daß die fünftlerifche Kraft und die gediegene Arbeit Königs fid

almáblid immer weiter in der Deffentlichkeit durchfegen wird. St.

Der Beobarhter

(5? sibt heute kaum Menfden, die fich gegenfeitig verftcehen. Die erregteften Aus»

ae erreihen nie ihren Zweck. Sie führen ung ftetg auseinander, nicht gujammen. Je nad dem Standpunkt weiß fd der eine im Licht, der andere im Schatten. Nun glaubt man, den Schatten de3 „andern“ dadurch zu erbellen, dak man kin eigenes Licht verftärkt: alle und Geiſtesſchärfe wird auf die Beleuchtung einer ſelbſt verwandt. Aber je heller und ſchärfer das Licht, um fo dunkler und ſchwärzer wird bekanntlich der Schatten. Um den Schatten verſchwinden zu machen, muß man mit dem Licht herummwandern. Das hea tly Licht muß das der Liebe fein, nicht des Berftandes. Es muß ein Leuchten des Auges fein, nicht des Geiſtes, wenn wir un zufammengeführt werden. Das Verftehen beg Du ift das Schöpferifche, nicht der :

erftand des Yd. urt Bladte.

Ri der Tagung der Ehriftlichen Gewerkſchaften in Effen 1920 hielt Stegerwald einen viel beadteten Vortrag über Deutiche Lebensfragen. Wir geben aus der gedrudt vorliegenden Rede (Chrijtlidher Gewerkſchaftsverlag, Köln) mit Bezug auf den Leitauffak unfres Januarheftes bie Ausführungen wieder, die Stegerwald über das Verhältnis bon Katholiten und Broteftanten mate: „Heute, wo insgehetm und offen an allen deutfchen Grenzen Starte Magnete angefegt find, um den brüchig gewordenen Stahlblod auseinander- äuziehen, da bedeutet die fchroffe politifche Scheidung der Katholiten und Proteftanten cine ungeheure Gefahr. Aus dauernd getrenntem politifhem Marfchieren können ftarte Ente fremdungen und Spannungen eintreten, zumal wenn zwifchen ihnen ftándig die Scheide- Iinie Regierung und Oppofition liegt. Die Entfremdung gwifdhen Brüdern ift der erfte Schritt zur offenen Feindfchaft. Diefes Unglüd darf nicht nod) zu allem anderen über Deutihland tommen. Darum miiffen wir alle hriftlihen Kräfte zufammenfaffen, folange es nod) Zeit ijt.” „Künftig werden wir unfere Yoeale gegen die materialiftifche und medanifde Denkweiſe unferer Zeit, gegen die Unmoral, die gegenwärtig auf allen Gebieten dez öffentlichen Lebens ihre Friumphe feiert, mehr nad) der pofitiven Seite vertreten müffen. Nicht pofitiv im religiös-dogmatifhen Sinne. Das können wir nicht, weil wir eine interfonfeffionelle Bewegung find. Ein interfonfeffionelles pofitives Chriftentum gibt es nit. Es gibt nur ein pofitiv fatholifhes und ein pofitiv evangeliſches Chrijtentum. Wir werden uns aber entjchieden auf den Boden der alten beutfd en d riftlid en VBolt3tultur gu ftellen und dafür refolut zu fampfen haben.” „Soll die Glaubens— fpaltung des deutſchen Voltes bei deffen gegenwärtiger Erniedrigung thm zum dauernden politifhen Verhängnis werden, oder aber follen die ftaatlid und religiös pofitiv gefinnten Elemente aus beiden Lagern in Deutſchlands trübften Tagen fic zu politifcher Gemein- fcaftsarbeit ebenfo die Hand reichen, mie fich die chriftliden Arbeiter feit Jahrzehnten auf. wirtfchaftlihem Gebiete in den chrijtlichen Gewerkichaften die Hand gereicht haben?”

3(% das Parteimejen jhreibt Georg Bernhard in der Voffifchen Zeitung vom 19. De- gember im Sinblid auf den demofratifden Parteitag in Niirnberg: Walter Rathenau habe dort jtark gewirkt, obivohl er nichts gefagt habe, was er nicht fon Langit ge t und gefchrieben hatte. „Die Mehrzahl hatte von feinen Ideen feine Ahnung, weil

athenau von den gen Parteiinitanzen boyfottiert und von den vielen der demo- fratifchen Leiborgane jtändig „mißverftanden” wird. Dak ihn der Parteivorftand diesmal zur Anfprade aufforderte,. war eine Tat, obwohl man fein Referat fürjorglich mit Reden der Abgeordneten Wieland undeKeinath umrahmte, die die amtliche Lehrmeinung vere traten. Trotzdem eine Tat. Denn ein in der Partei ſehr mächtiger Bankdirektor foll aus- drüdlich erflärt haben, wenn Rathenau eine Rolle zu fpielen begänne, fo würden in

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Butunft die putenteften Geldgeberftreiten... C8 geht in den übrigen Parteien (faft ohne jede Ausnahme) genau fo gu. ES beiteht eine interfraftionelle und eine interparteiliche Gefellfdaft mit befdranttem Verftand auf Gegenfeitigteit zur Fern- haltung von Talenten und Jdeen aus dem öffentlichen Leben. Vieſe Geſellſchaft befitt ein Generalpatent auf famtlide Phrafen und Gemeinplage. Und als amtlicher Agent fet e3 in der Betätigung al3 Zeitungsfchreiber, Agitator oder Abgeordneter wird nur derjenige geduldet, der Sense diefer Patente nimmt... Damit bewirkt man die Ver- efelung des Volkes, auf das man dann wegen feiner unpolitifchen —— Ka Und fo bleibt der Klüngel hübſch unter fic) und an der Macht.” Wir wollen Rathenaus Ideen ay Bek t verteidigen, aber auch wertvollere Ydeen leiden unter den Verhält- niffen, die Bernhard ſcharf umriffen hat: unter der unfruchtbaren Stlüngelei, die jeder demofratifche Parlamentarismus mit fd bringt. Man betradte daraufhin den frangofi- hen, amertfanifden und neueren engliſchen Parlamentarismus. Dag uns die Revolution ausgerechnet biefes Uebel mußte, wird ihr die Geſchichte ſehr zu Unehren rechnen: es iſt die geiftige Niederlage, die nicht notwendig mit der militäriſchen Nieder- lage hätte verbunden zu fein brauden. Erringen wir zunächſt die geiftige Selbitändig- teit gegenüber dem Weften!

ray Sanffouci darf der Kaftellan nicht mehr von „Sriedrih dem Großen“ fpredhen, wenn er den Gajten das Ynnere zeigt, er hat laut höherer Weifung von Friedrich dem Bweiten zu reden. m.

o. Neutóllner Krankenhaus Liegen in langen Reihen Männer und Frauen. Vorteih-

nadtzeit. Einer fängt leife an zu fingen: Stille Nacht, heilige Nadt. Und die andern fallen ein. Am andern Zag hält der Cela Dr. Silberftein ein ftrenges Verbór ab. „Religion ift ——— alfo Ein Befehl wird angeſchlagen, dak das Singen von Weihnadhtsliedern im Krankenhaus verboten ijt. So geht man mit der deutſchen Seele und wenn die ſich dann zur Wehr ſetzt, entrüſten ſich die Silberſteine über emitismus.

ein Reidsgeridtsurteil ift Hamburg gezwungen, den abgeichafften Religions- unterricht wehmütig und getnidt wieder A an Was ijt da zu machen? Die Ober- pn nunmehr fo novemberbefliffen wie ehedem „scharf rechts” findet folgenden

eg, den Aerger der in der Unumfchränttheit plöglich fo peinlich beſchränkten madthaben- den Partei über die verdammte Privatjache Religion auszulaffen: man gibt den Kindern gedrudte Formulare mit nad) Haus; wenn die Eltern für ihr Kind Religionsunterridt wünfchen, jo müffen fie das Formular unterfchreiben. Bringt das Kind am nadften oder itbernadften Tag die act nicht guriid, b „wird angenommen“, daß es nicht am Religionsuntertiót teilnehmen fol. Zugleich fest eine große offiziöfe Partetmuftt ein: Eltern, unterfdreibt die „Zettel“ nit! (Aber nur offiziös, denn MOS ift ja die Religion Privatjade.) Die Kinder, die nicht Religionsunterricht haben follen, brauden feine diesbezüglichen Erklärungen „bis morgen” abzugeben.» Wie nannte man dod por der Revolution folde ungleihmaßige Behandlung? Herrichaften, Habt ihr denn in eurem Eifer fein Gefühl mehr für Lächerlichkeit? Seder kennt doch eure jehr einfachen Seelen und dent fid) fein Teil. Neue Leute alter Geift.

Wie in faft allen Parteien ein Teil der Jugend nad) einer Erneuerung der politifchen

Lebensformen aus neuer fo auch bei den Sozialdemo— traten. Auf einer y pega bon Sungfogialiften in Kiel wurden Leitfage bon Johannes Schult befproden und als wefentlider Ausdrud der jungfozialiftifchen Be- wegung anertannt, die, wenn fie fic) durchſetzen, den verknöcherten Parteibetrieb une möglid) maden würden. Der erfte Leitfag lautet: „Die den Arbeiterjugendvereinen entwachſenen Barteigenoffinnen und Parteigenoffen tónnen ihrer ganzen feelifden Ein- —— nach nicht k Y teiterez den Schritt zur allgemeinen Arbeiterbewegung machen, enn diefe ift in ihrem inneren und äußeren Leben zu einfeitig verftandesmäßig und mate- rialiftifch gerichtet, alg daß fie die in der Jugendbeivegung und durd) den Krieg neu bes lebten irraticnalen Regungen befriedigen könnte. Daher fliegen fie fid) zu bejonderen jungfozialiftifhen Gemeinſchaften innerhalb der Partei gufammen, ohne zu verfennen, dah aud ihr Wirken der einigen Partei und den Getwertfdaften, al3 den eigentlichen Rampf- emeinfchaften des Proletariats gilt, fie mit neuem Leben füllen und zu höherer fogia- iſtiſcher Tattraft führen will.”

aon der Zeitidrift des Centralvereing deutſcher Staatsbürger jüdiſchen Glaubens „Im deutſchen Reid” Iefen wir in der Beſprechung des Kriegsgedenkbuches der israelitijchen Kultusgemeinde Nürnberg Briefe jüdifher Soldaten, die eigentümlid in das Ynnere der jüdiſchen Seele, die auch deutich fein will, vor allem äber just tft, Hineinjehn Yafjen. Einer foyreibt: „Und fieh’ dod), Tiebes Mutterl, für was ich mein Leben aufs Spiel fepe!

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Nicht nur ich, nod) viele, viele andere junge Leute! Nicht nur, daß wir unfere geliebte Se den Frieden für unfere Lieben, des Vaterlandes Ehre hüten, nein, id und alle uden im en babeneinegrößere Aufgabe. Wir miiffen die Ehre des Juden— tums bewahren, müffen den andern zeigen, daß auch wir einen Begriff von Ehre und Chr- eig haben, mülfen ihnen zeigen, bab wir Yuden aud) Manner find und keine Beiglinge.” ürde ein Katholif oder Protejtant auf den Gedanken fommen, daß es feine gro hte Auf- abe fei, die Ehre des Katholizismus oder Proteftantismus im Heere zu bewahren? Von ‘Fie aus verfteht man die eigentiimlide Tatfade, bab das Heer jüdiſche Führer nicht ge affen wollte: um des einheitlichen Geiftes willen. «Jn einem andern Brief bon 1918 beißt e3: „In ganz Rußland leitet man anjdeinend die Volkswut gerne mit den Mitteln des alten Regime ab, und in Deutihland... gejchieht vieles Hinter den Ruliffen. So böte fih uns ein Bild mit wenig erfreulidem Ausblid, wenn nicht allfeitig Judentum und udenbeit allen Angriffen gum rot erftarten würden. Solange die moderne Kulturmwelt ich noch brudermörderifch zerfleifcht, deudjt mid, fie hätte nod allerhand von jüdifcher Anfdauung und jüdiſchem Sittengefes zu lernen.”

n der „Freiheit“ wird uns Beethoven auf die ſe Weife näher gebradt: „Um Beet- boven ungefárbt .. . fennen gu lernen, darf man nicht den ungeheuren Berg der Literatur über ihn durdftdbern —, gewiß liefern fie alle über ihn wertvolles Material... Um Beethoven tennen zu lernen, {ft e3 nötig, die politifhen und wirtfchaftlichen Verhält- nifje feiner Zeit und feines Landes und bie aus ihnen folgenden Geiftesftrömungen zu über- hauen, feine Freunde, Freundinnen und feine Aerzte zu Und dann die uptſache: feine muſikaliſchen Schöpfungenalsein Prodult all die— er Beeinfluſſungen zu erfaſſen.“ Richtig, wie konnte die beſchränkte bis- herige Menſchheit auch die Neunte oder die Miſſa ſolemnis je verſtehn, da ſie ſich nicht pores den biftorifhen Materialismus ins Gehirn gerammt hatte! Man halte dem Volt in der Volks hule eine Reihe von Vorträgen über die wirtſchaftlichen BVerhaltniffe Wiens zur Zeit Beethovens, dann führe man fie ing Konzert und dann wird es Beethoven wa vedat veritehn. Hod) das Dogma, zum Teufel die Mufit!

Aue Freund Kerr konnte aud) an Beethovens Ebrentag nicht gang ohne Politik aus- fommen. Er fdrieb im Berliner Tageblatt: „Im Jahre der Niedrigleit 1914, als die Sintflut der Seelen begann was gab e3, dag den Sterbe-Ernft eines nahen felt famen pas at überklingen tonnte? Gefprodenc8? Verſe? Dramen? Ich fehrieb: nehmt eud fünfzig Mufiter. Und fprecht tein Wort. Und fpielt an jedem Abend Beet- hoven. Beethoven. Beethoven.” Berehrtefter, Sie fdjrieben im , Fabre der Niedrigteit” nod) andre Dinge: Kriegslieder. Zum Beifpiel: „Es weht der Allerfeelenwind. Wir reiten alle einen Schritt. Und die wir ent bom Felde find, wir fampfen mit; wir terben mit.” Ym Jahre der Niedrigteit. Niedrigkeit. Niedrigleit.

Zwiefprarhe

or Novemberheft 1919 Hatten wir eine Ausfprade über die SYudenfrage gebradt (Auffäge von Jalob Lowenberg, Walter Colsmann und mir). Meine Ausführungen erfchienen penado t in der Schrift „Antifemitismus” in unferm Verlag.

Unfer Mitarbeiter Walther Claffen hatte nad) jener Ausfprade feine Anjchauungen, die fid) nicht mit den meinen deden, in dem Auffay niedergelegt, den wir nun als Leiter bringen. Seine Ausführungen {deinen mir widtig vor allem durch die Tatfaden, die fie enthalten. Und fie zeichnen fid) aud) burd den unbedingten guten Willen gum Ver- ftändnig der ftreitenden Parteien aus. Ich fann mit Claffen gehen bis zu der Stelle, too er fagt: Wenn die Juden Deutfche werden wollen 1d mag e3 ihnen nicht wehren. Nad meiner Anfhauung tft es nicht im Bereich des menjdliden Willens gelegen, zu weldem Volte man gehört. Man wird alg Deutfcher oder Jude geboren. Bollszuge-

úrigteit ift etwas grundfäglic anderes als Gtaatsangebórigteit, aud) etwas anderes als imat. rum ift für mid die Frage gar nicht möglich, ob ich e3 den Yuden erlauben

oder vermehren will, deutfch zu werden. as hilft all mein freundlicher Wille gegen den

Willen Gottes, des Schidjals, der Natur man nenne e3 mit Namen, wie man will?

Schaukals wu: ijt wertvoll, weil hier ein Dichter und Beobachter ein⸗ mal von Dingen öffentlich ſchreibt (id möchte ſagen: gu ſchreiben den Mut hat), über die man fic) gewohnlid nur in fleineren Kreifen unterhält. Ich bitte, das vorurteilslos al3 pjoóologilte enntnig eines Mannes zu lefen, der gut und flug beobadtet hat; e3 gibt eine Grundlage, darüber nadjzubdenten.

Drittens habe ich verjudt, meine eigne Anfdauung klarer und deutlicher herauszu⸗ ſtellen, al3 es mir bisher möglich war, und damit meine früheren Aufſätze zu ergänzen.

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Aud) das Gedicht von Ubland am Schluß des Heftes ift ein „Beitrag zur Judenfrage”. Das meijt überfehene Gedicht „Gaftrecht”, bag Nr. 8 der ,,Vaterlandifden Gedichte” bildet, BE mit der wundervollen Klarheit und Lauterfeit, die Uhland eigentinnlid it. die

eelifde Löfung der Judenfrage. Möchten doch Juden und Deutfde diefes Gedicht mehr beadten! Bei der Gelegenheit: Da id) meinen eigenen Ubland weggegeben hatte, wollte = mic einen leihen, um das Gedicht herauszufchreiben. Ein lez [ tannter hatte feinen Uhland im Befig! Aud ein Zeichen der Zeit. Es zeugt nicht gegen Uhland, fondern gegen und. Es würde uns and nichts fehaden, wenn mir un3 mehr in die_germaniftifchen und politifchen Arbeiten Uhlands verfenften.

Der Verleger Hermann Freife in Parchim teilt uns zu den Bemerkungen über bas Rembrandtwerk, auf das wir in der Dezember-Zwiefprahe hinwiefen, mit: Von der Ge- famtausgabe von Rembrandts Handzeihnungen erfcheine der erfte und zweite Band dem- nadft in neuer Auflage. Das Werk fei keineswegs ohne Führer: „Bereits die erfte Auf. lage des Werkes wurde, wie der Titel befagt, von meinem Sohn im Verein mit den Herren Dr. Lilienfeld und Dr. Widmann herausgegeben. Diefe beiden Herren werden dem Unternehmen erhalten bleiben und es in der bisherigen Weife in meinem Verlag weiterführen. Aud das Erjcheinen des dritten Bandes, der die in dent Kupferftichfabinett in Dresden aufbemabrten Handzeichnungen Rembrandt3 enthalten wird, ijt in diefem Yahre zu erwarten. Die Verzögerung rührt nur von dem Mangel an pura Kunftdrudpapier her. Minderwertige Kriegsware, wie fie bei den Neuerfcheinungen

er legten Sabre. fo häufig it, follte unter feinen Umftänden gebraht werden.” Wir wünſchen dem ausgezeichneten Werle guten Fortgang und Abſatz.

Soeben geht mir zu: Johann Gottlieb Fichte, Briefe an feine Braut und Gattin. ——— von Emil Engelhardt im Verlage von Erich Matthes in Leipzig. Briefe von 1790 bis 1807. Der kantige, herbe, eigenwillige Fichte, der ob ſeiner Schwierigkeit verrufen war, hatte ein reiches, liebenswürdiges, gar nicht „düſteres“ Innenleben. Man vergißt das gewöhnlich über dem Pathos des Mannes. Aus dieſem Reichtum des Herzens aber zieht das Pathos erſt feine redjte Kraft. Hier in dieſen Briefen haben wir den beralid en Fichte. Möge er befannter werden! Engelhardt gibt eine furge Einleitung dazu und Anmerkungen zum Verftándnis des Zeitgefchichtlihen und Perfónliden.

Der Maler Albert König, von dem die beiliegenden Holafdnitte find, wohnt in Eſchede (Kreis Celle). . .

Der Aufruf der Fichte-Gefellihaft auf dem Umfchlag des vorigen Heftes ift nicht bon mir. y

Zwei Drudfebler: Ym Januarbheft Seite 22, Zeile 28 b. o, muß es Mappen ſtatt Wappen heißen. Im Inhaltsverzeichnis für 1920 ma e3 am Ende dez Verzeichniſſes der Meinen Beiträge nicht Zillmann, fondern Ullmann beifen; die betr. Zeilen find dem entfpredend drei Zeilen hinaufzurüden, wie e3 das Alphabet erfordert. St

Stimmen der Meifter.

iit ein zu diefer Schwelle! Wilfommen hier zu Land! Leg ab den Mantel, ftelle Den Stab an diefe Wand! Sib obenan gu Tifde! Die Ehre ziemt dem Galt. Mas ich erfriſche Did) nad) des Tages Laft! Wenn ungeredte Rade Did aus der Heimat trieb, Nimm unter meinem Dade Als teurer Freund borlieb! Nur eins it, mas id) bitte: Laß du mir ungeſchwächt Der Vater fromme Gitte, Des Haufes beilig Recht! Ludwig Ubland.

Herausgeber: Dr. Wilhelm Stapel. (Sir den Sudalt verautwortlih). S Betten ter: Dr. Lub- wig Denninghof. Jufórtiften und Cinfenbungen find zu rigten an die GHriftiettung des Deutfchen Doltstams, mburg 30, Solftenplas 2. ‘Sir unoerlangte Cinfendungen wird feine Verant- wortung übernommen. Derla gund Drud: SSanjeatifóe Derlagsanftalt Aftiengefelifhaft, Hambnrg Bezugspreis: Dierteljährlich 7,50 Mart, Einzelheft 3 Mart. Pofihedfonto: Hamburg 13475. Ta ge ruc ber Deitrage mit genauer Quellenangabe ift von ber Schrijtleitung aus erlaubt, unbeſchadet. ber Hte des Berfaffers.

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Aus dem Deutſchen Volkstum Albert König, Wald

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Aus dem Deutſchen Volkstum Albert König, Sonne, die durch Wolken bricht

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Albert Konig, Putten

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Zur Konfirmation #3

Fin meinen Sohn

von Wilhelm Stapel

Ausftattung von A. Paul Weber, Arnftadt, nen. Jn Büttenkarton mit Seidenfdnur. Setjeftet Mk. 3.

Us dem Eindruck des Friedens von Derfailles find Stapels Worte „An meinen Sohn” eben. Jn der Hoffnung ru Ba die nad] uns kommen werden. die nichts tan. ulus a klagen und nidt cogil Worte voll Würde und Ernft Jn hnen glüht die Lefdenfdjaft, aber fie loht nidyt in verzehrenden Sriinden; hier nimmt ein deutfher Mann fein deutſches Herz in feine ftarken Hinde und aus Zorn, Sd]merz und Liebe wird Kraft und das Leid zu tragen. Und es wächſt ein deutfcher Wille den keine únfere Macht bredjen kann. Sebt euern Kindern dfefe Worte in die Hand, fdjenkt ke ihnen an fefttagen und Wendepunkten des Lebens. Ihr gebt ihnen damit das Befte, was Eltern un ndern geben können: die Kra canst zu deutſchen Männern zu wachſen. in Wegweifer für das Leben unferer

Zu bezichen durdy jede ke fonft vom Derlage

Franfentifche ae bi Aiktiengejellfäjaft amburg 36, Folftenplat 2

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Probebánde des Volfstums

beftehend aus vier neueren Heften der Fabrgánge 1919 und 1920 find foeben fertig geworben und ftehen zu Werbe- sweden zur Verfügung. Wir bitten unfere Lefer, Freunde und Belannte, die nod nicht zur Vollstumgemeinde ges hören, auf diefe Probebände aufmerkfam zu machen. Das Stüd toftet 4 MP. Sede Buchhandlung kann fie bes forgen, fonft ber Verlag in Hamburg 36, Holftenplag 2.

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Walter Rebun, Auferftehung

Aus dem Deutfhen Volfstum

Deutiches Dol€stum

3.5eft Eine Monatsfchrift 192J

Reitfunft oder Bolfsfunst?

ie Entwidlung der neueren Kunftgefchichte trägt einen merfwürdig unfteten

Charakter. Es jagt immer eine NYunftrichtung die andere, und es ift nicht

etiva die eine immer die Steigerung und kulturelle Klärung der vorangegangenen,

fondern fie ift immer möglichſt bas Gegenteil der vorigen. Sede neue Richtung

betámpft die vorangegangene, fie fieht in ihr nicht eine notwendige und wertvolle

Entiwidlungsftufe. Yn extremen Fallen hält fie alles Vorangegangene in der Kunft für Unfunjt, und erklärt fich als den endlich gefundenen Ausgangspunkt.

Der Menſch, der Kunft genießen und in fic) aufnehmen will, muß ſich alle sehn Jahre neu einftellen, er muß jedesmal umerzogen werden. Hierzu dient eine an Umfang immer gewaltiger anfcjwellende Kunftliteratur, und es gibt in- folgedeffen wohl ſchon mehr Bücher über Kunft, als es wirkliche Kunſtwerke gibt. Immer wieder wird eine Kunftrichtung alg die allein feligmachende äfthetifch betviefen und gepriefen, und gwar in den äußerſten Superlativen, folange bi3 bie nächſte da ift.

Wir leiden an einer außerordentlichen Vergänglichkeit der Werte, die bie unit ` ſchafft, und es fcheint mir der Mühe wert, darüber nachzudenken, worin diefe raſche Bergänglichkeit begründet ift, und auf welchen Fundament andererfeits die Werte, die aus der Kunft alter Zeiten, zum Teil durd) Jabrtaufende beftehen geblieben find, gebaut waren.

Die Frage, ob es foldhe fortdauernd fogenannten Ewigkeitswerte tatjächlich gibt, babe id) in den legten Jahren allerdings oft verneinen hören. Wer fich für bejonder3 vorgefchritten hält, verneint heute fogar auch, daß ein beftehender Wert in der Kunſt überhaupt einen Sinn habe. Nur der vorübergehende Reig des Neuen babe Wert. Alles Neue fet Verjiingung. Ya follten die Völker wirklich von Generation zu Generation jünger werden? Gemäßigtere Leute verneinen die Bes hauptung, daß die Kunft dauernd fortbeftehende Werte enthalte, damit, daß es immer Zeiten gegeben hat, in denen größte Sunft, wie die der Aegypter oder die Gotif und die der größten Mieifter, mie beifpielstweife Rembrandt, ihre Wirkung auf die Menfchen verloren hatte. Daß es alfo vom Charakter einer Zeit abhängt, ob eine Kunft zur Geltung gelangen fann oder nicht. Dak die Zeit den Boden für das Verftändnis einer Kunſt abgibt und daß, wenn diefer nicht vorhanden ift, die betreffende Kunst in Vergeffenheit geraten muß.

Aber muß fie darum zu Grunde gehen? Sit nicht alle große Kunſt ſchließlich wieder an die Oberfläche gelangt und konnte wieder auf die Menfchen wirken? Der Menfch mag ihren Wert vorübergehend verfannt haben, die Völker können gealtert und zu Grunde gegangen fein, aber von ihrer Kunft it, joweit fie echte Kunft war, ein gewiffer Wert für die Menfchheit beftehen geblieben. Die Kunft- tverte jeder Zeit fónnen zu uns eine lebendige Sprache reden, und das Wefen

_ echter Kunft befteht gerade darin, daß fie nicht neu zu fein braucht, fondern dak _fie Werte birgt, die an feine Zeit gebunden find.

Wenn wir nun zugeben, dak es über alle Zeiten fortbeitehende Werte in der Kunſt gibt, fo liegt die Frage nahe: Wie läßt fich diefes Yortbeftehende erflaren, worin ijt es begründet? Erklärt es fich etiva fo, daß mir [agen fönnten: Es war

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eben Kunft um der Kunft willen? Wir wiffen, daß die meifte alte Kunft aus Gotte3= glauben entftanden ift und nicht um ihrer felbft willen. Können wir nun trogdem fagen: Wir ftehen einem alten Sunftivert eines fremden Volles ebenfo gegenüber, tie diefes Volt ihm gegenüber geftanden hat? Hat, um ein Beifpiel herauszu- greifen, eine Statue des Zeus für uns denfelben Sinn, den fie für die alten Griechen hatte? Sicher nit. Wir fehen in ihr nicht die Gottheit felbft, mir treten nicht anbetend mit dem Erfchauern vor dem Ueberirdiſchen vor fie Hin. Mir fürchten nicht ihren Zorn und erflehen nicht ihre Gnade. Wir müßten ſchon nicht nur wiſſenſchaftlich feftitellen können, wie der alte Götterglaube mar, aus deſſen tieffter Ynbrunft heraus das alte Kunftiverf entitanden ift, wir müßten diefen Glauben tatfählih Haben, müßten ebenfo wie ein alter Grieche, Affyrer oder Aegypter empfinden, um ben tieferen Sinn, den ihre Kunſtwerke für die be- treffenden Völker und ihre Künftler hatten, erfaffen zu fonnen.

Da das ausgeſchloſſen if, fo fann derjenige Inhalt und Wert des Kunft- werks, der über die Zeiten bin für Alle fortbefteht, nicht darin Tiegen, daß die | Runftiverte für fpätere Gefchlehter denfelben Sinn haben könnten, aus dem herans

fie entftanden find.

Liegt diefer Inhalt, diefer Wert denn alfo wohl in der äußeren Schönheit? Qn Form, Linien und Farben?

Das allein fann e8 aud nicht fein. Die äußere Formenfchönheit läßt fid nachformen, Linien und Farben laffen fic) wiederholen und die Nahahmung müßte dann ja ein ebenfo unfterbliches Werk ſchaffen können. Das kann fie aber nicht. Wenn eS nur die äußere Schönheit wäre, müßten wir dem Werk auch mit tálterer Bewunderung gegenüberftehen, und es könnte nicht eine fo tiefgehende Wir- fung auf uns ausüben.

Kann dann aber vielleicht das Wefentliche darin liegen, dah eine Zeit ſich im Kunftwert wiederfpiegelt und zum Ausdrud tommt? Es ijt zweifellos, daß wir im Kunſtwerk meift ein typifches Mertmal einer Beit vor uns haben.

. Aber liegt darin ein fünftlerifher Wert, liegt darin der Neiz, den das Werk auf unfer Kunftempfinden ausübt? Es liegt hierin etwas tulturbijfto- rifch Wertvolles, aber fein Kunſtwert.

Auch hier Liegt alfo nicht der Kern der Sade.

Sollte er dann wohl in allgemein menfdliden Empfindungen, die im Kunit- wert liegen können, zu fuchen fein, und liegt darin feine Wirkung auf ferne Gefdhledter und andere Vólter? Auch daran glaube ich nicht. Die allgemein menfdliden Empfindungen find etwas zu Unbejtimmtes, um fiinftlerifd) ftart und beftimmt twirfen zu können. Wenn man auch fagen kann, daß alle Menfchen irgendwie Freude und Leid, das Gute und das Böfe, das Schöne und das Häf- lihe empfinden, daß fie alle irgendiwie eine religiöfe Sehnfucht haben, fo find doch ihre Leiber und Gehirne und Sinne fo verfdieden gejchaffen, dak diefe Empfin- dungen für die verfdiedenen Völker etwas recht Verfchiedenes bedeuten müffen. Das läßt fih am leichteften durch einige grobe Beifpiele erhärten: Für einen alten Heiden, der feinen Nächften feinen Göttern opferte, bedeutete die Empfindung bon Gut und Böfe jedenfalls etwas anderes als für ung, und ein Chinefe, der faule Eier für eine Delifateffe hält, wird fid) mit uns nicht einmal über die Frage, was Angenehm und Unangenehm ift, verjtändigen können. Wieviel ſchwieriger muß die Verftindigung der Völker auf den Gebieten der feineren Empfindungen, wie fie im Kunſtwerk liegen, fein, und nun follte gar noch eine folde Verftändi- gung über Jahrhunderte Hin möglich fein? Ym allgemein Menfchlichen, alfo in einer gewiffen Gleichartigfeit der Empfindungen der Alten, anderer Vóller und unferer fann aud) nicht die fortbeftehende Wirkung der Sunft liegen. C8 ift nicht etwas Unbeftimmtes, das dort auf uns wirkt, fondern etwas höchſt Beftimmtes, bei der Kunft aller Volker höchſt Verfchiedenes, den Völkern Eigentiimlicdes. ES

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tt nicht gleichartiges religiofes Sehnen, fondern e3 find höchſt verfchiedene Wünfche und Vorftellungen bom Diesfeits und Fenfeits, die den Sinn ihrer Runft aus- madten. €8 find die verfchiedenen Bollscharaktere felbft, die in den Künſtler— perfönlichkeiten fich gu befonders abgeflarter Form fteigerten, die zum Ausdrud gelangten. Deshalb ift die affyrifche Kunft vor allen Dingen affyrifeh, die ägyptifche der Begriff des ägyptifchen, die griechifche der Inbegriff griehifchen Wejens und die deutjche Gotif der Inbegriff des deutfchen Volkstums.

Und follte nicht gerade in der Betonung der Verfchiedenheit der Völker, mit andern Worten in der völkifchen Klarheit, das Zeitlofe liegen können?

Sollte nicht im Au3brud der fla rem Art, in der Edtheit die gemein- fame Schönheit der Kunft der verfchiedenen Völker Liegen können, die uns troy ihrer ganz verfchiedenen Schönheitsideale in ihren Bann zieht?

Die ganze Schöpfung geht auf Erhaltung der Art aus, und inftinktiv bewundern wir alles, was Art hat, ob es Sunjtivert, Menfch oder Tier fet. Ein raffen- loſes Wefen erfcheint uns bedauernsiwert, während uns in einem Geſchöpf, das flare Art Hat, der wahre Schöpfermwille fich offenbart. Ym Ausdrud der tlaren Art liegt diejenige Seite der Runft, die immer wieder als Roftbarteit, als hohes Gut Achtung gebietend, den Schöpferwillen verfündend von der Zeit unabhängig ift.

Wir fühlen nicht die religiöfen Beziehungen anderer Volfer zu ihren Kunft- werfen nad, tir teilen nicht ihre Schönheitsideale, wir tónnen nicht ihre fonftigen menjfdliden Regungen teilen, die für ihre Kunft in Betracht tommen, aber wir fühlen inftinftiv: da3 Ding ift echt.

Wie ftehen wir nun zu der Kunft unferer eigenen Vergangenheit, zu der Kunft der deutfchen Gotik und unferer fpäteren Vorfahren?

Aud hier ftehen wir vor einem Haren Voltscharakter, der einen ewigen Wert für die Welt bedeutet. Aber berührt uns Deutfde hieran aud) nur diefe eine Seite, die für Alle in Betracht fommt? Wir ftehen dod) einem gotifchen Dom, einem Griinetvald, einem Dürer nicht fo gegenüber, wie einer Zeusftatue, fo daß wir etwa nicht in die feelifchen Vorgänge eindringen könnten, die ihre innerliche Bedeutung für unfere Vorfahren ausgemacht haben. Bei der Kunft unferes eigenen Volkes ſpricht zu uns mehr als bei der Sunft der anderen, da fpricht zu uns auch der feelifche Inbalt, die Volfsfeele. Denn diefe Volt8feele ift auch bie unfere. Sn ihr liegen aud) unfere Empfindungen, wir verftehen ihren Glauben und ihre Liebe, wir begreifen ihr Leid und ihre Freude, in ihr finden mir uns felber wieder. Sie zeigt uns unfere eigenen Volfsideale und fann uns zu ihnen zurüdführen, wenn mir auf Abwege geraten find.

Das bedeutet uns unfere deutfche Gotit und das bedeutet uns auch die deutfche Renaifjance, in der troß des Einfluffes aus Italien das Deutſchtum ftart und Klar fich zeigt. Auch unfer Barof war noch deutfd, und felbft noch die fpätere Zeit hat fic) in Deutfhland Charakter bewahrt. Wenn ich eine alte Siibeder oder Ham— burger Raufmannsdiele betrete, die womdglid) [don Rofofoformen aufmweift, fo umivebt mich trogdem deutjcher Hanfeatengeijt. Die außeren Stilformen find für den völkiſchen Stil nebenfadlid.

Das ift die alte deutfche Kunft aus den Zeiten, al3 das Volfstum noch innerlich ftarf war. Wird nun unfere neue Sunft in Deutfdland für fpätere Gefchlechter auch Werte bieten, an denen fie fic) aufrichten tónnen, in denen fie fid) felber erkennen und vergeſſene Liebe wiederfinden können, und die der ganzen Welt und allen Zeiten zeigen werden, was echt und rein ift? Iſt der Ausdrud unferes eigenften Seelenlebens immer der Inhalt unferer Kunft geblieben?

Wir müffen befennen:

Wir haben aus der Betvunderung des Raffigen und Echten an fremder Kunft nicht den Schluß gezogen, dak wir auch unfererfeits echt bleiben müffen, fondern es lamen Zeiten, in denen die Deutfden das, was ihr Runjtempfinden bei anderer

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Kunft erregte, auf fic) übertragen zu können glaubten. Sie wollten ihr Schaffen neu befruchten laffen. Das hätte vielleicht aud) gerne geſchehen können, wenn wir nod) die alte Kraft befeffen hätten, mit der Dürer die Renaiffance zu urdeutſchem Ausdrud bevivenden fonnte, wenn unfer Volkstum nicht in Schlaf verfallen ware. €3 war eben feine Befruchtung und Bereicherung, die von der Griedenfunft auf unfere Kunſt überging, fondertt der Klaffizismus, der fd daraus ergab, mar nichts anderes alg ein Nicht-Wiederfindenfönnen oder ein Aufgeben der eigenen Art, der eigenjten Ideale, gegen die man die dufere Form der Antike eintaufdte. Ym Klafjizismus lag die erfte ſchwere Untreue gegen unfer inneres Selbft, die bis auf den heutigen Tag nicht wieder gut gemacht ijt. Er eröffnet die Reihe von rafch vergänglichen Kunftformen der neueren Kunſtgeſchichte. Die Reihe der vielen fogenannten Kunftrichtungen, deren Vergänglichkeit darin begründet ift, daß fie nicht den eigenen Volkscharakter als Ausgangspunkt haben.

Es fam der Krieg 1870/71, ber Deutfchland äußerlich erftarten Tief. Aber dies äußere Aufblühen machte uns hochmütig und blind für die Werte der Volks— feele. Es fam zivar die Einficht, dak es mit dem Klaſſizismus nicht fo weiterging, und man wollte in der Kunft wieder etwas Deutjches haben; aber das führte nur dazu, daß man nun anftatt der äußeren Form der Antike ebenfo äußerlich die äußere Form der deutfchen Renaiffance übernahm, und es nahte fid) die Beit der Matartboutet3, der Plüſchmöbel und Portieren mit [crag hindurchgeftedten Blech- fpießen. Und als dann diefe Beit der falfden Renaiffance zur Unmöglichkeit ges diehen war, fuchte man, weil die eigene Seele immer nod nicht wieder zum Bewußtfein erwacht war, Hilfe bet der Kunſt der Franzofen, die nad 70 kulturell die Sieger wurden. Denn die Franzofen hatten eine Kunftrichtung gefunden, bie der Volksſeele alg Grundlage garnicht bedurfte, den Fmpreffionismus, dem wir infolgedeffen verfielen.

Der franzöfifhe Impreſſionismus warf jede feelifche Aeußerung mit zu dem berponten literarifchen Inbalt, den er befämpfte. Er fette das Auge an die Stelle des Herzens, und ihm mar die einzige Aufgabe der Sunft die, die äußere Erfchei- nung der Dinge zu erfaffen und zu begreifen. Dak er fid mit diefer Aufgabe intenfiv befaßte, hatte allerdings auch zweifellos feine guten Seiten. Er wurde zu einer rechten Studienzeit, und die Bereicherung der fünftlerifchen Mittel, die fie ergab, war groß. Die Freude am Sehen, an der Schöpfung, die Achtung vor der unendlichen und unfaßlichen Logik der Natur wurde aufs Aeußerſte gefteigert. Sede bewußte Abmweihung vom Wirklichen wurde als Vermeffenheit empfunden, und die fic) immer höher fteigernde Schöpfungsverehrung hätte wohl jchlieklich direft auf einen religiöfen Inhalt der Kunft hinfteuecn können, wenn nicht dafür im Bolfe die Vorbedingungen eingefchlafen gewefen waren. So wie die Sabe einmal lag, blieb der Ympreffionismus im Allgemeinen eine Sunft, die, in immer größer werdende Abhängigkeit von der Außeren Erfdeinung geratend, von außen nad) innen und nicht bon innen nad) außen arbeitete. Er fonnte keinen Boden im Wolfe finden, konnte ihm feine beftándigen, weiter entwidlungsfähigen Werte bieten, weil er nicht aus der Seele dieſes Volkes hervorgegangen war. Er war um feiner Gelbft willen da. Die Franzofen prägten das Wort Part pour Cart und im Uebrigen wurde er fchließlich nicht mehr als ein Spefulationsobjeft für den internationalen Kunfthandel.

Aus den Prinzipien des Ympreffionismus entiwidelte fid) mit ihm gleichzeitig in Deutfchland der fogenannte Fugendftil in der angewandten Sunft. Er per, langte die Webertragung de3 organifchen Aufbaus in der Natur auf dal tunfte gewerbliche Erzeugnis. Er verlangte, daß eine Vafe, ein Stuhl, ein Ornament fo ausfebe, als fet es „gewachſen“. Man lebnte fich dabei vorwiegend an den Pflanzen- wuchs an und man febte damit an die Stelle des menfdliden den Pflanzen organismus. Der Yugendftil nahm feinen Weg vont Ornament über die Innen«

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arditeftur der Wohnungen zur Aufenarditettur der Häufer und fcheiterte ende gültig, alg er bei diefer angelangt war. Denn in nichts ift das Fehlen ber Beziehungen zur Menfdenfeele fo unmöglich wie bei der menfchlihen Behaufung. Nachdem man daraufhin die Unbeftändigkeit des Jugendſtils erkannt hatte, tam man aber dod) nicht Hinter den wahren Grund feiner Unbaltbarteit und mary ftellte ihm einfach ein anderes Prinzip entgegen: das Prinzip der 3wedform. Man wies darauf Din, daß auch Cifenfonftruftionen, Brüdenbauten, die rein aus dem praftifchen Zived und den Erforderniffen, die das Material an die Konftruftion ftellt, entftanden find, fdon fein können. Man baute Möbel und Häufer rein aus dem Geifte des Materials heraus und fegte damit an die Stelle des menfdliden Geiftes den des Materials.

Als das nun alles nicht auf die Dauer ging, erflarte man den Ympreffionismus für „überwunden” und glaubte das Heil darin erbliden zu müffen, daß man in das genaue Gegenteil umſchlug. Wenn ein Pendel einmal in Bewegung -gefest ift, fo muß e3 notgedrungen bon einem Pol zum entgegengefegten fchlagen, und es fann etiva3 dauern, bis es fid ausgependelt hat. Dieſes betreffende Gegenteil des FImpreffionismus ift der Erpreffionismus, der nur rein bon innen nad) außen arbeiten mill und die Wichtigkeit der äußeren Erfcheinung als Ausdruds- und Verftandigungsmittel ganz verneint. Die Freude am Sehen und an der Schöpfung ift ihm nicht mehr fünftlerifches Motiv. Das Geſchöpf Mienfch will ſelbſtſchöpferiſch und felbftherrlid) Formen für den Ausdrud deffen, was ihn beivegt, erfchaffen. Er will der Beit ihren Ausdrud geben und damit allen Menfchen der gleichen Zeit eine Kunft bieten. Er fann in Amerika und Auftralien oder fonjtivo ebenfo gut zu Haufe fein, wie hier. Er will die Art der Kunft international machen. Aber eine inter= nationale Art gibt e3 nicht. Die Art der Kunft ift an die Art ihres Volkes gebunden und ihr internationaler Wert beftebt in ihrer Ehtheit. Der Wert einer Kunjt muß international fein, nicht aber fann e8 ihre Art und Weife fein. Der Erpreffionismus drüdt eben nicht den Bollscharafter aus, fondern den der Zeit und ift daher auch bejtimmt, mit feiner Zeit zu Grunde zu gehen. Es mögen das auch manche herausgefühlt haben, die nun fagen: Wir find am Ende, und wir müffen überhaupt ganz bon vorne neu anfangen, und man madte Primitivismus und ſchließlich Dadaismus.

Ich wollte, wir waren tatfähhlih am Ende mit all den furglebigen Kunſt⸗ richtungen, mit Klaffizismus, Realismus, Naturalismus, Symbolismus, Impreffios nismus, Kubismus, Futurismus, Erpreffionismus, Primitivismus, Dadaismus und wie fie alle fonft heißen.

Sch wollte, wir waren am Ende mit ihrem Parteigezänt, ihren Superlativen, ihrem unbegründeten Gervaltpatho3, das nötig wird, um fich gegenfeitig zu über- trumpfen, mit ihren äußerlichen Gefdmadsfragen, mit ihren fünftlihen Kunſt— handelswerten, ihrer ungeheuren literariſchen Propaganda, die ſich am Klange ihrer eigenen hochtönenden Worte ſelbſt berauſcht und ihre Ru Theorien fofort wieder umftößt, wenn der Wind wieder anders weht.

3d) wollte, wir waren am Ende mit der Notivendigfeit, immer wieder neu bon borne anfangen zu müffen, und wären fo weit, bab die Kunft wieder auf die Grund- lage des Volkscharakters zu ftehen fame. Der fann gwar mal fchlafen, aber vere gänglich ift er nicht, wie der Zeitcharafter. Auf ihn aufbauend, ift eine Steigerung und Verfeinerung zur Höchftkultur möglich. Aus ihm heraus können ſich Perfonlid- feiten entivideln, die nicht blog darum für Perfönlichkeiten gehalten werden, weil fie irgendivie anders find mie andere, irgendtvie etwas Neues bedeuten, fondern die eher das, was das übrige Volt auch ift, in befonders gefteigerter und abgeflarter Form find und dadurd von wirflicdher Bedeutung für das gefamte Volt werden fonnen. Die unferem Volte feine eigenen, ihm unbewußten Ideale zeigen können, die fie ifm dadurch zum beivußten Befig ſchenken würden.

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Mir tamen auf den Weg zu der erjehnten Volkskunſt zu der Kunſt, die wirklich das ganze Leben zu Durddringen befähigt fein müßte, die, weil ihr unjer eigenes Seelenleben zu Grunde liegt, Dem ganzen Volke ſelbſtver— ftändlich fein müßte und zu deren Genuß und Verſtändnis man nicht erft literarifd erzogen zu werden brauchte. Ich wollte, wir famen bald auf diefen Weg, der unferm Volt feinen flaren Charakter wiederzufinden helfen könnte, der ihm das Berwußtfein von dem geben könnte, was es fein fann, aud) ohne wirtichaft- liche und politifche Erfolge. Der e3 gu der Einficht bringt, daß jeder Einzelne erft felbft etivas flares fein muß, bevor er für andere etwas bedeuten fann, und daß ein Volferftals Volt tlar fein mus, bevores fiir die Welt etwas bedeuten wird.

Aber wir find nod) nicht fo weit, vorläufig wird einem, wenn man von deutſchem Voltstum, deutfder Art fpricht, meift die Frage entgegengehalten: Was it denn das, wie fieht das aus, was foll ich mir darunter vorftellen? Wie fieht überhaupt der deutſche Menſch aus, der ift doch fo verfchiedenartig.

Man ijt fic alfo feines Volfstums nicht mehr genügend bewußt. Aber wenn das aud) nicht der Fall ift, vorhanden ift der deutfche Charakter doch unter der Dede der gleihmachenden Uniform der Zivilifation. Das wird einem leicht far, wenn fid einem Gelegenheit bietet, den Deutfchen mit andern Vóllern zu vergleichen. Yh erinnere mid) aus meiner Kriegamalerzeit in Rußland, dak mir dort unter Ruffer jeder Deutſche, er mochte ausfehen, wie er wollte, unbedingt als Deutfcher auffiel, dem id mid) näher fühlte, der in mir die Vorftellung des Heimatlichen auslofte. Er mußte alfo wohl etwas davon an fic) haben. Wie ich in Pinst war, hieß es einmal, es follte eine deutfche Kellnerin nach Pinst fommen. Das war ein vielbefprochenes Ereignis für die deutfchen Soldaten: Ein deutfdes Mädchen! Und als fie ſchließlich eingetroffen war, lief jeder bin, um fic) das Wunder angufehen. Sie war ganz gewiß feine hervorragende Vertreterin der deutfchen Weiblichkeit, aber für den deutſchen Soldaten war fie ein Gruß aus der Heimat.

Solche Vergleiche find aber nicht nur im Auslande möglich. Yoh erinnere mid) an Kunftausftellungen, auf denen Säle mit deutfchen und ſolche mit auslandifden Werken waren. Da mochten die deutfchen Runjtiverte unter fich nod) fo verfdjieden fein, fie wiefen doch auch genug gemeinfame Symptome auf, die fie von den Aus- ländern unterfdieden. 3. B. der deutſche Impreffionismus fah nicht fo aus, wie der franzöfifche, aber der franzöfifche Einfluß iiberwog die deutfchen Seiten, die aus der vergänglichen Umtleidung hätten herausgefchält werden müffen, wenn fie zu dauernden Werten hätten werden follen. Ich erinnere befonders auc) an die Aus. ftellungen der Schleswig - Holjteiner im Münchener Glaspalaft und an die ber Nordmweftdeutfchen in Berlin und an anderen Orten, daß für einen Befchauer, dem die volfstümliche Seite wertvoll war, es doch auffallen mußte, daß da im Vergleich gu den übrigen Galen ein Gemeinfames in der Furbenauffaffung, in der Art zu fomponieren, felbjt in der Wahl der Motive und überhaupt fic) zu geben mar, das id) eben alg Niederdeutfch empfinde. Ich empfinde da diefelben Symptome, die aud) im Rhythmus, im Klang und Wort der plattdeutichen Sprache liegen, deren fonnige Wärme, deren Farbenreihtum und deren gemütlicher Humor ja auch nicht mehr Allgemeingut ift, aber deren Wert doch vielfach eingefehen und für deren Neu- belebung {don längft kraftvoll eingetreten worden ift. Auf dem Gebiet der Sprade ift das Volkstümliche ja allerdings auch leichter zu paden, man hat da eine greifbare Handhabe. Während auf dem Gebiet der bildenden Kunſt man vielmehr auf das Gefühl für das Volkstümliche angewiefen ift, auf einen gewiffen Inftintt dafür. Wir müffen in uns die Inſtinktſicherheit für das, was uns in der Kunft als Vol! angeht, und das, was mir ung al3 Volt vom Leibe halten müffen, aufiveden. Dazu gehört der Wille von Vielen, den wir zunächſt dadurch betätigen können, daf wir uns mit unferm Bollstum mehr befhäftigen und den Ausörud diefes

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Bollstums da ſuchen, wo er zu finden ift: in der Kunft unferer Vorfahren. Und wir werden ihn in der ung am nächſten liegenden Form bei den Werfen unferer Stammesporfahren in der engeren Heimat finden fonnen. Für mich und meine Landsleute ift diefe engere Heimat Niederdeutjchland, das uns den Ausdrud unferes Volf8tum3 in mehr al3 einer Beziehung erhalten hat.

Wir haben hier unfere herrliche niederdeutfche Badfteingotit in Lübeck, Züneburg, Neubrandenburg, Stralfund, Wismar und fo vielen anderen Orten. Liegt im diefer unferer Gotik nicht der ganze niederdeutſche Menſch? Liegt nicht in den gotiſchen Bürgerhäuſern, im Ausdruck ihrer Fenſter, im ganzen Rhythmus ihres Aufbaus förmlich der Ausdruck des niederdeutſchen Geſichte 8? Gerade ſo gut, wie z. B. im japaniſchen Ornament die charakteriſtiſchen Linien des japaniſchen Geſichtstypus immer wiederkehren und im Aegyptiſchen die des agypti- ſchen Menſchenideals. Liegen nicht alle niederdeutſchen Charaktereigenſchaften darin, wie in einer Handſchrift? Iſt ſie nicht echte Heimatkunſt, die nirgendwo anders ſtehen fann al8 hier in unſerer Landſchaft, unter unferm Himmel? Und find nicht die gotifchen Dome al3 Ausdrud der Himmelsſehnſucht der Volt3feele gebaut, in dem ficheren Bewußtfein, damit bleibende Werte zu jchaffen? Hätte man fic) andernfalls überhaupt entjchließen können zu einem folchen Werf, beffen Bollendung die Erbauer in vielen Fällen gar nicht erleben konnten und aud nicht vorausfegen konnten, fie zu erleben? Wir bauen nur, wenn wir twiffen, daf wirfelber bald etwas davon haben, und was dabei herausfommt, bringt deshalb dem Volke, das doch nicht nur mit ung, fondern auch n a ch ung lebt, feine Wärme und feine dauernden Werte. Klebt nicht an unfern heutigen Bauten, mögen fie nod) fo ftattlich fein, der Efel an der Arbeit, Stundenlohnfragen und Gleichgültigfeit gegen den Sinn der Arbeit, und fpricht nicht dagegen jeder Stein, der an einem gotiihen Dom aufgefhichtet ift, von Schaffensfreude, von dem kühnen Berwußtfein der Mitarbeit an einem großen Wert? Die Shaffensfreude war einem damals mehr, al3 der Befit des Werkes, das erft die Nadfommen ganz zu befigen beftimmt waren. Man arbeitete eben nihtnurfürfih und feine Zeit.

Wir haben unfere niederdeutfchen holzgeſchnitzten Altáre, die voller Offene Harungen über unfer Volkstum find. Und die Holgftulptur ift aud unfere eigent- fide bodenftändige Skulptur, nicht der Stein, der ift bei uns zu felten. Man vergleiche unfere Schnigaltäre mit den Altáren der Staliener, und e8 muß uns fofort der darin liegende Kunftiville al8 der unferes Volkes, als unfer eigener auf- geben, und uns den Schlüffel zu der reichen Tiefe und Schönheit diefer Werke geben.

Wir haben unfere Bauernhausarditettur in ihrer felbftficheren Breite, ihrer Farbenfreudigkeit und inneren Wärme, mit ihrem Pefel oder ihrer Dón3, worin Bauernftolz und Sonntagsfriede fic) vereinigen, mit all ihrem Drum-und-Dran, mit Schränken, Truben, Defen, Wandfadeln, Kiffen, Stühlen, Bánten und Haus- gerät. Wir haben teilweife nod) unfere Bauerntradten. Alles unzmweideutiger Ausdrud des niederdeutfchen Menfchen.

Wir haben in den Hanfeftadten die Kaufmannshäufer aus der Hanfezeit mit thren Dielen und haben taufend andere Zeugen unferes niederdeutfden Volt3= charakters.

Und wenn wir dieſen Beſitz an Kunſtwerken, den wir noch haben, nicht nur auf ſeine dekorative Schönheit hin betrachten, wenn wir uns den Sinn und das Weſen vorzuſtellen ſuchen, aus dem heraus ſie entſtanden ſind, ſo werden wir unſer eigenſtes, tiefftes Empfinden darin wiederfinden.

Wir werden herausfühlen, daß für die Menſchen, die dieſe Werke ſchufen, die— ſelben Menſchenideale maßgebend geweſen find, die im Grunde aud) für uns als Bolt in Betracht fommen, und dak auch für fie diefelben Farben und Linien der Heimatliden Landfchaft beftimmend gewirkt haben, in die auch mir bineingeboren

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find und die wir als unfere Heimat lieben. Wir werden herausfiiblen, daß unfere Liebe nicht den Zeiterfcheinungen gilt, fondern unferm Stanım und unferer Heimat und daß diefe Liebe and nur der Grund zur Runftausibung fein fann. Sm Zeitausdrud liegt die Lbergánglide, im Ausdrud des Vol ls- tums die dauernd wertvolle Seite der Kunft. Arthur Fillies.

Die deutfche DBolfsgemeinfchaft und das Deutfchtum „im Auslande“.

Di der Begriff des Greng- und Auslandsdeutfchtums und die Gonderarbeit für beides eine foldhe Bedeutung im deutfchen Leben erlangt hat, ift Ausdrud und Kennzeichen für gewiſſe befondere Schwierigkeiten in der deutichen Volksge— meinfdaft. Man dente fid) einen Verein für das Englandertum im Ausland und man wird den ganzen wichtigen Unterfdied zwifchen dem deutfchen und anderen Völkern empfinden. Wir tiffen diefen Unterfchied gejhichtlich, geographiſch, ent- widlungsmäßig zu begründen, wir wiſſen, daß die übrigen europaifden Rultur- bólter ihr modernes völkifches Selbftbervußtfein zugleich mit gefchloffenen Volks— ftaaten oder auf der Grundlage eigenen ftaatlichen Lebens herausbildeten und daß das deutfche Volt das Bewußtſein feiner völfifhen Sonberart in einer Zeit empfing, in der es ftaatlich zeriplittert war. Go wurde die Vollsgemeinfchaft, die den anderen ein gefchichtlicher, ein im Staate verivirtlidter Be Í i 8 war, dem deutfden Volke ein Kdeal. Nicht fo fehr aus der Wirklichkeit ftaatliden und geſchichtlichen Lebens, als vielmehr aus der Sehnfucht nad ſtaatlichem Ausdruck einer Sprach⸗ und Kulturgemeinfchaft ift das deutfde Staatsideal hervorgewachſen.

Zwei Tatjadjen müffen wir fejthalten, um die Schwierigkeiten unferes natio- nalen Selbitbeivußtfeing, die fid) auch in der Bedeutung des Grenz- und Auslands«- deutſchtums fpiegeln, ganz zu veritehen: erſtens das Ideal vom deutſchen Volks— ſtaat, das 1813 aufleuchtete, wurde nie verwirklicht, und zweitens: ein Teil des deutſchen Volkes gla ubte es zwiſchen 1870 und 1914 fomeit „verwirklicht“, daß er im Streben nad jenem Spealerlahmte.

„Verwirklicht“ war das deal vom Volt3ftaate deshalb nicht, weil der Staat bon 1870, abgejehen von den inneren Zerklüftungen, auch äußerlich weitaus nicht das ganze deutfche Volt einte. Das gefchloffene Sprachgebiet blieb zerriffen durch die öfterreichifeh-ungarifche Grenze, und mehrere Millionen Deutfde in Ungarn, Rußland und Ueberfee wurden von dem Reiche, das „zur Wohlfahrt des deutfchen Volles” gegründet war, namentlich in der Nach-Bismardihen Zeit aus Gründen der äußeren Politik fo gut wie garnicht betreut. Daß die ftaatliche Trennung blieb, var nicht die Schuld Reichsdeutſchlands, fondern der mweltpolitifchen Lage. Dak aber die ftaatlihen Grenzen zu geiftig-feelifden Trennungslinien wurden, das ift die Schuld einer eigentümlich reichsdeutfchen (nicht gefamtdeutfchen) Jdeologie feit 1870.

Diefe Doeologie, die wir in den Werfen der preußifchen Hiftorifer bis Meinede und nod) den ganzen Weltkrieg hindurch vertreten finden, [est den Staat dem Volte voran. Enger ald Volfsgenoffe mit dem Vollsgenoſſen iſt der Staatsbürger mit dem Staatsbürger verbunden, und gehörte dieſer ſelbſt einer fremden Volksgemeinſchaft an. Die Unnatur diefer Anfchauungsiveife, die fid) bei feinem Volte außer bei dem deutfchen findet, wurde überdedt durch die Unterfcheidung zwiſchen „Staatönation“ und ,Rulturnation”. Damit tourde aus der deutichen ftaatliden Not eine Tugend gemadt und der deutichen Volt3zerfplitterung die Weihe erteilt. Befondere Nahrung

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erhielt diefe aus wertvollen, aber einfeitig feftgebaltenen preußifchen Ueberlieferungen ertvachfene Ideologie durd) das fogenannte Bündnis mit der Donaumonardie.

Diefes Bündnis und die mechanifch ftarre Auffaffung, die fich durchaus zu Unrecht auf Bismard berief, ift ungemein fenngeidnend für das reichsdeutſche Staatsdenfen nad) 1870. Wie man das eigene Volk fic) von der übertwältigenden Wirklichkeit eines tleinen deutfden Reiches verdeden liek, fo fab man hinter der Häglich dichtgehaltenen Wand des Biindniffes nicht die Gegenfäglichkeit der öfter- reihifhen und ungarifhen Volter. Man war mit einem fagenhaften kk. ofter- reichiſchen oder f. und k. öfterreichifch-ungarifchen Volte verbündet und brachte die unangenehmen Mahnungen eines noch immer nicht ganz erftorbenen Volfsgewiffens mit der bequemen Pflicht der „Nicht-Einmifchung” zum Schweigen.

Der Zufammenbrud) des deutfchen Reiches und der Zerfall der Donaumonardie haben diefe volt3blinde Staatsideologie, die uns bei allen ihren gefdidtliden Ver- dienten im Weltkrieg ſchwer gefchadet hat, in ihrer ganzen Weltfremdheit enthüllt. Doppelt madtooll tritt im Zufammenbrucd der Staaten und ihrer äußeren Madbt= mittel die Bollsgemeinfhaft hervor. Ihre Kräfte vor allem müffen uns retten, und diefe Kräfte zu fammeln und zu pflegen ift eine heilige Pflicht, an deren Erfüllung alle Deutfden ohne Unterfchied der Partei und des Stammes mitzu- wirfen berufen find. I

Einmal gilt e3, diefe Vollsgemeinfhaft von innen zu fráftigen und zu tláren. Diefe unendliche Aufgabe bliebe aber ohne feite Grundlage, wenn nicht gleichzeitig mit allen Mitteln daran gearbeitet würde, alle Kräfte der Volksgemeinſchaft äußerlich zu fammeln und zu organifieren. Diefe ziveite Aufgabe: Aeußere Zufammenfaffung der zerjtreuten und aneinander vorbeitvirfenden Teile der Volksgemeinſchaft, üt die große Aufgabe, an der der Deutfde Schugbund mitwirken will. Das Ziel feiner und aller vertvandten Arbeit ift: Mit ungehemmter Kraft foll der Gedanke der Volksgemeinſchaft hervortreten al3 eine geiftige Kraft, die über die materiellen Trennungen und Hemmungen durch ftaatliche Grengpfable und wirtſchaftlichen Zwang fiegen muß, wenn mir alg Volt uns erhalten follen.

Daz ftártite Hemmnis der heutigen Einheit find die ungeheuren materiellen Verfchiedenheiten in der Lage der einzelnen Teile der Volksgemeinſchaft. Die Mannigfaltigteit ift fo groß, daß nicht einmal eine Einteilung in flargefonderte Gruppen möglich wird. Schon die Einteilung in Binnendeutfhtum, Grenzland- deutfchtum und Auslanddeutfchtum üt miflid.

Redht eigentlich al3 Grenzlanddeutfhtum gelten ung jene Gebiete, die gegen ihren Willen gewaltfam vom Reiche abgetrennt worden find: die zu Polen geihlagenen und die im Weiten abgeriffenen Teile, die erfte Zone in Schleswig, ſoweit fie vorwiegend deutfch geftimmt hat, Eupen, Malmedy, Monfdjau, die gegen den Friedensvertrag abgetrennt wurden, das Hultichinerland und endlich Elfaß- Lothringen, dem die freie Selbftbeftimmung veriwehrt wird. Dazu fommen als Grenggebiete jene Teile Deutfh-Defterreichs, die gewaltfam und gegen ihren Willen Staaten mit fremder Mehrheit einverleibt worden find: das Deutfchtum in der Tſchecho⸗Slowakei, Deutih-Südtirol, die Deutſchen an der füdlichen Alpengrenze, die in den ſüdſlawiſchen Staat geziwungen worden find. Und endlich in getviffent Sinne Deutfch-Defterreich, das wider feinen Willen an dem Zufammenfchluß mit Deutfchland verhindert und dadurd in feiner völfifchen Selbftentfaltung aufs Schwerfte gehemmt ift. Hier wachfen ich denn auch am deutlichften die rein fulturellen Forderungen des Schuges der Volksgemeinſchaft aus zu einem ausge- ſprochen politifchen Ziele, dem großdeutfchen: wir haben ala Deutfche, wo immer wir leben, die Heilige Pflicht, dafür einzutreten, dak alle Deutfchen, bie im ge- ſchloſſenen Sprachgebiete wohnen und zufammengehören wollen, nicht nur tulturell fondern aud) ftaatlid) eins fein dürfen.

Bom gefdloffenen Sprachgebiete räumlich getrennt und unferer geiftigen Für-

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forge doppelt bedürftig find die Deutichen in den Spradinfeln und in den Kolonien. Hier handelt e3 ſich zunächſt um die alten gefchloffenen Gpradinfeln wie Iglau, Brünn, Olmüs, Budweis, den Schönhengftgau, die Deutfchen in der Zips, bie Deutfchen im Baltitum und in Siebenbürgen. Ferner um die jüngeren Bauern- folonien in Polen, Rußland, Südflawien, im Banat, in Südamerika, ferner um die fleinen Kolonien von Reichsdeutſchen, Deutfch z Defterreihern und Deutfch- Schweizern im Ausland, bie meift vertrieben tworden find. An diefer Stelle ift auch befonber3 der Neich&deutichen im Ausland zu gedenken, die gwar nur etwa eine Million gegenüber den dreikig Millionen Nichtreichsdeutfcher im Ausland betragen, die aber für unfere Aufgaben wegen ihres lebhaften Zufammenhanges mit dem Reiche eine gewaltige Bedeutung haben. Sie find in erjter Reihe berufen, nach ihrer Vertreibung aus ihrer Tätigkeit im Ausland dahin wieder als Pioniere der deutfchen Kulturgemeinfchaft zu gehen.

Diefer Gefamtheit des Auslanddeutfchtums in allen feinen verfchiedenen Des ftalten muß das Binnendeutihtum mit den Mitteln feines geficherten völfifchen Daſeins dienen und helfen nad) allen Kräften. Alle diefe Mittel aber: Erhaltung von deutfden Schulen und Kindergarten, Unterftügung von deutfchen Zeitungen und Beitfchriften, Aufbau eines deutfchen Rachrichten- und Preffedienftes, Vortrag3= und Lidjtbildwefen, Buchhandel und Büchereitvefen, Reife- und Austaufchverfehr, laritative Arbeit, Siedlungstätigfeit, Vermittlung von deutfden Kaufleuten, Yrge- nieuren, Lehrern uf. dürfen nie zum Selbitzwed werden, fondern miiffen fic) alle planmäßig al3 Mittel jenem großen Gedanken der geiftig feelifhen Volksgemeinſchaft unterordnen. Diefe Arbeit muß immer mit dem Grundfage geleiftet werden: Für die Deutfchen draußen ift gerade das Befte gut genug. Maffen- und Schablonen» arbeit würde hier mehr ſchaden als nüten, nichts darf aufgedrängt, nicht8 macherifch und eilfertig diftiert, alles muß mit guter Einftellung auf die Pfychologie der draußen lebenden Volt3genoffen geivertet und gewählt werden. Yeder, der in diefer Arbeit fteht, muß fich defjen bewußt fein, dak irgendein Spezialiftentum auf diefem Gebiete nicht das Höchſte leiften fann, bab vielmehr feine höchſte Aufgabe ift: mur Pionier gu fein und möglichit viel Nachfolgefchaft zu erzeugen. Denn was der Berufsarbeiter auf diefem Gebiete leiftet, foll jeder Deutfche von feiner Stelle aus und in feinem alltäglichen Berufsleben tun: es fol fic) zu einer Funktion der ganzen Bollsgemeinfhaft auswadfen. Verbindung ziwifchen draußen und drinnen zu halten: diefe Aufgabe fördert ober hemmt, bewußt oder unbewußt, jeder deutfche Arbeiter, Kaufmann, Gelehrte, Lehrer, Yngenieur, der die Staatsgrenzen über- {reitet oder über fie irgendwie hinauswirkt. Das höchfte Biel des Beruf8arbeiters auf diefem Gebiete muß fein: überflüfftg zu werden.

Auf der anderen Seite haben die Grenz» und Auslanddeutichen gegenüber den Binnendeutfchen und gegenüber fic) felbft -befondere Pflichten. Vielfach hat das Auslandsdeutichtum, bor der überhitzten Fapitaliftifchen Entwidlung Reichsdeutfch- lands bebiitet, ältere deutſche Sulturiverte beivabrt, die dem Binnendeutibtum ente ſchwunden find. Bor allem ift bet den Grenzdeutichen der Gedanke der Bolfs- gemeinschaft lebendiger und nicht von dem Staat3gedanten fo unnatürlich über- wuchert, wie beim Durchfchnittsreichsdeutfchen. Die parteilofe nationale Gefinnung, die den Begriff des „Nationalen” nicht mit allerlei Parteimäßigem belaftet, ift im Grenz und Auslandsdeutfdtum wirkſamer als in Neichdeutfchland. Dem Reichsdeutfchen fehlt das Erlebnis der ftaatlich nicht geftügten Volksgemeinſchaft und der Volksgrenze. Dal bedeutet: einmal ftárteres Bewußtſein der eignen Kultur und BVolfsart, zum zweiten: befjeres pfychologifches Berftindni3, größere Fähigkeit des Einfühlens in fremde Volter. Mit all diefen feinen bejonderen Werten und Beligtümern fann der Grenz. und Auslandsdeutiche zum Erzieher des Reichsdeut- {chen werden. Hier liegen feine befonderen Pflichten: die eigenen Werte des Grenge landdeutſchtums befonder8 auszubilden, fic) vor innerer Zerflüftung der Volls-

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gemeinfchaft ftrenger zu hüten als der Binnendeutfche und getviffermaßen ein Forum gu bilden, das den Binnendeutidjen zwingt, von der allzukfeinlichen Bejchäftigung mit inneren Streitigteiten hinmwegzufehen auf die großen Nöte der Gefamtheit, die bon den Grengen hereindringen. So find innere Einigung und äußere Sammlung der VolkSgemeinfdaft aufs engfte verbunden. Wud das Auslandsdeutfchtum hat in der Zeit zwifchen 1870 und 1914 viel in diefer Hinficht gefehlt: Es hat nicht ftart genug feine Eigenart und feine Forderungen gegenüber dem Binnendeutfch- tum geltend gemacht, vor allem, weil feine einzelnen Teile nicht genug Zufammen- Hang fanden, fid) gegenfeitig nicht fannten und daher nicht befräftigen konnten. Sehr wichtig ift alfo auch der Zufammenhang der einzelnen Teile des Auslands- deutſchtums untereinander, den der Schugbund zu fördern fich beftrebt.

Jn einer Richtung tut gemäß der Weltlage diefe gegenfeitige Erziehung zur Bollsgemeinfchaft und zur Sammlung ihrer Kräfte befonders not: in der Richtung auf eine fejte gielgeredte Wirtfhaftsgefinnung. Auf keinem Gebiete hat der Mangel völkiſchen Gemeinfchaftsbewußtfeins mehr verwüftet, als auf dem des Wirtfchaftslebens. Die ungeheuren Wirtſchaftskräfte Reichsdeutſchlands find zwiſchen 1870 und 1914 in der Hauptfache nad) der Richtung der größten und fchnelliten Profite gelenkt tuorden, nicht wie die englifchen zugleich nad) einem Plane, der ſich bor allem auf die Dötarbeiterfchaft der Volfsgenoffen ftügt. Freilid) war vor dem Kriege diefe Mitarbeiterfchaft weniger leicht zugänglich als jegt. Gerade jet aber muß e3 fid aud) dem Blinden eriweifen, daß eine großzügige twirtfchaftliche Zu— fammenarbeit, die fic) auf die Volksgemeinſchaft und ihre Außenpoften ftitgt, nicht nur der Gefamtheit, fondern auch) dem Einzelvorteile größere Dienfte leiftet alg der Kleine fchnelle Profit, der etroa gegen die Vollsgemeinjchaft erreicht wird. Gerade das Deutfchtum mit feinen vielen geographifch ungemein günftig verteilten Außen» poften gewinnt wirtfchaftlih in feiner gegenwärtigen Lage einen nicht geringen Machtzumachs, wenn e3 planmäßig die aus der Gefinnung fommende, faft überall freiwillig gewährte Helferfchaft der Auslandsdeutfchen wirkfam macht. ES gehört mit gu den traurigften Zügen im Bilde des deutfchen Zufammenbruchs: diefe eigen- tümlich doltrináre, manchmal geradezu unverftändliche Verftindni8lofigteit der deut- [den Wirtfchaftsführer gegenüber jenen wirtfchaftlichen Möglichkeiten, die mit großen Teilen des Auslandsdeutfchtums und mit deren Erhaltung aufs Innigſte verfnüpft find. Nicht nur unfere Gegner, vor allem die Tſchechen und Polen, die von der MWirtfchaft aus fic) ihre politifche und ftaatliche Unabhängigkeit gefdaffen haben, aud) deutſche Volt3genoffen, wie die Siebenbiirger Gachfen, die feit Jahrzehnten ihre erſtaunliche Kulturrüftung duch völfifch gerichtete wirtfchaftliche Arbeit er- halten, fónnen ung vorbildlich fein.

Gerade im Südoften und Often gehen die Vebensnotivendigfeiten des Auslanda- deutfchtums aufs engfte mit den reich&deutfchen Wirtfchaftsaufgaben zufammen und, wenn bisher in der Schußarbeit die Wirtfchaftsführer im Gegenfage zu uns feind- ligen Völkern faft ganz gefehlt haben, fo tut Hier in erfter Reihe eine Aenderung not. Wenn nicht ein neuer völkiſch gerichteter Wirtfchaftsgeift die mirtfchaftlich Starken und Verantwortlichen im Binnendeutfchtum erfaßt, wenn nicht bei ihnen eine beffere Kenntnis der mit dem Augslandsdeutfchtum verbundenen Wirtfchafts- möglichkeiten durchgreift, wenn nicht die Wirtfchaftsnotwendigkeiten der Auslands- deutfchen vom Reiche aus planmáfig nicht zum Nachteil der reidsdeutfden Wirtſchaft gefördert werden, wenn nicht zu den politifchen Führern und Kultur- arbeitern Wirtfchaftsführer reiner und treuer Gefinnung treten, dann find meite Teile des Auslandsdeutfhtums, vor allem die für ben großdeutfchen Gedanken tichtigíten im Südoften, in Deutſch-Oeſterreich und in der Tſchechoſſowakei aufs Schwerſte gefährdet. Auf feinem Gebiete tut fo dringend das Weberfchreiten der Heinen Nütlichleitsgrenze, das weitere Schauen über den nächften Vorteil hinaus,

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die Hingabe an den Gefantvorteil fo fehr not, wie in der mit dem Auslandsdeutfch- tum verbundenen Wirtfhaftsarbeit.

Damit ift ungefähr ein Kreis befdrieben um das ungeheuere Gebiet, das die im Deutfchen Schugbund vereinigten Vereine und Verbände bearbeiten vollen. Sie tónnen ihr Biel ungefähr fo bezeichnen:

Erſtens: Wir fordern die ftaatlihe Zufammenfaffung aller Teile des ges ſchloſſenen Sprachgebietes, die diefe Zufammenfaffung jelbft wiinfden, alfo ein ganzes Deutfchland, ein Großdeutfchland im Gegenfage zu dem durch den Getwalt- frieden erzwungenen Rumpfdeutichland.

Zweitens: Wir erftreben darüber hinaus eine Erneuerung des gefamten deutfchen Volfes als einer nicht nur innerlich ausgeglichenen, fondern in allen feinen geo— graphifch und politifch getrennten Teilen geiftig-feelifch verbundenen Gemeinjchaft.

Drittens: Diefe äußere Gemeinfdaft aller Teile des Deutſchtums in der Welt wollen wir nicht autoritativ im ftaatlichen Sinne bon einem Mittelpuntte aus fördern, fondern auf der Grundlage der Selbftentfaltung und Selb ft- beftimmung aller einzelnen Glieder. Die materiellen Trennungen und Heme mungen durd) ftaatliche Grenzen und wirtfdaftliden Zwang müffen überwunden werden durch den Gedanken der lebendigen, organifch gegliederten, nicht fo fehr auf ftaatliche Einrichtungen wie auf völkiſche Selbithilfe gegründeten Volksgemeinſchaft.

Hermann Ullmann.

Worte rines Dramatifers an die Schaufpieler.

enn id auch nie den Trieb gehabt habe, mich irgendivie fchaufpielerifch zu betätigen, fo darf ich doch wohl, zumal al3 einer, der in feinen Dramen Menschen auf die Beine ftellt, fagen, wie ich mir die Darftellung dente. Alfo gunadft bie Darftellung meiner Dramen. Denn ohne dak ein Schriftfteller ein mehr oder minder genaues Bild des Auftretens, Sprechens und Handelns der Menfden feiner Dramen vor feinem inneren Auge hat, ware der Schriftiteller wohl kein Dra- matifer. Das befagt nicht, daß der Schaufpieler, den ich zu den felbjtandig {Haffenden Künftlern zähle, einfach beim Dichter hören gehn folle, oder fic) von ihm vorfpielen laſſen folle, ich meine überhaupt nichts „Spezielles“, feine befonderen Szenenangaben, id) meine etwas ganz Allgemeines. Ich meine den geiftig- feelifhen Kontakt, den der Schaufpieler mit dem Dichter haben muß, ehe er an die Ausgeftaltung der einzelnen Rolle herangeht.

IH fpreche Hier vom dihterifhen Werk, vom Werk, das ethifd) oder weltanfchauungsmäßig etwas will, das bor allem auch in der Sprache individuell geftaltet ift. Id habe gefunden, dies lebtere, die individuelle Sprache, ift immer der Schlüffel, der das Werk erfchließt. Die Schaufpielerfunft ift, wie die andern Künfte, voriviegend geiftiger Natur, das Dichteriert ift geiftiger Art, hat im Geiftigen Wurzel und ftrebt zu einer Geiftigfeit, will ein Ethos, eine Liebe oder eine Schönheit oder eine Weisheit verkünden. Wo ift das beim Drama erfaßbar? Jn den Worten des Dichters. ES ift bewußt, nicht aus Unvermögen oder aus Un- Harheit der Unfdauung, auch nicht aus Unflarheit der Bühnenbilder oder aus unflarer Vorjtellung der Handlung gefchehen, daß ich in meinen Dramen wenig oder faft garfeine Regiebemertungen gebe. ES ift gefchehen, weil ich die Regiebemer- kungen im Wefentlichen nicht für nötig hielt, da ich annehine, aus den Worten muß ſchon alles far werden, muß hervorgehen Geftus, Gebärde und dergleichen. Damit erreiche ich zugleich, dak ich den Spielleiter und den Schaufpieler garnicht einenge, fondern ihm größten Spielraum laffe. Denn, um das einmal ganz far auszusprechen: es ift ja das Wefen des Dramas mit, daß eine Rolle nicht nur

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auf eine Weife gefpielt und-von einem Schaufpieler gemimt „richtig“ ut, fondern daß fie auf viele Weife gefpielt richtig fein fann ja, nach der Art und Eigenheit der verfchiedenen Schaufpieler verfchieden fein muf. Nur tt eine Vorausfegung: daß der Schaufpieler ein Künftler fei und daß fein Spiel dem Geifte ber Dichtung und des Dichters nicht mwiderfpreche.

So fommen wir auf den Urfprung und Keim zurüd, bon dem aus der Sau: fpieler feine Rolle in Angriff nehmen muß, und das ift der Geift der Dichtung.

Was Heikt nun der ,,Geift der Dichtung”? Es tft mebreres, das ſich aber zu einem fügt: es ift der ethifde oder religiöfe oder philofophifche Glaube, auf dem der betreffende Dichter fic) gründet, und es ift anderfeits die Yndividualitat der Sprade! Jeder Dichter hat feine individuelle Sprade. Es gibt fein Normal- deutſch, das alle Deutſchen ſprechen. Es gibt für mande Berufe, ¿. BD. den des Kaufmanns, des Wiffenfchaftlers, fo etwas ähnliches wie ein Normaldeutich, in weldem fic) beftimmte Handlungen und Tätigkeiten oder Vorftellungen, eben des Kaufmanns oder des Wiffenfchaftlers, ausdrüden, aber im Dihterifhen kann man nicht fagen, dies und died Dichterwerk fei „in deutſcher Sprache gefdrieben”. Man fann nur jagen, es ift in der Sprache diefes beftimmten Dichters gefchrieben, Goethes Dramen find in Goethes Sprache gefchrieben, Kleiſts Dramen in der Kleifts und fo bei Hebbel, Grillparger ufo. Und ebenfo muß ich fagen, meine Dramen feien in meiner Sprache gefdrieben. Jedes Dichters Sprache ift nun freilich von jedem Deutfchen, der lejen lernte, zu verftehen aber eben, Sndividualfprache bleibt fie dod. Sie fann nicht nadgeahmt werden, fie wirkt auf jeden empfindfamen Geift als Organismus und Individuum. ch erlebe jede Sprache eines eigeniwilligen Dichters als ein neues felbjtändiges Wefen, das eine ganz beſtimmte feelifche Atmofphäre um fic) herum verbreitet.

Die Sprache nun, als geiftiger Atem, (Sprache ift das Geiftigfte, was ich tenne, und dabei doch zugleich ein vor allem finnlich Wahrnehmbares) Sprache, fage id, ift nun beim Dichter, vor allem beim Dramatifer das Medium, dur d weldes der Gehalt, Inhalt (oder wie man fagen will) zum Ausdrud, zur Erſcheinung“ tommt. Das muß aber recht veritanden werden. Beim echten Dichter ift e8 fo, dak Inhalt und Sprache eine unlösbare Einheit find. Der Gehalt feines Werks, die Handlung, der Verlauf der Akte find im echten Dichtwerf nur inforeit da, als e3 dem Dichter gelungen ift, in den Worten alles far auszudrüden. Wo e8 nicht gelungen ift, werden auch ausführliche Regiebemertungen wenig helfen oder ein Notbehelf fein; mo die Sprache des Dichters, die Worte feiner Perfonen, das Gefchehen Har ausdrüden, tónnen die Regiebemertungen zum großen Teil fehlen, da Spielleiter und Schaufpieler wiffen werden, was [08 ift und was gefchieht.

Das klingt neu, wird aber einmal Gemeingut fein. Yo) meine es fehr ernfte Haft, bin mir freilich auch der anfänglichen Schwierigkeiten bewußt, die daraus herborgehen.

Aber e3 möge fic) niemand abfchreden laffen. Die Schwierigkeiten find wirklich nur anfánglid. Meine Sprache ift eS gunadft, die neu anmutet. Sie aber muß berftanden werden und fann berftanden werden aus dem Geiſt der Dichtung, möglichft muß daher jeder Darfteller das ganze Stüd lefen und fehen, was ich will: ſprachlich⸗rhythmiſch bin ich gu einer Sprache gefommen, die man alg „freien Rhythmus” bezeichnet, die ich felber Lieber alg eine Sprache mit innerem Rhythmus bezeichnen möchte. Eine rhythmifdhe Sprache, aber eigentlich nicht „Verſe“, was man fonft darunter verfteht. Hier möchte ich anfügen, daß ich den üblichen Unterfchied ziwifchen Vers und Profa nicht mehr mache, daß ich nur noch Sprache fenne, die dichterifch-hythmifch ift oder das nicht ijt. Diefe Sprache bei mir werden Sie am beiten bewältigen, wenn Sie fie mit feiner Sprache vergleichen, ti Sie ganz einfach fic) in fie hinein lefen, fic) von den Worten felbft tragen

en.

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Dann aber: id) will ethifeh und religiös etwas in biefem meinem Vert. Die Vermenfhlihung des Menfden will ich zeigen; ich telle Geift gegen Materie, Liebe gegen Hak, Innentraft gegen Aufentraft. Dies alles muß gefehen werden: Gegen jene Stärke, die in Aufenbdingen fich fund tut, ftelle ich eine Kraft (aber ich betone, es ift Kraft, nicht Wafchlappigfeit), welche, aus den Jnnen= tráften des Dtenfden hervorbrechend, ftärker ift als irgendeine Kampfkraft, die von außen ftoBt.

.Noch ein Wort über das, mas ich meine Lehre bon der „Sefühlsftala der Morte” nennen möchte.

Der Schaufpieler ift leicht geneigt, mit einem beftimmten Worte einen gervifjen GSefühlswert, einen Sprechtonivert zu verbinden. Nehmen wir das Wort: Mutter, Geliebte, Schmerz, Frühling, Schönheit oder mas immer der Schaufpieler neigt, fage ich, dazu, wenn dies Wort in einer Zeile tommt, e8 mit dem Gefühlswert oder Sprachtonwert oder mit der Spraftonivárme zu fagen, wie er e8 gewohnt ift. Er fommt damit leicht zu einer ftereotypen, immer gleidbleibenden Behand- lung der Gefühlstöne und der Tonwarme bei den einzelnen Worten.

Aber jedes Wort fteht nie zweimal an derfelben Stelle, jedes Wort fteht immer an einer andern Stelle, jedes Wort hat nie den ganz gleichen Gefithlswert mie in einer andern Verbindung, jedes Wort fann und darf alfo im Grunde nie gleió gefprochen werden, fondern muß immer anders gefprochen werden. Sie müffen ntir diefe Uebertreibung ſchon einmal geftatten, da fie der Klarheit dient. Das Wort Geliebte, ba8 Wort Frühling, Mutter oder was es fet fann die ganze Skala der Gefühle burchmadjen in den Hunderten von Fallen, in denen e3 ftehen kann. Bon der größten Seligteit an bis zur hoffnungslofeften Trauer oder Schwermut. Darum bleibt nur, den Gefühlswert des Wortes an dieſer Stelle, den Sprech— ton, die Wärme oder Kälte des Sprechens immer neu aus diefer Zeile, dem Geift der Dichtung und Rolle, zu ertaften. Bei jedem Werk, da8 ich ſchreibe, ftehe ich wie bor dem Nichts. Als gäbe es auf Gottes weiter Welt feine Dichtung, auch bon mir nicht. So nur bin ich ficher, mein Werk echt zu machen. Ich meine, fo müßte jeder Künftler fchaffen, und nicht zulegt der Schaufpieler. Er follte, wenn er an die Geftaltung einer Rolle geht, daftehn, als wenn er zum erjten Male eine Rolle geftaltete; daß er in der Tat fon viele Rollen gejtaltet hat, diefer Umftand wird ihm, wenn er fein Bervuftfein davon ausfchaltet, vielmehr zuftatten fommen, al3 wenn er das nicht tut. Die Originalität der neuen Rolle wird da- durch am ebejten fichergeftellt fein.

Das neue Drama jagt zumeift nicht dem Phantom des Naturalismus nad). Naturalismus als ein Stiid Natur genommen, das allenfall3 durch ein dichterifches Temperament gefehen fei. Es gibt einzelne Werke, die man zum Naturalismus rechnet und die dDennod) große dramatifde Leiftungen find, dort muß der Scyaufpieler natürlih auch Naturalift fein, muß möglichſt lebenggetreu erfcheinen im Spiel. Aber fonft hat der Schaufpieler in den meiften neuen Dramen, in den guten Dramen, eine erjtaunliche Berwegungsfreiheit, die ihm geftattet, große, ja überlebensgroße Dinge zur Erfcheinung zu bringen Größe verfchiedener Art, Größe im Leid oder Schmerz, in einfachen Lagen, in den verwideltiten Gefühlen und Umständen. Nad) dem Ausmaße feiner Kraft wird er die Gefühle, die ber Dichter feine Perfonen ausſprechen läßt, zum Ausdrud bringen, mie etiva ein Maler oder Bildhauer die Gefchöpfe feiner Phantafie in bisher nicht gefehener Fülle oder Schonheit zeigt. Kurz, das Feld des Schaufpielers hat große Ausdehnungsmöglich- teiten. Und bedarf wie jedes Kunftgebiet der [höpferifhen Bhantafie.

Ich führte den Dichter auf die Sprache zurüd und fagte, er fet in allererfter Linie Spradtinftler. Dementfprechend möchte id) auch den Schaufpieler in allererfter Linie alg Sprechtünftler bezeichnen. Ob ich damit Fhren Beifall habe, das weiß ih nicht. Aber ich fann nicht anders, al8 meine Weberzeugung auge

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fpredjen. Geht der Schaufpieler bon der Sprache des Dichterd aus, und er muß das, und ift der Dichter Sprachlünftler (ich fege das voraus), fo kommt e8 ganz bejonders darauf mit an, daß Geift und Rhythmus der Sprache des Dichters voll zur Geltung fommen. ES gilt aud) bier einen manchmal noch zutage tretenden falfhen Naturalismus zu vermeiden. Didterifdhe Sprache, wie ich fie hier im Auge habe, muß gut gefprochen werden, im richtigen, d. h. gerade diefem Dichter gemäßen Rhythmus und in den Betonungsfurven dem Gehalt oder Anhalt gemäß, fo daß id) fagen möchte, gut gefproden fei: eine Rolle halb gefpielt.

Bum Schluß möchte ich noch etwas Wefentliches ausfpredjen, was fon oft gefagt worden ift, aber was man vielleicht ruhig öfter ausfprechen darf: in guten Dramen, dichterifchen Dramen, alfo in folcden, auf die man das Ehrenwort ,,Orga- nismus” antwenden darf, gibt es feine Haupt- und Nebenrollen. Es gibt da nur längere und kürzere Rollen. Yede Rolle aber ift vom Dichter mit gleicher Liebe behandelt werde fie e8 aud) vom Schaufpieler! Des Dichters Yntenfitat tft bis in die [este Zeile der Heinften Rolle gefloffen, wenn er anders ein getviffen- hafter Dichter war; jede Rolle, jede Perjon fteht mit gleicher Notwendigteit an ihrem Pla jedes ihrer Worte bedarf der gleichen ſchauſpieleriſchen Rongen- tration. Sede Rolle gibt jedem Schaufpieler die Möglichkeit, ein ganzes Können an den rechten Pla zu ftellen. Karl Róttger.

Sarl Shylmann als Dichter.

1.

Qe nod) alg die feelifhen Wirkungen von Menſch zu Menſch find die

Wirkungen, die das Kun ft m e rf auf die Menfden ausübt. Cine beftimmte Folge von Vorjtellungen, aufhallend aus einem bejtimmten Rhythmus und Wortklang madt unfer ganzes Weſen mitſchwingen und mitflingen. Nicht nur unfer Bore ftellungs- und Gedanfenleben wird beivegt, fondern die ganze Seele erglüht in dem Gedicht, körperliche Schauer durchriefeln uns. Aus ben BVorftellungen allein, die durch die Worte erweckt werden, ift das nicht zu erflären. Denn man nehme etiva Goethes „Ueber allen Gipfeln“ vor fich und ordne die Wörter in eine andere Elangliche und rhythmifde Folge („Ruh ift über allen Gipfeln. Du fpürft in allen Wipfeln . .”), alsbald ift troy der gleichen Vorftellungen und Worte, troß de8 vorhandenen Reims und Rhythmus die Seele des Gedichtes erblindet, vielmehr das Gedicht ift geftorben. Es ift nur nod ein formenfhon ausgedrüdter Gedanke da, aber nicht mehr ein Runftwert.

Ferner: echte Gedichte verlieren nie ihren Zauber. Mas nur gereimt oder thythmifiert ift, mag wohl eine Beit lang blenden, bei häufiger Wiederholung wird e3 unertraglid). Das Kunſtwerk aber bleibt immer lebendig, es ftrablt eine un- erſchöpfliche „Aktivität“ aus, auc) wenn es taufendmal gehört oder gelefen wird.

Woher dieje merfwürdige Lebenskraft? Der AUefthetifer fucht fie in der Form. Aber niemals tann man einem Werke jene feltfame Lebenskraft einhauchen dadurch, daß man in einer forgfältig nachgefühlten und überdadhten Form mit gefdulter Technik „Dichtet” das Erzeugnis wird nur fcheinlebendig fein für foldje, die nicht aus der Tiefe in die Tiefe horchen.

Die Urſache dafür, dak ein Gedicht nicht nur eine ſchön geformte Mitteilung, fondern ein Leben zündendes Kunſtwerk üt, tann einzig in der Seele des Künftlers gefucht werden. Die Seele gerät in eine eigentiimlide „Glut“, durch und durd; aus diefer Glut heraus formt fie Vorftellungen, Laute, Rhythmen, gleichviel ob „Proſa“ oder ,Poefie”. In diefer Glut teilt fie ihr eigenes unfaßbares Leben mit, das wir in den „Formen“ zivar vergeblich zu faffen fuchen, das aber auf geheimnis- volle Weife in ihnen ftedt, wie das Wachstum im Samen (den man aud) nicht chemiſch herftellen fann), und das immer bereit ift, andere Seelen in Brand zu fegen.

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Die Fähigkeit des Glutens und Glühens hängt irgendivie mit der Art ber Seele gufammen. Diefe Fähigkeit unterfcheidet den echten und den unechten Künftler: jener glüht aus fic) heraus und offenbart fein eigenes Leben, diefer aber empfindet nur das Leben anderer nad) und bildet es mit gewandter Technik zu fheinlebendigen Kunſt⸗ lavven. Darum ift der echte Künſtler genau fo, tie feine Werke find. Feder Künftler, defjen Werke nicht mit feinem Wefen übereinstimmen, ift ein Schwindler. Oder ein braver Kunftgewerbler, der „Formen pflegt”. (Freilich, oft genug tritt in der Glut ein Wefen und Leben zutage, da8 vom wachen Alltagsleben unterdrüdt war.)

Karl Thylmann war ein echter Künftler. Er lebte das Leben feiner Werte. Seine Holgidnitte, Radierungen, Steindrude und feine Gedichte offenbaren alle eine Seele. Der Rhythmus feiner Zeichnung ift aud der Rhythmus feiner Worte, denn e3 ift der Rhythmus feines ganzen Lebens.

2

An Thylmanns Kunft fällt zunächſt die ftarte Geiftigteit auf. Er mußte um biefe feine Art, und e3 entitanden ihm gelegentlich Zweifel daraus: „Mein Schwerpunkt wird fic), vermutlich, immer mehr ins Geiftige verlegen, welches eine andere Dafeinserfcheinung und dem Künftlerifchen direkt gefährlich ift, wenn man nicht ein Goethe ift.“ (6. 1. 1913.)*) Aber er hat über dem Geiftigen das Geelifche nicht verloren, feine Geiftigteit blieb von innerlihem Leben durdgliiht, fie wurde nicht „Intellektualismus“, fondern diente der „Durchgeiftigung“ feines Künſtlertums. Die Neigung zum Denken und Grübeln führte ihn zur Theofophie. Doch feine Kritik bewahrte er fich auch in theofophifden Dingen, eine von feelifcher Witterung erfüllte Kritik, die ihn auch bei den Myjtitern immer ins Tiefe und Echte trieb.

Urfprünglich bat Thylmann aud) Anlage zum Humor. Unter der zunehmenden Vergeiftigung und unter den Leiden der Zeit aber überwältigt das Bohrende und der Drang zum Bewußtiwerden immer mehr das Spielende; das Pathos fiegt über den Humor. Ein tiefes Pathos beftimmt, wenigitens für unfern Anblid, fein Wejen.

Er jelbft fagt von feiner Leidenfchaftlichkeit: „Es it fchredlich, wie bei mir immer alles gleich fo maßlos ift. Sehnſucht, Verlangen oder Qual oder was es ift, e3 Enirfcht immer gleich und Enact und krümmt fi. Ich bin wie der Teich Bethesda, der immer in unerhörte Wallungen gerät, wenn der Engel ihn aufrührt.“ (11. 7. 1913.) „Aber manchmal lebne ich mid) wieder auf und fehne mich nad) einem ganz untheofophifhen dionyſiſchen Rauſch, nah dem Emigen, was fi in irdiſcher Seligkeit ausdrüdt, in Schönheit, glühender Nacht, Rhythmus und wilder Liebe. Das Raufhhafte, der Enthufiasmus als Gnadengefdent, das liegt fo furchtbar tief in mir und wird mir fider noch viel zu fchaffen machen, wenn ich mich ,,theofophifch” oder wie man ed nennen will, entwideln will. Ich bin doch eine verdammte Künſtler⸗ natur, und bin fehr zufrieden damit, daß ich es bin.” (1. 4. 1913.) Einmal heißt es gufammenfaffend: „Won Geburt aus bin id für Traum, Genuß, Formungstrieb, Grübelei und perfönliche Liebe gemacht, alles andere muß ich zu gewinnen verfuchen.” . (81. 3. 1913.) Thylmann gibt für fein Wefen diefes treffende Bild: „Sch habe

immer den Trieb, fo oft id) auf einer Inſel ruhe, mid in die Brandung zu werfen, als ob e8 Gott wohlgefälliger wäre, im Strudel ringend aufzubliden, al3 in Wind- ftille zu mebditieren.” (26. 12. 1915.) Damit hängt e8 zufammen, daß er auch die löſende Kraft des Zornes kennt: „Habe nur feine Angft, dak der Zorn mir in meiner Arbeit ſchaden könnte. Höchftens fprentelt er auf einige Wochen lang meinen Begierdenleib mit fpigigen Flämmchen, die du dann mit einem Hauch auspuften fannft. ber die Arbeit begünftigt er enorm. Es geht mir darin wie Luther, der nie vorzüglicher predigte, al8 wenn er in richtigem rotem Zorn mar.“ (23. 3. 1913.)

Gefidte und Slánge brechen bei Thylmann aus dem Unterbeiwußten heiß berbor, auch das Denten felbft wühlt fd, gleichfam wie Feuerftrome empor. Dann aber arbeiten die beivußt gewordenen Gedanken mit an der Geftaltung des Stoffes.

*) Dies wie die folgenden Anführungen nad: Karl Thylmann, Briefe.

„Es ift ein wundervoll erregendes Gefühl, wenn fic) die fommenden Bilder beivegen. Es wird natürlich wieder bei der Ausführung die gleichen Verzweiflungsanfälle geben, wie bei allen, gerade beiten Blättern. Und doch fällt man jedesmal darauf herein.” (21. 9. 1915.)

Ein Menfch diefer Art wurde unter dem Zwang der Beit mit fiebenundzivanzig Sahren Soldat, am 6. Februar 1915. Der „Dienft” zermalnte ihn. Zwar offenbarte er gerade unter feinen Leiden Herrlichites in Gedichten und Bildern. Aber er war nicht gemacht, Soldat zu fein. Niemand erkannte ihn. Immer wieder marterte ihn bald der befoffene Feldiwebel, bald der neunzehnjährige Leutnant die Siinjtlerfeele tar wehrlos gegen diefe Welt. Wut, Verzweiflung, erfchütternde Antlagen. Am 6. Juli 1916, al3 er an die Front fommen follte, fehrieb er: „Sch nehme „nichts als” die Bibel mit. Ich habe das Gefühl, als ob ich fehr bald eine Verivundung befáme, dann ins Lazarett. Angjt habe ich nur bor den Aergten, vor ihrem Un- wiffen.” Mitte Juli fam er ins Feld. Am 4. Auguft wurde er verwundet. Am 29. Auguft ftarb er im Lazarett „nach tagelangen Vifionen, in vollfommener Demut und Gottfeligfeit.” Seine Werke und fein Menfdenfdidfal aber bleiben lebendig in unferm Volte, nicht bei den Vielen aber bei denen, die Volt find.

3.

Die „Stoffe” der Thylmannfchen Gedichte* find die feiner Bilder: Landichaft, Liebe, Religion (mit theofophifchen Einwirkungen).

Schon in den Briefen ift e8 merkwürdig, wie mit wenigen Saben zuweilen Gefiht und Gefühl einer Landichaft hingeftellt wird. Mit ftarkfter Yntenfitat aber ergießt ich das Landichaftsgefühl in freien oder gebundenen Rhythmen. Etiva wenn e3 im „Hohen Mittag” heißt: „Bienen zittern im Honigkelch“. Und: „Das Blumen- geloder wiegt fid im eigenen Hauch”. Oder in der „Nacht-Ode“:

„Feuerkäfer tanzen und ſchwanker Relde

Tau quillt gligernd über den nadten Fuß dir”. Qn der „Schlucht“: „Morgenwaldiwind raufht im Einhall mit dem Schäumen weißer Strudelgewaffer”.

Natur und Liebesleben webt fid in eins, und beides ift nur ein Gleichnis höherer Welten. „Wolluft, feliges Gleichnis /ganz unendlichen Bundes! / Ueber unfrer Tat / ſteht die Himmelsleiter.” Es ift wilde, aber nie böfe Veidenfdaft, um- blüht von Himmelsblumen, umjauchzt von Himmelschören, überftrahlt von der Ewige feit. „Erde türmt fich, Sterne tauen,

: Flamme fingt im Wirbelwind.” Das ift Liebe, wie fie im deutſchen Herzen lebt: voller Metaphyfif, voll gager Ebrfurdt vor dem Heiligen.

Alle Leidenichaft ift geadelt vom Willen zur Läuterung. Und diefe empor= dringenden Gedichte, die der Myſtik gehören, find die bedeutendften. Gleich das erfte, nad) defjen Ueberfchrift das ganze Bändchen mit Recht benannt ift, zeigt den innern Standort des Dichter zwifchen Erde und Himmel, Blut und Licht. Welche Bilder! Man fpreche etiva die beiden Verfe:

Sieh, zur Linken fteht Einen Beer Blut3 Einer nadt und ſchlank, Hält er hergeneigt. Wie ein witternd Wild „Trink und rette dich. Angefpannt und leicht .. . Du verlorft dich faft.”

Hingegen die bannenbe Vifion des Heiligen: ,Glangend Wefen du / reglos, wei umivallt! / Unausweichlich flammt / wimperlos dein Blid.”

Gewaltig ift das „Abendmahl”: „Dein Blut, Herr, Dein Blut, Erlojer.” Es hallt aus mit dem Schrei: ,Blutsbruder, begnade, begnade mich!” Wie aus dem Dunkeln Blutlaut der helle Gnadenklang auffchreit und aufſtrahlt!

*) Karl Thylmann, Die Furt. Hans-Sachs-Verlag, Münden. 1917.

Der echte Dichter bewährt fid in der Gleihnistraft. Ihm wird bas Bufallige ein Zeugnis des Notwendigen, das Irdiſche ein Zeugnis des Ewigen. Meifterhaft ift die „Auffahrt“: ein Blatt, das auf den Spiegel eines Weihers her- niederfinkt, wird zum Abbild der Seele. Bu den edelften Werken unfrer deutfchen Lyrik aber rechne ich das folgende Gleihnis: „Der ſchwangeren Frau eines Kämpfenden”: „Einer fteht in der Erde,

Oft umzudt von des Todes Strahl. Einer, Klein wie ein Voglein, Schläft in nährender Kammer nod.

Beide hüllet die Mutter, Beide müffen geboren fein.“

Es ift ein Gefühl darin, das dburd und durd geht. Man beachte auch die ungewollt funftvolle Form: In der erften und [estem Strophe ift Stabreim (Einer, Erde, Oft Beide, Beide, geboren), in der mittleren ift Volalgleichllang (Einer, tlein Schläft, nährend).

Diefe Silben- und Klangkunft ift zuweilen ficherlich überlegt, fo wenn in dem Gedicht ,Exde” (am Schluß unfres Heftes abgedrudt) jede Strophe in den beiden erften Zeilen mit demfelben Wort anbebt und am Schluß mit eben diefem Wort endigt, und wenn die drei Strophen die drei Leitiwörter Erde, Schmerzen, Liebe haben. Wundervoll ift oft auch der Elangliche und rhythmifde Bau mander Vers- perioden. So in dem dritten Gedicht des Zyklus „Weihnacht.“ Oder man lefe laut und langfam das erhabene Klanggebilde der „Ewigen Antwort.” Die erfte der beiden Strophen lautet:

„Nachtſcharen, die an meine Schläfen tajten, Sie fonnen eben nicht mein Herz belaften, Das Ampel in friftallner Kathedrale Endlofen Strahl taufcht mit endlofem Strable.”

Es ift eine eigentümlich finnlich-überfinnlihe Kunft, ein Ringen von Chaos und Form, von Blut und Geift. Mehr als ¿rei Jahre haben mid) die Gedichte Thylmanns (neben den Holzichnitten) begleitet und immer tiefer haben fie fidh mir eingegraben. Ich bin ficher, wenn ich heute mit meinem Urteil vor die Deffent- lichkeit trete: . Diefesg Bändchen Verfe gehört dauernd zum edeliten Schag unfres deutſchen Volkes. St.

Bächerbriefe Leben⸗Jeſu⸗Bücher.

cs" den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hörte ich in Sena als junges Studentlein Profeffor Nippolds Leben-Jefu-Vorlefung. Nod ſchwankte ich zwiſchen Theologie und flaffifder Philologie. Jenes Kolleg gewann mich für die Theologie. Eigentlich war e3 für diefe Vorlefung für mid) noch zu früh. Aber Nippold hatte mir erlaubt, gelegentlich ¿uzubóren. Yoh tat'3 fo viel ala möglich. Da ftieg vor mir auf die Geftalt des menfchlichen Yefus von Nazareth; auf dem fonnigen Boden Paläftinas ftand er da, in Haren, fcharfen Linien, ein willens- ftarfer, heldenhafter Menfd. Und diefer Fefus von Nazareth ließ mich nicht wieder log. Jahrelang fuchte id) nun, ihn beffer zu verftehen. Dod) die Suchen wurde ein langer, langer Weg.

Zunächſt wollte ich mehr wiffen. Da bot mir David Friedrid Strauß's „Leben Jefu”. Es wurde noch immer neu aufgelegt. Aber eS war wiſſenſchaftlich völlig veraltet. Die Unterfuchung der Quellen war ja feit Strauß

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erft recht in Gang gelommen. Außerdem war Strauß mohl ein trefflicher Bios graph Voltaires und Huttens. Aber Yefus von Nazareth, war für den im Grunde altflugen und ziemlich philiftröfen Strauß viel zu groß.

Da mar ferner Renan; fein Bud) war wunderfchön gefchrieben; da leudteten die Blumen Galiläas, und der Himmel de3 Orients ftrablte. Wher aud) Rénan mar [on überholt durch die fortgefdjrittene Quellentritit. Außerdem hatte Rénan mit munterer romanifder Phantafie doch zu viel hingugedidtet. Da nahm ich dod immer wieder das Buch des treuen LudwigSchneller: „Kennit du das Land?” Da war die Heimat des Heilandes ja aud fo fein und farbig gefchildert, Land und Leute fo tlug beobachtet das war mir lieber alg Rénan. Uber ich fuchte nach einer wiſſenſchaftlichen Gefdhidte Syelu.

Ein wenig half mir vorwärts ein Heines deutfches Büchlein: Karl von Hafes „Leben Jefu”. Aber das Büchlein war auch fon ein halbes Jahrhundert alt. Damals wußte man noch nichts davon, daß die drei erften Evangelien bie eigentlihen Quellen find, das Yohannesevangelium aber die erfte fünftlerifche Dar- ftellung des Lebens Jeju ijt. So blieb mein Suchen lange unbefriedigt.

Da erſchien Wellhaufens herrliches Buch: „Sfraelitifche und jüdiſche Gedichte”. Darin ein Kapitel, „Das Evangelium”. Ganz fchlicht, in frommer, tiefer Verehrung mit großen, tlaren Linien war dort Fefu Geftalt gezeichnet. „Jeſus, der erfte einer neuen Geifterreihe” das war in der Sprache unferer Tage die alte Wahrheit, dak Jeſus der Neufchöpfer der Menfchheit geweſen. Aber Wellhaufens Darftellung war dod) nur eine Skizze. Wir mußten doch den ganzen Stoff meiftern. Yn jahrelanger Arbeit folgte ih nun den Pfaden Julius Holg- manng. Er ift einer unferer größten Gelehrten im neunzehnten Jahrhundert geivefen. Tapfer, ſcharf, geiftreid), treu hat er gearbeitet, äußerlich ein unfcheinbarer Mann. Für die große Deffentlichkeit fprad) er nicht; er war Forſcher. Aus feinen Büchern wuchs dem, der fleifig fuchte, die Geftalt Syelu empor, tar, tief und reich. Das war mehr als die Darftellung in zwei großen Werfen von Beyfhlag und von Bernhard Wei. Denn diefe beiden wollten nun doch nod) das gefchichtliche Bild und den wunderwirkenden Chriftus, der wie nad einem vorausbeftimmten Programm über die Erde fchreitet, miteinander vereinen. Das Ergebnis blieb unbefriedigend. Holgmann bot Größeres, aber aus dem Granit feiner gewaltigen Bücher, dem ,Evangelienfommentar” und der „Neuteftamentlichen Theologie” muß man das Gold fich felbft Heraushauen. Ein Leben Syelu ift nie von ihm gefdrieben worden.

Später hat das fein Neffe OF Ear Holgmann getan; e3 wurde ein gutes Bud. Volkstümlicher, kurz, tnapp, plaftifch zeichnete PB. W. Schmidt diefes Leben Sefu nad) der kritifchen Forfdung. Das Bud) follte ein Volksbuch werden, verdiente e3 auch wohl; aber fo recht ausgebreitet hat es fich doch nit. Etwas fehlte nod); wir follten felbft noch erleben, was da8 war. Vorláufig fühlten wir es nur; wir faben nod) nicht, was e3 mar.

Mittlerweile aber war ich endlid an das Buch gefommen, welches von allen Leben-efu-Büchern des neunzehnten Jahrhunderts das größte und fchönfte ift: Keim ,Gefdidte Syelu von Nazara” (1867—71). Das war Gefchichte, gefdrieben bon einem Mann, der das Altertum, das Land und das Volt fannte und der mit Jeſu Seele lebte. In künftlerifcher Darftellung fam er Rénan gleich, an Umfang und Schärfe der Gelehrfamfeit übertraf er ihn wohl noch, jedenfalls aber an feiner, frommer, tiefer Empfindung. Warum mar das Bud) des Frangofen billig gu haben, immer neu aufgelegt, das prächtige Werk des Deutfchen fait unbefannt? Das ift wieder einmal echt deutſch —! Da ich mir das Buch nicht faufen fonnte, liek ich nicht ab, bis ich in mehreren Heften mir feinen Inhalt feftgehalten hatte. Ein anderes Werk miiffen wir nod nennen, das jenes ganze Zeitalter fcildert: Haus-

raths „Neuteftamentliche Zeitgefhichte”. (ES bietet uns die ganze antife Welt in jenen Ländern in bunten Farben dar.

Keims Werk war alfo nie genügend gewürdigt worden im deutſchen Volle, Holgmann und Schmidt wurden damals wenigitens im theologifchen Publikum hochgeſchätzt. Nun erfdien 1901 Paul Rohrbads „Im Lande Jahwes und Jeſu“. Rohrbach ift wie Friedrich Naumann und Göhre urfprünglich Theolog. Mit künftlerifcher Kraft, mit dem Feuer beiliger Begeifterung ſchreibt Rohrbad). Die Geftalten der Propheten und Syelu zeichnet er in die Landichaft hinein, jede Seite diefes Buches ift eine Erquidung für unfer Gemüt; denn Rohrbach hat mit Jefus gerungen: „ch Laffe dich nicht, dur fegneft mich denn.” Er fpricht auch den Grund aus, warum die foftliden Früchte unferer Jeſusforſchung unferem Volte nicht befannt wurden. Die Kirchenregimente hatten Angſt vor dem echten Yefus. Sie ftülpten ihre großen, ſchwarzen Hüte drüber: „Still fein, das geht nicht! Die Rube (nämlich unfere) ift bedroht!” Wir alle, die wir für den echten Jeſus ftritten, haben für ihn leiden miiffen jenes Leiden unferer Zeit, daß man juchte, uns ftill zu machen.

Da tam eine große neue Bewegung in die Leben-Yefu-Forfdung, in der viele Gelehrte, Deutfche, Holländer, Engländer, unausgefegt arbeiteten. Eine neue Frage war geftellt; und die richtige Frageftellung bringt ja oft die Wiffenfdhaft tüchtig vorwärts.

Diefe Frage lautete: wie ftand Jeſus gum Weltgericht und Weltende? Viele ſcheuten bor diefer Frage zurüg. Würde Jeſus nicht als Phantaft erfcheinen? Aber die Wiffenfchaft darf nicht zaudern. Und aus der langen Erörterung tauchte eine flare Erkenntnis empor: Jefu8 war bisher doc) zu ſehr al3 der moderne, abgeflärte, human gefonnene Lehrer gezeichnet tvorden. Er war nod) größer. Er war der Held, der willensgewaltige, der allez Menfchenleben unter dem einen Geſichtswinkel fchaute, bier: Gottes Endziel mit der Menfchheit, eine Gemeinfdaft miteinander freudig Lebender und Arbeitender, ein neues Gefchlecht auf neuer Erde, dort, die wirk- liche, zerriffene, bußbedürftige, verirrte menjchliche Gefellfchaft! Mit ungeheurer Willenskraft reißt der Held fein Volk vorwärts zur Entfcheidung Er drängte zur Entideidung, damals! Aber darum ift er bis zum heutigen Tage eine Ent- ſcheidung fordernde Macht, ja die größte fittliche Macht in der Menfchheit überhaupt. Jeſus von Nazareth war nun gefdaut, wie er ganz verflochten war in feine Beit und wie er doch zugleich der Veftimmer und Richter der tommenden Jabrtaufende ift.

So war die Forſchung daran, neue Schäbe der Erkenntnis zu heben. Aber wenig oder nichts follte unfer Volt davon erfahren. Denn unberufene Geifter waren dabei, bor dem großen Publifum mit ihrem literarifden Talente zu brillieren. Der Bremer Paftor Kalthoff hatte ziemlich viel gelefen und war ein fehr getfts reicher Kopf. Aber ein Forfcher war er nicht. Aus den Quellen fchöpfte er nicht. Darum mar er and) fehr berufen, bie ganze treue Arbeit eines Keim, Rénan, Holt- mann uf. ſchlechthin für verfehlt zu erflären. Aber der geiftreiche Kalthoff offen- barte in geiftreichen Heinen Abhandlungen die ganze Wahrheit: Jeſus von Nazareth, wenn er überhaupt gelebt hat, ift ganz nebenfählid. Das Problem ift: wie die urdriftliden Gemeinden in den Grofftadten des Altertum3 zu ihrem ganz mytho- logifch vorgeftellten Ehriftus famen. Gewiß, dies leftere ift ein Problem, das übrigens von der Forfhung ohne Kalthoff fchon der Klärung fehr nahe gebracht worden ift. Aus ſpätjüdiſchen, griechifchen, auch griechifd-philofophifdhen Gedanken und Stimmungen erklärt fd, diefer Vorgang.

Kalthoff wies nebenbei mit einem Fubtritt den gefchichtlichen Jeſus in eine verjtaubte Ede, und dod) war diefer gewaltige Kalthoff ein weltfremder Menſch, der in den Wolfen wandelte. Nur ein folder konnte auf den Gedanfen kommen, ber Hintergrund der Evangelien feien die Großgüter Jtalien3 mit ihrer Sflaven-

twirtfchaft, wo doch jeder Vers in den Evangelien und das heitere, bunte Kleinleben des Dorfes zeigt.

Heute veift Profeffor Arthur Drews für Kalthoffs von ihm nod verbefferte Idee der „Chriſtusmythe“ als Wanderprediger in Deutjchland herum. Er ift ein feiner literarifcher Kritiker, ein Mann von eigenen Gedanken. Aber um über die Gefchichte des Urchriftentums mitzureden, müßte er das notwendige Rüftzeug philologifcher und Hiftorifcher Wiffenfchaft befigen. Er hat e3 leider nicht und tate darum meife, nicht durch feine Veredfamfeit zu verhindern, daß die vielen trefflichen Bücher berufener Männer über Jefu3 und das Urdriftentum, die das deutfche Volt befikt, gelefen werden. Unendlich viel wichtiger alg Kalthoff und Drews ift die Arbeit, die an - Adolf Deigmann3 Namen geknüpft ift. („Licht vom Often”, Tübingen 1908.) Sn unzähligen Papyri und Inſchriften redet das Zeitalter Jefu zu dem, der diefe Fragmente zu deuten vermag. Das Seelenleben der Seitgenoffen Sefu wird ung lebendig.

Aud) die Kritiker jener Gefchichte fonftruierenden Literaten find ſchon erſchienen. Max Maurenbrecher nahm die Axt des Fachmanns zur Hand. („Von Nazareth nach Golgatha“.) Das war eine Freude zu ſehen, wie die Späne flogen. Da fallen die leichtgezimmerten Hypotheſen zuſammen. Maurenbrecher zeichnet den ſozialen Hintergrund, auch die Stimmungen und Gedankenſtrömungen der Zeit. Zuweilen verführt ihn ſein ſtarkes Temperament, in Einzelheiten ſelbſt zu kühne Hypotheſen zu bilden; im ganzen iſt ſein Buch gediegen, inhaltreich und gut geſchrieben.

Trotz ſo vieler wiſſenſchaftlicher Arbeit taucht ein Spuk in Volksverſammlungen und Debatten immer wieder auf: nämlich Jeſus ſei ein Geiſtesverwandter des Inders Buddha. Das hiſtoriſch Unhaltbare hat R. Seidel nachgewieſen: „Die Buddhalegende und das Leben Jeſu“. Weimar 1897.

Einen Ueberblick aller dieſer Kämpfe und Arbeiten haben wir nun heute. 1906 ift bon Albert Schweizer ein Bud erſchienen: „Von Reimarus zu Wrede“, eine Geſchichte der Leben-Jeſu⸗ Forfdung, ein wunderbar feffelndes, inhaltſchweres Buch. Schweizer macht auch grimmigen Ernſt damit, Jeſus im Zuſammenhang der Zeitideen zu erkennen. Er tadelt an vielen der früheren, daß ſie Jeſus zu ſehr nach ihrem eigenen Herzen gezeichnet hätten. Er ſelber, Schweizer, bewies, wie ſehr der Große, Entſcheidung fordernde ihm ans eigene Herz gegriffen hatte. Er ſtudierte, ſchon Profeffor der Theologie, Medizin und ging al Miffionsarzt an den Kongo.

Jn diefen Jahren des Forfchens und Kämpfens hat auch der Schreiber diefer Zeilen e3 unternommen, ein Bild Jefu gu zeichnen. („Leben Jefu” Hamburg, Boyſen), anfchaulich, ſchlicht, bie Wiffenfchaft benugend, aber ohne gelehrten Apparat. Ueber diefem Werke erſchien nod) eine andere Arbeit als fehr nötig. Die Quellen, nämlich die drei erften Evangelien, fo darzubieten, daß einmal der Lefer den ganzen Stoff überfichtlih und ohne Wiederholungen vor fich fieht. Bei Bed in München erfhien 1917 diefes Büchlein: „Worte und Taten Yefu nad) den drei álteften Evangelien”. Als junger Student in jenem Jenaer Sommer hatte ich den Blan eines folden Büchleins für unfer Volk vor mir gefehen. Nach über zwanzig Jahren immer erneuter Arbeit war es vollendet ber ftille Begleiter durch Länder und Sabre war mir dieſes Werk geivefen. Wir follen felber Jeſu Worte wieder lefen.

Wie weit doch die Geftalt Jefu das neunzehnte Jahrhundert immer wieder befchaftigt hat, zeigt Heinrih Weinel in feinem „Jeſus im neungehnten Yabr- hundert“. Heitmüller in feinem „Jeſus“ zeigt furz und überſichtlich, wie die wiffenfdaftlide und die religiöfe Frage fid) zueinander verhalten. Kurz und inhalt reid) ift Bouffets glänzend gefchriebenes Büchlein über „Jeſus“ Chamber- Lain Dat „Worte Ehrifti” herausgegeben, doch find die umitrittenften Worte, die in die Tiefen der Ewigkeit ieijen, fortgelaffen. Diefe Trennung ift faum auf die Dauer

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erträglich. Wie die Forſchung weiterarbeitet, zeigt Bernoullis „Johannes der Täufer und die Urgemeinde”, ein Buch voller Geift, zu ſchwer faft durch die Fülle der Beziehungen und Parallelen. Doch wird der Verſuch, Fefus und feine Umgebung uns pfychologifch verftändlich zu machen, mit viel Glúd und Gefchid unternommen. Die Geftalten und Dinge erhalten eine erftaunlide Wirklidfeitsnahe.

Walther Claffen.

Bernoulli, Johannes der Taufer und die Urgemeinde. Der Nene Geijt-Verlag, Leipzig. W. Beyſchlag, eben Jeſu. 2 Bde. E. Strien, Großſalze. Wilhelm Boufjet, Jeſus. Gietigtontgeldht tlihe Volksbücher.) a €. 2. Mohr, übingen. Chamberlain, Worte Hrifti, y. Brudmann, Münden. Walther Claffen, Leben Jefu. E. Boyfen, Hamburg. .— Walther Elaffen, Fejus von Nazareth, Worte und Taten nad) den drei altejten Evan- elien. Bed, Münden. Deißmann, Licht vom Oſten. 1908. S. €. B. Mohr, übingen. Karl bon Sale Leben Jeju. Breittopf u. Hartel, Leipzig. Heitmüller, ejus. 3. €. 3. Mohr, Libingen. Julius Holgmann, der neuteſtamentlichen eologie. tar Holgmann, Leben Jeſu. Beides im Verlag von J. E. 2. Mohr, oly e Seim, Geſchichte a von Magara. 1867, 1871. Lrell u. Co., Züri. Maz Maurenbreder, Von Nazareth nad Potgatha. 1909. Verlag Fortſchritt Guchverl g der Hilfe), Berlin. Vergriffen, zu haben ijt die Fortfegung „Won Ferufalem nad Rom in demj. Verlag. Paul Rohrbach, Jm Lande Jahwes und Jefu. 1901. J. Engelborn, %@. B. Schmidt, Die Geſchichte Jefu. 2 Teile. J. E. B. Mohr, Tübingen. Albert Schweizer, Bon Reimarus zu Wrede. 1906. Im gleichen Verlag. R. Seidel, Die Buddhalegende und das Leben Jefu. Weimar. 1897. Heinrich Weinel, Fefus im neunzehnten Jahrhundert. £ €. Y. Mohr, Tübingen. Bernhard Weiß, Jeſus von Nazareth, ein Lebensbild. $. Eurtius, Berlin. Julius Wellhaufen, Sfraelitiihe und jüdifche Gefchichte. Georg Reimer. Berlin. Die Preife können wir infolge der ape

faltigen, zuweilen mebrfadjen Preisänderungen nidt angeben. Man muß beim Bu händler anfragen.

nee nennen

Seine Beiträge

Der Heilige und der Politiker.

ao" uns allen kämpft bewußt oder unbermuft der Trieb zum die Welt beitimmenden Handeln, der Wille zur politifhen Tat gegen das Heilige und die Sehnjudt nad) der unantaftbaren Meberlegenbeit, nach dem friedvollen Sieg de3 Heiligen gegen bie politifche Verantwortlidfeit. Zwei Wege jtehen uns offen, zwei Möglichkeiten warten in uns allen auf Erfüllung: der Weg des Heiligen und der Weg des politifhen Menſchen. ‚Beide haben thr tiefes inneres Recht, beide ihre eigentümliche Notwendigkeit. Nur ein un- wahres, oberflächliches Urteil fann den Bolititer dem Heiligen als fittlid minderwertig gegeniiberjtellen. $ Be

Der Gegenfag ift uralt. Jn immer neuem Gewande ftehen fic) die Vertreter der einen und der anderen Seite gegenüber, um den immer gleihen Kampf durchzulämpfen. Und irgendwie geht durd uns alle diefer Kampf hindurd und entbrennt in uns felbft zur Dual des Zweifels und der Wahl. Selten und uns anderen ein der menfhlihen Sphäre entronnenes Ratjel find der bloke Heilige, der Nur-Politifer. e

Aber wie aller Kampf den Frieden als Biel und Sinn in fic birgt, fo verlangt aud diefer Gegenfag nad einer höheren Einheit des Lebens, in der Politifer und Heiliger fid ¿ujammenfin ce Gibt es eine Löfung für den Streit des Willens und der Sehnſucht in unferer Bruft h E

Í Der Seine liebt. Der Strom der Liebe flutet durch ihn hindurch, der immer bereit

und offen dem göttlichen Leben fid) hingibt. Er ift nichts als die Harfe, deren Saiten unter dem Hauche des göttlichen Atems auftlingen. Er offenbart die Geſichte, die ihm zuteil werden, einfach, weil ſie q uteil werden. Er ift die Tür, durch die Gott in die Welt, die Welt in Gott eingeht. kr Bricht aus, was er tft, er ftellt dar, tas er lebt, er bringt ¿ur Erfheinung, was ihm wurde. Denn er hat tein Gegenüber, er weiß nicht und an nicht zu wiffen, mem er ſich aufíchliegt. Go ift er für alle da, ‚weil er für feinen da iſt. Darum geht fein Leben nicht auf irgend eine Wirkung. ES ift ohne Abficht, wie das Leben eines Kindes, reines, friedevolles, befeligtes Spiel vor Gott.

Der Heilige fieht nur und liebt, was zu thm fommt, berührt bon ben Strahlen der leihen Sonne, die fein Antlig überjtrahlt,_ Er liebt die, die in „Sein Vater gibt”. Er

iebt die Erwählten und Begnadeten, denn feine Liebe erwählt und begnadet. Diefer

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erwählt find, da er nichts weiß als lieben?

Dies gerade ift dem Politiker notwendig ein Wergernis. Der fühlt fic) für bie Birkung, für die folgen alles deffen, was er tut, verantwortlih. Darum fieht er bei allem, was er tut, auf den, mit dem er es gu tun hat. Er fagt niemals einfad) das, was in ihm lebendig ift. Sid Ë aw offenbaren, wie es der Heilige tut, ift ihm Verantivortung3- lofigteit, erſcheint ihm lieblos denen gegenüber, die nicht erwählt find und für bie es dod

orgen gilt. Der Heilige lebt mit Menfhen in der Gemeinfdaft der Liebe, der

Bolititer lebt und redet und handelt fir Menfden, die e3 zu beftimmen gilt, die es zu

führen gilt dem Ziel entgegen. Alles, was er tut, entípringt dem Willen, alles diefem

iel dienftbar gu madden. il ex fich verantiwortli fühlt für diefe Wirkung, muß er die

ittel wollen. Er muß darum Wege gehen, er muß darum Taten tun, die für den

be gel ſchlechthin unverftändlich, ja gottlos find. Er gebt mit Menfden um, fo wie es e

Stolz, biefe Strenge ift sche der Liebe. Wie follte er wiffen von denen, die nicht

der Heilige verabfdeut. Er läßt Menſchen fi für fein Ziel in Bewegung fegen, die von diefem Ziel inmerlid gar nicht berührt find, die ihm darum nicht verwandt find, mit denen er feine Gemeinfdaft hat. Weil das Ziel erreicht werden foll und muß, will er die Madt. Darum verpflichtet ex fid die Menfden. Er muß darauf verzichten, fie zu überzeugen, es genügt ihm, fie zu beftimmen. Er darf fie aber fo gebrauchen, weil er h nicht für fic) gebraudt, fondern für das Ziel. nn der Heilige alles offenbart, was in ihm ift, fo ift im Gegenfag dazu der Polititer verſchwiegen. Er tann und darf oft genug nicht aufdeden, was in ihm it, um der Wirkung willen, die er borauSbedentt und die er will. Er überfieht die Bar ejlen, B dem er fpricht, er fieht feine innere Einftellung, feine Abhängigkeit, die Menſchen, ie ihn beftimmen. Er fieht, wie jedes Wort, das er dem andern fagt, durd) diefen andern grade in diefer fo und fo beftimmten Lage weiterwirten muß auf die anderen, die ebenfalls wieder ganz eigentümlicheriveife beftimmt, gebunden find. Darum fann der Politifer als Politifer keine Gemeinfhaft haben. Das ijt die Tragit feines Lebens. Der Polititer iſt der einfame Menſch. Der Heilige dagegen ijt nie einfam, weil er in der Liebe lebt, darum die Welt ihm nicht fremd als Widerftand gegenüberfteht. Er hat überwunden und darum verwandelt fich dem Heiligen aller Schmerz in den csi dez Martyrers. Der Politifer ſchreitet fort durch die Erkenntnis ſeiner Niederlagen.

Warum ift der Politiker politiſch? Weil er wirken will, weil er darum nicht vere antivortungálos, ohne Rüdficht auf das, was ijt, ohne Rüdficht auf die Welt, Handeln darf. Er fann nicht Handeln „als ob“. Der Heilige fteht jenfeits aller gefellfdaftliden, politiichen, fozialen Ordnungen, der Polititer ftellt fic) mitten in fie hinein, um fie zu meiftern. Der

ilige beginnt mit dem Verzicht au) die Welt um der dee willen, der Politiker befcheidet ich der Ydee gegenüber um der Welt willen. :

Gibt e3 eine Löfung diefer Spannung? Es gibt eine Lofung gang fiher nur in der lebendigen Perfónlichteit, eine Einheit der Gegenfase nur als die notwendige Polaritat des lebendigen Ich. Will der Politiker nicht der Welt erliegen, will er „feine Seele bes wahren“, fo wird er immer wieder fid) befinnen miiffen auf den legten Grund, der zugleich das Biel ift, aus dem heraus und für das er wirkt. Diejer Grund und dies Biel aber ift die Gemeinfdaft der Freien, ift die Liebe. Yn folder Sammlung des Willens auf das legte Biel, auf den Sinn, in foldem Hervorgeben aus dem Grunde, der Liebe liegt feine Rechtfertigung. Die lepte tieffte innerſte Erlöfung, das Weitergeben der Gnade, das Wahrufen des Menſchen als Menfchen wird dem Heiligen und feiner Liebe vorbehalten fein. Aber die Möglichfeit zur Geftaltung der Welt nad) dem Bilde der freiheit, das dem Heiligen in entrüdter Schau vor die Seele tritt und ihm in der Liebe verwirklicht wird, die lichkeit der Geftaltung der Welt ift der unbezwingbare Glaube, die unerledigte Forderung, der erige Antrieb des Politifers. be

Die Lofung liegt immer im Gewiſſen des Einzelnen. Cin Bismard ift nicht denkbar ohne die Stunden lester Befinnung auf den Grund feiner Taten, obiwohl gerade er immer wieder in der Gefahr mar, von der Politif verzehrt zu werden. Beide haben recht, ber Heilige hat recht, er geht den Weg bes hohen Lebens der Liebe; aber mid) der Politiker handelt im Dienft der Liebe. Der Heilige ruft uns zu: forget nicht, der Strom ber Liebe

rabt fic felbft fein Bett. Wer wollte ihm widerſprechen, tenn er nicht politifd ijt?

oer eine Liebe gibt ihm Kraft, aud) den Polititer nicht nur zu verftehen, fondern ihn

gu rechtfertigen vor dem, der Geele und zugleich Gejtalt der Welt ilt. KarlBernhard Ritter.

Ambroije Got in Berlin.

ie Konferenz von Spa hat uns gezeigt, dak der Geift Elemenceaus die franzöſiſche Ree nachwirlend beherrſcht und daß die ſchwankende, wechſelnden Einflüſſen ¿ue panglt e Kotitit Lond Georges nicht imftande geweſen ijt, ihn zu breden. Ein guter iterarijcher Vertreter diefes Geiftes ijt Dr. Ambroife Got, der als Attaché der frangofijden Militarmiffion von März bis Juli 1919 in Berlin weilte und nun feine Beobadtungen in einem ftarfen Bande „L’Allemagne aprés la debacle” (Straßburg, Ymprimerie Stras-

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Se Ma qeq: hat. Man kann fich denken, dak die Berliner Pazififtenkreife, H. von Gerlad, Paul Caffierer, Gräfin Treuberg, Oskar Cohn uſw. Got gaftfret aufnahmen, und diefe Herrfdaften treten uns in feinen Schilderungen fehr lebendig vor Augen. Helle mut von Gerlach, der betanntlid als Unterftaatsfetretär die deutfchen Intereffen gegenüber den Polen in der unheilvollften Weife gefdadigt hat, entzückt den Verfaffer durd) fein glans cee ranzöſiſch, er zeichnet ihn, wie er von feinen Jagden in Afrita mit unerfchöpflicher edegabe erzählt, wie er mit ſchelmiſchen Bliden von den Anftrengungen berichtet, die es ihn gefoftet, während des Krieges troß feiner ſcharfen Angriffe gegen die Regierung immer wieder dem Verbot feiner „Welt am Montag” zu entgehen. In feinem Salon verfehren räulein Dr. Stöder, Profeffor Nicolai, Kapitän Beerfelde, Profeffor Duidde. Frau von erlad) eilt wie ein Schmetterling von einem Zimmer in das andere, fie bietet den Gajten Kuchen an, qui ne font pas de l’erfag*) und man trinkt dazu einen alten Tokayer, ber die Toten „auferweden” würde.

Man kann fd denken, dak der Pazifismus Gerlab3, der frangaftiden S$ntereffen fo weit entgegenfommt, Got uneingefdrantte Freude madt. Er fdreibt: „Diefe Nacht habe id einen Traum gehabt: pon Gerlad war deutſcher Gefandter in Pari3 und Förfter Prä-

dent der deutfchen Republit. Die Verſöhnung der beiden Völker war eine vollendete Tate ade. Deutfhlandfqwamminreinem Ydoealismus.. . Ein Straßenverfäufer erivedte mid. Noste!, fdrie er, die Organifation der reitorp3! Die Cinridtung neuer Milizen! Schmerzlihes Erwaden!” Das Ergebnis von Spa wird Mr. Got ja wohl einigermaßen beruhigt haben. o hod) wie Gerlad, ftellt der Frangofe von unfern Landsleuten eigentlich nur den os Friedrich a Förfter, den er al3 begeijterten Verehrer Frankreichs ſchildert. a, meint er, wenn Broddorff-Rangau, Giesberts, Landsberg alle von Förſters Geift befeelt gemejen wären! Man kann den Bölferbundsfhiwärmern nur dringend raten, das Bud) diefes Frangofen u Tefen. .

Sehr intereffant i der Abfdnitt „Le role des Juifs dans la revolution allemande.”**) Got ftellt hier felt, daß die Yuden einen großen Anteil an der Vorbereitung zu der Revo- lution hatten und meift bin auf die zahlreichen jüdifhen Namen unter den Regierungs- männern des Winters 1918/19. Ausführliche Abjchnitte dienen der Eharatteriftil der pers ſchiedenen bolſchewiſtiſchen Richtungen. Jn dem Kapitel „Die reaftionáre Gefahr” bricht immer wieder die Furcht hervor, dak Deutfdland fpáter einmal einen ,Radetrieg” unters nehmen werde. Die ſind ihm deshalb bei uns als Gegengewicht gegen die „Reaktion“ erwünſcht. it Genugtuung betont er in dem Abfchnitt „Der ſittliche Verfall e3 deutfchen Volles”, dak jest Paris in der Lafterhaftigteit durch Berlin enthront fei. Und man muß ihm zugeben, daß feine Ausführungen über die Proftitution, über die fittenderderbenden Wirkungen vieler Kinos und mander Theater (er fritifiert Wedetinds „Büchſe der Pandora”), über die zerfegenden Beftrebungen des geſchlechtlichen Aufflärers Dr. Magnus pisk im Wefentliden begründet find. Leider hat ja die Regierung bia ber in der Belämpfung diefer Schäden fehr wenig geleiftet. ;

Got bat fid endlich nod) mit der Frage befchäftigt, wie feine Regierung die deutichen Arbeiter behandeln follte, die, wie damals geplant war, nad Nordfrantreid) zum Wieder aufbau fommen würden. Da fürchtet er fehr, daß fie fommuniftifche Ideen mitbringen würden. Sie follen pu ohne Sdifane behandelt werden, aber er will ihnen weder das Roalitionsredt as Streikrecht eingeräumt ſehen. Ein wenig militärifhe Difziplin, meint er, folle zur Anwendung gebracht werden. So zeigt fic) Got ftet3 als Vertreter Der Anficht, daß Deutjchland „für feine Schuld“ beftraft werden müffe. Aber er ift ein ſcharfer Beobadter (vgl. den Abſchnitt „Die Wirkungen der Blodade“), und wer den Geift Ele- menceaus und Millerands ftudieren will, follte das Bud gründlich Iefen.

Ludwig Lorenz.

Deutihe und romanifdhe Wirtidhaftsgefinnung.

I" den Grengboten entwidelt Ridard Benz im Anſchluß an die Lehre Fidtes vom BWefen der Sprache die grundfaglide Verfchiedenheit der deutſchen Sprade bon der romifden und bon den romanifierten Sprachen überhaupt. („Das Gefes der Sprade im Leben der Völker”. Grengboten Nr. 2, 3.) Die Verfchiedenheit der Völker im an . lichen Verhalten zu den Dingen, die fich in der fo völlig andern Art der beiden Sprad)- gruppen offenbart, ruft auch verfdiedene Weltanfdauungen und verfdhiedene Wirtfdafts- efinnungen hervor. Aus der fehr geiftoollen Gedantenentwidlung möchten wir den Ab- Fait Herausheben, der die aus römiſchem Geijte geborene fapitaliftifde Anfhauung ent⸗ gegenfebt der aus deutſchem Geifte erwachſenen Arbeitsgefinnung; denn es handelt fid) bier um mehr al3 ein intereffantes Gedantenfpiel, es handelt fig um eine völferpfychologijche Wahrheit, die fich aud aus einer Fülle von andern Beziehungen erweifen läßt. Wir gee denken darauf zurüdzulommen. Hören wir zunächſt, was Benz fagt:

*) „Die nidt nad „Erſatz“ ſchmecken.“ **) Die Rolle der Yuden in der deutſchen Revolution.”

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Die burd den Kapitalismus herborgerufene Art und Auffaffung der Arbeit wirkte in den Rändern, n denen der Kapitalismus groß wurde, pare auf die gefamte Auffaffun

des Lebens: die Teilung in Genuß und Arbeit begann. Das „Geichäft

wurde betrieben als ein notivendiges Uebel, das lebiglid die Mittel zum „Leben“ zu liefern babe: an einer beftimmten Stunde des Tages haltet der Menfó fi völlig um, fein Geſchäft ab, um einen von feiner unperſönlichen Arbeit getrennten Genuß, ein eigentliches perfönliches Leben, zu ham:

In diefer Teilung ator unperjonlider Arbeit, die nur die Mittel der Eriftenz zu —— hat, und perſönl chem pai fpielt fid) das Leben des modernen Menjchen ab, alle Formen feines Genuffes, feiner Gejelligteit find hieraus herzuleiten. Sn den romani- {hen und angelfadfifden Ländern hat man fic hiermit volltommen abgefunden, ein ganz beftimmter Lebensjtil bat diefes Verhältnis bertlárt und geadelt: die Formen der Arbeit! find praftifd und nüchtern, die Formen des Lebens und des Genufjes geihmadvoll und fider, der Menfd) gelangt in diefer reinlihen Scheidung von Leben und Gejchäft zu einem geiviffen Slüd; doch wird das höchſte Ziel hierbei immer die Freiheit vom Geſchäft, die völlige Hingabe an den Genuß, mit einem Worte: der Reichtum fein, der denn aud im Rentnertum in jenen Ländern alg Ziel erſtrebt wird.

Wir men alle, wie weit diefe Lebens- und al mit der fapitaliftifder ariba nung aud in Deutfdhland eingedrungen find. Dennod zeigt fi ein

nterfchied. etm deutfhen Kaufmann 3. B. war Perfon und Gefchäft, Genuß und Arbeit nicht fo fcharf getrennt wie in ben anderen Ländern: der Deutiche face, wie früher im Hand- wert, den Genuß und Sinn bes Lebens vielfach in der Arbeit felbft, fie wurde ihm Selbit- ed: das perfönliche Intereffe am Gefchäft ließ nie nad; er dehnte die Arbeit aud) auf ie Zeiten aus, da andere zu tan und zu genießen pflegten; er „hatte feine Zeit, müde u fein“, er war immer betriebfam, und überflügelte f&hließlih durch diefes Aufopfern eines ganzen Leben3 an die Sade den fremden Kaufmann. Dag freilich diefe Sade &hlieglih nur das Geldverdienen war, das bradjte den an fic idealiltifhen Arbeitstrieb n Miptredit, erfchuf das hablide Bild der Betriebfamfcit, des Streberifhen und Un— befhaulichen, Genußunfähigen, das die fremden Völker mit ihrem Gefühl für Lebengitil und «haltung fo abitieß, ja, das fie zum Mißverftehen, zur Angft vor der deutihen Arbeit verführte: fie faben den Deutfden als Friedensjtorer an, der ihnen ihr „Glück“, den Er- trag ihrer ruhigen, in fefte Bahnen geleiteten Arbeit, rauben wollte fie fahen den Ars beitfanatismus des Deutihen ala Konkurrenzfieber an, während er dod) in Wirklichkeit nur ein verfegter [höpferifher Raufd war, allerdings, eine Schöpfer- traft ans untauglide Objelt verjchivendet, ein Ydealismus, dem Materielliten dienjtbar emadt. Hier ftießen ——— zuſammen und der Deutſche konnte in dieſem nflift, der [aesti zur Weltlataftrophe wurde, nicht einmal fagen, daß er für feine eigene Welt- und Lebensanfidt fämpfe: er hatte die ihm urfprünglich fremde, bon ihm nicht erzeugte Weltordnung des Kapitalismus und Induftrialismus bon Romanen und Angelfahfen unbefehen übernommen; wenn er auch fein eigenes Geſetz der Arbeit in ihr betätigte, fo vermochte er fie doch nicht zu feiner eigenen, ihm entjpredhenden Wert- ordnung umgubilden, das war feine tragifche, swiefpaltige Situation, der gegenüber die der anderen Völker einfad) war, denn ihnen war in ihrem felbftgefchaffenen Kapitalismus wohl und bebaglid).” Ridhard Benz.

Das Turnen und die Vollshochichule.

Rw all den Richtungen unferer Volkshochſchulen ragen drei durd die Beftimmtheit ihres Zieles heraus. Es find dies bie politifhen, die tonfeffionellen und die, telde deutfches Bollstum wollen. Alle diefe Richtungen aber, auch die völfifche, die ihr Ziel mit dem bon Jahn geprägten Wort umidreibt, vergeffen das Turnen. Mer ein deutfches Volt bilden will, fann aber unmöglich den Körper unberiidfidtigt Laffer. SYedem, der Jahns Schriften und Werk tennt, wird diefer Mangel auffallen.

Die Volkshochſchulen, die in der Pflege unferes Voltstums das Heilmittel gegen die Krankheit unferer Zeit fehen, beginnen mit einer Arbeit, der wir vollsbewußte Turner feit Jahrzehnten unfere Kraft widmen. Unfere geiftigen Ziele find. gleich. Daher muß e3 jenen en leicht werden, die Wichtigkeit unjerer umfaffenderen Arbeit einzufehen und ung zu helfen, ae wir die Deutfhen auch tórperlid feftigen und

arten. Denn heute nod) wie früher ift das —— und Sinken der Völker abhängig bas

Don, ob fie auf gefunde und se Fre Körper Wert legen oder nicht. Ein Blid in die Bergan enbeit zeigt, daß alle auffteigenden, um ihre Geltung ringenden Völker jene viele feitige Orperausbildung am höchſten einfhägen, die der Krieger, der Kämpfer für Volt und Bollstum braucht. Es gab feine Fefte ohne Wettkämpfe, und die Wettlämpfer waren die Gewandteften, die Beften des Volkes. Dann in der Zeit des MWohlftandes wurden die Krieger und Wettlänpfer meijt ehe und dazu geziwungene Leute. Da ſchwand mit der Rottwendi Feit der körperlichen Ertúdtigung aud die Wertſchätzung dafür. In Verbindung amit nahmen die on al gu, welche die Voltstraft und Voll3gefundheit ſchädig- ten. Durd all das wurde der Verfall vieler Völker herbeigeführt. Die Robeit der Wett-

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fampfe in ben Zeiten des Niedergangs zeigte, daß niht Schönheit des Körpers und der Bewegung, fondern Nerbenanfpeit{dung verlangt und geboten wurde. Es fet hier an den Alltampf der Griechen, die Gladiatorentampfe der Römer und die Stierfämpfe der Spanier erinnert.

Ein Zeichen unferes Verfalles ift die Shabung des Fubballfpieles, wo fih Tau⸗ fende von Zufehern durch zweiundzwanzig Spieler aufregen Iaffen. Denn nicht Freude am volltráftigen Körper, fondern Spielleidenfchaft ift hier das Zugmittel. Schönheit des Körpers und der Bewegung kann durch diefen Sport weder gepflegt, noch gezeigt werden. Dazu ift er zu einfeitig und es gilt dod aud heute nod ein Stoß mit dem Fuß für m ider als ein Stoß mit der Fauft. : A 4

o zeigt diefer kurze Rüdblid die Angehörigen eines Volles beim Auffteigen als Kämpfer für ihr Volk und Voll3tum, beim Bliiben als Genießer, die für ihr Voll3tum wertlos find, beim Verfallen als Sklaven ihrer Leidenfchaften. Einen Beweis dafür, daß das nod) heute gilt, gibt ein Vergleich unferes Volles mit dem auffteigenden Tichechen- volfe. Beim Sotolfejte (Turnfeft der tihechiihen Turner) in Prag im Sunt vorigen Jahres trat durd Wort und Schrift ganz deutlich hervor, dak diefes Volk die Notwendigkeit der Geift und Körper en Erziehung Mar erkennt.

Unbejtreitbar ift, daß der Zufammenbana awifden Körper und Geift fo innig ift, daß man nidt auf die Dauer nur den Geift (oder nur den Körper) veredeln fann, ohne fchließlich beide der Entartung auszufegen. Jm gefunden Körper einen gefunden Geijt, tft eine alte Forderung. Es wird niemandem einfallen, einen Trunt, dn dem er fic laben will, in ein unreines A au giegen, Wagnerfde Muſik im Tingel-Tangel genießen gu wollen oder ein wertvolles Bild burd einen häßlichen Rahmen zu ftoren; man wird immer bemüht fein, die Hülle, die Umrahmung dem Inbalte entfprehend zu wählen. Es ware ein Unding, am lebenden Wefen, am Menfhen eine Ausnahme maden zu wollen. Schon allein der Schuß all des Edlen und Schönen, das ein Volt exftrebt, verlangt Volt3glieder, die nicht nur geiftig zur Wehrbereitſchaft, fondern aud Lörperlih zur Wehr- hbaftigteit erzogen And. Darum meinen wir, daß unferen deutſchen Volkshochſchulen aus ihrem Streben für unfer Volkstum ohne weiteres die Verpflichtung erwächſt, mitzu- helfen, in unferem Volte den Sinn für Schönheit des Körpers und der Bewegung, für die Zweckmäßigkeit der Körpererziehung im Sinne der Volksgefundheit und Wehrkraft wieder u eden und Wenn dann die auf völkiſcher Grundlage ſtehenden Volks—

ochſchulen ihr Wirken nach dieſer Richtung erweitert haben, iſt ihre Zuſammenarbeit mit dem Deutſchen Turnerbunde eine ſelbſtverſtändliche Folge. Die Art der Zuſammenarbeit wird ſich natürlich nad) den örtlichen Verhältniſſen richten müſſen. AlexKretſchmer.

Walter Rehn. 1.

3 (ut den deutfden bildenden Künftlern findet man fehr häufig eine eigentümliche Vereinigung bon bildnerifden und ,literarifden” Fähigkeiten. Das hat feinen Grund einmal in ber ftarten geijtigen Veranlagung unfres Volfes überhaupt, zum andern in der Fähigkeit, „bildhaft“ zu fühlen und zu denken oder, wie wir zu fagen pflegen: zu finnen. „Sinnen“ ift ein unentwirrbares Qneinanderleben bon Gemüt, Klang- und Bildvorjtellungen und Gedanken. .E3 ift weder ein flares Iogifhes Denken nod ein plaftiiches Herausftellen von Bildern oder Melodien nod aud) ein bloß paffives, dumpfes Gefühlsleben, es ift alles zugleih. Das Gefühl ift der Mutterboden, aus dem Bilder, Klänge, Vorjtellungen erwachſen und entiveder abfterben oder Blüte und Frucht bringen.

(Es hat Zeiten gegeben, in denen man den deutihen Künftlerm diefe Wefensart mit Hilfe äfthetifher Theorien au3treiben wollte. Wo fid das „Gemüt“ und das Seinige zu dem „rein Maleriſchen“ oder „rein Plaſtiſchen“ oder zu der „rein mujfitali- {hen Form” Hinzutat, fam der ftets und felbjtverftandlid) überlegene Kunftliterat meift aus Berlin und haute dem Gemüt mit impofanter Gebärde das Wortdhen plitecarifh” um die Ohren. „Literarifch” war unter den deutfhen Künſtlern lange das gefürchtetſte Schimpfwort. Literarifh waren felbftverjtändlich die Romantiter, war Lud- wig Richter, waren naher Bödlin und felbft Menzel. a:

Aber literarifh waren aud Dürer, Grünewald und Rembrandt: fie gaben als fünftlerifhe Form, fie regten Gemüt und Gedanken an. Und warum nidt? ES fommt nur darauf an, daß die Gedanken nicht in „nüchternen Allegorien“, fondern als wirklich Iebenerfüllte Gedanken in Symbolen angeregt werden. So wird die Erſcheinung zum Gleidnis. Diefe Gleidhnistraft, die, mit Fichte zu reden, das Ewige ins Yrdifde „verflößt”,*) gehört zur topifch deutſchen Sunftbegabung. Sie macht fd) geltend aud) im Bolos Expreffioni3mus, der ja ohnedies nur kunſtgewerbliche Bedeutung hätte.

Eben darum waren die deutiden bildenden Künſtler oft zugleih Dichter und Denter. Dürer ſchmiedete Verfe und ſchrieb Bücher. Richter und Runge waren auögezeihnete Er- zähler und Schriftfteller. Feuerbad) ſchrieb fein „Vermächtnis“ und wundervolle Briefe.

*) Flößen ift die Tätigleitsform gu fließen, b. b. fließen madden. 94

Umgelehrt hatten Goethe, Mörike, Keller, Stifter, Raabe Hang und Fähigkeiten zur bik denden unit. % der Gegenwart {cheint die Doppelbegabung häufiger hervorgubreden: man dente an Hans Thoma und Wilhelm Steinhaufen, man dente an Barlad, den Plaftiter und Dramatiker, an Lehmbrud, an Thylmann. Und an Walter Rehn. . Eben darum find die deutíchen Künſtler fo oft und in fo befonderem Sinne Graphiter. May Klinger hat in feiner berühmten Schrift den graphifchen Künften vor der Malerei das borausgegeben, dag man in ihnen gedanflide Beziehungen aus- drüden könne. Er felbft hat, befonders in feinen Zyklen, danad) gehandelt (vielmehr: er hat auf Grund feiner fünftlerifhen Taten fich die Theorie gebildet). Zu diefen „dichtenden und Graphikern“ gehört auch Walter Rehn.

oviel zur Rechtfertigung ſeines künſtleriſchen Daſeins gegen das „rein maleriſche“ Geſchwätz über das Literarifche. š ! * di

. Walter Rehn fam aus ármiten Lebensverhältniffen, aus dem Erzgebirgifchen. Er

fümpfte einen bittern Kampf ums Dafein, ſchwere Fabre hindurd. Ehe patademifde

Ausbildung” konnte er fa, nicht leiften, ein meni Schulung auf der Dresdener Sunjt-

gewerbeſchule war alles. Im übrigen ift er ein Mann aus eigener Kraft. Rührend und

pea grotest tft es, wie er das dürftige bißchen Leben friftete und dod) dem göttlichen eruf Genüge tat.

Mit der höchſten Achtung erfüllt es uns, wie Bier Träumer und Sinnierer, der tieffte Leidenſchaften kennt, der von dämonifchen Vifionen heimgeſucht wird, einen feften menjd- fiden Charakter bewahrt, wie er mit zäher Straft, auch mit Muger Ueberlegung fd fein nl ir erbaut. Diefes Staunen und Träumen im Verein mit tugem, nüchternen

ebensurteil, das fd jo eigentümlih im Blid feiner Augen mifdt, ift bezeichnend für Er Sunft: ein Syneinanber von Traum und Wirklichkeit, wobet freilih Traum und

ifion das Beftimmende find.

_ Sm allen Künften bat fd, Rehn verfucht. Nad unfrer Meinung it die Graphik fein ureigenes Gebiet. Daß aud) ein Architekt in ihm ftedt, zeigt das Raumgefühl, zeigen die oft erjtaunlihen Architekturen auf manden feiner Blatter. Aud) die Plaftik ift ihm nicht fremd geblieben. Vor allem aber zeichnete er mit Kohle, Stift und Radiernadel. Daneben ftebt eine umfangreiche dichterilde Seiftung, Gedichte und Dramen. Es find merfwiürdig tiefe Klänge in den Gedichten, aber meift find die Verfe überfrachtet, dunkel durch ein Uebermaß von Gedanken und Stimmungen, dagwifden mande Schlade. Dod haben wir für ein Gefamturteil zu wenig davon gelefen.

Seine Zeichnungen und Radierungen find bon unendlidem Reichtum. Da find Land» (Qee von feinftem Stimmung3reiz. Man fehe auf dem „Seiteniveg“, wie Wind und tante ee und fallendes Laub gefühlt find! Das Gerwaltigite aber find die vifionaren Blätter. Wir bringen ein Auferftehungsbild von ihm (groß, aber nod) nicht das Kühnite). Mie das Liht aus den Gräbern briht das ijt freilid ein „Gedanke“. Aber es ijt nicht blo 5 Gedanke, nicht „Literariih“ im üblen Sinne, fondern vifionär. Wie ließt und dámmert das Licht in den feltfamen Raum hinauf, durch den die dunklen Vogel fliegen. (Diefe Vögel kehren in dem Zyklus „Das Ende”, zu dem das Blatt gehört, viel- fad) wieder.) Vifionár ift auch das Blatt „Sorgen“ aus dem [egten Zyklus Rebns („Mein Weg mit dem Weib”, eine Folge von Radierungen und Gonetten, in 25 Abzügen). Zum Schoönften gehört das Blatt aus dem Märtyrer-Zyflus. Der Führer entihmwindet dem Vol? im Lichte, fragend wendet er fi) um, aber ohnmädtig fallen die ihm bisher Folgenden zurüd und auseinander. Ç Mat hat diefe Vifionen in ihrer Art und Kraft öfters mit denen Max Fungtz⸗ bere gliden, und eine gewiffe Rongenialitat liegt zweifellos vor. Hier und da laffen fic) wohl aud) „Einflüffe” nachweiſen. Aber ein Unterfdied ift da. Rebn Nd „tühner” in der Ere findung, aber weniger Mar und beftimmt in der Durchführung. Wie weit das durd die vifionáre Art und wie weit nur durch die geringere technifche Ausbildung bedingt ift, bleibt eine gone für fi. te ea Der Technil hat immerfort zugenommen. Goll man darum aber Blätter mit gewiffen Mängeln und Verzeihnungen geringſchätzen? Techniſche Vollendung kann man ſich anüben, aber echte Geſichte ſind Begnadung. Ein Blatt wie die Auf⸗ erſtehung bieibt trotz dieſer und jener Verzeichnung ein echtes Kunſtwerk, weil es Viſion iſt und Seele offenbart. Rehn pflegt eine Platte in einem Zuge zu vollenden, wenn ihn der Rauſch erfaßt hat. Er arbeitet in den früheften Morgenftunden, wenn die Dämonen des Abends und . der Nacht nidt mehr umgehen. Aud daraus erklärt fid) die „nicht durchgeführte” Art vieler Blätter. Durch eben diefes „Unbeftimmte“ aber bleibt ihnen aud) das Traumhafte bez wahrt. Nicht verſchwiegen werden er freilich, daß einige Blatter in der Tat „literariich“ find, abſichtsvoll gejhaffen zur Abrundung eines Zyflus, ferner, bah in eingelnen Blattern Xiterarifdes” fic) in das Urſprünglich-⸗Traumhafte eingedrängt hat. Es ift als foldes

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leicht zu erfennen. Jm Gefamtivert überwiegt das Echte und Große fo fehr, daß bie Nieten nicht ins Gewwidt fallen.

Rebn hat feine, wenn aud noch nicht u Gemeinde gefunden, ohne baB die weithin fGallenden Pofaunen des Kunfthandels für ihn geblafen hatten. Der Kunftwart hat bin und wieder auf ihn bhingeriejen. Rebn ift jung und in anfiteigender Kraft. Nach dem Pfunde, das ihm Gott gegeben, erwarten wir Großes von ihm. St.

Der Beobarhter

Sy Papier unferer Bücher, Beitichriften, Zeitungen ilt Ë daß es teils in dreißig,

in fünfzig, pes aber in hundert abren in Staub aufgelöft fein wird. Das ift ein wahres Glüd für unfre Nahlommen. (Auch für ung wir brauden uns nicht o fehr zu genieren vor ihnen!) Immerhin werden auch heutzutage Werke hervorgebradt, ie e3 verdienen, auf die Nachwelt zu kommen. Auch ftreng zeitlich bedingte Werke, die einft dem Gejchichtsforjcher etwas bedeuten werden! Daher tt zu wünſchen, daß die Vere leger von jeder widtigeren Schrift wenigftens ein paar Stüd auf Holzfreiem Papier berftellen und in geeignete Büchereien zur Verwahrung geben.

Si Mindener Univerfität richtet eine eigene Druderei ein. Aud in Leipzig geht man daran, den Studenten Arbeitögelegenheit durch eigene Unternehmungen zu geben. So Dean uns die Not dazu, aus den Univerfitäten Wertgemeinjhaften zu bilden. arum foll die Arbeit Taufender von jungen Menfden nicht zu gemeinfamen lanvollen Unternehmungen zufammengefaßt werden? Ware nicht in Kleinen Univer- amy aud) die Verwaltung eines Landgutes möglih? Die Studenten verdienen ihr

eld und werden zugleich in der Arbeit und durd die Arbeit gebildet. Hier ift eine Möglichkeit, das Geiftige und Körperliche vorbildlich zu vereinen. Menfchen und Arbeit, beide werden geabelt: der Segen der Not!

us dem Brief eines freien Gewerkſchafters: „Ich gehe jest bei der Streifleitung ſtem⸗

peln, bin Stimmbvieh in der Streifverfammlung und ftehe auch Streifpoften. eine Einblide in3 eben werden dadurd immer tiefer, mein „Klaffenbewußtfein“ immer ,man- gelhafter“ und meine Menfdenveradtung immer größer. Ich bin erfdroden über ben ethifden Tiefftand unferer heutigen Gewerkſchaftsbewegung. Das muß man alles ertragen, fo wie heute die Dinge auf der Gegenfeite liegen (felt organifiertes Unternehmertum, das natürlich unter unferer demokratifhen Verfaffung noch mächtiger wird!) Und dabei unjre Ausſichtsloſigkeit. Wenn heute bei den wahnfinnigen Preifen ein Streit länger als eine Mode dauert, dann kann er fe die Arbeiter [Hon als verloren gelten. Der ganze Streik ift heute überhaupt unperfönlich geworden. Verband gegen Verband. Wenn ich arbeiten wollte, müßte mich mein Arbeitgeber ausfperren. Der flucht genau fo auf feinen Verband, wie der Arbeiter auf den eigenen. Geftern hörte idj von einem Unternehmer, der feinent Arbeiter, den er entlaſſen mußte, Vorſchuß gegeben hat. Das Leben wehrt id) gegen das Papier. Das VBedentlicfte ift, daß Unternehmer und Arbeiter nicht mehr —— miteinander verhandeln, auch nicht einmal durch Leute, die aus ihren Reihen ervorgegangen ſind, ſondern daß Juriſten mit Juriſten verhandeln! Vorläufig haben erſt die Unternehmer ihre ſtudierten Advokaten. Wie lange dauert's, daß ſich aud die Arbeiter ebenfolde geriffenen ,Syuben” kaufen müffen? Was dabei moralifd und für die Volksgemeinſchaft heraustommt, ift troftlos.”

Sa Herrigel veröffentlichte in der Frankfurter Zeitung einen offenen „Brief an Herrn Brofejjor Rade”, in dem er fich gegen alle „Wortgebäude” wendet. Aus den bortrefflihen Ausführungen heben wir folgende Säge heraus: „Sch fehe immer wieder, daß neue Bünde entjtehen, die im Grunde nichts anderes wollen als andere fon beftehende aud) und die „von einem großen Ausdehnungsbedürfnis erfüllt“ gum’ Beitritt auf- fordern und miteinander in Wettbewerb treten. (ES ift immer tuieder dasfelbe: jeder diefer Bünde ruft zu gemeinfamer Arbeit auf, aber tatjächlich jteigern fie mur die Bere pi tterung und Parteiung, da jeder meint, die andern müßten zu ihm fommen, und feiner en patea task macht, ſich andern anzufchließen und einzuordnen.” „Führer fein, das heißt Diftang gewonnen Haben, nicht mehr innerhalb einer Zeit fteben, Be außerhalb ihrer feften Boden gefunden haben.” „Ich fehe allen heutigen eftrebungen gegenüber bloß eine Möglichkeit: nit mitgumaden. Es handelt fi) dabei nur um die Entiheidung: mwillit Du der Beit dienen oder nit? Diefer @tep= tizismus ift fein pringipieller, fondern nur ein vorläufiger. Für heute bleibt nichts

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anderes möglich al3 die Enthaltung, fo ſchwer das aud ift. Das Pofitive dabei tft, fich die Mapitäbe nicht verwirren ae Wenn ich auch feinen gangbaren Weg febe, fo will tah dod) das Biel nicht aus den Augen laffen.”

RY einer Weltanfdauung heraus, die dag perfünliche Leid und Elend für unerträglicher + Y Hält als die Verlegung der Ehrfurcht vor der Heiligkeit jeder feimenden Menfden- blume, ift eine „Bewegung“ entitanden, welche die Abtreibung ftraffret machen will. Gut, man fann für folde Gedanken eintreten, wenn man fie für richtig hält. Aber widermärtig ift e3, wenn man grelle, innerlid unwahre Schlagworte gegen die Anſchauung losläßt, die man bekämpft. Die, welche die Vernichtung des keimenden Lebens ftraffrei machen wollen, werfen den Andersdentenden das Wort „Gebärzwang“ entgegen. Wollten die andern in leider ae antworten, fo wirrden fie jagen: hr aber fampft für den Kindermorb. ird durch folche agitatorifche Vergroberung irgend etivas gefördert?

ray: einem Flugblatt der „Hamburger Yugendhochichulgemeinde” bon Dr. Ernft Foerfter ift zu lefen: „PBhilofophijch-religiofe Abende. Ym Sommer-Trimefter behandelten wir folgende Themen: 1. Ex oriente Lux. 2. Konfustje und Laostfe. 3. Tſchuangtſes Gleich» nifje. 4. Die Welt des Brahma und Buddha und Chriftus. Für die beiden Winter-Tri- mejter ift das Thema anfgeftellt: Einführung in die Ydeenwelt der Ruffen. Jm erften Winter-Trimefter Rent zur Behandlung: Leo Zolftoi und wir, im zweiten: Doſtojewski und Turgeniew.” Dr. Ernjt Foerfter tann weder Ehinefifh nod Indiſch nod Ruſſiſch. Alfo madt er fi} aus Ueberfegungen etwas „daraus“ und „darüber“ zurecht. Und deutjche Arbeiterjugend ift dann gut genug, diefes afteriwiffenfdaftlide Zeug fic) in die Köpfe ſchwatzen zu laſſen. er mag te febn, wie fie den Kram wieder [08 wird aus dem Gehirn und zu einem redten, verjtändigen Leben fommt. E3 fann einen Hund jammern, wie leidtfertig die Bilbungsbetrichmadher mit Menfdenfeelen umgehn.

Syd die Zeitungen ging die Mitteilung, daß die Tränen, die Afta Nielfen auf der Flimmerwand weint, eigentlich Glygerin feien. Weil dadurch der fünftleriihe Ruf des Kinofterns gefhädigt und „die vielen Vorurteile, bie immer nod) gegen die Kinokunft im gebildeten Publitum tief eingemwurzelt find”, unterftügt werden könnten, fehreibt der aud zum Sinoftern gewordene Paul Wegener eine tief empfundene und fachkundige Aufklärung an das deutfche Volk. Er teilt darin mit: „ch habe im Herbft mit Aſta Nielfen einen Film Steuermann Se gefpielt. Yn diefem Film bat Nielſen in zwei Szenen mit mir u weinen... . Frau Nielſen hat dann während der Aufnahmen helle Tränen geweint, ohne he Glycerin einzuträufeln. Man könnie vielleicht den nl machen, fie hätte aud mid getäufcht und heimlich im [estem Moment fich doch eine Ein —— —— Hier⸗ egen iſt zu bemerken, daß ich ihr in einer Szene die Tränen von den Wangen (Menſch, fs blog nod: Baden) gu fiiffen habe, und ich fonftatiere, daß die Tränen to atte rig und alzig waren. Glycerin ijt aber befanntlid fettig und fitB.” Baul Wegener! Menſch! Schlemmer! Sie haben verdient, daß fie Ihnen „eenen extra Jibbt”, oh ne Salzigteit. Nu kann det Vataland wieda ruhig in’n Kientopp jehn die Tränen dadrin find echt und die Küſſe ob. Kinokultur.

n Berlin too fonft? erfdeint eine Wochenſchrift von fo penetrant jüdiſchem Cha- rakter, daß felbjt Siegfried SJatobfohns „Weltbühne” fie al3 peinlich empfindet und (mas fic fehr gut ausnimmt) beftandig Spezialität dieſer Wochenſchrift: mit

ewaltigem und edlem Mute werden die ſchmählichſten von allen Berliner WW-Genüſſen tn Grund und Boden gehobat nadbem fie in den eindringlichiten Farben in unendlider Breite und mit der dem Feuilletoniften eigenen Unerfchöpflichleit lieblider eitenlang geſchildert worden find. Tendenz: hochvornehm. Ueberſchrift (auf der Reklame» inde auffällig wiederholt): pikant. Aud „neue Kunſtformen“ „erfindet“ man für den Zived. „Schmonzetten” nennt Carl Rößler, der Herjteller der „Fünf Frankfurter“, feine Art Feuilleton. Er fest ſtolz-beſcheiden zur Erklärung davor: „Ste ſchwankt zwiſchen —— und Feuilleton.“ Sie ſchwankt aber auch zwiſchen ganz andern Dingen, zum eiſpiel zwiſchen Moſchusduft und Jauche. Jeder geiſtig gehobene Spießer und ve tefpettive Dame kann ſich's nicht gewürzter wünfcen. an ijt gebildet, indem man fid) „amüfiert“. Man it moralifó, indem man die Unmoral wiederfäuend doppelt genießt. Der Trid ift night gang neu. Schon zur Zeit der Schillerfchen und Goetheſchen Xenien war e3 befannt: „Wenn fid) das Lafter erbricht, fett fid) die Tugend gu Tif.” Diefer Pentameter Herrn Stefan Großmann ind ,Tagebud)”. T.

ie ,Bodenreform” gibt folgende Reflame der U.-T.-Lichtipiele in Berlin zu bedenten: „Bei den in den Tempelbofer Ateliers geftellten Bauten waren u.a. 14 Poliere, erg und 400 Stuffateure befdaftigt. Während der faft drei Monate dauernden auzeit wurden annähernd 2500 Raummeter Holz verbraudt, 12000 Duadratmeter Ge- webe, 14000 Sad Gips, 20 000 Sad Kalt, 200 000 Kubikmeter Gand, 84 000 Stüd Dad-

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giogel und 125 000 Mauerfteine. Die hiftorifd getreue Nachbildung der Weftminfter-Mbtet erforderte 380 Skulpturen; unt eine echte e] ai der Anna-Boleyn-Stadt herzuftellen, mußten 12 000 Quadratmeter Pflafterfteine beforgt werden. Zur Unterbringung der Dar- fteller ließ die Ufa zehn große Baraden bauen.” Die ,Bodenreform” ftellt dem gegenüber, daß in Groß-Berlin 100 000 Familien ohne eigene Wohnung find, von denen nit weniger als 24000 die amtlide Befdheinigung haben, daß ihre Wohnungs- not „dringend“ ift. Sie fragt: „Mit welden Gefühlen mögen folde Familien, deren Elend fich bie Menfchen in gefiherten Verbáltniffen ſchwer ausmalen können, wohl diefe Filmangeige lefen?” Wir antworten: Die meiften von ihnen werden auf diefe. Film» anzeige hin hocherfreut ins Kino laufen, um die glüdlofe Anna Boleyn fic) vorflimmern u lafjen. Der ganze Spuf wäre unmöglid, Denn das Kintototgeftreiftwürde.

arten mir nicht exft darauf, dak eine Demokratie, die in Wahrheit eine Kapitaliftofratie ijt, bem Berliner Kino-Kapital einen Schmerz antut!

Her betta und Gambettas Herz ift bon oſtjüdiſchen ———— in Deutſchland fleißig mit Gedenkaufſätzen gefetert worden. Man muß doch drüber ſprechen! Paul Blod, der nun wieder o Wonne! in Paris fein darf, ſchwelgt im Feuilleton des Berliner Tageblattes: „Ein halbes Jahrhundert nad Frankreichs Zufammenbrud, 38 Sabre nad) Gambettas Tod, weihen in Dankbarkeit die Wiedererftandenen das Andenken ihres Pro- pheten der nationalen Unfterblidfeit. Wir Deutfche haben feinen Grund, frangojtide Feſte mitzufeiern, aber Gambettas Herz dürfen auch wir alg ein Symbol betrachten.” Nämlich weil Gambetta gefagt hat: „Nie davon ſprechen, aber immer daran denken.” Aud) wir, chreibt Blod, dürfen nie von Verfailles fprehen und miiffen immer daran denten. Leider dt e8 bei ung nidt fo wie bei er „Was die Frangofen zum ftartíten Gefühl ihres

ollstums zuſammenſchmolz, die Not, reißt uns auseinander. Ihnen war in der Beit der Erniedrigung ber nationale Gedanke Stärkung und einziger Lebenszwed. Mir bergeuden die Zeit, das einzige, was ung geblieben ift, mit internationalen Phrafen und Träumen.” Alfo die —— nach 1870 haben es a ae die Deutfden nad) 1918 falfd). Gambettas Herz I Deutſchlands Symbol! amlid fo: „Wohl aber, ard) wenn wir ſchweigen, immer daran denfen —ennaudimandern Stnn, als Gambetta esfeineLandsleutelehrte. Wir wollen nit an einen neuen Kampf... denten, aber an das friedliche, arbeitfame Deutfdland, das einmal war und das wir uns wieder erſchaffen wollen.” ¿freilid), was ijt die deutiche Freiheit? Die Deutfden follen brav arbeiten, daß man ein Gefdaft mit ‘ier maden fann. Für die Frangofen „der nationale Gedanke”, fur die Deutſchen „friedliche Arbeitfamteit”. Und für das Zwiſchenvolk das Geihäft mit beiden.

3 n der Weihnadhtsnummer des , Ult”, der Wodhenbeilage des Berliner Tageblattes, lefen wir unter der Ueberfdrift: „Der Onkel”: „Sag’ mal, Mutti, warum gehen wir denn [don nad Haufe? Der fremde Onkel, der mir den Luftballon ſchenkte, fagte dod) nachher in der Konditorei: Wenn jet dein Mann hereinfame, das gäbe eine [bone Befderung!” Es ift volterpfydologifd intereffant, was für Vorftelungen und Wortfpiele manden alg „Wite” erfheinen.

Wit haben in verfdiedenen Fallen (Ricarda Hud, Oswald Spengler) darauf Din. gewieſen, wie die Zeitungen, in_denen fid) judifde Anfdyauungen in der deutjwen Dejfentlichteit geltend machen, den Schriftfteller, der jenen Anſchauungen entgegen- ¿udenten wagt, mit riidfidjtslofer Ploglidteit gu entwerten fuden. Ein neues bemerfens- wertes Beifpiel dafür ift die Art, wie der Simpliziffimus jest von der Frankfurter Zeitung behandelt wird. Früher pried fie wie andre Leute and feine hohe künftlerifche Bedeu- tung. Wenn jemand, durd den Big getroffen, auf den Simplizifjimus fehalt, war er für die Frankfurter Zeitung ein humorlofer Banaufe. Das Blatt hat fid) erheblich gewendet, e8 offenbar wurde, daß der Simpliziffimus nicht völlig in die Weltanfdauung der

tanffurter Zeitung eingeht. Alsbald fährt ihm die Kralle ins Geficht: „Cs nird gerade aus diefer Nummer (zum Gedächtnis der Reichsgründung) eines Wigblattes, das ein jr Anfpruc erheben durfte, einen politijd-tulturellen Willen auszudrüden, mit aller Deut« lichkeit ar, wie fehr es feine politifche Linie mit einem unpolitifhen Ráfonnement ein- getaufdt hat. Der Simplizifjimus, einft Kämpfer gegen die Auswüchſe des Militarismus, des Kerifalismus, des Juntertums, irgendwie eine Fahne, die für die Freiheit wehte, tft ein Organ für den unpolitiihen Sinn, das Laden um jeden Preis, geworden; allenfalls ift es für die Zmede des Münchener Ordnungsblodes zu gebrauden... Es lobnte fid nicht, den geiftigen Abſtieg eines der vielen Organe der Deffentlichkeit zu vermerken, wenn das augenblidlihe Niveau des Simpliziffimus ihm nicht geftattete, Organ des unpoliti« ar Spießertums zu fein.” Man beachte die Entwertungstednif: den fünftleriihen

ert fann man nicht wegdelretieren, man würde fic) damit jelbft De ek alſo fpridt man dem Gegner den geiftigen Wert ab. Für den harmlofen Lefer farbt eins aufs andre über. ES find aber in Wahrheit gar nicht „geiftige” Werte, jondern Barteimerte, die für das veränderte Urteil in Frage tommen. Solange der Simpliziffimus die „Sahne“

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für die Freiheit hochhielt, für die fic) die Frankfurter Zeitung intereffiert, war er lobens- wert. Seitdem er bie Fahne aud für andre Werte ſchwingt, fpridt man bon „geiftigem Abftieg.“ (Womit nicht gejagt fein foll, daß wir durdaus mit dem Jn balt der bejagten Satire einverftanden find; dod) das fteht hier nicht zur Frage.)

Zwieſprache

IR Heft wurde abgefdloffen, als die „Barifer Beſchlüſſe“ befannt geworden waren. wily set nod) al3 die Beſchlüſſe wirken die aufgeblähten Redensarten, mit denen das Franzoſenvölkchen uns zu traftieren beliebt. (Der Mann mit dem zutreffenden Namen Kloß fagte in der frangofifden Kammer: „Wegen ber —— hat Deutſchland ſich jeder Bemerkung zu enthalten.“) Die franzöſiſchen Eſel dürften ſich tm Irrtum bee finden, wenn ſie den deutſchen Löwen für tot halten. Ein ſterbender Löwe kann immer noch eine ganze Herde Eſel als Gefolge in den Hades mit hinunternehmen. Und unter Umſtänden [ebt er wieder auf und läßt die Eſel allein zum Fate Sluffe trotten. Das ijt aud) wobl die geheime Angft der frangofifden Efel, die fie durch ihr hallendes F-A übertönen möchten. : Wie ijt die Lage? Frankreich wurde von uns aufs Haupt gefchlagen, Rußland wurde bon uns zu Boden gefdlagen, England wehrte fic) mit äußerjter Anftrengung und drohte gu unterliegen. Als die Wage der Kräfte ſchwankte, eilte Amerika herbei, um fein in den Krieg invejtiertes Kapital zu retten, und gab den Ausſchlag gegen uns. Nun will Frant- reich den Vorteil aus der Tat Amerikas ziehen. Das nejchlagene Frankreich will den Sieg der Amerikaner aufrecht erhalten. Sintemalen wir Deutſche aber mehr Menjchen find und die Frangofen alfo heimlich vor den Deutfden zittern, fucden fiedurd raffinierte Aciedlide” Abtötungsmethoden die deutihe Menfchenkraft auszumorden und die deutfche Wirtfchaftstraft in die eigenen Geldfdrante hiniibergufaugen. Aber was wollen die Schwadroneure bon Paris maden, wenn wir die Hände in die Hofentafhen fteden und ihnen den Rüden gudrehen? Die franzöfifhen Generalden fagen mit Ymperatoren- Gebärde: „Wir werden das Rubrgebiet befegen! Wir werden...“ Sie willen fehr wohl, dak der Schritt über den Rhein Frankreichs Zufammenbrud bedeutet. Denn das ijt der Hohn der Beligel Gite dak das Woblergehn des „Jiegreichen” Frankreichs von dem guten Willen des ,befiegten” Deutfchlands abhängig getvorden ijt.

Laffen wir uns alfo nidts anfechten, fondern arbeiten wir gelaffen unfre eigne Arbeit weiter! Wir haben es in diefer Zeitjchrift mit unferm Volfstum zu tun, dor allem auch mit unfrer zu: Da ijt es ein befonderer Glüdszufall, J wir etwas fo Seltenes

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nidjt tut, zu einem Vortrag bereit finden laffen, um das, was fid) thm aus feinem hin{te fertfden Fühlen und Streben heraus an Ginfidten darbot, in Worten auszufpredhen. So

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„Abfichten”, fondern at ganz einfad auf den Nährboden echter Sunft bin. Es ift der Boben, aus dem aud fetne Sunft erwadfen ift. So tft Mies’ ,Abendmabl” ein programmlofes, echt deutjches Kunſtwerk. Nach fünfzig Jahren, wenn die Meinungen der Tagestunjttrititer nicht mehr die Meinungen des Sunjtpublitum3 bejtinnmen, wird man es ganz anders werten. Man wird mit adtungsvoller Langeweile an den endlofen mit den zahlloſen Liebermanns uſw. vorbeigehen und jenes Abendmahlsbild uchen.

Bei dieſer Gelegenheit verweiſen wir auf die von Hanns Fechner herausgegebenen „Bekenntniſſe deutſcher Künſtler“ (Kurt Viewegs Peach: Leipzig, 96 Seiten), mit Bei- tragen von Hanns und Werner Fechner, Trübner, Prell, Acute. Waldemar Bonſels u. p. m. Darin manches beachtliche Wort über die „Internationalität“ der unit, über Pflichten des Künftlers gegen fein Volk, über die Entitehung des Kunſtwerks.

Die An hi von Walter Rehn, mit dem die Bilderbeilagen diefes Heftes bekannt machen, ijt Klein-Zihahtvig bei Dresden, Margarethenitraße 7.

Bu den Bilder eilagen des vorigen Heftes ift zu bemerken, daß das Blatt der „Sonne, die durch Wolken bricht” leider infu a der Vertleinerung fehr verloren hat. Es ift nichts bon der fräftigen Größe des Holzſchnittes geblieben. Wud) die andern Blatter außer den Putten haben wenig von der Kraft der Holzichnitte felbft behalten.

Bon Karl Thylmann naben wir im Aprilbeft 1919 vier Holgfdnitte wieder. Diesmal seen tir eine umfafjendere des Künſtlers. Ein Auszug aus Thylmanns

tiefen ift für feine Freunde herausgegeben von Frau Joanna Thylmann in Darmſtadt,

99.

Herdweg 62. Von dort fann man aud die „Furt“ haben. Ein Marienlied ans der „Furt“ drudten wir im legten Weihna ab.

Als wir dieſes Heft abſchloſſen, brachten die Zeitungen die Nachricht von Karl Haupt- manns Tod. Wir haben {con längere Beit eine Würdigung feiner Werke zu liegen, nun fann e8 eine abj&hließende Würdigung werden, die wir in einem der nächiten Hefte bringen.

Der Brief über die Leben-Jeſu-Bücher wird nur für folle maßgebend fein, die den

efhichtlihen Standpunkt Claſſens anerkennen. Wir hoffen, aud eine Ueberſicht über as katholiſche Schrifttum a Syelu Leben bringen zu tónnen. Ueber einige neuere Werke die von Clafjen nicht berüdfichtigt find, fchreibt uns Stählin. Wir maden übrigens nod) auf Hegels „Leben Jeſu“, das Eugen Diederichs 1906 herausbradte und das aud) Nohl in „Hegels theologiihen Jugendſchriften“ abdrudte. Ein zeitgefchichtlich —— erſuch.

er Geſchenke zur Einſegnung ſucht, der aufmerkſam gemacht darauf, daß von

den „Vaterländiſchen Predigten“ von Friedrich Schleiermacher, die unſer Mitarbeiter Chriſtian Boeck im Staatspolitiſchen Verlag in Berlin neu in Auswahl pa hat, nun das ziveite Bändchen (90 S., 3,50 ME; das erfte Bändchen tojtete 3 .) bore liegt. Diefer zweite Teil reiht von 1807 bis 1813; es gilt von ihm basfelbe, was mir vom eriten pe fagten. Als Einleitung und Ergänzung erſchien im gleichen Verlag und in gleider Ausftattung ein Heft von Chriftian Boed: „Schleiermachers vaterlandifdes Wirken 1806/13”. (64 @. 8,50 Mt.) Wir wünfchen dem vortreffliden Unternehmen die neue aoe Boed verdient unfern Dank, dak er diefen Schaß zu diefer Zeit

eboben bat. Ç Aus Defterreich kommen häufig Bitten um Freibegug oder Preisermäßigung des Volkstums“. Jn einigen Fallen konnten wir den Wünſchen entgegenfommen. Aber der Verlag ta nn das nicht in dem Maße tun, wie er es möchte. So fdlimm Defterreich wegen feiner Valuta daran ift, jo qut oe ein großer Teil des Auslandes beim Bezug der Zeitfchrift Infolge der Karen deutjhen Baluta. Unfer Verlag bat fic) nun fo entihloffen: Das Ausland zahlt den doppelten Preis fürs Deutſche Volls- tum (was infolge des Martturfea immer nod) fehr billig ift), aber die Deutfchen in Oejterreid und andern Ländern mit ſchlechter Valuta erhalten je nad) der Zahl der Aus- Tandbezieher das D. Y. teil3 ermäßigt, teils umfonjt. So dienen wir unjerm Vol! am beiten. Außerdem bitten wir Deutide, die das [eifterfinnen, Geld

ur Verfigung qu ftellen, Damit das D. VB, umfonft an Deutſche in Deiterreie, Polen ufto. geliefert werden fann. Damit die geiftigen ven über die Grenzen hinweg lebendig bleiben!

Der Beitrag über Turnen und Volkshochſchule blieb des Raumes halber aus der Januarnummer weg. Wir wiederholen daher aus der Januar-Zwieſprache: Wer beſondere Teilnahme für die Gade hat, wende fd) an die Fichte-Geſellſchaft (Hamburg 36, Poft- imliegfad 124) oder an die Reichsdeutſche Gefchäftsitelle des Deutichen Turnerbundes, Leipzig, Lösniger Straße 35.

Jn dem Auffag „Recht und Unrecht im Antifemiti8mus” im Februarbeft habe id die beiden erften Zeilen verpudelt. Es muß heißen: „Ueber die Reibungen, die fic aus dem Zufammenleben verjchiedener Völker ergeben und die aud) jene eigentümlich foziale

Erfdeinung .. .” Stimmen der Meijter.

Gre tollt in ihrer Bahn

Erde fängt zu ftrablen an,

Erde will vernidtigt werben,

Auferftehn in lidtrer Erden: Schmerzen die erfhufen wir.

Schmerzen q aus wader Gier.

Wefen, die das Licht verfdergen,

Werden wir bewußt durd Schmerzen. Liebe, aller Schöpfung Keim,

Liebe fucht die Erde heim,

Daß fie nun ihr Herzichlag bliebe.

Erdengeijt ward Chrijt, die Liebe.

Karl Thylmann.

Derausgeber: Dr. Wilhelm Stapel. (Sic ben Inhalt verantwortlid). Sants Dr. Lub- wig aninghoff. ufbriften und Einfendungen find zu rigten an die SHriftlettung des Deutihen Dollstums, Hamburg 36, Holftenplas 2. Für unverlangte Einfendungen wird feine Werant- wortung übernommen. Derlag und Drud: Hanjeatijge Derlagsanftalt AtttengefelifGaft, Hamburg Bezugspreis: Dierteljäpelih 7,50 Mart, Einzelpeft 5 Mart., für bas Ausland ber doppelte Betrag. —— Hamburg 15475.

Nadbrud ber Beiträge mit genauer Onellenangabe ift von der Schriftleitung aus erlaubt, unbejfabet. ber te des Derfaffers.

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Aus dem Deutichen Volfstum

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1921

Hanseatischer Kunstverlag

Hamburg 36, Holstenplatz 2

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Wir bitten, unser Verlagsverzeichnis zu verlangen Auskünfte bereitwilligst Wanderausstellungen mit Vorträgen Photographien nach Gemälden aus der Hamburger Kunsthalle und Privatbesitz Signierte Künstler-Handdrucke, Radierungen, Steinzeichnungen, Holzschnitte in großer Auswahl

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Probebánde des Volfstums

beftehend aus vier neueren Heften der Jahrgänge 1919 und 1920 find foeben fertig geworden und ftehen zu Werbe: sweden zur Verfügung. Wir bitten unfere Lefer, Freunde und Bekannte, die nod) nicht zur VolEstumgemeinde ge: hören, auf diefe Probebánde aufmerkſam zu machen. Das Stüd foftet 4 Mark. Sede Buchhandlung Fann fie bes forgen, fonft der Verlag in Hamburg 36, Holftenplag 2.

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Aus dem Deutfhen Voltstum

Sacoba van Heemäterd

Deutiches DolFstum

4.5eft sine Monatsfchrift 192)

Das geiftige Deutfchland und die Hepublif.

Offener Briefan Konrad Hänifd. ehr geehrter Herr Minifter! Unter allen Miniftern find Sie bisher am bäufigiten mit „offenen Briefen” heimgefucht worden. Nicht ohne Wider- ftceben beteilige id) mid) an dieſem öffentlichen Briefefchreiben. Aber die Auf- fáte, die Sie jüngft im Berliner Tageblatt über das Verhältnis des geiftigen Deutfchlands zur Republif und über die Frage, wie der geiftige Arbeiter für den neuen Staat getwonnen werden könne, herausbradten, find fo perfinlider Art, daß es mir für die Erkenntnis der geiftigen Sage förderlich erfcheint, aud bon mir aus al3 von Seiten eines jener ,geiftigen Arbeiter” die Dinge nicht minder perfönlich darzuftellen. Diefer Abficht gemäß wähle ich die Form des Briefes. Das it zudem fachlich gerechtfertigt, weil es fic) im Grunde um geiftige und feelifche Beziehungen handelt, die vom Perfönlichen nicht abgetrennt werden können. Aber das Perfönliche der Erörterung darf nicht das Zufállig-Subjettive fein, fondern e3 muß Ausdrud eines Typifden fein. Darum fpreche ich nicht bloß für „mich“, fondern für viele, die wie ich empfinden. . Und ich richte die Worte nicht nur

an Sie al3 Einzelnen, fondern an viele, die wie Sie empfinden.

Was hat mich bei der Ummälzung am neunten November verhindert, mich tie jagt man doch? auf den Boden der neuen Tatfaden zu ftellen? Und was treibt mich, je üppiger die neuen Tatfachen aus dem alten zerbrödelnden Bau- ſchutt aufwuchern, mit innerer Folgerichtigfeit in immer ftárteren Untillen gegen den „neuen Frühling”, und gibt mir Grund, ihn für mwurzelfaul zu halten?

Bon vornherein darf ich den Verdacht abweifen, dak ein heimlicher Bourgeois aus mir fprade. Mein Lebensweg und mein Lebensgefühl ift durchaus nicht bourgeoismäßig. Die Ratlofigteiten und Bitterniffe des befiglofen Dafeins habe id) gründlicher durchgemacht al3 manche Proletarierführer, deren Lebenshemmniffe nicht3 andres tvaren und find alg gehemmter Ehrgeiz. Die fozialiftifche Gedanfentwelt ift mir nicht bloß „Objekt der Betrachtung” geivefen, ift e8 auch heute nit. Alfo liegt mir eine Bourgeois-Sehnfucht nad „den guten alten Zeiten” durchaus fern.

SH mar nicht Marzift, aber ich empfand in der Sozialdemokratie bor dem neunten November einen gefunden und notwendigen Widerfpruch gegen den volfs- verberberifchen Betrieb des modernen Wirtfchaftslebens, gegen das rüdfichtslofe Unterjtampfen deutjcher Volt8fraft im Dienft einer Money-maferei, der alles echte Wertgefühl abhanden gefommen war. Wäre Deutjchland im Kriege fiegreich ge- blieben und wäre die Wirkung ein toller Ynduftrialismus und Kapitalismus ge- tejen, fo würde ich heute im Sampfe dagegen wahrjcheinlich Parteifozialift fein. Um folder meiner innern Einftellung willen hielt mich wohl mancher ftille Partei- fozialift, der aus „Nüdfichten” cine bürgerlihe Maske trug, für feinesgleichen und mar erftaunt, als in den Tagen der Ummälzung bei mir nicht ebenfo wie bei ihm eine Maste vom Geficht fiel. Aber das Nationale und das Soziale find mir niemals zwei Begriffe getvefen, die man durd) Bindeftride Iole zu einem „Pro- gramm” zufammenfegen und bei geänderten Verhältniffen wieder auseinander fegen tana, fondern immer zwei Bezeichnungen derfelben Sache.

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Und nun zu den Gründen meiner und vieler anderer Zurüdhaltung gegenüber dem „neuen Staat”.

Zunächſt muß id) auf zwei mittoirkende feelifche Hemmungen hinweiſen. Als nad) der Verkündigung der Republik die fozialdemofratifche Partei zur Geſetze beftim- menden und Aemter fpendenden Macht geworden war, befannten fich plößlich zu ihr eine Menge bon Beamten und allerlei bewegliche Nutznießer des öffentlichen Wefens, die mit Hilfe der Sozialdemokratie ihre „Reformideen” an den Mann zu bringen und juft in diefer Zeit den Fortfdritt der Menfchheit zu fördern bofften eine wenig angenehme Gejelihaft. Mit folchen bereitwilligen Zeitgenofjen auch mur feheinbar in einer Reihe zu ftehn, geht mir wider den Gefdmad. Je mehr bon diefer Art in Aernter und Würden einrüdten, um fo tiefer fant meine Achtung vor den Aemtern und Würden, die für ein Bartei-Belenntnis feil find, und damit bor dem Gtaate, wie er ift. Yo) begreife nicht, daß der Nepotismus politifcher Parteien ein Fortfchritt fet über den Nepotismus etiva des Korpsftudententums oder bejtimmter Familien. Die Träger des republifanifden Gedantens wollten offenbar in Eile alles „mit dem neuen Geift erfüllen”, möglichft bis zum nächſten Wahllampf die Hebpeitfchen der Demagogie, die von allen Seiten her tnallten, ließen e8 nicht anders zu. Darum führte man nicht und entwidelte nidt, fondern griff auf (Sdeen und Menfchen), [Haffte ab und führte ein, ohne je an das Wefentlide zu fommen. Wer aber Sinn für das Wefentlide hat, halt fich von diefer fehrwindligen Unruhe fern. Man muß die Wunder-Dokteret der Republik ſich austoben laffen. Einmal wird ja die Zeit fommen, wo bie Junter, die Alldeutfchen, die Pfaffen und ähnliche Bubemánner des Wahllampfes wirklich nicht mehr ſchuld fein können an den Unzulänglichkeiten der „neuen Beit”. Glaubt man, daß die Menſchen, die aus folden Gründen „nicht mitmachen“, nur „rüd- Ständig“ feien? Daß e8 Leute feien, die nur aus fchwerfälligen Pietatsgefiihlen nicht lostommen können vom gewohnten Alten? Dann täufcht man fih. ES find gerade folde Menſchen unter ihnen, die ein befonders Yebhaftes Empfinden haben für Werte wie Treue, Stetigkeit, Würde, Zurüdhaltung, alfo für die Werte, die für den Aufbau feftgefügter Staaten unerläßlich find.

Eine andre Stimmung des „Degoüts”’ am Wefen der deutfden Republil wird nicht fo fehr von den Mitläufern als von den Führern felbft verfchuldet. Die Führer ber Republif des neunten November find allefamt im Parteileben groß und flug geworden. Daher fehlt ihnen die Fähigkeit, andre Menfchen als die ihres Kreifes von innen heraus zu verftehn: fie halten die andern für dumm, unauf- geklärt, irregeführt. Weld) eine Fülle pſychologiſcher Fehler entjpringt daraus! Nehmen wir Männer wie Hermann Müller oder Philipp Scheidemann ¿iveifellos find e8 achtensiwerte Begabungen; aber all ihr Reden und Tun meift eine wunderliche geiftige Begrenztheit auf, man wird darf man es fagen? das Empfinden nicht log, ſelbſtbewußte Schulmeifter vor fich gu haben, die außerhalb des eigentlichen Parteibetriebs fd) ausnehmen tie Chriftian Morgenfterns Huhn in der Bahnıhofs- halle. Sie, Herr Minifter, gehören nicht zu diefer Art. Anfangs waren Sie auf dem Wege, das Vertrauen auch der „andern“ zu gewinnen. Aber nur anfangs. Freilich ftreitet Yhnen exnftbaft wohl feiner den guten Willen gegen Ander3bentende ab. Aber e3 ift etwas auch zwifchen Sie und das geiftige Deutfchland getommen. Das ift, um e8 mit einem Worte zu fagen, die Atmofphäre des Berliner Tage- blattes. Man fann nicht zu gleicher Beit in diefer Atmofphäre leben und das Vertrauen der deutfchen Intelligenz gewinnen wollen. Dadurch zum Beifpiel, da Sie die Auffäge, die der Anlaß diefes Briefes find, ausgerechnet im Berliner Tageblatt veröffentlichten, gaben Sie ihnen eine befondere ganz gewif nicht beabfichtigte Färbung und Wirkung. Hier zeigt fic) das Unficheriverden des pfychologifchen Inſtinktes. Auch andre haben fic) auf diefe Weife Hemmniſſe be- reitet, felbjt fo feinfinnige und bedeutende Menfchen wie Friedrid) Naumann. Als 102 š

er fic) auf feinem Ritt zur deutfchen Gralsburg in die Wüfte Saba berirrte, ver- jidhtete er, ohne deffen inne zu werden, auf wirkliches Volfsfiihrertum und berur- teilte fich dazu, politifcher Literat zu bleiben.

Jafjen wir zufammen: unter den Führern der Republik ift niemand, der e8 vermocht hätte, das Vertrauen des Volkes jenfeits der Parteifchranfen zu gewinnen, und zwnarnihtdurhdieSchuldderer,diejenfeitsftehen, fondern, wie Sie richtig fagen, aus „Mangel an pfychologifhem Augenmaß”. Der Vorwurf diefes Mangels wird häufig gegen die Leute de3 „alten Régime” erhoben; er trifft leider in gleichem Maße die neuen” alten Männer. ch bin überzeugt: aus dem Hin-und-Her der Parteien wird der „neue Staat” niemals geboren, fo wenig jemals ein Staat aus dem Parteibetrieb geboren ift. Ein Staat entfteht nur durd Manner, deren Wille der Ausdrud der echten und dauernden (nicht der launifden und Fünftlih gemachten) Sehnfucht einer natürlichen Gemeinfchaft ift. Nicht bie englifche Revolution hat den neuen englifchen Staat gejchaffen, fondern Crommell. Nicht die franzöfifhe Revolution hat den neuen franzöfifhen Staat gefchaffen, fondern Napoleon. Nicht die Revolution von 1848 Dat den fleindentfden Staat zuftande gebracht, jondern Bismard. Sie, meine Herren Minifter der neuen deutſchen Republik, können ficjerlid) eine brave und untertänige englifche Sflaven- folonie organifieren, aber Sie werden niemals den gefchichtsnotiwendig fommenden neuen großdeutfchen Staat aufbauen, jenen Staat, der von Kolmar und Straßburg bi3 Hinunter nad) Riga, von Flensburg bis hinauf nah Wien und Inn8brud reihen wird, und welcher der Hort der Freiheit fein wird aller annod) gefnechteten Völker der Erde. Darum legen wir Jhrer Tätigkeit feinen höheren Wert bei, als fie eben für das Leben von Tag zu Tag hat; unfer Herz ift anderswo. Es madt ung aud nichts, wenn man über die deutfchen ,Tráumer” lacht und wohlwollend den ,Romantifer” mitgelten läßt. Es ijt das Schidfal des dritten Bruders, dah er bon den beiden älteren und fliigeren Brüdern verladt wird. "Der Dritte aber fennt fehr wohl den Unterfdied zwifchen bloßen Wunfchträumen und Ahnungen tommender Wirklichfeiten. Aus diefem Ahnen heraus wendet er fid) ab von den Führern, die nur die Tagesgefhäfte zu beforgen gefchidt find, und richtet feine Seele auf bie, welche die Zukunft in fich tragen. Barteietifetten mie ,,reaftionar” und „fortfchrittlich” bleiben weit hinter diefen Wertungen.

Soviel über die feelifchen Hemmungen gegenüber der Republik, die in perfón- lihen Gefühlsbeziehungen gegeben find. Wir fommen nun zu den fachlich-ideellen Hemmungen. Die wirtfchaftliche Notlage der geiftigen Arbeiter, die Sie betonen, bringt gewiß allerlei Mißſtimmung gegen den Staat hervor, aber ich möchte fie nicht für wefentlich halten. Es ift eine Eigentümlichleit gerade der Menfchen ber gebildeten Mittelfchicht (man muß freilich betonen: der gebildeten, nicht der jpiegbürgerlichen), für die wirtfchaftlichen Grundlagen des Lebens wenig Teil- nahme übrig zu haben und für Jdeen am leichteften Opfer zu bringen. Gebt ihnen eine dee, nein, gebt ihnen bie dee, der fie aus innerftem Empfinden zuftimmen fónnen, und fie werden über alle Not hinweg diefer dee leben. Wie- viele von ung würden mit Inbrunſt hungern und in Lumpen gehn, wenn mir damit unfer deutjches Volt erlöfen könnten! Aber mir wollen es beileibe nicht für allerlei Reformbetriebfamteit, beileibe nicht für irgend einen problematifchen Fortjchritt der Virtfchaftsorganifation, beileibe nidt für bie Demokratie, zu der die geichäfts- gewandten Herren hinter dem Berliner Tageblatt wohlmwollend ſchmunzeln, beileibe nicht für eine arbeitfame Sflavenfolonie des grohmadtigen Bögen Mammon in der City of London. Warum follten wir ſchließlich diefem ungliidliden republifanijdhen Schutthaufen gram fein, wenn er einen verheifungsvollen Sinn für die Zukunft hatte? Aber Wahlftänfereien, Reichstagsdebatten, Sozialifierungsentiwurfsbera- tungen, Einheitsfchule, Efperanto, Menfchheitsreligion, Volterbund, womöglich mit Einſchluß der Marsbeivohner, allgemeine Menfchenliebe, kurz, all diefe Sachen, für

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die Genoffe Piepenbrint ſich nach getaner Arbeit mit angemeffener Sebhaftigteit intereffiert ift in dem allen der Sinn der Zukunft? Biel Vortreffliches dt auch darunter, dem tir einen guten Fortgang wünfchen, aber mo ift die dee, welde der Sritit des gefchulten Verftandes fowie des heißen Herzens gleicheriweife ftand- haltend, alle guten Gedanken in fic) zufammenfchließt und ihnen einen großen ein= beitlichen Sinn gibt; wo der Wert, der all den Anfchauungen und Vorjdhlagen Rang und Richtung gibt?

Dak die Sozialdemokratie al3 b ie geiftige Bewegung, die fie heute ift, uns einen folden leften und unbedingten Wert nicht bietet, ift pfychologifceh dadurch ver- urjacht, daß fie fich frühzeitig gegen die geiftige Bewegung unfer3 Volkes mie der Beit überhaupt abgefchloffen und in eine Orthodorie eingefruftet hat. Damit fommen mir auf einen großen Mangel der Sozialdemotratie, von dem in Ihren angeführten Auffägen nicht die Rede ift: bie geiftige Atmofphäre der Gozialdemofratie, insbefondere ihre Ethit und Meta- phyfit, iftum mehralsein halbes Jabrhunbdertin Ridftand geblieben, deshalb weil man die Lehre Marxens tabu machte. Diefe Lehre ift aber nur haltbar aufgrund ganz beftimmter geiftiger Vorausfegungen. Diefe Vorausfegungen fann der, welder die geiftigen Bewegungen der Beit bewußt mit- erlebt, nicht mehr gelten laffen. Beifpielsweife: Die fozialdemokratiihe Stellung zur Religion ift fo altmodifch, dak man darüber nicht einmal mehr ftreiten mag. Fortgefhrittene Geifter in der Partei find immerhin fdon auf den Stand der „liberalen Theologie” angelangt und haben „Sntereffe an den Hiftorifchen Erfchei- nungsformen der Religion”. Aber was ift uns die liberale Theologie heute, da der lebendige Gott felbft uns heimgefudt hat und unfere Herzen erbeben und unfere Zungen reden madt? Wir, die wir aud diefer Bergesluft tommen, können nicht mehr atmen in eurem Nationalismus. Es lagert über der Sozialdemokratie ein ftidiger Raud von Kraft: und Stoff-Banaufentum, Fortichrittsmeierei, Mont3= mus, Pfaffenfrefferei u. dergl., es ift, als fame man in eine Stube, die durbunftet ift bom Geruch abgeftandenen Bieres und falten Tabat8qualm3. Der geiftige Ton in der Partei wird angegeben von an fic) braven Lehrern, die vor langen Jahren einmal im Sampf mit dem üblen Seminardrill auffaffig geworden find, die fich durch das Lefen von Hädels ,Weltratfeln” (dem philofophifchen Courth3-Mabler- Bud) zwar nicht die Löfung der Welträtfel, wohl aber das nötige geiftige Selbft- bewußtfein aneigneten. Später hatten fie Befferes zu tun, als ernfte philofophifche Bücher zu lefen, und nun werden fie die Eierfchalen ihrer feminariftifden Ent- fhlüpfung nicht mehr log. (Bitte, ich weiß, daß es fehr viele andre gibt, und ich bin mit ganzem Herzen für eine eblere und würdigere Vorbildung des Lehrers. Alfo: ich kränke den Stand nicht.) Die Sozialdemokratie nun fann aus der ftart bertaltten, faft fon foffil gewordenen Eierfchale ihrer Weltauffaffung nicht mehr heraus. Darum glauben wir nicht, daß aus diefem Ei je der verjüngte Phóniz erftehen wird, und verzichten darauf, beim Brüten zu helfen.

Das Ueberindividuelle, das Jrrationale, das Unmittelbare und Ewig-Geheim⸗ nisvolle des Lebens zeltet wieder unter und. Mir entdeden Werte, bon denen wir in borigen Zeiten nicht aud) nur die Ahnung hatten. AN dem fteht in der Sozialdemokratie eine höchft bourgeoife Verftandesnüchternheit breit und ſchwer— gervichtig gegenüber. „Achtung! Keine Allotria treiben! Ymmer brad das marzi- ftifche Glaubensbefenntnis auswendig lernen! Gonft tommt ihr nicht mit in den Himmel auf Erden! AN die dummen Redensarten, die wir nicht verjtehn, find blog heimtüdifche reaftionäre Erfindungen!” Ad, was fragt Gott nad euerer Verftánbigteit! Sabotiert den Religionsunterricht, erfegt die firchlide Einfegnung durch parteireine „Jugendweihen“, remit in Volkshochſchulen eine padagogifd zu— rechtgeſchuſterte Volfswirt{daftslehre in die Köpfe der Geift tebet, von wannen er will, und ihr feid ſchon längſt das diirre Holz von geftern! Ihr Habt das geijtige 104

Werden um euch herum beradhtet, weil ihr im Befif der alleinigen Wahrheit zu fein vermeintet; fo Habt ihr gwar brauchbare Partei- und Gewerkſchaftsfunktionäre hervorgebracht, aber was fonft? (ES geht euch wie allen, die ebenfo gedacht und gehandelt haben. Die, welde vom Rauſchen des neuen Geiftes etwas berfpüren, gehen teil3 zu den Sommuniften hinüber, teil in die geiftigen Bewegungen, die recht3 von euch die Damme der alten Dogmatik zerbroden haben und über euch hinaugfluten in eine Zukunft, die eure Gedanken nicht begreifen Können.

Dod eine Hoffnung auf Verjüngung hat die Sozialdemokratie noc: Teile der Jungfozialiften. Die Parteimanner fehn in den Jungfozialiften „Nachwuchs“, der am Spalier des Dogmas aufranten und das morfche Spalier tragen muB. Sie hegen und pflegen die Jungfozialiften einerfeits hoffrungsfroh, denn „mer die Jugend hat... .”, anbrerfeits beforgt, weil die Jugend, die fih als Jugend natürlih (man fpreche dies recht parteiväterlich) „auch mal austoben muß“, aus dem Gehege brechen könnte. Vielleicht ijt da8 braufende Leben klüger als die partei- väterlihe Taftif. Dann muß einmal die jungdeutfhe Bewegung und die jung- fozialiftifche Bewegung aufeinanderitogen. Da wird feine „Einigung“ nad Partei- weife ftattfinden: du gibft dies nach, ich gebe das nad. Auch nichts bon „Ueber- brüdung der Gegenfäge”! Sondern e3 wird um die Wahrheit gekämpft werden, und der fiegenden Wahrheit werden wir alle miteinander folgen.

Auf einen andern wefentliden Mangel der von der Sozialdemokratie in ihrer Art beftimmten Republit haben Sie, Herr Minifter, felbft deutlich bhingeriefen mit den Worten: „Ernſte Fehler der Außenpolitit trugen dazu bei, die Maſſen ber jtart national empfindenden deutfchen Intelligenz aus dem Lager der Demokratie wieder hinüberzutreiben in das Lager der Redt3parteien” oder, ergänze id), aus dem ganzen Partetwefen hinauszutreiben.

Der Mangel hat zwei Urfadhen: Einmal betrachtet man heute die Außenpolitik nur als eine Funktion der Ynnenpolitif. Das fam fo: Der Marrismus hat aus der modernen induftriellen Entwidlung der Völker den Begriff der „Klaſſe“ abftrahiert. Er fafte alle Induftriearbeiter als „Arbeiterklaffe” zufammen. Um mm die aus diejem Begriff entiidelte Ydeologie allgemeingiiltig zu machen, mußte er den Begriff fünftlich ausreden und die Wirklichkeit tiinftlid zurechtfchneiden. Die Nicht- InDduftriearbeiter müffen ja irgendivie (als „geiftige Arbeiter” u. dergl.) ins Schema gefügt werden. Die „Klaffe” wird innerlich verbunden durch bie geforderte und bewußt betätigte „Solidarität”. Nun aber beftehen neben der Induſtriearbeiterſchaft die beiden älteren arbeitenden Schichten des Bauerntums und des Bürgertum, die

‚ihre befonderen Lebensgefege haben. Yn ihnen Dat fid) (wie übrigens aud in einem nicht unbeträchtlihen Teil der Induftricarbeiteribaft) die natürliche Gliederung der Menfchheit nad Völkern erhalten. Die Bindung, die von diefer Gliederung gefordert wird, heißt „Nationalismus“. (Wir erfegen das mißverftänd- fiche Wort durch „Vollsgefinnung”.) Da e3 fic) um eine natürliche Gliederung handelt, bricht fie „unmilltürlich” oft genug auch in der „SKlaffe” dur. Eine marxiſtiſche Partei muß nun alfo die Gliederung nad ,Vóltern” alg die politifch beftimmende befeitigen und die Gliederung nach Klaſſen als die einzig giltige hin— ftellen. Darum erklärt fie don Vóltertampf für unfittlich, dagegen den Klaffentampf, im radifalen Lager aud den blutigen Klaffentampf, für fittlih. Nach Lage der Dinge ift aller Rlaffentampf eine „innerpolitifche” Ange- Iegenheit. Weil die marziftifche Sozialdemokratie den Klaffenbegriff und nicht die VBólter als Gemeinfhaften bildend anfieht, ift ihr alfo die auswärtige Politik nichts als ein unbequemer Reft der „alten Zeit”, man ordnet fie den taltifchen Bedürfniffen des innerpolitifchen Kampfes unter.

Bum andern hat die Induſtriearbeiterſchaft, nicht durch ihre eigene Schuld, den Zufammenhang mit der Gefchichte des Volkes, mit Dichtung, Kunft und Gottes- offenbarungen verloren. Damit aud) das Gefühl für Heimat und Volkstum.

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Ziefere Geifter tafteten immer wieder inftinftiv nad) diefen Werten, Großſtadt— literaten berfpotteten fie mit jhäbigem Hohn. Jm Ganzen wurde die Maffe durch den parteiüblichen Nationalismus bon jenen Werten abgedämmt. Darum kommen die natürlich-volfhaften Triebfrafte in einer fozialdemofratifchen Aufenpolitit nicht zur Geltung, fondern e3 herrfcht ein rationaler Menfdbheitsbegriff, für den man fih (manchmal fogar durch Lieder mit entfeglich oligem Pathos) künſtlich begeiftert.

Nun ift aber völtifches Selbitbeiwußtfein ein nur mit dem Leben des Volkes felbft zu veräußernder Wert. Eine Republik, deren politifche Handlungen nicht von Volksbewußtſein erfüllt find, wird niemals die Achtung derer erringen, denen jene Werte aufgegangen find. Es Handelt fic) nicht bloß um gemadte Fehler, fondern um einen organifhen Mangel der derzeitigen Elein- deutfchen Republik, es handelt fid) leider um einen Geburtsfehler, Heilung ift alfo nicht zu erwarten. Diefer Mangel ift vor allem durch den fozialdemokratifchen Nationalismus verjchuldet. Deshalb befchränte id) mich hier auf ‚eine Wusein- anderfegung mit der fozialdemofratifhen Partei. Bei den „Demokraten“ liegen die Dinge wieder anders.

Weil nun, Herr Minifter, die Republil weder von der Gottheit noch von der Deutfchheit durchglüht ift, weil fie eine fade und falſche ftaatsrechtliche Konftruftion ift, darum wird all Ihre Erziehungsarbeit, die Sie in Ihrem zweiten Auffag ſchildern, vergeblid) fein. Sie fehen die geijtige Lage fo: links ftehen die fort- gefchrittenen Republitaner, recht ftehen die zurüdgebliebenen Reattionare. Und Sie, im Vollbefig des Fortfchritts, gehen freundlich zu den berárgerten, irrege- führten, zum großen Teil ein wenig dummen Reaftionáren hinüber, reden mit ihnen ein verftändiges Wort und bringen fie allmählich auf die richtige Bahn des tepublifanifden Fortfchritts. Welche Vertennung! Natürlich gibt e8 auch „rechts“ ein ftures Banaufentum! Aber es gibt offene Herzen, begeifterungsfähige Seelen, flare Gehirne mehr, al3 Sie glauben, folche, die fic) nie für die allzu verjchleimte Republik begeiftern können. Und unter denen, die nod) nicht zum eigenen Denken erwacht find, fehe ich viele reine Gemüter, die unbewußt und unwillkürlich die Werte, bon denen ich fprad), erahnen und fühlen und. die fid) aus biefer unbewußten Wahrheitsahnung heraus gegen die demofratifch-republifanifche Anmutung fperren. Sie, Herr Minifter, werden fchließlich nur die an ſich ziehen, die um eim Amt beforgt find, oder die fo unintelligent find, daß fie ihr gefundes Wertgefühl blüffen laffen, oder die nur innerlich unficher mitlaufen. An ihnen wird die Republik etwas Rechtes gewonnen haben!

Nein, e8 ift belanglo3, ob man für oder gegen die derzeitige Republik ift. Sie ift eine Uebergangserfdeinung. Aus Weltkrieg und Revolution wird ein ganz andrer deutſcher Staat geboren werden, wir ftehen noch immer mitten inne in dem ungeheuren Gefchehen, das im Juli 1914 anhob, das Ende ift nod) nicht abzufehn. Der wirklich politifche Menfd) legt auf Wahlkämpfe und Parlamentsdebatten, auf Parifer und Londoner Zufammenkünfte nicht mehr Wert, als für den Tag nun einmal nötig ift. Er weiß, wo die politifche Zukunft wächſt. Eines Tages wird der ganze Plunder der Parteirepublit von uns fallen und das neue Reich wird daftehn, Eraftvoll und jugendſchön, alle deutfchen Stämme umfaffend, frei unter freien Völkern, und es wird blühen in den Ordnungen, die aus feiner eigenen Natur erivachfen. Vielleicht erleben es nod) etliche von uns. Seiften aber wird es das heranwadfende Gefdledt. Gebe uns Gott in Gnaden, daß mir, vom Berge die blauende Zukunft erfchauend, diefem geweihten Gefchlechte Stirne und Herzen freimadjen vom Wuft vergangener Begriffe, auf dak es froh und feft in feinem Deutfchtum ftehen und hören kann auf die Schidfalsfprache des Ervigen.

Kein Franzofe und fein Engländer vermag das göttliche Schidfal zu hindern. Und der twadere republifanifche Demokrat fann es höchftens eine ganz furze Zeit aufhalten. Mit vorzüglicher Hochachtung Ihr fehr ergebener Wilhelm Stapel. 106

Sans Blühers Antifeminismus.

äufig, wenn dem Publitum eine Perfönlichkeit, mit deven geiftigem Kern es $ fih ſchon lebhaft befchäftigt bat, nun in Fleifh und Blut gegenübertritt, ftellt es fic) heraus, daß diefe Perfonlidfeit „ganz anders“ ift, als das Publitum es fic) gedacht hat. Das Publitum ijt in den meiften Fällen „enttäufcht”.

Woran liegt a8? Zweifellos doch am Publifum! Denn die innere und äußere Erfcheinung der betreffenden Perfönlichkeit ijt, obgleich das Publitum nur die geiftige Hälfte kannte, von Anfang ihres Beftehens an eine untrennbar ineinander verfhlungene Einheit von Geift und Körper geweſen, die in ihren beiden Teilen ein foldes Neg von lebendigen Riidwirfungen aufeinander hat, dak die geringíte Aenderung in einer der beiden Gebiete auch eine Ummälzung im anderen Bereich zur Folge haben würde. Die geiftige Perfönlichkeit, die man alfo durd Schriften oder Werke bereits tennt, könnte in gar feiner „anderen“ körperlichen Form dafein, als eben in der, in der fie fic) dem Publifum nun leibhaftig darftelt nur hat das Bublitum in feiner Vorftellung diefe Hälfte bisher faljch ergänzt!

Wie fommt das Publitum dazu? Dadurd, daß den meiften Menfchen die Gelege der lebendig jchaffenden Natur völlig fremd find. Sie twiffen nichts von dem mächtig ſchöpferiſchen Gefeg der fpannungfdaffenden Gegenfáge. Sie feten einfach das geiftige Werk eines Yndividuums mit feiner urfpriingliden Anlage gleih: Wenn einer Humor fchreibt, muß er ein luftiger Kerl fein; fchafft einer ernjte Dinge, fo ift er ein Melancholiker; quillt eine Schrift über bon Liebe und Verfohnlidfeit, muß e3 entgiidend fein, mit diefem Menjden zufammen zu leben; ftellt einer ftrenge Thefen auf, fo ift er wahrfcheinlich ein Hausgreuel uf.

Ad nein, fo einfach ift die Natur nicht! Das Heißt: einfach, was fo viel fagen will wie „felbftverftändlich”, ijt fie legten Endes auch, wenn man die Gefebe ihrer Kompliziertheit einmal erkannt hat. Und das oberjte Geſetz alles menjch- lichen Schaffens ift die Spannung zwiſchen Unzulänglichkeit und der Volltonmimenbeit der Jdeen, die ungeachtet der Luft und Qual des betreffenden Individuums bon der - Natur fo lange gefteigert wird, bis fich etwas Neugejchaffenes als geiftige Geburt entlädt. Diefe Spannung trägt den landlaufigen Namen „Sehnfucht”. Und das Herz, das fie ertragen muß, ſchlägt wie ein Pendel zwifchen den beiden Spannungs- polen Der und hin fo weit e3 hüben ausfchlagen muß, fo weit treibt es drüben hinaus!

Wohin man auch fieht im Reid) der Geijter, überall ift es dasfelbe ſchmerz— voll-füße Spiel. Das Publitum verfteht e3 nicht, bab Prediger der Unerbittlichkeit, wie Stirner und Niebfche, im Leben nur zu weichmütig und verleklich waren, verfteht e8 nicht, warum ein Goethe, je grenzenlofer fein freier Geift in die Schöp— fung ſchweifte, um fo fefter fic) äußerlich in die Formen des fonventionellen Lebens band; verfteht nicht, bab Rouffeau, der die eigenen Kinder im Waifenhaus erziehen ließ, ohne fic) nach ihnen umzufehen, eine neue Erziehungslehre für Jahrhunderte ſchuf; verfteht nicht, daß Beethoven das Herrlichite, was Menfchenohren Hiren fonnen, aus dem Reich der Ideen niederzivang in die Wirklichkeit, alg er felbit nicht mehr hören fonnte, und daß fein Genius dann am höchſten fich erhob, wenn der arme unzulänglide Menfch Beethoven einmal ganz fleinlich und báflid und eng geivefen war. Nur die Ebenbürtigen aus dem Publikum vermögen diefe naturnotivendigen Spannungen zu begreifen und mitzujubeln, wenn der Geift fic befreit und für Kurze Zeit weit, und in ewigem Lichte ftrablend, fic) hinaushebt über fein Dumpfes Gehäufe. Die Maffe des Publifums halt fih an das Gehäufe und vergift über dem Anblid der Mufchel die Perle, die fie hervorgebracht hat. Perlen find immer eine Krankheit der Mufchel, in der fie wuchſen!

Wenn man in Ehrfurcht vor der lebendigen Natur diefe Gefege hinnimmt, fann man niemals von einem Menfchen, der wirklich etwas Reine3 und Großes

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ibuf, enttäufcht fein. Jm Gegenteil, in den meijten Fällen fann man faft be- rechnen, was man zu erwarten hat.

So ging e8 mir mit Hans Bliiher. ch Hatte ihn nie gefehen. Ich hatte nur feine Schriften gelefen, und e3 war mir zwingend far, daß von diefer wahrhaftigen, herben Berfönlichkeit eine ftarte, fittlich erneuernde Kraft ausgehen würde. Ja Kraft! Wie ein Hauch frifcher Bergluft traf mich in einem Zeitalter feminiftifcher Berfegung diefe ſchroff betonte männliche geiftige Kraft! Und nun follte ich ihn an zwei Abenden reden hören, Grund genug, nicht nur alg Menſch, fondern auch al3 Frau mid) damit zu befchäftigen, was für eine förperliche Perfönlichkeit in diefem unerbittlichen Antifeminiften zu erwarten fei. Ich fagte mir: nach den feinen Gefegen der jchaffenden Natur fann eine fo leidenjchaftli vertretene, bis ins Jeindlide und Kämpferifche herausgetriebene „mannmännliche” Ueberzeugung nur aus Schmerzen herausgeboren fein! Wo müffen für einen folden Mannesgeift die bitterften Schmerzen liegen? Zweifellos in einer Knaben- und Jünglingszeit, in der dem männlichen Geift flar wurde, daß fein Teibliches Gehäufe niemals der vollfommene Typ des fraftvollen Mannes zu werden verfpreche und dah alfo nichts weiter übrig bleibe, als fid nun mit Wucht auf die Geftaltung der inneren Perfonlidfeit zu werfen wenigſtens geiftig den mannmannliden Typus far herauszuarbeiten. So und nicht anders konnte der „Antifeminift” entftehen. Und fo war es aud!

Dennoch obwohl er fic felber damit das Todesurteil ſpricht hat Hans Blüher mit der Ydee feines Antifeminismus recht, folange er fid) damit befcheidet, nur die polariftifchen Urbilder beider Gefchlechter einander einmal in unvermengter Reinheit gegenüberzuftellen und das Gefühl aller Männer und Frauen, Jinglinge und Mädchen dafür wieder zu tveden und zu ftárten. Das ift fein unbeftrittenes Verdienft, und felbft diejenigen von uns Frauen, denen damit legten Endes ebenfo da3 Todesurteil gejprochen ift, wie ihm felbft, müffen in gleicher, über alle perfinlide Dual hinweggehender Wahrhaftigkeit fagen: er Dat mit feiner Lehre teht! Einer Lehre übrigens, fo alt wie die Menfchheit und nicht von Hans Blüher gefchaffen, fondern von ihm nur wieder in Erinnerung gebracht!

Blüher fagt, in einer Zeit geiftiger Verwirrung wie heute, in der die Unter- ſchiede der Geſchlechter fo weit verwiſcht find, daß fie fic) da und dort geradezu in ihr Gegenteil verkehren, muß e3 einmal Har gemacht werden, dak Mann und Frau abfolut artverfdiedene Wefen find. Logos, der Geift, der fchaffende, fulturhervor- bringende, ftarte Mann Eros, die Liebe, das Empfangende, Seiende, die rube- volle Wiege des Mannes, die ſchöne Frau, die ihm niemals durch geiftiges Schaffen ebenbürtig ift, aber ebenbürtig durch ihr natürliches Sein! Freilich, der voll- fommene Mann, das vollfommene Weib, einander nur dann ganz gleichartig, wenn fich die gegenfägliche Art in jedem bon beiden am reinften ausfpricht, werden nur vereinzelt aus „Gnade der Natur” Hervorgebradt und durch nidts und niemals fann das fehlerhaft geborene Individuum nachträglich diefe Volltommenbeit er- reichen.

Streng und far, wahrhaft männlich, ift hier das Unbegreiflide der Schöpfung aufgededt! Wunderbar und herrlich für jene wenigen, die gleich Göttern hervor- gingen aus ihrem Schoß in matellofer Reinheit und Kraft. Entſetzlich, vergweif- lungsvoll, ewig unfagbar für alle die Millionen, die auch gejchaffen wurden, aber nicht für Seligfeit, fondern fozufagen als mißglüdter Schöpfungsverfuh! Dennod, wer ehrlich ift und einzig durch Wahrheit if den Geheimniffen des lebendigen Lebens mwenigftens auf Schrittiweite zu nahen! muß agen: fo ift es!

(ES gibt die feltfante Geſchichte vom verfchleierten Bild zu Sais. Wir wiſſen alle, tie fie gemeint ift. Jeder von ung, die mir bewußt leben, ift einmal heimlich in den Tempel gefdliden. Hans Blüher wird die Stunde wiffen, in der er zum erftenmal mit verzweifelter Hand den Schleier fortriß, um das furdtbare Angeficht 108

der Schöpfung anzufchauen. Er wird wiffen, wie lange er erftarrt am Boden lag. Viele fterben daran. Starke macht dies Erlebnis zu Prieftern, die daS Leben der Menge Hinter fich laffen, um in ftrenger Entfagung der Gottheit zu dienen. Aber diefe Priefter wiffen, daß fie bon den legten Myſterien zu fh weigen haben! Aud Hans Blüher, der beinahe ftart genug war, um ein Briejter zu werden, weiß und betont da immer ivieder, daß er „eigentlich“ über diefe Dinge ſchweigen miiffe. Aber er möchte ftart fein, er ift es nicht! Er weiß, dak der volltommene Mann, das vollfommene Weib aus der „Gnade der Natur” gefdhaffen find wie Tag und Nacht, dak aber die Natur in vielfältigem Spiel alle nur denkbaren Schattierungen der Dämmerung zwifchen beiden Polen ſchuf. Und er weiß, daß er felbft zu den Spielarten der Dämmerung gehört und daß diefe Erkenntnis für das einzelne Individuum, je näher e8 dem reinen Pol feines Gefchlechtes ift, eine bis zur Uner- tragbarteit, ja bis zum Selbftmord treibende Qual fein fann. Da in der legten entjeglichiten Bangigfeit findet er den erlöfenden Ausweg: ber Wann ift Logos, d.h. Geift. Geift allein alfo ift für ihn das Ausfchlaggebende, den vollfommenen Geſchlechtstyp Bejtimmende. Nur die Frau ift als Abweichung vom Normaltyp „verdorben”. Er, der Mann, der Geift, ift auf alle Fälle gerettet und nun: Ver- danımung über alle Frauen, die feinen „adeligen Leib” haben, die nicht, mie er fagt: das „erftaunliche” (und allerdings aud) mir erftaunliche, denn too fo etwas echt ift, wird es nicht ausgefprochen!) Wort eines von ihm als „das Weib” hin- gejtellten Mädchens fagen können: „Dies ift mein (natürlich fehöner!) Leib! Einen anderen Geift habe ich nicht!” Die Frauen, fagt er, die feinen vollfommenen Leib haben, find die, die fid) ind Geiftige fteigern, um lebten Endes vielleicht auf diefem Umwege eine Beachtung durch den Mann zu finden. Diefe háglichen, grilligen, förperlich unmweiblichen Frauen haben die verftiegene, (ganz beifend fagt er: „heute altmodifche”) Frauenbewegung hervorgebradt und den Artunterfchied zwiſchen den Geſchlechtern zu verwifden geſucht.

Man it bei diefen Gedanten wie in einem Ne von Schlingpflanzen verftridt! Auf Schritt und Tritt Wahrheit und Irrtum hemmend vermifcht! Aber wir Frauen, die wir den innerften und bitterften Sern diefer Wahrheit bejahen müffen, wenn mir ehrlich find, müffen gerade deshalb Wahrheit und Jrrtum in diefer Lehre teinlid) fcheiden.

Man mag die bedeutenden Perfonlidfeiten aller Zeiten und Volfer durd- gehen, überall, wo es ſich um rein geiftige Werte handelt, wird man die Beobachtung madjen, daß es fic) in den meiften Fallen um eine geiftige Bedeutung handelt, die mit forperlider Unzulänglichkeit verknüpft if. So war, um nur ein Beifpiel zu nennen, Alexander der Große veriwachien, wenn aud) das „Publikum“ ihn nach und nad) zum ftrablend ſchönen Jingling ſchuf. Ueberall in der Natur, wo fid) in einem Organismus eine Fähigkeit beſonders entwidelt, gefchieht es auf Kojten des Gleichgewichts der Kräfte oder auf Grund einer angeborenen Gleichgewidts- ftórung. Beim Menfchen befteht die Gleihgewichtsftörung meift zwiſchen körperlicher und geiftiger Perfónlichteit, die fo weit gehen kann, daß der Körper oft nur flüchtig gefhaffen zu fein fcheint, um dem Geift, der in die Erfcheinung treten will, Hände, Sprache, Augen und Ohren zu leihen. Das gilt für beide Geſchlechter! Und die Antike, aus der Hans Bliiher fein gefamtes Rüftzeug entlehnt, fordert nicht nur den Logos, fondern den Logos im männlich ſchönen und ftarten Mann. So fordert es aud) das vollfommene Weib, wie Blüher vielleicht mit Schmerzen erfahren Dat. Und e3 ift alfo Unrecht und Schuld, wenn er die ganze Qual einer „ungnädigen”

Natur dem Meibe aufbürden mil, das keinen ſchönen Leib mit auf die Welt befant.

E Und doch hat er wieder recht! Denn ganz im großen genommen ift es wirklich fo: der Mann vermag ſich durch den Geift aus der Gejchlechterqual zu befreien und bat, weit über das andere und das eigene Gefchlecht hinausgewachſen, doch erft ganz das Gefühl, dak er nun das geworden ift, wofür die Schöpfung ihn beftimmte. 109

Die Frau aber, die, diefen gleichen furchtbaren Weg gehend, im Reich der Geijter anlangt, bleibt ewig heimatlos und ihre Seele weint zurüd in die liebende Hörigfeit, gu der die Schöpfung fie bejtinnmte. Graufam richtig bat Blüher das erfaßt! Man forfche im Leben aller geiftig bedeutenden Frauen der Menſchheitsgeſchichte überall wird diefe Behauptung beftatigt, und ausgeglichen ift diefer fchredliche Ziwiefpalt nur in den wenigen Fällen, mo eine geiftig bedeutende Frau zugleich tatfächliche Herrfcherin war, wo alfo ihre äußere Stellung in der Welt der Wirklichkeit ihre überragende Größe rechtfertigte, fozufagen als hingunehmende Notivendigkeit ent- ſchuldigte und ihr zugleich geftattete, nun freiwillig in Liebe heimlich dem Manne ihrer Wahl, (ihrer Wahl, denn Herrjderinnen dürfen freien, werden nicht „ge freit”!) fid) unterguordnen. Ein prachtvolles Beifpiel dafür, wie unter folden glüd- lichen Umftänden eine bedeutende Frau ganz Weib und Mutter fein kann, ift Maria Therefia, die ebenbürtige Gegnerin Friedrichs des Großen.

Freilich Ausnahmen fagen nichts gegen die Regel, meint Blüher. Da hat er wieder recht. Unrecht aber hat er, wenn er behauptet, diefe, wie er mit betontent Spott fagt, „Jogenannten Probleme” feien eine Errungenjchaft der Frauenbewegung. Sobald er hierauf zu fprechen kommt, verzerrt ſich feine geiftige Perfönlichkeit gevadezu franthaft, und felbft in unmittelbarer Rede verliert er an diefem Puntt feine vornehme, feine Art, wird er gehäffig, lieblo8, „verrannt”.

Nein, diefe Probleme find fo alt, wie die Menfchheit felbft! Oder dod) und dies ift da3 intereffantefte: wie die germanifche Menfchheit! Wann wurde und bon went diefe ganze unentrinnbare Tragif unferes Gefchleht3 einmal ewiggültig auf- gerichtet in der gewaltigen Geftalt der Brunbilde? Wer hieß dies von Modan, d.h. vom Geift, vom Logos, zur Ebenbürtigfeit erhobene Ueberweib nur nad dem ebenbürtigjten, dem ftártften, fchönften, ügften Mann verlangen? Wer fduf diefen Siegfried, den es [odt, den Kampf mit dem Ueberweib aufzunehmen, in dem fie unterliegen mußte, weil fie das Weib war und er der Mann, den fie liebte? Mer hieß diefen Siegfried von ihr gehen und die in ihrer „Eifeszone” zurüdgelaffene Brunhilde vergeffen für den erften füßen jungen Mäbdchenleib, der ihm begegnete? Wer hieß den ſchwachen, den femininen Gunther einzig nach dem Ueberweib fid fehnen und die duch graufamen Betrug an ihrem heiligiten und ftolzeften Weibtum Schwadhgewordene ihm zufallen? Wer legte nun den Kampf zwiſchen Ueberiveib und normal beglüdter Frau? Und wer hieß Hagen, den finfteren, den mannmann- licen Mann, der fein Verhältnis zur Frau hat, den ftrahlenden ftarfen, im Ge- fchlechterfampf immer und immter fiegenden Siegfried töten, um dem femininen Gunther zu willfahren (nicht nur aus Mannestreue, wie Blüher fagen würde, fondern nach geheimen exotiſchen Gefegen!)? Wer hieß, während das Ueberiveib Brunbilde durch unbefriedigte Liebe zerftört und ausgelöfcht ift, aus bent getöteten Liebesleben der Kriembilde die ing Unnatürliche gefteigerte Kraft des weiblichen Gefchlechts neu emporwadfen und nun den Endfampf entbrennen zivifchen dem mannmannliden Mann, dem Antifeminiften und der aus den Grenzen ihres Ge- ſchlechtes herausgetretenen Frau, bis fid) in lebter Stunde in rafendem Saf. die beiden entarteten Pole der Gefchlechter gegenüberftehen, Hagen felbft den Freund nod) opfernd, nur um der Feindin den tödlichen Streich zu verfegen?

3d) weiß nicht, Ut es graufig oder wundervoll, daß diefer ganze tomplizierte Gejchlechterfampf, den wir Modernen bewußt in jede phyfiologijde und Ppfycholo- giſche Einzelheit zergliedern, von dem wir meinen, daß er unfer eigenftes Schidfal fei, daß diefe Not, diefe Artung und Entartung, diefe (,fogenannten”) Probleme fo alt find wie unfere Raffe? Der Brunhildenfchmerz der modernen Frau, deffen unerſchöpfliche und doch heilige Qual Blüher nicht kennt und verſteht verſchließt er, in dieſer uralten und gewaltigen Geſtalt aufgerichtet, nicht dem billigen Spott flüchtiger Tage den Mund? Elfe Torge.

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Carl Hauptmann.

arl Hauptmann ift nicht mehr unter den Lebenden. Für alle, die ihm näher-

ftanden, wirkt fein Tod wie eine Paradorie. Denn wollte man in titrzefter Formel den Sinn feines Dafeins zufanmtenfaffen, jo würde man ihm den Beinamen „Der Lebendige“ geben. War nicht jenes Bergrvaffer, das er vom Felfen herab in fein Mittelfdreiberhauer Holzbauernhaus einfing als einen Märchenborn, wie ein Symbol? Dort fah man im oberen Heinen Arbeitszimmer alltäglich vor Sonnenauf- gang, früh um drei Uhr feine Ervige Lampe zwiſchen Nebeln und Talfinfterniffen auf- bligen: es war die Stunde feiner Gefichte, zu der früher als Hirt und Bauer der Dichter fich einfand. Hier arbeitete er dentend und fchauend ftrómenden Herzens und ftrömender Feder bis tief dem Tageslicht entgegen, hier mähte die eilende Hand Garbe um Garbe aus der Ernte um zehn Uhr erft ftieg er hinunter, mun feiner Frau, feinen Freunden, allen Kommenden ein Gefelle. Ein merktwürdiger Menſch! Die hohe Stirn, überfchattet von rübezahlmäßigem Haupthaar, die riefen- gebirge Nafe, die das Geficht beherrfchte und diefer Ausdrud voll Güte, Licht und Entfagung, diefe Wege zum Höchſten, Jenfeitigen, die fich in tiefgegrabenen Furchen über das feltfam von innen erleuchtete Antlig kämpften!

Wir fuhen fein Ynnerftes, den Wert feiner Perfönlichkeit, den lesten Kern feines Wefens; am meiften wir, denen er durch lebendige Briefe verbunden blieb. €3 will feinen, als trate zunächft fein ganzes Dichterivert zurüd hinter dem bul: tanifd) Pochenden, Wabernden, Lohenden, das in diefer durchlämpften Stirn glühte, hinter der fonnigen Güte, die in diefem nun zur Rube gebetteten Herzen mar! Brannte nicht unfer Herz in uns? Einen merkwürdigen Zauber enthalten feine Briefe. Sie atmen höchite Lebendigkeit es ift, wie wenn fie in ihren abgeriffenen Sägen, Ausrufen und Fragen alle verborgenen Jubel und Seufzer, fernfte Aus- drudsinhalte feiner Seele hinwehten. Außer bei Björnftjerne Björnfon habe ich niemals unmittelbarer die Vorftellung eines Gegenmwärtigen empfunden al3 in diefen ftrahlend weißen Papieren, die von ftändiger Arbeitsüberfreude, mächtigem Lebensungeftiim wie braufen! Dies fehnend Gefpannte feines Lebensgefühls Hat Carl Hauptmann in den ,Panfpielen” und in Novellen wie den „Brabler- tindern” (in „Aus Hütten am Hange”) oder „Weil der Bräutigam nicht kommen will” (in den ,Schidfalen”) fünftlerifh bewältigt. Pan war der furdtbare Gott der Einfamteit, der mit feiner wilden Melancholie verwirrten Hirten erfchien, denen ihr Verlaffenfein inmitten menfchenöder Bergtáler plöglich zum Bewußtſein fam. Ban ift bei Hauptmann das große Unheimliche, Unfichtbare felbft, das in uns unitberiindliche Gier nad) Erleben, Sehnfüchte nach · höchſter Ausfhöpfung des Augenblid3 erivedt.

Diefes Stehen zwifchen zwei Welten inmitten der irdifden Gebundenheiten, dies Hinausverlangen aus der bedriidenden Unzahl der Dinge und der befchattenden Unfal erdentrüber Wände, deffen klaſſiſche Formung Albrecht Dürer in feinem Meiſterſtich „Melancholie” gelang ſcheint Carl Hauptmann ein großes Welt- tätfel, das er in vielen Werken verfucht hat zu erraten.

Gleió in feinem mit dem Schillerpreis gefrönten Drama „Die Berge {hmiede” erfaßt er es in fauftifcher Tiefe, wenn auch mit noch unzuläng- lichen fünftlerifchen Mitteln. Sein urwüchfiger Meifter leidet unter der geiftigen Einfamteit des Gottfuchers, dem alle Verhältniffe zu Mitmenfchen fich zerlöfen. Um fo härter wirft ihn die grüblerifche Frage nad) dem Sinn des Lebens in dunkle Schwermut. Der Dichter felbjt beantwortet fie gelegentlich in feinem ,Tagebud”: „Nur fchauend gelebt heißt unfere Ernte gehalten”, nur im reinften Genuß des Augenblid3. Jedes Grübeln bringt Unfreiheit. Aber diefer feelifhe Genuß des Gegenivártigen ift wieder nur möglich, wenn die Seele aus ihrem Cinfamfein heraus gu einer andern findet, in der fie die ferne Welt verkörpert fühlt.

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Getwaltiger hat der Dichter fpáter in feiner Trilogie „Napoleon“ (1911) die furchtbare Vereinfamung auch des Tatmenfchen aufgetürmt, zu der die aprifofige Weichheit feines Mofesdramas (1906) wie forgfaltige Vorftudie wirkt. Da fich bisher fein Spielleiter an diefem Frühwerk wirklich fruchtbarer expreſſioniſtiſcher Dramatik verfucht hat, fo liegt e8 bid heute in der Rumpelfammer bühnenfremder Buchdramen und doch enthält diefe Schöpfung eine überaus eigene Auffaffung vom Wefen Napoleons, deffen Weltunraft ihn zum geborenen Träger der Haupt- mannjhen dee von der Einfamteit alles Menſchlichen machte. Sein Napoleon war nicht jener unheimliche Gewaltmenfd, als den ihn die Gejchichte vor Augen ftellt, war noch weniger jener vom Glück umftrablte Genius der Napoleonlegende. Hauptmann fah tiefer nur den armen Menfchen. Von unerbittlihen Vorftellungen bedrängt, wird er Nachts von der Riefenhaftigfeit feiner Unrajt, dem brennenden Durft feiner Taten emporgetrieben ein freudlos-friedlofer, heißer, harter, finftrer Sonderling, den Ruhm- und Ehrfucht hingehren. „Sein Fanatismus ift Arbeit”, er hat ein Feuer in feiner Seele brennen, das ihn zum Aermiten, Einfamiten, Un- feligften madt. Macht über Menfchen feines Lebens Löfung. Und vor allen großen Entidliiffen tritt in feine Einfamleit jener grauenvolle „Mann in Setten”, Napoleons ziveites Yeh, das ihn verfpottet felbft auf dem Gipfel feines Glids vielleicht die evite wirklich erpreffioniftifche Geftalt der Literatur. Ein Bettler fein Napoleon, vom Ruhm ermüdet, ein Mann, der das Tagebuchwort fpredjen könnte: „sein Zweck fcheint in der Welt; alles nur Mittel Mittel zur ewigen Flucht.”

So vermag auch die getvaltigfte Tat die menfchliche Vereinfamung nicht zu er= tvármen, den Haren Sinn nicht in das dunkle Gewölk des Lebens zu bringen, die Einigung de8 Lebendigen mit dem unfelig fdjonen aber toten Kosmos nicht zu vollenden.

Noch einmal hat der Dichter in der letzten Reihe feiner Dramen auf ähnlichem Wege die Troftlofigteit, das innere Elend des Reichen behandelt in feinen „Sol- denen Straßen“, deren erfter Teil „Tobias BuntfhuH“ vielleicht fein bühnenmwirkffamftes geblieben ift. Der legte Teil „Muſik“ malt dunfle goldene Altartafeln von der Tragif des Fünftlerifchen Schöpfers. Faft alle feine Dramen- belden (die Bauernftüde find bergeffen): der Bergfchmied, Mofes, Napoleon, Tobias Buntfchuh, der Juwelier („Gaufler, Tod und Jutvelier”), der Domorganift („Mufil“) find Einfame, Machtvolle, Sonderlinge, Kämpfer um den Sinn des Seins. Bu diefen gehört auch der „Abtrünnige Zar“, ein Menſch, deffen höchſte Glut in der Verwirklichung wahren Brudertums felbft auf Fürftenthronen auflodert. Daneben hat Hauptmann dann Märchen- und Legenden-Dramen vie „Die arm- feligen Befenbinder”, „Des Könige Harfe” oder den Bauernfpätling „Die lange Sule” gefchaffen. j

So völlige Eindrüde wie feine Profa läßt der ganze Strom feiner oft rhapfodifd bingefprühten Bühnenwerke nicht zurüd. Und aud) hier war fein Weg mühfam und lang. Halb Philofoph („Die Metaphyfit in der modernen Phyfiologie”), halb Lyriker ſchrieb ex zufrühft, aber fon als Dreifiger die „Sonnenmwanderer” (1897), die gebändigteren „Miniaturen“, die vollgelungenen worpswediſch ſchweren „Hätten am Hange” zuerit nod) frühlinglich hingemwühltes Geftammel, taumelnden Ausruf, hingejauchzte Interjeftion. Der fünftlerifche Abjtand vom Stoff tam ſchwer, und der foziale Roman „Mathilde” wirkt in diefer Hinfidt ftiliftifch nicht flangrein. Endlich werden die Borfhöpfungen der Hauptiwürfe: „Judas“ und ,Graf Midael” nod Proben, Torfi geblieben, aber in ihrer neuen Vemeijterung körnige hinreißende Bildwerte.

Dann endlid (1907) „Einhart der Ladhler”, das feinfte Künftlerleben der neuen Dichtung. Dies Buch wird bleiben. Man kann die bunte, wie auf Gold- grund gemalte Reihe diefer Aquarelle nur an der Quelle ihres Lichts faffen. Und doc) ift der Roman ,Fsmacl Friedmann“ (1913) noch feiner, reifer, Hina 112 :

gender und wiffender. Was dem „Einhart“ fehlte, ift hier in unglaublicher Voll- endung: jeelifhe Entwidlung Dort Traum, Zuftand, Kindhaftigkeit, Romantik Eichendorff hier überzartes Wachen, innigfte Bewegung, Erwachfenfein, Friedrich Schlegel. Dort Lächeln immermwährenden Heiterfein3, die Welt wie die Seele Inſeln im fonnigen Meere hier wehe Spannung, menfchenfaßbare Seeligteit, müde Ent- Jagung, ferne Glaubensjehnfucht, höchſte Intellettualitat bis zur Qual, bange Tragit. Dieje Feinheit vermochten die Novellenbande ,S hidfale” (1914) und „Nächte“ (1912) wohl abzuivandeln, nicht mehr zu erhöhen. „Schidfale”: eine bligende Kleinodienſchachtel funtelnder Menſchenleben; „Nächte: Hineinleuchten in angftvolle Finfterniffe, deren Dunkel nur in fpáteren erpreffioniftifchen Legenden wie „Leſſeps“, „Der Mörder”, „Der Steintlopfer”, „Der ſchwingende Felfen von Tanbill” nod) vervielfacht erfcheint. Zu dem burlesten „Rübezahlbuc“ aber gehört bras matifch das Luftfpiel „Die Rebhühner” (denfelben Stoff wie Gerharts „Jung— fern vom Bifdofsberg” behandelnd).

Ein Igrifcher Geift ohne Zwang zur reinlyrifchen Form aud) die @opnette „Dort, wo im Sumpf die Hürde ftedt” vermögen dies Urteil nicht zu biegen; ein Dichter, deffen immer (tie er mir einmal fdjrieb) „leidenfchaftlich der neuen Form verfflavter Sinn” fid auf allen Arenen wie Hlingenfechtend umtrieb, der zuweilen in den Verdacht eines genialifchen Dilettanten fam und nur in wenigen Meifterierten Dauer verſpricht. Allzu Vulfanifdes pochte in feinem Arbeiten, allzu gewaltfam redte der Schöpfer mit einem Riefenhaupt fd dicht Hinter feinen Dichtungen empor welches Geftammel nod) in der ,Mufit”, welches Ueberriejeln mit einer Unzahl von Empfindungstwörtern fon in den ,Sonnenivanderern”! Gerhart der Gegenftandlide, Abftandnehmende, fein Ich in der Welt verdampfen laffend Carl heiß und hingegeben, ftrebend, der Erde und des Himmels Urftoff in fd aufzunehmen, fein Ich mit dem AN erfüllend, weniger feine Werke als fich felber geftaltend. Gerhart dichtet die Dinge, Carl fein Yoh. Gerhart eben wie ein Strom, Carl zudend wie Gewitter, tofendes Bergivaffer, in Windungen freifender Strudel. Gerhart fachlich mit Neigung zur Elegie, Carl dithyrambifcher Prophet voll lebhaft betonter fittlicher Alzente. Wunderumfangen wie E. T. A. Hoffmann, . mufitalifd) empfangend und farbig-tonig jehend wie Otto Ludwig, ein Beobachter wie Fontane und dod) ein heimlicher Fabulant und Märchenerzähler wie Seller. Bwifden aller Vergiidung und einem zulegt gar ing Politifde („Brief an Wilfon” 1918) übertragenen Raufd) ſchöner Menfchlichkeit nicht felten ein Silberftiftzeichner von fo leifer Weihe wie Adalbert Stifter, der einige Kapitel im „Einhart“ gefchrieben zu haben fójeint. Und immer und überall überftrömend von tiefer Güte.

Mir fenten die Fahnen! Ein Menfd) voller Licht ift ausgelöfcht. Ein ewiger Süngling. Ein jubelnder Sonnenträger. Einer, der ewig um Leben kämpfte. Einer, der um ewiges Leben rang. Karl Theodor Straffer.

Berthold Otto.

don fein Name klingt fo befcheiden und anfpruch8los, daß man binter ihm

feinen „Geiftesführer” fucht und gelangweilt darüberhinlieft wie über ein gleichgültiges Namenſchild in der Häuferflucht einer Gefchäftsftraße. Und dod) ifts ein Geiftesführer, zu dem taufend Gäfte aus allen Erbteilen gemandert find, der im baltifden Rußland einer der volfstiimlidften Deutfchen geblieben ift und den bloß die meiften feiner Volt8- und Landgenoffen nicht fennen.

Freilich, es fehlt ihm all das Reigvolle der „Senfation”, die Rellamefarbe des modernen Großftadtpropheten. Und wenn er je „Mode werden” follte, fo wärs bloß deshalb, weil er eben fo verblüffend anders ift al3 die andern.

Hinter feinem Wohnhaufe in Lichterfelde breitet fid) ein beträchtlicher Garten,

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und in dem Garten fteht ein Haus. Diefes Haus ift fo ſchmucklos und nüchtern wie diefer Sab. Es ijt Berthold Ottos Schule. Einftödig fteht e3 bor uns. ES ift gerade Paufe, und die dauert hier lange. Da haben wir Gelegenheit, die wenigen Lehrer und Lehrerinnen kennen zu lernen und uns im Geſpräche Aufklärung zu holen über all das Neue, das uns umgibt. Wir wandern mit ihnen durch den Garten, fehen die Spielpläge, die Stelle, wo im Freien unterrichtet wird, die Beete, auf denen jeder Schüler nach Belieben feine Pflanzen zieht, und bie freundlichen Leute erzählen uns gefällig das, was fie ſchon etliche hundertmal erzählt haben, bis Otto felbft von feinem Haufe herüber fommt und uns begrüßt, ruhig, mit einer heiteren Sachlichkeit e3 Hingt feltfam, ift aber das einzige Wort und dem gütigen Leuchten in den Augen, das fofort Vertrauen ertwedt.

Er hat fon feit dem fritheften Morgen mehrere Dugend Zeitungen durch— gelefen und kommt jet herüber zu der Stunde, die wir felbft mit Spannung erivarten, da fie uns ins innerfte Wefen biejer Dttofchen Erziehungsfunft hinein- führen und uns ihre Bedeutung für den geiftigen und wirtjchaftlichen Wieder- aufbau Deutjchlands erichließen fol. Das tlingt nun wieder fo großartig, dak es der fhlichten Art dieſes geift- und gottbegnadeten Erziehers lächerlich zu wider- fprechen fcheint. Aber ung, die wir von ihm lernten und dankbar andern von ihm erzählen, uns bleibt eben nichts al3 zu fagen was ift. Und das tue ich.

Die Glode Hat ſchon lángft gerufen. Wir drängen uns mit den lebten Kindern in das große Zimmer, das durch Deffnen der breiten Mitteltür aus zivei fleineren entftanden ift, und quetfchen ung irgendivo zwifchen den Buben und Mädels in eine Lüde. Sie rüden willig zufammen, beachten uns aber weiter gar nicht. Aud die Lehrer alles jüngere Leute fen wabllos zivijchen den Schülern. Doch e8 ift nicht wie in einer Schulflaffe, wo man ähnlich wie im alten Omnibus in Parallelreihen hintereinander figt und den Atem des Hinter: mannes im Naden fpürt, ohne fic) aber umdrehen und ihn anfehen zu dürfen: vielmehr find die Banke rings an den Wänden entlang aufgejtellt und die Mitte ift frei, fodaß jeder jeden fehen fann. Zuletzt tommt Otto und fest ſich allen ficht- bar an einen befonderen Play in die Mitte. Die Sache geht los, und gwar heißt fie Gefamtunterridt.

Gefamt jawohl: denn der Gefanttheit der Welt mit all ihren Erſcheinungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ftehen wir hier, Lehrer, Schüler, Gäjte al3 eine Gefamtheit von Forfchenden gegenüber. Wir haben nichts Geringeres bor alg diefe Welt zu erfennen. Doch da ift fein Plan aufgehängt, nach welder Jáderfolge das nun gemacht werden foll, fondern die Kinder beftimmen, was befprocen werben foll; fie fragen oder erzählen ettwas, und givar in der Reihen- folge, wie fie fic) melden. Ein Kleines Erlebnis vom Schulmwege, eine Beobachtung auf der Straße wird mitgeteilt oder eine ganz tiefgründige geſchichtsphiloſophiſche oder erfenntnistheoretifche Frage aufgervorfen. Und jeder Gegenftand wird folange behandelt, wie Teilnahme dafür vorhanden ift. Es geht wie am Familientifde: Zunächſt antworten dem fragenden Kinde die andern, älteren, und erft wenn die nicht3 mehr mwiffen, jagen die Lehrer und wohl auch die Gajte ihre Meinung. Und wenn auch die zu Ende find, dann ja, dann lenkt wohl der Leiter gefchidt ab auf einen andern Gegenftand, um ja den Nimbus der Allwiffenheit nicht einzubüßen? Keineswegs! Dann wird einfach erflärt: „Fa, das weiß ich auch nicht, da muß ich mich erft mal näher erkundigen.” Und wenn die Sache den Kindern wirklich wichtig tar, werden fie das nächte Mal [don darauf zurüdfommen. Wollte der Lehrer Allwiffenheit heucheln, fo tvitrde das hier fehr bald gemerkt und dann rettungslos und endgültig daS verloren, was fo viele Lehrer älteren Stils preiszugeben fürchten, wenn fie ihr Nichtwifjen eingeftehen: die „Autorität“.

Ja, aber was hat denn mun diefe Art Unterricht, diefes plan- und ſyſtemloſe

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Fragen und Erzählen in aller Welt für den Wiederaufbau Deutfchlands zu bedeuten? Mar das einer jener beliebten Schlagmwortjuperlative?

Nun, ich bin in der glüdlichen Lage, den Lefern einige Gage mitteilen zu können aus einem Bortrage, in dem uns Otto vor fieben Jahren in Berlin das Wefen des Gefamtunterridjts erläuterte. Diefe wenigen Sage follen zugleich eine Probe feiner einfachen, allen verftändlichen Rede- und Schreibiweife fein, über die ich gleich nod ein Wort fagen möchte.

„Der Gefamtunterricht, den ich eben gefchildert habe,” fo fagte er uns damal3, „bezieht fic) auf das Zufammenfein der ganzen Schule, wo Sechsjährige bis Siebzehn- jährige zufammen find. Gerade daran liegt mir fo außerordentlich viel, an der geiftigen Gemeinjchaft verfchiedener Lebensalter. Es ift das aud), wodurch die Familie in der geiftigen Ausbildung der Kinder den bisherigen Schulen entjchieden überlegen ift. Ich möchte an jeden einzelnen der Anweſenden appellieren, an feine Jugendzeit zurüdzudenten, ob er nicht fehr vieles von den wichtigiten Erfenntnifjen, bon dem wirklichen Verftehen der Welt mindejtens ebenfo fehr, vielleicht mehr, den Gefpraden am häuslichen Tifh, am Elterntifch verdankt, als jelbjt fehr gefchidten Bemühungen der Lehrer in der Schule. Fedenfall3 muß ich bon mir fagen, daß es fo ift, und von vielen, mit denen ich ausführlicher darüber gefprochen habe, habe ich die Sache bejtatigt gehört. Das liegt eben daran, (und nun kommt er auf das Wefentliche zu fprechen!) daß ganz verfchiedene geiftige Entwidlungsftadien dort ich aneinander anpaffen. Man muß am Familientifch fo fprechen, daß die Kinder es ſchließlich alle verftehen, und ebenfo müffen wir hier, wenn wir uns von Sechsjäh- rigen bis zu Siebzehnjährigen hinauf verftändigen wollen, die Verftändigungsmittel in der Sprache und in der ganzen Darftellungsweife deffen, was wir gefehen, gedacht und erlebt haben, fo einrichten, daß wir zu einer gegenfeitigen Verftandigung ge- langen. (Und nun bitte ich den Lefer befonder3 genau zu lefen:) Wir haben dadurch mehr, a[8 es bei einer gleichaltrigen Klaffe der Fall fein kann, ein Abbild der Art und Weife, wie die Menfchen felbft bei ber Erforfchung der Welt geiftig mit-

` einander verfehren; denn die verfchiedenen Menfchen, die auf verfdiedenen Gebieten tätig find, ftehen felbftverftandlid) auf recht verfchiedenen Standpuntten, und bie gegenfeitige Verftändigung fällt mitunter recht ſchwer. Gerade darauf bereitet unfere Art des Gefamtunterridts von vornherein vor. Sie bereitet aud) darauf vor, daf die Menſchen verfchiedene Intereffen haben und daß eine gewiffe Toleranz, eine gegen- feitige Achtung und Duldung geübt und, wo fie nicht vorhanden fein follte, gelernt wird. Darin erziehen die Kinder fic) hier in der Gefamtunterrichtsftunde gegenfeitig.”

Und nun ermeffe ber Lefer, was es für unfere politifchen Parteifampfe und die Fehden zwifchen moniftifcher und dualiftifher Weltanfchauung bedeuten würde, wenn alle Menfchen eine folhe Schule durchgemacht hätten! Dabei ifts ja gar nichts Neues, fondern die uralte, von jeder verjtändigen Mutter geübte Art des geiftigen Verkehrs mit Kindern, die fich den Fragen des Kindes und feinem Erfenntnistriebe als Führer überläßt und in der dem Kinde verftändlichen Weife, in feiner „Alters- mundart” darauf eingeht. Denn der junge Menfch ift für den Erzieher Berthold Otto einer Pflanze vergleichbar, die gepflegt, aber nicht nad) feftem Plan in be- ftimmter Richtung gezüchtet wird, fondern bloß bor fchädlichen äußeren Einwir— fungen gefchügt werden muß und nur Sonne, Himmelslidt, Simmelsluft braucht, unt fich zu entfalten; die gilts ihm zu geben. „ch bin durchaus nicht der Meinung,” fo fagte uns Otto damals etiva, „daß der kindliche Geift in feiner natürlichen Ent- widlung fic) ausſchließlich auf Allotria richtet, die dem Kinde zu erfahren nicht gut find, fondern ich bin der Weberzeugung, daß, wie jedes organifche Wefen aus der Welt, die e8 umgibt, fic) das ausfucht, was ihm gerade förderlich ift, und das natürlich und inftinftiv zurüdweift, was ihm ſchädlich ift, fo auch der Kindergeift aus der ihn umgebenden Welt, alfo aus der Kulturivelt, in die er hineinmwächft, fich immer gerade

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das wahrfcheinlicheriveife herausfuchen wird, was immer diefem einzelnen inde zum Wahstum, zum geiftigen Wachstum am bejten förderlich fein wird.”

Go hat Otto feinen ganzen Unterricht in diefer Weife vom Kinde ausgehen laffen. Die Fragen und Aeuferungen der Kinder im Gefanttunterricht gaben ihm ftets den Maßſtab für die geiſtige Wachstumsſtufe der einzelnen Altersklaſſen, und fo ijt er, immer bom Sinde und feinen geiftigen Bedürfniffen ausgehend, zu Forderungen gelangt, die jegt glüdlich zum Allgemeinbefige jedes Volkserziehungsredners gehören, nachdem fie von Otto ſeit zwanzig Jahren praktiſch ausgeführt und in einer Wochen- {rift auch literarifo) allen zugänglich verivertet und verknüpft worden find. Ich dente vor allem an die fo oft erhobene Forderung: Staatsbürgerliche Bildung.

Otto hat, fo oft feine Kinder mit politifden und wirtfchaftlichen Fragen kamen, darauf natürlich ausführlich geantwortet und dabei erfannt, wie das gefunde Kind ganz von Natur nach diefen Begriffen fragt, fie erflärt haben will. Und wenn man ihm vorgeworfen hat, er ditrfe doch das „Idyll der Kindheit” nicht mit jo unkindlichen Dingen ſtören, fo erwidert er, nicht er behellige die Kinder mit Politik, fondern die Kinder ihn; und nicht um Haaresbreite weiter gehe er über die Linie hinaus, bid zu der ihn die Kinderfragen eben führten. Er hat die Nachſchriften von Gefamtunter- rihtsfigungen, in denen politifche und twirtfchaftliche Tagesfragen zur Ausfprache ftanden, in feiner Wochenschrift „Der Hauslehrer” (jet „Deutfcher Volt3geift”) ver- öffentlicht und feit zwanzig Jahren im Hauptblatte diefer Zeitfhrift in der klaſſiſchen, gemeinverftändlichen Weife über politifche und wirtſchaftliche Dinge geredet, die aud nicht den Hauch einer Untlarheit an den ſchwierigſten politifchen Begriffen läßt. Er ift der Begründer wirklichen ftaatSbürgerfundlichen Unterrichts in Deutſchland.

Natürlich ift bie ganze Schule innerlih und äußerlich den Anregungen der Schüler entfprechend ausgejtaltet. Ein felbftindiges Schülergericht, völlig eignen Gedanken der Kinder entíprungen, hütet bie Ordnung. Seine ſchwerſte Strafe ift, dak man zwei Tage lang nicht in die Schule tommen barf!

Freilich, wenn wir gelegentlich nod) mal in jene Tür dort hineinfehen, tann8 uns tiderfabren, dak wir folgendes Bild erbliden: Jm Hintergrunde haben fic zivei der Kleinften aus fämtlichen erreichbaren Bánten und Schemeln eine Eifenbahn gebaut und tuten. Unterm Tiſch Hoden dreie und hantteren mit Spielfaden. Vorne aber liegt im freien Raume der „Lehrer“ längelang ausgeftredt auf dem Boden, gefeffelt, und fünf Indianer erproben an feinen Haaren die Feftigteit der Schadeldede des Bedauernswerten. Fit das Anſchauungsunterricht im Stalpieren? es iſt „Rechnen“. Doch die Würmer hatten heute feine Luft dazu.

Nun, Otto will ja diefe Art Unterricht und all diefe Formen des Sculbetrichs ganz und gar nicht auf die üblichen Schulen draußen anwenden. Das ift meine Schule, erflärt er. Und wer wiſſen will, wieweit all das anwendbar ift, der [efe feine Bücher „Die Reformation der Schule“ und „Die voltsorganifchen Einrich- tungen der Zukunftsſchule“.

Dod) jegt weitet fic) vor unfern Augen der Kreis feiner Schüler: denn feine volkswirtſchaftlichen Erfenntniffe haben ihn zum Propheten einer Zukunftswirtſchaft werden lafjen, die nicht mehr durch den Kampf aller gegen alle, fondern durd) die Liebe getragen und beftimmt wird. Der Kapitalismus wankt und ftürzt; denn gegenfeitige Hilfe und Kameradfchaftlichkeit bilden die Grundpfeiler. Eine geloloje Wirtichaft, bis auf ihre tiefiten Tiefen kriſtallklar erhellt, ohne jegliches Taften im Dunkeln und Fifdhen im Trüben, erhebt fid), in der es fein verfchleiertes Maffenelend mehr gibt. Von höchftem Reize ifts, diefe Gedankenbahnen in feinen Büchern pKriegsrechenwirtfdaft” und „Mammonismus, Militarismus, Krieg und Frieden” gu verfolgen. Denn fie find gefchrieben eben in feiner jedem Volfsfchulgebildeten bis ins Lehte hinein verftändlichen Sprache.

Und bas wirft auf den vielgepeinigten Zeitungslefer der Gegenwart wie eine 116

Erlöfung. Denn da gibt es 4 B. ein Büchlein, nod) nicht hundert Seiten ftart, in dem in diefer Weife vom „Leipziger Bankkrach“ bor zwanzig Jahren gehandelt und erzählt wird, wozu Banken und Bankier da find, was Depofitengefchäft und Giros verkehr, Wechfel, Gründungen, Lieferungs- und Differenzgefchäfte, Hauffee, Baiffe, Konjuntturen und Krifen find. Gn einem andern Büchlein, „Fürft Bismards Zebengwert”, wird aufs genauefte von Parlament, Minijtern, Verfaſſungskonflikt, Heeresreform, der ſchleswigſchen und der deutfchen Frage gehandelt, und fo geht es weiter. Und wer Gefdentbiider für Zehnjährige fucht, der greife zu den foftliden Heinen Gagenbandden von Helene Otto, die in der Sprache der Zehnjährigen Jlia3, Ddyffee, Aneis und Nibelungenfage erzählt, oder zu Paul VBaumanns prachtvollem „Dietrih) von Bern“, zu dem Sinderzeichnungen den Buchſchmuck bilden. Aelteren Kindern gebe man Otto3 „Sage vom Doktor Heinrich Fauft” in die Hand oder eben das Bismardbud, die man alle am ſchnellſten famt einem ausführlichen Schriften- verzeichniſſe Ottos pom ,Hauslebrer-Berlag”, Berlin-Lichterfelde, Holbeinftraße 21, erhält.

Weshalb habe ich von Otto erzählt? Denkmäler wollen wir unfern Geiftes- führern errichten helfen; doch nicht Hochgetürmte Werke aus Marmor oder Erz, fondern unvergängliche und lebendig bleibende, indem wir ihre Gedanken, ihren Willen, ihre Liebe fortwirfen laffen durch die Arbeit unferer Hände.

Rudolf 3met.

DBiicherbriefe Bücher vom Schickſal der deutfchen Muſik.

Erfter Brief.

S* fragen mid), warum verhältnismäßig fo wenig Bedeutendes über Mufit gejchrieben wird, während an wichtigen Büchern über Literatur und Bildende Kunft fein Mangel fet. Ich glaube, e8 liegt daran, daß eifriges Reden und Schreiben über eine Kunft gewöhnlich ein Zeichen dafür zu fein pflegt, dak diefe Kunft gar nicht vorhanden ift, fondern vielmehr mit allen Mitteln herbeigewünfcht und befdworen wird: entiveder, eine große Kunſt ift tot, und man trauert ihr nad, regiftriert fie, fucht fie bie und da wieder lebendig zu machen; oder eine neue Kunft ift im Anmarſch, man wittert fie, man bereitet fid) auf fie vor, und manche, die fie früher alg andere gu Sehen glauben, wollen ihr den Weg bahnen. So hat das 19. Jahrhundert die umfänglichjte Literatur über Dichtung gehabt, weil e8 zu feinem größten Teile ohne Dichtung im hohen Sinne mar, eine folde aber erfehnte und erivartete. So dis- futieren wir heute befonders lebhaft über Bildende Kunft, die feit dem Mittelalter nicht mehr Angelegenheit der Allgemeinheit war, jest aber, als eine Art von neuer Beltanfhauung es wieder werden möchte. Dagegen in der Muſik leben wir nod) mitten in einer großen Ueberlieferung, wenn auch nicht des Schaffens, fo doch der Wiedergabe und Aufnahme: Bachs SKantaten und Paffionen, Mozarts Opern, Haydns, Beethovens und Schubert3 Symphonien, Sonaten und Quartette werden, in wirklider Aufführung, noch täglich zu lebendiger Gegentwart, gegenüber welder die paar problematifchen Aufführungen echter Dichtung an Wirkung und Umfang verſchwinden, gegen welche alles Lefen bon Büchern und Schauen von Bildern fraftlos und fdattenbaft tft. Mas bedarf es alfo des Redens und Schreibens über eine Kunft, die noch täglich erlebt wird, die Teil unfres Lebens ift, und welche durch Reden und Schreiben nicht näher gebracht, nicht tieferem Verſtändnis erfchloffen zu werden vermag? f

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Zweiter Brief.

Sie nehmen meine Gründe an, und fügen felbjt nod) einen weiteren hinzu: Sie find der Anficht, dak ein Schreiben über Mufit viel ſchwerer möglich ift ala über irgend eine andere Kunft, da die Sprache der Mufit vieldentiger fet al3 jede andere, indem der Laienverftand ihr die mannigfachften Auslegungen angedeihen laffen könne, ohne daß zu entfcheiden ware, welche davon nun die richtige fei. Dagegen gebe es, meinen Sie, anders als in den anderen Künften, ein fahmännifch-technifches Berftándnis, das durch Kenntnis der Notenfchrift, Einficht in die Struktur der Muſik— formen, in die Gefege der Harmonie- und Melodiebildung, durch. Beherrfhung der Inſtrumente und Studium der Inftrumentation imftande fei, der wahren mufitali> Then Abficht des Komponiften näher zu kommen und der laienmáfigen, aus anderen Kunftarten, Hauptfählih aus der „Literatur übernommenen Vergleiche und Deutungen zu entraten. Sie bedauern, daß diefes, wie Sie meinen: eigentliche und höhere Verjtándni3, fo vom Zufall der mufitalifchen Erziehung abhängt, und ver=" muten, daß e3 wohl audy Bücher über Mufit geben müffe, die in diefem technifchen Sinne für das Fachverftändnis gefdvieben feien, die aber mit ihren Notenbeifpielen und Kunftausdrüden wie Dominante und Tonifa, Sertfeptaftord uf. dem Laien eben leider durchaus unzugánglid) feien.

Sh muß Ihnen zunächſt widerfpreden, was die Deutung der Muſik durch Worte betrifft. Bei feinem Kunſtwerk vermag der Inhalt burd Worte wieder. gegeben zu werden, auch bei der Dichtung nicht, fo fehr man unfern Kindern in der Schule aud) das Gegenteil beibringt: Inhalt und Form find bei jedem echten Werk untrennbar; und e8 ift mur fdeinbar etwas getan, wenn ein Kind in der Schule oder ein Univerfitatsprofeffor auf dem Ratheder den Anhalt eines Gedichts mit andern Worten erzählt, oder den Vorgang auf einem Bilde befchreibt: das Kunſtwerk, das gemeint war, ift fofort verfhtwunden, denn e3 war nur vorhanden durch die eigentiimlide, gerade fo und nicht anders erfchaffene finnliche Form gäbe e8 eine Möglichkeit, die, nad der Anficht unferer Profefforen, dem Sunftivert innetwohnende „Idee“ aud anders auszudrüden, fo wäre das Werk ja überflüffig, und der Inhalt ware nicht in einer einmaligen Form, fondern, auf wechjelnde Weife, in Bes griffen mitteilbar. Dadurch, daß die gewöhnliche Sprache mit der Dichtung die Worte gemein hat, und dadurd, dak ein gemaltes Bild mit dem, was wir täglich feben, oft die Natur- und Wirklichfeitsformen gemein hat, werden wir verführt, ein Gedicht mit Worten wiederzugeben, ein Bild mit der Befchreibung des Dargeftellten zu harakterifieren; dennoch bleibt beides dem eigentlichen Sunftmert fo fern, wie der Muſik die literariſche Trangjtription, die uns die poetifche Fdee zu verdeutlichen fucht, die der Komponift angeblich habe darftellen wollen. Tatſächlich find es nur die geiftigen Bilder, die beim Hörer Jd auslöfen, welche durch Rede mitteilbar find; und diefe fónnen, je nad) Menfch und Zeit und Stimmung, fehr verfdieden fein das gilt aber nicht nur bon der Mufik, fondern von jedem RKunftwerk: es ift mannigfach ausdeutbar, weil es den Empfangenden, und je nad bem es ben Empfangenden jhöpferifh macht. Sinn und Wert hat die Ausdeutung alg menjd)- liche Mitteilung nur dann, wenn fie wiederum zum Runftivert wird; fie wird aber dann immer nur dag Erlebnis darftellen können, die Wirkung im aufnehmenden Subjekt; nicht aber das, was der Künftler damit „eigentlich“, das heißt: mit dürren Rorten habe fagen wollen. Deshalb find alle eigentlichen Künftlerromane fchlecht, fofern fie bon einem wirflic vorhandenen Werk oder Menſchen ausgehend, uns diefen oder dieſes motivierend und erflarend näher zu bringen fuen. Diefer Fehler haftet 3. B. aud) Mörikes Novelle „Mozart auf der Reife nad) Prag” an, die uns ernüchtert, forveit fie das Unausfprechliche auszu,,fprechen“ fucht, das einer ung ber- trauten genialen Schöpfung vorangeht; denn es ift nur gefprochen und nicht gedichtet, und leiht allen Glanz und alles Beivegende von der mythiſchen Perfon des Kom— poniften, die für ung eben nur al3 Erinnerung feiner Mufif lebt, und als folde 118

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borausgejett wird. Ganz anders ift folche dichterifche Ausdeutung der Muſik von Wadenroder und E. T. A. Hoffmann geleiftet worden, da hier faft durdjmeg das Erlebnis dez Werkes im Subjekt dargeftellt, nicht aber die Analyje des Schaffensggpiteriums verſucht ift. Wo es bei Hoffmann dennoch in diefer Richtung geht, wie etiva im „Ritter Glud“, da Hilft ihm feine Phantafie zur Geftaltung von Bildern, die nicht Kopie einer vermeintlichen Wirklichkeit, fondern mythiſche Neu- fchopfungen find. Seine höchſte und umfaffendite Nachſchöpfung der Mujit ift jedoch fein Sapellmeijter Kreisler, in welchem das Erlebnis der deutfchen Muſik (und nicht die Theorie irgendwelcher Zutunftsmufif) dichterifche Geftalt geworden ift, nicht aber Muſik befchrieben, erklärt und iiedererzablt wird. Das muſikaliſche Leben des Jofef Berglinger von Wadenroder und die mufikalifchen Novellen und Romane Hoffmanns find immer noch die beiten Bücher, die eS über Muſik gibt; vor allem, da fie diejenige Mujit zum Gegenftand haben, die auch heute Vielen unter uns nod), al3 die eigent- liche deutſche Muſik, lebendig ift; und alfo nicht „überholt“ werden können, folange diefe Mufif und ihr von jeder anderen verfdiedenes Erlebnis unfer Beſitz it.

Dritter Brief.

Ich habe noch nicht Ihre andere Frage beantwortet: wie es mit den fa ch - wijfenfhaftlihen Büchern über Muſik beſtellt fet ob fie nicht ein höheres Verſtändnis zu erſchließen vermöchten.

Nun, ich glaube, fie vermitteln fein höheres, fondern ein andere s Verftandni3; allerdings vielleiht das „Verſtändnis“, wenn wir darunter vornehmlich das Verftehen mit dem Verſtande begreifen. Jedes Kunſtwerk läßt fic, losgeloft von feinem Inhalt, mit dem Berftande auf feine formal-technifchen Qualitäten hin betrachten; aber wir brauchen wiederum bloß die anderen Künfte zum Vergleid) heranzuziehen und zu fragen, ob eine Unterfuhung über das Metrum Hölderling oder über die Perfpektive bei Thoma eine tiefere Einführung in das Wefen Diefer Künftler bedeute, um zu erkennen, daß eine formale Betrachtung wohl intereffant und auffchlußreich für die Art und Gefdhichte der künftlerifhen Mittel fein fann, daß fie aber nicht tiefer in das Geheimnis der Schöpfung und ihres feelifchen Erleb- niffed zu führen vermag. €8 gibt allerdings Werke, bei denen die facymannifch- technifche Betrachtung und Bewertung die einzige ift, die man anwenden fann, und die deshalb dem Laien fofern er ehrlich ift eigentlich unzugänglich find: das find die Werke, in denen das feelifche Agens, die geiftig-menfdlide Not der Mitteilung ba8 urfprünglich Treibende aller echten Kunft zurüdtritt gegenüber der formalen Bewältigung technifcher Probleme. ede große Kunſt überfchreitet einmal das Stadium, in dem fic) Inhalt und Form das Gleichgewicht halten: der Inhalt, der die Form urfprünglich erfchuf, ftirbt ab, aber die nun einmal irdifch vorhandene, aus- gebildete Form lebt weiter und wird von befonderen Könnern um ihrer felbft willen weitergepflegt und oft bid zu ihren legten, abfurden Konfequenzen entwidelt. Dies tft der Sinn des Part pour Part, das für die Malerei bis vor kurzem das eigentliche Sunftprinzip war, welchem nur wenige große Abfeitsjtehende nicht Huldigten. Nicht nur der Ympreffionismus, fondern faft die gefamte Bildende Kunft feit dem Mittel- alter war wejentlich rein fachmännifche Bewältigung technifcher Probleme ohne zwingenden feelifchen Gehalt; weshalb fie auch ohne jede Wirkung auf das Volfs- ganze blieb, für welches es feit bent Mittelalter eigentlich feine Bildende Sunft mehr gab. Daf es dabei eine Konvention der Gebildeten mar, fo zu tun, als ob fie diefe formale Kunst fahmännifch verjtiinden, verhüllt diefen Tatbeftand, ändert ihn aber nit. Es fcheint nun fein Zweifel dariiber möglich, daß in der Muſik jest eine ähnliche Entwidhing begonnen Hat. Als Symptome diefer Entwidlung tann ich Ihnen allerdings Bücher nennen, wenn ich auch geftehe, dak ich dies ungern tue. Denn nod) ift diefe Entwidlung wefentlich auf die Mufiter von Fach befdrantt, und noch ift es nicht zum Erfordernis der allgemeinen Bildung getvorden, jedes

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mufitalifche Vart pour art mitzumachen, weil die jeelifche Gewalt der älteren Mufit nod) unter ung mächtig ift, und e3 jenes Erſatzes noch nicht, wie bisher bei der Bildenden Kunft, bedarf. Aber ba die Bücher, die das neue Evangelium diejer formalen Kunft verkünden, fic) eingeftandenermaßen auch an das nichtfachmänniſche Bublitum wenden, fo müffen fie fid) ſchon gefallen laffen, auch bom Laienſtandpunkt aus tritifiert zu werden.

Sie kennen vielleicht den Namen Auguft Halms (der dadurch bon befonderm Gewicht ift, daß er der freien Jugend in den Landerziehungsheimen al3 mufitalifcher Führer gilt) und haben wohl mit Verivunderung gehört, dak er die Symphonien Anton Brudner3 über das Lebenswerk eines Bach, Mozart und Beethoven ftellt. Bei dem naiven Anhören einer Brudnerfchen Symphonie wird Ihnen died un- begreiflich erfcheinen; nach der Lektüre der Halmfchen Bücher*) werden Sie e3 verftehen. Er meint nämlich mit Muſik gar nicht das, was Sie und ich unter Muſik verftehen der geiftig-feelifche Gehalt eines Werkes ift ihm „Idee“ und „Programm“, das mit Muſik als [older für ihn nichts zu tun hat. Ihn interefjiert lediglich die Art und Struktur eines Themas, feine dem Kundigen verfolgbare Entfaltung, das, was es „erlebt“ (nicht, was man bei feinem Anhören erlebt) alles im äußerlichen Sinne der Technit, oder, um mit ihm zu veden, im „rein mufilalifchen” Sinne gemeint, nicht als Mittel geiftigen Ausdruds und feelifchen Erleben. So mag man allerdings zu dem feltfamen Ergebnis tommen, dak Beethovens Themen wohl allerlei „erleben“, daß fie zerlegt, neu zufammengefügt, geiftveid) berivendet und wie von einem Feld- herrn didponiert werden, um die Schlachten der Technik zu Schlagen; daß fie an fid aber unorganifche Gebilde von „minderer Schönheit” find. Bachs Themen wird eine höhere Schönheit und mehr organifches Leben gugeftanden, wenn auch an ibm nod) mancherlei zu tadeln bleibt; allein Anton Brudners Thema vereinigt natürliche Schönheit und allfeitige mufitalifhe Logit der Entwidlung. Diefer Brudner ift natürlih Mozart und Schubert „überlegen in jedem Betracht“, weil feine Werke ‚Die Schäden des loderen Gefüges“ nicht aufiveifen, und fo fort. Man verfteht diefe Urteile, wie gefagt, wenn man weiß, daß Halm unter der Größe eines Künſtlers lediglich feine Fähigkeit technifcher Regie und künſtleriſcher Oekonomie fich dentt. Der Vergleich aus einer anderen Kunft, den er unvorfichtiger Weife wählt, enthüllt, twas fid) fonft unter mufifalifden Fahausdrüden verftedt: die barbarifde Natvitát eines DVerftandesmenfchen, der mit Kunſt im Grunde nichts anfangen fann. Er ſchreibt: „Sch verfiehe ein Drama nicht, wenn ich etiva richtig bemerte, dak auf ber Bühne ein Jemand einen anderen Jemand totfchlägt;” febr richtig „auch dann nod) nicht, wenn ich feine Beweggründe verftehe und fein Recht oder Unrecht beurteile” ausgezeichnet; jest muß ja die Löfung fommen und das ſchwer mitteil- bare Metaphufifche ausgefprochen werden; aber man höre und ftaune: „fordern ich berftehe, wenn ich weiß, warum und mit welchem künſtleriſchen Recht der Dichter bier, gerade an diefer Stelle, mit dem Eindrud eines Gewaltatt3 operiert!” So lehrt Halm aud das „Pathos“ Beethovens ,,verftehen”, das man bisher ,degradierend” mißverjtand, indem man e3 aus „perfünlich feelifchem Fühlen” entfprungen wähnte. Wir horchen wiederum auf wird e8 vielleicht als über-menfchliches, fosmifches Pathos erfannt? O nein es ift das Pathos der Form, die Angjt um das Schidfal der Sonate, was fo erfchütternd aus ihm fpriht. „Dringen wir aber noch etivas tiefer in Beethovens Lage, in das Bewußtſein feiner Miffion ein, fo erfennen wir, daß er fiir bie Sonate gu fürdten Grundhatte, und wir hören dann vielleicht aus feiner Mufif etwas wie Angft und Zorn über die Gefahr, die ihrem Wachstum drohte. Wer da mit ihm fühlt, für den bedeutet e3 geradezu eine Frivolität, jedes Stürmen und Sich-aufbäumen

. *) Auguft Halm, Von zwei Kulturen der Mufif. München, bei Georg Müller, 1913. Die Symphonie Anton Brudners. Münden, Georg Müller, 1914. 120

feiner Muſik zu einer alltäglihd menſchlichen Wirkung ausnugen zu wollen, feine Schopfungen zu Belenntniffen von perfönlich feelifhem Fühlen zu degradieren, und folded heiße ih nun mirtlid dem Hohen zu nahe treten.” Nun, fo gemefjen, dürfte das Pathos Brudners allerdings weit bedeutender fein, als das Pathos Beet» hovens; denn er hatte Grund, nit nur für das Schidfal der Sonate zu fürchten; fein Pathos dürfte dann das Pathos der Verzweiflung fein: der Ver— zweiflung, die Form der Sonate geerbt zu haben, ohne fie erfüllen zu können, und nun hilflos in ihr verftridt zu fein.

Sie verftehen jegt, wie Halm zu feinen Urteilen fommt. Sie verftehen, warum er darüber flagt, daß man fo wenig geneigt fei, die Mufit „nüchternsrichtig“ zu betrachten, das heißt: in falter Beobachtung ihrer technifch-formalen Qualitäten. Die ſeeliſche Erfehütterung durd) Mufit muß ihm „geiftiger Alkoholismus” fein; eine andere alg die formale Betrahtung muß ihm veraltete, außermufifalifche, „poetifche” Interpretation bedeuten, „halb abfichtliches unveinliches Mißverſtehen“ wenn irgend eine Wirkung übrig bleiben foll, durch die fein Meifter fich aus- zeichnet. Er gleicht in diefem Sampf gegen die Hinreifende geijtig-finnliche Macht anderer Künftler den Jüngern Stefan Georges, die fich auch bequemen miiffen, Eigenfchaften, die ihrem Meifter gerade fehlen, an anderen herabzufegen, um jenen dann nicht ohne Blasphemie an dem fo ganz anders gearteten Hölderlin als „heilig nüchtern” zu preifen, wo er bloß langweilig, inhaltlos und formal bemüht erfcheint. Es bleibt ein pfychologifches Problem erften Ranges, wie kluge Menfchen, die gut fehreiben können und zu ihnen gehört Auguft Halm fo gut wie einer oder der andere Vertiindiger Georges zur Sonjtruttion eines Genies gelangen, die fich völlig überzeugend lieft, die aber bei der erften beliebigen Probe darauf, beim Vornehmen irgend eines Wertes des fo Erhöhten, vollfommen in ſich zufammen- bricht. Die fafzinierende Perfönlichkeit des betreffenden Mieifter8, die in ihrem Willen und Menfchentum groß fein mag, aber nur eben im Werk zu diefer Größe fich nie geftaltet hat, wird hier manches erflären, aber nicht alles. Es fommt dazu die Sehnfucht, in der eigenen Zeit dem Hohen leibhaftig zu begegnen, das man font nur als Sage der Vergangenheit fennt: fo wird man auf den Menfchen, der im Leben dem erfehnten Bilde einigermaßen ähnelt, alle getwiinfdten Volltommenbeiten und Zukunftsträume häufen, und fchließlich, menfchlich-begreiflich, al3 geftaltetes Wert verehren, was nur, oder wefentlih nur, alg Wille vorhanden ift. Im Falle Halm-Brudner ift das Treibende jedoch noch andrer Art und dem Schreibenden nod) weniger bewußt, als was ich eben anführte: eS drängt hier das Eingeftándni3 au den Tag, das im Grunde das Belenntnis einer ganzen Zunft, der heutigen Mufiterzunft ift: dag man die alte Mufit nicht mehr verfteht, nicht mehr ver: ftehen will, daß Mujit in einem bejtimmten und bisher gültigen Sinne über- haupt vorüber ift. Die heutige Zeitgenoffenfchaft, foweit fie Mufit produziert, leugnet ja die Welt Bachs, Mozarts und Beethovens bereits mit jedem Ton, den fie fhreibt: dennoch hält fie an der traditionellen Größe jener alten Mufifer felt, vielleicht nur, um fid) bet der nod) immer auf jene Mufit cingeftellten Zuhörer- ichaft nicht von vornherein unmöglich zu machen. Gegenüber diefer Unehrlichteit erfrifdjen die Bücher Halms durch die ehrliche Naivität, mit der er den Spieß berumfehrt: Seele und Geift in der Muſik widerftreben meinem Injtintt, folglich find die Rlaffifer überholt! Denn was der Mufit noch bleibt, nachdem alle Aus- drudsmöglichkeiten bon Scele und Geift in ihr erfchöpft find, tft die reine „müchterne, richtige” Form an der wollen wir nun arbeiten; aller „Gehalt“ ftört da nur; und weil wir ihn nicht brauchen, ijt er das Niedere, blok-Poetifde, Aufer- mufifalifche.

Diefe Logit der Notwehr ift Niemandent zu beriibeln; was einen wundern fann, ift höchſtens, dak fie gerade an Brudner demonftriert wird. Denn Brudner ift gar fein fonjequenter Neuerer, er ift durchaus rüdwärts gewandt: er hüllt fic

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nod) man weiß nicht warum in die Löwenhaut der Veethovenfden Symphonie; foweit nod) von Erfindung bei ihm die Rede ift, befteht fie, außer in der „Ueber- fegung” Wagners ins Symphonifche, in Uebernahme und Weiterbildung oder Nahahmung von Themen der älteren Mufif. Aber vielleicht ift Diefe naive Art, Anleihen zu machen, darin gerechtfertigt, daß das vor ihm Gefundene, von ihm Verwendete, garnicht mehr alg „Erfindung“ gewertet wird, fondern nur, mie beim imprefftoniftifden Maler, als vorhandener Stoff, an dent nun die formale Technik, das Part pour Vart, zu beiweifen ift. Hier wird aller- dings deutlicher als irgendivo, mie ftart die neue, rein-formale Art zu hören, bon unfern Mujitern Beſitz ergriffen hat, da fie die alte, inhaltlich bedingte fo fehr überwiegt, wenn, wie im Falle Brudners, diefe ebenfalls, ja wefentlid) nod in Betracht tommt. Es wird aber zugleich auch ung, die wir die alte Art zu hören noc) an ung haben, hier leichter al3 fonft, wenn uns neuere Mufif begegnet, zu einer Klarheit und zu einer Entfheidung zu gelangen: Hier, wo auf Schritt und Tritt der Vergleich mit der älteren Muſik herausgefordert wird, kann uns nicht ziveifelhaft fein, wozu wir uns befennen. Denn ein Werk, das nod) der alten geiftigen Aus— drudsmufif nachftvebt, wie das Brucknerſche, ohne fie je erreichen zu können, und deffen Verehrer ung nun auf die verftandesmäßig-formale Wirkung hinweiſen, da die geiftig-feelifche ausbleibt, fann uns die Wahl zwifchen der Welt der Ton- Dichtung und der Welt der Tontechnik nicht ſchwer machen.

(Weitere Briefe folgen.) Rigard Benz.

Rieine Beiträge

Entwidlung.

Forte, die allzu häufig und allzu gedantenlos gebraucht werben, hören allmählich auf, in ihrer befonderen, eigenen ale h tönen; fie werden unferm Obr leicht zu einem leeren Schall. Nur unferm Ohr? einen wir nicht unwilltürli aud, daß die Be- griffe, die fió Hinter ae verbergen, abgebraudt und leer geworden find, weil wir nur nod den Klang vernehmen und mit dem finnliden Eindrud feine Vorftelung mehr verbinden? ES ift hier ein Unrecht gegen die Heiligkeit der menfchlichen Denffraft und de3 geiftigen Anfhauungsvermögens, den mühſam im Laufe vieler «Jabrtaufende er- ee Ott bleibend wertvoller Begriffe unferer Gedantenlofigteit und Oberfladlic- eit preiözugeben.

Dem Begriffe der Entwidlung droht gegenwärtig diefes Los gedanflider Entleerung und Entwertung. Das Mort ijt feit Darwin zu viel gebraucht worden. Alles, fchlechter- dings alles follte Entwidlung fein. Aud) das Genie, das Eigenfte, Urtümlichfte durfte nur no, wenn man nicht rüdjtandig genannt werden wollte, ein Erzeugnis der Entividlung genannt und als folches mit Achfelzuden anerfannt werden.

Der wertvolle, hohe, einzigartige Begriff, deffen alle Welt- und Naturertenntnis Härende Leuchtkraft unjern Vätern wie ein neuer Stern von Bethlehem aufging, ift eine der Urſachen unferes Dummſtolzes, unferes Mangels an Ebrfurdt, unferer qa e Sulturlofigteit geworden. Hat er es darum aud) verdient, den Schatten und Sdhemen unferes getitigen Dafeins beigefellt gu werden? Iſt nicht vielmehr einzig unfere Adtlofig- feit und Trágheit, unfere Vorliebe für das Gewohnliche, leicht Zugängliche ſchuld, bab cs i ie bab ix: Begriff der d

ir haben den Begriff der Entwidlung in den legten Jahrzehnten gewöhnlich viel zu eng gefaßt. Den Hauptfehler hat dabei die Naturwiſſenſchaft uma dt: Wee echte hier die gn Ab die geheimen, ungreifliden Zufammenhänge von Urfade und Wirkung gefunden u en. Alles Werden in der Welt wurde ihr fomit gleichbedeutend mit Urſäch⸗ ichkeit. Der Begriff des Schöpferiſchen mußte verſchwinden, da alle Wirkungen ſich viel leiter aus sugchörigen Urfaden erklären liegen.

Die reinen eiſteswiſſenſchaften dagegen vorzüglich Theologie und Philoſophie ſuchten und fanden in dem Entwidlungsbegriff nur den Gedanten des Bwedes, der 3ielfegung. Da fie jedoch den Begriff des Schöpferifchen nicht wieder auf den Thron jegen konnten und die reine Urjadlidfeit im Reiche der Entwidlungslehre anerkennen 122

mußten, famen fie Z mena zu einer Philofophie ohne Anfang und ohne Ende, ohne Kopf und Schwanz. ALS ein foldes Wefen ift mir der Monismus Hädelfher Prägung ftets erfdjienen.

Urſächlichkeit ohne eine erfte beivegende Urjade, Ziwedjegung ohne einen legten, höchſten Zwed: darin follte fic) der unausiprehlih reihe Begriff der Entwidlung er- ihöpfen! Ja, mußte er nicht leer und wertlos werden für ung?

ntwidlung ijt fprachlich betrachtet nichts anderes als eine befondere Art der Ent- faltung. Und wir werden gut tun, uns durd unfere Sprache belehren zu laffen. Das Wort nk weder etwas bon Urſachen, noch von Zielen. C8 gibt nidt die geringite Ver- anlaffung zu den ungeheuerlichen, fehreienden Widerfprüchen, mit denen uns die Entivid- lungsfehre als naturwiſſenſchaftliche Theorie einerfeit3, als Weltanſchauung andererjeits gu berivirren fucht.

Dafür lójt der in dem Wort verborgene Begriff eine ganze Welt von Empfindungen und Gedanken aus.

Hier ift Bewegung und Ausdehnung zugleih; Beit und Raum, Unendlichkeit und Ewigteit, Vergangenheit, Gegenwart und Ankunft, Hohe und Tiefe, kurz alles, was mir Ber nennen in geijtigem und forperlidem Sinne, ift in dem Begriff der Entwidlung enthalten.

Wo bleibt da die Enge des Materialismus und Monismus, wo die Unflarbeit des philofophifhen Dualismus, wo die Verworrenheit all der andern ertiftelten, welt- und lebensftemden J3men?

Entwidlung ift bet aller Mannigfaltigteit ihrer Formen und Geftaltungen einfad wie das Leben felber. 4

Das Gegebene entfaltet fie zu feinem denfbar größten Reihtum; das Seiende läßt jie um Werdenden emporblühen; das Leben erfüllt fte nicht um feiner Gegebenheiten und

erheißungen willen, fondern indem fie ihm Breite und Tiefe verleiht, mit einer legten und bodjten Bedeutung, mit einem tragenden Sinn, der mit dem, was wir gemöhnlid) unter Zweck verftehen, nicht3 zu tun bat.

Die Welt der Empfindungen, der Gedanken und Gefühle erhält hier einen abfoluten Wert, der von ihrer eit im einzelnen nicht abhängig iſt, der jedoch einen großen, welt⸗ und lebenswürdigen ae alles Geiftigen feftftellt, der mit der Cinheitlid- keit der Materie, mit der GroBartigteit der Naturgefege fic) wohl meffen mag. : j Ein ſolches Berftändnis des Begriffes „Entwidlung” tut uns heute bitterer not, als e ¿ubor.

Warum? Wer da noch fragen kann, dem ift iwabrlid nimmer zu Kurt Engelbrecht.

Aus einem deutſch⸗amerikaniſchen Briefe. 1.

We mit am deutſchen Demotratismus alg Partetgetriebe gegen die innerfte Natur geht, ift feine fo dreijt auftretende Undantbarteit und Pietátlofigteit gegen das, was war. Müffen wir nicht bet ruhiger, gefchichtlicher Betradtung gu dem Schluß fommen, von, Deutjdhland ſchon längit aufaefee en wäre bon den an feinen Rändern vor» dringenden Völkern, befonders bon der uns im tiefften Grunde immer feindlich gefinnten Nation, wenn es den preußifchen Cifenftod nicht ins Rüdgrat betommen hatte? Der ift Jegt zerfeilt (nur gum Teil duch eigene „Schuld”), und das Ergebnis ur Riidenmart- ſchwindſucht. Id glaube, eS werden dod) wieder die Eifenteile in unferm Volfstorper fein müffen, aus denen fic) ein neues Riidgrat bilden kann: die Preußen mögen fie nun als badifche, bayrifche oder fonftige „Preußen“ art Träumer, Dichter, Muſiker, Philoſophen, auch —— er Art ſind eben keine Staatenbildner. Die Be— ſchimpfung des eignen Volkes von ,lints” her ift es übrigens aud), die ung in den Augen der anderen Nationen fo verächtlich erfcheinen Laßt, es ift der Mangel an Hochachtung vor der eignen Art. „Ihr achtet Eud felber nicht als Volt wie könnt Ihr erwarten, dak andre Völker es tun? qu der geringen Bewertung feines eigenen Volkscharakters ift und bleibt der Deutfche Plebejer!” So fagte neulid ein Amerikaner, der. fonft viel für die Deutſchen übrig bat. 4] E š

2 "DR

‚Meine eigene tieffte Hoffnung ift, daß fid unfer geliebtes Volt durch die are Krifen hindurd ge etwas innerlich Erfreulicherem entwideln wird, alg e8.der alte Zuftand E die breiten Majjen war: zur Befreiung befonders von all den ftarren Dogmen und gormen und Vorurteilen, die uns früher hinderten (und e8 unë jest nod) ſchwer maden), in jedem Deutjchen vor allem den deutfhen Menſchen zu ehren, den Blutsbruder, oder aud nur das Bundesglied, dem wir um unfer felbjt willen mit Achtung und Güte zu bes gegnen haben fei er nun „niederer” Bergmann oder „höherer“ Staatsbeamter, fei er Preuße oder Badener, Statholtt oder Proteitant.

Sinderlein, liebet Euch untereinander!” das foll zunehmend der Text fein zu meine r Lebensmelodie in dem mir wiedergefdentten Vaterlande.

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Jeden aber, der es trotz der Verräterei großen Stils, die mit uns getrieben worden iſt, nod) immer mit den „falſchen“ und ganz auf den eigenen Vorteil geſtimmten Fremden halt, wünfche ich dahin, mo der Pfeffer ait Der Ynternationalismus, der als nationalölomomifhe Handelsformel Berechtigung hat, follte da, wo er von unferm Geift und von unferm Gem ñ t Befig zu ergreifen droht, als eine der vielen Kranfheits- erfheinungen an unferm Boltstörper behandelt werden, die ¿um Selbſtmord führen. ds der Reformfchule würde id) Turnunterridt an die Stelle eines großen Teils von Engliſch und —— einführen. Wir werden mit Engländern und Franzoſen Handel treiben, im Uebrigen find fie uns zunächſt gleichgiltig pri eine frühere Kosmopolitin. Wenn id) erft wieder in Deutfchland bin, werde id da jtehn, mo ich im tagliden Tun und Reden, nicht nur in der Theorie ant meijten Achtung und Liebe ausgedrüdt finde für deutſche Eigenart eine Art, die mir tro lies ,Slebrigteit” doch feimreider und Iebensberedhtig- ter zu ae fceint als englifche „Vollendung“ in engeren Geiftesqrengen oder gar gallifdes Sprit-Wefen. š š

Was bie greu ler wagen durften, einem „glaubensfrohen” jungen Volke zu bieten, zeigt folgender Bericht, der mir von einer Chrengeugin als Entſchuldigung für ihren zeitweifen Zweifel an der ſonſt fo bewunderten ns en Kultur gegeben wurde:

Qn einer großen Stirdhe im Weften fteht Dr. Hillis, ein angefehener Prediger aus Brootlyn N.Y. auf der Kanzel und legt Zeugniffe ab für die Greuel der Deutihen in Belgien er ijt gerade aus Belgien zurüdgelommen. Unter anderm erzählt er:

psn dem Haufe eines jungen beigife en Ehepaares werden Deu (natürlich Preußen) einquartiert. Der Mann tft fort; die Frau, die ein ziweijähriges Stind hat und wieder eins erivartet, tut ihr poeta ha die Deutſchen zu füttern. Sie freffen, fte faufen bis fpat abends. Darauf maden fie T einer nad) dem andern über das Weib her die ganze Nacht hindurdh. Als der Gatte am nadften Tag eine diefer Beftien erſchießt, wirb er von der Rotte gefnebelt und muß zufehn, wie man feiner Frau bei lebendigem Leibe bas Kind herausfchneidet und wie der Zweijährigen Gewalt angetan wird. Dann haut man dem Manne bor den Augen der nod) lebenden Frau den Sopf ab und ftedt diefen unter Hohngelächter in ihren Leib, den man mit Hohngeladter mit einer Padnadel zunäht.”

als id) den Mann, der foldes von der Kanzel A einen Teufel nannte, meinte meine Freundin: „Wie fonnte man anders, als einem Augenzeugen wie Dr. Hillis, diefem aa Fr und Weifen, glauben!“ š

telfider ift man bier getvefen, und {ote genug hat man es hier von Rangel und o herunter getrieben. Sn den Stúpfen der Menge bildeten fic) bald logitbidhte Fächer, jodaß fein unamerifaniiher Gedanke die „ehrliche Ueberzeugung” zu erſchüttern vermochte. r das miterlebt hat und nicht auf Lebengzeit ein Cynifer wird, muß ure gefundes Blut haben.

Der MiiBiggana. E: gibt auf diefer Welt nur ein einziges Ungeheuer, und diefes ijt der Müßiggänger.”

So fagt Carlyle. Und weiter: „Arbeit ift die Miffion des Menjchen auf diefer Erde. Es tampft fid) ein Tag herauf, e8 wird ein Tag tommen, an dem der, welder feine Arbeit qt e3 nicht für geraten halten wird, fid) in unjerem Bereich des Sonnenſyſtems zu zeigen, ondern ſich anderwärts umfehen mag, ob irgendwo ein fauler Planet fei.

Ein ———— Irrtum wäre es jedoch, um das gleich vorwegzunehmen, wollte man als die M Biggänger ein he die jest Arbeitslofen anfeben. Heikt ez gwar, wer are beiten molle, der pr e immer Arbeit, fo dürfte aber auch da eine andere Redensart zu be- pergigen fein, daß nämlich alles leichter gejagt fet als getan. Könnte man mit all den

rbett8lofen in —— Berührung treten, jo würde man ja zweifellos in gar manchen Abgrund von men nas Vertommenbeit bliden, doch auch fid erinnern müffen, tas Carlyle nod) fagt: „Ein Mann, der gern arbeiten möchte und feine Arbeit finden kann, ift se * traurigſte Anblick, den uns die Ungleichheit des Glückes unter der Sonne ehen läßt.“ *

Allein das witd von feiner Seite angegweifelt, daß gegentwärtig dem Müßiggange in bedrohlicher Weife gefrönt wird. Als die Urſache davon betradtet man außer den Bu und Hungerfolgen vielfach die jahrzehntelange Agitation für den Zutunftsftaat, durch die fortwährend ein arbeits- und miibelofez Leben mit allen Genüffen der Welt verheißen worden fei, ae die Herrfdaft dem Sozialismus gufalle. Wo nun dies gefchehen fei, halte man fic) auch fofort an jene Verheifungen, um fid) in dem Schlaraffenleben ergehen gu tónnen. Weil das nicht fo ohne weiteres möglich fei, daher aud) die fortwährenden Streits und Unruhen im Reide. E

Gejtitgt wird diefe Erklärung von ſozialdemokratiſcher Seite felbjt. ſei nur darauf, was auf dem zweiten Rätekongreß im April 1920 Cohen⸗Reuß fagte: „Wir haben während der fünfzigjährigen Exifteng der Sozialdemokratie viele Fehler gemadt. it es nicht fo, daß wir in der Kritik viel weiter gegangen find, al3 wir im Heinen Recife als berechtigt gugeftanden? Wir haben übertrieben, fein gutes Haar an dem anderen gelaffen

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und die A für ein Syitem berantivortlid) gemadt, ohne die fachlichen Schivierig-

teiten gu berüdfichtigen. Jn übertriebener Weife haben wir unfere Anhänger gelobt und

ihnen ein Paradies verfprocen. Wir haben unferen Anhängern Wechſel auf die Zukunft - ausgeftellt und jest fonnen wir fie nicht einlofen.”

Weiter fagte Cohen: „Es ijt wie in einer Jabrmartt3bude: die Arbeiter laufen dem

Bu der ihnen das ifte verfpridt.” Damit wollte Cohen fagen, dak die Agitation für

en pasa bd mit all den eben von ihm gezeichneten lan insbefondere dem unein« lösbaren Wedfel auf die Zukunft, auch jest noch fortbeftehe und fo der Hang zum Müßig— gang nod) immer weiter genährt werde. f

Dod läßt fic mit jener Agitation der MiiBiggang nur zum Teile erflaren. Man muß auch die Verhältniffe berüdfichtigen, welche die Agitation auf fo fruchtbaren Boden fallen ließen. Beide, Berhältniffe und Agitation im Bunde, haben zur Arbeitsunluft geführt, und zwar nidt von gejtern auf heute, fondern von langer Hand her, ſchon lange bor dem Kriege. Wie die unter allen Völkern ſchon vor dem Weltkriege beſtand, ſo auch die Unluſt zur Arbeit ſchon lange vor ihrem Ausbruche. Ja, man kann ſagen, daß die Arbeitsunluſt ſich pe geraume Zeit vor dem Kriege in die Tat “y a begann.

So fdreibt Hilty in feinem vor dem Kriege erfdienenen Werke „Glück“, worin er die Arbeit als Grundlage des Glüdes betrachtet, gleich im erften Bande auf der erften Seite, daß die allgemeine Neigung dahin gehe, „möglichſt wenig oder nur für eine kurze eit im Leben zu arbeiten, den übrigen Teil desfelben hingegen in Rube gugubringen. erner, daß die Unluft zur Arbeit ein verbreitetes Uebel fei, beinahe eine Krankheit der modernen Völker, und fic jeder Ë bald als immer möglich diefer theoretifceh gepriefenen Gade zu entziehen ſuche. Ja, Hilty fpricht im weiteren jogar davon, daß ein Jahrhundert voll

weber Faulbeit zu erwarten ftehe, wenn die Dinge fo weitergingen und Europa über- paupt am eben bleibe.

Ein verhangnisvoller Yrrtum wäre e3 aud, wollte man die Müßiggänger nur unter den Arbeitern und Angeftellten fuchen. Hilty foyreibt darüber weiter: „Die „Arbeits- lofen” find in der Tat die wahren Unglüdlichen in diefer Welt. (ES gibt ihren aber fo viele und ¿sad mehr fogar in den fogenannten obern Ständen, al3 in den untern, melde durch das Bedürfnis zur Arbeit getrieben werden, während die andern durch falſche Er- atebung, Vorurteil und die allmadtige Sitte, die in gewiffen Kreifen die eigentliche Arbeit ausſchließt, zu diefem großen Unglüd faft hoffnungslos und erblich verurteilt find.”

Müßiggänger überall! Wendet man ein, daß in den oberen Klaffen dem Müßiggange ein arbeit8= und mühevolles, fparfames Leben vorausgegangen fei, das nun den Müßiggang ermögliche, fo foll das nicht beftritten werden. Gerechtfertigt tann diefer aber damit nicht werden. Die jenes Leben führten, arbeiteten und fparten ja aud) gewöhnlich bis zu hg Lebensende. Wie dagegen ihre Nahlommen, die im allgemeinen kein anderes Berdienft —“ haben, als daß ſie die reichen Erben ſind? Die Antwort geben ſchon die vielen Skandalprozeſſe aus dem letzten Jahrzehnt vor dem Kriege, die zu einem fo reihen Stoffe für die fozialdemotratifbhe Agitation führten. Treten nun heute die Müßige ginger aus den unteren Klaſſen mehr hervor, fo hat fid) das Blattden nur gewendet.

aren e3 früher jene ,oberen” Rlaffen, die fid) alg bevorzugt, al3 ,,diftinguiert” anfaben, = —* welche den Ton in der Welt anzugeben haben, ſo ſind dies jetzt dieſe „unteren“

aſſen.

Es mögen alſo Wer late han ges im Müßiggange eintreten, ſchädlich und ein verderblices Beifpiel aber bleibt er da wie dort, wo immer man ihn trifft. Müßiagang ift aller after Anfang und dazu mit diefer Wirkung ungemein anftedend. Was wir aber dagegen zu wollen fein, jo gefabrdrobend für die Allgemeinheit er gegenwärtig aud wirft und fo düftere Zukunft er ihr auch eröffnet? Mübiogang at e8 immer gegeben und wird es immer geben. Man kann ihm entgegenarbeiten, ihn aber niemals ganz aus der Welt jchaffen. it Zwangsmaßnahmen wird ihm wohl am wenigſten beigufommen fein. ape ser Hauptfade wird es darauf antommen, die Einrichtungen zu fördern, die von ihm abführen.

. Als befonders geeignet zu diefem Zwecke erfcheint der handel- und gemwerbetreibende Mittelitand. Mag man einmwenden, dak auch in ihm nicht alles fo fei, wie es fein follte, fo (hist er Y bor der Anhäufung von allzu großen Reidtiimern, wie vor der Anhäufung bon allzuviel Not und Elend, alfo immer bor der wirtihaftlichen Lage, die insbefondere Du Müßiggange verleitet. Auch kann man es im Mittelftande nicht halten mie bet den

rbeitern und Beamten, wo man fid fo gern fagt, dak man ja dod) nicht mehr und nicht weniger verdiene, es dod) zu nicht? weiter bringe, ob man viel oder wenig arbeite. Ym Mittelftande muß jeder, der beftehn und vorwärts fommen mill, arbeiten und fparen, und

ar angeftrengt arbeiten. Wer das nicht will, gar dem Müßiggange frönen will, der

t nicht nur wie der Arbeiter, Angeftellte und Beamte eine Stelle aufs Spiel, für die er über furz oder lang eine andere erhalten kann, fondern fein Vermögen, [eine Kreditwürdig- teit, fein Anfehen, feine ganze „Exiſtenz“. Muß darum gut Belampfung des Müßiggangs die Förderung des handel- und getverbetreibenden Mittelftandes nicht al3 eines der beften Mittel werden?

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- ent werden dabei freilich die hohen und erhabenen Pflichten, die fic) aus diefer Sadlage für den Mittelftand ergeben. Um auc) mit Carlyle zu fließen, fo fet von ihm weiter angeführt: „Eine Lage, die nicht ihre Pflicht, ihr Ideal hatte, ift noch niemals bon einem Menjchen eingenommen worden. Ya, hier in diefem armen, elenden, verächt⸗ lihen Wirkliden, worin Du eben jet ftebft, hier oder nirgends ift Dein Seal. Von hier aus erjtrebe es und indem Du ftrebit, glaube, lebe und fei frei. Lor! Das deal liegt in Dir felbft, das Hindernis liegt ebenfalls in Dir felbft. Dein Zuftand if nur der Stoff, aus weldem Du diefes deal formen follit.“ Peter ent.

Zum Problem der Form. TY ir leben in einem Zeitalter der Auflöfung, des Abbaues, der Zerftörung und fehen nod nicht, was fid Neues erheben will. Die Revolutionsbegetjterung, die wohl die meijten zu Beginn für eine fchöpferiihe Kraft hielten, hat fic dod) in der Hauptſache als negativ gerichtet erwiefen. Das Pferd hat den Reiter, den e3 als unbequem empfand, ab= geworfen, aber fein neuer Reiter hat es beftiegen, gebändigt und in einen natürlichen und ordentlichen Gang gebradjt, fondern der Renner jagt zügellos dahin. ` Die politifche ag e ift von der künſtleriſchen nicht zu trennen. (3 bereitet 9 auf allen Gebieten ein Neu-Werden vor. Bedauerlich ift nur, daß ftatt der Reformation die Revolution fam, ſodaß zu vermuten ijt, e8 werde, damit wir wieder auf den richtigen Weg gelangen, die Reaktion unvermeidlich fein. Wir werden ein Stüd zurüdgehen müflen, um aug der Abirrung wieder auf den alten Weg zu tommen. Wer die Gefhichte genügend tennt, der weiß, daß es legten Endes keine neuen Wege gibt, daß wir dod, um zum Heil zu gelangen, die Straße unferer Ahnen weiter wandern müffen, wobei wir ganz bon felbft in Vander gelangen, die uns neu erfcheinen, ohne e3 zu fein. Freilich, was wir lernen müßten, das wäre, den Pendelgang zu vermeiden, auf dak mir nicht, was wir gejtern an- beteten, heute ala Gögen verbrennen, und was wir geftern verbrannten, heute als Gott verehren. Eine geiftige Lagerung, wie fie wünſchenswert ware, müßte fo ik q ka fein, daß in uns, in jedem einzelnen, ein unverrüdbarer Mittelpunkt jedem Verſuch des Um» reißens nad) red)t3 oder lint3 untwiderftebliden Widerftand entgegenfegte. Wenn wir alle eine Magnetnadel des frommen Werdens in uns hätten, dann ware die Hin- und Her- zerrerei bom Zwang zur Freiheit, von der Reaktion zur Revolution, von der Form zur nicht möglich, und ebenſo würden mir nicht Staat und Boll, Macht und Geiſt, eutſchtum und Menſchheit als unvereinbare Widerſprüche empfinden. Es begegnet nun dem geiſtigen Menſchen allzu leicht, daß er aus den materiellen groben Bewegungen dez Volkskörpers Dinge herauslieft, die nicht darin enthalten find. ewiß wird jeder Geiftige, der die deutjche idealijtifche Philofophie kennt, fd 3. B. für den ewigen für den Völkerbund und den Sozialismus begeiſtern, ja er wird ſogar einem Edel-Anarhismus zuneigen, welcher beſagt, bab es die Aufgabe der Regierung Mei fido felber überfläffig zu madden. Alle diefe Gedanken aber überfliegen die Schranken der räumlichen und zeitlihen Gegenwart. ohl fann der Einzelne aus ihnen fid Kraft olen zu einem real-idealiftifden Schaffen; fobalb man aber verfucht, fie ohne Einſchrän—⸗ ung in Raum und Zeit zu verwirklichen, dann entarten fie: der Arbeits-Sogialismus wird um Lohn-Soztalismus, die Edel-Anardie zur Maffenzügellofigteit, der Volterbund zur Feind chaftsverewigung.

m verhängnisvollſten wirkt ſich dann die Umſetzung der großen Gedanken in der Weltanfhauung und Religion aus. Man gertriimmert den Dom, in ganz edler Abficht, weil man die Autonomie der Perfönlichkeit fordert; aber nun fehen wir, daß die Herzen der meijten leer find, daß die Mehrzahl nicht imftande ik fic) felbjt Gefege zu geben. Man reißt das Himmelsgemwölbe ein, weil man fagt, eine Religion, die allzu jenfeitig ge- richtet fet, tónne diesfeitig nicht fruchtbar werden; aber fiehe da: nun ift Religion als Bindung überhaupt nicht mehr da. Bulegt nämlich ift die Aufhängung des Menjchen zwiſchen Diesfeits und see eine ewige Notwendigtcit. Sie ijt aber fo ſchwer, dak fie abjeits der Kirche nur bon jehr wenigen geleiftet werden tann. Sie erfordert ein fo tiefes Verſtändnis für das Ein-ſein aller Zweiheit und für das Zwei-fein aller Einheit, daß die Religion, tie fie fich kirchlich daritellte, die unentbehrlihe Anknüpfung nad) rüdwärts und die ebenjo unentbebrlide Wegridtung nad) vorwärts immerhin nod) ein wenig gewähr- leiftete. Heute find wir ahnenlos und richtungslos geworden. Wir leben in der bloßen Gegenwart, leben von Stunde zu Stunde und allenfalls von Tag zu Tag, und was beten wir im legten Grunde an? Das Leben fhlehthin. Das ijt aber genauer betrachtet ein Rüchſchritt a Heidentum. Das Leben als blog biesfeitiges Dafein ift eine finnlofe Sphing. it diejer fertig zu werden, bedarf e8 der Größe eines Nieöſche, und felbjt er ers lag doch zulegt! Was aber fangen die vielen mit dem Leben alg Gott an? Gie vere frümeln ihr Dafein im Kampf um den Trog. Yn erfchredender Weife fam die Auswir— fung des Niegihejhen Syndividualismus in den Worten eines Kommuniften zum Aus» drud, der fagte: „Seid Verbreder! «Feder ijt Gott.” Damit vergleiche man bei Vere halten. (ES it doch ein himmelweiter —— ob ich fage: jeder hat feinen Gott, oder: jeder tft Gott. Wer das erjte fagt, der fühlt fih an ein außer und über ihm Liegendes

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gebunden, hat den Willen zum Gutwerden und verleugnet nicht die Werte, die über feinen engen Ich-Kreis hinausreiden. Wie aber foll der, der das Zweite fagt, das Du des ee oder die Tatfadhe Volt und Vaterland erleben? Sintt er nicht unter as Tier

Obne den Kantifchen Dualismus fommen wir zulegt nit aus. Tun mir ihn ab, dann leugnen wir zulegt aud) Gut und Böfe, wozu wir als Menfden keinesfalls berechtigt und fähig find. Nehmen wir das Leben als einzigen Wert, fo ftürzen wir alle Werte. Man muß fid wundern, in einer Abhandlung des Kieler Furiften Radbrud (Religions- —— des Rechts; Vorträge der Kantgeſellſchaft Nr. 24. Berlin, Reuther u. Reichard) die Religion alg das „wertüberwindende Verhalten” definiert zu finden. Erkennt man diefe Definition an, dann fann man das Beiwort „religiöfer Menſch“ nur den Saulen- fa ee in der Wirte zubilligen. Das ift expreffioniftifoye Religion und folieglid Wahn- inn. Ohne Wertfegung tann man nicht bauen und formen. Staat, Volk, Kultur: alles das müßte einftürzen, wenn Ddiefe tertitberivindende Religion uns alle erfaßte. a meine, wer mit Radbrud) fo definiert, der follte Selbftmord begehen, da er ja fi an nidts mehr zu beteiligen wünſchen tann. Ein wertüberwindendes Verhalten ijt rein paffiv, bloße Gefchehensverehrung, ijt Untergang. Ein Pofitivismus der Tat hingegen muß bie 3weibeit fegen: hod und niedrig, gut und böfe, und für bod und gut muß er fid) ente Die Bejahung alles Seienden, der „lächelnde Poſitivismus, der über alle Dinge ein Ja und Amen fpricht“, der bleibt dod zuleßt auf der Ebene liegen und kennt Auf- redung und Aufſchwung nicht mehr. Religion muß Werte fegen, natürlich nicht die des Gógen Mammon, fondern jene jenfeits von Raum und Zeit liegenden Werte. Kein Menſch will ja nod) die außerliche Anbetung der allzu alt und unlebendig gewordenen bürgerlichen Werte der lepten fünfzig Jahre; aber unter der realen Erfcheinung, tie fie geworbden tft, liegen ewige Formiverte, die man, eben weil fie ewig find, gar nicht umftürzen fann. Staat, Volt, Vaterland, Kirche: das alles find über-individuelle Werte, die nicht verloren gehen dürfen; ihr Einzel-3nbalt mag fid) wandeln, ihre kosmiſche Form-Grundlage ift ewig unbderanderlic.

Die gewaltfamfte Formzertrümmerung erlebten wir auf dem Gebiete der Kunft. Sie nennt fid) metaphyſiſch und will das Metaphyfifche felbft formen. Da das aber unmöglich ijt, weil das Metaphyſiſche der abjoluten Form fpottet, fo jehen wir nichts als ein höchſt unmetaphyfifdes Chaos. Metaphyſik in Form gebracht, müßte Symbol fein und als foldes geijtiger Ausdrud. Beute aber ijt die Form dem geiftigen Ausdrud davongelaufen und beginnt ihrerfeit3 ganz materiell zu wudern. Das heißt es dock, wenn man 3. Y. be» züglich der Maleret fagt: die Farbe felber lebt, oder wenn man das Selbjtbeftimmungs- tet der Mittel fordert. Aud in der Kunjt ijt das Leben felber ala Gott aufgerichtet worden. Nun ijt aber das Leben an fich ein formlofes Chaos. Kein Wunder aljo, dak das einzige Symbol der heutigen Kunft das Chaos ift. Dadaismus ift nur notwendige

Ige der Ehaos-Anbetung. Jm legten Grunde offenbart diefe Kunft die ungeheure Rate ofigteit der Gegenwart. Diefe Anbetung ijt feine Anbetung mehr, denn es fehlt bie Berjönlichkeit, die allein einen perjdnliden Gott und einen Kult möglid mabt. Das fommunijtifdhe Berflicken der Eigenwerte fpiegelt fic) in modernen Gemälden, die meit davon entfernt find, religidfe Meberzeugung auszudrüden. Die Religion würde des Symbols bedürfen; Symbol aber ift Begrenzung und Yormung, ift Heilszeihen. Wie weit find wir dod) davon entfernt, ein dem deutichen Bolle, geſchweige denn der Menjchheit qes meinfames, jedem verjtändliches Heilszeichen zu haben. Warum war die mittelalterliche Kunst groß? Weil als unmipverftandlides Symbol die damals nod) lebendige Realität Chrijtus auszudrüden Aufgabe des Stiinjtlers mar. Weil man nod) nicht den Diesfeita- Bögen „Leben“ aufgerichtet hatte. Man Lafje fid) nicht täuſchen. Im Stoffliden verfucht ja bie neuefte Kunſt vielfach fid) gerade bei jener großen Kultur Anregung zu holen, aber ihre Einftellung pa eine fo fehr andere, daß fie faft immer Esta des göttlihen Antlipes eine durch allen Erdenſchlamm gezogene ¿rape gibt. Wir find noch nicht am Wieder- aufbau, fondern immer nod bei der Zerjtörung. 4 Rudolf Paulfen.

Wertung der Turnzenfur.

com vorigen Jahre verfügte der preußifche Unterrichtsminifter, daß gute turnerifde Leiftungen bei allen gen und Priifungen in gewiffem Mage als Ausgleich ix jchlechte Leiftungen in wiſſenſchaftlichen Fächern gelten dürften. Er hat nunmehr ver-

t, daß von Ojtern 1921 an auch ſchlechte turnerifche Leiftungen angerechnet werden ollen, fodaß fie unter Umftänden die Verfegung oder das Beitehen der Prüfung unmóglid) madten. Das Hi mehr alg irgend eine minifterielle Verfügung. Es hat tulturhiftorifoe Bedeutung. Bisher waren Verfegungen und Prüfungen nur von intellektuellen Leiftungen abhängig. Und da die Schule ihrem Wefen. nach eine Bwedeinridtung war, die durd Berjegungen und Prüfungen den Schülern die Berechtigung zu beftimmten fozialen Vor- teilen gewähren follte, war ihre eigentliche Arbeit rein intelleftueller Art. Was fie fonit nod) trieb, war ein ,Accidens”, ein Schmud. Höchſtens auf den Oberrealfhulen kamen aud zeichnerifche Leiftungen bei Prüfungen in Betracht, jest follen ganz allgemein die

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turnerifdjen gewertet werden. Damit ift zum erjten Male durd die Tat anerkannt, bas bie Schule nicht Köpfe bilden, fondern Menfden erziehen fol. „Armer Kant!“, fagte ein Gomnafialdireftor, al3 wir in größerem Kretfe die neue Verfügung befpraden. Der Aus- ruf bedeutete: fann nicht einer ein hervorragender Kopf fein und dod feine Kippe an Red und Barren zuftande bringen, mäßig fpringen und ſchlecht Schlagball fpielen? Könnte nicht feine Intelligenz das Geiftesleben unter Umftänden gewaltig fordern? Und dürfen wir das dentfche Vol! um fie betrügen? Gemad, fo fdnell geht es mit dem Betriigen nit. Kein Menſch verlangt, dak jee er: der UMU bon einer Klaffe zur anderen verfegt werden oder die Reifeprüfung eftehen will, Atrobat fein muß. Er foll nur einen leidlich gefchidten und vom Willen bes herrſchten Körper haben, er foll wenigftens auf einem Gebiet, alfo im Spielen oder in den Uebungen des Laufeng, Springens, Merfen3 oder im Geräteturnen Ordentlides leiften. Das kann, von befonderen Ausnahmen abgefehen, jeder bei einigem Fleiß lernen. Das nr aud Kant, der ja nod im fpáten Alter zu reiten pflegte, bei gutem Unterricht ñb ich gelernt. Und wer zu jenen befonderen Ausnahmen gehört, dem mag e3 ein toft (en daß er um ſchlechter turnerifher Leiftungen allein willen nicht figen bleiben fann, jondern nur, wenn er mindeftens dazu nod) in einem wiffenfdaftliden Fach nicht enügend ift. Und ift er e3 und fann daher trog herborragender Leiftungen im anderen ächern die Reifeprüfung nicht beftehen, fo wird er mit feiner Begabung aud) ohne fie den m gemäßen Weg finden und fic) durchjegen. Es mag ihm erfdwert fein, aber der bas durch entftehende Schaden ift fehr gering im Vergleich zu dem a ei Mugen, der da- durd) gewonnen wird, daß die große Zahl aller übrigen deutſchen Menſchen, die die Reife- prüfung beftehen, ein gewifjes Mag der Leibestüchtigkeit beſitzen. Es wird nit nur die durchſchnittiichen Körpermwerte der deutſchen Menſchheit heben, fondern die feelifde Kultur, die ung fo nötig ift wie das tägliche Brot, fördern. Denn die Schärfe des Verſtandes freilich ijt unabhängig bon der Straft des Leibes und davon, ob fein Trager ihm regelmäßig au munterer in Sonne und Wieſengrün hinausführt oder ihn zwiſchen Stein- ar fiechen läßt. Aber die Seele ift ganz anders mit ihrem Körper auf Gedeih und erderb verbunden. „Wiflet ihr nicht, daß euer Leib ein Tempel de3 heiligen Geijtes ift, der in euch ift? Darum fo preifet Gott an eurem Leibe und in eurem Gerjte, welde find Gottes.“ Der heilige Geift, von dem bier die Rede ift, das ift nicht der Verftand, der grammatifche Regeln begreift und eine dramatifhe Handlung nad logiſchen Gefidts- punkten ordnet und mathematifdhe Gebilde tonftruiert, das ift geiftiges Leben und Regen in allen feinen Auswirkungen, das ift Seele. Der Perftand ijt nur einer ihrer Bezirke. Aber die ganze Seele und den zu ihr gehörigen Körper zu Höhen entwideln, das ift wahres Menfdhentum, das ijt fauftifches „immer ftrebend fid Bemühen”, das ijt aud die Aufe gabe der Schule. Oder follte es fein. Denn die Schule der vergangenen Zeit hatte e8 ver⸗ effen. Sie trieb einfeitig intellektuelle Gymnaftit und jagte der Erkenntnis und ber ahrheit nad. Sie ließ fich nicht von uralter Menfchenweisheit warnen, die doch fo tief und wer ift. | ott verbot Adam und Eva vom Baume der Erkenntnis zu effen, und als fie es dennoch taten, wurde es ihnen zum etvigen Verderben. Bet den alten Aegyptern war das Bild der is, auf dem ftand: „Ich bin alles, was tft, was war und twas fein wird; fein fterbliher Menſch hat meinen Schleier verhüllt und niemand durfte den ee lüften. Sie hatlen eine Lade, den Sarg der Serapis, in der die tiefiten Geheim- nifje der Welt verborgen fein follten. Bei Todesftrafe mar e3 verboten, den Dedel zu heben. Einer der Kiftophoren hob ihn, vom Wiffensdrang verzehrt, und Wahnfinn beftel ihn und band ihm die Zunge. Fauft endlich konnte zu dem, was die Welt im Innerſten ufammenbált, nicht anders fommen, al3 daß er feine unfterblidje Seele dem Teufel vere drieb. Jn all diefen uralten Geſchichten ftedt derfelbe weisheitsvolle Sinn, diefelbe tiefe bnung: nur duch Schuld gelangt der Menfd) zur Wahrheit, und ihr Belig [Gafft ihm unendliche Not und Leid. Und wir Menfden des zwanzigſten Jahrhunderts? it haben e8 herrlich weit gebracht in allen Bezirken, die dem Verftande zugänglich find, und in der reude darüber haben wir bergeffen, daß es überhaupt nod) andere Bezirke gibt und aben ſchließlich die Lófung der „Welträtfel” für eine Reichsmark in der Volfsausgabe aufen fonnen. Das tar unfere Schuld. Ebenfo wie die erften Menſchen haben wir unfere Gcele hingegeben für alles das, was wir um äußerer Macht und äußeren Nutens willen erforfcht, erfonnen, entdedt haben. Und unfere Schuld hat uns ing Verderben geführt. Erlöjen wir uns von ihr, indem wir dem Verftande geben, was des Verjtandes ijt, aber aud) der Seele, was der Seele ift. Und fangen wir auf der Schule damit an. Dann werden tir von der Sivilifation zur Kultur tommen. EdmundNeuendorff.

Beitgenoffen. 5. Der neue Beamte. Eigentlich ift ex Gpegialift für Nachtleben. Ein Lebenskünſtler, Federkünſtler, mit einem Schuß ins Hochſtapleriſche. Ein Vorwurf für einen modernen Schelmenroman. Es iſt ihm auch ſchon ziemlich „dreckig“ ergangen, denn er brauchte immer zweimal mehr 128

als er Der Krieg faßte ihn auch reót rauh an. Wber bald war ex bei irgendeinem Generalgouvernement unentbehrlich und Fachkenner, ſchrieb gelehrte Bücher über ſchwierige Aufgaben feiner Behörde, organifierte und berichtete: alles immer in derfelben Iharmanten Kavaliersmanier, die ihm früher fo viele Herzen gewann, in Maxime und Monbijou. Nad dem Zufammenbruch war er natürlich von licher Sogialift gewefen und den braven Spießern in der ,Revolution3“regierung vollends unentbebrid. r hatte fo untviber- tehliche Umgangsformen, fo viel beftridende Liebenswürdigteit, fo viel Reiz der Unters

ng und Schwung der Rede wie der Feder? Eine herrliche Zeit hub an und vollendete ih. Nun $ fonnte man aus dem Bollen leben. Regieren! elde Luft! Die Minifter redeten mit feiner Zunge, ihre Entfdliehungen waren oft nichts als die nachſichtig-wohl⸗ wollende Duldung feiner frifhefröhlichen Streihe. Und er genoß feine Freiheit in vollen Zügen. ES ift ja nicht jedes Jahr Revolution! Und die Aufiwandsentihädigungen muß man nußen, fo lange fie blühen. Nad ung die Sündflut, und tanzen wir aud auf einem Vulkan, o, fo ift e8 doch herrlich zu tanzen. Was man fonft den von der Revolution Be— fiegten nadjjagte, das galt ja diesmal vielfach von den Siegern, und fo —— auch alles war: ganz an Farbe durfte es doch nicht fehlen. Unſer Freund ſorgte nach Kräften dafür und war deshalb unſchätzbar. Er tat denn auch, was er konnte, um das noch grauere Grau der Nachrevolutionszeit ri pa jener Ragenjammergeit, in ber die Notenpreffe nur nod ächzend arbeitete und das Papiergeld nidyt mehr fo Iniehoch auf den politifden Seitenftraßen lag, und e3 immer ſchwerer wurde, jene Meinen Gefchente zu bes partes welde die Freundjdhaft (der Nüglichen und Vielen) erhalten diefe Beit, in der die deutſche prauenvolle Wirklichkeit in den Leichtbeherzten Revolution3tarneval hinein- drohte und das deutſche Schidfal nicht mehr mit rofenrotem Pagifismus und befliffener Beſchmutzung des deutihen Namens mwegzutäufchen war. Da war denn die fdfone Blüte aud unferes Freundes vorüber. Es wurde wirklich in Berlin-Deutfchland, wo e3 doch beim Stnattern der Mafchinengewehre gang nett getvefen war. (ES war nichts mehr los. Seine Kraft erlahmte, feine Talente wurden überflüffig er fab fid nad) neuen Taten und neuen Gefilden des Genuffes um. Ein netter Poften im äußerften Aus- land, fern von läftigen Amtsfeffeln und jenfeits aller parlamentarifchen oder journalifti- De EDEN fand fid) bald. Der Schelmenroman mündet in ein neues reigvolles

apite

An ihm wird jo recht Mar: wir find wirklich” ein junges Volt mit überfhüffigen Kräften, da wir uns nad fünf Jahren Krieg gegen die Welt folde Repräfentanten nod) leijten fonnten. Faſt hätte derlet ſcherzhafter Mummenfhanz (der Nadtlebensdronijt als Staatsfetretar) fein Trojtlides wenn fo über allem Stoeifel ethabe ware, ob wir den Spaß, in dem er mitgewirkt hat, endgültig überleben werden. Hermann Ullmann.

Delpee.

das heißt? Deutjche Sprabe natürlih. Genauer: neudeutfhe Spradhe. Denn feitbem die große Gefahr beftebt, bak wir uns beim Gebraud) unferer lieben Mutter» pe: die Bunge berrenten, hat fid) eine dankbar anguerfennende ees die arauf ausgeht, Maulfaulenzern und Fremdländifhen das Stammeln rad) Moglichkeit zu erleichtern. er wollte leugnen, daß die deutfche Sprache dadurd geivonnen hat? Bes ſchäftigt fie doch zugleich in diefer Form den Geift, der fid bemühen muß, zu ergründen, was eigentlich hinter fold) geheimnisvollen Zeichen ftedt. Offen geftanden: gewöhnlich ftedt die denkbar größte Htrnlofigteit dahinter.

Das Reden in Brudjtüden ift ſchon längft zum groben Unfug geworden. Feder marinierte Hering und jede Giftnudel, jede Amtsjtelle und jeder Gründungsfchmwindel wird duch Wortrefte gefenngeidnet. Diefer Wirrwarr bedeutet glattiveg eine Verlotterung des Stils wie der Sprache überhaupt. Können wir ung nicht die Zeit nehmen, einen Sag ges ¿ori auszudrüden, mit ellen gefunden Gliedern, tie fie ihm zugehören? Der ganze

tammelfchwindel hat feinen urpu natürlich in Amerita, und wir haben nichts Eiligeres zu tun, als den Unfinn aus dem Viergebnpuntteland

Goethe, Bismard und der wortgewaltige Luther, der feine Mutterſprache beherrſchte wie fein 3weiter, haben uns Beifpiele gegeben, wie wir uns nicht nur verjtändlich, fondern aud ſchön ausdrüden fonnen. Und wenn aud) Luthers Ausdrudsweife, wie man das fo gu nennen beliebt, „veraltet“ ift, fo könnte dod) mander nod eine Kleinigkeit daraus lernen. eh wie man fid) auf gut deutſch ausdrüdt.

_ Bor genau jedhs Jahren gingen wir alle nod) einmal in die Schule. Da gab es Leute, die beim Anblid eines Fremdivortes bekamen. Es ging zu wie beim byzantini⸗ [hen Bilderfturm. Dazu fehrieb der Generalquartiermeifter von Stein feine Frontberidte tn einer prachtvoll deutichen Art. Und weiter gab e3 eifrige Seelen, die jeden Fremdwort⸗ ünder mit einem Grofden oder mehr pónten. Aber dann, es ift jet etwas über andert- alb Jahre her, ward Deutihland zum Tummelplag des gmt Weltpöbels zwiſchen rd» und Südpol. Man lernte wieder einmal um. Michel erinnerte fid) nod) rechtzeitig der Dienfte, die er dem Fremden ſchuldig zu fein glaubte. Ym Angeigenteil der Zeitungen legte er guerft diefes ſchöne Glaubengbetenntnis ab. Da konnte man wieder die ,ber= 129

fiecten” Kaufleute finden, tonnte „en gros” und „en detail” kaufen; das „Chaos“ und die „Entente“, der Afjocie und ,Compagnon”, „Manicure” und „Pedicure”, das Billett und der Perron fpielen wieder ihre Langit verjdollen geglaubte Rolle. Die in einer bejjeren Zeit ſchamhaft überpinfelten Aushängejchilder laſſen wieder ee „vornehme” ausländifche Bezeihnung fehen. Ein Stleiderhändler bietet fprachentundig feine „Coutewes“ (fol beißen Cutaways) an, Paletot und Smoting find aud) wieder da. Der allerneuefte Deutſche will es fo. (ES ijt vornehnter. ER x

Der neuejte Deutjche. Ihm zu Gefallen macht man zum guten Teil dieje Hanswurſtiade. Leuten gegenüber, die noc) nicht einmal ihre Mutterjprache beherrfden. Es macht dod einen fo vortrefflihen Eindrud, diefes Gofjenfranzöfiih, es ift die „Büldung“ im Reine kultur. Und dabei ein vorzügliches Unterfcheidungsmittel zwiſchen Deutiden und „Deut es: Mundart ift ſchon ganz und gar verpont. Sie ift „ordinär“, denn fie verriete ja

ie Stammeshertunft und damit Heimatgefühl. Das ift ein unnüges Anhängfel für einen 3Internationalen.

Eine nicht geringe Schädigung der Kultur fteht uns zweifellos bevor, wenn mir die amtlide und nichtamtliche Beine der deutfchen Sprache fo weiter gehen laffen. Die Poefei von Leuten, die durchaus dichten wollen, tut ein übriges. Die zarte Befaitung literarifcher Internationaler jucht offenfichtlich wirklich) deutfche Wendungen zu vermeiden. Wir tónnten ihnen Goethe entgegenfegen; wir tónten die deutjche Sprache nad dem Bor- bild Bismards oder nod) befjer nad) Iutherifchem Vorbild fpredjen. Go ware das beliebte Buditabengeftammel hinfällig. B. Haldy.

Gibt es ,,demolratifde ujit“?

sy Notwendigkeit einer „Demokratifierung” der Mufitpflege ift eine Erkenntnis, die nicht evjt eine Frucht der Umwälzung der legten Jahre genannt werden darf. Baul Bekkers fon vor dem Kriege erfdienene Schrift, die ji mit den Problemen der Mufit wie des Mufitbetriebs befaßte, ging bon dem Leitfak aus, die Mufit gehöre in engiten Bujammenbang mit der jeweiligen Gefellfchaft geftellt, und er leitete daraus fogar nicht unmwiderfprohen Forderungen an die jdaffenden Mufifer jeder Zeit ab. Das von ihm in diefem Zufammenhang geprägte Schlagwort von der „gejellichaftsbildenden Kraft ber Mufit” mag nod fo fehr zum Gegenftand beftigiten Streites geworden fein, aus unfrer Beit ift es nicht mehr bintvegzudenten. Ausgiebiger als Better beaderte Karl Bleffinger, der junge Münchener Mufitbiftoriter, das Feld der praftifchen Anwendung jeder Mufif- pflege. Hermann von Waltershaufen, der ehemalige Straßburger Mufiforamatifer, jegige Zeiter der Münchener Mufitatademie, wies in einem geiftvollen Auffag, der in der „Dejter- reihifhen Rundſchau“ erjdien, auf den Gegenfag von Mujifdemofraten und Mufil- proletariern bin. Seine Gedanfengange berühren fic) dabei mit follen, denen Hans Pfigner in der „Futuriftengefahr”, der „Aejthetit der mufitalifden Gmpoteng” und denen Thomas Mann in feiner vornehm, aber deutlich gehaltenen Streitſchrift „Betrachtungen eines Unpolitifhen” nachgegangen waren. Aud für den mufitalifhen Voltsbildner find folde zunächſt als theoretijde oder gar politiiche Spekulationen erſcheinende Crorterungen nidt ganz ohne Belang. Denn es ift eine Frage, über deren Löfung and) er ins reine ges fommen fein muß, ehe er mit feiner Arbeit beginnen fann: ob es überhaupt eine „demo- kratiſche“ Muſik geben könne, und dann: ob der Begriff des Demokratijchen denjenigen des Ucbernationalen, um nicht gleich P fagen des Internationalen in fd berge.

Baul Bekker verwahrt fid ja befanntlic in feiner an Pfigner gerichteten Replif fräftig dagegen, als eine Art mufifalifder Radek zu gelten, und beruft fid am Schluffe feiner Ausführungen auf Beethoven-Sdhillers „Seid umfchlungen, Millionen“. Danad wäre es das fünftlerifhe Weltbürgertum, dem er den Weg zu bereiten {udt, niót ein mujilpolitifcher Bolſchewismus. Die Antwort darauf ift ihm Pfigner bisher nod) ſchuldig geblieben, dagegen finden wir fie in Thomas Manns Buch, das -— wenn and zunächſt nur bom Literarijden ausgehend doch bei der ausgejprochenen und aud) felbft- äugejtandenen Neigung, welde Mann mehr als jeden anderen Schriftiteller unferer Zeit mit den Problemen der Mufit verbindet, ihn auch pu einem eigens dem Schaffen Pfitzners gewwidmeten Abjchnitt veranlaßt. Thomas Mann befämpft ben von Romain Rolland und bon einem anderen „Mann“ gegen ihn erhobenen Vorwurf, er mache fic) als Dichter ab: bangig von eng⸗nationaliſtiſcher Deutſchtümelei. Dabei ſcheidet er ſcharf den Begriff des „Allerweltsdemokraten“ von dem des „Weltbürgers“ im klaſſiſchen, alſo aud) von Beethoven-Schiller gemeinten Sinne. Der erftere jcheint ihm ein Erzeugnis der franzöſi⸗ ſchen Revolution mit ihrer Aufklärerflachheit, ihrer echt galliſchen Volferbeqliidungseitel- keit, die fid) darin gefalle, den Typ des Boulevard-Bourgois alg den Idealtyp eines ne bildeten und vorurteilslofen” Menſchen über die ganze Erde hin exportieren zu wollen. Er führt bei diejer Gelegenheit Nietzſches ſcharfes Wort an, wonad die Frangofen in diefer „Erfindung“ mur die felbftgefálligen Nahahmer der Englander mit ihrem, aus gang ans deren Berhältniffen heraus entjtandenen Urbild des freien Bürgers darftellten, und er per ſpricht fich von der durd) pfeudodeutiche „Revolutionsliteraten“ geförderten Der: breitung eines folden Menſchentyps eine im ſchlimmſten Sinne „alle Völker bereinigende”

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allgemeine Berflahung. Schon die Verquidung der Menfdenbildung mit Politi? wider- ſpreche jeder Vorausfegung, in folder, dod) rein geiftiger Beziehung, etwas Wertvolles leiften zu können. Für ihn ift jede fünjtlerifche Betätigung, fet fie mur fchaffender, nad) Ihaffender oder endlich geniekender Art, eine Etappe gejteigerter Yndividualttat. Diefer Zujtand des „Ueberindividuellen“ ift ftrerg zu fcheiden von dem des „Yndividualismus“, der feinerfeit3 nichts anderes fet als ein Mittelniveau von Weltmannijdfeit, die durchaus auf demofratifher Grundlage geboren Berftändnis für das „Andre” im andern fordere und deshalb eine befonder3 intenfive Kultur des Eigenlebens wohl zulaffe, folange diefe nicht jtöre, fie aber niemals alg Vorausfegung zur Grundlage habe. Wir Deutfden find num aber von jeher dem „Ueberindividualismus“ zugeneigt, find deshalb das biel- befpöttelte Volt der Dichter, Denker, der Nichtpolititer, denn Politifieren heißt Sichver- tragen, Paktieren mit den Intereffen der andern, ohne die man nun einmal nicht aus- tommen kann, die man eben braudt. Der Ueberindividualift denkt nicht an die andern, aber nidt aus purem Eigennug, im Gegenteil, weil er ihrer nicht zu bedürfen glaubt, weil e3 ihm um Höheres geht alg um den Ausgleich wirtfchaftliher Intereffen. Darum liebt er wohl den Menfden, das Menschliche im andern, darum fingt er fein „Seid um- ſchlungen“, aber darum wird er zum Eigenbrödler, der nur an die Seele und ihr Glüd denkt, an das Goetheſche „höchſte Glück der Erdentinder”, die „Berfönlichkeit”, darum ift er der geborene Künjtler, der Weltfremde und häufig fogar Weltfeindliche, der „Unver- traglide”. Unfere größten Künjtler, cin Beethoven, Waaner, Schopenhauer, Kiebſche, Brahms und Reger waren Freunde und Beglüder der „Menſchen“, nicht der Nationen außerhalb ihrer eigenen Landesgrenzen. Denn jede „Nation“ alg folde ift Maffe. Alle rogen Schaffenden aber waren im tiefften Grunde ihres Herzens Ariftofraten des Geijtes, Ja felbft die Großen der Tat waren das: an Shakefpeares vernichtende Worte über den „Haufen“ im ,€afar” fdliekt fic FFriedrihs des Großen Bezeihnung der Menge als „Sanaille“, fchließt fid) endlich Napoleons, des Volljtreders der frangofifden Revolution, Ausfprud über Goethe, den großen Unpolitifhen: „Endlich ein Menſch“. Wenn in jeder Nation wenige „Ueberindividuelle” Berftändnis und Liebe für die rg Schaffenden ihrer Nachbarnationen empfanden, wenn Beethoven auf dem Sterbe- tte, durch die Freundichaftsbezeihnungen Einzelner erfreut, die englifhe Nation in be- geifterten Worten pries, wenn Brudner fid in Paris als Orgelimprovifator hören lief, wenn Reger begeifterte Verehrer in Holland, Rußland fand und von der ſchwediſchen, der panties Atademie zum Ehrenmitglied ernannt wurde, fo fpridt das allenfalls für eine meinfamteit des „Ueberindividuellen“ in der geiftigen Wirkung, nit aber in feiner Entftehung, fenen Borbedingungen. Diefe find zwar nicht eng-national, aber doch fulturnational bedingt. Alle Pflanzen ftreben der gleihen Sonne entgegen. Dod der Boden, die Säfte, deren fie bedürfen, find verfdieden, je nad) ihrer Art. Und deffen waren fic) nod) alle wahrhaft großen Schöpfer im Reide der Kunft bewußt. Sie alle empfanden darum „ulturnational”, wenn diefes Wort als Gegenfaß zu „eng-nationa- liftifch” erlaubt ijt. Und fie alle empfanden zugleich „undemokratiih” im Sinne Thomas anng, b. 5. fie ſchloſſen fid) beileibe nicht von ihrem Volke ab, fie liebten es, aud) wenn fie es glidtigten mie Nietzſche, wie Schopenhauer. Aber fie erfannten fehr wohl, daß Des mofratie nur ein mehr fozialer Zuftand der allgemeinen Verträglichkeit fei, nieinetwegen aud eine Staatsform, welche der Allgemeinbildung zum Individualismus günftig fein tonne durd) die allen gerechte Verteilung der Lebens- und Kulturgüter. Aber darüber hinaus gilt es, naturgemäß nur für die von der höchſt undemofratijden Natur befonders an Gaben des Geiftes und des Willens Bevorzugten, zu einem Ueberindividualismus zu elangen, der für fid) erft der Boden fein fann, auf welhem eine Kunſt und ein Kunit- footer gu entjtehen vermag, die aus nationalfulturellen Kräften gefpeift fid) zu einer ie Welt umfpannenden und darum im eigentlidften Sinne ,,iibernationalen” Höhe er- zen wo fein Streit mehr fein wird, aber ebenfowenig ein bequemes Sich- und den ndern-genügen. Hermann Unger.

Hanns Fechner an feinen Nadbar Carl Hauptmann.

Zi fallen leife... fallen... fallen... vom Tautvind gelöft aus vieltaufend fablen

Aeften talwärts dem Hange.

Und klingt wie raunendes Klagen durd die ftille Winternadt.

Senden Baumriejen Tränen aus den Urquellen ihres Lebensfaftes. Fallen Tropfen von der urmadtigen Geftalt Rübezahls, des Berggeiftes.

Und Heiner wird er und Heiner, ara e a q kak ae Schaut mun mit ftillgütigen Augen durch's Schmale Fenjter zu dem entichlafenen Freunde hinein, der eben den erjten Edritt zur Vollendung getan, ausruht von der Unrajt feines Pilgeriveges. Unbeweglid. Nur nod des Lampenlichtes Leben auf den Zügen. ... Wefen bon feinem Wefen: Der Sonne, Nebel, Sturm, Felsgeftein und Schnee und Eis und Raubreif erlebte... ihr Ge ftalten fah... ihr Mufizieren hörte. Der Freund, der ihn erlebt, ihn erfaffend gehalten: vom Menidenleben fret, war er nun erft fein, ganz fein! Mit leiſem Windhauch ergriff er die Blatter der Dichtungen, die drinnen auf dem Arbeitstifd) lagen, und trieb fie

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= Eisfalter, weiße Sommerfchmetterlinge vor fid her hinauf in die morgenblauenben erge .... Bier Nächte [ang jagte er die Sturmgeftalten, die Schneefrauen zurück in die Fels- fliifte, daß fie die Totentvat dem Freunde drunten im Tal nicht ftorten. ¿ Und ade ruhte der Bergriefe. Von den filbergrauen wogenden Sdleiern ihn umivirbelnder Nebelfrauen fajt verdedt lag er dabingeftredt über Schründe und Klüfte des Gebirges. Und fann über des Freundes Traumfdau. Ihm felber war nur die der Erdgeifter gegeben. «Jenen, den Freund, aber führte jie hinauf zum Weltengeijte. Ber- ehrende Sehnfüchte brannten in ihnen beiden. Unftillbare Sehnſucht in feiner, des Cin- foisigen, Feuerjeele nach dem höchſten Gefchent des Schöpfers, der Liebe. Der Liebe, ie in Jenem geboren aus treuejten Frauenherzen immer herrlicher emporgewadjen war zu einer unausihöpfligen, allumfaffenden für alle Menjden, für jegliche Kreatur. Und Pr tie plich ihn hinaujfgeriffen zum fehnfüchtigen Verlangen nad) dem Weltengeijte, dem Schöpfergeijte der Liebe .... h š a .... Schwer redte Rübezahl fich empor. Scheuchte die Nebelfrauen hinweg, jagte die weißen Geftalten Heats aus den Tälern zurüd in die Bergihludten. Sonne al ſchei⸗ nen. Ihm, dem pati gett Freunde zum Grabgeleite. Laden wie Frühlingswind drang aus des Berggeijtes Bruft: Waren doch einft die Armenbáuslerinnen, die alten Weiblein, zu ihrem „Herrn Dutta” gegangen um dilfe in ihren Nöten. Die Armeleut- Sarge feten immer fo voller Aftlócher, dak Regen, Wind und Kälte hineindringen könnten. Und der Gütige hatte beim Schreiner für Abhilfe geforgt. Ein de igfrohes Lächeln hatte feine Lippen umfpielt: fancta fimplicitas! ihm modten Roſenbüſche ihre aa aay einjt in den Garg fenten, oder die Baume des Waldes, oder gar ein Krichlabäumla, das feine blauen Früchte vorbeilaufenden Sdultindern herabwerfen follte! Und der Bergherr laujóyte dem im Trauerhaufe erflingenden „Ofterfang“, der fid) vereinte mit dem groben Klang der aus Winterjchlaf fic) befreienden Bergnatur, die in Abertaufenden bon fallenden Tropfen die Melodie ganz leife fang von der Erlöfung, vom Werden nad) ftarrer Erden- geit des Vergehens. Und er uberfdaute den langen su bon Stindern und Frauen und tánnern des Heimatdorfes. Als ob vordem ein Y tunan von feinem Bolte als einer der ihren, der ihnen in Herz und Seele gewadjen, zur legten Rube geleitet wurde, u froher Urjtand. ne bon ihnen wohl batten feine Dichterworte verftanden, aber fine hangs, das Weſen feines Menfdentums hatten fie erfaßt. , Gtablbart glangte es auf in des Berggeiftes Augen. Sein war er geblieben. Nicht Slammen hatten feinen Leib verzehrt. Zurudgegangen war er nad Urpäter Sitte ... in die alte Heimaterde. Blige ſchoſſen aus des Crdgetites Augen: „Ja Carle, aud) der Leiden» ſchmaus foll dir werden. Ein tolles Leichenſchmausfeſt im ganzen Lande, in den Dörfern, in Heinen Städten und den großen, allüberall. Ha, eg ar und Faftnadht! Wir beide, du und ich, kennen Menfchentollheit, die Leid und Sorge, Not und Tod glaubt mit einer Falhingsgefte zu zwingen. Der wüfte Tang ift nur ein winzig Zerrbild der Ur- gewalten der Gottheit ... Deine Hand, Bruder: Carne bale!”

Jacoba van Heemalerda Holzichnitte.

Tam die Erde Erlöfung ahnt und das Leben atmet in heimlichen Wundern, hebt ein Wandern an swifdhen der Schwere drunten und der himmlifden Unendlichkeit droben, ar dumpfer Gebundenheit und Lichtem Al. Die Erde fendet Boten aus: Ein

äumchen ftebt da, ein armes, nadtes Bäumen, das will aufwärts mit feinem Stamm und fteigt empor und fann fd nicht laffen und fpannt wenige, fable Aefte aus als Arme, die alle Weite umicblingen und erfüllen möchten. Es will den ganzen Frühling geben, den ganzen reichen Frühling in feiner Sehnfucht und ad) fo hilflofen Freudigkeit. Es ift tie eine Hand, bie die dunfle Erde auftut, in den Himmel zu faffen und ijt wie eine ae Erwartung und jelige Hingabe ftreben auf, und hernieder fteigt die etvige, onnige Gitte.

_ Uber bie Menſchenſeele, die ſich dann nicht helfen kann und verſtrömen möchte in Himmel und Sonne, in alle Nähe und Ferne: Aus ihrem Klingen wird ein Lied, irgend ein Lied, das bor Freude traurig ift, ein langes, weiches Tönen, wie eine Hirtenflöte tönt. Oder ein Gebilde, ein genen der Sehnjudt, der welterfüllenden, wie das Bäumchen. Nicht das Abbild eines Baumes, fondern fein fehnfuchterfülltes, nach oben verlangendes Wejen. Von dem Ding fo fern wie der Traum bom Leben. So anjpruchslos, fo weit pon allem Könnenmwollen, jo bejdeiden und voll Herzenseinfalt: ein Ueberftrómen von innen nach außen, da3 fid) geben muß und nicht anders fann. Go ift das Blatt der Yacoba ban Heemsferd: fo find diefe Male ſchwarz auf weiß, die doch in ihrer Einfalt etwas runen- artig Geheimnisvolles haben. Wie alle Sunjt ein Geheimnis ift, qleich den Wundern ber Seele und der Welt. Die Erſcheinungen diefer Welt find nur die Andeutungen, aus denen das innere Geficht aufíteigt in feinem eigenen, in fich beichloffenen Gefeg. „Siehe und td) fab: und ich fab einen gleich als cin Menfh...” Diefes innere Schauen ift hier Offen- barung im Bild. Denn es ift weit entfernt bon dem Sehen mit Augen des Leibes und bon der „Richtigkeit” der Dinge. Yacoba ban Seemsterd fest nicht ihren Stolz darin, einen Baum kunſtgerecht abgufdildern, fondern in ihr ift der Bang, dem Leben in ihr Ausdrud .

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gu Der Baum wird das Mittel, wie es die Sonne wurde zu dent Hakenkreuz in uralten Tagen. Sie hat Blatter, auf denen der Baum ganz anderes auslöft, wo die Aefte bertnotet und ſchwer fid) über die Fläche ziehen: etwas Dunkles iſt oft darin, etwas grau Rätſelhaftes von der Art, die in der Sage von Nornen an der Welleſche Ausdruck wurde. Hier aber quillt Frühlingserleben in ſtrengem Aufſtieg und Ausbreiten, unver- hüflt vom Gewebe des Laubes. serleben wie es in anderer Form Bild wird in den Werfen der Romantifer, diejer Frühlinghaften, die auch hinter der Exrfdeinung das wunderjame Weſen juchen. Ich dente etwa an Runges „Morgen“, an Novalis’ Gedichte. Jn Goethes „Ganymed“ ift diefer Aufſchwung am größten. Und alte Odhinlieder mögen dazu raunen, in denen der Göttliche als Falfe fd niederfentt zu der Erdenfrau Gunlöd. Sie aber ite au grüner Aue voll Sehnen, und Frühlingslüfte wehen um fie die Allnähe des ewigen Gottes.

Einen Abend dente ich mir, einen ftillen, tiefen Abend. Wenn das Leben des Tages erne gerüdt Ut wie ein Zraum. Wenn fich auf das fcheidende Licht die großen Fahnen

1 Duntelheit fenten. Da fieiat das Wefen alles Lebens auf, des eigenen, aller Menfchen, ferner Zeiten: Yeben und Lod, Stolz, und Trauer. Und Alles iſt wie ein Traum oder wie die Klänge von ſchweren, langjamen Attorden. Aus dunkler Meerebene ſchwellen fie auf. Dann werden de idt und glangend. Herauf, hernieder fteigen und fließen fie in ruhiger, großer Feierlichkeit: ein Heldenthema bon Tat, Tod und Emigteit, das Leben jedes Menjchen, der wahrhaft lebt, und auc) wieder Erde und Himmel, Tag und Nadt, wenn beide So iſt Jacoba van Heemskercks Blatt mit den Segeln. Weil Segel, weiße Segel, das große feierliche Gleiten haben, darum liebt fie fie fo, darum beftet fid ihr Schauen an dieje Schiffe, baut das Mejen diefer Schiffe, die dunkel auf ebenen, ftillem Meer über ſchweigender Tiefe auffteigen: düfter, ſchwer mie gedrüdte Berge. Aber über ihnen die weiße Herrlichkeit. Links jah empor, fpig auslaufend und wieder anhebend und breit werdend, daß die Kraft aufihießt und Wimpel der Freude und des Lebens ftolg ausjendet, rechts abwärts gleitende, feierlich abwärts fintende weiße Bahnen. Syn der Mitte vereinigen fic) die Ordnungen. Alles ein ruhiges, weihevoll ge- bandigtes Auf und Nieder.

Andere Zeiten, Künſtler mit anderem Ausdrudszwang haben An Erleben anders egeben: Bödlins Pate mag man neben das (att halten. Š foll fein Werturteil ein, aber ein abnlider Rhythmus ang, durd) beide.

Wie ſchwer aber hebt fid) die Erde auf dem anderen Blatt. Gebundenheit, die auf- Warts drängt und doch unter der eigenen Laft unerlöft bleibt. Dazwifchen breitet fich ties der das liegen der Ebene: eine werdende Welt, die ewigen Waflern enttaucht.

Gegen diefe ftrengen Ordnungen fchließlich das Unbejtimmte, Ungebändigte de3 lepten Blattes. Breite Brüde, Berge, weiße Häufer. Etwas von Kampf tt darin und harter Arbeit. Taten, die aufraufden und Gipfel des Ruhmes bauen in füdlihen Ländern der Sehnſucht. Haben die Schiffe etwas von einem fernen Thule-Traum, einer Heimftatt

eftorbener Helden, fo taucht e3 hier auf wie Gotengiige und Staufentámpfe, wie das

efen diefer Taten und Sdidfale in weiter, weiter Ferne.

Wie jelbjtverjtändlich aber, wie rubia ijt diefe Sunft. So felbjtlos und ftill für fic. Nichts Originelles, feine Gebärde, das Sclichtefte, Einfachjte. So ganz unbefiimmert, nur dem eigenen Zwange folgend.

(E3 gibt wenige Echte in diefer Beit der Selbftfudt und Senfationsluft. Hier ift echte Kunft. Die quält man fic) nidt an, fondern gibt fid) ihr hin und vergigt alles Grübeln und allen Tagesftreit um Nichtungen und Parteien. Von Zeitkunft und Verganglicdfeit wird foviel gejproden: Das Mejen aller Kunft ift zeitlos. Aber diefes Mejen offenbart

& in immer neuen Wandlungen, ift unerfchöpflic wie das Leben [mo Elend und innerlich tot ift die Zeit, die nicht aus fid ewig gleichbleibendem Wejen ihren Ausdrud geben tann, wie e3 große Kunft immer getan hat, fondern das Aeußere alter Formen übernimmt. Sie wird lächerlich und richtet fich felbft, wie es leere Nahahmungen der Antike und Fafjaden in gotifhen- und Renaiffanceformen tun. Die Zeit und die Sunft aber ift ſchöpfungsſtark, die untvandelbaren Wundern und Geheimniffen der Seele Offen- barung gibt in eigener, errungener ſchöpferiſcher Tat. Ludwig Benning hoff.

Der Beobarhter

Gir beliebte Redensart fagt: Politit werde nicht mit dem Herzen, fondern mit bem Kopfe gemacht. Aber alle großen Politifer waren Männer mit einem leidenfchaftlichen Temperament, fie ergriffen ihre Aufgabe mit dem Herzen, der Verftand war nidhts alg r fie. Der große Friedrich, der Freiherr vom Stein, Otto von Bis— mard waren herriſche, zornbereite Naturen voll glühenden Feuers, ihre Yntelligenz war Dienerin der aus dem Unterirdifchen aufbredenden vulkaniſchen Kraft. Der Politiker

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ift ein Rúnftler. Ein Kunſtwerk madt man nidt mit Berechnung; Rechnen ift nur Hilfswerk beim Schaffen. Auch einen Staat maht man nidt mit Berechnen, denn man bat es mit Kräften und Excigniffen zu tun, die ſich ihrem Wefen nad nicht zählen und mefjen laffen. Staaten ſchafft man nur aus dem heißen drängenden Willen, dem ein inftinftives Gefühl für das Wefentliche der fic) entwidelnden Ereigniffe und eine kräftige Intelligenz zur a des Berechenbaren beigegeben ift. Und nun halten wir Um— Ian zwiſchen unfern braven demofratifden Friedensfanierungsminiftern feit 1918 —: „Ei härjeefes, wie gomm' Sie denn ins Reichsregiment? Was madt die hohe Bolidit und wie gebt's der verehrten Frau Gemahlin?“ Hoffen wir, daß die Zeit fo gewitter- düfter werde, daß dies ganze Geſchwürm von Spiekern fic) dudfend in das jichere Mauſeloch zurüdzieht, aus dem es entichloffen ift.

& 3 ſcheint mir höchſt überflüffig, bag die Menfchen fich nod) immer um die befte Orga- nifation des Staates zanfen. Die einzig mögliche Löfung wurde bereits im “Jahre 1867 im Abu Telfan niedergefhrieben. Die Welt kennt eben Wilhelm Raabe zu wenig! Der befagte Weife ftellt das Ci des Kolumbus folgendermaßen auf den Tiſch: „Derjenige politifhe Zuftand ijt immer der normalíte, welder den meiften Heinen Eitelfeiten der Menfden gerecht wird.”

m ge Edo lafen wir nad) dem Abbrud) der Londoner Verhandlungen einen Auffag, an dem man das Typiſche des politifden Denkens der derzeitigen deutjchen Demokratie wie an einem Mufterbeifpiel aufzeigen kann. Zunächſt eine Hare und vere tändnisvolle Entwidlung der Lage, warum die Verhandlungen gefdeitert waren, ehe fic egannen: die Gründe werden in der feeliihen Einftellung unfrer Gegner gefunden. Diefe mit einem gewiffen Gefühl für das Tragifche der politifden Lage gejchriebenen Ge- danken werden dann plöglid zum Schluß abgebogen in einen müden Optimismus: „Wir müffen durch das Beifpiel einer demofratifden Politik ... beweifen, daß das deutſche Volt in ebrlider Arbeit für die Heilung der Kriegswunden und den Fortfdritt der Welt wirkt. Wir haben die Miffion, der Welt das Beifpiel einer großen, friedlichen Demokratie zu re Als Miffionare der fozialen Demokratie müffen wir auf das Ausland einwirken... nd wenn die alliierten Bolter überzeugt fein werden, daß wir alles tun wollen, was wir können, dann wird der Weg zur Verftändigung geebnet fein.” Lieber braver Beit- enoffe! Glauben Sie wirklich, daß die Welt draußen nad einem Miffionar der fozialen mofratie verlangt? Frankreich, England und Amerika find alle drei Jett überzeugt, daß jedes von ihnen das Mufterbild „einer großen, friedlichen Demokratie” fei, fie bedanten fid) febr für Bhre deutfche Miffionstatigteit. Und falls der „Miffionar” des „Fortſchritts der Welt” unangenehm wird, triegt er einen Fuftritt. Wirrden Sie aud im Klaffen- tampf zwifhen Unternehmern und Arbeitern den Rat geben: „Arbeiter, jtreitt nicht! _ Gebt den Unternehmern das Beifpiel einer großen friedlichen Axrbeitsgemeinfdaft! Wenn die Herren Unternehmer überzeugt fein werden, daß wir alles tun wollen, was wir fonnen, dann wird der Weg zur Verftändigung geebnet fein!” Nein, das ift das'gelbe Prinzip. ES fteht einem Sozialdemokraten nicht übel zu Geficht, das gelbe Prinzip in die auswärtige Politik des verfflavten deutichen Arbeitervolfes gegenüber den herrfchenden fartellierten Unternehmervöltern Englands und Frankreichs einzuführen.

m Vorwärts * wir: „Genoffe Ulrid) Rauſcher geht als Geſandter Deutſchlands nad Tiflis (Sozialiftifche Hepublit Georgien).” Georgien ift eine fehr fdone Gegend. Wir ſchlagen weiter vor: Genoffe Alfred Kerr geht als Gefandter Deutſchlands nad Da- mastus (Fortgefdrittene Demokratie Syrien). Die Genoffen Peter Panter und Theobald Tiger gehn als Gefandte an den Hof des Maharadihah in Allahabad. (Unabhängige Dif- atan Proletariats.) Mit was für herrlihen Feuilletons können fie uns bon dort aus ereichern!

n der Zeitfchrift für Hausbefiger, genannt „Grundeigentum“, finden wir einen Auffag: „Ber die Jugend hat, dem gehört die Zukunft.” Nämlich: damit das Hausbefigertum eine Zukunft habe, müffe e8 die “Jugend gewinnen. „Es würde fic) alfo tura gejagt um möglichit ſchleunige Schaffung von Jugendorganifationen in den einzelnen Sanäbehiper- vereinen handeln. wurden dabei zunächit zweierlei grundlegende Gefichtspunkte ins Auge zu fallen fein”: Und dann faBt Herr tubra ¿ei zentnerſchwere Gefidtspuntte ins Auge, und dann nimmt er die Gefidtspuntte aus dem Auge heraus in die Hand, und dann legt er fie ala Grundftein der Jugendgewinnung auf den Boden, nachdem er diefen nicht ohne Hilfe des Zahns der Zeit bon den entitellenden Gefidtsprideln des boden- reformerifhen Woltentududsheims voll und ganz gejäubert hat. Alfo: „1. Die Hause bejigervereine miiffen der Jugend etwas bieten. 2. Die Jugend muß fd als Gegen- leitung im Bedarfsfalle in den Dienft der Vereine ftellen“. Unter 1 gehört: mag zwar „dem einzelnen Hausbefiger unſympathiſch erfcheinen, daß er ihn basu bieten foll, aud) nod) für die Lebensfreude der jungen Generation forgen zu miiffen”. (Satoobl: ¿Aud nod!” Das Spielen der Kinder ift verboten. Bafta!) Aber man folle fie nicht zwingen

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„unfchuldige Freuden zu meiden“, wie 3.8. Tangabende, Weihnachtsfeiern, Vorträge gegen die Bodenreform und fünftlerifche Darbietungen. Unter 2 gehört: „Die jungen Leute find viel eher in der Lage als die älteren, fid mit dem Berteilen von Flugbiättern, der fehnellen Ausführung diesbezügliher Bundes- und Vereinsbefdliiffe zu befaffen.” - Das Grund- eigentum wird endlich wahrhaft aufblühn, wenn der Dreigehmjähtige Artur Piefte mit —* Freunden in den antibodenreformeriſchen Tanzklub geht und diesbezüglich zu— ammen mit Emilie Bummke die Grundbeſitzſtützenden Flugblätter austrägt.

as „Seraelitifhe Familienblatt“ bringt in Nr. 7 vom 17. Februar 1921 einen Aufſatz

von Dr. Julius Michelfohn über „die Notwendigkeit einer jüdischen Heilanjtalt für nerböfe und gemütskranke Yuden”, in dem e3 heißt: „Die Erfahrung hat gelehrt, dak eine wahre Pfydo-Analyfe eines Yuden von einem nichtjüdifhen Arzt aud) beim beiten Wollen und Wohlwollen nur in den allerfeltenften Fallen aus Gründen, die hier nicht erörtert werden follen, zuftande tommt.” Alſo muß der Verfaffer aud ablehnen, dak ein jüdifcher Arzt eine wahre Pfycho-Analyfe eines Deutſchen tro beftem Wollen und Wohlmwollen guftande bringen fann. Schade, daß er die Gründe nit belannt gibt.

I wiilemittide Inſchriften, Hakenkreuze und dergleichen findet man oft an feltfamen Orten angemalt, zuweilen mit üblen Zeichnungen dazu. Alle Welt entriiftet fich darüber. Neuli meinte ein jüdifher Schriftiteller in der ,Weltbithne”, derartige In— ſchriften in Toiletten deutfcher Univerfitáten bewiefen den fittlichen Tiefftaud der deutfden Studenten. Darauf macht ihm der ftud. rer. pol. Julius Lippert in der Deutſchen Tages- zeitung wahre Mitteilung: „Herr Fränkel! Ich ſelbſt habe vor nicht allzu langer Zeit das Vergnügen gehabt, einen derartigen Schmierfinken in flagranti zu ertappen, wie er gerade dabei war, eine Zeichnung von unerhörter Schamloſigkeit mit einer anti— ſemitiſchen Inſchrift au verzieten. Dies Subjekt war ein waſchechter Jude! Nachdem ich Ihren Herrn Stammesgenoſſen mit ein paar Fußtritten regaliert hatte, ging er mir leider durch die Lappen. Ich habe ihn nie mehr geſehen, woraus mit einiger Ausſicht auf Richtigkeit hervorzugehen ſcheint, daß der Kerl gar fein Akademiker war, fondern als agent provocateur fic) einzufchleihen gewußt hatte.“

ie „Leipziger Volt3zeitung” fchreibt zur Aufführung von Richard Wagners Tann-

häufer für das Arbeiter-Bildungsinftitut: „Der Hörer foll zunädft nur pr bt das religiöfe und rein menfchliche Empfinden, das aus dem Werke fpricht, nadguerleben. Er fol! fic) ruhig und ohne Widerftreben dem Eindrud hingeben, den das Werk beim Hören in ihm ausloft: e3 bedeutet eine Bereicherung, aud das romantifde, religiöfe —— und die poetiſch verklärte ba terung für das Deutfchtum einmal in fic gefühlt zu haben. Daß daraus fein dauernder de an Leib und Seele entítebt, dafür forgt fon die dann einfegende Berftandesarbeit, der die kritiſchen Ausführungen und die hiltorifhe Ber leubtung diefes Wertes in diefen Zeilen dienen.” Alſo der ſich bildende Arbeiter darf „auch einmal” religiöfes Empfinden und Begeifterung für das Deutfchtum haben. ved: innere Bereiderung. Aber e3 bleibt eine verdadtige Gade es fteht davon nichts im Erfurter Programm. Mit Wilhelm Bufch zu fprecen: „Ja, aber man biz injoweit feggt unfe olle Herr Paftohr!” Der Herr aftohr de3 marxiſtiſchen Belenntniffes bat durch fritifhe Ausführungen und hiftorifhe Beleudtungen den Verftand gegen das zu partei- widrigen Estapaden geneigte Herz mobil zu maden und Ridard Wagner zu verefeln, fo- bald er parteigefábrlid wird. Welde armfelige „innere Bereicherung“!

Zwiefprarhe

Zeiger ber pl seg des vorigen Heftes und der heutigen liegt ber Weg von Paris nad) London. Aber wir geftehen, dak uns London nicht fonderlid) erregt hat. Er- regt bat uns die Bejegung der deutfchen Städte rechts des Rheins. Die Frangofen find über den Rhein gegangen wie Kröfus über den Halys. Sie werden, wie Srofus, cin a n = deres Reid) zerjtoren, als fie meinen. Was follen wir aber je ft viel dazu jagen? Wir ſchweigen. Aber wir wollen hören, was Heinrich von Mleift antwortete, als vor hundert Jahren die Franzofen über den Rhein gezogen waren. Wir wollen Kleiftg „Herrmanns- ſchlacht“ leſen. Von den Worten, die wir am Schluß des Heftes abdruden, find die crjten drei Zeilen aus dem neunten Auftritt des vierten Aufzuges. Die —— find die Schluß- verfe der „Herrmannsſchlacht“. Was Kleift unter „Rom“ verfteht, braucht nicht gefagt werden.

* Sit der Dichter, der Rache feine Tugend nennt, unſittlich? Iſt dieſes unglüdliche, —— heißlebige Genie unſittlich? Und iſt dagegen Herr Profeſſor Dr. Friedrich

ilhelm Förſter in feiner geſetzten Wohlredenheit, dem alle jene femininen Naturen des

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intellettuellen, Deutihlands mit gerührtem Augenaufichlag tun die ihren Mangel an Urfpriinglidleit mit einigen Verfen aus der unverjtandenen Bergpredigt aufpugen, ijt der ein Menſch von höherer Moralität? Oder ift der brave alte Srrebentpane uidde por höherer Moralitat? Ich trete auf die Seite Heinrichs von Kleift. Hier flutet das Leben aus der Vergangenheit in die Zukunft. Mögen jene andern an den äfthetifchen Friedens- Teetifchen den männlichen und weiblihen Damen unfre Unmoral in edel triefenden Reden dartun. Vor dem nordifden Egon eines Kleiſtſchen Verfes welfen fie alle dahin. Aber unter demfelben Hauch erwächſt und erjtarft das Gefchledt, das die ſchwarze Fahne über den geftürzten Trümmern der Zwingherrfhaft anfrióten wird.

a dem Auffag über Blüher muß ich bemerken, dak ich felber über die Sade nicht urteilen kann, da id) die betreffenden Bücher Blühers nicht gelefen habe (und and, anderer Arbeiten wegen, nicht lefen will). Elfe Torges Ausführungen {deinen mir für das Ber- ftandnis Blühers nit unwichtig zu fein.

Mein offener Brief, der an der Spike diefes Heftes fteht, ijt zugleich als Sonderdrud Das @tüd foftet 1.80 ME. und ift durch die Buchhandlungen oder den Verlag gu en.

Die Wiedcrgaben der Holafdnitte der Seemiterd bringen wir mit Erlaubnis des Verlags des Sturm, Berlin W. 9. Dort fann man die Werke der Heemskerck erwerben. Mir wiffen, dak viele unfrer Lefer den Kopf fehütteln werden. Aber ich verfichere, daß Dr. Benninghoff und ich durchaus nicht „verrüdt geworben“ find, alg uns die Bedeutung diefer Blätter aufging. Hier ift „Expreſſionismus“, der wirklich einer ift.

u Hanns Fechners Worten an Carl Hauptmann fei für die Untundigen bemertt, daß beide alg Nadbarn in Schreiberhau im Riefengebirge wohnten. on Dr. Rihard Benz werden wir noch vier weitere ee bringen, die, in fid) ge- fchloffen und dod) in einem gewiffen durchgehenden Zufammenbang, neuere Bücher über fit bejpreden.

Eben ging bei ung aus dem Verlag von y: Harder in Altona des verftorbenen Hun- singer leptes Werk ein, auf das wir alle Freunde des großem Predigers hinweiſen; prebensgetft. Legte Predigten, gehalten vom 1. Advent 1919 big 12. September 1920.” 101 Seiten, fehr gut ausgeftattet. Preis 12 Mart. Hunginger war als Prediger ein

bänomen. Selten weiß ein Redner fi” mit folder Sicherheit wie er auf den Geift der

ubórer einzuftellen. Er feffelte aud die, die ihm in feinen Gedanken nicht folgten.

eine Gedanken find trog ihrer Fülle nie trivial. Auch in diefen legten Predigten ift, wie das Anlefen ſchon ergibt, mandes feine Wort.

Wir ftanden wieder einmal vor der Frage, ob wir die Bilderbeilagen einſchränken oder ob wir den Begiehern zumuten wollten, vierteljährlich eine flete Zigarre weniger zu rauchen oder eine Taſſe Kaffee weniger zu trinten. Wir haben uns für das Leptere ent» fhieden, wie wir hoffen, mit Zuftimmung der Bezieher. Ohne hinreichende Bilderbeilagen läßt fic) fchlecht ein Ueberblid über die bildende Kunſt geben. Wir bitten, das Begugs- geld im Voraus zu en Das ift, rein pfychologiih genommen, fehmerzlofer alg das nachträgliche Zahlen aufgefummter Beträge, und dem Verlag wird damit erheblich geholfen. Vom verfloffenen Vierteljahr fteht nod eine Menge Bezugsgeld aus. Wir warnen bas vor, Schulden bei uns zu maden. Wenn dann irgend einmal ein Poftauftrag tommt, ift der Yammer groß. St.

Stimmen ber Meifter.

Denn eh’ dod, feh’ ich ein, erfchiwingt der Kreis der Welt Bor diefer Mordbrut feine Rube, Als bis das Raubneft ganz zerftört, Und nichts al3 eine ſchwarze Fahne Bon feinem ¿den Trümmerhaufen weht! Heinrid von Kei ft.

Herausgeber: Dr. Wilhelm Stapel. (Sic ten Inhalt verantwortiih). Schriftleiter: Dr. Lub- wig Benninghoff. u ſind zu rigten au die Ogrifticitung des Deutſchen Golfstums, Hamburg 36, PHolfteaplas 2. Sur unverlangte Einfendungen wird feine Gerant- wortung übernommen. Derla guub Drud: Hanjeatifhe Berlagsanftalt Attiengefelifaft, Hamburg Bezugspreis: Dierteljabrlid 9 Dart, Einzelheft 3,75 Mlart., für das Ausland ber boppelte Betrag. —— Hamburg 13475.

os der Deitráge mit genauer Quellenangabe ift von der Griftleitung aus erlaubt, unbejhabet

Ste des Derfaffers. 136

Jacoba van Seemáterd

Aus dem Deutfihen Voltstum

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Probebände des Volkstums

beftehend aus vier neueren Heften der Sjahrgänge 1919 und 1920 find foeben fertig geworden und ftehen zu Werbes zweden zur Verfügung. Wir bitten unfere Lefer, Freunde und Bekannte, die noch nicht zur Vollstumgemeinde ge hören, auf diefe Probebände aufmerkfam zu machen, Das Stüd toftet 4 Mark. Sede Buchhandlung kann fie bes forgen, fonft ber Verlag in Hamburg 36, Holftenplag 2.

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Aus dem Deutihen Volfstum Joſua Leander Gampp

Deutiches Dolfstum

efe Eine Monatsſchrift 192)

Unfere Sriiblingsmufifanten.

e Monat Hornung gebt'8 an. Gleich vom Tage Mariae Lichtmeß ab ſchaut man morgens immer mit langen Augen zum Fenfter hinaus, voller Sehnfucht, um zu erfpaben bie erften genaueren Zeichen der tommenden Weltverjüngung. Schon der bloße Gedanke, den Frühling neu wieder zu erleben, alle feine unbegreiflich holden Wunder! Befonders im höheren Alter, denn ich möchte fagen: mit jedem neuen grauen Haare empfindet man überhaupt tiefer, inniger, gottbervufter.

Schon im Hornung gebt'3 an, jatvohl, jatvohl, mit den „sich lángenden” Tagen. Buerft ertoaden die Baume. Schau, wie die Borke fich färbt und vom fteigenden Saft die Ziveige fic) ftrammen, und die Kätzchen fodann am Hafel, an den Weiden, an den Erlen. Der frühblühende Seidelbaft, die Korneliusfirfche gleich darnach mit ihren gierlidjen gelben Blüten. Und die Schneeglödchen fpriefen hervor, nad) und nad aud alle die anderen frühen Blumen: Leberbliimden und Blauftern, Primel und ` Aurikel, Krofus, und die Narziffen, die Tulipanen, in ihren himmelfchönen Farben. Ym Walde die Anemonen. Hord), darüber hin die exften leifen Amfeltóne. Aus den Pappeln ſchwatzen die Heimgefehrten Starmage. Die Kohlmeifen pfeifen ihre Terzen. Die Finten üben ihren Schlag fich neu wieder ein. Mit einem Male find aud die Singdroffeln wieder da: fie jubeln und fdmettern. Immer ſchöner wird's, bollfarbiger, volltönender. Die Rotkehlchen kommen, in der legten Märzenwoche, und die Schwarzplättchen auch bald darnad), und damit wächſt alsbald crefcendo, accelerando die anfängliche Kammermuſik fid) aus zur richtigen Sinfonie und Ran- tate. Damit ift's vollftandig, jest haben wir den Himmel auf Erden es leuchtet, ftrahlt, e8 jauchzt und jubelt in allen feinen Farben, in allen feinen Tönen der Frühling. Und nun aber alle Fenfter auf, alle Türen: hinaus, hinaus, ihm in die Arme, ihm ans Herz!

Weggetaut mit bent Froft des Winters ift alles Leid, immer wenn draußen die große Frühlingsfinfonie, die Pfingfttantate neu twieder erklingt: Gloria in excelfi3! Und fo wirf den Blid hinaus und hinein, fo weit du kannſt, ins Grüngoldene, in die jubelnde Fülle und trinke, ſchwelge! Mit Goethe magft du auch dabei dein Herz erfüllen, denn fein „Liebliches Felt“, e8 gehört ihm, ihm und dem heiligen Geifte. Da foll man ihm opfern. So wie der Karfreitag Sebaftian Bad) gehört. Für die Natur und alle ihre Herrlichkeit ihr Hochzeitsfeft Hat ja Goethe ung erft die richtigen Augen eingefegt und fie zurechtgejchliffen.

Dean foll die Natur genießen mit allen Sinnen. Auch alles, was da trillert, flötet, jchmettert aus den Bäumen, aus den Büfchen, aus den Halmen, hat feine Poefie. Deshalb außer den Augen ja aud) die Ohren mit hinausnehmen ing Feld, in den Wald. Und fie gehörig auffnöpfen. Die holden Gefiederten und Gefchnabel- ten bie Frühlingsmufifanten: der ganze Frühling erklingt aus ihren Stimmen. Sie befeelen ihn exft richtig. Ym Bild der Sinn, im Klang die Seele. Es tommt nur darauf an, auf die Vögel auch richtig zu hören, fic) in ihrem Gefang aud etwas beffer auszufennen.

Ad), wie oft hab’ ich’s erlebt: man fpagiert mit Leuten dvaußen herum, gebil- deten, und fie find faum imftande, eine Droffel von einer Amfel im Gefang mit Sicherheit zu unterfcheiden. Die ſchönſten Vogellieder erklingen ringsum; fie hören

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das wohl, aber wiffen nicht viel damit anzufangen. Daß das fo ift, hat die Schule mit zu verantivorten, das gehört auch mit zu ihren [chlimmen Sünden. Der Schul- meifter er weiß doch fonft immer alles und wie gut ift er in der Pflanzentunde eigentlich immer befchlagen! aber im Vogelfundliden? Hm. Botanifche Kennt- niffe laffen fich freilich auch leichter vermitteln wie ornithologifde. Wann endlich werden die Lehrer außer botanifchen auch ornithologifhe Ausflüge mit ihren Schü- lern machen? Beides ließe ſich ja fo gut mit einander verbinden: id ſpreche aus Erfahrungen.

Mit dem Droffel- und Amfelgefang find die beiden Grundtypen des Vogelge- fanges gegeben. Die Singdrofjel ſchhägt, rhythmifche Motive, in drei- bis vier- maliger Wiederholung; fie fomponiert richtig, in Perioden und ftreng in der Form. Die Amfel dagegen fin gt, fie ift reiner Melodifer und Gefühlsmufitant, alle ſchär— feren Einfchnitte und Umriſſe fehlen bei ihr; man kann fagen, fie phantafiert bloß, unzufanmenhängend. Wo die Nachtigall fehlt, das größte Vogelgenie, da ift die Gingdroffel die Lehrmeifterin des Waldes. Sie wirkt mit ihrem Schlag veredelnd ein auf alle die Singefchnäbel um fie herum, foweit fie zu den Mifhern und Spötterngehören. Die Driginalfänger, ja die haben ihre eigenen Noten, natürlich: die Grasmüden, Lerchen ufw. Nachtigall und Sproffer find die beiden Hauptgenies, die begabteften Originalfanger. Die Nachtigall in ihrer fchönheitstrun- tenen, füßen Sinnlichkeit, in ihrer weiblichen, holden Anmut, die ift der Mozart unter den Singvögeln. Der Sproffer mit feinen metallifhen Bagmotiven und der zu— zufammengepreßten, elementaren Leidenſchaft des Vortrags ift der Beethoven, der große Charatteriftifer.

Die Einteilung der Singvögel in Originalfanger, Mifcher und Spotter ift alt and beftand fon vorm alten Bechftein. Die Mifcher „mifchen” ihren eigenen Mo— tiven fremde bei, entnommen den Gefangen anderer Vögel um fie herum. Das min= dert aber ihre Kunft durchaus nicht herab. Viele der beiten Edelfänger, wie das Rot= fehlchen, gehören hierher. Desgleichen möchte man auch den abwechslungsreichen Gefang der Spottvögel um keinen Preis miffen: das wunderbare Spotten des rot— rüdigen Würgers, des Gartenfpötters, Sumpfrohrfängers. Sie haben zwar feine eigenen Einfälle bon Belang, verjtehen anfonften aber ihre Kunft trefflich wohl, haben darinnen „einen guten Habitum exlanget”, mit Sebaftian Bad zu fprechen. Erfinder, Komponiften find halt felten allerivege. Die Einteilung ift überhaupt nicht fo ftreng zu nehmen, fie foll, wie vielfach derartige Einteilungen, nur allgemeine An— halt8puntte geben. Die Hauptfache ift: immer entweder Schlag oder Gefang, das boneinander zu halten. Aud) die fogenannten ftereotypen Sänger will ich noch mit erwähnen: diejenigen, die nur eine einzige, furze Strophe oder gar nur einen Ruf hören laffen. Der ift bei einzelnen allerdings höchſt reizvoll, wie beim Kudud und der Wachtel. Auch der Fitis gehört hierher, der „Zilpzalp“ oder „Takt— ſchläger“ (Weidenlaubenvogel), und die verfchiedenen Ammern, mit dem Ortolan und der allbefannten Goldammer an der Spike.

Man muß fid) wundern, daß der Gefang der Vögel fo wenig tiefer verjtanden wird, und dabei hat doch jedes Auge fein Wohlgefallen an ihrer lieblidjen Erfchei- nung, an ihren anmut3vollen und charakteriftifchen Bervegungen, im Fliegen tie im Hüpfen. Und gar ihr Familienleben! Unbefchreiblich Tieblich und rührend fo ein Finfen-, Hanflings- oder Grasmüdenneft! Wer hätte nicht fon mit ganz eigenen Gefühlen dahinein gefchaut, auf die Eier, die runden, bunten, feinen Dingerden, oder gar in die mit beweglidem Zirpen fic) auffperrenden gelben Schnabel der Jungen. Der Gefang nun aber der Vogel, ja wie fommt man hinein, wie fängt man’s an, um ,bogelfpraetund” allmählich zu werden? Von der Mufif aus wird man’s nicht. Vogelgefang und Mufit find ziveierlei. Man fol! deshalb hier vorfichtig fein im Vergleichen. Ich kenne Ornithulogen, feinste Kenner des Vogelgefanges, aber in muſicis wahrhaftige Böotier. Und umgekehrt, ich habe erlebt, daß gute Mufifer vorm Vogelgefang fic) arg blamierten. Selbft in den Stompofitionen derjenigen

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Meijter, die große Naturfdwarmer waren, die beim Schaffen fic) förmlich eingruben in die Natur, wie Beethoven und Brahms, da fann man ausgefprochene Vogelmotive kaum irgendwo aufftechen. Von dem befannten Scherz in der Paftoralfinfonie ab- gejehen. Auch faum in dem wunderbar der Natur abgelaufchten lavierftit von Robert Schumann, aus den „Adaldfzenen“: „Vogel alg Prophet”. Die Vogelart ift entjchieden hier auch nicht ficher feftzuftellen. Und dennoch ift zumal die gefamte Stammermufif der genannten beiden großen Intimen, wie auch die Shumanniche, die Schubertſche nar fe durchhallt, durchraufdt, durchweht, durdhfprudelt, durch— tropft von Naturlauten und felbjtverftandlih auch von mufitalifd) umgebildeten Bogelitimmen.

Hm, man fragt mich nach feften Anbalt8puntten zum genaueren Verftandniffe des Bogelgefangs? Ich fomme in Verlegenbeit. Jm Gefühl muß man’s halt haben. Alle ſolche Dinge. Ya wie das oft fo ift, aud) die Mufik wird vielfach nur gefühlsmäßig verftanden und genoffen und fehr intenfiv, ohne theoretifches Bewupt- fein, alfo ohne genauere Kenntnis der Afforde, der Formen und des Aufbaues der Tonwerke. Freilich, es ift nicht ganz leicht. Einen geübten und zuverläffigen Orni- thologen und Naturmenfdjen, der fich feiner annähme und mit ihm wanderte, hat nicht jedermann unter feinen Freunden. Aber es gibt gute Vogelbiider, gottlob, aus denen man auch auf den Gefang hin Belehrung jchöpfen tann. Da kann ich nur immer wieder das altbewährte „Erkurfionsbuch zum Studium der Vogelftimmen” von Prof. Dr. A. Voigt warm empfehlen. Das hat aud) mir gute Dienfte gelciftet. Obgleich id mich mit den von Voigt angeregten Verſuchen, die Vogelftimmen in Mufiknoten zu faffen, nicht fo vecht befreunden fann. Voigt ift allerdings noch vor- fichtig darin, aber feine Nachfolger: —? Der Ton des Vogels ift taum in Noten feft- ¿ubalten, denn ex ift in fic) felbjt beweglich, er ift flüffig, gleichfam hingetropft, und dabei ift er in feinem Fortichreiten, feinen Intervallen ftet3 ungenau und ungleich- mäßig, er bewegt fic) in Viertel- und Achtel-, ja nod) engeren Tönen und paßt aljo garnicht in die Menfur unfers Notenfyftem3. Nur fehr im allgemeinen läßt fid) allenfalls. die Tonlage in Mujifnoten abgrenzen. Selbft die berühmte Kududsterz, wie aud) die Meifenterzen find niemals ganz rein und ſchwanken zwifchen groß und flein, alfo zwifchen Dur und Mol. Jm Fintenfchlag ¿. B. liegen bi3 zum charaf- teriftifchen Endauslaut, dem „Würzgebier”, der „Wildfau”, dem „Dulzier“, dem „Reitzug”, die vielen und fchnell wechfelnden Töne enger beifammen als in einer Halbtonftufe, und dabei klingt's dod) wie ein übermütiges Sprudeln fchier durch eine ganze Oftabe. Und der eilige und fraufe und doch fo wunderliebliche Gefang der Gra3miiden, oder gar der Schlag der Nachtigall das in Noten zu faffen? Un- mönlih! Voigt gibt, von den Noten abgefehen, allerdings noch verfchiedene andere, glücklich erfundene und fehr brauchbare Bezeichnungen, und er verfaumt auch nicht, wo er nur immer kann, auf die altbewährten Naumannfchen phonetifchen Silben hin- ¿un eifen, die ja in den meiften Fällen die Vogelftimmen treffend verbildlichen.

Das Nächjtliegende ware, fic) erft einmal auszufennen in den Vogelftimmen dev ná: ften Umgebung. (o zunächit auf die Vögel im Garten fchärfer achten. D kann ſchon unter Umftänden viel zufammentommen. Wohl nie fehlen bier A. ie und Singdroffel, Kohl: und Blaumeife, Grünling und @belfinf, Haus- und Ga nrötel, von Grasmiidenarten das Müllerchen, und wenn der Garten am Waldrande liegt, fommen noch hinzu Schwarzplättchen, die graue Grasmiide und der Gartenfpötter, drei herrliche Sänger. Vom Garten alsdann durch Feld und Wiefe in den Wald. Da dideln und lullen den Himmel herunter und wieder hinauf die Lerden. Aus einem Kirſchbaum oder einer alten Weide erklingt das zum Er— barmen bewegliche „Säthgäthgäthgäth” des Wendehalfes. Aus dem Korn fchrillt das „Kirrätſch“ des Rebhuhns, und man vernimmt im lieblidften Pianiffimo das abtwechslungsreiche, wunderbare Spotten des Sumpfrohrfängers. Auf den zaube- tifchen Schlag der Wachtel horcht man heutzutage in vielen Gegenden leider vergeb- lid), feit die vielerlei landwirtſchaftlichen Mafchinen den Boden befragen und bie

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künstlichen Düngemittel ihn einftanfern, um die Erträge zu fteigern. Haft du den Wald erreicht, fo fchlendere hin am Rande, um hier allmählich fo recht mitten hinein- ¿utommen in Die höchſte, wunderbarfte Sange3feligteit. Ja, ſchlen dern muß man, fo langjam wie möglich, und oft, oft ftehen bleiben. Nur ja nicht haften, denn da würde man die Vögel vergramen: fie würden fic) ſchleunig in Sicherheit bringen und ſchweigen. Schlendern alfo ſchleichen: leife, leife auftreten, nur Auge fein und Ohr. Jn den tiefen Wald verliere dich nicht; da trifft man nicht biele fingende Klein- bógel mehr an, man muß fic) begnügen mit den befcheidenen Meifenftimmeden, mit bent leifen „Sip ftp fip five” des Schwirrvogels, mit dem weichen und empfindfamen Verschen des Fitis und allenfalls hört man auch nod) auf einer Waldblöße die langen und überfünftlichen Triller und das ſchmachtende „Ziazia“ des Baumpiepers. Grenzt der Wald an einen Fluß, Bad) oder Teich, fo erklingt allerdings erft das wahre, rid- tige große Orcheſter, maejtofo, ſcherzando, graziofo, und legato, ftaccato, fpiccato, und con brio, con fuoco, con amore, und crefcendo, diminuendo, morendo nun fommt alles Schöne, Schönfte zufammen. Nun Hörft du fie vollftändig, die wahre, ervige, göttliche, große Baftoralfinfonie. Da flötet der Pirol fein „Gidleo”, in Tönen mie balb Butter, halb Honig. Da hohnlacht der Grünfpecht in die Kududsrufe hinein: „Glühglühglühglüh glüdglüdglüdglüdglüd”. Alles, alles wetteifert miteinander und fchlägt, rollt, flötet, trillert, ſchmettert, flingelt, fchodelt, gurgelt, orgelt feine Strophen, oder tadt, fietet, medert, pintt, gädert, gagt, Mnarrt, ſchnickert zwiſchendurch feine Lodrufe. Gottlob, daß die Vogeltine murfittheoretifd nicht meßbar find, fonft müßte man fid) die Ohren gubalten. So aber, wie's ift, tlingt alles zufammen in voll» fommener, fchönfter, paradiefifcher Harmonie. Die befonderen, begnadeten Solijten find al3 folcje immer herauszuhören, allerdings, Schwargplattdhen, Amfel, Sings droffel und natürlich! die Nachtigall. Die Nadhtigall! „Zumal wenn fie ganz als Soliftin auftritt wenn fie ihre Bauberlieder erfchallen läßt im Schweigen der Nacht, ſchluchzend und herzbrechend jehnfuchtsvol: „Ziküth, ziküth“, und dann wieder jubelhell, goldfunfelnd: „Goigoigoigoigoi”, „Watiwatiwati“, in unnadahm- licher, Himmlifcher Anmut.

Olid mit dem Wetter muß man freilich haben. Allerdings nicht bei glühender Sonne und Trodenheit, vielmehr an regenwarmen Tagen fingen die Vögel am eifrig- ften und ſchönſten. Deshalb durch Regen fich nicht gleich abjchreden laffen. it es gu troden, fo nimmt das Futterfuchen fie zu ſehr in Anfpruch. Auch hier wie überall find Hunger und Liebe die beiden Triebfedern.

Syn gebirgigen Gegenden, mit vielem Wald, mit vielem Waffer, da find alle Be- dingungen für ein reiches Vogelleben gegeben. Befonber3 da, wo große Ströme das abfallende Gebirge durchbrechen. Das böhmifche Mittelgebirge birgt eine wunder- bare, reiche Vogelwelt. Auch der an Laubbäumen reihe Unterharz. Alle Gebirgs- gegenden überhaupt, wo Laubiwald überwiegt. Das Rhóngebirge ift berühmt durch feine Dompfaffen, Steiermark und der Wiener Wald durch feine Schwarzplatteln. Die beiten Nachtigallen find die am Rheine. Thüringen hat die beften inten auf- jumweifen. In den Tagen der befonders leidenfchaftlichen Finkenliebhaberet tauchte man dort gute Schläger gegen Kühe ein. Da entwidelte fid) die Kenntnis und Bewertung der vielen verfchiedenen Fintenfdlage unglaublich viele verſchiedene gibt's! zu einer formliden Wiffenfchaft, einer höchſt ſchwierigen.

Go viel ijt fiher: heutzutage auf den Scherben des alten Europa, muß man fich an die Natur halten, wenn man nicht verderben will. Sie muß unfere hauptfächliche

Freudenquelle fein. Und daneben mufica: die gefiederten Mufifanten und bie anderen. Karl Sóble.

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Schöpfung und Seftaltung in deutfcher Lnrif.

Zum Naderleben lyriſcher Gedidte.

Cc ijt eine der fchadliden Folgen unferer Buchfultur, daß man immer nod) meint, ein Band Lyrik fónne wie ein anderes Buch gelefen werden. So: lange man diefer Meinung begegnet, ijt e8 nicht müßig zu fragen, ob nicht aud) die Lyrik wie andere Didtungsgattungen eine eigene, ihren befonderen Wejen ent- fprechende Form der Vermittelung fordert. Gewiß muß alles Gedrudte zunächit ge- lefen werden, aber man weiß doch, bab das Drama gefpielt, das Volkslied gefungen, das Märchen erzählt werden mill, und man fühlt wohl nod) mit, daß dem urfprüng- lichen Wefen der Ballade der Vortrag bor einer Zuhörerfchaft entfpricht. Ye Igrifcher eine Ballade ift, je weniger fie dramatifch erzählt, defto weniger wird fie den Vortrag fordern. Die reine Lyrik follte fich ganz aus dem Vortragsfaal zurüdziehen. Ihrer Snnerlidfeit entfpricht es, fid) leife zu äußern, und die ihrem Wefen als Gefühls- ausdrud angemefjene Form des Selbftgefprächs, die ein nicht nur äußerliches Kenn- zeichen vieler Iyrifcher Gedichte ift, deutet an, dah die natürlichfte Art der Aufnahme eines Igrifchen Gedichts die ift, es , fic) felbjt”, „für fich“, oder doch im engen Kreiſe „unter fich” zu fprechen. Jedenfalls aber wird jeder, der die Lyrik liebt und in ihr lebt, unmittelbar empfinden, daß fie nicht, wie die eigentlichen Lefedichtungen, Roman und Novelle, gelefen werden will, dak das bloße Lefen mur ein erfter Anfang des Nacherlebeng fein tann. Man muß ein Iyrifches Gedicht erft aus dem Bude her- auslefen, ehe man es wirklich hat und mit ihm umgehen fann. Wie man einen Menſchen aber nur fennen und lieben lernen fann, wenn man mit ihm umgeht, fo wird fic ung ein Igrifches Gedicht auch nur durch innigen Umgang ganz erfchließen. Der echte Lyriker [Hopft aus Tiefen, in die man erft allmählich hinabbringt, und ge- ftaltet in einer Sprache, die fo konzentriert, fo „verdichtet, fo fern von der Alltags» ſprache it, bak mir feine Worte immer wieder durch Ohr und Sinn gehen laffen miiffen, ehe fie uns voll anfpreden, Klang und Leben gewinnen, auch für ung Wus- drud innerjten Empfindens werden. Die folgenden Betrachtungen über einige un- ferer ſchönſten Igrifchen Gedichte können darum keine andere Abficht verfolgen, al3 den Lefer näher an das dichterifche Wort heranzuführen, auf die Wunder und Ge- heimniffe Igrifcher Schöpfung und Geftaltung hingudeuten, und werden immer da feblgehen, mo fie diefer Abficht nicht dienen. Der Verfuch, über Iyrifche Gedichte zu ſchreiben, ift immer ein Wagnis und wird nur dann berechtigt fein, wenn es gelingt, den Lefer zum eigenen Nacherleben und zum felbftändigen Schöpfen aus dem uner- fhöpflichen Born deutfcher Lyrik zu germinnen. I 1

Matthias Claudius, Ein Wiegenlied bei Mondſchein gu fingen.

So ſchlafe nun, du Keine! Auf fie aus, wenn fie faugen, Was weineft du? Recht wunderbar; Sanft ift im Mondenfcheine Schenkt ihnen blaue Augen Und füß die Rub. Und blondes Haar.

Aud kommt der Schlaf geſchwinder Alt ift ex wie ein Rabe, Und fonder Müb; Sieht mandyes Land; Der Mond freut fic) der Kinder Mein Vater hat als Knabe Und liebet fie. Ihn ſchon gefannt.

Er liebt zwar auch die Knaben, Und bald nach ihren Wochen Doch Mädchen mehr, Hat Mutter mal Gießt freundlich ſchöne Gaben Mit ihm von mir geſprochen. Von oben her Sie ſaß im Tal

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In einer Abendftunde, Nod) lang am Monde leben

Den Bufen bloß, Und flehte mehr. 3d lag mit offnem Munde Der Mond fing an zu beben, Sn ihrem Schoß. Als hörte er.

Sie fah mich an, für Freude Und denkt nun immer wieder Ein Tränden Tief; An diefen Blid Der Mond befehien uns beide, Und fcheint von hoch hernieder Ich lag und fchlief. Mir lauter Glüd.

Da Sprach fie: „Mond, o! fcheine, Er [bien mir unterm Kranze Ich bab fie lieb, Ins Brautgeficht, Schein Glüd für meine Kleine!” Und bei dem Ehrentanze; hr Auge blieb š Du warft nod) nicht.

Durd die Aufnahme in fein „Hausbuch aus deutfchen Dichtern feit Claudius”, das 1870 erſchien, fuchte Theodor Storm dies „von Naturgefühl getrántte feufche Ge- dicht”, da8 damals fchon hundert Jahre alt war, „der Vergeffenbeit zu entreißen“. Ferdinand Avenarius nahm e3 nicht nur in fein Hausbuch deutfcher Lyrik auf, fon- dern hat wiederholt eindringlich und durch ausführliche Betrachtung im Kunftwart (f. 1. Februarheft 1915) darauf aufmerkfam gemacht und e8 als „eine der reichten, reifften, edelften Dichtungen aller Zeiten und Volter” gepriefen. Solche Würdigung aus berufenem Munde bürgt für den hohen Wert des Gedicht. Warum bedurfte e3 aber fo nahdrüdlicher Hinweife, um e3 in Erinnerung zu bringen, und warum it e8 auch heute noch nur wenigen gleich vertraut mie etwa desfelben Dichters Abend lied „Der Mond ift aufgegangen”? Wie fommt e8, daß e3 troß feiner Schlichtheit den meiften Lefern ſchwer eingeht, fie wenigftens nicht beim erften Lefen anfpricht und gu näherem Umgang einladet?

Storm wie Avenarius nennen das Gedicht feufd, und aus feiner Keufchheit erflärt eS fich im legten Grunde, daß es feine hohe Schönheit nicht auf den erſten Blid enthüllt. Matthias Claudius läßt eine junge Mutter die ganze Wonne und Seligfeit ihrer Mutterfchaft bis in die geheimften Quellen Heiliger Naturgefühle offenbaren. Die Keufchheit diefes Muttergefühls aber verbietet e3, fic) unmittelbar zu enthüllen und preisgugeben. Darum erfcheint das Gedicht in einer äußerlich betrachtet wider- ſpruchsvollen Eintleidung, die erft durchſchaut fein will, ehe feine Schönheit ſich uns erſchließt. Es gibt fich als ein ans Ohr des Kindes gerichtetes Wiegenlied und ift doch ein Tiefites enthüllendes Sprechen der Mutterfeele mit fd) felbft; es leidet fich in die faft nüchtern anmutende Form einer epifch breiten Erzählung und ift doch der reinfte Iyrifche Ausdrud eines von dem unfagbaren Glüd und dem unbegreiflichen Wunder der Mutterfchaft erfchauernden Herzens. Von innen betrachtet loft fich uun diefer fcheinbare Widerfpruch in der Formgebung, ja er wird zum notwendigen Ausdrud der Keufchheit des Muttergefiihls. Aus diefer feufchen Mutterfeligteit blüht wie aus einem treibenden Keim- und Quellpuntt das ganze Wunderiverf der Dichtung in feiner unendlichen Zartheit empor, fie it es, die e3 von innen her bildet und geftaltet und es in Ton, Ausdrud und Form refentlich beftimmt. Den dran- genden Pulsſchlag des liebenden Mutterherzen3 in feiner ganzen Blutwärme durd) die epifche Hülle hindurehfdlagen fühlen und zugleich mitempfinden, daß diefe Feufche Seele ihr beiligites Fühlen nur wider Wiffen und Willen verrät das ift die rid)- tige Einftellung für em inniges Nacherleben des Gedichts.

Mit Worten fo fchlicht und einfach und ungefucht typifch hebt es an, dak man meint, es gäbe feine anderen für eine deutjche Mutter, um ihr weinendes Kind zu beruhigen. Und doch verraten jie in Auswahl, Klang und Fügung den feinften Stünftlerfinn. Man achte nur auf den fanften Gleichklang der ftabreimenden weichen f- und w-Laute am Beginn jeder Zeile und auf das Klingen der betonten Votale a und ei, bon denen einer das Echo des andern weckt, ſodaß fehon in diefen beiden

142 š;

Anfangszeilen das innige Umfaffen der liebenden Mutterfeele in jchmeichelnden lauten iwtederflingt. Und dann wird in einer Wort- und Lautfolge von unver- gleichlichem Wobhlflang der Mond eingeführt, fodak wir glauben, den lichten Glanz und den milden Segen des ftillen Gefährten der Nacht im Klang der Tontvorte ge = malt zu fehen. Sn feinem Licht, in dem ihr Kindlein entjdhlummert, wird nun die junge Mutter recht inwendig wach und erleuchtet, fo daß Hd, ohne daß fie e3 will und weiß, Unfagbares in fchlichteften Worten auf ihre Lippen drängt. Sie weiß es nicht, Dak durch jedes Mort, das fie von dem finderlieben Mond fpricht, der unter- drüdte Jubel: Mein Kind, mein Sind! bindurdtlingt. „Der. Mionb freut fich der Kinder und liebet fie” natürlich liebt er Mädchen mehr als Knaben, und wir brauchen nicht zu fragen, wen er blaue Augen und blondes Haar gefdentt hat. Sie weiß es nicht, daß ihr frommes danterfilltes Gemüt unter dem Bild des Mondes das Walten einer höheren Macht verehrt, dak fie in den Worten „gießt freundlich {hone Gaben von oben her auf fie aus, wenn fie faugen, recht wunderbar” ftaunend an dem rätjelhaften Quellgrund naturfeligen Muttergefühls rührt. Und meinen wir nicht in diefer Ver3- und Strophengrenzen itberflutenden Rhythmenwelle das Er- gießen des Segenftromes „von oben her” abgebildet zu fehen?

Spüren wir fo unter der Dede des traulichen Geplauders halb Wiegenlied, halb Mondmárdjen diefes erften Teils des Gedichts fehon den warmen Gefiihls- ftrom der Mutterliebe bis zum faft myſtiſchen Zufamntenklingen des Mondfegens mit der Stimme des mütterlichen Blutes, fo fucht fid) das drangende Muttergefühl in den folgenden Strophen nod) unmittelbareren Ausdrud und findet ihn traum- wandelnd ficher, ohne fich der feufden Hülle zu enthleiden. Yn leife Humorvollem märchenhaft eintönigem Sagen bom Rabenalter des Mondes (nur das a tönt in diefer Strophe), in dem doch ein Ahnen von Ewigkeit und Unendlichkeit mitklingt, träumt fid) die junge Mutter in die Vergangenheit zurüd. Das Bild ihrer Mutter, die mit demfelben alten und doch ewig jungen Mond „bald nad) ihren Wochen” von ihr ge- fprochen hat, fteigt vor ihrer Seele auf, und in dem flehentlichen Gebet der Mutter pes nun, der jungen Mutter unbewußt, ihre eigene Mutterliebe voll ausftrömend

erbor.

Von wahrhaft erftaunlicher Meifterfchaft zeugt in diefen Strophen die Kunft der dichterifchen Geftaltung. Das halb lied-, Halb mardenhafte Singen und Sagen der erften fünf Strophen geht, ohne bab doch der epifde Erzählfluß unterbrochen wird, in ein bildhaftes Schauen über. Durch den Gegenfaß der überleitenden faft all- täglich nüchternen Worte noch mehr hervorgehoben, wird in fünf Zeilen vor allem durch den Sinn und Klang der Tonworte „Tal Abenditunde Bufen blog offnen Munde Schoß” ein in feiner einfachen Großzügigfeit an die Madonnen- bilder alter Meifter erinnerndes Phantafiebild gemalt, das mit Fug die Unterfchrift „Die Mutter mit dem Kinde” tragen finnte. Es ift das Bild des Gedichte, und driidt ihm allein fdjon den Stempel des weit über die Enge eines Wiegenliedes hin- ausjtrebenden Muttergedichtes im umfaffendfter Sinn des Wortes auf. Von Natur- gefühl gefättigt ift jedes diefer Worte, und „Tal” und „Abendftunde” zaubern fon eine ganze jtimmungsvolle Landfchaft vor unfer inneres Auge. Wie vollfommen aber jtimint das bergende Tal, das dimpfende Abendlicht zu dem Mutterbilde, das mit den Worten „den Bufen bloß” in feiner ganzen quellenden Naturhaftigteit bildlich und Hanglich finnfallig gemalt wird. Wieder rühren diefe Worte, ergänzt durch die folgenden, die das Bild des Kindes „mit offnem Munde” „in ihrem Schoß“ malen, wie jenes „wenn fie faugen” in feufder Unbewußtheit an den Urgrund heiligften Naturgefiihls. Es gilt, dies Bild mit feinen verinnerlichenden Abwandlungen in den nächften Strophen (die Mutter mit dem Blid aufs Kind und dann im Aufblid zum Mond). in feiner ganzen durch fehlichtefte Worte erzielten Intenſität nachzuer- leben, und den ftarfen Gefiihlsdurdbruch in den faft Teidenfchaftlich innigen Gebet3- worten voll mitzuempfinden. Man exmejfe auch die Steigerung in der Unmittel- barkeit des Ausdruds der Mutterliche an dem Vergleich zwifchen den melodiſch

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flingenden ſchmeichelnd ſüßen Worten „der Mond freut fic) der Kinder und liebet fie” und diefem fpontan hervorbrechenden „ich hab fie lieb“, in dem jedes Wort wie ein brángender Stoß des Mutterherzens wirkt. Und felbft an diefer Verinnerlidung und, Steigerung des Gefühlsausdruds weiß der Dichter den Mond teilnehmen zu laſſen, der unter dem flehenden Blick des tränenfeuchten Mutterauges erbebt und „dieſen Blick“ nicht vergeſſen kann.

So iſt nun mit einfachen Worten die Beziehung zu der jungen Mutter, die innerlich nie aufgehört hat aus ihrem einfältigen Herzen, von ihren keuſchen Lippen müſſen wir jedes Wort des Gedichts an unfer Ohr klingen fühlen auch äußerlich. wieder gefniipft, und jegt fann fie, zum erftenmal von fich felbft fpredend, ihr ganzes befeligendes Muttererlebni3 in die fnappen Worte „und fcheint von hod bernieder mir lauter Glüd” erfchöpfend zufammenfaffen. Wie fprechend anfdaulid im Tonfall und wie inhaltreid) im Wortfinn ift diefes an das „von oben her” an- flingende „von hoch hernieder”, und wieviel Klang und Seele liegt in dem Worte „Lauter“, deffen Mehrdeutigkeit (nur diel rein) in der Wärme des Gefühls zur Einheit und Vollinhaltlichkeit feiner urfpriingliden Bedeutung verſchmilzt. Bu tiefbewegenyer Sthönheit aber fteigert fid) das Gedicht in den Worten der legten Strophe, an deren Blumenzartheit man faum rühren mag. Mit wie einfachen Mitteln hier die wunderbarſte didterifde Wirkung erreicht wird, empfindet man fhon, wenn man die in Klang, Bildhaftigkeit und poetifchem Gehalt unvergleich- lichen Worte „Kranze” und „Brautgeficht” durch bie dem alltäglichen Sprachgebrauch entfprechende Wortfügung ,Brauttranz” und „Geficht” erfegen wollte. Der fegenverbeigende Schein des Mondes unterm Kranze auf dem Brautgefiht man fofte die poetifche Bildfchönheit, mit der fo die Jungfraulichteit auf dem Gipfel, der Hoch- Zeit des Lebens gemalt wird, ganz aus und laffe fid) durch das ergänzende viel- fagende „Ehrentanze” noch einen leifen Schritt weiter führen dann ivird man in den finnend hingehauchten Schlußworten erjdauernd die Schönheit empfiaden, mit der bier Unfagbares gefagt wird.

3% tauſchte mit einem Freund Gedanken und Empfindungen über vies Gedicht aus; da fiel am Schluß das Wort: ES läuft einem heiß den Rüden hinunter. Das ift die körperliche Empfindung des Schauer, mit dem uns überwältigend Großes und Schönes berührt. Franz Heyden.

Marchenfymbolif.

me wahre Runjt ift fymbolifd, d. bh. fie will Geheimnisvolles, Metaphyſiſches ausdrüden. Alle Kunft, wenn ihre Seele matt getworden ift, tehrt zu den Altären zurüd, auf denen fie am feurigften erglühte. Ihre wahre Heimat ift das Un- beiwußte, der Traum, die Spanne ziwifchen Schlaf und Erwachen, ihre Erivederin: die Stimmen der Natur und ihre Wiege die Kindheit der Völker. Die neue Malerei tingt fic) in die Metapbyfit des Traums, die Dadaiften in die Seele des Kindes zurüd. Man mag fie ablehnen, weil fie eine Auflöfung der Kunft zu bedeuten fchei- nen, man darf auch über fie fpotten, weil ihre Roffe und Rößlein die diamantenen Hufe nicht haben und fomit in gar zu frampfhaften Verrenfungen bon dem gläfernen Berg zum Wunderfchloß wieder herunterpurzeln. Unfinnig fchelten darf man fie aber nit. Das Primitive und die Primitiven in der Kunft waren von jeher ihren befter Jiingern Lehrmeifter und werden es auc) bleiben. Denn ftet8 haben fie in irgend einer Form den Ausdrud für das Göttliche und Ewige, das (e= heimnispolle und Wunderbare gefudt.

_ Sa, zur Welt des Wunderbaren, die mun einmal die ewige und wahre Heimat der hehren Göttin Phantafie ift, drängt es uns immer wieder zurüd. Das it der Grund, warım das Märchen, diefe ſchon in der afchgrauen Zeit des „Es mar ein- mal” vom ganzen Volt geborene und erforene allerältefte und allerjüngfte Prin- zeſſin, auch heute noch in unferen Seelen auf ihrem angeftammten goldenen Thron

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figt, foviele Mitregentinnen fie im Lauf der Jahrhunderte auch Hat annehmen müffen. Die allermeiften find wieder abgetreten, haben meistens fdjon nach einem Menfdenalter graue Haare befommen und, wenns Glüd gut war, einen feinen papiernen Sarg, in dem fie von den Mufeumstuftoden der Literatur alle hundert Fahre ein- oder ziweimal umgetvendet und ausgelüftet wurden, um nicht ganz in Staub zu zerfallen. Beim Märchen ift died nicht nötig. E3 hat Hunderte, ja Taufende bon fahren in einem glafernen Garg gefdlafen, oder Hinter Dornheden, mit roten Wangen und träumenden Augen, und feiner von all den bezopften und beftaubten Herren hat fich vormals groß darum befiimmert. Bis e8 die Augen von felbft wieder aufichlug, die Hände bewegte und aufs neue den Zaubertanz der goldenen Kugeln begann, mit denen e3 [dor lange vor den Gótter- und Heldenfpielen des alten edi den finderfrohen Kreis feines Publikums entzüdte.

Das gewaltigfte Literaturiverk, das die ganze Welt zu Heil und Unbeil bervegt hat und darum mit Recht das „Buch der Bücher” heißt, wurzelt in einem Marden. Aus ihm und nichts anderem ift e8 erivachfen wie aus der Eichel der welt— überfchattende Baum. Yn feinem Sinn find alle Segnungen und Schredniffe bejchloffen, die es über die Völker feines Umtreifes ausgegoffen hat. Strahlend und unheimlich, göttlich und teuflifch erhebt in ihm zum erjten Mal die in Mann und Weib zerfpaltene menfdlide Seele ihr Haupt. Unter dem Baum des Lebens, vor dem Paradieszauber der ganzen Natur, ftehen fie einander gegenüber. Gott, Erde, Teufel, Tier fpreden aus ihnen und zu ihnen und würfeln mit ihnen um ihr Schid- fal. Hier berührt fid) das Märchen nicht mehr mit Damonie, Religion, Metaphyſik, esiftfie. Das Wunderbarfte und Unheimlichite der Menfchiverdungsidee hat in dem Schöpfungsmärdhen in unvergleidlider Prägung Geftalt gervonnen und ergreift nod) heute, wie zu Anbeginn, mit feiner metaphyſiſchen Kraft alle Völker der Erde.

In diefent befannteften aller Märchen liegt der Schlüffel zu feinem Verftändnis überhaupt. Das Marden fpottet allen Intellett3 und Verftandes, fegt wie ein Feenroß über alle Schranten der Logik hinweg und fchafft fic) aus dem Füllhorn der göttlichften aller Gottinnen, der Phantafie, eine eigene Welt. Nicht nur unter den Jubden, den Indern, den Arabern, den Germanen, nein, auf dem ganzen Erdenrund. Wer vergleichende Mardenfunde treibt, fühlt fich in Wahrheit in einen Paradies- garten, gleichzeitig allerdings in einen der Hölle verfebt, aus dem eine Ver- treibung unmöglich ijt. Er tut einen Blic in die Kindheit aller Völker, denen nod) fein babylonifcher Turmbau die gemeinfame Sprache verwirrt hat. Ein.-gemein- fames Band umfdlingt fie, das der Dichtung, des Märchens, deffen Grundgeivebe bei allen da3 gleiche ift, wie berfdieden auch die bunten Fäden darin laufen und die goldenen und filbernen Flittern aufgefebt find.

DieferUrgrundiftdiefhrantenlofe BelebungderNatur. Diefer ungerfdnittenen Nabeljchnur, die e8 mit dem erften und einzigen Geſetz alles Dafeins verbindet, verdankt das Märchen fein in Wahrheit erviges Leben. Menſchen, Tiere, Bäume, Steine; Waffer, Feuer und Winde; Sonne, Mond und Sterne; alle lebenden und toten Dinge auf, über'm und unterm Erdenrund bilden in feinem Vorftellungstreis eine einzige, ungeheure Kosmogonie, die im Grunde nicht3 anderes ift al8 der Eindlich-primitive Ausdrud für den Kern aller Mythologie, Religionen, metaphufifhen und phyſiſchen Erkenntnis: dak das ganze Univerfum ein einziges lebendiges in den Aeuferungen feiner File und Macht jeder Bandigung fpottendes Kraftzentrum bildet, eine in Zeugung und Vernichtung, Liebe und Hak, Leid und Luft in unbefchreiblichem Wirbel durcheinanderrafende, fich nad der Erlöfung von fich felbft fehnende Einheit unzähliger Monaden. Yn wie kindlicher Form das Mär- hen diefen Verzauberungs- und Erlöfungsgedanfen aud) durchführt: er ift der Schlüffel gu all feinen Wunderfchlöffern und die Panazee feiner etvigen Jugend. SKinder- glaubigfte Kunft halt hier im ſymboliſch zugefchliffenen Spiegel reiner Phantafie der Seele der Kreatur ihre Nöte, Sehnfüchte, Bindungen und Löfungen vor; fomit fonnen wir's im Märchen wie mit Händen greifen, wie das Wunder des Glaubens

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liebjtes Kind wird. Wie außerlich-willtürlich es auch fein buntes Saleidoftop dreht, tie iveltlich-materialiftifch es fic) auch gibt: in feinem Stern berührt e3 fid mit dem myſtiſchen Fundament aller Religion, deren Verheigungen ja auch nur die Lofung der Seele von ihren Nöten und Bindungen und ihre Seligfeit zum Gegenstand haben, wenn fie fie auch in fublimierter Form um eine Schranfe zurüd verlegen.

Daß die Symbolik des Märchens heutzutage nur nod) ein rudimentäres und ver- blaßtes Geficht zeigt; dak das Primitiv-Traumbafte in ihm verduntelt erjcheint; daß e3 den Zwang unbedingter Glaubigteit nur noch im Kindergemiit, und nicht einmal mehr in diefem, entfaltet; daß der ganze auf einem Seelen- und Scelenwanderungs- glauben von recht materieller Form berubende zauberhafte Kreis feiner Erfindungen und Motive feine primitive Macht über die Zuhörer eingebüßt hat; dak eS mit einem Worte feinem kulturellen Gehalt nach zur mehr oder weniger moralifchen Erzählung herabgefunten ift: diefen Riidgang teilt eS mit dem Dogmengehalt der meiften Reli- gionen. Eine moderne Ver- und Durchgeiftigung, eine Verjiingung und Neube- lebung wie diefe, aus eigenem Gehalt heraus, fann es feiner Natur nad), als Gefäß einer völlig findlichen Anſchauungswelt, nicht erfahren. Aber es bat fie in dieſem Sinne aud) faum nötig. Denn feine in altem Volksglauben, -Ueberlieferungen, Sitten und Anfhauungen wurzelnde Jugendiraft erhält ihre Unverganglichteits- bürgfchaft durch einen zweiten Zauberreifen, denfelben, den fic) noch ein Anſchau— ungskomplex verwandter Art als Schuß- und Trugharnifch gegen die gerfreffenden Kräfte des Fntelleftualismus aus fich felbft Heraus gefdaffen hat. Dasiftfeine Gorm. Der auch heute noch Alt und Jung beftridende Reig des Märchens beruht auf feiner fpracdliden Faffung mit ihrem unvergleichlichem Schmelz, wie fie das Volk im Lauf der Jahrhunderte diefen feinem liebften poetifden Kind unbewußt ver: fiehen und die durch forgfam glättende, Iheidende und zufammenfügende Gelehrten- und Dichterhände nunmehr faft überall ihre feftacfiigte und dem Geift des Stoffs organifch verſchmolzene literarifde Prägung erhalten hat. Reine Dichtung wird in gleicher Weife der gegenfeitigen Durchdringung bon Inhalt und Form gerecht wie das Marden. Diefe höchſte Kunftforderung erfcheint in ihm reftlos erfüllt. Was im Gehalt des Rohftoffs verglüht ift, bas Urelementare, Primitive, Anſchauungs⸗ mäßige, der mythologiſch-myſtiſche, fymbolifd-tulturelle Vorftellungstfreis und Glau- berSniederjchlag, die ganze fittliche Anfchauungswelt der Kindheit unferes Volfstums, faum noch erkennbar in all den buntocrivorrenen Fabelgefhichten und -Gefchieben: das erftrahlt aus dem Goldreif der Form in neuem Glanz und wird mit verfeiner- tem Rei; aus all ihren formelhaften Wendungen und dem kindlich-ſchlichten Falten- turf der Sprache bewußt herausgefühlt. Was Fabhrhunderte lang im Volfsmund zwanglos umbergerollt wurde wie Stiefel im Bad), ift durch bewußte Faffung neuer Edelftein geworden und blidt daraus mit den findlichen leuchtenden Augen unferer Vorväter in die arelle Scheinwerferwelt unferer Zeit.

Aus diefem Charakter des Märcheng geht hervor, dak es, wie ſchon gefagt, als Volksmärchen, Teiner Neubildung fähig ift, ebenfotvenig wie die Bilder alter Meiiter jebt noch entitehen fonnten. Alle den Vorftellungstreis der alten Märchen fopierende Márdenliteratur ift völlig wertlos. Dagegen ift das Märchen, wie alle echte Volks— Dichtung, der neueren Literatur zum wahren Jungbrunnen geworden. Die Erfennt- nis Herders, dak das Märchen volfstinnliche Dichtung fei, hat Goethe auf den Weg gu ibm geführt, weit nachhaltiger aber die Romantifer, die der Volksdichtung erft in vollem Umfange, als einem der Kunftdichtung völlig ebenbürtigem Element, ihren gleichbercchtigten laß in der Literatur angewiefen haben. Ohne die Romantiter ift die Sammlung der Grimmfchen Sinder- und Hausmarden ebenfowenig denkbar wie der größte und bis jebt unerreichte Meifter des Kunftmärchens, Hans Chriftian An- derfen. Aber den Remantifern felbft fehlte zu feinem Ausbau die innere Rube, jene tiefe, traumbaft-findliche Unbewußtheit, die die Vorausfegung aller echten Märchen- Dichtung ift. Sie tellten es bemußt in den Kampf ihrer Iiterarifchen Richtung, und fo atmete es, 3.3. bei Tied, ihre eigene innere Jerriffenbeit, die in den heutigen 146

Stürmern uns Drängern der Kunft ein merkwürdiges Spiegelbild findet. Ihren Märchen fehlte die Beimifchung tiefiter Philofophie und abgeflarter Lebensweishkit, die erft dem toller: Spuk und Wirrwarr der Fabel die feelifche Bindung und den Zauber durchgeiftigter Eymbolif verleiht. Diefe finden wir in den Märchenfchägen der Inder, bei denen das Märchen allerdings von vornherein im weſentlichen Kunſt— Dichtung war. Sie haben es auf die Stufe erhoben, die den Romantifern vorſchwebte, nicht zum wenigſten durch die Aufnahme alter Spruchweisheit, durch die fie ihm die Brüde zur Wirklichkeit erhielten. Solche Lebensiweisheit hätte den Romantifern der deutſche Sprichwörterfchag bieten fonnen. Sn ihm hat alte deutjche Lebens- und Volfsweisheit diefelbe formelhafte und in ihrer Art vollendete fprachliche Verdich- tung erfahren, dic das Märchen auf anderem Wege fehlieglich erreicht hat. Vergleicht man ihn ftofflich mit dem Märchen, fo erfennt.man mit Staunen, tie deffen ganzer Figurenfreis. Bauer, Handwerker, Bettler, Falhrender, Soldat, Dieb, Pfarrer, Küſter, Gott, Here, Teufel und dazu die ganze Tierwelt fich mit realiftijcheren, echt lebeng- wahren Sefichtern in ihm wiederfinden, ihm Fülle, Farbe, Prägung und Geftalt ver- Tether. Vielleicht bemächiigt fic) die metaphyfifche Richtung der Zeit aufs neue des Märchens, das in feiner Kunftform, und zwar ift Form hier nachdrüdlich zu unter- ftreichen, mun einmal das gegebene literarijche Gefäß für dichterifche Symbolik bildet.

Daun wird es mit Getvinn nicht nur feinen Schmud, fondern auch feine Speife aus der unerfhipfliden Schüffel des alten Spricworts nehmen und feinem Körper das duch ein realijtifches Nüdgrat Schaffen tónnen, das die Iuftigen Gebäude feiner vber- fte und einzigen Göttin „Phantaſie“ mit Sicherheit trägt. Denn das deutſche Volksgemüt wurzelt nun einmal mit allen Fafern in dem tiefen religiöfen und meta- phofifchen Grunde der Romantif; es hat mit feiner Dichtung allen Erzeugniffen un: fever Literatur das Bejte, da3 eigentlich Unvergängliche gefchenkt, und nur aus ihm berans ift eine geiftig-feelifche Wiedergeburt Deutfchlands zu erhoffen.

Wilhelm Poed.

Homer im Schüßengraben.

8 war an der Somme im Winter 1916. Die Großfampftage mit ihrer Gehoben- beit und ihrer befinnungslofen Spannung waren vorüber. Beide Parteien begannen fich wieder in den Boden einzumwühlen, den zähen, nervenquälenden Kampf mit der zermürbten, zeriveichten Erde aufnehmend. Unfer Graben lief mitten durch eine völlig zerſchoſſene Ortfchaft, deren kümmerliche Refte Heden und pärliches Gemäuer einen verzweifelten Kampf gegen den Moraft führten, der fie langfam aber ficher in feine geftaltlofen Fluten einfchludte. Ich fehnte mich nad) einem Buche. Ricarda Hubs herrliche Liebesgedichte, die ich ftetg im Brotbeutel bei mir führte, vermochten dem müd gelvordenen Herzen nichts zu fagen. Angefichts der gefpenftifchen Formlofigteit dieſes abgefämpften Schlachtfeldes verlangte der Sinn nad) Geformtem, nach feharf umtiffenen Geftalten, nach buntem Gefchehen. „Du follteft Karl May lefen!” riet mir ein Kamerad, dem ich mein Leid tlagte. Go hieß e3 denn fuchen. Yn diefem verlaffenen Neft mußte doch ein Pfarrer oder ein Lehrer gehauft haben, der eine Bücherei befaß. Vielleicht hatte ein gütiges Gefchid ein oder das andere Bud) vor dem Untergang bewahrt. So Froch ich ftöbernd durch bie Trümmer. Und wirklich ich hatte Glück! In einem halbzerſchoſſenen, verfallenen Kellerloch lagen die Rejte einer Bücherei, herausgeriffen, bunt umbergeftreut, zum Teil [hon auf dem eindringenden Schlamm wehmütig ſchaukelnd. Miflaunig fucht nteine Stiefelfpige den Wuſt zu fichten. Neunzehntel des Bejtandes war die Rettung nicht wert: Schulbücher, Atlanten, Erbauunggliteratur. Ein Thomas a Kempis, den ich gern behalten hätte, war durch den Schmuß völlig unlesbar geworden. Plötzlich fiel mein Blid auf einen ziemlich umfangreichen Schiveinslederband. Ich hob ihn auf: Homer im Urtext! 147

Ich fann nicht fagen, dak ich von dem Fund übermäßig begeiftert war. Bor fünf Jahren Hatte ich mich ohne große Schmerzen von den weißarmigen Frauen und den männermordenden Helden getrennt. Die Homerleftüre war nicht beffer, nicht ſchlechter geweſen, alg der durchfchnittliche Schulunterricht überhaupt, und wenn aud) die berüchtigte Frage: „Segen welchen Paragraphen des „Kaegi“ verftößt hier Homer?” niemals gefallen mar, fo hatte unfer alter Lehrer doch die verrüdte bee, alle Mythen ala Naturborgange zu deuten. Und feit id) erfahren hatte, dak Leu— fothea „einerfeit3” die befonnte, ftille Wieeresoberfläche, „andererfeit3 aber auch” die Schaumfrone der fturmbemegten Woge fymbolifiere, war mir die Betanntichaft mit diefer Gottin verleidet. Aber mich dauerte das fchine Buch, das der Moraft bedrohte. So nahm ich e8 mit.

Meine Runde war zu Ende. Yoh kroch in meinen Unterftand. Nachdem id) mich vergewiffert hatte, daß meine Pritfde ein regelmäßiges Steigen des Waflers borausgefegt für die nächſten drei Stunden nod) zum Feftland gehören würde, begann ich zu blättern. Aber ad, mit meinen Vofabeltenntniffen fah es 568 aus. Fremd und feindlich grinften mid die Worte an. Mit nadter Seele, ohne den Schugwall eines Wörterbuches, an den Vater der Dichtfunft hevanzutreten, dazu war id) nicht geriiftet. Was tun? Im Nabbarunterftand haufte ein Theologe, der eine bemertenswerte Fähigkeit zum Schlafen hatte. Ein Fauftfchlag gegen die dünne Bretterwand. Hallo! Woher kommt ,plagdthe’? Bon drüben antivortete eine ihlaftrunfene Stimme: „von plazo, irre umber!” So geht das nod) ein paarmal Hin und Der: Fauftfchlag, Frage, Antwort. Beim zehnten Mal wurde er wütend: „Bit Du verrücdt geworden? Was macht Du denn da?” Fd leje Jlias! „Was?“ „Ilias!!“ Sept wird er wach. Die Pritfche knarrt. Ein Plantjchen und Gurgeln belehrt mich, daß er fic) aufgerafft hat und mir zuftrebt. Aus dem Duntel nähert fic) meiner Kerze ein ſchlammbeſchmiertes Gefiht. „Alias? Wo haft Du denn die her?” Gefunden. Aber und hier wird meine Stimme flaglid und reueboll (denn er war ein Mufterfchüler, ware er fonft Theologe?) aber id) fann die Vokabeln nicht mehr. „Ach, zeig mal her!” Na, fo ganz glatt gehts bei ihm aud nicht. Schließlich tommt ihm ein Gedanke: „Du, ſchlag mal ’ne Stelle auf, two fie fich ſchimpfen. Schimpfworte behält man von einer fremden Sprache am längjten.“ Diefe Piychologie leuchtet mir ein, denn meine italienischen Sprachtennt- niffe befdranten fd auf die Worte: „brutta beftia!” mei Nafen beugen fich ge- fpannt über das Buch. Er überfegt: „Befoffener, Hundsäugiger, Hirfchherziger, nicht wagſt Du Did zum Streite zu wappnen ... aber die ſchwererkämpfte Beute den andern entreißen, das verſtehſt Du!“ Jetzt wird'3 aber auch in meinem Hirnfaften Licht. „Du überfegt ja. Du mußt umbenten.” Und frifchiveg improvifiere ich die homerifden Berfe auf Feldgrau: „Was, Du miferables Etappenfchwein? In den Schübengraben trauft Du Dich nicht! Aber wenn man ntüde und berbredt heim fommt, dann madft Du Duartierftänfereien?”

Seit diefer Zeit hat mid) Homer nicht wieder losgelaffen und überallhin begleitet: in die Stellung, ing Rubequartier, zulegt in die Sriegsgefangenfchaft. Nur febr felten reichte die Zeit aus, um einen Gejang im Zufammenhang zu lejen. Meijt mußte ich mich damit begnügen, in einer furgen Atempaufe ein Gleichnis, einen Vers, ja oft nur ein Wort herauszupiden. Oftmals habe ich ihn benubt, wie die alten Mönche ihren Vergil, als Orakel. Buch auf, Zeile überflogen, bis ic) ein Wort, ein Bild fand, da3 meine Phantafie reiste. Das nahm id) dann mit und ließ es in mir wachfen und meiterflingen, bis es mir feinen Ginn, fein Geheinmis verriet. Für Philologenhirne ift dies Verfahren ficher ein Greuel. Mir hat es gute Dienjte geleiftet und half mir gutveilen, die Farblofigteit der herkömmlichen Weberjeger- ſchablone zu zerbrechen und die eigentüntliche Eindringlichkeit eines ſchmückenden Beitvortes, eines Bildes twiederzufinden, die das eigentlich fünftlerifche Element der homerifchen Dichtung ausmacht. Jn meinem Sriegstagebuch fteht unter manden Daten ganz verloren und einfam ein einziges homerifches Wort. Aber noch heute, 148

wenn ich darin blättere, taucht greifbar und plajtifd das Erlebnis bor mir auf, das fis E die Vokabel fnüpfte. Von einigem, was ich auf dieje Weife fand, will ich hier ichten.

„Rezenor”, ein häufig vorfommendes Beitvort des Achill: der Männerzer- brechende. Yn der Schule wurde das Wort gedeutet al der, welcher die Reihen der Kämpfenden durhbricht. Farblos und falſch. Noch heute fteht das Erlebnis, das mich die Bedeutung diefes Wortes Lehrte, klar bor mir: Wir heben in einer ftod- finfteren Nacht einen Sabelgraben aus. Bu meinen Füßen liegt mein Wolfshund, defien größtes Vergnügen der Rattenfang ift. Er fehnobert, [pringt auf, verfdwindet im Dunfel. Durd die lautlofe Stille dringt ploglid) das Duietfchen einer Ratte, ette Sefunde fpäter das Brechen ihrer Rippen unter dem tödlichen Big. Ganz un- gewollt formen meine Lippen lautnahahmend das Wort: „rerenor”. Man ver- größere das Bild: ein Löwe ftürzt fich plöglich auf ein Lamm. Unter der germal- menden Wucht feiner Kiefer berften die Knochen des Brujttafteng. Die Menfchen der honterifchen Zeit haben diefen Vorgang unendlich oft erlebt. AN ihr Wiffen um ihn birgt dtefes eine Wort: ¡ibermábtigen Anfprung des Raubtieres, wehrloſes ZBufammenbreden und Verrddeln des Opfers, triumphierend-dumpfes Gebrüll des Sieger8. Wird diefes Beiwort auf Achill angewandt, fo bedeutet eg alfo nicht ein Durdbreden der feindliden Schlachtordnung. Sagt das Lautbild „rerenor” etwas von Klappern, Stolpern, Auseinanderjtreben? Nein! ES ¡ft alfo wörtlich zu nehmen. Achill zerbricht die Männer, er zerdrüdt ihnen im Anfprung die Rippen. Als Laut- bild ift das Wort natürlich unüberfegbar, am nächften fame dem noch der Ausdrud: „der Würger“.

Ein anderes Beifpiel: ,,poifilometes”. „Buntfinnig”, was bedeutet bag? ES tft das Beiwort des Liigner3 Odyſſeus. Kinder formen mit einem Strohhalm Seifen- blafen. Die gligernde Kugel loft fid vom Halm, fteigt in den Sonnenglaft empor: ,Ppoitilometes”. Dies Wort umreift die ganze Kunſt der Lüge. Beim wirklichen Zügenkünftler loft fic) die Liige von ihrem Zived, der Taufdung des Mitmenfchen, 108 und gewinnt aus fich heraus Geftalt und Form. Nur der fchlechte Lügner litgt naturaliftifd, das Heißt mwirklichfeitsähnlich, der gute ftilifiert. Die meiften Men- chen find wahrhaftig, weil fie nicht lügen finnen. Ihre Tugend entfpringt ihrem Mangel an Bhantafie. Große Lügner find felten, nod) feltener find Dichter, die große Lügner geftalten können. Die eigentümliche innere Zeugungsfraft, die der Züge ein Eigenleben jenfeit3 de unmittelbaren Täuſchungszweckes verleiht, ift etwas Myſtiſches. Man follte einmal die großen Lügner der Weltliteratur nebeneinander ftellen. Mir find nur drei gegenwärtig: Odyſſeus, Falftaff, der Dorfrichter Adam. Es jtedt Größe darin, fünftlerifch zu lügen, wenn es um Kopf und Kragen geht. Es gibt ein Heldentum der Lüge. Adan will das Fehlen der Perüde erklären. Die Kage hat darin gejungt! Damit wäre der logifden Erklärung genug getan. Aber nun wird in Adam der Dichter wach, der fid an dem eigenen Hirngefpinft freut. Zahl und Farbe der Häkchen berichtet er: „Drei find ſchwarz und zwei find weiß. Die ſchwarzen will ich in der Vecht erfaufen. Was foll man mahen? Wollt Ihr eine haben?” Und nun vergleiche man den Gefang der Odyffee, wo der heimgefehrte Odyſſeus feine Schutzgöttin Athene belügt, die ihm als Hirtenfnabe entgegentritt: Er ift aus Kreta geflohen, weil er einen Mann erfchlagen hat. Aus den wenigen erfundenen Tatfachen baut er eine ganze Welt auf. Die Göttin gibt fic) zu erkennen. Biirnt fie dem Frechen? Keineswegs! Odyſſeus ift ungehalten, daß er fich fo ganz umjonft gequält hat! Da neigt fich die Göttin zu ihm, lächelnd, faft liebfojend: ¿Poitilometes!” Wer wollte das überfegen? Man müßte e3 mit einem ganzen Vers umfchreiben: „Arglift'ger Du, aus deffen find'gem Hirn die Lügen bunt mie Seifenblafen fteigen.” Und felbjt dann erfdeint es fad und Weitläufig gegenüber der wundervollen Gedrungenheit diefes einen Wortes, das die launifche Gejegmäßig- keit der Lüge fo plaftifch ausdrüdt.

Ein drittes: „nyr ambrofie.” Unfterbliche Naht. Warum ift die Nacht un-

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fterblih? Oder um diefe ſchon allzu enge Ueberfegung zu vermeiden, was hat die Nacht mit Ambrofia zu tun? Ambrofia ift die Speife der Götter, die Schönheit und Jugend verleiht. Jm germanifden Mythos fpielen die Aepfel der Gouna diefelbe Rolle. Schon der Duft, die Berührung mit der Götterfpeije ſchützt vor dem Zerfall. Hermes falbt die Leiche Heftors mit Ambrofia, um der Verivefung zu wehren. Wenn Homer die Nacht ambrofifd) nennt, fo handelt e3 fid) hier um ein Bild aus der Sphäre des Geruchsfinnes. Die hyazinthene Nacht haudt den Duft der Unfterblich- Feit aus. Ich habe folche Nächte erlebt. Man fteht auf Boften, ftarrt gefpannt mit weit aufgeriffenen Augen in das undurchdringlihe Dunkel, jeden Augenblid eines Veberfall3 gewartig. Und plöglich loft fich die Spannung. Die Nacht beginnt zu leuchten, zu duften. Sie ängftet nicht mehr, fie tröftet. Barmberzig bedt fie den allesverhüllenden Schleier über Freund und Feind, fie nimmt den Dingen das harte, allzuftarre. Selbft die fcharfe Kante des ftählernen Schubfchildes, das einzige, was fid) noch flar gegen den Himmel abhebt, erfcheint plöglich weich und verfließend. Unwilltürlich taftet die Hand nad) Stahlhelm und Seitengewehr. Man meint, fie müßten jeden Augenblid mit leifem Klirren vom Rorper abfallen, herabgeftreift von einer unfichtbaren Hand. Und nun wadft e8 aus dem Dunkel empor: Unendlich- feitsahnung, halb Sehnfucht noch, Halb [don Erfüllung. „Nyr ambrofie”! PeterRihardRohden.

Bürherbriefe

Bücher vom Orhicffal der deutfchen Muſik.

Vierter Brief.

es: geben mir im Falle Brudners recht: Sie haben anfcheinend felbit zu oft den Verfuch gemacht, der quälenden Langeweile diefer Symphonien feelifche Eindrüde in der Art der alten Mufit abzugewinnen. Weber die Entdedung einiger Anfage fcheinbar finer, wenn auch befannt Elingender Thematik werden Sie, genau fo wie ich, faum Hinausgelangt fein; und gegen das übrige Aufgebot an Slangfitlle und Reidjtunt der ordeftvalen Mittel werden Sie den inftinttiven Einwand nicht los geworden fein, daß es innerlich nicht berechtigt ift, da geiftig nichts da ift, was ‘mit diefen riefenhaften Mitteln aus der Hinterlaffenfdaft Beethovens ausgedrüdt werden könnte; während Sie fic) gegen die wiffenfdaftlide Art des Hörens, die nur der Fahmufifer wirklich aufbringen fann, in diefem Falle geivehrt haben, da die Pratenfionen des Mtufifers zu fehr nad) der anderen Richtung gingen. Gn andern Fällen, meinen Sie jedoch, fet diefe Art vielleicht berechtigt und die Erziehung des Konzertpublilums zu einer Art mufifwiffenfchaftlihen Seminars nicht bon ber Hand zu weifen; und Sie bedauern nur, daß es dafür bei Ihnen twahrjcheinlich zu {pat fei, da Sie nicht glauben, die technifch-wiffenfchaftliche Ausbildung ſich nod aneignen zu können, die nötig fei, um das eigentlich Wertvolle und Zufunftsvolle an den Werfen eines Strauß, Reger, Mahler, oder gar der neueften Expreffioniften zu verſtehen.

Nun leugne ich gewiß nicht, daß Neues and Bedeutendes aus dem heutigen Rin- gen um mufifalifdhe Form entjtehen könne. Ich wundere mich auch nicht, daß wefentlich der wiffenfdaftlide Verftand und das technifche Experiment an diefer Er- arbeitung des Neuen Anteil Haben foll: auch die gelehrte mittelalterliche Kontrapunktik war zunächit feine Kunft, fondern eine Wiſſenſchaft, und ift uns heute rein fünft- leriſch tot; wenn auc) Jahrhunderte fpater die Tondidtung Bachs und die nad folgende klaſſiſche Mufit auf ihr fich gründete und ihr dürres Gerüft in blühendes Aſtwerk wandelte. Sch verftehe es, wenn Bufoni in feinem „Entwurf einer neuen

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Aeſthetik der Tonkunft”*) fich beftrebt zeigt, über die bisher geltenden Gefege und „Sejeggeber” hinau3zugelangen, wenn er unfer beftehendes Tonfyftem erweitern und dem Schaffenden neue Möglichkeiten erfdlieBen will. Ich gebe fogar zu, daß das, was ihm als fchöner Zukunftstraum vorfchwebt, falla es realifiert wird, eher den Namen „Muſik“ verdienen mag, als was wir als Mufik zu bezeichnen gewohnt find: námlid ein Erflingen des bewußtlos Elementaren felbft, gleich der Mufit der Sphären, nicht die fymbolifde Verwendung von Klängen zur Bezeichnung geiftiger Zuftände; wenn auch die grotesfe Konfequenz dann faum aufgehalten werden fann, bor der Bufoni nicht zurüdichredt, dak an Stelle der menfchlich-befeelten Leiftung die wiſſenſchaftlich zuverläffige Arbeit des phyſikaliſchen Apparates tritt, der in dem „tranfzendentalen Tonerzeuger” des amerifanifden Mr. Cahill [hon Wirklichkeit ge- worden zu fein fcheint. Nur in einem muß id) Bujoni torrigieren; wenn er, als Gegenfag zu diefer ihm vorfchivebenden Muſik, den Begriff der Ton f u n ft als den der bisher geltenden Mufif formuliert. Denn nicht Ton tu n ft, fondern Tndihtung ift das, was wir bisher hatten, wenigftens foweit die deutfche Leiftung und das ift die Weltleiftung der legten Jahrhunderte in Betracht fommt. Der Jtaliener hat eine Ton tun ft befeffen zur Zeit der Blüte der alten Operntultur: plaftifche Kunft, Darftellung des Schönen im finnlic erfüllten Slang, nicht Mufit als eine Zeichen- fprache fiir eine überfinnliche Welt. Dies ward erft die Tondichtung der Deutfchen, die, im Gegenfa zur italienifden und jeder andern bisherigen Mtufif, in ihrer Voll- endung inftrumentale Sunft war, von jeder vofalen Beihilfe, und damit auch von jeder dichterifchen Beitimmung außer ihr, gelöft. Dafür war fie divefte dichterifche Aussprache in Tönen, Dichtung ftatt in Worten in Tönen, zu einer Beit, da die Wort- ſprache jenes höchften Ausdruds einer Weltdeutung und Weltanfdauung unfähig war. Das ijt es, was bis zu Schubert, wo diefe metaphyſiſche Tonfprae fogar volt3- mäßig und liedhaft wird, den Deutfchen heute noch zu diefer Mufit als zur reinften Offenbarung feines Wefens zieht: hier wurde nicht „reine” Mufit gemacht, nicht ein Element zum Ertlingen gebracht; fondern ein jenfeits aller Sunft liegendes Geifter- reich gewann aus einer pezififch deutfchen Not der Entividlung in Tönen und Ton- werfen Geftalt. Diefe Muſik war nicht das Produkt einer Zeit und einer Gefell- ſchaft, wie nod) die Rototomufit der Jtaliener und Franzofen, fondern fie ift in ge- wiffen Sinne zeitlos: der Troft und Halt, den jie fpendet, müßte fo ewig gelten, wie wenn ein beftimmter Menfchentypus fich für die Dauer feines Erdedafeing eine beftimmte Religion erjdafft. Kultifche Weihe und Feier müßte diefe Muſik um- geben, damit fie dauernd ihrem Volte das bleiben könnte, was fie, ein Wunder in der Unvolltommenbeit diefer Welt, ihm einft wurde.

Es ijt nun ein tragifcher Zmwiefpalt, wenn man Heute, angefichts eines neuen Werden, vor die Frage geftellt wird: ob man einer noch unbewieſenen Zufunftsmög- lichkeit zu Liebe diefes höchſte Gut aufgeben foll, das heute allein nod) unfer indivi- dualiſtiſch und intellettualiftifo) zerriffenes Volf, an Stelle von Philofophie und Re- ligion, im Geifte eint. Für den Aufnehmenden fann eigentlich die Wahl nicht zweifelhaft fein: er muß alles daran fegen, eine folche Meberlieferung möglichft rein und abgefchloffen fic) zu erhalten. Aber auch von fahmufitalifcher Seite fomımt ihm heute hie und da ein Beiftand. So ift Hans Pfibner in feinen Streitfchriften „Die neue Aefthetit der muſikaliſchen Impotenz“ und „Futuriftengefahr”**) mit der neueren Muſik fcharf ins Gericht gegangen, indem er ihre Prätenfionen, etivas der älteren Mufit Gleidchwertiges oder nur Vergleichbares zu leiften, welche die zeitge- nöffifche Kritik mit Babigteit feithält, energiſch zurückweiſt. Es ift bedeutungsvoll, wenn ein heutiger Somponijt feinen Zeit z und Fachgenoffen die Wahrheit entgegen- ruft, an der ich nie gezweifelt habe, die aber unfer bisheriger Mufifbetrieb mit be- táubendem Lärm zu übertönen fuchte: daß die alte Mufik tot fei, untvicderbringlid)

*) Inſelbücherei. **) Verlag der Sitbdeutiden Monatshefte, Münden,

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dahin; und daß fie nicht mehr fortgefeßt und meiterenttwidelt iverden tonne. „Muſik wird als Mufit nicht mehr gehört” damit fagt Pfigner dasfelbe, was ich mit den Worten ausdrüde: Mufit alg Tondidtung ift dahin. „ES bedeutet weder Fortſchritt nod) Riidfdritt, e ift ein Abfchneiden, ein Untergang, es find ziveierlei Dinge. Wo werden dann die Symphonien Beethovens nod). verjtändlich fein?” Diefe Klage Pfigners ift berechtigt: denn, wie ich (don am Falle Halm-Brudner zeigte: ftreben wir einer Zulunftsmufit nach, die vielleicht erft in ein paar Jahrhunderten fich er- füllen wird, jo müffen wir auf Mujit im bisherigen Sinne aud) als Aufnehmende verzichten; will unfer Hören den neuen Anforderungen genügen und an „reiner Form” oder „Ausdrud an fig” Gefallen finden, fo muß e3 der geiftig bedingten Form Mozarts und Beethovens fid) verſchließen bis der uns Laien zunächſt unfaßbare Buftand erreicht ift, den ein Halm ſchon verwirklicht, dak man die Klaſſiker nit nur meidet, fondern, mit verivandelten Sinnen zu ihnen guriidfehrend, fie fritifiert und fchulmeiftert, fie alg mindermwertig empfindet.

Fünfter Brief.

Ich muß Ihnen beipflichten, wenn Sie meine Darlegungen dahin ergänzen, dak [bon Richard Wagner der bewußten Abivendung von der eigentlichen deutfchen Tondichtung vorgenrbeitet habe, indem er die Klaffiter, insbefondere Beethoven, fait nur nod) alg Vorbereitung und Vorftufe für fein „Geſamtkunſtwerk“ gelten ließ. Gerade der Begriff eines Geſamtkunſtwerks zeigt, dak Wagner fchon felber nicht mehr im Befit der Mufit als Tondichtung ift, fondern der anderen Künfte bedarf, um bie Wirkung zu erreichen, die der älteren Tondidjtung als folder gelang. Die „Dich- tung”, die einer Mufit immanent war, befigt er losgelöft und für ſich alg Wortdich- tung, und macht nun zu diefer eine Muſik, die a priori nad) Umfang und Synbalt nicht mehr dasfelbe fein fann, wie die frühere abfolute Mufif, fondern notwendig zum Mittel, zur IMuftration und Dekoration, herabfinten muß.

Sie wundern fic), daß Pfigner*) in feiner Schrift dennoch Wagner zu den Großen zählt, zu denen, die auf der alten Tradition fugen, die er heute bedroht fieht. Aber Sie vergeffen, dak Pfisner felbft produzierender Mufifer ift, der, wie die meijten Heutigen, Wagner das Beite verdankt es hieße Hebermenfchliches verlangen, wollte man ihm zumuten, Wagner, und damit einen Teil feiner felbft preiszugeben, teil er fonft Kraft, Mut und Intellett genug zeigt, „dem Ende ins Auge zu fehen”. Er fragt zwar „Sit es jebt ſchon die Stunde?” und will fich, vor der eigen Nacht, nod einiger Sonnenblide des Tages freuen. Wer möchte ihm diefen Troft verübeln? Wer möchte ihm verdenten, dak er Wagners Muſik und aud feine Mufil noch zu den Sonnenbliden des Tages zählt? ch freilich bin, wie Sie wiffen, anderer Anficht. Aber diefe Abweichung in der prattifden Bewertung hindert micht nicht, das theore- tifch Richtige anzuerkennen, too ich es finde, und mich an das zu halten, was Pfignerd Schriften moralifch und geiftig über das Meijte erhebt, was fonft heute über Mufit gejchrieben wird: die ernfte Gorge um das Schidfal der deutjchen Muſik, die hier ficherlich nicht nur eine Sorge um das Schidfal der eignen Mufik ift. Dabei will ich gewiß nicht den Ton gut heißen, in dem Pfigner gegen feine literarifchen und muſika— lijchen Gegner loszieht, vor allem nicht die wenn auch begreifliche Beitbefan- genbeit, mit der er nationaliftifch-politifche Tendenzen und Raſſe-Inſtinkte für aus— reidend hält, um Probleme des deutjchen Geiftesleben3 zu lofen. Der Untergang der deutichen Mufit erklärt fid) nicht aus dem meinetwegen häßlichen Gebaren einiger projüdifcher Yournaliften oder aus einer angeblich in der Hauptfade „fremd⸗ ftammigen” Produktion die Urfachen liegen febr viel tiefer, und es hängt mit Irrtümern und Lücken der fonft fehr ernft zu nehmenden Pfignerfden Theorie der Mujitentwidlung zufammen, daß die innere Sonfequenz diefes Untergangs, der ſchon mit Wagner beginnt, nicht genügend hervortritt. So tommt e3, daß äußere

*) Die neue Aeftheti— der mufitalifchen Ympoteng. 152

Symptome, wie die genannten bon Pfigner fälfchlicherweife auch noch unter den politifchen Begriff der Revolution fubfumiert al3 Urfa Hen ftatt als Folgen gewertet werden.

Immerhin bin ich Ihnen über die Streitfrage „Nationale oder internationale Kunſt“, die gevade infolge der Pfignerjchen Schriften neu entbrannt ift, einige Auf- flarung ſchuldig. Ich muß geftehen, daß ich in allen den Büchern, die fid) mit diefem Problem befafjen, keine mir einleuchtende Löfung gefunden habe. Auger Pfigner bat fich Hauptfählih Paul Beker in feiner „Weltgeltung der deutfchen Mufit”,*) Karl Bleffinger in der „Ueberwindung der mufifalifchen Impotenz”,2) $. b. Waltershaufen in den Bänden über den Freiſchütz und das GSiegfriedsidyll in feiner „Mufitalifhen Stillehre in Einzeldarftellungen“?) damit befdaftigt. Was ich in diejen Darftellungen überall vermiffe, ift die Einfiht in das Einzigartige der deut- ſchen Mufifentwidlung, die nur im Zufammenhang mit der übrigen deutſchen Geiftes- geſchichte begriffen werden fann, nicht aber alg Mujit an fich, al3 eine von vornherein übernationale oder internationale Sprache. Muſik als Tonfprache ift in Deut {d= Land erwachſen und nirgends anderswo, und hatte hier ihre ganz beftimmten Ent- ftehungsurfachen, wie ich Ihnen im vorigen Briefe anzudeuten fuchte; vollfommen deutlich wird Ihnen das, twas ich meine, allerdings erft werden, wenn Sie den Ge- dantengang fennen, den ich in meinen „Blättern für deutfche Art und Kunſt“ darge- legt habe, und den ich, gerade in Hinficht auf die Mufit, demnächſt fortzufegen gedente. ES ift nun keineswegs der Fall, wie # B. Waltershaufen annimmt, dak der produf- tive Trieb unferes Volkes immer in allen Künften gleichzeitig lebte dies tann nur der Mufifer annehmen, der zwar auf feinem Fachgebiet felbftändig denkt, auf dem Gebiete der Literatur und bildenden Sunft ſich aber auf die dort gerade üblichen Anfichten und Wertungen ohne die Möglichkeit eigener Revifion angetwiefen fieht. Die Höhepunkte der Haffifchen Literatur und Mufit fallen nicht, wie Waltershaufen meint, „bis aufs fleinfte in einem Punkt zufammen“: weder hat Bad) ein zeitliches Analogon in irgend einer anderen Kunft, nod) Mozart, Glud oder Beethoven: mir tónnen das Erperimentieren der literarifchen ,Slaffiter”, das an der Hand der Antike um neue Stoffe und Formen fic) bemüht, und von dem als reine Dichtung vielleicht nur einige Lieder Goethes auszunehmen find, unmöglich mit der Größe und dem Reichtum der gleichzeitigen deutfchen Mufik vergleichen; ebenfowenig im Weltan- ſchaulichen, die vorwiegend fritifde Leiftung Kants. Erjt im neunzehnten Jahrhun⸗ dert wird das Denken ganz frei und wertfegend, und wagt zufammen mit der Dichtung den Schritt von der Weltdarjtellung und -Erflärung zu einer geiftigen Weltfchöpfung, in der die Tat Beethovens als Wort, Gedanke und Wertung iweiterlebt. Die Dich- tung hat aud) jett noch das Wort, wo die Tondichtung lángft verftummt ift; ja, diefe. mußte verftummen, feit Dichtung in höchjter Form wieder möglich war. Was aber geſchieht nun mit der Tonfprache der Mufit? Sie üt Deutfchen nicht mehr not we n- dig; fie zerfällt deshalb in ihre Clemente, wie bei Wagner, der, wefentlid) Dichter was fon Schopenhauer ertannte die Muſik entiveder alg orientalifches rein finn- liches Klangelement, das e8 im hriftlichen Kult bereits einft war, oder alg program- matifch-verftandesmäßige Ausmalung der dramatifchen Vorgänge verwendet. ES ift fehr unbillig, wie Waltershaufen es tut, heutigen Somponiften jüdifcher Herkunft die angeblich bei ihnen fonfervierte altjüdifche Pjalmenrhythmif nachzurechnen, wenn jeder einigermaßen inftinktfichere Deutfche, falls er von der Theorie und Perfon de3 großen Bayreuther zu abjtrahieren vermag, die fremde orientalifche Efftatit [dom bei Wagner empfindet, die wir in ihrer Herkunft näher zu fuchen haben als in jüdiſcher Haustradition; nämlich im chriftlich-afiatifhen Urfprung unfrer Mufit felbjt, deren Elemente eben jebt, nach dem Abjterben der Tondichtung, die fie zu einer

*) Berlin, Schufter Loeffler. ) Dr. Benno Fi Ye Verlag, Stuttgart. 3 Verlag Hugo Brudmann, Münden.

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Sprache vergeiftigt hatte, wieder zu Tage treten. Während aber ein dem Willen nad) fo deutfcher Künftler wie Wagner rein aus dem Verhängnis der Entwidlung, in der er fteht, höchft undeutfche Wirkungen auslöft und feine Nachfolger Muſik ganz und gar gu einem Nerven-Stimulang, zu einer finnlichen Wirkung niederer Art ausgebildet haben, mie nur der Orient fie fannte, und vor der der Grieche fich bereits mit Ge- fegen fhüßte; während andrerfeit8 der geiftige Beftandteil der älteren Tondichtung, das Sprachliche, zur verftandesmäßigen Profa der Programm-Mujiter, Symphonifer und Erperimentatoren ausgebildet wurde, welche wir ebenfalls nicht mehr als Aus- drud deuticher Seele, fondern al3 internationale Wiffenfchaft empfinden: ift in dem Geifte der älteren Mufif, vor allem Mozarts, noch hie und da ein Werk gejchaffen worden, außerhalb der deutjchen Grenzen, von Nichtdeutichen oder Halbdeutjden, welches ung „deutſcher“ anmutet als Alles, was feit Wagner im deutfchen „Reich“ geſchrieben wurde: ich dente an Verdis Falftaff; an Smetanas Vertaufte Braut; an frühe Werke des Halbitalieners Wolf-Ferrari. Wie ift Dies zu erflären? Ich glaube nicht, wie Waltershaufen, dak hier ein Befinnen auf die eigne Art, eine „Rückkehr zur Natur” des heimatlichen Landes, eine Art „Selbitbeftimmungsrecdht der Volter” verbunden mit einer Auflehnung gegen den Jmperialismus der deutfchen Muſik eingetreten ift: denn was den Böhmen Smetana und den Italiener Verdi hier eint und für Deutjche fo wertvoll macht, ift eben nicht der böhmifche oder italienische Cin- flag, der im übrigen Lebenswerk diejer Meijter viel ftárter ijt und dieſes deshalb ung ferner rüdt, fondern ihr Hinfinden zu der ehemals Deutfden Tradition der Tonfprad)e, das fid) im Mozartifchen Dialog, oder Menuett- und Fugenform auch äußerlich fundgibt, und diefe Werke von Schöpfungen uns fremder, wenn auch großer, romanifder Natur, mie Bizet3 Carmen, fo tief unterfcheidet. Allerdings ijt diefe Rückkehr zum älteren Deutfchen mit einer Abkehr von dem heuie als deutjch in „Welt- geltung” befindlichen Wagner verbunden; den mir aber, wie gefagt, gar nicht als deutfch im eigentlichen Sinne empfinden. Wir ſchließen aus diefen Tatfachen, dag das Deutfche in der Mufit allerdings etwas Uebernationales geworden ift, ein Meta- phyficum ewiger Art, dem nod) immer die Sehnfucht und der Geftaltungstrieb Ein- zelner nachfolgen fann: folcher, die Mufit alg geiftigen Ausdrud nod) notwendig haben. Solche Notwendigkeit mag bei Fremden, denen die urfpriinglide Schöpfer- traft deutfcher Sprache verfagt ift, aus der diefe Tonfprache ja jtanınıt, heute viel- leicht oft ftárter fein al8 bei Deutfchen felbjt, deren ganze Geiſtesentwicklung nad) einer Gejtaltung im Worte drängt. Und diefe Nachzügler des metaphufifchen Begriffes Deutſch wird man cher als ,Deutfde” in muficis bezeichnen und anerfennen dürfen, als die Komponiften nationaldeutjcher Gejinnung, die doch feinen deutſchen Seelen- ton mehr anzufchlagen vermögen. (ES geht hier wie mit anderen großen Formen, Die der Menfchengeift als vollendete Typen einer bejtimmten Art die Welt zu geftal- ten und anzuschauen, gefchaffen hat: wahre Klaſſik zum Beifpiel ift feit dem Unter- gang der alten Welt nt gewiffen deutfchen Exrjdeinungen leider vielleicht reiner geftaltet worden, als bei den direkten völfifchen Nachkommen der Griechen und Romer; ein Drama im Geijte Shatefpeares hat es nad) Shafefpeare nicht in Eng- land, wohl aber in Deutfchland gegeben; die nordifche Formenfprace der Gotik ijt gelegentlich über die Alpen getvandert, und ift dort, wenigftens eine Zeit lang, nicht weniger ernft und innig gefprochen worden, als bei uns und in Frankreich. Darum follen wir uns heute feine Sorge um das Schiefal der deutfchen Mufit machen: aud wenn fie nicht mehr in Bewegung und Entividlung ift, wird fie, tie jede große, zum Abſchluß gelangte, Kunft, Philofophie und Religion aus allen Völkern immer nod) Einzelne zu fic) befehren, denen fie gemäß ift, dak fie noch wahrhaft in ihrem Geifte fchaffen. Ob aber ihre zertrümmerte Form, die heute als zeitgenöffifche Muſik in Deutſchland gilt, das Spielmert nationaler oder internationaler Kreife ift, hat wenig zu bedeuten. Wohl wäre e3 ein wünfchenswerter Erfolg der oben genannten Streit- fohriften, daß, wie Pfigner fordert, die Geifter fich fcheiden. Aber gewiß nicht in bent äußerlichen Sinne: hie völfifche Gefinmung dort antidentfche, kommuniſtiſch-ſemi⸗

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tifche Internationale. Der Kampf um die Opernbühne mag zur Zeit zu diefer Partei- parole führen. ch aber febe über der Gejchäftsfehde, zu der diefer Parteitampf not- wendig entarten müßte, eine wichtigere Trennung fic) vorbereiten: die Trennung in eine Kunftgemeinde der Aufnehmenden, die das Heiligtum der älteren deutjchen Mufit hütet und ihr, durch Schaffung wahrer und reiner Stätten der Pflege, zu der zentrelen fultifchen Stellung verhilft, die ihr im deutfchen Geiftesleben zukommt, die fchöpferifche Nachfolge diefer Kunft aber der Wirkung felbft überläßt, ote von ihr ausgeht, und ihr nicht willtürlich nationale Schranken fest; auf der andern Seite eine Echar von gelehrten Erperimentatoren, die neue Klänge und Tonfyfteme zur Begründung einer künftigen Mufit erproben, die mit der früheren weder Form, noch Inhalt, nod) Wirkung gemein haben wird. Freilich wäre dafür, dak man diefe gue nädjft rein technifch-wiffenfchaftlichen und der Allgemeinheit ungugangliden Verfude, Die von der öffentlihen Pflege der kanoniſchen älteren Kunft durchaus zu trennen wären, freundfchaftlich duldet, Vorausfegung, daß diefe den Anfpruch aufgäben, Ddasjelbe zu fein tie die ältere Mufit und ihre weltanfchauliche Bedeutfamteit fid) anzumaßen. Wohl werden auch unfere und künftige Zeiten ihr Verhaltnis zum Ewigen in eigener, felbftgefdaffener Form ausdrüden. Dies ift aber nicht mehr móglid) in Mufit, feit diefe es aufgegeben hat, abfolute Tondichtung zu fein: Muſik wird wieder zu einer dienenden Kunft, wenn man till: zu einer 8 we d funft werden, wie fie e8 vor Bad) und das ganze Mittelalter hindurch gewefen ift; während das, was allen mittelalterlihen Künſten Seele gab, die mythifche Denk- und Dicht- fraft, nur furze Zeit als Tondichtung, eben in der Haffifchen Epoche, erfdjien, jest aber wieder in Wort und Bild zu geftalten ſich anhebt, und nun ihrerfeits der Mufit als einer Dienerin, nicht al der Herrin mehr, bedarf. - Ridhard Bens.

Lebenslaufe vor JOJ4.

an muß zwei Arten bon Kriegen unterfcheiden: die blog „politifchen” >< & Kriege, die von den Staatsmännern aus Berechnung „gemacht“ werden, um dies oder das zu „erreichen“, und die Kriege, die als Entjcheidungszeiten der innerjten Lebensnote der Völker gleichfam aus der Tiefe aufbrechen. Yn der erften Art Krieg fiegen oder unterliegen die einen und andern Staaten, worauf die Welt ungefähr ebenfo weitergeht wie zuvor. In der zweiten Art Krieg wird ein neues Zeitalter geboren. Bei der exften Art Krieg fann man Urheber und „Schuld“ fejtftellen. Bei der zweiten Art Krieg befinnt man fic) hinterher vergeblich auf den eigentlichen Urheber, feiner ift vollig fehuldig und feiner ift ohne „Schuld“. Kriege der erften Art find Handlungen menfhliher Willkür, Kriege der ziveiten Art find Schidfal. Jene können durch Vernunft und Organifation vermieden werden, diefe nicht.

Der „Weltkrieg“ war oder vielmehr da er ja noch immer, wenn auch durch den fünftlichen Nebel eines friedlofen Friedens verfchleiert, anhält it Schidfal und Entfcheidungszeit. Die Schuldfrage ift finnlos, fie wurde auch nicht aus fitt- lichen, fondern nur aus juriftifchen Gründen aufgerorfen: man fuchte eine Recht: fertigung für neue Gewalttaten. Sie wurde nicht nad) der Sache, fondern nad) dem Vorteil des Getwalthabers entfchieden. Nicht Sokrates, fondern der Sophift Thraſymachos jak im Gericht.*)

Daß der Weltkrieg ein Ausdrud der Zeitentwende it, geht uns auf, wenn tir in den Lebenszeugniffen der Jahrzehnte vor dem Kriege lefen. Das hat alles „einen andern Geift”. Wie harmlos und verjtindig werden die Probleme angefaft! Wie jelbitverftändlich läuft „die Entwidlung’. Wer fann heut noch den Entwidlungs-

*) Platon3 , Politeia”. 1. Bud): To tou freittonos sompheron was dem Madhtige- ren nüglich ericheint, das fet „gerecht“, behauptet der edle Frangofe von Athen bem Sokrates ins Gefidt.

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begriff der Vortrieg3zeit ernft nehmen? Er ift fragmentarifd und rätjelhaft ge- worden. Es Ht wieder Raum geworden für Kataftrophen und WApofalypfen. Das Entfegen der Welt und der „Zorn Gottes” ift nicht mehr nur ,primitive Religion”, über die man vom Ratheder aus Kluge pfychologifche Betrachtungen anftellt, fondern tft da wirklich und wahrhaftig da im mittäglich hellen Europa oon 1920. Wie ganz anders lefen, verjtehen und werten tir heut einen Luther oder Cftehart, den Parzival, das Nibelungenlied mit feiner ungeheuren Tragif. Wir entdeden im Neuen Teftament umbetannte Welten.

Das alles ift freilich nicht Durch den Krieg gefommen. Er ift felbft nur cin Teil der Wandlung. Es fing ſchon vordem an. Selbft das wiſſenſchaftliche An- ſchauungsbild vom Weltall änderte fich feit Jahren (Hörbigers Glagialtheorie!), in Dichtung und Kunft wühlte ein neues Weltgefühl. Die alte Zeit fonnte die Alter3= werfe eines Wilhelm Raabe nicht werten: Unrubige Gájte, Ym alten Eifen, Od- feld, Akten des Vogeljang3. Denn e8 waren Johannesworte einer fommenden Beit man las fie einfach nicht. Man wird fie bald lefen lernen und wird den großen alten Niederfachfen, den Gottfiindiger, nicht mehr in dem beiwußten Kapitel der Literaturgefchichte wohlwollend abjertigen.

&3 war ein Zufall, der mir die feelifche Wandlung natiirlid) auch meiner felbjt zu Bewußtfein brachte: ich lag in alten Briefen. Um dabintergufommen, fuchte ich mir aus den eingegangenen „Beſprechungsſtücken“ der legten beiden Jahre bie Lebenserinnerungsbücher vom berfloffenen Säfulum Heraus. Das waren freilich ganz unfyftematifche Griffe, aber e8 fam doc) einiges dabei zum Vorfchein. Laffen Sie mid Ihnen davon berichten.

Bei Weftermann in Braunfchweig hat die ziweiundachtzigjährige Emma Schu- mader eine Nacherzählung der Jugend ihres Vaters erjdeinen lafjen: , Leben, Lieben, Wandern vor Hundert Jahren”. (160 Seiten, gutes Papier, die fchlichten Beidhnungen von Anton Kling treffen den Charakter der Erzählung vorzüglich). Es wird vor allen die Lehr- und Gefellenzeit ihres Vaters in den zwanziger Jahren des Jahrhunderts gejhildert. ES ift das Bild der ins Sleinbürgerliche einge- brungenen Romantik, und es ift eine erftaunliche Seelentultur darin. Go war das Werktagsleben in unferm Volte vor der Indujtrialifierung! Wenn man das Bud) lieft, begreift man, warum die Menfchen heute e8 mit aller tednifden Vervoll- fommnung nicht fertig bringen, Biedermeiermöbel nachzumachen an jedem Schrank und Stuhl arbeitete die Seele mit. Der Gefelle machte „feinen“ Tifdh fertig, und feine Ehre forderte, dak er nicht früher aus der Arbeit ging, alg bis er fertig war. Zimmerte er einen Sarg, fo mußte er beim Leichenbegängnis mit- gehn, bis „fein“ Sarg unter der Erde war. Dann das Leben in Ahnungen und geiftigen Fermivirtungen! Das Horchen auf das „Schidjal”! Die Schulung des Handwerkers durch das Wandern trug ficherlich dazu bei, die Seele zu öffnen. Diefe feufche Lebensgeſchichte, die in einer ſchlichten, lauteren Sprache erzählt ijt, wird bon der neuen Jugend wieder innerlich verftanden werden. (Mur das abfjcheuliche Umfchlagbild von Tips wird fie nicht verftehn.)

Bon diefer feelifhen Kultur ift im Rleinbitrgertum manches lebendig bis nad) 1870. Die ausführliche Darjtellung einer Kleinftadt (Weffelburen) vor und nad 1870 gibt uns der Dithmarfcher Adolf Bartels in feinem ,Rinderland” (473 Seiten, Morig Diefteriveg, Frankfurt a. M.). Die Verhaltniffe find für ganz Norödeutfch- land in ihren Grundzügen erjtaunlich typifd. In den feften Ordnungen ift da ein großer Reichtum von „Liebhabereien” und von „Originalen“. Geftalten wie der Schloſſermeiſter Bartels und feine Frau haben Art und Seele. Weiter wird nun aber gefdildert, wie Handwerfertum und Landiwirtfchaft durch die wobhlgemeinte, „Kultur“ bringende Induſtrie innerlich verändert werden ein Kapitel wie das über die öftlichen Wanderarbeiter fann man nur mit Exfdiitterung lefen. Hier, fühlen wir, beginnt eine Zeit zu verfinten. Die Wertungen, die der Oberfchicht 156

längſt geläufig find, dringen zerjegend in das Stilleben ein. Adolf Bartels gibt ein umfafjendes Kulturbild, leider oft etivas breit. Es wird fleißig Strich neben Strich gefeßt, aber eben deshalb kommt fein folder Gefamteindrud heraus mie bei den „verdichteten” SindheitSerinnerungen Hebbels. Bartels ift nicht frei von dem berühmten fchlestwig-holfteinifhen Nationallafter der Eitelkeit, aber er weiß das felbft und verföhnt durd) Humor. Die Stärke des Buches ift die Treue, bie Gerechtig- feit und der Sinn für das Volkhafte in der Darftellung. Den Did ter, der ja aud in Bartels ftedt, darf man in diefem umfänglichen Bande nicht fuchen.

Eine Stufe „höher“, in ein Lübedifches Pfarrhaus führen uns Hermann Bouffets „Paftorenjungs”. (240 Seiten, Verlag der Jugendlefe, Berlin.) ES find Erinnerungen aus der Knabenzeit, und wir fehen die Welt aus der Perfpeftive des Kindes. Cin ftilles, gefundes Familienleben, die Beivegungen und Erregungen der großen Welt wirken faunt herein. Ein fröhliches, zuweilen auch wehmütiges Idyll. Dieje evangelifhen Paftorenhäufer find die beften Bewahrer ſowohl deutfder Ar— beitstüchtigteit wie deutfcher Seele. Das fpürt man aud) aus diefer freundlich be- {ceidenen Familiendronit. (Man follte einmal fejtftellen, welche Fülle von deutfcher Bildung aus dem Paftorenhaus fommt., Dabei dente ich nicht nur an die Paftoren- finder, fondern aud) an die Kinder, deren Ausbildung man fi) im Paftorenhaus hat angelegen fein Laffer.)

Wiederum eine Stufe „höher“, in ein Gutshaus des Ojten3 führt und Henny von Tempelhoff mit ihrer Familiengefhichte: „Mein Glüd im Haufe Ludendorff”. (240 Seiten, 5 Bilder, Auguft Scherl, Berlin). Um des Stoffes willen die Jugendentividliung de3 Generals Ludendorff, der von der Verfafferin, feiner Tante, erzogen wurde hat diefes Werk einen dauernden gefchichtlichen Wert. Aber die Erzählung erweift auch, daß Henny von Tempelhof eine tüchtige Schriftftellerin it; fie feffelt und erwärmt. Die unermüdliche Arbeit der Eltern, das faft harte Leben, das Ringen um die wirtfchaftlichen Grundlagen des Dafeing gibt den Unter- grund des Lebens. Die Formen und Wertungen des Lebens, durch welche die Lebensführung und die Laufbahn beftimmt werden, find Jahrhunderte alt und niemand rüttelt daran. Yeh wünfchte allen, die den „preußifchen Gunter” nur aus den Leitartifeln demofratifcher Zeitungen fennen, dah fie aus folch einem Buche das intime Leben diefer Kreife fennen lernten. Es ift eine untergehende Welt, die man nicht mit fo leichtem Herzen follte untergehen laffen; denn feht Eud den Erſa tz an, der fid) auf die Rittergüter hinflegelt, nachdem er das Gefchäft gemacht Hat! ‘Freilich, in diefer herben, willensſtarken und verftandestlaren Welt leuchtet das „Seelifche” weniger hervor als in der Welt der Kleinbürger und Pfarrer. Wo e3 einmal, jelten genug, herausbricht, da wird eS Heinrich von Kleift. Und e3 wird angefehn alg etiwas, das nicht fein follte.

Nun zwei Bücher, die bis dicht an den Krieg heranfiihren und, neben einander . gehalten, den ungeheuren Spalt empfinden lafjen, der fic) in unferm Volte aufgetan hatte. „Bürgermeiſter Möndeberg. Eine Auswahl feiner Briefe und Aufzeichnungen, herausgegeben von Carl Möndeberg.” 290 Seiten, Deutſche Verlagsanftalt, Stutt- gart) zeigt uns in feinen Stärken und Schwächen den geiftigen Zuftand der regie- renden Streije Deutjchlands in der „Olanzzeit des neuen Reiches”. Möndeberg war ficherlich einer der würdigſten Vertreter diefer Kreife. Nicht ohne Grund fchähte Bismard ihn, ehrte der Kaifer ihn. Eine fluge Befonnenbeit des Urteils, eine lebhafte Teilnahme an den geiftigen Bewegungen der Zeit, der Wille, andern gerecht zu werden, Pflichtgefühl, Formgefühl, Verwaltungstüchtigfeit, eine durch Liebens- wiirdigteit gemilderte norddeutfche Zurüdhaltung all das macht diefen hambur— gifchen Bürgermeifter zu einem Menfchen, der uns unwillkürlich Achtung abnótigt. Aber zugleich: dieje Briefe lefen fich auffallend glatt und raſch. Nirgends eine auf- gerviiblte Tiefe. Das Wort, das am häufigften zu Werturteilen gebraucht wird, ijt: „intereffant“. Und oft genug heißt es auc: „amüfant“, als Š ob gemeint! Ueber

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den Hafenarbeiterjtreit von 1896/97 werden einige Kluge Worte gejagt, die bon Wohl- wollen zeugen, aber von unmittelbarer Erregung durch die Probleme ift nichts zu fpüren. Der Gefamteindrud des Buches ift: glangvolle Repráfentation auf der Grundlage ftraffer, wohl ertwogener Arbeit.

Wie anders in den „Tiefen“ die Menfchen, auf deren förperlicher Arbeit jene Welt der Zivilifation ruht! Karl Bröger, einer der „Arbeiterdichter”, hat unter dem Titel „Der Held im Schatten” fein eigenes Werden befchrieben, freilich ohne Namen und Daten. (205 Seiten. Eugen Diederids, Jena.) Das Buch gibt nidt nur einfach die Darftellung des Wirklichen, fondern der Stoff ift mit ftarfer künſtleriſcher Kraft geftaltet. Aber man merkt heraus, wie alles Wirklichkeit iſt, man erfennt Nürnberg und die ganze Atmofphare. Es läßt nicht los, man lieft e8 in einem Zuge. Der Eindrud diefes Lebensbildes ift von geivaltiger Wucht. Die ganze troftlofe Ver- lafjenheit des Kindes, die Entfaltung des Intellekts als Waffe gegen die feindliche Welt, gwifden den Schutthügeln des Spiclplages, der Kampf mit dem Leben, der Weg durchs Gefängnis, das Zähneknirſchen, die verzweifelte Nacht auf den Wallen fo wächſt auf fteinigem Boden die Diftel und blüht, bat wundervolle Blätter und blüht mit einer Blüte, auf der die Bienen und Falter fich niederfenfen. Das Bud endet mit dem rollenden Donner des hereindrechenden Weltkrieges. Sole Männer zogen in den Krieg habt ihr fie verjtanden? Steiner wird in Zukunft unfer Volt führen können, der fold) ein Leben nicht innerlich begreift und mit Liebe umfängt. So weh und fdaurig und ums Herz wird, der Stolz auf diejes deutfde Leben, das auch in folcden Formen aus der Tiefe empordringt und nicht umgubringen ift, erfaßt und verpflichtet den, der das Buch recht lieſt.

Wenn wir uns nun eine fo verfdiedene Fülle von Lebenslaufen nebeneinander vorftellen, fo haben fie bis auf den erften alle dies gemeinfam: Gott als unmittelbare Schiefalgmacht fpielt feine Rolle darin. Gottesdienft ift entiveder eine der felditverftändlichen Lebensformen, an denen zu rütteln nicht gut ift, oder er ift überhaupt nicht da. Des Menſchen Leben beruht innerhalb der vorhandenen ſoziologiſchen Umwelt auf feinem eigenen Willen. Ganz anders üt das Lebensgefühl, wenn wir Lebensbefchreibungen aus der Reformation3zeit lefen. Da tft es immer ivgendwie auch Sottgefühl. Jn den Aufzeichnungen der Emma Schumacher ift nod etwas bon der Rátfelbaftigteit des irdifchen Dafeing lebendig. Deshalb Klingen hier Töne an, die uns Zutiinftige ergreifen. Und wiederum ein zweites haben alle dieje Lebensläufe bis auf den legten gemeinfam: die Selbjtwerjtändlichkeit und Weberfichtlichleit der Verhältniffe, in denen man fich fortbemegt. Alle diefe Menfchen haben eine „Laufbahn“, für die fie fic) „entſcheiden“. Es gibt wohl Müh— feligfeiten und Hemmniſſe, dod) man kann fie „überwinden“. Karl Brögers Welt aber ift ſchon eine andere: Da ift feine „Laufbahn“, fondern nur eine feindliche Umwelt, mit der man den Kampf aufnehmen muß, wenn man nicht ins Animalifche verfinfen will ein Kampf mit dem Zufall, dem Chaos, dem unberedenbaren Schickſal!

Eine Syntheſe des Lebensgefühls jenes Tiſchlergeſellen aus dem Zeitalter der Romantik und des Arbeiterjungen aus dem induſtriellen Zeitalter iſt das möglich? Schickſalsgefühl und Schickſalstrotz, Gott und Ich, Kampf mit den Dingen im Gefühl deſſen, was hinter und über den Dingen iſt! Die Dämonie des Lebens kommt uns wieder zu Bewußtſein. Das Neue hätte nicht werden können, es wäre erſtickt in der Klugheit des „geſicherten Lebens“, eine Kataftrophe mußte Raum ſchaffen. Wir erivachen zum Leben mit einem fchmerzlichen Gefühl und danfen Gott, dak er unë erfchienen ift in dem heulenden Sturm der Vernichtung. St.

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leine Beiträge

Der Dom.

or wenigen Tagen ſaß id) wieder einmal voll begliidter Andacht in der Lorengertirde

zu Nürnberg. Rein und ftart ftiegen die Schäfte der Säulen auf zum reichen Ge- wölbe, das fich über uns liebend fand, [ón wie der Himmel Gottes. Tiefrot und golden flutete Sonnenlicht durd) die Fenfter ins heilige Dämmern der Halle. Um das Maßwerk ſchlängen fid Spiel von Geige und Flöte, fern überdröhnt bom Ueberſchwang der ſchwin— genden Gloden. Und das Herz bebte befreit und gereinigt in feliger Hingabe.

(3 gab eine Beit, und in vielen Köpfen hauft diefe Zeit nod, da fprad) man bom poesias Weittelalter, von diejer wi voll Unwiffenheit und Barbarei. Und man fühlte ich ftolz als aufgetlarter und ziviltjierter Denfd der Gegenwart. Wie anders empfinden wir dod heute! Che ich nad) Nürnberg fam, IR id) das Spiel eines Dichter unferer Tage. Dem war der gotifhe Dom zum Sinnbild, mehr, zur Erſcheinung Gottes geworden. Da gen Säulen und Fenfter, Orgel und Gloden und ewiges Licht zu fingen an, und ihr

ejang jhwillt auf zu einer anbetenden Offenbarung des göttlichen Lebens.

Iſt das Romantik, ift e3 ſchwärmende, rüdmwärtsgewandte Stimmung? Yd glaube nidt. Für Schwarm und Traum ijt unfere Gegenwart zu hart; zu fdwer, zu unerbittlid) tft die Probe auf Bewährung in der Tat. Nicht Anempfindung, nicht Nahahmung ber- gangener Form de3 Lebens tft diefe Andacht. Unertráglid erfdeint uns heute der Ver: uch der vorhergehenden Generation, gotijc zu bauen. Alles Leben ift einmalig, und feine

iederholung Ë ner Formen holt es zurüd.

Was ift e3, das den Dom mit bidet Gewalt zu uns reden läßt? C8 ift die tiefe Ahnung, dak da fihtbar bor uns pas was uns am meijten fehlt, daß fic) in ihm ein Leben, ein Denkmal ſchuf, das wir hungernd entbehren und das wir heute ganz neu, ganz aus unferer Zeit heraus finden müffen, foll ung aus dem dieſer Zeit ein neues Werden tommen. Es ift das Denkmal einer wundervollen Einheit und Ganzheit des Xebens, es ift diefer Einklang von Schaffen und Sein, der und ergreift. Bom Raben Blan biz zum geringften Ding herrſcht eine Bildung, die fic fo o ganz notwendig offenbart wie das Wachstum der Bäume, wie das Blühen von Blume und Strauch. Da ſteht vor uns eine neue Schöpfung, Natur gewordene Geiſtigkeit und zeugt von Gefdledtern, die hinausgehoben waren in eine höhere, ihnen allen gemeinfame, fie alle durchdringende, fie geftaltende Wirklichkeit. Und wir fühlen: fo vollbringt fic) Freiheit in der Geldichte, fo baut fie ne Haus in die Wirklichkeit hinein, fo erlöft Fic das Leben in einer ng gee der Wahrheit zur Form dez Dafein3, wir fühlen es voll Schmerz in diefer gett id) die Zerjegung aller Form vollendet, da alle aus der Gemeinſchaft wach⸗ ende Bildung ſchwand, da die Reſte all deſſen, was uns band und uns gemeinſam war als

laube, Recht, Sitte, als Heiligtum, zerfallen, in dieſer Beit, da im Namen der Freiheit alle wahre Freiheit getilgt wird, da Bedeutung und Wert des Lebens dem Willtiiranfprud de3 Einzelnen und fines Einzelglüds erliegt.

Wir erleben im Dom: da ift Freiheit, wo wir gelten durch den gemeinfamen Wert, der in und wird und durch ung erfdeint; da ift Befreiung, wo die überperfönliche Wahrheit ung findet und ergreift, wo wir Organ werden eines Wefens, das in uns zu [einer Wirk- lichkeit fic) bildet, o daß es zur Erfheinung fommt in allen Aeugerungen unferes Lebens, in jeder Gebarde, in Gerät und Bau, in Recht und Staat. Da, wo nun nicht mehr wir leben, wo „ES“ in ung lebt, da erft leben wir in Wahrheit und gewinnen Sinn, Glanz und Würde des Dafeins. So bon oben gebunden und dadurch geeint, finden wir die Fret heit. Sole Bindung it Religion. Sie begreifen wir wieder als Quell aller Geftaltung und aller Empfindung des Lebens. Religion tann man nicht haben wie irgend cin anderes Gut. Religion ijt nicht die Befriedigung irgend welder befonderen Bedürfniffe unferes Ich. Sur Religion gibt e8 nur ein Verhältnis: unfer Sein. Religion ift die alleinige Möglichkeit des Lebens.

Erit da, wo wir gelebt werden, leben tir. Das ift ein Widerfpruch und dod) ganz tabr. Glück der Erdenkinder iſt doch die Perſönlichkeit; dies Goethewort wird nie Erfüllung werden dem, der Perſönlichkeit werden will. Das gerade ift ja das Geheimnis der echten, begludenden und beglüdten Perfonlidfeit, daß fie nichts mehr fein will, daß fie gar feinen Anjpruch erhebt, daß ihr „Ich“ aufgehoben ift im Sein. Bor der Erfüllung diejes Glitdes fteht das andere Goethewort, das „Stirb und Werde“. Nicht mer da ftirbt, um zu werden, gewinnt, fondern wer da —— ganz und bedingungs- 108 fic bingibt. Die Auferjt do ng aber ift Gottes Lat.

Spürt Ihr das Leben des Doms? Steigen die Säulen nicht auf in befreiendem Schmerz, emporgetrieben auf dem Grundriß des Kreuzes? Wo du auch ftehen magft, dein

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Blid findet hin zu dem wahrhaft Lebendigen, der darum am Kreuze hängt. In feliger oo eet lächelt die Mutter Gottes mit ſchmerzgeneigtem Haupt über dem Leben in ihrem Schoß. Nur die ganze Tiefe des Todesleids treibt den Bau hoch und höher ins reine Licht des verklärten Einsſeins. Wir werden heute in tiefſtes Leid geführt, Wird es uns drängen, aufzufteigen und uns zu finden in höchſter, liebender Einung? Werden wir ihn wieder Bauen, den Dom? Karl Bernhard Ritter.

Die deutiche Zukunft.

CG gibt in Deutſchland heute nur eine einzige politifche Tatſache, die man kupas fann, * daß ſie bon irgend jemand beftritten wiirde, nämlich diefe: es fehlt dem deutihen Y oltan einer einheitliden politifden Führung, Man fage ſonſt, was man wolle, dies ift in der Zat das einzige Urteil, in dem fih alle ¿ujammenfinden. Alfo ift e3 der einzig mögliche Ausgangspunkt aller grundfäglichen politifhen Ueberlegung.

Der Mangel an einheitliher Führung fann nur zwei Urfaden haben. Entweder: es find feine überragenden Führer da, die alles Volk in ihrer Gefolgfdhaft fammeln können, oder: der BZuftand des deutjchen Volkes ift fo, daß keine einheitlihe Führung möglich ift, Da wenn die genialfte Führerperfönlichkeit unter ung wäre und fid die größte

übe gäbe

Die Frage, ob wirklich bedeutende Führerperfünlichkeiten in unferm Volte da find oder nicht, tann nicht Gegenftand einer Erörterung fein. Man fann fie mit Gründen bes jaben und mit Gründen verneinen. Welchen Gründen der höhere Wert gufommt, das läßt fic) nicht wiederum mit Gründen beweifen, e8 wird je naddem durd das Gefühl des Urteilenden entjchieden. Dagegen läßt es ſich durd die Tatjaden beweiſen, dak das deutſche Volt heute in einer geiftigen Verfaffung ift, die ein geſchloſſenes, a is Ge⸗ —— und alſo einen Führer unmöglich macht. Nämlich:

Setzen wir den Fall, daß ein Führer aufſtünde, der ſich in den Dienſt des großdeutſchen nationalen Gedankens ftellte. Wollte er eine tattráftige, vorwärts drängende Politik treiben, fo müßte er fih auf die Barteien ftügen, in denen das „nationale Empfinden” befonders [ebenbig ift. Sofort würde er das Miftrauen der Linksparteien wachrufen, fie titrden ihn mit all den Mitteln, die das „demokratifche Syſtem“ an die Hand gibt, un- möglich maden. Oder fegen wir den Fall, daß ein Führer aufftünde, der fi in den Dienft des fommuniftifchen Gedankens ftellte. Er müßte ſich auf die Parteien ftügen, in denen der kommuniſtiſche Wille lebendia ift. Sofort würde er das Miftrauen der Rechts- und Mittelparteien wachrufen, fie würden ihn mit allen Mitteln, die das „demokratiſche Spítem” an bie pon gibt, unmöglich maden. Oder laffen wir den Führer fih in den Dni dez Sozialismus, des Pagifismus oder welder politifhen dee man till, ftellen, es ſich mit litancimábiger Gleidhformigteit immer diejelbe Folge daran tniipfen: Alfo: ee {hledterdings feine einzige politifhe ‘dee, mit der fich ein Fuhrer im beutióen olte durchfegen könnte. Immer jteht ihm ein Zeil des Volte3 mit Miftrauen entgegen. Und immer ift der Teil, wenn auch nicht eet genug, fic) felbft durchzuſetzen, fo dod) ftart genug, den andern zu hindern, daß er ſich durchſetze

Bleibt d en Könnte fich nicht ein Führer rein als verſönlichkeit obne poritijäe dee durdhfeben? Aber irgend eine bee muß jeder politifche as ie aben, und wenn e3 auch nur, wie bei Napoleon, die Ydee der eigenen unum—

rántten Herrfhaft und der Gloire ift. Auch wer mit gefhmeidigem Opportunismus an die Spite gelangt, muß, wenn er das deutſche Volt zu einem gefchloffenen politifchen Willen zufammenfaffen will, fich fchließlich für irgend eine dee, fitr irgend ein Biel ent- Ineten; denn jeder Wille muß etwas wollen. Sobald er aber etwas will, hat er das iBtrauen —— welcher Parteigruppen gegen ſich, die ſtark genug ſind, ihn mit allen die das „demokratiſche Syſtem“ uſw. die politiſche Litanei der deutſchen epubli

Iſt auf demokratiſchem Wege keine einheitliche Führung möglich, ſo vielleicht dod) auf Diftatorifdem Wege? Das heißt: der Führer verzichtet darauf, das ganze Bolt zu einen einheitlihen Willen zufammenzufaflen, er ftügt fich nur auf einen Teil des Volkes, und diefer Teil legt dem andern feinen Willen mit Gewalt auf. Welde Folgen würben dann eintreten

Ein Diktator fann ſich niemals auf demofratifche Parteien ftiigen, er muß alfo eu weder „radikal rechts“ oder ,,radifal links” fein oder tenigitens fid) gebärden. Mag perfonlid) in Kopf und Herz. no) fo vernünftig fein, er wird in der Oeffentlidteit ets entiveder al3 ,Reaftionár” oder al3 „Kommunijt“ gelten. Und nun muß die Tatfade ans erfannt werden: allein aus ben deutiden Verhaltniffen heraus, ohne auslandifde Hilfe, hat weder ein Reattionár, nod) ein Sommunift die —— eine Diktatur aufzurichten. Die politijde Propaganda läßt freilich, je nachdem, die „Orgeſch“ oder die „rote Armee”, die reaftionare oder die kommuniſtiſche Diktatur zur ¿uedmáfigen Beán gſtigung der Wählerfeelen in bengalifdher Beleuchtung erfcheinen. Aber die „Orgeſch“ ít zweifellos

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viel zu brav für tieren. Irgend ein paar fometenhafte Offiziere werden keinen genügenden Anhang finden, um das ftaatlide Planetenfyjtem ins Chaos zu ftürzen, man rede fid) doch nichts vor! Die Kommuniften werden aus eigner Kraft immer nur erfolglofe Putfche machen können, die gwar Menjchenblut foften und Sachſchaden ane richten, aber niemals gu einer Diktatur führen. Segen wir gleihtwohl einmal den Fall, daß es durch irgend einen Zufall glüdte, eine Diktatur aufzurihten würde fie fid balten können? Wenn der Diktator al3 reaftionar gilt b wird fofort der General⸗ ſtreik einfegen fiebe Kapp-Putih. Schon müßte der Machthaber vom Schauplak ab- treten. Wenn der Diktator aber als fommuniftijd gilt, fo wird er an dem zähen Wider- jtand des Bauern- und Bürgertums fdeitern. Der wirkt nicht fo auf die Minute mie der Generalftreit, aber er wirkt auf die Dauer faft noch fiherer. Die Novemberrevolution hat fi ja aud in diefem Widerftand feftgefahren. Der Terror würde wenig dagegen helfen, weil der deutfche Volkscharakter erheblich anders reagiert alg der ruffifde fiehe Münden. Alfo: Generalftreit auf der einen, paffive Refifteng auf der andern Seite maden eine erfolgreiche Diktatur unmöglich.

Schlußfolgerung: weder durd) Demotratie, nod) durch Diktatur ift eine Erlöfung unferes Volkes aus feiner Willenszerfpaltung und alfo Willenslähmung moglidh. Es üt auf keine Weife eine einheitlihe Führung denkbar. Iſt alfo das deutfche Volk fortan politifd nichts anderes als eine Beute feiner Nachbarn?

Es gibt nun zwei unpolitifd e Wege, auf denen man die zukünftige Freiheit und Einheit des deutfhen Volte3 zu erreichen hofft.

, Eritens: Sehr einflugreide Männer in Deutfdland ftellen fid) die fommende Ent- widlung etwa fo vor: Wir deutfches Volt bilden als Ganges eine große und hochwertige Arbeitskraft. an fann fie im Welthaushalt nicht miffen. Sorgen wir alfo für ruhige und ſtetige produktive Arbeit. Gn politiſchen Dingen üben wir paſſive Refifteng.

ögen die Gegner mit uns maden, was fie wollen, wir arbeiten und fie würden gue gem geben ohne unjre Arbeit. Ye unentbehrliher den andern unfre Wirtfhafts-

raft ijt, umjo abbangiger find fie in ihrem Beftehen von uns. Ym Laufe der Entivid- lung wird unfre politijhe Abhangigkeit von den Feinden aufgeivogen werden können durch die wirtfhaftlihe Abhangigkeit der Feinde van uns. Jn diefem Gedantengang ftedt derjelbe Yrrtum wie in allen nurswirtichaftlichen Gedantengangen (a. YB. aud im Margismus): Was hilft uns die wirtidhaftlide Macht, wenn wir nicht den Willen haben, fie politifch auszunugen? Was nützt dem Ben, reihen Indien die wirtſchaftliche Abhängigkeit der Englander von ihm Yndien Bat ja nicht den politifhen Willen, diefe Madt geltend zu maden! E3 müßte alfo in Deutfhland ein Wille entftehen, die künftige wirtjchaftlihe Macht in politifche Erfolge umzufegen. Und diefer Wille muß ein Gefamtwille fein unter einheitlicher Führung. Und damit ftehen wir in dem Elend, das wir oben behandelten, und können die Litanei wiederholen.

Zweitens: Weniger einflugreide, aber fehr idealiftifde Männer in Deutfchland fuchen folgenden Ausweg aus der verzweifelten Lage: wir miiffen das deutfche Volk zu einem einbeitliden Willen und alfo zur Führungsfähigkeit erziehen! Sie fchlagen Fichtes Reden an die deutfche Nation auf und predigen die Erlöfung des deutfchen Volkes durch —— (Nein, verehrter Lefer, es iſt ein Irrtum, daß ich das tue; es glauben nur andre Leute, id) tate es.) Erziehung ift eine ſehr ernſthafte und notwendige Sade. Volkserziehung kann ſicherlich vieles erreichen, aber nie kann fie ein Volt von feiner eingeborenen jhlimmen Wefensart exlófen. Machen wir uns dod) nicht vor, dak wir diefen verfludten (und doch wieder fo liebenswerten) Haufen von deutſchen Eigenbrödlern, Redhthabern, Didköpfen durd) Erziehung verändern werden. Wir werden die Eigenbrödelet fublimieren und dann ift fie noch gefährlicher. Gewiß, wir fonnen und wollen durd ——— gewiſſe Vorbedingungen für einen einheitlichen Volkswillen ſchaffen, dadurch, daß wir das Gefühl für die eigene oas Art ftárten; aber bie un- geheure politifhe und mwirtichaftliche Kun in unjerm Volte fonnen wir nidt durd Er-

tehurg „überbrüden“, das grenzenlofe Miktrauen können wir nicht durd) Erziehung in

ertrauen verwandeln. Es gelingt nur in Einzelfällen. Eine allgemeine Erlófung aus dem politifden Elend pflegt davon nur der zu erhoffen, der nicht unmittelbar im Bolte lebt. Bei vielen Sybealilten ift die Flucht ins Pädagogische nur Schwäche.

Alfo ift die Zukunft troftlos, hoffnungslos? Wir haben zwar zwei Aftiva: zunehmende wirtfhaftlidhe Kraft durd Arbeit aqa feelifde Kraft durd Er— stehbung. Aber ein —I politiſcher Volkswille und alſo die Möglichkeit einer einheitlichen politiſchen Führung iſt damit nicht gegeben.

Ueberblicken wir die Geſchichte unſres deutſchen Volkes. Der Deutſche kommt zu einem politiſchen Geſamtwillen immer nur durch äußere Not. Der Wille zu den Frei— heitskriegen wurde erſt aus der handgreiflichen, forperliden Not geboren. Wir werden eine einheitliche außenpolitiſche Führung erft dann wieder haben, wenn uns die unmittel- bare, perfönliche Not gefügig madt und nad Befreiung ſchreien läßt, ohne Rüdficht

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auf Parteiprogramme und Spegialredjthabereien. Dieje Not fann auf zivei Wegen nad Deutichland gelangen:

Entweder fommt fie vom Weften her über den Rhein. Die franzöfifchen Regimenter befegen Stadt um Stadt, womöglich bis zur Elbe, womöglich Berlin. Dann erjt wird das Elend und die Wut fo ungeheuer, daß fic) daraus eine zielllare Außenpolitit ergeben kann. Alsbald wiirde die franzöfiiche Schlange von dem allzu großen Biſſen plagen. Oder aber die Not tommt von Ojten: bolſchewikiſche Erfolge gegen Polen laffen einen Kommuniiten- putfh in Deutfchland gelingen. Der dann notivendig werdende fommuniftifche Terror würde über furz oder lang das deutiche Volt bis aufs Blut empóren und eine einheitliche Stimmung erzeugen, die fidy aud) außenpolitifch geltend maden würde.

So kommen inte AR dem tragifhen Schluß: eine friedlihe, ruhige Ent- widlung bedeutet das Ende der deutfhen Freiheit und damit den Untergang unfres politifhen Dafeins Wir würden eine Sflaven- tolonie wie Aegypten und Yndien. Um unfres politifchen Lebens willen, um der Freiheit unfrer Kinder und Entel willen müffen wir die äußerjte Not auf uns zu nehmen wünſchen.

Machen können wir die Not nicht; denn mir können nicht bejtimmen, daß die Franzofen Berlin befegen oder dak die Bolfdewifen gegen Polen ziehen follen. Wer wollte aud) die Verantwortung auf fic nehmen, bewußt die Franzofennot oder bie Boljhewitennot heraufzuführen? Kein Menſch, der bei fich jelbit ift, wagt Scidfal zu fpielen. Das Schidfal tann man nur erwarten.

Ju unfrer Ma ht fteht nur Arbeit und Erziehung, fonft nichts. Gott helfe uns. St.

Raijer Künſtler Dieb. Ein Nahmort poft feftum.

SH: Münchener Prozeß gegen den Dichter Georg Kaifer ift nunmehr aus bem engen Bezirk der „Aktualität” gerüdt, fodaß ein ruhiges Urteil wohl möglich fein wird. Faſt möchte es jdeinen, als ware ein fold) nachträgliches Endurteil überhaupt über- füffe: Aber e3 ift hier wie heute allerorten: die ſchwiegen betlommen, _die

affe Publitum jubelte der Senfation Beifall zu, der Richter fprad ernithaft, aber abjtraft, das Urteil fiel zur Zufriedenheit beider Parteien aus, b. D. unklar und infofern ungerecht, und heute erheben fid) fon natürlich im redefreien Berlin Stimmen des Wiitleidg mit dem duldenden, halb und halb Freigefprocdhenen.

Da fceint es denn dod) an der Zeit, auch einmal aus denjenigen Streifen, denen fid der Dichter fo überlegen ftolz zurechnete, ein Wortden zu hören. Und nn Wörtchen fann nur lauten: „Er war und ift nicht unfer.” Sind denn die Juriftentreife jo von Gott und aller Welt, fo von jeder ihnen mühfam auf den glatten Banten der Gpymnafien eingepautten Literaturgefchichte verlaffen, daß fe verftummen, wenn einer, der fid) ftolz als „Dichter“ bekennt, ihnen das Dogma von der Unfeblbarteit des Künftlers chlechtweg ins Gericht f&hleudert? Hat man ihnen (wehe ihren ,Lebrern”) eine fold ámmerlid) geringe Meinung von der fittlihen Größe unferer Nationaldidter beigebragt, e3 ihnen nicht auf der Zunge brennt, dem zeitgenöflifchen —— Worten der Verachtung und Entrüftung flarzumadhen, daß zwiſchen ihm und jenen Männern keinerlei Gemeinschaft, nicht im Menſchlichen und nicht im Ritnftlerifden, fei? Waren fie denn tirtlid im Untlaren darüber, ob nicht Goethe, Schiller, Hebbel doc) vielleiht aud

eich Herrn Kaiſer anvertrautes Gut Ra eat Hat Bürger nicht gehungert?

cunt Herr Raifer vielleiht Schillers armfeliges „Arbeitszimmer“? Iſt ihm vielleicht be- fannt der Ausfpruch feines „Kollegen“ Goethe, der in feinem Arbeitsraum keinerlei feine Gedanken ablenfenden Luzus dulden modte und der feiner Schwiegertochter heftige Vorhaltungen machte, als fie ihm einen neuen und für feine Begriffe zu „ſchönen“ Grant für feine Bücher [hentte? Wenn Grabbe nad und nad) die von der Mutter ge- erbten filbernen Löffel verjoff, wenn Hebbel fid) von einer ihm in exaltierter Liebe an- hängenden Frau ernähren liek, wenn fic) Wagner durch die erjten Leidensjabre hindurd- pumpte, wen geht das an alg jeine Freunde? Waren diefe gleichen Leute: Hebbel, Wagner, nidt im felben Augenblide, da fie der bitterften Not entronnen, Bürger im folideften Sinne des Wortes? Beethovens Wirtichaftsbücher mit ihrem Haffifh gewordenen „Muß e3 fein?” müßten demnad in das Lehrfad der oberen Sdhulflaffen aufgenommen werden, um diejenigen Leute, welde fpáter in öffentlichen Aemtern über die foziale Zurechnungs- fähigkeit des Simitlers zu befinden haben, vor Yrrtiimern zu bewahren.

Und war in ganz München, dem medizinberühmten, fein piychiatrifher Sachver⸗ ftändiger aufgutretben, der zu ſcheiden wußte zwiſchen Delitten höherer und niederer Gattung? Sit eS das gleiche, ob Wagner in der Frau des andern die Ergänzung zu finden glaubte, deren fein befferes Selbft bedurfte, oder ob Herr a die ihm bom Freunde an» vertrauten Wertgegenjtände verfauft, um ein Zedhgelage mehr zu veranjtalten? Es war unferer Zeit mit ıhrer Ablehnung alles Abfoluten, a iw aud) des Gittliden überhaupt, der Zeit der ,Relativititsmolluste”, der Beit der Ablehnung aller und jeder „Gejege“

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für das künſtleriſche Schaffen vorbehalten, die Fretheit des Yndividuums im höheren Be- tradt auf die in den Niederungen der Kriminaliftit zu übertragen.

Und wo bleiben alle die, welche neben und mit Herrn Kaifer der Kunft dienen? Freuen fie fic) wirklich, hier einen waderen Wortführer gefunden zu haben, der ihnen neben dem übrigens jedem Staatsbürger zugebilligten Recht des materiellen wie ideellen Mundraubs das erkämpft: „Du darfft fteblen”? Mag fein: die allgemeine Ebaratterlofigteit der Zeit um die Revolution hat Fälle zutage gefördert, die allefamt auf dem Wege zum Kriminellen liegen. In den Tagen, da in Minden die Spartafiden vere bluteten, die doch wenigitens ehrlich thr Leben für eine von ihnen vertretene dee eine jest; verftedten fid) Dichter, die vordem ihre Wortführer gemejen. Während der eine

eldprámien für den ausjegte, der ihn retten würde, und mit den Pahpäpieren eines Pasai durch bie Feuerzone entfam, in der feine gläubigen Gefolgsleute, getreu feinem lammenden Manifeft „Es wird bis zum legten Mann getámpft” ftarben, feierte der andere, ältere, heute beinahe der Nationalpoet der revolutionären PDichtergeneration, in einem Sanatorium des Yjartals Gelage folchen Stils, daß felbft der bedienende Wirt mit Rúd- ficht auf die übrigen Gájte fid) weigerte, weitere Lederbiffen herbeizufchaffen. Mufiter, dic vordem Fürftendiener geweſen, fomponierten blutrote Volkshymnen, erftrebten „SKünftler- rat8jtellen”, entdedten thre bis dahin ſchamhaft verfchiviegene proletarifde Herkunft. Aber e3 gab und gibt doch aud) nod) andere, denen e3 nicht als Axiom eines Künſtlers gilt, darafterlos und ſchamlos zu fein. Findet fic) denn unter denen, die nach gutdeutſch ürgerliher Art wieder einmal zaghaft im Hintergrund ftehen und fchweigen, feiner, der das Tuch zwifchen fid und jenem Gelidter gerfdneidet? Thomas Mann machte einen Anfang mit feinen ,,Betradtungen eines Unpolitifhen“, wer folgt nah? Wollen wir wirflid) die Meinung auftommen laffen, der Kunft dienen, hieße, jedes öffentlichen An- ftand3 entbehren tónnen? Wollen wir wieder, nahdem wir uns faum eben die bürgerliche Achtung erftritten, zu jenen „Schlawinern”, wie das urbayerifhe Wort heißt, gezählt werden, bor denen eine vorfichtige das Tafelgerät verbergen, der Hausherr die Zigarrenkiſte verſchließen muß? Sollten nicht im Gegenteil gerade die Vertreter der Dentiden Kunſt, aljo jener Macht, die über Krieg und Revolution hinweg in allen Welt- teilen ungebrochen fortbefteht, das ftártite Intereffe daran haben, mitjamt ihrer Kunft, die ja dod fein blokes Handwerk, die eine Perfönlichkeitsäußerung im allerhöchſten Sinne ijt, geadtet und geehrt dazuftehen und darum alle die, welche diefen Ruf befudeln, ohne ögern aus ihren Reihen ausfchliegen? Wacht auf! Hermann Unger.

Yofua Leander Gampp.

E fpite Tufchfeder nimm oder den weichen halt ihn in der Hand und warte, warte. Halt ſtille, bis das übervolle Herz ſich gibt, hüte deine Hand und halt ſtille und fieb, fie wird ſich von ſelber regen.

Sie ſchreibt das Abbild des Herzens auf weißes Papier in eigener Schrift, in Linien und Bügen, legt Strid) zu Strid, bis die Fülle dichter und voller wird, und treibt in Ranten Triebe weithin, die gar fein Ende nehmen wollen, die fic ranten turd die Welt von Morgen bis Abend und das Märchengeheimnis löfen, wie man überallhin gelangt, Himmelsräume und blaue nit bis an die Hörner des Mondes. Darauf ſchwingt fiy die Seele empor wie Lichtftäubchen, der Schwere erlöft, jagt hinab in jaudgendem Sturz oder —— leicht und leiſe nieder gleich dem Mondſtrahl, der auf die Erde ſinkt. Und Spitzen der Gräſer ſtehen ſteil aufrecht und halten ſich hin, von ihm überfloſſen zu werden.

Joſua Leander Gampps Schaffen denke ich mir ſo. Ich glaube, bei wenigen iſt der Weg vom oe durch die Hand jo turz, die Niederichrift der Seele fo unmittelbar als bei @ampp. ie vieles erfriert oft im Werden bor der Stälte des Gedantens, wie vieles wird öde und glatt in Kampf des Schaffens. Denn Schöpfung ift immer Ringen, und Leichtigkeit und beſchwingte Freiheit wollen errungen fein. Dazu muß die Kraft de3 Herzens aushalten, wie fie bei Gampp durdhalt. Freudige Herzlichkeit, das madt uns diefe Dinge fo lieb. Vor diefen Blättern fpürt man die große Kluft swifden Sentimen- talitát und Herzenstraft, zwiſchen weichlicher Sudt, jedes Gefühlen wunders wie wichtig zu nehmen und aufpluftern zu wollen, und dem unbetiimmerten Ausdrudszwang eines heißen, liebeerfüllten Herzens.

an kann fic) Blumen vorftellen auf einer Friihlingswiefe, lidtblaue Glodenblumen, deren Gloden gang erfüllt find von eitel Leuchten, daß es durch die feine Blittentvandung hindurdgliiht: fo leuchtet diefe Künftlerfeele in ihrem Werk. Und fo reid ſchenkt fie, als mern diefe Blumen anheben zu láuten auf ſchwanken Stielen im Winde und webhende, lohende Liebeslidjtquellen verſchwenden, die aus den Gloden breden und wallend ſchwingen über das Land.

Eine große Macht der Liebe und Kraft des Herzens muß in diefem Menjchen fein, in diefem a no aun mit den tiefen, dunklen Augen. Etwas RKindlides und dod Wiffendes. Die ungeledte Frifche und verborgene Bartheit des rechten Wanderbogels. Dazu kommt ererbtes, unveräußerlihes Gut: der ſchöne Name Jofua Leander zeugt fon

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% davon, etwas, das im Blut liegt von Eltern und Ahnen her aus ſüddeutſchem Pfarrer. geihlecht, die Liebe geübt haben und fromm waren und deren Herzen ftart und weit dar» über geworden find. Die Heimat eines Schwarzwalddörfchens tut das ihrige hinzu, in- mitten von Tälern und Bergen, die tannbeftanden weithin blau verdänmern. Johann Peter Hebel und Hans Thoma hat uns dasjelbe liebe Land, derjelbe heimliche Winkel efdenft. Und dann bei Gampp ein befonders köjtliches, fo feltenes Herzensgut: eine tiefe rfurdt, die aus der dantbaren Liebe diefes ungen zu Hans Thoma fpricht, der treue Bund des Lebensfrifden mit feinem greifen Meifter aus der Schwarzwaldheimat. Der Stolz Gampp3 auf diefe Freundfdaft, die Exgriffenbeit, die ihm aus den Augen fiebt, wenn er bon dem großen, guten Menfden und Künftler erzählt, das gibt einen Eindrud von der Seele diefes Mannes.

Go ift denn feine Kunft. Und da fie erfüllt wird von Chrfurdht und Selbitlofigkeit, rantt fie fic gerne um Worte und Lieder. Das übliche Lob vom Einfühlen des bildenden Künſtlers in den Dichter ſcheint mir dabei weniger angebrabt. C3 ift nicht Einfühlen, fondern Bild und Wort find wahrhaft eins. Wenn Gampp Storms Gedichte [hmüdt nein —, feine lieben Stormlieder fein fäuberlich felbft miter arent und darum ringelt und jtrihelt und bildert, das ift, wie wenn Eichendorff3 glüdliher Wanderdurfh mit feinem Eingen, Quinquelieren und Geigen die ſchlummernden Licdertvorte wirflich zum Leben erivedt.

Wie Violinen fehweifen und weben die Strihe um die Gedichte mit dem Duft bon Rofenblattern, diefem eigen füßen, was Storms Verje haben. Verſchloſſene Tore öffnen fido, die N durch das Wort erweitert fic, wie die Melodie das Gedicht erft sunt Lied madt. Vielleicht noch ftiller, anders geartet, aber in dem Wunder der Wirkung und dem Wunder der Schöpfung ebenfo geheimnisvoll.

Das Blatt zu der Enditrophe des Gedichtes „Regine“. Mie diefe Blüten ſich aus- warts beugen und dod) in fic) berjdliegen in entjagender Melandyolie, in dem Zivang der Verborgenheit des holden Wunders! Zauberhaftes Licht bricht aus den Blättern und [loft das liebliche Wunderfind nod) mehr ins Wefenhafte auf. So erwacht die göttliche Freude, das reine Glüd im traumhaften Tal, wenn der erjte Frühlingsmorgen glänzt, will hinaus und alle Welt erleucdhtend füllen, und muß dod bleiben, umidloffen vom Traum, von eigener blütenleichter Wunderheimlichkeit. Da figt fie im Bliitengehege fo licht, ad fo licht, und nur das feine, wehende Haar darf das Leuchten hinjenden in die Welt.

Wir dürfen nod) vieles derart Schönes mie diefes Stormliederbud von Gampp er- warten. Ich dente mir, er könnte Worten Goethes fein Leben mit einhauchen, Oberons und Titaniens goldener Hochzeit, wo die Verje gleiten wie Mondlidt über Blumenauen und das Eleinfte Bindewortdhen, ein „und“ in diefem leichten Gefüge wie eine dunkle Folie wirkt, auf der ein Glanglidt leicht und ſchwebend leuchtet. Oder Lieder Brentanos tonnte er begleiten, dieje weben, ſchmerzvoll ſchönen Klänge, die Hagend aus einem wunden Herzen breden und nichts find als eben der Slang des Herzens.

Ein andermal ſchafft Gampp fic felbft ein Liebes Buch: Denktage, Erinnerungen, von Freude und Liebe erfüllt. Das ift wieder fo bezeichnend. Er „ntacht” nichts, fondern Ihafft, um feinem freudigen Herzen Luft zu madden.

Daher jtammt das Blatt, das und den Mai einfingen mag. Denn es ſchirpt und witſchert, fingt und fchreit, und nicht nur die Vóglein, die darauf wie unbändige Herzen lattern und ho ſchwingen: die Stride felbft jubilieren alle mit, und die Sonne über dem Berg ebenfalls, das Licht ſchillert und medfelt fo mannigfaltig. Die Freude mag fein Ende haben und ift fo jung und neu wie der Mai. Die Vielheit wirbelt durdein- ander, und dod, alles ift Harmonifch, fein Migtlang, wie das Konzert der Vögel, das Birpen der Grillen, das Brummen der Käfer und Rarer der Blatter in der Natur eine Harmonie ift.

So ein Frühlingstag foll unfer Leben fein. Gonneniiberftrahlt am Liebesmorgen- Da bricht der Strahl durch das Dad), das wir bauen, unter dem wir uns alles ſchenken, wie Kinder Häuschen und Blumen. Die Hege rundum aber mag das Dunkel ausſchließen, das foll nicht herein. Und Gottes Engel ſchiebt die Wetterwolten giitig beifeite, aus denen der Blig gudt und die auf den Flügeln und dem Antlig des Himmlifden Boten nur bunteln, um das fiegende Licht noch heller zu machen.

Ein Abend kommt dann, ein löſender. Die roſigen Flocken wehen: werde ſtill nur, du freudiges Pers, deine Liebe Loft fid) ganz, tie die ſchöne helle Welt des Tages lautloS in die Ewigkeit. Im lichten Raum ſchwebt, die Liebe, das Glüd, das ber»

eigene. Wie das gleitet und wallt und liebende Arme fdlingt. Drunten die Tannest jtehen ftill und die dunkle Erde horcht. Iſt e3 Hoffnung, Ut es Friede, ift es Gottfeligkeit ? Es 5 alles zugleich. , I er Tag war reich, der ſchöne Tag. Und nun ift Rube, große, weite Abendruh: „Und meine Seele fpannte Weit ihre Flügel aus, Slog durd die ftillen Lande, Als flöge fie nad) Haus.” 164 Ludwig Benninghoff-

Der Beobachter

E⸗ war grünblau flimmernde Nacht. Die weißen Kaſtanienkerzen ſchimmerten durch den ſchwingenden Duft ſchlafender Blüten unter unbeweglih träumenden Blat- tern. Die Sterne zogen mit einem Lächeln ihre Bahn. „Was lächelt ihr, Sterne?” frug die alte wogende Linde flüfternd empor. „Weil wir fo weit über die Erde und alles Kleine hinſchauen können!” „Wie weit ift das?” frug die alte Linde den WAbendwind. „Das ift weiter, ala deiner Sippe Glieder einft fommen werden.” Da ſchwieg die Linde. Und ein Menjdlein ftand mit gefalteten Händen unter den Fliederbüſchen, ein Glüdesläheln und ein Danflied zu den Sternen ſchwingend. „Wellen freuft du did, Menſch?“ frugen die güldenen Himmelswanderer. „Eurer“ Toate der Menſch. „Warum über uns?” „Weil ihr in eurem und in eurem Lauf von Gottes unendlicher Güte getragen werdet, weil Hinter euch die Sonne ſteht und weil in euch Gottes unendliche Liebe wirkt.” Da ſchwiegen die Sterne ftill und fie wußten nicht, follten fie lächeln oder traurig fein. HannesSchmalfuß.

n der Monatsſchrift „Das heilige Feuer” behandelt Pater Edelbert Kurz unjern Aufſatz über „das Deutfchtum und die Kirchenfpaltung” aus dem Januarbeft gwar in der Form verbindlich, aber in der Sache ablehnend. Er fest unfrer Auffaffung bon den unter» fhtebenen, aber gleichberechtigten Weifen des Chriftentums ein Gleichnis entgegen: der Katholizismus fet ein längeres, der Proteftantismus ein kürzeres elektrifches Rabel. Aber „nur das eine, das längere, hat die Verbindung mit der Stromquelle, dag ar reicht gar nicht bis aa Das beißt: nur der Katholif hat die Verbindung mit Gott, nicht er Proteftant. shalb war Luther, obiwohl ein „hochbegabter Menſch“, nur „wirkſam um Unheil“. Und da alfo nur die fatholifdhe Kirde eine „gottgegebene Pflicht” ift, o ift die Volksgemeinſchaft auch nur infoweit gottgebunden, al3 fie nicht mit jener Kirche in Widerftreit tommt. Nehmen wir das Gleichnis von den beiden Kabeln auf. Wer entjcheidet darüber, weldes von beiden Strom hat? Allein Gott. Sein Geift webet, von wannen Er will. Es gibt nun ſowohl unter den Katholiten wie unter den Proteftanten Seelen, welde die Verbindung mit der Stromquelle haben, welche von Gott ergriffen find, aber e3 gibt in beiden Kirchen auch folche, die die Verbindung nicht haben. Es mag einem unangenehm fein, aber es tft eine unbejtreitbare Tatſache, dak Gott fic) durchaus nicht um die kirchliche Zugehörigkeit fümmert. Yd) weiß, dak man das mit logijchen Begriffs- beftimmungen und <girfelungen zuredhtzurüden jucht, aber es ift frommer, Gottes Balten unbedingt anguerfennen, al3 e3 nur unter der Bedingung anzuerkennen, daß e8 zu unfern Begriffen paßt. Man [efe das Gleidnis vom barmberzigen Samariter und ähnliche Sleichnijje Jefu. Der Samariter hatte die Verbindung mit der Stromquelle, der Priefter und der Levit nit. Diefes Gleihnis war den Pharifäern ein Greuel, denn fie „wußten“ e3 und „beiwiefen” es jedermann aus der Heiligen Schrift „klar“, daß fie allein das wohlerworbene Patent auf die funktionierende Verbindung innehätten. Lieber Mitbruber in Ehrifto, ich hoffe, Eure en timmung zu haben, wenn id) fage: Gott felbft entfcheidet aus Seinem unergründlichen Willen, wel Pen Er in heiligen Brand verfegen will. Nur der Pbharifaer, nicht der Fromme maft fic) an, den einzig berechtigten pee des heiligen Feuers zu bejigen. Wer es nicht auf Erden lernen mag, N Gottes unbegreifliden Ent: fcheidungen zu beugen, wird es beim jüngften Gerichte lernen miiffen. Darum forge ein Sen daß er alsdann nicht mit feinem behaupteten Richtigwiſſen ins unbeilige Feuer geworfen werde.

By: Hohenfurth in Böhmen fand eine tſchechiſche Faſchingsunterhaltung ftatt, zu der die wenigen Tſchechen der näheren und weiteren Umgebung das find nämlich die von Amts wegen dorthin verjegten ¿ufammengetrommelt worden waren. Den Hihepuntt des Feftes bildete die Zertriimmerung der an der Wand angebrachten Biiften von Mozart und Beethoven. Dreieinhalb Millionen Deutiche find wider ihren Willen in den Staat diefer Tihechen hineingezivungen worden. Quouſque tandem? $.

Sy: legte Saijer der Habsburger Dynajtie hat befanntlid) während des Rrieges Hoch- . verrat geübt. Diejes erbarmlidfte Gefdopf, das je einen Thron durch fein Darauf- figen berunebrt bat, ſich noch des Verrats und ſucht ſich damit bei den Franzoſen anzubiedern. €8 ift ſchließlich nicht zu verwundern, wenn die nicht ſehr wähleriſche ie zöſiſche Politik fic) den Hampelmann der Bita von Bourbon nugbar madt, aber dak fid) anderswo Menjden finden, die ihm bie Hand geben oder mit ihm jprechen, ijt exftauntid. Wir ſchlagen den künftigen Hiftorifern vor, den legten Habsburger Kaijer „Karl den Hoch— verrater” zu nennen.

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Der Entwurf einer „Reichskulturabgabe“, der in einem engeren Ausſchuß eines Unter» ausſchuſſes des Reichswirtſchaftsrates man follte in Anbetradt der tarnidelbaften Vermehrung der Ausihüffe endlid) Stammbaumtafeln anfertigen und herausgeben beraten wird, beivegt zur Zeit etliche Wellen an der Oberfläche des deutſchen Kulturpapier- Ozeans. Dag die wirtichaftlihen Bedingungen der geiftigen Arbeit im Grunde unmóglid find, ift nichts Neues. Wir erinnern an en: bergebliden mules im Februarhejt 1919, den wir der Nationalverjammlung gewidmet hatten. Jabrzehntelang fon hat Ferdinand Avenarius für eine „Volfswirtichaft der geiftigen Güter“ gekämpft. Wenn man nun end» lid an die Sade herangehen will gut. Aber fo einfach, wie es nach den bisherigen Auffägen Hans Kyfers |deint, darf man die Frage nicht nehmen. Jn Kyfers Aufjagen tft nod) nicht einmal das Problem far erfaßt: der innerjte Widerftreit zwiſchen Sachwert und Marktpreis; auc) nicht die volfsergieherijde Aufgabe, die beachtet fein will. Nehmen ir an, e8 wird eine ,Sulturabgabe” auf bie „frei werdenden“ Werke eingeführt: wer fol fie verwalten, wer fie verteilen und nad welden Grundjägen? Der Himmel Wanku: die deutſchen Dichter davor, 1 ein Klüngel bon bekannten reichshaupt⸗ ſtädtiſchen Literaten ſchließlich „die Sade in die Hand bekommt“. Sn der Republik iſt leider „alles“ möglich.

m das „parlamentariſche Syſtem“ voll zu würdigen, muß man die Vorgänge bet ber

Bildung der neuen preußiſchen Regierung beachten. ES follte fic) jemand finden, der die Geſchichte der vertraulichen und öffentlihen Verhandlungen fdretbt, die bei diefer Ge- legenheit gepflogen werden, damit da3 „Volk“ einmal lernt, wie eine „Volksregierung“ zujtande fommt. Dem Volk werden Jene /Bolfsrechte” angepriefen, es wird mit Trommeln und Pjeifen ¿ur Wahl getrieben. Die „PBarteiführer” haben ſich natürlich die Plage ge- fihert, fie „figen drin”. Und nun geht nad) der Wahl das Schieben los. pn irgendwelchen Kombinationen bon zufälligen Mebrbeiten fudt man den „Volkswillen“ „auszudrüden“. Die Sefchäfte der Hine und hereilenden Parteiführer blühen. Es ftinft zum Himmel. Eine abjolute Monarchie war wenigftens eine ehrlide Gade, da wußte man, woran man war. So widerivartig das Hoffhranzentum ijt, die Parteigefhäftsmänner find moraliſch aud nicht beffer. Wir wollen uns jedenfalls nicht einbilden, mit der parlamentarijden Demo- fratie die richtige und endgiltige Staatsform gefunden zu haben. Sie ift ebenfowenig end- giltig wie die abjolute Monardhie. Wir müffen meiiethuden.

Sy Sozialdemofratie empfindet immer ftarfer, daß man allein mit einem Wirt- [d afts programm das Zeitalter nicht von feinen Nöten erlöfen fann. Aljo muß man ein Kulturprogramm dazutun. Die Lofung ift: „Vom Wahlverein zur Kul— turpartei!” Wie fommt man aber zu einem Kulturprogramm? Auf dem Wege, auf dem der moderne Wefteuropäer zu allem kommt: Man beruft einen Kongreß, diskutiert und nimmt Thefen an. Die find dann das „Kulturprogramm“. So hat man’s auf dem Dres- dener der Sozialdemokratie gemacht. Aber Kultur entſteht nicht aus Er: wagungen und Erórterungen, fondern aus Leben Man fann nicht bieje oder jene Kultur „machen wollen“, jondern fie wächſt als unmillfürlicher „genialer“ Ausdrud des Lebens. Kultur ift daher niemals Cache einer Bartei, fondern nur Sache eines Volkes. Es ift unmöglich, den Begriff der Kultur dem Begriff der Partei unterzuordnnen, vielmehr muß der Begriff der Partei dem der Kultur ——— werden. Es war daher auch nicht zufällig, daß die am meiſten hervortretenden Redner Novemberſozialiſten waren! Es fei noch Gertrud Bäumers gutes Urteil aus der „Hilfe“ angeführt: „Der Kulturtag der jozialdemofratifhen Partei hat fic), durch den bertvilderten Materialismus einer in die grundfagliche Gottfeindſchaft hineingeſchwatzten Menge aufgerüttelt und an eine ſchwere geſchichtliche Schuld gemahnt, zum Geijt geflüchtet. Aber die Programmgetreuen haben nod) nicht gewagt, den Schleier von dem verhüllten Bilde zu heben um dahinter zu ens: das ruhige Auge und die majejtätiihe Stirn des Gottes, den Plato und Shake— peare, den Johannes und Goethe fdauten, und vor dem fie fic) der Wichtigtuerei mit der proletarijden Eigentultur ſchämen müßten.”

Der Weg iſt voll von Leuten, die aus den Werkſtätten durch den herrlichen Frühlings— nachmittag nad) Haufe wandern. Die Kaſtanien haben ſchon ihre Blatter heraus— gejtedt, Gartenjtrauder blühn, eine Amfel fingt oben im Baum. Es dehnt fic) die Bruft wie wohl tut Luft und Duft des Frühlings, nad) dem Dunft der Werkjtatt! Tuuuut! Ein Automobil tommt voriibergerattert und überfhiwemmt Menſchen und blühende Stráu= Mer mit minutenlangem mufftgem Straßenjtaub. Und wieder eins und wieder eins! Bis zur Amfel hinauf wölkt fic) Gas und Staub. Was ift bas? Das ift der „Sulturfort- Ichritt“. Es ift ein „Triumph der Technit”, wenn Herr Bankier Krotofhiner und Ge- mablin nad) jtattgehabtem Diner die Schmerbäude zur Verdauung durch bie Früh— lingslandfhaft rollen laffen tónnen. Uebrigens genügen fie durhaus ihrer „jozialen Pflicht“, indem fie zehn Mart Jahresbeitrag für den Verein für Lungenheilftätten zahlen.‘

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Sud die En friechen allerlei Nachrichten von Wolfenfragerplanen; im illu: ftrierten Zeitfchriften werden Entwürfe für Wolfenfrager abgebildet. Da die Ameri- faner im Weltkrieg gefiegt haben, miiffen wir felbftverftandlid) hochachtungsvoll und er- gebenft allen Unfug amerifanifder Kultur nahahmen. Da man in diefen wirren Zeiten anders keine Sicherheit hat, daß nicht die tollften Pläne verwirklicht werden, geben wir aus Menfdenfreundlidteit den Rat, jeden miibigen Architekten, der den Wolfenfrager- imme! befommt, ſchleunigſt mit einem hänfenen Strid an den nadften Baum zu henfen.

enn die Menjchen in Deutſchland follten e3 fich nicht gefallen laffen, noch unglüdlicher wohnen und leben zu miiffen.

Swiefprarhe

Ti wiffen’s dod): ein rechtes Herz ijt garnicht umzubringen”. Darum geben wir, dem Herzen zum Troß wie zum Troft, ein mailiches Heft heraus. Pfingiten ift, folange unfer Voltsgedenten qurlidreloyt, das eft der Freude gerejen. Der gartefte und füßefte "Auftritt im Nibelungenlied, da Siegfried und Rriembilde einander zum erften Male begrüßen, findet ftatt „bi der Sumerzite und gen des Meijen Tagen”. „An einem Pfingft- morgen” fah man „vil manegen titenen Man“ feftlich gekleidet aus der Burg herfürgehn. Und aud der Reinete Vos von 1498 beginnt: „Ft geſchach up enen Pinkſtedach (Pfingfttag)“, dann rühmt der Dichter das Mare Wetter und die Vogel, die ,vrolit” waren „mit Sange tn Hagen (Heden) unde up Bomen”. Goethe überfegt: „Bfingiten, das liebliche Heft, war gelommen”. Grünes Feld und grüner Wald, Vogelfang, Maienzeit und Pfingiten, das gehört zufammen. Herr Walther von der Vogeltweide hat recht: „— Yu einem Meien an dem Morgen fruo, Und dit Meinen Vogellin wol fingent n ir beiten Wife, die fie funnen... 8 ift wol halb ein Himmelride.”

So beginnen aud wir mit den Singbögeln im Mai, den Frühlingsmufifanten. Wer ift zu ihrem Preife berufener alg Karl Sohle? Eben kommt fein „verdorbener Mufitant”, die Jugendgeſchichte des Dichters, in neuer, erweiterter Ausgabe bei Staadmann heraus. Das Bud) beginnt: „Das fteht felt, nur der Dorfjunge genießt das wahre Fungenparadies. Ich bin einer gewejen, id) hab's genoffen, wahrhaftig, bi zur Schamlofigkeit, und wenn id an meine Kindheit dente wie oft gefchieht das! da ift mir zumute, heut in meinen alten Tagen, wie dem fiindigen Adam, als er draußen war und mun dafak und feufzend fic die Hofen flidte.” In diefer Jugend hat er die Singvögel kennen gelernt. Und die Blumen. Ein Frühlingsfpaziergang mit Karl Söhle alle Blumen zeigt er uns, auf deutfd und lateiniſch. Und alle Vögel, ihre Zugzeiten und Gewohnheiten. Ich glaube, er hat die ganzen Bande feines geliebten , Naumann” im Kopf. Und alle Stimmen, aud) folche, die der Unfundige faum beadtet, deutet ex nach Arten und Abarten. - Darum habe ich ihn gebeten, unfern Lefern einmal eine Heine Frühlingspredigt nad) [einer Weife u halten. Nicht Gedanfenweisheit mit einwärts gefehrtem Blid, fondern Weisheit mit

obem Herzen, mit offenen Augen und Ohren, unterm Maienbimmel.

Dazu gehören die Bilder des Schwarzwälders Jofua Leander Gampp. Schon lange habe ich mid) darauf gefreut, fie unfern Freunden zu der redten Zeit bor die Augen regen zu tónnen. Gampp tft im fchönften Sinne „Gelegenheitstünftler”. Wer feine Geleqenhetts- blätter duxdftebt, wer die köftlichen Hefte auffchlägt, die er für feine Braut gezeichnet hat, der fällt aus einem Entzüden ins andre. Es fet denn, daß er ein ausgewachfener Sunft- trottel oder abgebrühter Kunftichriftjteller und Ausftellungsläufer ift. Ich will nod etwas Schönes verraten: der Menſch ift wie feine Kunft. O du glüdliches deutſches Volt! Von Gampp ijt bei Alerander Dunder in Weimar ein „Stormliederbuch” (in Tafchenformat) erjdienen. 48 Blätter mit zarten Strichzeichnungen. Unfer Blatt mit dem Gedicht „Und webte auch auf jenen Matten” ift nad einer Zeichnung, die aud das Stormlicderbud enthält. Der Preis für das gebundene Buch beträgt nur 7.50 MP. Diefen Heinen Haus» fhaß voller Zartheit und Innigteit ftellt man fid in die Ede des Bücherſchrankes, in der all das beifammen ift, was man mit Frau und Sind defieht und genießt, oder worin man in einfamen Stunden Troft fucht: in die „perfönliche” Ede, die man dem kommenden Gee ſchlecht als etwas Heilige aufbewahrt. Zur Zeit zeichnet Gampp ein Mörike-Liederbuch, ebenfalls für den Verlag Dunder. Die erfte Hälfte der Blatter habe ich fertig gefehen. Das wird nod fchöner als das Stormliederbud. Aud Blätter zu Chriftian Morgenjterns Gedichten hat er für Caffirer in Arbeit, Aquarelle. ES ift nichts Lieberes ausgudenten als ein Gamppſches Aquarell. Man verzeihe mir mein Rühmen aber wie foll man fich Bien wenn man in folhen Dingen bláttert! Gampp wohnt jest in Bergedorf bei

amburg, Jakobſtraße 28.

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Den Schluß des Maiheftes made Goethes „Ganymed“, das id) für das ſchönſte und deutſcheſte all unfrer ſchönen ——— halte. Das ift unmittelbarer Ausbruch des NT: jedes Wort gefüllt mit Frühling und Sehnfuht. _ '

u dem Aufjay ¿franz Heydens: diefe Einführungen in die Lyrik ſollen fortgejegt werden. Auf dieje Weife fommen wir dem am nädjten, was man „Seele“ nennt. Die Briefe von Dr. Benz werden im nädjften Heft abgejalofjen. :

Und nun nod) ein Hinweis auf ein paar Bücher, die wir kürzlich erhielten und die unfern Kreis befonders angehn. Von rein og Poed, unferm Mitarbeiter, find bei M. Glogau jr. in —— pluftige plattdeutſche Märchen für sung und Alt“ erfdienen unter dent Titel ,Boggentonig und Dubelsprinzeffin” (100 Seiten). Es find acht Märchen, liebenswürdige Geſchichten mit dem rechten plattdeutfchen Erzählerhumor. Sie find in = Art ein Zuriidjuden nad dem Urgrund des Theobald Bieder, deſſen

ücherbrief über die Schriften zur germaniſchen Altertumskunde im Juniheft 1920 unſern Leſern in Erinnerung ſein wird, veröffentlicht bei Theodor Weicher in Leipzig ein t über „Das Hakenkreuz“, 34 Seiten und 5 Bildtafeln. 4 MP. und 20 v. H. Zuſchlag. Eine ruhige, gründliche über das Vorkommen und die Bedeutung des vielberufenen Symbols, ſie bietet * die größte bisher erreichte Vollſtändigkeit. rner erſchien im felben Verlag der erſte Band von Bieders „Geſchichte der Germanenforſchung“. (116 Seiten, 10 Mt. und 20 v. H. Zufchlag.) Bieder beginnt mit den Arbeiten des deutſchen Humanis« mus von 1500 bis 1560 und ſchließt mit dem „Widerftreit der Meinungen in Deutfchland 1775—1806". Aud die flandinapifche Borgefbichtstorichung ift einbezogen. Der Bere aller; der felbft eine gute Sammlung der in Betracht tommenden Werke gujammengebradt at, arbeitet aufgrund der Quellen mit großem Fleiß und wiſſenſchaftlich kritiſchem Urteil. Eine Fundgrube für den Hiftorifer un Iturhijtorifer, zugleich eine angenehme Ein: führung in das Gebiet für den ernfthaft Studierenden.

Und nun etwas ganz andere3. Kennen unjre Lefer Agnes Giinthers feine Schrift Von der Here, die eine Heilige war”? Bet mir fteht fie in der oben erwähnten „heiligen Ede“. G3 ift ein gang inniges Werklein. Neben der fleinen „gewöhnlichen Ausgabe” (64 Seiten, gebunden 4.80 MP.) hat der Verlag der Ehriftlichen Welt in Marburg eine „gute Ausgabe“ mit Scherenſchnitten von Tilla Ebhardt herausgebradt. Gutes, feftes Papier, guter Drud, „sriedensmäßig“. Das ijt durchaus 22.50 ME. wert. Gang vorzüglich ijt das „ſchnittige“

[att 24 gelungen, aud) die Schnitte auf Seite 48 und 30 find mir jehr lieb. Die ſchwierige Aufgabe in dem Schnitt auf Seite 54 ift aber nicht gelöft. Es ift ein Meines, edles Bud) zu andádtigem, fehmerzlich-tröftlihem Sinnen.

Ein Drudfehler im vorigen Heft, den uns das Teufelden nod) gelegentlid einer Korrektur nad) dem Umbruch neu eingefdmuggelt hat, fei hier aufgefpießt. Elfe Torge Be auf Seite 110, Zeile 16 von unten nicht von ,exotifeyen”, fondern von „erotifchen“

egen. St. Stimmen der Meijter. Wie im Morgenglange Liebliher Morgenwind, Du rings mich anglühft, Ruft drein die Nachtigall rühling, Geliebter! e Liebend nad mir aus dem Nebeltal. it taufendfaber Liebeswonne Sd komm’! ich tomme! Sih an mein Herz drängt Wohin? Ach, wohin? Deiner ewigen Wärme ° Hinauf! Hinauf ftrebt'3. Heilig Gefühl, ES ſchweben die Wolfen Unendlih Schöne! x Abwärts, die Wolken Dak ich dich fafjen möcht’ Meigen fid) der fehnenden Liebe. Syn diefen Arm! Mir! Mir! Ad an deinem Bufen Syn eurem Schoße Lieg’ ich, ſchmachte, q Aufwärts! Und deine Blumen, dein Gras Umfangend umfangen! Drängen fid an mein Herz. Aufwärts an deinen Bufen, Du titblft den brennenden Alliebender Vater! Durft meines Bufens, Goethe.

Herausgeber: Dr. Wilhelm Stapel. (Sir den Inhalt verantwortiih). GHriftietter: Dr. Lub- wig uninghoff. u tiften und Cinfenbungen find zu richten an die Schrüftleitung bes Dentigen Doltstums, TA 36, Holftenplas 2. Für unverlaugte Cinfenbungen wird feine Gerant- wortung übernommen. Derlagund Druc: Hanfeatifhe Derlagsanftalt Aktiengefelljihaft, Hamburg Bezugspreis: Dierteljährlih 9 Dart, Einzelheft 5,75 Mart., für bas Ausland ber boppelte Betrag. Don Bedfonto: Hamburg 13475.

gm d bec Deiträge mit genauer Quellenangabe ift von ber Schriftleitung aus erlaubt, unbejhabet ber hte bes Derfaffers. ë

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Aus dem Deutfhen Volkstum Jofua Leander Gampp

Aus dem Deutiben Volkstum Jofua Leander Gampp

Aus dem Deutfhen Volkstum Rojua Leander Gampp

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onatsichrift für das Deufiehe Geiftesieben

Berausgeber Wilhelm Stapel

uni 1921

Pojlbezug 15, Juni 1921

fib J. Juli 1921 ift das Deutjche Dolkstum nur durd den Buchhandel oder die Poft zu beziehen. Die Mitglieder der fidhte- Bejell- jdjoft erhalten die Monntsfchrijt in der bisherigen Weije zugeftellt. y Durd Ein: richtung des Poftbezuges hoffen wir ¿u- verfichtlidy eine kürzere und vor allem plinktlidjere Abwicklung des gejchäit- lidjen Derkehrs zwifchen dem Lejer und dem Dering fidjer zu ftellen. y Feder der Dolks- tumgemeinde wird das Interejje haben, die wirtfchnftlichen Grundlagen der von ihm jo gejhästen Monatsichrift jo ftark wie mög- lid) zu machen, denn nur bei piinktlicjer Bercititellung des Bezugspreifes können Herausgeber, Mitarbeiter und Derlag dns Unternehmen weiterführen und fördern, / Darum beftelle jeder Bezieher jojort unter Benußung der beiliegenden Karte bei jeinem Poftamt jeine Zeitjchrift

„BDeufiches Bolkstum“

Juli September 1921 (Beff 7—9) Schriffleifung für 9.— Mlfñ. zuzügl. Moffbefteilgetd und Verlag

Mus dem Deutiben Volkstum

Hans Schroedter, Friblina

Deutiches Dolfstum

6.5eft Line Monatsfchrift 192)

Sirol voran!

ir fennen diefes Land aus Friedensfommertagen, voll Naturftille und dent

frifchen Atent der Berge, ruhend in der alten Kultur bodenftandigen, fernigen und felbjtbewußten Voltstums, wenig noch geftórt von dem Chaos der großen Wirtfchaftsgebiete und ihres „Betriebs“. Wer nicht tiefer fah, der kannte dazu nod) Tirol al3 befonders „ſchwarzen“ Winkel des alten Oefterreich3, eine Hochburg Habsburgifchen Geiftes, ſchwarzgelber Rüdjtändigfeit, mehr Hiftorie als lebendige Gegenwart, und die Sommerfrifchenliebe, die der Durchfchnittsnorddeutiche zu diefem Lande hegte, war doch ftart von jenem unangebraten Meberlegenheitsgefühl acfarbt, das dem Deutjchöfterreicher überhaupt gewidmet wurde. Man wußte nicht oder vergaß, daß diejes Tirol feiner Geſchichte wie feiner innerften Art nad nicht fehr viel mit Habsburg, Wien und jenem Geifte zu tun hat, deffen Repráfentant der feinem Volkstum entfremdete, fiinjtlid) von der Dynaftie gezüchtete, zu wahr— Haft einzigartigen Homuntuluseigenfdaften gediehene f. u. É. Beamte war. Man vergaß, bab in Tirol, namentlich in den weſtlichen alemannifchen Gebieten, die reinften Germanen wohnen, die das europäifche Feftland (außer in Friesland) hat, und daß in diefem Volte viel von einem alten Unabhängigfeitsgeift ähnlich dem der Eidgenofjen lebendig geblieben ift, ungebrochen trog aller Bemühungen der Gi genreformation und der habsburgifchen Hausmacht. Habsburg hat aber auch hier wie in den Sudetenländern (und wie bei den anderen Nationalitäten) dem Wefen feiner Herrſchaft und feiner gefchichtlihen Sendung entfprechend, die urfprüngliche Eigenart der Beherrſchten, die fie nicht tilgen konnte, fozufogen übertündht, unter- feblagen. SKennzeichnend dafür ift die ſchwarzgelbe Legende vom „Eaifertreuen” Andreas Hofer, der in Wahrheit ein Rebell war und nicht für den Saifer in Wien, fondern für die Tiroler Freiheit, für die von Bayern angetaftete Landes- gerechtfame kämpfte. Ein überaus feines Stüd Habsburgifcher Staatstunft, wie Dicfer Freiheitsheld und feine in Tirol unverganglide Nachwirkung für Habsburg unjdadlid, ja niiglich gemacht wurde.

Das alles muß man wiffen, um das Tirol diefer Tage und Wochen gu ber- fteben. Der Zufammenbrud, der Zerfall Oefterreichs, nad) den bitterften Ent- täufhungen und fchiveren Kriegsopfern, Hat das alte Tirol zum Leben erivedt. Das Aufteimen, Kämpfen und endlich beinahe widerjtandslofe Erftarten der An- ſchlußbewegung in Tirol ift nichts anderes, als die allmählich, echt deutfch gründliche und ringende Selbftbeftimmung eines urgefunden, von großjtädtifcher Salbbildung nod; unberfehrten und innerlich reichen Volkes, ein Sich-[os-Ringen von dem geijtig- feelifhen Band einer verlebten Kultur, ein allmählich-organifches Erwachen. Ganz anders als die Anfchlußbewegung in Wien etiva, die, bald von politifden Agitatoren und Partetintereffen gefördert, bald von Ententegeldern und käuflichen Sdmods, von. Grogintereffenten, Schiebern und Abenteurern niedergedrüdt, zeitiweife nur nod) von der Treue und innerlich-echten Hingabe verhältnismäßig Heiner gut deutjcher Kreife gehalten, beinahe zu einem politischen Intereffenfpiel und zu einem Agita- tions{toff für Gelegenheitspolitifer entjtellt worden tare wenn nicht doch der Stern der Bervegung fo echt und lebenswichtig wäre, dak feine großftädtifche Mache

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für oder wider ihn verderben fann. Dennoch: das wahre Wefen der Anjchluß- bewegung, ihr tieffter und legter Ernft geht einem doch erft auf hier unter diefem, allem Oefterreidertum zum Trog etwas fdjwerlebigen Volke. Hier ift alles edt an ihr, fogar der Widerftand, den fie am Ende doch braudt, um fich ganz auszu- twirfen, echt felbft jener Reft von Treue zu dem untviederbringlid vergangenen faft romantisch anmutenden Glauben an die Wiedergeburt des alten Defterreichs. Noch echter aber die allmählich und fer und ganz aus dem Tiroler Wefen felbft ermadjene, in allem Ernft glühende Sehnfuht nad) der Heimkehr zu dem großen Muttervolfe Man muß nit nur in Inn8brud, noch mehr draußen in den Bergdörfern und den Kleinen Städten, in denen die Bergbauern zufammen- ftrömen, erlebt haben, wie Arbeiter, Bauern, Bürger, Angehörige aller drei Par- teien, Ehriftlichfoziale, Sozialdemokraten und Großdeutſche, Kopf an Kopf gedrängt, wie einem Evangelium der Botfchaft laufchen: wir wollen allen Ententeverboten zum “rot unjeren Willen an diefem Sonntag befennen man muß gefehen haben, wie der Seelforger der Gemeinde, in jedem Zug ein Sohn diejes Voltes, mit all der freundlichen Beſtimmtheit, mit der er noch immer feine Pfarrtinder zu leiten gewohnt ift, fie auffordert, am Sonntag ihre Pflicht zu tun, wie diejes ganze politijd) fonft wenig bewegte, fondern ungemein ftetige Volt aufflammt in einem freudigen Belennermut: dann wird man darüber tar fein, daß diejen tern- deutfhen Menfchen nicht wirtichaftliche Nöte, der Wunſch nach Hilfe, Zahlen und Berechnungen im Vordergrunde des Bewußtfeins ftehen, fondern ein lange Jahr— hundert zurüdgedrängter urfprüngliher Freiheitswille fid hier Bahn brit. Aus Fülle und Kraft fommt zu innerft diefer Anfchlußiville, nicht aus Mangel und Schwäche. Wenn es nod) eines Anftoßes bedurfte, um den Tirolern die dolle Klarheit zu jchaffen, fo war e3 das Verbot der Franzofen. Das war das rechte Stihwort. „Es geht um die Freiheit”. Hochaufgerichtet jagt e8 ein Dekan, ein Monfignore, und die Verfammlung gipfelt damit. „ch habe die Weberzeu- gung, daß geradefo wie 1809 bie erfte deutjche Bewegung gegen den franzöfiichen Imperator von Tirol ausgegangen ift, auch diesmal durd die Tiroler Volt3ab- ftimmung die Vereinigung aller Deutfden eingeleitet wird“, fagte der Landeshaupt- mann Schraffl, ein Ehriftlichfozialer in einer Inn8bruder Verfammlung. Tirol fühlt fid) an der Spige einer Bewegung, die wohl gehemmt, aber nicht mehr zum Etilíftand gebracht werden fann. Von den fehr ftill und fpärlich gewordenen Gegnern des Anfchluffes wurde noch immer verfucht, auf die Notlage Deutjchlands, auf die Drohungen des erften Mai, auf die von der Wiener Regierung übermittelten Drohungen der Entente hinzuweifen. Diesmal umjonft. Der Wiener Bundeskanzler Manr hat in feinen eigenen Heimatlande, in dem er etwas bedeutete, jede Stimme verloren. Diefes Land verlangt bodenftändige Führer und es findet fie. Wenn etwas die Echtheit und Lebensficherheit einer Bewegung entjcheidet, dann ift es die Frage, ob fie Führer findet oder nicht. Diefes feelifch gefchloffene Kleine Volk, deffer größerer Teil einfiedlerifch in einfamen, jegt nach Frühlingsfchneefall faum zugäng- lichen Geboften haujt, das unendlich ſchwer mit Verfammlungen, erft nad) Tagen duch Zeitungen und Boten zu erreichen ift, hat allgemein anerkannte, wirkliche Führer. Eine Erfcheinung, die (wie ein feltener Eindrud) den aus Reichsdeutſch— land Kommenden nicht wenig erfrifcht. Fihrerdon Berufundvon Volkes Gnaden! Trog unendlider technifcher Schwierigkeiten, die am Abftimmungs- fountag mitimirtten (mande Weiler wurden erft in den letten Tagen bon der Abftimmungstundmadhung erreicht), war die feelifhe Fühlung da. Die mweitreichen- den außenpolitifchen Erwägungen der Führer (die Zurüdgewinnung Deutih-Süd- tirols ijt durch ein an Deutfchland angefchloffenes Tirol leichter zu erzielen, als durd ein an Deutfchöfterreich gefettetes), die wirtjchaftlichen Notwendigkeiten (Tirol, 60 Kilometer breit, über 200 Kilometer lang, kann fid) allein nicht ernähren, bietet aber an ein großes Wirtfchaftsgebiet angefchloffen, gewaltige wirtfdaftliche Mög-

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lichkeiten) floffen zufammen mit dem urfprünglich-natürlichen Empfinden des Volkes. Tirol befannte fidh zu ſich felbft.

Reichsdeutfchland aber muß Tirol verftehen. Tiefer als in der Zeit de3 Biind- niffes mit dem alten Oejterreid), wärmer als aus wirtjchaftlichen Erwägungen heraus, unmittelbarer al3 über alte und dennoch jest künſtliche Staatsgrenzen hinweg, ehrfürchtiger alg es die Rolle des nur Gebenden bedingt, in der fic) die Reichsdeutſchen allzuoft noch fühlen. Tivol bringt viel an Wirtfchaftsichägen dem dar, der fie nügen fann. Aber al3 das Beſte bringt es dem der feelifchen Erneuerung, der völfifchen Selbjtbefinnung, des Glaubens an fein Volt und feine inneren Kräfte febr bedürftigen Reichsdeutſchland: fi ch felb ft. Sein ftartes, ſelbſtbewußtes, noch gefundes und innerlich freies Volt3tum. Hermann Ullmann.

Die Gloden aus Tirol läuten den aufdammernden Tag einer neuen deutfchen Beit ein. Nod) wagt viel zerfchlagenes und verzweifelndes Volf im weiten Tal nicht gu glauben, daß eS einen neuen Morgen erleben werde. Aber die Gloden find erflungen, wahrhaftig erflungen von den Bergen. Der wogende Hall zittert durch unfere Herzen. Nun find mir gewiß, daß der Tag fommen wird, da alle deutjchen Gloden Freiheit läuten werden von den Bergen Tirols bis über die raufdenden Wogen der Nordfee und Ojtfee. Und es gilt, was Heinrich bon Sleift fchrieb, als er 1809 füdwärts nad) Prag eilte:

Wie der Schnee aus Felfenriffen,

Wie auf erv’ger Alpen Höhn

Unter Frühlings heißen Küffen

Giedend auf die Gletfcher gehn:

Kataraften ftürzen nieder,

Wald und Fels folgt ihrer Bahn,

Das Gebirg hallt donnernd wieder,

Sluren find ein Ozean fo werden die ftürzenden Wogen der Voltes Freiheit die Zvingburg, daran die Aus— beitter eines nicht aus eigener Kraft gewonnenen Sieges arbeiten, zufammenreißen. Die unterdrüdten Völker des ganzen Erdenrundes harren diefes Tages. So hat es Gott gefügt, bab mit der Freiheit des deutfchen Volkes die Freiheit der Welt ver- bunden ijt. Dies ift Gottes Wille, und wir müffen ihn erfüllen. Was hindern uns noch Parteien und Staat3grenzen laffet die Regierungen ihre Staaten regieren und laffet die Parteien ihre Politif mahen! Wir deutfhes Volk find eins O du Segen der Not, der die verhärteten Schalen zerfprengte unferer heimlichen Seele! Brüder in den Bergen, Euch grüßen die Brüder vom Geftade des Meeres ein Blutespochen, eine Sprache, ein Wille, eine Freiheit, ein Reid. In diefen Tagen bauen Seele und Geift das eine Reich, in fiinftigen Tagen werden die Hände e8 bauen. Es helfe uns der Herre Gott zum Sieg aus aller Not! -, St.

Weftungarn ein Seil der Oftmarf.

it der Zertrümmerung des früheren Ungarn war aud für die VBorherrichaft

der Madjaren über die neben ihnen im Lande lebenden anderen ,Nationa= litáten” das Ende gefonmen, die ftaatliche Neubildung auf völtifcher Grundlage hat dem Grofteile der Nichtmadjaren die Freiheit und Selbftändigfeit gebracht. Diefe ftaatlide Ummälzung fonnte aber auch auf die Deutjchen, die in einer Starfe bon über anderthalb Millionen das Land bewohnen, naturgemäß nicht ohne Einwirkung bleiben, obwohl fie, zum Teil meift in größeren und Heineren Siedlungen, zum Teil als jtädtifche Minderheiten lebend, den Anfpruch auf eigene ftaatlide Selbjtändig- feit nicht mit Ausficht auf Erfolg erheben konnten. Den ungarländifchen Deutfchen

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erwuchs aber die Pflicht, fic) die ihnen bisher vorenthaltene gebührende Anerkennung ihrer Sprache in Schule, Verwaltung und im öffentlichen Leben zu erfämpfen und dadurch nicht zulegt ihren nationalen Befigjtand zu erhalten. Volf8traft, Stammes- beiwußtfein und die wirtjchaftliche Tüchtigkeit der ungarländifchen Deutfden find fo groß, Dak man darin die befte Gewähr für die Zukunft erbliden kann.

Von diejer Neugeftaltung der Dinge am meijten betroffen und berührt erfcheinen aber die Betvohner des fogenannten „Heinzenlandes“, die feit vielen Jahrhunderten im gejchloffenen deutſchen Sprachgebiete längs der Grenzen Niederöfterreichg und Steiermarfs und dann am Heideboden öſtlich vom Neufiedlerfee, im Vierburgen- lande, leben und allen Madjarijierungsverfuden der vergangenen und legten Zeit erfolgreich und hartnädig widerftanden haben. .

Schon Hundert Jahre vor dem Auftauchen der heidnifchen Madjaren in Europa war bier deutfches Land, ſaßen hier deutfche Edelleute, deutfche Handwerfer und deutjche Bauern, übten hier deutfche Seelforger ihr Amt aus. Die Komitate Pref- burg, Oedenburg, Wiefelburg und Eifenburg bildeten mit ihren Burgen die Mittel- punkte von vier deutfchen Graffdaften, fie gaben die Grenzwacht ab, die Karl ber Große errichtet hatte. Die vorgenannten vier Komitate waren aljo von allem An- fange an Burgen deutfcher Kultur. Urfprünglich gegen das wilde Volk der Avaren errichtet, haben fie fic) auch in der Folge gegen alle Anftürme der nachfolgenden Madjaren ftets behauptet. Dak hier jtarfes nationales Leben pulfierte, dafür Dies eine Beifpiel: Selbjt der große Volterfturm, der über diefe Gegenden dabhinbraujte, war nicht imftande, das deutfche Leben diefer Landftriche, in die immer wieder völfi- {cer Nachſchub aus der alten Urheimat, aus Franken, Bayern und Schwaben fam, zu erlöfchen.

Vom Ende des fünfzehnten bis zur Mitte des fiebzehnten Jahrhunderts war übrigens ein Großteil diefes deutfden Landes in ftaatsrechtlider Verbindung mit Dejterreich geftanden und wurde ihm erjt entriffen, als der Raifer in Kriegsnot feine Rechte gegen die Madjaren nicht nachdrüdlich genug verteidigen konnte. Diefes Un— recht der gewaltfamen Einverleibung aber war den Beivohnern des Heinzenlandes all die Jahrhunderte über ftet3 in der Erinnerung geblieben und mar mit ein Grund, ihren Verfuchen, wieder zu Oefterreich zu fommen, ftarfen Nüdhalt zu geben. Das Land, das feine natürliche Grenze, fein Gebirgszug, fein Strom von Dejterreid) Tcheidet, war immer im Geifte mit Oefterreich vereinigt geblieben. Die legten Ein- fprüche gegen die Einverleibung einzelner Teile in Mejtungarn wurden 1754 und 1794 erhoben, und 1834 befchäftigte 3. B. der Streit um die Herrjchaft Scharfenegg noch Ungarn und DOefterreih. Vergeſſen aber wurde diefe ,Cinverleibung” nie. Das Haus Habsburg hatte feine Urjache, den wiederholten Vorftellungen jtattzu- geben, es regierte ja in Ungarn fo mie in Oefterreid) und es blieb ihm gleich, ob das ftrittige Gebiet zur heiligen ungarischen Krone oder zu Oefterreid) gehöre. Das Volk aber, deffen Herz für Deutfchöfterreich fchlug, war nie befragt worden.

Daran, daß hier uraltes deutfdes Land liegt, vermag auch die Verdrehungstaftif madjariſcher Regierungstunft nichts zu ändern, die es fid) in den legten Jahr— zehnten angelegen fein ließ, vor allem ſchon durch die Anfegung willfürlich erfundener madjarifcher Ortsnamen den deutjchen Städtenamen den Garaus zu machen. So fam e3, daß aus Prekburg ein Pozjony, aus Dedenburg ein Sopron, aus Eifenburg ein Vas und aus Wiefelburg ein Mojon wurde. Wer heute nod) eine ältere Karte von Ungarn zur Hand nimmt, dem werden in diefem Gebiete nur rein deutjche Orts- nanten erjcheinen und der wird aus diefer Madjarifierungspolitif viel Belehrung ſchöpfen können. Auf diefe Art wurden über dreihundert deutfde Ortsnamen diejes Landftriches allein für das Ausland in madjarifche umgewandelt. Handlungen Diefer und ähnlicher Art trugen basu bei, das im Jahre 1868 gefdaffene Nationali- tatengefes, das übrigens niemals gehalten wurde, beriichtigt zu machen.

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Man fiirdtete madjarifcherfeits ftet8 die Anteilnahme des Auslandes, insbefon- dere Deutfchlands, und bemühte fd, das VBorhandenfein der mehr als dreihundert- taufend Deutſchen diefer Landftriche durch wüſte Madjarifierungspolitit zu ver- ſchleiern. Bereits 1881 fegte der madjarifche Reichsrat eine hundertgliedrige Kom- miffion ein, telde die Grundfäge und Mittel zu erwägen Hatte, unter welchen die einheitliche Gejtaltung des Landes durchgeführt werden follte. Damals wurde der Grundfag zum Bejchluffe erhoben, daß in allen Schulen und Kindergarten des Landes ohne Unterfhied nur die madjarifche Sprache als Unterrichtsiprache anzu- wenden fei, bab nur die Aufführung madjarijcher Theaterftiide gejtattet fein dürfe und ähnliches mehr. Qa felbft die Führung deutfcher Gefchäftsbücher, das Lefen deutjcher Bücher waren verboten. Der madjarifche Wahnwitz ging fo weit, daß die Lefer und Eigentümer deutfcher Schriften mit Serterftrafen belegt wurden, dak Mit- glieder harmlofer, unpolitifcher deutjher Männer-Sefangvereine verfolgt wurden und dak folle Vereine aufgelöjt werden mußten. Viele Jahrzehnte lang wabhrte Diefe Unterdrüdung jeglichen nationalen Volksbewußtſeins, und fo mancher mürbe gelvordene biedere „Heanze” merkte erit an feinen herangewachfenen Sindern, daß Diefe zu Madjaren und nicht zu Deutfchen erzogen worden waren und ihm nun fremd gegeniiberftanden.

Bereits 1730 hatte Preßburg ein deutfches Theater, denmad) hundert abre früher, als es überhaupt im ganzen Lande ein madjarifches gab. Gn das gleiche Jahr fällt die Gründung der erften und älteften Zeitung Ungarns, der feit 1760 er- fcheinenden ,Prefburger Zeitung“, und die Gründung der deutfchen Volfs- und Mittel- fowie der Hochſchulen ijt nicht viel jünger. Befonders Prefburg war immer fozufagen ein fünjtlerifcher Vorort von Wien, hier hat unter vielen anderen bildenden Künftlern Rafael Donner gewirkt, und ein Prefburger, Adam Oefer, ift fpater der BZeichenlehrer Goethes geworden. Mozarts mufifalifcher Beirat Johann Nepomuk Hummel war gleichfalls aus der Prekburger Gegend. An der Grenze, im Dorfe Rohrau, das zufällig zu Oefterreich gehört, wurde Jofeph Haydn, in dem heanzerie [den Grengdorfe Raiding, das ebenfo zufällig zu Ungarn gehört, Franz Liszt geboren. Und auch der berühmte Wiener Anatom Hyrtl, der Goethe-Forſcher Schroer, Hans Richter, der Wagnerdirigent, Jofeph Sainz, Joachim, der Geiger: fie alle find Söhne des deutfchen Weftungarn! Der Portrátift Heinrich Angeli, der Dichter Kolbenheyer find Oedenburger, die Dichter Mathes Nitſch und Jofef Reichl gehören gleichfalls bieher. Wiefelburg, das das Heinfte unter den deutfchen Somitaten ift, hat gelegent- lid) der legten Voltszählung die geringíte Zahl von Analphabeten nachgetviefen, und hierin liegt jicherlich fein Zufall!

Aber auch in wirtichaftlicher Beziehung hat es die Heanzen ftets nach Deutjch- öfterreich gezogen. Befonders mit Wien trieben die Heanzen feit jeher Handel, hieher lieferten fie ihre Feldfrüchte, nach Deutfchöfterreich tamen viele Taufende in Stellung und find hier in großer Zahl fehhaft getvorden. Gelbjt die weiter entfernt liegende Stadt Graz hat auf die Heanzen immer mehr Anziehungskraft auszuüben vermocht als das näher gelegene Budapeft. Ein beliebtes Mittel der Madjaren, das Ausland über die wahren Verhältniffe im Lande zu täufchen, war jenes, den Stillftand der deutfchen Bevolferungszunahme „amtlich“ zu betätigen. Obwohl von den 121 Ge- meinden Oedenburgs 85 übertviegend deutfch find, hatten fich nad) der vorher be- zeichneten Art madjarifcher Statijtitfiihrung in diefer Gefpannfchaft die Madjaren trobbem in der Zeit von 1880 bis 1910 um nicht weniger als 146 v. Š. vermehrt, die Deutfchen aber núr um 1 v. Š. Hierzu eine weitere Bemerfung zu machen er- fcheint wohl überflüffig.

Die Gejpannichaft Eifenburg zählt 175 deutfche Gemeinden, der Mittelpunkt liegt in den Bezirken Giins, Ober-Wart, St. Gotthard und Güffing. Die fleinfte Geſpannſchaft ijt Wiefelburg, hier aber haben die Deutjchen überall die übertwiegende

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Mehrheit, es entfallen vom gefamten. Flächeninhalte diefer Gefpannfchaft mehr als drei Viertel auf den Befit der deutfchen Mehrheit. Die Reinheit des deutjchen Ge- bietes ift nirgend fo Klar wie in diefer Gefpannjchaft umriffen. Ym Sabre 1900 haben fic) von der Gefamtbevolferung (89 714 Seelen) 54 508 als Deutjche befannt! Da die madjarifde Statiftit füglich nicht alle Deutſchen totfchweigen konnte, liek man, weil es nicht anders ging, in den amtlichen Aufzeichnungen dod) 360 000 Deutſche erjcheinen. a

Die Heanzen haben fic) aller Unbill und nationalen Hebe zum Troß bis auf die heutige Zeit ihre fpracdlide Eigenart erhalten. Uralte Bolfsbraude, uralte deutjche Sitte ift diefen Bauern ftet3 heilig geblieben. Jn ihren Liedern find noch heute Proben fränkifch-bajuvarifcher Dialekte zu finden. Dak in diefen Volfsliedern nie bon einem „König“, fondern ftet3 vom „Staifer” die Rede üt, mag weiters als Beweis dienen, daf die Heanzen auch des alten Ungarn fic) allen Grenzpfählen zum Trog immer alg deutfche Defterreicher gefühlt haben. Die volfifde Einheit des weſt— ungarifchen und des niederöfterreichifchen Deutfchtums fommt wohl am beften in den

Volt3liedern diefer Landitriche zum Ausdrud. Wer borden in Ungarn fich offer:

alg bewußter Deutfcher befannt hätte, wäre als ftaatsgefährlich erfannt und darnad) behandelt worden. Söhne deutfcher Eltern waren durch diefes Dtadjarifierungs- fieber dazu gepreßt worden, deutfchen Kindern das Madjarifche einzupaufen, ja felbjt das deutſche Schwägen in der Schule war den deutfden Kindern verboten! Ebenfo Hielt man e3 mit dem Reden auf den Gaffen, am Heimmege. Wohl ein beredtes Bei- [piel mabdjarifder Kulturarbeit!

Nad dem Zufammenbrude hatte man madjarifcherfeits die Gefahr erkannt, die drohend heranzog. Und man fam mit Beihwichtigungsverfuchen- und Verſprechun— gen aller Art, redete von der Autonomie des Landes, der deutjchen Schule, dem deutfchen Theater, dem deutfchen Gottesdienfte. Die Heanzen haben all die chrift- liche Näcjftenliebe der madjarifchen Herrfdenden nicht vergeffen und erfehnen heute nur mehr die Heimkehr in die Urheimat. Der Heanze träumt heute mehr denn je bon dem Anfchluffe an Deutfchöfterreich, da diefes fic) an das große deutfche Bruder- reid) anfchließen will, Denn fo würde jih das weltgefhidhtlide Wundervollziehben,daßdie Seanzennadhelfhbundert Jahren wieder dDorthin gehören würden, woher ihre Ahnen einft als Pioniere deutfher Kultur und deutfher Arbeit ins Land gefommen waren. Die durch die madjarifche Politik geförderte Abwande— rungsluſt brachte es mit fich, daß jährlich viele Taufende nad Amerika auswan- derten und bab man 3. YB. gelegentlich der Volkszählung 1910 allein 9744 Arbeiter aus der fleinften Gefpannfchaft, aus Wiefelburg, in Wien gezählt hatte! Seit Jahren vollzieht fic) diefe Abwanderung nad) Oefterreich. Aus Wiefelburg waren 1910 nad) der amtlichen Volfszahlung insgefamt 40 219 Perfonen eingewandert! Das ift fait ein Drittel der ganzen deutjchen Bevölkerung diejer Gefpannfchaft!

Die Heanzen haben unter madjarifcher Herrfchaft nie genitgende Befriedigung ihrer wirtjchaftlichen Bedürfnifje gefunden, fo wird auch das ganze wirtichaftliche und nationals Leben in Weftungarn nur durch den Anfchluß an Deutfchöjterreich gehoben werden. Aber auch in anderer Hinficht liegen große Vorteile: Deutjche: Volt8= und Mittelſchullehrer, deutfche Beamte, deutjche Richter werden in Mejtungarn fehr be- nötigt werden, denn die Söhne deutfcher Eltern waren durch das wüſte Madjarifie- rungsfieber der lebten Jahrzehnte zum nicht geringen Teile ihrem Volkstum ent» fremdet worden. So fame der Ueberſchuß deutjchöfterreichifceher Intelligenz Weft- ungarn zugute. Edmund Rudolf Prafdinger.

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Der Idealismus der Befreiungstat von ISIS.

JB" eine Generation, mie die unfrige, Verträge von Verfailles und Spaa, eine Nationalverfammlung von Weimar miterlebt hat, fo wird es ihr it der Tat unmöglich, die Yoeen eines Fichte über das Weſen des Staat8mannes zu begreifen, man wird Mühe haben, die diplomatifchen Handlungsiweifen eines Hum— boldt zu verftehen. „Das waren eben Ydealiften” fagt man heute achfelgudend mit einem leifen Anflug von Jronie und Ueberlegenheit. Man wirft gwar tapfer mit Fichtes „Reden an die deutiche Nation” herum, man gibt zu: Humboldt muß ficher- lich ein geiftreicher Mann geweſen fein, aber wer von denjenigen, bie an maßgeben- der Stelle jtehen, vergegenwärtigt fic), daß gerade das Reingeiftige jener Männer e3 war, was im ftärkiten Maße ein 1813 herbeiführte!

Es ift allein ſchon kühn und einzigartig, dak Fichte im Jahre 1811 eine Vor- lefungsteihe hielt, fie „Ueber die Beftimmung des Gelehrten” benannte und in der dritten diefer Vorlefungen das deal des Staatsmannes entwidelt. Das fagt eigentlich alles. Alfo Gelehrter muß der Staatsmann fein, ein Mann, der fid) mit dem Geiftigen bejchäftigt, im Geijtigen ftebt.

Denken wir in aller Kürze den Gang feiner Ideen durch: Fichte geht von dem Begriff des Wiffens aus und unterfcheidet zwei Arten. Das fogenannte praftifche Wiffen, ein durch fich felbft beftimmtes Wiffen und ein Wilfen um die gewöhnliche Sinnenwelt. Das eigentliche wahre Wiffen, deffen fich der wirkliche Gelehrte zu be- fleißigen bat, ift das erſtere. Es ift der Abdrud feiner felbft, nicht eines anderen, alfo eine Idee, ein Geficht aus der überfinnlichen Welt, die Durch Handeln wirklich und in den Umfreis der Sinnenwwelt eingeführt werden foll. Aufgabe des Gelehrten tft es alfo, diefe Gefichte zu fehen und fomit das wahrhaft Ueberfinnliche, das Wefen der Gottheit felbft. Natürlich tft e3 nur möglich, ein „wahres Geficht” zu erkennen, da3 wirkliche Wiffen zu fördern, wenn man das zweite Wiffen, die Kenntnis um die gemeine Wirklichkeit beherrſcht. Es ift Ertenntnigmittel, Kontraft zum Willen der dee. Und weiter: Miffion ber Menfchheitsführer, ber Menschheit felbft ift es, das Wiffen, die Ydeen, das „Erſcheinen Gottes” in der Sinnenwelt darzuftellen, in Taten umzufegen. Das innerliche Sein, die Gottheit aber ift unendlich und fo ift auch das Darjtellen eine unendliche Fortfegung. Die einmal erkannte Idee ift das Bild für eine künftige Tat, und die in der finnlichen Welt bereits dargeftellten Jbeen find Die * Bedingungen zur Vertvirtlidung künftiger Bilder: „Nur fo durch die wirkliche Tat befragt, fpricht die urfprüngliche Erſcheinung der Gottheit fich weiter aus und nad diefem Gefege geht es fort ins Unendliche.” Alfo mit anderen Worten auch: Wir müſſen mit beiden Beinen auf Mutter Erde ftehen, um zum Nuten der Menfchen in der geijtigen Welt uns einzuleben. Die geiftige Welt der Fdeen treibt immer weiter fort zu Taten und Darftellungen und die legte Ydee ift immer die höchfte und ein in diefem Sinne tätiges Willen ift die „eigentliche Vebensfraft in der Welt und Trieb- feder” zur Fortfegung der Schöpfung.

Der Menfch, der fid) von der göttlichen Welt der Jdeen begeiftert fühlt, ift der religiöje Menfch. Aber ex troftet fic) mit der wahren, überfinnlichen Welt, er wartet auf eine beffere Welt, auf den Himmel. Er bereitet fic) vor und bleibt untätig. Aber bie Menjchheit durfte nicht ohne fraftige @tüben bleiben. Es famen die Seber, die Propheten. Genährt vom Reich des Ueberfinnlichen, wuften fie das Volt zu be- geiftern und mit fortzureifen zur Verwirklichung des Idealen. Die Begeifterung war dem Volf Beweis für die Wahrheit der Gefichte: Allein die Menfchen wurden mit den Jabrhunbderten fleinlid) und fteptifeh. Sie wollten perjónlid überzeugt werden. Der Seher wurde Künſtler, Dichter, er wurde endlich Gelehrter. Er mußte die Wahrheit beweifen, weil die Menfchheit nichts mehr glaubte. Er mußte fich her= unterbilden zum Volte, das Volt aber heraufbilden zu Hd. Das Geficht ftrómt nicht

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mehr durch die „Fortpflanzung der Begeifterung” „unmittelbar aus in Tat”. Wir wollen flare Einficht, Erleuchtung, und fo entjteht, wie Fichte das ausdrüdt, in diefer neuen Zeit eine „Sinnenwelt im Inneren des Menfchen”, in der die Gefichte fozu- fagen erjt verarbeitet werden. Das Wirkungsfeld der Führer wird fomit ein doppel- tes. Lehrer haben für die Erleuchtung des Volfes zu forgen, und die Staatsver- waltung muß die gegebenen Verhaltniffe der Welt, in der wir leben, fo vorbereiten, daß die tlargelegten Jdeen zur Darftellung gebracht werden fonnen. So wirken Ge- lehrte und Staatsmänner zufammen zur inneren höheren Vervollfommnung der menfchlichen Gefellfchaft. Der Staatsmann muß durch die gelehrte Bildung geben, jo fordert es Fichte, ja er muß felbft Seher fein (Plato!); er ijt das „unmittelbar einführende Glied der überfinnlichen Weltordnung in die finnliche und der wahre Mittelpunkt der inwendigen, durch die gelehrte Bildung felbft ſchon überfinnlich gelvordene Welt der äußeren.” Das ift der Staatsmann! Meberfinnliche Welt Seher Kiinjtler Gelehrter Staatsmann, eine prächtige Perfpettive. Ein Fichte fonnte fo kühn denken! Und wir begreifen jest im Zufammenhang den fate- goriſch auf's Geiftige hinweifenden Sak in diefer Vorlefung: „Es ijt ein Beweis völliger Blindheit, nicht nur für's Uebevfinnliche, fondern auch für die finnlichen Vor- ftellungen und Begriffe, als begründend das wirkliche Handeln, wenn man dem, ber die allgemeine Denfart, und durch diefe den Willen bildet, die Wirkfamfeit auf das Leben abjpricht und nur dasjenige für eine Tat anerkennen will, was mit Augen fichtbares, mit Händen greifliches Produft in der Körpevivelt abjegt.”

Und nun betrachten wir Wilhelm v. Humboldt. Wir wiffen, daß diefe beiden Männer fic) nicht verjtanden. Das mußte fo fein. Fichte, der leidenfchaftliche Denker, der Philofoph des Handelns, Humboldt, der abgeflärte, geradezu leiden- ſchaftsloſe Gelehrte, der Diplomat, der mit größter Rube, feinen „Sdeen“ entfprechend handelte. Er charakterifierte einmal in fpateren Jahren diefe geniale Leidenfchaft als „ein völliges Verwedfeln der Sphären, der Jrrtum einer edlen Seele, deren end- liches Dafein felbft man einen Irrtum der Natur nennen könnte.” , Schön ausge- drüdt! Ob er wohl dabei an Fichte gedacht haben mag! Er ſchätzte Fichte als den großen Mann, aber konnte nicht mit feinen Vorfdlagen einverftanden fein. Das begreifen mir, wenn wir uns nur erinnern, mit weld) peinlicher Empfindung er Fichte anfangs bei einer Berufungsfrage an die Berliner Univerfität umgangen hat. Und doch, wie merkwürdig! Während Fichte 1811 jenen Gedantengang entiwidelte, lebte neben ihm diefer Humboldt, der Gelehrte, der das preußifche Unterrichtsivefen leitete, die alten Griechen überfegte und fd) tatfächlich zum Mufterbeifpiel für die Fichtefchen Theorie heranbildete. In feinen Studentenbriefen, in feinen Liebes— briefen an die Braut können wir fehen, wie er bereits zielbewußt an der Vervoll- kommnung feines Ichs arbeitete. Jede Lebenslage war ihm Gelegenheit zur Selbit- erziehung. Seine Tätigkeit im Unterrichtsminifterium feit 1809 zeigt, wie er ganz im Sinne Fichtes als Gelehrter, als harmonifierte Perfonlidfeit zur Vervollkomm— nung des Volkes beiträgt. An fid) arbeitete er, auf fich wirkte er, um damit auf das Volt zu wirken, um das Volk zu heben. Humboldt war das lebendige Meifterbeifpiel der großen Schiller-Goethe-Rantidhen Menfchheitserziehung. Nun aber der Staats- mann Humboldt: Jn Rom und Wien hat er als Gefandter gewirkt, hat bie praftifche Seite des Diplomatenlebens neben feinen Sprachftudien kennen gelernt, bis er be- rufen wurde, zufanmen mit Hardenberg, die große Tat von 1813 vorzubereiten. Jn den Briefen an feine Frau aus jenen Jahren gelvinnen twir tiefe Einblide in die feelifhe Stellung zu feiner Miffion, die mehr fprechen, wie Atten und Denkſchriften. Es ware eine Aufgabe für fich, diefes Zufammenfhiwingen der beiden Gatten in dem ſchwierigſten Wugenblic zu betrachten. „Du denfft richtig und groß über alles, und ich berate mid) mit niemand auf Erden fo gern, als mit Dir”, fchreibt er feiner Frau im Juni 1813.

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Nur ein Deutfcher nad) dem Ideal unferer Klaffifer konnte in den verivideltejten Situationen fo auftreten wie Humboldt. Mit Klarheit, Ehrlichkeit und Kraft ver- trat er die einzige «Jdee von Deutfdlands Größe und Ehre. Wie muß fd neben ihm ein Metternich ausgenommen haben! Humboldt3 Zenit mor der Kongreß von Prag. Um Krieg oder Frieden handelte es fd. Für Humboldt gab e3 nur Eines: Er wurde alg Tugendbiindler verfchrieen, weil er gegen die Kicchhofsruhe eines Baffenjtillitandes wetterte. Aber in diefem Augenblid bewährte fic) der abgeflarte Geift: „Der entjcheidende Wugenblic ift gefommen und je ruhiger und heiterer ich bin und bleibe, je mehr ich auger allen diefen Dingen leben könnte, ohne in meinem In— neren eine Liide zu fühlen, defto entjchiedener werde id) handeln, da ich darin bin.” Und je näher der große Augenblid fam, defto ficherer wurde er, defto mehr zeigt es fich, wie er al3 Diplomat „im Innern feine eigne Welt” hat, „die ftill und verborgen fic) fortbildet.” (25. Juni 1813 an die Gattin.) Er ift fic) flar, daß in den „größe- [ten Weltbegebenheiten” unmittelbar die höchften und urfprünglic aus dem Gemüt fließenden Grundfage zur Richtfchnur dienen könnten.” Ganz Fichte! Wenn die Jdeen für Humboldt aus dem Gemüt floffen, fo meinte er fiber dabei auch die über- finnlihe Welt. Und alg Humboldt dann wirklich in jenes Prag zum Kongreß hin- einfuhr, um die folgenſchwere Stellung mit aller Feftigfeit gegen eine Welt von Widerſprüchen zu vertreten, da lefen wir die Worte: „Kein Menfch fann die Wichtig- feit des Augenblid3 fo fühlen und die Schwierigkeit meiner Lage, wie ich, dod) bin ich jehr ruhig und behalte alle alte innere Freiheit. Id fühle eigentlich, was es heißt, wenn die Frommen fagen, daß fie nicht in diefer Welt leben. Ich kann es nicht leugnen, ich habe eine innere, an die ſich alles anfchliekt, was in diefer tiefes und eigentliches Wefen hat, aber von der der Wechfel und die Vergänglichkeit diefer ausgefchloffen find.” (10. Juli 1813.)

Qu Berlin aber war einer, ohne Rube, ohne Tätigkeit: Fichte... Er hatte feine Studenten in den Krieg gefchiet und ging den König darum an, mit ins Feld hin- ziehen zu dürfen, um „die Kriegführer in Gott einzutauchen“. Friedrih Wilhelm III. lehnte lächelnd ab. Der Philofoph hatte wiffen müffen, bab fich diefer Mann nicht fire Vorfchläge, die aus Begeifterung geboren waren, erwärmen fonnte. Die Sehn- fucht eines Jdealiften, feinen fampfenden Brüdern das Geiftige vor Augen zu halten, war für den König anfcheinend ſchwärmeriſche Exaltation. Zurüd wieder, in den Hörfaal aufs Katheter, da ift dein Plat, da find deine Pflichten! Und er ging hin und ſprach. Drinnen in der Heimat in jenem Entfcheidungsfommer entividelte er den „Begriff des wahrhaften Krieges”. Der nahenden furchtbar-großartigen Tat des ganzen Volfes gab er die geiftige Weihe; er verlieh dem Krieg ideellen Gehalt, er gab ihm philofophifche Berechtigung. Hohnend geifelt er die Materialiften, fir die Der Staat nur Schußmittel fet, und als ernfter deutfcher Geiftesheld ftellt er dad wahre Reid) auf. Das Bild Gottes aufzuftellen, ift die fittliche Aufgabe der Menfchheit; dem allein dient das Leben; es ijt ein ewiges, ein geiftiges Leben und der Tod kann ung nicht ſchaden. „Wer da lebt, wahrhaft lebt, int ewigen Zwecke, der fann nie mals fterben.” Aber frei muß der Menfch fein, um diefem Heiligen Zwecke zu leben, unabhängig, um dag Reid) der Ideen verwirklichen zu Helfen. Und der Kampf gegen Unterdriidung zur Erlangung der Freiheit ift unbedingt geboten. Dazu der Krieg! „Kein Friede, fein Vergleich, von Seite des einzelnen zuvörderſt.“ Seine Kompromiffe, eher fterben, denn „mas foll den, der frifches Leben in fich fühlt, be- wegen, innerhalb der Verivefung zu verharren?” Heraus aus dem „Zuftand der Verftodung”, der „öffentlich das Siegel der Verweſung ſich felbft aufgedriidt” hat. So der Philofoph in der Landiturmuniform. Und er erlebte den Augenblid, der die Nation vont „Zuftand der Verjtodung” rettete. Das Werf der Hardenberg und Humboldt war inzwiſchen getan. Der 11. Auguft 1813 war gefommen. Sum- boldt hat es durchgefegt, den Waffenftilljtand zu kündigen, der Krieg wird auf's Neue

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erklärt. Er war fid) feiner Handlung voll bewußt, und doch, wie befcheiden fuchte er fid) in den Hintergrund zu ftellen. Tat er Recht? Als Diplomat, der Erfolge ausnugen muß, ficher nicht! Es war ihm vergönnt, als Sieger mit Monarchen und Generálen durch das vor Jubel tobende Leipzig, durch Frankfurt, Paris und London gu ziehen, aber er verjtand es doch legten Endes nicht, fich als fiegender Diplomat zu halten. Er hat fich für das Vaterland eingelebt, hat Studien und Familie verlaffen, um fic) mit ſchlauen Politifern herumzuftreiten, aber er war nicht beftändig, ex hatte fein Verftändnis für die Welt der Natürlichkeiten. Wenn ihm fonft die extreme Jdealiftennatur Fichtes fremd war, fo begann er jebt diefelben Fehler. Er hatte die gleiche Anlage „zur völligen Veriwechfelung der Sphären”. Hat Fichte als der leiden- Ichaftliche Redner unmögliche Ziele zu verwirklichen gefucht, fo verzichtete der ver— geiftigte Gelchrten-Staatsmann auf jeden irdischen Erfolg. (ES war ihm gleichgiltig, twas er erreichte, tas er leiftete, das Mefentliche war ihm, wie er e8 ausführte, wie er e3 anftrebte: „Sch Habe, folange id) in Gefchaften war, mehr auf das Tun al3 die Taten gehalten.” (An Welder 26. Oftober 1825.) So und ähnlich hat er fich über feine Schaffensart oft ausgedrüdt. Die geijtige Welt war ihm feine eigentliche Welt, der Diplomat war ihm nur Gelegenheitsfache. Muß es uns nicht gerade unter diefen Umftänden ganz eigen berühren, daß in jenen Juli 1813 das Schicfal von vielen fähigen Deutfchen gerade diefen Humboldt, den Mann von höchfter Sittlichkeit, der aber lieber baskiſche Sprachftudien trieb, fic) auswablte, um das Werk der Be- freiung einzuleiten!

Wir brauchen nicht extreme Individualijten im Carlyle hen Sinne zu fein, um zu befennen, dah ſtets „hervorleuchtende Geifter” (wie Rante jagt) als Trager weltbewegender Ideen großen Taten borausgebhen, fie anregen oder einleiten. Als im Sali 1813 von den Prager Waffenftillftandsverhandlungen Gerüchte nach Berlin drangen, da fühlte fid) der edle Prediger Schleiermacher getrieben, gegen die Frie- densgelüfte zu proteftieren. Gm preußifchen Storrefpondenten veröffentlichte er am 14. Juli einen Artifel, in dem er das Abflauen der Begeifterung, das Erlahmen „unſerer turzatmigen Mitbürger”, die den Frieden haben wollten, ſcharf tadelte und porausfah, dak „die nad) außen und innen Hellfehenden” es find, melee das Werk der Befreiung fordern würden. Hardenberg, der Staatstangler, tar über dieje Sprache wütend, man nannte den großen Theologen Hochverräter, weil er an Volt und Regierung zmweifelte und Reformvorſchläge für notwendig hielt. Und doch jab er richtig. Denn in der Tat, Männer wie Humboldt, Fichte, Arndt, Zahn, er felbit, der nationale Prediger nicht zulegt waren es jchlechterdings, die durch ihre Impulſe Beivegung in die Volfsfeele brachten, durch ihre Begeifterung Feuer im Herzen der ganzen Nation entfachten, durch ihre Reden, Ermahnungen und Hoffnungzitrahlen den Exnft ſowohl als auch die Orofartigteit jener Tage Har zu machen fuchten. Wohl hat Napoleon, der Mann der furchtbaren Wirklichkeit, das Volt durch feine marternden Plagen auf das Aeußerſte empört, hat feine Wut herausgefordert zur Be— fampfung des Ungeheuers, zur Veränderung der wirklichen politifchen Lage felbjt beigetragen, aber die großen Geifter jener Jahre jollten mitten im Chaos und Ver- ſtockung die erhabenen Ideen von Freiheit und Ehre als hohe geiftige Gitter in Hd bewahren und ausbilden, um im rechten Augenblick durch fie das zu eriweden, was wir heute uns unter der Begeifterung von 1813 vorftellen, und den Männern der

Tat jenen großen Waffengang möglich zu machen. Hermann Hag. Don den Trägern des berufftändifchen Staates.

de TY" den Krieg in Rußland mitgemacht hat, der begreift leicht, was Die „Hundertſchaft“ mar, die Vorgängerin der Markgenoſſenſchaft. Sie war

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die fic) ſelbſt verpflegende, infolge der „Länge des Krieges” bodenfehaft getvordene „Kompagnie”. Die Markgenofjenfchaft nun gleicht dem „Soldatenvat” diefer ader- bauenden Krieger, der in dem Mage zur Selbftpverwaltung fam, wie es überflüffig wurde, Jd) gegen Feinde zu verteidigen. Der Sippenführer tourde durch die zur Bindung, zum genoffenfchaftlichen Verbande gelangte Wirtfchaftsgruppe abgeloft. Weiterhin entjtand die Territorialwirtfchaft in Zeiten, da man fid) wieder mehr nad) außen verteidigen mußte. In ihr wurde die wirtfhaftlide Demotratie abgelöft dburd die politifme Autofratie der Feudalherren. Die Stadtwirtichaften aber, die fic) in den Territorien bildeten, faben twieder die Gilden und Zünfte, die zur Bindung gelangte Wirtfchaftsgruppen waren, al3 Träger der Staatsgewalt: die Handiverterzunft in der Stadt, die Kauf- mannggilde im Städtebund. Die politifhe Autofratie wurde abgelöjt durd wirtfhaftlide Demokratie So ging es weiter: Der Mertantilismus ſchuf wieder politifch-wirtfchaftliche Autofratie; die Bindungen der Wirtfchaftsgruppen [often fich auf. Jm Kapitalismus, der die ganze Bevölkerung wiederum zur Maffe gufammenfdlug, der alle alten Bindungsrejte ¿ermalmte, um jofort neue Keime der Wirtfchaftsgruppierung und zukünftiger Bindungen in fich felber zu ieden, ſchränkte die Autofratie zur Konftitution ein, durchſetzte fie mit Demofratie. Der politifche Fürft regierte mit dem Parlament, das aus dem Wahlrecht hervorging. Der Parlamentarismus griff gleihfam in die Maffe ber Menſchen hinein, fozufagen hoffend, bab die nod) unfichtbare foziale Gruppierung, die wirtfhaftlich noch nicht bis zur Bindung gediehen bar, wenigitens al? politifche Bindung gum Vorfdein kommen werde. Politifdhe Auto- tratie ftand neben wirtfhaftlider Demokratie, beide al Träger der Staatsgewalt einander durdivirfend, und die Autotratie in dem Maße verblaffend, wie die wirtjdhaft- lime Demokratie gebundener wurde Die Revolution ijt ber Löſungsakt. Jetzt find wir im N eu aufbau nicht im Wiederaufbau.

Die Frage an den fommenden berufsftändifchen Staat ijt nun einfach bie: Haben fic) die wirtfchaftlihen Gruppen inzwifchen fo feft zu Bindungen geformt, daß fie zu Trägern der Staatsgewalt werden können, und welde Gruppen und Bindungen find es?

2.

Nach drei Richtungen gruppieren Hd, bildlich ausgedriidt, die Menfchen in der Wirtfchaft zu Bindungen: auf der Wagerechten, an der Senkrechten und in ber Diagonale, der Einheit der beiden andern. Auf der Wagerechten nad) ber Wirt- Ichaftsleitung (Güterverteilung), an der Senfrechten nad) den Berufen (Güter- erzeugung), in der Diagonale nach der Lebenshaltung (Verbrauch). Die Mark» genoffenfdaften und die Stadtwirtichaften Hatten nur mäßige Arbeitsgliederung. Die Betriebe ftanden als felbjtandige, jchaffende Zellen nebeneinander. Wirtichafts- leitung und Beruf waren äußerlich eins. Der güterverteilende Kaufmann war auch in der Stadtwirtfchaft nicht Herr, fondern Diener der Wirtjchaft. Arbeitsfraft gehörte noch nicht zu den Erzeugnifjen, die „gekauft“ werden. Der Verbraud) beherrfchte die Verteilung und durch fie die Erzeugung. Der Beruf war der ausübende Trager der StaatBgewalt, weil er die Wirts {haftsleitung einbegriff.

Die Lapitaliftifche Wirtfchaft hat eine viel größere Arbeit8gliederung: die Arbeit3zerlegung trat gur Arbeit8teilung. Dieje hatte die Berufe gefchaffen. Die Arbeitszerlegung hob fie auf, bradjte die Berufsgruppen in eine fließende, nod nicht zum Abſchluß gefommene umfchichtende Bewegung. Ebenfo die Verbraucer- ſchicht; auch fie ijt im umfchichtenden Fluffe. So find Sentrechte und Diagonale unftät, geſchwächt. Aber fie beginnen fic) deutlich zu binden. Feft geworden

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iftfhon heute die Bindung der neuen privatftapitaliftifen Spaltungin Leitende und Geleitete der Wirtfhaft. Die Wirt- {haftsleitung hat fid) aus der Berufsfchichtung Iosgelöft und felbftändig aufgerichtet. Auf ihrer Wagerechten gruppieren fid die Menſchen nach dem Arbeitsverhältnis. Der Beruf umfaßt heute Arbeitnehmer und Arbeitgeber ebenfo wie er früher die in fih geſchichtete Verbraucherſchaft umfafte. In der Arbeitsgemeinfdaft von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finden fic) die befonderen Bindungen der Geleiteten und Leitenden als Arbeitgeber- und Arbeitnehmergewerkichaften zur Berufsgemeinfdaft zufammen, die alfo ebenfalls in Form eines Rartells der beiderfeitigen Gewerkſchaften eine fefte Bindung erhalten hat. Diefe „Arbeitsgemeinfhaft” ift die Trägerin des fommenden berufsftändifhen Staates Ihre Borausfegung aber ift die Gewerkſchaft.

Die Revolution befeitigte die politifche Autofratie und feste an ihre Stelle neben die Parlamente, die auf politifder Grundlage beruhen und fih von der Gemeinde bis zum Reid) aufbauen, den wirtſchaftlich-demokratiſchen Aufbau der Wirtfhaftsräte, der fi vom Betriebe mit dem Betriebsrat über den Bezirkswirtichaftsrat mit dem Bezirf3arbeiterrat zum NReichswirtichaftsrat mit dem Reichsarkeiterrat emporfchichtet. Die beiderfeitigen Gewerkfchaften, der Arbeit- nehmer wie der Arbeitgeber, find zur Gleichberechtigung an der wirtjchaftlichen Entwidlung der produftiven Kräfte berufen, alfo zu Trägern diefes wachjenden berufsftandifdhen Parlamentswefens beftimmt (Artifel 165 ber Berfaffung).

Hier find die tragenden Säulen des berufsftändifchen Staates der Zukunft: die Gewertfhaftder Arbeitgeber, die Gewerkſchaft der Arbeitnehmer. Beide find verhandlungsfähige Bindungen der wagerechten Gliederung, alfo der Wirtfhaftsleitung, beide binden die Menfchen als Subjefte oder als Objekte in der Wirtfchaft, und fie verfnüpfen beide Zeile durd die „Arbeitsgemeinfchaft” der Arbeitgeberverbände und der Arbeitnehmerverbände vom 15. November 1918 in Berufen. Cie find die Erfüller der tommenden Wirtfchaftsparlamente, der Körperfchaften, die gegenüber den politifchen Parla- menten eine felbftandige wirtjchafts-demofratifche, gefeßgeberifhe Macht Bilden werden. Durd die Gruppierung nad dem Anteil an der Virt- Thaftsleitung, alfo dem Arbeitsverhaltnis, wird erft der Berufsftand gum Träger der Staatsgewalt erhoben. Ohne den gewertfdaftliden Unterbau ift der Beruf machtlos. Das Vormwärtsitreben im Berufe ift prattifd ein Streben nach der Wirtjchaftsleitung alfo der Kampf, der aus dem Arbeitsverhältnis erwächſt.

Die Gliederung nach dem Arbeitsverhältnis in Arbeitnehmer und Arbeitgeber zjerreißt das Volt, folange fie felber feine Bindungen erreicht hat. Die Gewerk— fchaft aber ift ihre Bindung3form. Die Gewerkfchaft als Verhandlungsmadt büben und drüben bewirkt den Vertrag zwifchen Leitenden und Geleiteten und bindet beide im Berufe zur Gemeinfchaft.

3.

Nun find drei Gegenftrömungen vorhanden, mit denen zu rechnen ift:

Die erfte fommt aus der Arbeitgeberfmaft. Sie fieht in der alten politifh-wirtfchaftlichen Demokratie des Parlamentes die Sicherung ihrer Vor- herrjdaft im Staate, wie fie durch das Bündnis gegeben war, das ihre Vertreter in der Demokratie mit der politifchen Autofratie der Krone gefchloffen hatten. Sie widerjtrebt deshalb den Gewerffdaften, die zu Trägern der ftaatlihen Macht zu werden im Begriff find, fie widerftrebt den berufftandifden Arbeitsgemeinfchaften und ftitgt [d dabei mehr und mehr auf die Betriebsräte. Sie hat die autofratifche

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Form der Verhandlung über die Arbeitsfraft von Perjon zu Perjon zu Gunften der demofratijdhen Form von Verband zu Verband preisgeben miiffen, und fie hofft diefe wieder bejeitigen zu fünnen dadurd, dak fie über die Arbeitskraft der Menjchen lieber von Betriebsrat zu Betriebsleitung verhandelt. Sie will die Gewerkſchaft der Arbeitnehmer untergraben, dadurd) die Gewerkſchaft der Arbeitgeber hinfällig machen und die berufftandifde Arbeitsgemeinfchaft, die erft auf den Gewerkſchaften beruht, bejeitigen. So will fie dem berufftändifchen Staat feine tragenden Säulen entziehen. Sie will die Alleinherrfchaft der Arbeitgeberfchaft durch bie Wirtſchaft im Staate.

Die zweite Strömung fommt aus der Arbeitnehmerfchaft, es ift der Syndi— falismus, eine lint8raditale Gewerffchaftsrichtung, die, wie jene Arbeitgeber- Ichaft, aud) ihre Gewerffchaften Iediglich für eine gegenwärtige, an und für fic entbehrliche Abwehreinrichtung halt. Der Synditalismus will die Arbeitnehmer- Ichaft auf der Grundlage der Betriebe füderativ bis hinauf zum Reid) organifieren, und durd) eine Revolution foll die Arbeitnehmerklafje die Wirtfchaftsleitung ergreifen.

Die dritte Strömung aber fommt von wirtfhafts-philanthropi- her Seite. Einer ihrer Wortführer it Mar Hildebert Böhm. Er hat, ähnlich wie der Kommunismus feine internationale Vorftellung, eine idealiftifch- nationale Vorjtellung vom berufftändifchen Staat. Sie will nicht an Gewad- jenes anfnüpfen, fondern fie läßt fid) von Wünfchen leiten, fie rechnet nicht mit der Wirklichkeit, jondern mit Dingen, die nicht da find, mit Vorftellungen, nicht mit Tatfachen. In feinem Buche: „Körperichaft und Gemeinmejen”,*) um desivillen id) diefe Zeilen fchreibe, fagt er: „Die Entbindung einer lebendigen Solidarität aller Glieder einer konkreten Arbeitsgemeinjchaft ift fomit die náchite Aufgabe körperſchaft— lider Erneuerung unferes Arbeit8gefiiges.” Er will alfo nicht getwachfene Bindungen alg Grundlage nehmen, fondern will neue fchaffen. Er fagt weiter: „Die ſchwerſten Gefährden erwachjen ihm naturgemäß aus dem Ueberwuchern Tängsfchichtiger Solidaritäten, die den Rahmen der Gemeinschaft fprengen und etwa den Arbeiter- beitand dieſer Tertilfabrit mit Arbeitern anderer Tertilfabriten . . ., vor allen auch den Unternehmer mit anderen Unternehmern förperfchaftlich ftárter bindet, als es die Bindung der fonfreten Arbeitsgemeinfchaft gewabhrleiftet.” Cr fieht alfo in den Gewerkſchaften fprengende Kräfte, er fieht darin nur „Solidaritäten”, nicht Gemein- Ihaften. Ich fehe darin bindende Kräfte, die als Yutereffenverbande gerade den Antrieb zur Arbeitsgemeinjchaft exft fchaffen, indem fie zunächſt die Sonderinterefjen Harftellen und fie dann überwölben. Ohne die Bindung auf der Wagerechten führen die Bindungen auf der Senfredjten zum unerbittlihen Wettbewerbstampfe der Betriebe untereinander um den Profit. Gerade die folidarifde Bindung des Arbeiter des einen Betriebes mit dem Arbeiter des anderen Betriebes und des Unternehmers des einen Betriebes mit dem Unternehmer des anderen Betriebes, eine Bindung, die das Arbeitsverhaltnis und die Wirtfchaftsleitung regelt, durch- kreuzt den Intereffengegenfag der Betriebe untereinander und verbindet die Arbeiter verfchiedener Betriebe und die Unternehmer verjchiedener Betriebe zunächft unter fid) in der Gewerkſchaft und dann miteinander in der Arbeitsgemeinfchaft beider Gemerticaften zum Beruf. An jenen Worten Mar Hildebert Böhms erkennt man die auffällige Harmlofigteit, mit der viele gutiollende Kreije dem Gewerkſchaftsweſen gegenüberftehen. Solche Gedanken arbeiten dem Scharfmachertum in der Arbeit- geberjchaft und dem Syndifalismus in der Arbeitnehmerfchaft in die Hände und gefährden gerade den berufitändifchen Staat, den fie felber erfehnen.

4

Ganz deutlich fpricht Max Hildebert Böhm es aus: „Innerhalb der bereits bejtehenden Nebenbuhlerjchaft zwifchen Gewerkfdaft und Betriebsrat fann der

*) Erfepienen bei 8. F. Köhler in Leipzig als erjtes Heft der „Grundbegriffe der Politik“. 168 Seiten. 12 Me.

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Korporativismus eine Sympathie für den modernen Betriebsrätegedanfen nicht ber- heblen.” Genau fo denfen die Scharfmacher und die Männer von der „direkten Aktion”. Alle diefe Gegenftrömungen bauen auf den Gegenfag von Betriebsrat und Gemertidaft, der nur deshalb zu beftehen fcheint, weil der Betriebsrat revolutionár verfrüht eingerichtet wurde, anftatt aus der Arbeitsgemeinfchaft der Arbeitnehnter- und der Arbeitgeberverbánde im Verlaufe organifcher Durdgliederung nad unten zu madje. Die erbittertiten Gegner finden fid) hierbei auf demfelben Wege zu- fammen die fic) nur darin gleichen, daß fie die Gewerkſchaft und damit die tragenden Säulen des berufftandifden Staates vernichten wollen. Die wid- tigfte Aufgabe derer, die den berufftändifhen Gedanken pertreten, ift die Vereinheitlidung von Gewerkſchaft und Betriebsrat. Nicht der Betriebsrat muß notwendig der Starfere fein, aud nicht die Gewerkſchaft, fondern beide follen von der Gliederung der Diagonale, vom Verbrauch, geführt werden. Alfo von der Vebenshaltungstultur alg der Diagonale im Parallelogramm der Kräfte, als Einheit beider Strebenden! Daß der Verbraud die Erzeugung und die Verteilung der Güter bejtimme, ijt die Vorausfegung jeder Gemeinwirtſchaft, die zur Kultur führen fol. Ueber Beruf und Arbeitsverhältnis fteht die Lebenshaltungstultur. Sie erfüllt den Beruf mit Geift und läßt ihn durch den Beruf alg den Träger der Staat- gewalt im Staate herrfchen. Und darauf fommt e3 an. Dabin führt nur ein Weg. Der Mertgutgedante dem auch Böhm ja freundlich gefinnt ift zeigt ihn. Die Notwendigkeit für die Gewerkſchaft, die Wertigkeit der Arbeitskräfte, die fie als geichloffenes Angebot auf den Markt ftellt, zur Erzielung höherer Preife (Löhne und Gehälter) fortwährend zu heben, führt fie flgerichtig zur Erziehung der Arbeit nehmerjchaft zu einer beredelten Kultur des täglichen Lebens und damit zur Ver- edelung des Verbrauchs, in der Folge zu deffen Herrfchaft über Gütererzeugung und Giiterverteilung, zur Befeelung der Arbeit, zur Einigung der Arbeit des Arbeit- nehmers und des Arbeitgebers in der Werfgemeinfchaft, und zur fittlihen Unter: mauerung der Mitleitung durch die Arbeitnehmerfchaft im Betriebe und der Arbeit- nehmertlaffe in der gefamten Wirtjchaft.

Die Gewerffchaften wollen ja mehr als den Arbeitsmarkt regeln. Sie wollen Macht. Sie ftreben danach, Gachwalter der wirtfchaftlichen Kräfte der Arbeit- nehmertlaffe zu fein. Sie ftreben danad, diefe Kräfte zur Macht zufammenzufaffen und als Träger einer Arbeitnehmermaht als Gegengewicht der Arbeitgebermadyt Mittrager der Staatsgewalt zu werden, in der beide Mächte als Einheit zur Geltung fommen! Diefen Willen hat die Gewerkſchaft, und es ift vergebliches Bemühen, wenn andere Leute, die e8 nod) fo gut meinen mögen, ihr diefen Willen ftreitig machen. Der Staat ift ja doch das Beziehungsverhältnis der Menfchen in der Gefellichaft, untereinander als den Einzelnen und zu ihr als einem Ganzen. Die Frage nad) der Berehtigung folden Machtſtrebens ijt überflüffig; die Arbeit- geberfchaft hat auch das Recht und läßt es fich mit Recht nicht ftreitig machen. Will fie darüber hinaus Gemeinfchaft, fo mag fie der anderen Macht die Hand zum ehrlichen Bunde reichen. Gewerkſchaft der einen und Gewerffchaft der anderen, verbunden in der Arbeitsgemeinfchaft alg Trager der Staatsgewalt, deren Gemein ichaftswalten durch fittliche Verantwortung und Pflichtbeiwußtfein getragen werden! Dies Machtftreben ift, wirtfhaftlih gefehen, Unternehbmungs- initiatibe, und fie ift bei den Arbeitnehmern fo gut berechtigt mie bei den Arbeitgebern. Staatlich gefehen ijt es Fihrungswille Menſchlich gejehen, ift es felbftverftändlicher, natürliher Freiheitswille. Er macht den Menfchen zum Menfchen, und er ift aud) hier der Grund zu allem.

Ein „berufsftändifcher Aufbau” unmittelbar auf den Berufen oh we die mage rechte Gruppierung würde immer damit belaftet fein, daß in ber „Eonfreten Arbeitsgemeinfchaft“ die Arbeitgeber den Arbeitnehmern überlegen waren. Die 182

Arbeitnehmer würden der fchivächere, beherrfchte Teil fein müffen. Denn die Erarbeitung von Kapitalzuivads ift für den Betrieb zwangsläufig, fo bas allez Wohlivollen fait machtlos ijt. Das Fehlen der Gemeinfchaft würde den Betriebsrat zwingen, in erjter Reihe die notwendige Bntereffenvertretung der Arbeitnehmer zu leiften, und würde fo die Werfgemeinfchaft fprengen, anftatt fie zu feftigen. Wo aber das gejchehen würde, da wäre die Werfgemeinfchaft der Betriebe untereinander aud) unmöglich, da fie den Betrieb ala Werkgemeinſchaft vorausſetzt. Bindet man nicht hüben die Arbeitnehmerintereffen aller Betriebe und drüben die Arbeitgeberintereffen aller Betriebe zunächft für Hd, um dann beide in der Arbeitsgemeinfchaft über den Betrieben zur Einheit zu bringen, dann hetzt man Betrieb gegen Betrieb, loft das Beziehungsverhältnis der Menfchen aus dem fittlichen Gleichgewicht und macht es zu einem Kampfe aller gegen alle zu dem häßlichjten aller Klaſſenkämpfe, nämlich zu einem unorganifterten und ungeleiteten.

Das find Gedanken, die für jeden Gewerkſchafter felbftverftandlid find. Wer ohne fie zum berufjtändifchen Staate möchte, wird an Klippen fcheitern. Wer den berufftandifden Staat8gedanten vertreten will, foll fic) gründlich mit den Gewerk— ſchaften auseinanderfegen. Die Schrift von Mar Hildebert Bohm zeigt jedem Gewerkſchafter, der fie left, wie fehr die Gewerkfchaften verfannt werden, tie febr ihre Bedeutung alg notwendige Cinridtung der Wirtjhafts- organifation und alg Selbftfhule der Arbeitnehbmerjhaft zum Mitleitungswillen, zur Mitleitungsfähigfeit, zur Mitleitungamadt und zum Mitleitungsrecht felbjt den in der Gefinnung zu uns Gehörenden verborgen blieb. Alles Arbeiten am berufftändifchen Gedanfen, das die Gewerffchaften vertennt, gefährdet fein eigenes Ziel. Paul Broder.

Kritische Selbfthilfe.

ie Art und Weife, wie einer für feinen Hausgebraud die Werke der fchönen

Literatur beurteilt, ift fehr verfdieden nad Lebenserfahrung, Gefchmad3- bildung und Abhängigkeit von den Mode- und Zeiturteilen. Aber jeder, der nicht nur zum Zeitvertreib und Vergnügen lieſt, fieht fic) bewußt oder unbewußt nad) Mapftäben äfthetifcher Art um, die ihm eine Handhabe zur richtigen Beurteilung aller der Bücher bieten, die fid) in fo großer Fülle an ihn herandrángen. Dabei hat mancher freilich das Gefühl, daß das rein Aefthetifche nicht ausreicht, da die Geijter, die fid) hergudrangen, gar zu verfchiedenartig find. Hinzu fommt, daß eine lediglich äfthetifche Ausbildung heute ficherlich fein Beitideal mehr ijt.

Die Lage ift in der Tat fo, dak unjere Literatur eine folche Geftalt angenommer Bat, daß wir fie mit Werturteilen, die nur ajthetifd im engften Sinne des Wortes find, nicht mehr meiftern fónnen. Es treten da Erfcheinungen auf, die nicht nur bon großem Können zeugen, die alle Mittel der Technik fpielen lafjen, ja denen man dichterifche Kraft nicht abfpredjen kann, und die man doch abzulehnen fic gedrungen fühlt, weil der Geift, aus dem fie geboren find, ein fremder ift, weil fie gefährlich und fchädlich find. Wir können dann nicht umbin, bei der Beurteilung, die wir ihnen angedeihen laffen, auch den Gedanken des Volfstums wirken zu laffen, in dem Sinne, daß wir nur das als deutfche Literatur anfprechen fónnen, was aus dem Bolfstum geboren ift, was Ausdrud des Volfstums ift und zu deffen lebendiger Ausgeftaltung mitzuwirken imftande ift.

Aber e3 ift doch nur fcheinbar, dak wir das äfthetifche Gebiet ganz und gar berlaffen, wenn wir den Begriff des Voltstums bei der Beurteilung ſchöngeiſtiger Werke wirken laffen. Gewiß, man till uns lehren, das Aefthetifche fo eng wie möglich zu fallen, bei einem Werfe nur zu fragen, was e8 rein literarifch für Vorzüge hat, wie die Idee durchgeführt, wie die technifchen Mittel angewandt find. Man fagt uns, daß wir bei der Prüfung eines jeglichen Runftrertes ängftlich ver-

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meiden miiffen, irgend etwas Außeräfthetifches Hineingutragen, dak wir ja nicht nad) dem Stofflichen oder gar nad) dem Moralifchen fragen dürfen. Aber wenn man fo Spricht, will man oft das Aefthetifche nur einengen auf das rein Formale, auf das Techniſche, auf das Virtuofenhafte, man verbietet uns dann, zu den Quellen, aus denen die ganze Formgeftaltung herfommt, dorzudringen.

Bei cincr wirklichen umfafjenden äfthetifchen Beurteilung müffen alle Quellen und Hintergründe mit beachtet werden. Was habe ich gum Beifpiel an Schiller, wenn id) nur den Glanz und die Pracht feiner Sprache, den kunſtvollen Aufbau feiner Dramen, dic Beherrfchung der Maffen, die idealiftifche Größe feiner Geftalten bewundern oder aud) fritifieren dürfte, wenn ich nicht die menschliche Größe jpürte, aus dex alles herfließt, und die hohe Gefinnung merkte, die fic) in allem einen Ausdrud ſucht? Wie wenig wäre Goethe felbjt erjchöpft, wenn wir nur die kriſtallene Slarbeit und objektive Lebensfülle feiner didjterifden Werke bewerten wollten und aingen an dem perfonliden Leben, das fic) darin offenbart, achtlos vorüber, weil das über das Formale des rein Aejthetifchen Hinausragt? Wir waren Banaufen, äfthetifche Philifter, die e3 ängjtlich vermieden, aus dem Strom des Lebens felbft zu ſchöpfen.

Nein, bei einer umfaffenden äjthetijchen Beurteilung foll das Kunftiwerf als Ganzes wirken mit der Perfönlichkeit, die es gefchaffen hat und die fic) darin offenbart. Das ift doch oft das Bejte an einem Gebilde der Kunft, bab es Ausdrud einer menfchlichen Seele ijt. (ES ift eben fein Naturproduft, bei dem lediglich die volltommene Durdorganifierung Bewunderung ertvedt, fondern es ift die Schöpfung eines menfchlichen Geiftes, und ich fann e8 ganz nur verftehen, wenn ich bewußt oder unbewußt eine Anſchauung des Geiftes, der fein Urheber ift, gewinne; und diejen individuellen Geift fann ich nur begreifen als Vertreter eines größeren geijtigen Ganzen, alg Reprafentanten des Volfstums, aus dem er ertvachfen ijt. In dem Sunjtmert, das ich beurteile, beurteile ich lebten Endes den Künſtler, nicht alga Menſchen Meier mit diefen oder jenen bürgerlichen Eigenschaften und Gemwohn- beiten, fondern al3 geijtige Größe, als befonderes eigentüimliches Gebilde aus dem ewig flutenden Alleben des Geiftes, als Schöpfungsproduft der Geifteswelt, oder wenn ich e3 einmal tiefer ausdrüden will, alg Vertórperung eines Gottesgedantens. Wenn wir aber bedenken, dak der einzelne, und fei er noch fo grok, nicht mie ein Komet aus fremben Himmelsgegenden in unfere Welt hineinfchießt, fondern irgend- wie mit einem bejtimmten Voll8tum in Zufammenhang fteht, dann miiffen wir ihn aud) alg Vertreter feines Volfstums zu verftehen fuen. Wir würden ihn aud äjthetifch nicht vollfommen begreifen, wenn wir diefe Beziehungen nicht erfaßten.

Vor mir liegt das nun fehon ältere Werk eines Franzofen, Emile Hennequin, La Critique fcientifique, ein Verfuch, die Kritik dichterifcher Werke auf wiffenjchaft- liche Grundlagen zu bringen. Daran ift bezeichnend, daß es neben die rein äfthetifche Analyfe im engeren Sinne eine pfochologifche und eine foziologifche Analyfe der Dichtung und des Dichters ftellt. Freilich verwirft e innerhalb der foziologifchen Analyfe gerade das Bejtreben, den Einfluß der Raffe und dez Milieus aufzudeden, da das nur bei primitiven literarifden und foziologifchen Verhältniffen möglich fei. Aber es ijt Doch bezeichnend, daß das Ungenügende einer Kritik, die ſich nur auf das Formal-Aefthetifche befchränft, eingefehen und eine umfaffendere Anſchauung der Dichterperfönlichkeit gefordert wird. So foll, und darin befteht die Forderung der piychologifchen Analyfe, aus dem Kunſtwerk ein Bild des Geiftes ermittelt werden, deffen Ausdrud es ift. Nun twohlan, wenn das eine finngemäße Forderung ift, fo fann die andere nicht ausbleiben, bon dem individuellen Geift zurüdzugehen auf den gefamten Geijtesboden, in dent der einzelne wurzelt, das ift das Volkstum als geijtige Größe, von der und in der die einzelnen leben.

Wem der Gedante des Volfstums aufgegangen ift, der fann ihn aud) bei der

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äfthetifchen Betrachtung nicht ausſchalten. Ya, unfere Lage ift heute fo, daß wir ung im bodjten Grade verpflichtet fühlen müffen, immer und überall bet unferm praftifchen Handeln, bei der Beurteilung aller geiftigen Erfcheinungen den Gedanfen an das Volkstum vorwalten zu laffen. Denn unfer Volfstum, der geiftige Boden, auf dem mir ftehen, die geiftige Macht, ‘die uns umfangen hält und in der totr leben, ift von außen und innen bedroht. Von außen durch unfere politifche Lage, bon innen durch fremde Geifteseinflüffe, die eine unheimliche Gewalt bei uns ge- wonnen haben. Da fónnen wir ung den Luxus nicht erlauben, in allen möglichen geiftigen Genüffen zu ſchwelgen, uns nad) Laune gehen zu lajfen; wir müffen darauf halten, die geiftige Grundlage unferes gefamten Seins zu wahren und uns felbft in einer Form zu halten, bab wir den Zufammenhang mit dem Mutterboden unferes Geiftes nicht verlieren. So fónnen wir nicht umbin, auch bei jedem Erzeugnis der Kunft und der Literatur zu fragen, wie e3 zu unferm Volfstum fteht, ob e3 aus ihm erwachſen ift, oder ob e8 von andersivoher Nahrung und Kräfte zieht. (ES gehört das mit zu einer äjthetifchen Beurteilung umfaffenderer Art.

Aber ein Kunft- und Litevaturiwerf ijt nicht nur das Ergebnis bejtimmter Kräfte, es hat auch feine befonderen Wirkungen. Diefe Wirkungen, die von ihm ausjtrahlen, zu beobachten, iſt gleichfalls Aufgabe der Kritif. Hier freilich muß man das Nejthetifche zunächſt unterfcheiden von dem, was an den Wirkungen, die bon dem Werke ausgehen, fonft der Beurteilung unterliegt. Die rein äfthetifchen Wirkungen im Beichauer oder Lefer, das Reproduzieren, die Erhöhung des Lebens- gefühls, oder wie man das rein äfthetifche Auffaffen eines Sunjtiverts fonft um- reiben will, find zunächſt eine Sache für fih. Aber das alles bleibt nicht vereinzelt und ifoliert im Betrachter, fondern es febt fich mit dem Ganzen feines Innenlebens in Verbindung, und fo übt das Kunſtwerk feinen Einfluß auf die ganze innere Lebenshaltung des Aufnehmenden aus. Eine wirklich umfaffende Betrachtung und Beurteilung eines Dichtiverkes kann demnach auch an diefen Wirkungen nicht vor- übergehen, und fo fann man es wohl verftehen, wenn Hennequin es zu den Erforder- niffen einer wirklich wiffenfchaftlichen Kritik rechnet, auch diefen Beziehungen nach— zugehen. Seine foziologijche Analyfe bejteht zur Hauptfache darin, das Kunſtwerk durch die zu charakterifieren, bei denen e3 die günftigfte Aufnahme findet.

Vom Gedanken des Volkstums aus ftellt fich die Frage allerdings etwas anders, und bier wird die reine Aejthetif überfchritten. Da das Volt3tum eine lebendige, alfo aud innerhalb gewiſſer Grenzen veränderliche Größe ift, find wir zu der Frage berechtigt: Wie wirft das Kunſtwerk auf unfer Volfstum, welche Einflüffe gehen von ihm aus? Iſt e3 dazu angetan, e8 günftig oder ungiinftig zu verändern? Es ware unter den heutigen Berhältniffen eine übel angebrachte „Sachlichkeit“, eine wirklich- feitsfremde Prinzipienreiterei, wenn wir es uns felbft verbieten twollten, folche Fragen auch an ein Kunſtwerk zu richten. '

Nehmen wir ein Beifpiel. Guftav Meyrints Golem, der befannte Roman, der während des Krieges feinen großen Erfolg hatte, ift außerordentlich gefdidt und mit vollendeter Virtuofitat gefchrieben. Ja, e8 wäre Unrecht, ihm dichterifche Kraft abzufprehen. Wenn man ihn rein formal äfthetifch beurteilen wollte, müßte man ihn im wefentlichen anerkennen. Aber es ift gerade angefichts diefes Wertes unmöglich, bei dem Formal-Xefthetifchen ftehen zu bleiben. Gerade in ihm drängt fic) der Geift, die Individualität des Dichters fo ftart hervor, daß mir ung genötigt feben, auch zu ihm Stellung zu nehmen. Mit Händen ift e3 zu greifen, daß diefer Geift nicht aus dem deutfchen Volfstum erwadfen ift. Die Triebe, die Inſtinkte, die feelifhen Gewalten, die in dem Buche umgehen, ftammen aus Niederungen des Seelenlebens, die fernab von dem liegen, was wir alg deutfches Wefen empfinden und berftehen. Und es ift nicht ettwa fo, daß der Künstler lediglich die Ghettoumgebung feiner Geftalten wiedergegeben hat und dadurc der Seelengehalt des Romans

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entjtanden ijt. Man müßte dann gleihfam als Atmofphäre, in der das Ganze ruht, über diefem allen die andersgeartete Seele des Dichters fpüren. Go fehr diefer ſich aud bemühen mag, in die Sache, die er darftellt, einzugehen, die Befonderheit feiner Perfönlichkeit tónnte er doch nicht auslöfchen. Aber von einer Spannung zwijchen der Perfonlidfeit des Dichters und der Seelenwelt, die er vorführt, merken mir nibt3. Wir müffen demnach annehmen, daß beides irgendivie gleichgeartet ift, und fo gelangen wir zu der Ueberzeugung, dak das Werk nicht dem Boden des deutfchen Volkstums entjproffen ift. Darin werden wir beftätigt, wenn tir beobachten, daß das GSittlichfeitsideal, das aus dem Roman hervorfchimmert und in der Geftalt des Rabbi Hillel Gejtalt gewonnen zu haben fcheint, gleichfalls Züge trägt, die uns wefensfrentd find, fo daß es der Dichter zum Beifpiel fertig bringt, einen Luftmörder borzuführen, der zugleich ein Heiliger ift.

Es würde zur Kennzeichnung des Werkes felbft noch gehören, wenn wir uns umfähen, von welchen Kreifen es mit Zuftimmung aufgenommen wird. Wir wollen jedod) diefen Weg nicht verfolgen, fondern nur fo viel fagen, daß man bei den Lefern unterfcheiden müßte zwifchen denen, die e3 aus Seelenverwandtfchaft ſich zu eigen maden, und den vielen andern, die eS damals gelefen und auch bewundert haben, weil e8 durch den fleineren, aber jehr einflußreichen Kveis ber Seelenverwandten zum Bud) de3 Tages erhoben wurde. Uns geht hier die andere Frage mehr an, wie das Buch auf unfer Volf, auf fein Wejen, auf feinen Seelenbeftand, wir können auch fagen, auf unfer Volfstum gewirkt haben muß. Wo der Geift, der aus dem Buche ſprach, fo eigentümlich und ausgeprägt war, wo er unferm Bolfe fo fremd gegenüber ftand, fann er, da man ihn dod) wirken ließ, indem man das Buch verfchlang, nicht ohne Einfluß geblieben fein. Und gwar muß er ftörend und zerftörend in feiner Wirkung geweſen fein, denn der Einfluß des Fremden fann nur auflöfend auf die Aus- und Weiterbildung des Volf8tum3 wirken, wenn das, twas es bietet, nicht zufällig etwas Gutes ift, das das Volfstum zu feinem Aufbau gebrauchen fónnte. Wer aber wollte das im Ernfte von Meyrints Werk fagen? Da heißt es alfo im Namen des Volkstums zurüdweifen, ablehnen, verwerfen.

Will man diefen Standpunkt philiftrös nennen? Wer es will, foll es tun. ES mag aud) die Gefahr vorliegen, daß man im einzelnen Fall eng und befchränft wird, weil man etivas, das zunächft und auf den erften Anblid fremd erfcheint, obre es dod) im Grunde zu fein, verwirft. Feder vernünftige Grundfak läßt fih durd Mipbraud ins Verkehrte drehen. Aber wer die Bedeutung des Volfstums alg des Duell aller unferer inneren und äußeren Kraft erfannt hat, der fühlt auch die Ver— pflichtung, e8 zu behüten und vor Schädigungen zu bewahren. Wer den Blid dafür geivonnen hat, wie fchlimmer als unfere äußeren Feinde, die ſchließlich dod) nur immer das Aeufere treffen können, von innen her gegen den Beftand unferes Volks— tums gearbeitet wird, der kann fic) diefer Pflicht erft recht nicht entziehen. Das geijtige Leben, wie es in unferer Literatur emporquillt, ift ein wefentlicher Beftand- teil unferes Volkstums oder wirft auf unfer Golfstum. Go find denn hier arch die Wächterdienfte nötig, doppelt nötig, weil hier am meiften gefündigt wird.

Chriſtian Boeck.

Bächerbriefe Bücher vom Schickſal der deutſchen Muſik.

Sechſter Brief. Ss)" dunkle Gefühl der Wertverfchiebung in den Künften, die ich Ihnen andeutete, 186

hat aud die Ausführungen eines Buches beftimmt, das den ftolzen Titel führt

„Die mufifalifhen Probleme der Gegenwart und ihre Löfung” von Karl Bleffinger. Es kann als Schulbeifpiel gelten, wie Symptome richtig erkannt, aber faljch gedeutet werden. Nach einer kurzen Entftehungsgefchichte der europäifchen Mufit, die das Bejte des Buches ut, gelangt der Verfaffer zur Feftitellung der Mängel und Schäden, an denen unſer Mufitbetrieb frantt. Berechtigte Kritit an Oper, Kongertunwejen, Virtuofentum, Publifum verleitet ihn nun aber zu dem Schluß, daß das, mas er „abjolute Mujit” nennt, und wozu er nicht nur die eigentliche Ton- didjtung, fondern 3. BD. auch die moderne Oper rechnet, in feinem Grunde unfähig fet, das ,Volt” zu berühren. Sie fehen, wie hier ein falfher Schluß fehon dadurch eittiteht, bab man die anmaßliche Unverjtändlichkeit der heutigen Weltanfchauungs- oper mit der fehr verjtandliden und bon weiten Sreifen verjtandenen älteren Mujit zuſammenwirft, zu welder man aud das „Volk“ nicht durch wifjenfchaftliche Be- lehrung vorbereiten, fondern nur durch frühe Gewöhnung des Hörens zu erziehen braudt. Bleffinger, der richtig fühlt, daß eine Gefundung unferes Kunſtlebens nur durch einen größeren Anteil des Volfes an der Kunſt möglich fein wird, ftedt fic) aber nicht diefes kunſtethiſche Ziel einer Erziehung des Volfes zur hohen Kunft, für das einer leben könnte; fondern durch foziologifche Theorien und mafjenpfychologifche Erwägungen verwirrt, fordert er ein Nachlafjen der allzuernften Forderungen der abjoluten Muſik! „Es ift nötig, die jchroffen Gegenfage ziwifchen der hohen Muſik einerfeit3 und der populären Mufif andrerfeit3 aus der Welt zu fchaffen. Dies fann nicht durch eine irgendivie geartete Befämpfung des populären Schundes gefchehen . . Ebenfowenig ift aber eine einfeitige Propaganda der vorhandenen ernften Muſik im Volte wünfchenswert, da diefe Mufif den Bedürfnifjfen des Alltags, die dod ſchließlich aud ein Anredht auf Befriedigung haben, allein nicht gerecht wird.... ESmupalfoeineneue Mufitgefhaffen werden, die den wirtliden Bedürfniffen der heutigen Zeit ent{pridt, die fich einerfeits von den Niedrigkeiten der heutigen populären Muſik fernhält und andererjeits auf das Streben nad dem Abfoluten... verzichtet.” Sie fehen, hier fühlt einer ganz richtig, welche befcheidene Aufgabe einer künftigen Mujit gefegt Ht; er twill wieder Mujit als dienende Kunft, als angewandte, alg Zweck-Kunſt; aber daß er wefentlicy) nur diefe nebenbei: mod) ungefdaffene Muſik als „Ausdrud der Zeit“ will, und ihr vor allem in der mufifalifhen Erziehung der Jugend, wie er des Weiteren ausführt, den erften, ja einzigen Pla zuzuweiſen gedentt das fpiegelt dod) nur Lie inftinttive Abkehr bon der großen Tondichtung der Vergangenheit, die man eben nicht mehr hören kann und darf, wenn einem die befcheidene Aufgabe einer populären Zukunftsmuſik ernft fein fol. Das deutjche Volt aber dürfte fich für die Neformworfchläge und Neu— organijationen bedanken, die es feines höchſten mufitalifchen Gutes, für das .allein der ganze Mufifapparat fic) lohnt, berauben wollen. Die naive Befangenheit des heutigen Fachmuſikers erreicht ihren Gipfel, wenn er fid) als Anwalt des Volte3, des mufitalifden Laien, auffpielt; und es ift ſchon grotest, wenn er nun die einzige große Kunjt, die bisher, im Gegenfag zu Bildender Sunjt und Dichtung, in neuerer Beit einigermaßen volfsmagig gerejen ift, die deutfche Mufif, in Baufch und Bogen verwirft, zugunften einer von ihm und feinesgleichen auf Beftellung anzufertigenden ¿meuen” Muſik, die, endlich, „allen Anfprüchen genügen” wird. „Es darf nicht mehr beißen „hie abfolute Mufif, Die angewandte Mufit”, nicht mehr „hie Mujiter, Die Laien“. Die beiderjeits bejtehenden Vorurteile müffen ſchwinden und gegenfeitigem Vertrauen Pla machen. Dies alles ift nur möglich, wenn eine neue Mufit geſchaffen wird, denn die bisher bejtehenden Arten von Mufik find alle ohne Aus- nahme, teils in Wirklichkeit, teils nach tiefeingerurzelter allgemeiner Meinung nur pon einem bejtimmten einfeitigen Standpunkte aus geniegbar. Wie aber jeder Vorteil einen entfpredenden Nachteil im Gefolge hat, fo läßt fid) auch hier ein ſchmerzliches Opfer nicht vermeiden: unfere herrliche klaſſiſche Muſik wird vorläufig

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im Rahmen der neuen Organifation nur einen ganz bejcheidenen Play einnehmen fonnen. Sie foll beileibe nicht verdrängt werden; auf feinen Fall darf fie verloren gehen. Aber fie darf auch nicht mehr das gefamte Mufitleben allein beherrfchen: der Lebende mu fein Recht erringen. ... Die Zurüdführung des Einflufjes der klaſſiſchen Mufit auf ein entfprehendes Maß bedeutet dod wohl Feine Pietátlofigteit gegen unfere Meijter.” Nun, Gott behüte uns vor den Reform verfuchen der Mufitpfaffen, die, begreiflicheriveife, als Lebende, ihr „Necht” erringen „müffen”. Diefem fingierten Satenftandpuntt des Pfaffen gegenüber muß der echte Zaienftandpuntt eingenommen werden: daß nur da 8 gilt und den Gnbalt und Bwed unfrer Mujitinftcumente auszumachen hat, was wahrhaft zu Herzen redet; und da diirfte Die Wahl zwiſchen der Eaffifschen Mufif und der allen UAnfpriiden geniigenden Zukunftsmuſik wiederum nicht zweifelhaft fein. Und diefe Scheidung zwiſchen Muſik— pfaffen und Laien bereitet fich, wie ich Ihnen im vorigen Briefe fagte, [Hon überall vor. Die heutige Jugend hat nicht nur, wie feine Generation feit langem, das Volfslied wieder erlebt, Reigen und Tanz früherer Zeiten wieder lebendig gemadt; fie pflegt auch aus Inſtinkt, und nicht aus irgend einer afademifden Befangenheit, vorzugsweiſe die ältere, felbft vorklafiifche Muſik. Dilettantenorchejter und Schüler- bereinigungen aller Art fuchen fic) von dem berufsmäßigen Virtucfentum unabhängig gu machen, das eines Tages, ſchon rein wirtfchaftlich, bei unferm Zuftand al3 große Züge zufammenbrechen muß. Von Hier aus allein, von den Sehnſüchten einfacher Menſchen, die nur die Muſik, nicht ihre irgendivie geartete Interpretation, nur das Erlebnis, nicht Kritif oder Unterhaltung fuchen, wird auch die Reform des Konzert- faals ausgehen. Was Bleffinger fpeziell von diefem, ebenfalls im Vorbeigehen von ihm „gelöften” Problem fagt, fteht an Hilflofigteit und Ahnungslofigfeit noch weit unter den vorhin gegebenen Stilproben. Anftatt das Durcheinander der Rongzert- programme zu bekämpfen, hält Bleffinger 3. BD. es für das Richtige, ftiliftifche Kontrafte der „Darbietungen“ durch größere Baufen abzuſchwächen: ,,insbefondere wäre darauf zu achten, bab in den Nebenráumen Erfrifhungen gereicht würden, ohne daß ein ftimmungsftörender Wirtshausbetrieb einrifje.” Eine Reform der Kammermuſik, die bisher, wie richtig bemerkt wird, in zu großen Räumen ftattfand, läßt fic) nach Bleffinger dadurch erreichen, dak man Tifche im Saal aufítellt, und „denen, die e3 wünſchen, Getränfe und Erfrifchungen reicht”. „An und für fic) ift nicht einzufehen, weshalb es eine Entweihung der Mufit fein follte, went fie bei einem Glafe Wein oder Bier genoffen wird.” Nun, eine Entweihung der Bleffingerfhen Zukunftsmuſik ift gewiß dadurch nicht zu befürchten. Der wiederum richtig erkannte optifche Mangel unferer Konzerte, die nicht mehr den Blidpuntt des kirchlichen Altars oder einer feierlichen Bühne haben, fondern ftatt deffen das Varietépodium der Ausführenden, wiegt für Bleffinger nicht allzuſchwer. Zwar foll man die vorhandenen Räume da „auf Mittel zum Bau neuer Säle fiherlich nicht zu rechnen ift“ „nach Möglichkeit im neuen Geifte ausgeftalten”. Aber „das Podium wird wohl in allen Fallen in feiner heutigen Geftalt bleiben müffen, es fann höchſtens verfucht werden es durch Pflanzenarrangements zu umkleiden“! und fo weiter. Siebenter Brief.

Sie meinen es gut mit mir: Sie hoffen mich den Niederungen deutfcher Bier-Ronjert-Politif, deren Dokumente aud) Sie verjtimmt haben, zu entreißen, indem Sie mid) bitten, die Bücher eines Ausländers zur Hand zu nehmen, in denen, wie man Ihnen allgemein jagt, eine höhere Schau des Schickſals der deutfchen Muſik fic) fpiegle. Sie meinen, e3 müffe eine Beftátigung meiner Anficht von der über- nationalen Bedeutung der deutfchen Muſik fein, wenn ihr Gefamtphanomen zur Beit von einem Ausländer beffer überfehen und Dargejtellt werde, al3 bon einem Deutjchen. Nun, ich habe e3 getan, id) habe Romain Rollands Bücher gelefen; aber die erhoffte Wirkung ift ausgeblieben. Jm Gegenteil: angefichts

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diefer Bücher möchte ich einiges von bent, was id) fagte, zuritdnehmen oder wenig— ftens dahin modifizieren, bab wahres geiftiges Verftandni3 zwifchen den Volteri nur auf den höchſten Höhen, von Genius zu Genius, möglich ift, minderen Geiftern aber in erfchredendem Maße verjagt fcheint; woran auch der befte Wille zum Ver— ftehen nichts zu ändern vermag.

Zwar, das Beethoven-Bud) ijt erſchütternd aber Nollands Tat ijt hier nur die gefchidte Gruppierung der Lebensdofumente, die aus deutfchen Büchern wohl jur Genüge befannt find, aber nirgends auf fo engem Raunt fo eindringlich neben- einander ftehen. Rollands eigene Worte zur Deutung der Beethovenfchen Gejtalt find entbehrlich, vielfach fogar jtörend, zumal man ihnen auch nod) in der Ueber— fegung immer nod) zu ftart das Fremde des franzöfifchen Atzents anmertt. Jeden— falls erheben fie fi) nie zur Höhe der Darftellung, die wir in Bettina Brentanos Briefen befigen, die ich Ihnen nur immer wieder, al8 das Songenialfte, was über Beethoven gefagt worden it, ans Herz legen muß.*)

Und der Jean Chriftophe? Id) geftehe, id) war immer jfeptifch gegen einen dreibändigen Roman über deutfhe Muftt denn dafür Hielt ich ihn —; ich meinte, das müffe fich fürzer machen laffen. Nun, es ift kürzer abgemadyt, alg man nad) dem Renommee des Buches erwartet: etiva vier Seiten von den 800 des erften Bandes betreffen die deutfche Muſik, während fie im zweiten garnicht, im dritten faum mehr erwähnt wird. Und was da ftebt, ift weder für bie deutfche Mujit, nod) für den Verfaffer fehr ſchmeichelhaft man kennt e3 fo ungefähr aus Niepfche, aus der Zeit, da diefer feine Ueberfáttigung an Wagner auf die gefamte deutjche Muſik übertrug. Aber, o Jronie, gerade Wagner wird hier, trop mancher bos— haften Bemerkung, die er fich gefallen laffen muß, im Wefentlichen gerettet; bae gegen wird die „Lüge“ der deutichen Seele felbjt bei Bad, Beethoven und Schubert nachgetviefen. „Da war der unter feiner Empfindjamteit wie unter filometertiefen, ducchfichtigem fadem Waſſer erfäufte Schubert”. Bei Bad) „riecht e3 nad) Duff“, man hat das Empfinden, „daß er im feftgefdloffenen Zimmer ſchrieb“, oder man meint „pausbädige Engeljungen mit runden Waden und davonfliegenden Draperien” im „Sefuitenftil” mancher Werke zu fehen. Ich weiß, das follen feine abfoluten Urteile fein; immerhin find fie fo ziemlich das einzige, was über deutfche Mufit in dem Buche fteht. Gewiß, fie find vom Autor nicht als feine Urteile ausgefprochen, fondern feinem Helden, der fich in einem gewiffen Alter feiner Entwidlung gegen die Ueberlieferung aufzulebnen Hat, in den Mund gelegt. Aber was bedeutet das fchlieglih? Doch nichts anderes, al3 bab man ein fo unge- heures und unerfchöpfliches Ding wie die deutfhe Mufit negieren muß, um für die Mufif eines Romanbelden, das heift für ein unbewiefenes und unberveis- bares Nihts Raum zu fchaffen. Und hier fommt man zun Zentrum: es ift überhaupt eine Sünde wider den heiligen „Geift“, Geijtiges, Künftlerifch-Prin- zipielles, Reformatorifches, felbjt bloß Kritifches in einem Roman zu fagen, das beißt: eg unverbindlich feinem Helden und Statiften in den Mund zu legen. Entweder, es ift einent mit dem Geiftigen ernft, dann reißt man nieder, falls man tritifieren und reformieren will, und beweift, was man fagt, und jchafft in harter Arbeit, praftifh oder theoretifd), die Bedingungen für Neues. Oder man will unterhalten, und vielleicht auch feine fleine Seele etwas erleichtern, dann feyreibt man Romane. Künftler-Romane, mo jedes Urteil und jedes Er- lebni2 bom Autor auf den Helden und deffen gerade fo gejtimmten Buftand abge- wälzt werden fann, find das widerwärtigfte, was es giebt. Aber leider fchreibt ja heute jeder Begabtere, der vielleicht die Einficht Hätte, zu handeln und zu lehren, Romane, wo die Helden handeln und lehren: das ift bequemer, unverantiwortlider, und man fchlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: man wird theoretifch ernft, b. 5.

*) —— nee mit einem Rinde. Ausgabe bei Eugen Diederichs, Jena 1906, 2. Band, ©. 122 ff.

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geiftreich und intereffant genommen, ohne für feine Theorien haftbar zu fein; und ijt zugleich ein Dichter, da man einer „Lünftlerifchen Form der Darftellung” Hd; bedient.

Ueber Rollands Roman alg foldjen fteht mir fein Urteil zu Sie wiffen, wie ich über Romane im allgemeinen dente. Daß biejer weſentlich erotijche, franz zöfifch-erotifche Entwidlungsroman zu den wenigen Ausnahmen gehören könne, die man troß der Unform des Romans als Sunftiverte gelten laſſen müßte, Ut mir bet feiner Zeile in den Sinn gefommen. Aber die dee? Der Grundgedanke, dak ein Genie Heute in der Muſik weiterführend, reformierend, ja im höchſten Einne abſchließend auftritt, ijt das Grundmifverftandnis der deutfchen Mufif und des deutíchen Geijtes überhaupt. Die deutfche Muſik ift feir Schubert als großes Ereignis abgefchloffen, und hat mit der „Lüge“ der deutjchen Muſik des 19. Jahr— bunderts, mit Schumann, Mendelsfohn, Brahms, Wagner ufro., gegen die fick) der Zukunftsmuſiker Chriftoph auflehnt, nichts zu tun. Der Verfuch, Deutjchland und deutfcher Kultur gerecht zu werden, ift im Sinne der Volterverftándigung im höchiten Mae anzuerkennen: es ift allerhand, daß ein Franzofe ein deutjches Genie zum Romanbelden macht; wenn er ihn auch durch den Militarismus aus feinem Vater- land vertrieben werden laffen und fein Heil in Paris finden lafjen muß. Aber es ift fchade, daß diefer Verfuch nicht in höherer Sphäre geglüdt ift. Daß ein deutfcher Künftler nad) Frankreid) und Gtalien ziehen mug, um dafelbft einige romanifde Form zu lernen, damit er die „Nadtheit” der deutjchen Kunft, „die gerührte Wohl- gcfalligteit, mit der fie ihre Seele ausbreitet”, „den charaktervollen Edelfinn, der ihr aus allen Poren riefelt” beffer zu verbiillen it das das Schiefal der deutjchen Mufit? Sit das die Formel für die fünftige europäifche „übernationale” Kunft? 3d) meine, wir fennen das Rezept und es ift feineswegs neu „deutſcher Geift im Hafjifchen Gewande“! Zeigt fid in einer folchen dee Verſtändnis für unjer Geivefenes und Kommendes? Muß es nicht traurig Stimmen, den beiten Willen zur Verftändigung an den Scheidewänden zerbrechen zu fehen, die nun einmal die Natur zwifchen den Voltern in Sprache, Geift und Kunft aufgerichtet Hat? Aber feien wir befcheiden: welder Deutfche verfteht den Sinn ¡einer Vergangenheit und erfühlt heute fein tiinftiges geiftiges Schickſal? Wir lejen den Johann Ebriftoph das Jabr 1917 verzeichnet bereits das 15. Taufend und Schreiben Biicher über den Autor, „den Mann und das Werk”.

Aber laffen Sie mich ſchließen wir gelangen zu der ſchwermütigen Frage, werum das fo ift, und ob das fo fein muß wir gelangen auf das Thema der deutfchen Bildung: und hier muß man fehweigen, cder man findet Fein Ende. Rihard Benz.

Seine Beiträge

Auffahrt. se Hinauf ſtrebt's. Es ſchweben die Wolfen Abwärts, die Wolken Neigen fid) der fehnenden Liebe. Mir! Mir! Jn eurem Schoße Aufwärts! Umfangend umfangen! Aufwärts an deinen Bufen, Alliebender Vater!” . So offenbart fid) uns in Goethes Lied der Geiſt des Frühlings, das felige Ahnen. Das fehnfuchtsvolle Geheimnis der Natur in ihrer neuen Auferjtehung. „Die Schöpfung

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ſchauert wie ¡im Stand der Gnade.” Wir erleben’s wieder, wenn wir jest durd die blühende Weite und unter dem lichten Himmel diefer Tage wandern. :

Schaut das ſchwebende Neg des Gewölbes im Dom, wie Bögen die Bögen überjteigen und der Stein, losgelöjt, verlierend alle Schwere, im Raum frei und leicht nad) oben ftrebt und ruht!

„Alles Vergängliche iſt nur ein Gleichnis.“ Dieſe Sehnſucht nach oben, über ſich hinaus, zur Freiheit, E Heimkehr in fich felbjt, fie ijt Ereignis geworden in der Himmel- fahrt dez Chriftu3. vollendet fid) der Weg der Menfchheit zur Gipfelhöhe. Da findet der Menfd zu feinem Urfprung zurüd. Da fteigt auf zu Gott, was aus Gott ftammt. Da wird die ewige Heimfahrt zur Tat. Der Ring des Lebens jchlieht Hd. Der Geift eint fic) mit fic) felbjt. Das Endliche wird aufgenommen ins Ewige. Der Jafobstraum it erfüllt. Da ijt die Leiter, auf der die Engel Gottes auf- und niederjteigen. Das Dort wird Hier und das Hier wird Dort. Es offenbart fid) das Innere, das Weſen als ewiges Sein, durdftrablend, überftrahlend alle Erjdeinung.

Es ijt fein Abſchied, den die Jünger dort auf dem Delberg erleben, als fie geblendet hauen, wie der innere Glanz des Wefens das irdiſche Bild verzehrt. (ES üt der Anfang wahrer und innigjter Gemeinidaft. Nun erft trennt fie von Ihm feine irdiiche Schrante, nun erjt fteht Er nicht mehr vor ihnen als der andere, der fie nicht find, das Du, das immer draußen bleibt. Jetzt erft wird Er ihnen ganz gu eigen und fie find feine Gee meinde, fie gehören ihm ganz. Himmelfahrt ijt der Eingang zu Pfingjten. Seine Er- böhung auf den himmlifchen Thron ijt die Vollendung der Cinswerdung von Jom und uns. Gein a Geift wird unfer aller Geijt.

Jn diefer Einung erleben wir unfer himmlifdes Mefen. Es beainnt diefe gewiſſe Zubverficht, diefe Freiheit des Willens, diefe Kühnheit der Schau, die im Hier das emige Leben ergreift und hat. Die von Seinem Glange bertlárten Augen fpiegeln die ewige Schönheit des himmliſchen Reichs, deffen Konig unfer aller Herzen bewohnt. E3 wird wahr das tiefe Symbol bon dem Haupte Ehriftus und feinem Leibe, der Gemeinde der Heiligen. „Läffet aud) ein Haupt fein Glied, welches es nicht nad) fid) sieht?”

Solder Einung wird diefes Leben die Eingangspforte eines höheren Lebens. Es be- ginnt das „verborgene Leben in Chriſtus mit Gott”, das auf tung wartet und ihrer gewiß ijt wie die Stnofpe der Blüte, die Blüte der Frucht. Der Same des Ewigen feimt, belebt und erwärmt vom Glauben, und aller Tod wird Geburt.

Jn dem göttlihen Ring der heiligen Fefte von Geburt, Tod, Auferftehung und een had fchaut die Menjchheit ihr Leben, ihr Werden, ihre Gefchichte, ihre Vollendung.

as ewige Licht gebiert fid) hinein in diefes ie Dafein und liebt fid im Kind, das die Engel umftehen. Und indem am Krenz dabingegeben wird das Nichtine der Ver- nidtung, der Vergánglidteit ihr Recht wird in dem Tod und Grab aller, Trennung, aller Befonderung, aller Sünde, befreit Hd) das güttlihe Leben zu feiner Auferjtehung und ehrt E ſich heim in feliger Auffahrt. } RE

ieder einmal erfahren wir erfdiittert in ungeheuren Schidfalen die Nichtigkeit des bloßen Dafeing und das Chaos, in das fic) die entleerte, von Gott verlaffene Menjchheit auflöft. Ach, daß wir gläubig Ja fagten zu diefem Tode, dak wir dem Grabe feinen Raub eben möchten, auf daß uns durd) foldjes Austilgen der Leere und den Einhalt im finnlofen lauf Auferftehung würde! Germaltig famen Not und Elend, Grauen und De über uns. Daß diefer Tod Geburt Gottes werden möchte, dazu helfe uns der ewige Geijt der Menfchheit, der Chriftus Gottes! Karl Bernhard Ritter.

Wirklichkeit.

it ift bider als Waffer. Blut ift dider als Geift. Darum geht die Welt nicht auf,

darum wird jie nicht gut. Sie ijt auch abgejehen davon, daß fie fhlecht ift, ſchon gut. Nur nicht auf unferer Bemwußtfeinsebene. O : Z

Blut ijt ſchwer, aber Geift ijt leicht. Man muß den Geift mit Blut füllen, wenn man die Balance halten will. d

Deutfchland hatte zuviel Geijt ohne Blut. Daran ijt eS umpejtitrat.

Deutihland war zu waffergut, aber zu blutjchlecht. Daher fein Untergang in die Metamorphoſe. Seine Volksſchuld vor der Weltgeſchichte geht aber nur es ſelbſt an.

Der deutſche Bürger oben, unten und in der Mitte glaubte allgufehr an die Einfachheit der Welt, an die upay Giegertraft feines hiſtoriſchen Idealismus. Obwohl fo graufam viel Blut flog, war das Blut nicht in Rehnung geftellt. Alle gefdictliden deutichen Größen wurden eingeftellt, aber e3 war fein lebendiges Genie da, das die Bösheit dez Blutes begriffen gehabt hätte. Wir waren zu wenig bife, zu wenig Barbaren. Wir fahen nicht mit dem Brute. Wir fahen das Ziel vorausnehmend mit dem Getfte und wurden ſchlecht ftatt böfe zu werden. Wir verluderten, ftatt graufam zu Werden. So faben wir nad) außen und nad innen falſch. Kein Schieber wurde gehängt, tein Hodverrater getópft. Wir waren zu fehlecht, weil wir zu gut waren. Daß die Behörde nur Waffer hatte, natürlich; aber, das Vol? hatte Blut haben follen.

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Es ftimmte alles gang genau. Deutfdland war bewußt und unbewußt ganz vorzüglich vorbereitet. Warum verfagte es am Tag der Prüfung? Infolge des ganz Heinen Rechen- ea der eben dies nicht wußte, daß man zu Zeiten böfe fein muß, um bhernad gut fein zu können.

Wären wir gut geblieben, ohne fchleht zu werden, dann wars zu entfchuldigen, daß wir nicht böfe wurden. Go fann man nur bedauern, dak unfer Sinn ſchwach mar. Dag wir eiferne Notwendigkeiten nicht fahen. So gerieten wir unter Schielfal3 Hammer.

Nun müffen wir Jahrzehnte Blut in unferen Geift pumpen, bis wir das, was ift, werden fehen können.

Wenn man in den Geift fteigt und dabei das Blut verläßt, verirrt man ſich im Kitfch- himmel und fällt aus ihm unfanft auf edige Kanten der moraliſch indifferenten Wirklichkeit.

Wahrſcheinlich taten wir nie das nadfte, fondern immer das übernädjfte, fodak mir immer beinahe, aber nie ganz das richtige taten.

Sollen wir nun dem Ydealismus entfagen? SKeineswegs! Aber wir follen ihn im Blut verankern! Dann fpürt der Geijt das Wirklide. Das muß er fpüren; denn alle Welt ift voll Blut, und das meifte davon ¡ft uns feindlid.

Sollen wir dem Militarismus entfagen? SKeineswegs! Nur follen wir ihn richtig rüden. Denn er war nicht, was er zu fein glaubte, weil fein Bewertungsiyiten falfch war. Er hatte zuviel Geift, wenn auch ftart verdünnt, und zu wenig Blut. Welder Gefreite hätte den Marjchallitab errungen? Bildung ftatt Leiftung!

Der Militarismus war ein fehr hoher Wert, nur leider nicht hod) genug. Er war immerhin am tveiteften von der wafjerflaren Jlufion entfernt und verftand fid wenigſtens auf Blut an der Front.

Wer das Spiel verliert, der hat das Spiel verloren. Diefe einfache ra Gas der Wirklichkeit hat Deutſchland heute nod) nicht begriffen. (Es ſchreibt und liejt Memoiren und fammelt die Haare, um deren Breite es beinahe gewonnen hatte. Sind viel gefraufelte darunter. Aber ob nun die Juden jedenfalls bat Deutſchland verloren! Weil es um Haaresbreite zu wenig böje war. Wertgeſchätzte Feinde, das wiffen wir nun dod ſchon. Unferem Militarismus fehlte ein Schuß Teufel! Seine Philofophie war moralifd, jtatt damonifd zu fein. E3 war zuviel Gymnafium in ihm. Wir hatten nicht zu ſondern zuviel Ordnung. Zuviel Waſſerleitung und zu wenig Blutentſchluß. Zuviel Bahn und zu wenig geniale Entgleiſung und perſönliche inde Es war um den Einzelnen zu wenig Luft und guviel Milieu. Go ſchwenkte aljo ganz Deutichland auf höheren Befehl in die Rebolutionsrepublit. Kein Schuß fiel, und der Himmel hing voller mwafjerflarer ozialiftifcher Poeun nano cael Wieder war niemand böfe genug, dagegen waren viele chwachſinnig⸗ſchlecht, ftablen, raubten und fdoben. Niemand hängte diefe.

Und heute? Kommuniftifhe Kommuniften werden von fozialiftifhen Kommunijten im Namen des Gefetes, beziv. des Ausnahme-Gefeges erfdoffen. Iſt's nun ridtig? Iſt's nun Mar? Dämoniih? Iſt's nun wirklich?

Vielleicht. Vielleicht deutet fid nun Entíeidung an. Dak nämlich das Blut nicht im Waffer des “deals, fondern nur in der Wirklichkeit aufgeht, alfo Kampf auf Leben und Tod notwendig ift.

Der Schlaf des Bürgers. Erft nur von einigen Schüffen gefdredt. Aber er muß fi) dod) lar werden: entweder böfe feinen Befis verteidigen oder reftlos verzichten. Statt dejjen hampelt er. Der Bürger mit Einfluß von Millionen Arbeitern.

Wenn ihr Hug fein wollt, müßt ihr böfe fein. Sonft werdet weife! Dann fann es euch einerlei fein, was ihr behalte. Denn dann habt ihr euch jelbft.

Augenblidlid beraufcht Hd alles an der Jllufion, fei’s nad) rückwärts oder vorwärts, an flieht vor der Wirklichkeit. Die ift graufam. Sie muß gefreffen werden, fonjt frift te une.

Die Wirklichkeit ift graufam. Darum miiffen wir graufam fein. Nicht ſchlecht, aber böfe. Und was heißt böfe? Daß wir uns nichts vorlügen, fondern heroijch find, was man als Weifer oder alg Täter fein kann.

Das Blut ijt nicht gut im Sinne der rationaliftifden Philofophie. Verdiinnen wir es aber, fo entjteht ein leerer Raum. Dann fommt nad) dem Gefeß des horror bacui ftárteres, dideres Blut und faugt uns auf. Wir wollen feine Gefpenfter fein. Rette fich, wer tann! Aber er rette fic)! Sonjt rettet er fic) nicht. Stärkiten Widerftand nad) allen Seiten. Klug werden, ohne zu vergaunern, bofe werden, ohne jchlecht zu werden. Nicht haffen, fondern das Wirkliche fehen und das Notwendige tun. Rudolf Paulfen.

RZeitgenoffen. 6. Der Mann mit den Verbindungen.

Ss)" einflußreihe Parlamentarier, ‘der einige Woden Deutfchland beherrſchte und der mit ihm auf der Schulbank geſeſſen hat, hatte ihn in bantbarer Erinnerung an ge- meinfam gejtohlene Kirfhen aus einem Leinen Provingamt in bie Höhen eines Mini-

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fteriums erhoben. In diefem wühlte er fich gleichfam unterirdifch ſehr raſch aufwärts, fo daß er zum großen Erjtaunen der langjam und normal im hellen Gonnenfdein fd Fort. bewegenden nad) kurzer Zeit in der Nähe des höchſten Verggipfel3 zum Vorſchein tam. Mit zähem und betulihem Stleinbürgereifer benußte er die Glanzzeit feines großen Freun- de3, um fid) Freunde zu ſchaffen. Nicht indem er den Leuten nachlief dazu war er zu Ihlau. Sondern indem er fic) immer in der Nähe des großen Mannes aufhielt, der eigent- lid nichts Redtes mit ihm anzufangen wußte, aber einen getreuen Lafaien dod) gern duldete. Bald verbreitete fid) bei allen Strebfamen der Republik die Kunde: ohne ihn, den Mann mit den —— iſt nichts zu machen. Pläne, die ſchon bis zur Reife ge— diehen waren, ſtockten plötzlich. Forſchte man nad, fo hieß es achfelzudend: „Er tonnte noch nicht gewonnen werden.“ Nicht der große Parlamentarier und Selbſtherrſcher der Republik war gemeint, ſondern ſein Schulfreund, von dem niemand wußte, was er dachte und was er tat. Er war nicht unzugänglich, durchaus nicht. Im Gegenteil: wer einmal begriffen hatte, daß es auf ihn ankam, dem war er ſehr geneigt. Zwar betonte er be— ſcheiden und reſigniert, er ſei ohne Einfluß und könne nichts verſprechen (womit er eine

ahrheit fagte, an die er ſeinerſeits nicht glaubte): aber der Strebend-Bemühte wußte dod, daß es ohne ihn nicht ging. Bet parlamentarifden Empfängen, bei denen fic die Emporifauenden um die oben Angetommenen wie die Monde um die Sonne fdharten, ftand aud) er bon einer dichten Schar derer umringt, die ihren Namen feinem Gedächtnis eingeprägt wiinfdten. Mitten unter Sournaliften, Stellengierigen, Parteijefretären, Bereinsgefhäftsführern er: ein fleines, außergewöhnlich unbedeutendes Männchen in einem ichlecht figenden Cutaway, mit einem Geficht, auf dem ſich Würde und Unbehagen mifdten, voll heimliher Sehnſucht nad feinem Sleinftadtitammntifd, aber ganz im Banne feiner ftolzen Pflichten. Und rings um ihn außer viel heimlihem Spott, den er mißtrauifch Ders ausfühlte, eitel Weihrauch und Refpeft, der dem Mann mit den großen Verbindungen galt und bon ihm als toftbar-feltener Genuß eingefogen wurde.

Das dauerte eine Weile, es hätte fo lange dauern tónnen wie die Glanzzeit des großen Freundes wenn nicht der Trieb, nicht nur zu ſcheinen, nein, auch zu fein, eine Art Ehr- gu vielleicht aud ein Reft von der alten provingiellen Anftándigtett, die nicht für pure

ihtstun gut bezahlt und hochgeehrt fein will, in ihm erwacht ware. Er ließ fd die Leitung einer großen Aktion übertragen; ſchloß Licferungsvertrage, ftellte Mitarbeiter an, erließ Erlafje, lanzierte in die Blatter, liek Hd interviemen und verpulverte in kurzer Beit mit viel Schaffensfreude und Regfamteit einen erheblichen Fonds. (ES gab einen vedht- eitig noch fanft gedämpften Skandal, der große Freund war gerade noch rechtzeitig bas inter gefommen, um den Schaffensfrohen zu opfern, ehe er ihm unangenehm werden tonnte, ja, e3 wurde ein fleiner Triumph feiner Babfamteit und Objektivität, und der Mann mit den Verbindungen verſchwand, nicht mehr in die ftillen Kleinjtadtbahnen zurüd- findend, unterirdifch, wie er gefommen tar. '

Sein Geift aber foll nod in den Minifterien fputer und heimlich weiter daran ars beiten, befdeiden an unferem Milliardendefizit mitzubauen. Hermann Ullmann.

Spradpflege und Volkseinheit.

Wm in Deutfchland die innere Einheit der Nation nod) lange nicht fo felt ijt tie in Frantreid oder ſchon ſeit Jahrhunderten, ſo iſt eine der Urſachen in

den ſtarken ſprachlichen Gegenſätzen gegeben. Der von Haus aus vorhandene uns eheure innere Reichtum, die Mannigfaltigkeit und Selbftándigteit der einzelnen Stämme Dentfchlands und ihr allzufpät erfolgter Zuſammenſchluß zu einem einheitlihen Staat hat aud) zu großen fpradliden Verfhiedenheiten geführt, die fd nad innen uno außen der Einheit und dem Beltehen der deutſchen Volksgefamtheit gefährlich erwieſen haben. Am verhangnisvollften war die ftaatliche Ablófung der niederfräntifchen und gen Stämme im jegigen Holland und Belgien: einjtige Glieder des deutjchen eiches, die fpracdlid) zu diefem und deffen Hauptjtämmen in derjelben Weiſe gehörten wie etwa die Brovenzalen zu Frankreich und den Franzofen welder Name ja urfpriing- lid) nur die Bewohner der Isle de France bezeichnete —, ftanden während des Welt: frieges ihrem Bruder- und Stammbolt teils neutral”, teils felbjt in den Reihew feiner pee egenüber. Man rechnet diefe Trennung gewöhnlich erft vom jahre 1648, wo te im eitfälifchen Frieden acen und ooo fejtgelegt wurde; fie bes jtand aber in Wahrheit fon weit früher auf Grund der Tatjadhe, dak, während die übrigen cion Stämme die oberdentide Sprahe der Lutherichen Bibelüber- jegung und faiferliden Kanzlei ala Schriftiprahe angenommen hatten, die nördlichen und Jüdlihen Niederlande auf dem ausjchlichlihen Gebrauch der niederfranfifden Stammesmundart’ als Schrift und Staatsfprabe verharrten. In diefer wie in fo mander anderen Vorbedingung nationaler Einheit bietet Deutjchland fo das genau ent- gegengefebte Bild wie Frantreid. Während in Deutichland einige Stämme fd troß einer bereits vorhandenen, wenn auch loderen jtaatlichen Einheit auf Grund fpradlider Sonderung loslöjten, erließ in Frankreich [don Franz der Erfte am 15. Auguſt 1539 jene bez rühmte Verordnung, die für alle Atten und Maßnahmen der königlichen Gerichtsbarkeit

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das Franzöſiſche als alleinige amtsgültige Sprache vorfchrieb und damit dem Mettbeiwerb des Provenzaliihen, Burgundifchen ul mit dem Frangofifden ein für allemal ein Ende bereitete. Die Staatsfprahe in feinem Lande follte einheitlich fein; fie wurde es aud) und entwidelte fich, gepflegt und gefeftet durch die von Richelieu weſentlich zu dem gleichen Zweck gegründete Akademie, zur fefter Grundlage bes einheitlihen fran- zöfifhen Gefamtvolfes von Heute.

Aber auch da, wo der Unterfdied zwiſchen ober- und niederdeutiher Sprache nicht zur Trennung führte, wirtte und wirft er vielleicht nod) heute alg Quelle mandes ver- jtedten Gegenfages. Dag man im Norden „unge“ fagt und im Süden ,Bube” („Knabe“

ehört ei entlich überhaupt nur der Schriftſprache an); im Norden „plätten“ und im üden „bügeln“; dort „Harke“ und hier Rechen“, dort „Spind“ und hier „Schrank“ dah im Norden die Lampe „blakt“, im Süden aber „rußt“, bab man im Norden am „Sonnabend“, im Süden aber am „Samstag“ das Haus faubert biefe und viele andere Unterfdiede des Wortgebrauds gwifden Nord und Süd find für die innere Ein- heit des deutſchen Volkes nicht fo gleichgültig, wie es vielleicht fdeinen mag. Nament- lid) der Süddeutſche faBt die mannigfad) abweichenden Wortgebraude des Nordens oder ar die Zumutung, fih im Verkehr mit ihnen diefer ihm bon Haus aus fremden Wort- ormen zu bedienen, gern als eine Zudringlichfeit und ein unberedtigtes "Verlangen auf wobet er nicht zu bedenken pflegt, daß gerade die Niederdeutfchen der ſprachlichen Ein- beit beg deutfchen Volkes die urvecoicló lid größeren Opfer gebradt haben und itber- trägt dann die Abneigung gegen den andern Wortgebraud gern aud) auf den Volfs- ſtamm, der mit diefem behaftet ijt, und der ihm leicht gar nicht mehr im vollen Sinn als der Angehörige des gleihen Volkes wie er jelbjt erfcheinen will.

Neben den Veridicdenbeiten des Wortſchatzes wirkt bei uns aud die ftarfe Un- _ ausgeglichenheit der Ausfprade einheitsfeindlih; auch hier im Gegenfab zu Kan reid). Während in Deutfchland, befonders im Süden und in Sachſen, auch der Gebildete fis einer ftart mundartlich gefärbten Ausſprache zu bedienen pflegt, ja fogar noch auf ie jtolz ift und die Zumutung, zu einer fehriftgerechteren und damit bon felbft der nord» deutſchen abnlideren Ausſprache überzugehen, mit Entrüftung bon fich weifen würde, fudt fic in Frankreich der Gebildete (vergl. Karl Vokler: Frankreihs Kultur im Lichte feiner Spradentwidlung. Heidelberg, Karl Winter) bon mundartliher Laut:

ebung möglichſt frei zu halten und übt fon im Elternhaus und in der Schule feine unge auf eine möglichſt tadellofe ſchriftfranzöſiſche Ausſprache ein. Der Sit der mufter- ültigen Wusfprache ift dort fon feit Jahrhunderten der politiihe Landesmittelpuntt aria, ihr Ausgangspunkt die verfeinerte Gefellfdaft, die fich dort am königlichen Hofe und in den Salons im vierten und fünften ‘Jahrzehnt des fiebzehnten Yahrhunderts bildete. Uns Deutſchen fommt folche ſprachliche Zucht leicht gefpreizt, ja lächerlich vor; aud) haben wir das Unglüd, daß gerade bie Berliner Ausſprache mit ihrer fpigen Schärfe nicht unbedingt geeignet erfdeint, als allgemeines Vorbild für die muftergültige deutfche Ausfprache zu dienen hat dod) gerade fie ficherlich zu einem wejentlichen Teil dazu beigetragen, dem Berliner im Süden und Weften des Reiches eine gewifje Ab- neigung gugugtehen, die auch politifch nicht ohne Wirkung ift.

So erfdeint bewußte deutfche Spradpflege auch vom Standpunkt nationaler Selbjt- und Einheit aus als eine unumgängliche Forderung. Das ſoll nicht ſagen, daß die Mundarten zu verſchwinden und einer vom Staat zu —5 und vorzu⸗ ſchreibenden Einbeitelprade und -ausfprade das Feld zu räumen hätten; wohl aber, daß von Staatswegen auf die Schaffung und dauernde Pflege einer muftergiiltigen deutfchen Gemeinfprache hingearbeitet und ihre Beherrfhung neben der Mundart, die immer ihr Recht behaupten wird und foll, bei unferen Gebildeten als ſelbſtverſtändlich gelten müßte. Es wurde uns ſicherlich nur Nutzen bringen, wenn ein Teil der Hingabe, mit der bisher in unferen Schulen die Gefege und bejte Ausſprache fremder Spraden erlernt wurden, in Zukunft aud der Pflege der eigenen Sprade zugute fame.

Karl Schneider.

Hans Schroedter.

Wz die Bilder Hans Schroedters fieht, wird umgeben von der Traulichkeit malender - Poefie, die uns im Blut liegt und deren nur der Deutjche fähig ijt. Die Wejens- verwandtichaft mit Sdhwind und Richter quillt aus Darftellung und Vorwurf. Ich dente dabei nicht an Epigonentum, fondern immer wieder werden Deutfche voll Herzlihkeit und Gemüt —— werden, ihr innerlichſt frohes, glückerfülltes Weſen bildlich mitzuteilen. Sie werden nie eine Richtung ſchaffen und einen Zeitſtil heraufführen, aber ſie werden, ſolange der deutſche Menſch fingen und ſinnieren muß, als eine liebe, vertraute, lebendige Macht, über Zeiten und Richtungen ftille, reine Freudenbringer bleiben, die in ihrer und Beſcheidenheit Ruhe und Erquidung ſchenken gleich einem lange ent- ehrten Tag im heimatliden Elternhaus, und mit guten Händen leife an ſchlummernde Saiten rühren, bei deren Klang wir erjt fühlen, tie innig und tief vertraut fie uns find. Warum genießen wir diefe Kunft fo leicht und rein, warum it die Verbindung von

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Bild und Herz beim erften Anblid geſchloſſen und läßt ein ruhiges Glücksgefühl erblühen? Weil ohne alle Problematik cine UA 3 awaq glüdlihe Natur in unbetimmerter Selbjt- culate Didten und Denten, Träumen und Sehen als Form und Gehalt im Bild inlegt.

Es ift wohl zu bedenken, wir dürfen nicht nur auf den „Bildinhalt“ fehen, fondern Kom und Gehalt wird als eine Einheit gleihmäßig ra durddrungen. Man kann ter nicht ſprechen von Formabfidten, feine Probleme follen erfannt und beziwungen werden, alles ijt unbewußt und Lediglich beherrfcht durch den Mitteilungs⸗ zwang. Nach beſtem Können wird angeſchaute Natur treu wiedergegeben, und doch ſpricht aus Pe Bild immer ein ganz perfönlicher Ausdrud bejtimmten Geprages vom Herzen ¿um Herzen. ,

Am beiten charakterifiert das Morig von Schwind, wenn er, der lebhafte, rundliche Sanguiniter, auf dem jhönen Waldiveg von St. Maria Eich zu Ludwig Richter, feinem ftillen, hageren, paftoral gütigen Bruder in artibus poeticis herausfprudelt: „Siehft, wenn einer Liebe und Freude hat an einem Baumerl, dann zeichnet und malt er feine Liebe und Freude mit und das Ding hat ein ganz anderes Anfehen, al3 wenn e3 ein Efel nod) fo {don abſchmiert. Nichts weiter gehört zur Kunft und zum Ergriinden des Gee Ban bon der Schönheit und den Wundern der Natur als Keufchheit und ein guter, reiner Sinn.” .

Die Offenbarung von innen nad) außen ftellt diefe Stillen dod in die Reihe aller derer, die im Gebilde Ausdrud feelifchen Erlebens fuhen. Mag diefer Ausdrud auch Derborz breden in überfteigerter, alle augeren Fefjeln fprengender Gewalt, mag er zu einem metaphyſiſcher, tosmifd) dynamticher Natur maflos wachen, der Hang zum

ebernatürlihen, durch technifche Betradtungen und verjtandesmäßige Ueberlegungen Unerreihbaren eignet en allen.

Aber in dem chaotiſchen Braufen, in dem wir mitringen und ſchwimmen müffen, in dem mir hingeriffen werden zwifchen Erkennen und Zweifel, Liebe und Abjcheu, find diefe Herzlichen in ihrer göttlichen Einfalt, ihrer glüdlichen eb die die Harntonie bon Wollen und Bollenden hat, liebe Hüter trauter Heimftätten, bei denen zu weilen und zu ruben innerliche Stärkung und neue Sicherheit bringt.

Auf die unendliche, allerfüllende Sturmgewalt erjten Frühlingsaufbruds folgen Sommertage berubigten Erblühtfeins und langfamen Reifens voll Glüd und heimlicher Schönheit: fo mögen diefe Gaben ruhig beglüdend auf uns wirken.

Für die menfdlide Größe Hans Thomas ift es bezeichnend, daß er nicht fo fehr Schüler als Jünger hat: dafyunter der gütigen Sonne diefer wundervollen Menjdenfeele Künftler wie der ältere Schroedter und der jüngere Gampp ertwadfen, denen er weniger Technik und auperes Können allein vermittelt, als fie fich felber finden lehrt, fte in ihrer Eigenart feelifd reifen läßt und die Fähigkeit verleiht, frei zu werden für die Ausdruds- möglichteit ihres inneren Erlebens. . ' š

ALS Schroedter zu diefer Fähigkeit gelangt ijt, bleibt er fich gato. Man fann diejen Menfchen und feine Kunft garnicht trennen von feiner füddeutichen, badifchen Heimat: es it alles farbenfroh bei ihm und voll Bergesluft, voll bunter Freude und_begliidtem Schauen vom Berg über Tal und Wald, Dorf und Auen. Darein Hingt Singen und Getón von Vóglein und Menfdentind, von Baumraufhen und Frühlingswind. Und manchmal öffnet fic) ein ftilles Tal mit traumhaft eigenen Linien und Farbentónen. Man

t diefen Menſchen in den Norden verpflanzen wollen: ein unfeliger Gedante. Dann udt er mit heimmeherfüllten Augen über die Ebene und ift gliidlid, einen Kleinen Sand- berg gi entdeden: „Es ifdt halt doch ein Budel.“ q , ergleide bon Maler und Dichter find immer unglüdlid, aber bei diefen Pocten liegen fie nahe: Schroedter hat viel von Ubland. Er ift fo boltsmäßig, ſchlicht und herzlich.

er Tübinger Schwabe hat mit ähnlichen Augen und Sinnen in die Ketten der Alb ge- leben, auf den Wiefen vor verträumten Dörfern Kinder fingen hören, und dazu zogen die Studenten einher als fahrende Sänger und ſchöne, wadere Ritter. ; ‚Schroedters Jung Sie * ijt auch ein Ühlandſcher tumber deutſcher Held. So ein Geſicht tann nur ein Denticher maden und die Geftalt bilden, die unbeholfen befhämt ijt und garnicht weiß, weld) ftrablende Kraft aus ihr fommen wird. Nicht fü, fondern ftart und eigen, eben wie der Slang von Uhlands Liedern. Und der wadere Grobfdmiede- meifter ſchilt ficher aud) ſchwäbiſch: das heißt er poltert faugrob daher, aber hart kann es überhaupt nicht und die Gutmütigkeit und Freude an der Jugendkraft des Ge— fellen figt ihm in den Augen. Eine ſolche Eiche gehört auch dagu, das ijt der Baum, der wählt, wo diefe Menſchen werden, und er ijt nicht „Ihon abgefhmiert“, fondern ein Stüd Sage und Marden. š

. Shroedter hat viel gezeichnet zu folhen Liedern, der Verlag Scholz in Mainz hat eine Reihe bon Büchern mit Schroedters Bildfhmud herausgebracht, die jedem natürlich Empfindenden Freude maden miiffen.

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Dann hat der Kiinftler religiofe Bilder gemalt für a feiner Heimat. Er, der Proteftant, für tatholijden Gottesdienst. Achtung vor dem Mut und der Einfiht feiner Auftraggeber! Dak gleiches religiöfes Fühlen über die Schranken des Belenntnifjes inaus uns Deutſche vereinigt, mögen diefe Bilder wieder bezeugen. Nicht durch ihre

ictung auf den Aeftheten und Sunjfttenner, das würde nicht viel faqen. Aber ein Bäuerlein niet vor dem Bild mit Fofeph und der heiligen Familie und |pricht mit den Gejtalten der Geiftliche ift voll Freude: die Leute reden feit langer Zeit wieder mit den Bildern und beten andadtiq und alfo fagt das forgenvolle Báuerlein: „Fa, Lieber beiliger Jofepb, zu dir fann man kommen, du weifdt, wie einem zu Mut ifcht, dir fiebt mans aa, du haft auch dein Teil zu tragen —.“ Wo finden wir uns als Volt zufammen, wenn nicht in folden Dingen?

Zu dem duftigen Klang unferes Frühlingsbildes braucht es fein Wort. Die Skizze tft fo zart im Saud, der Striche, in dem ganzen Gewebe, das darf nie durchgezeichnet und feftgelegt werden, der ganze Schmelz unmittelbaren Empfindens tft über dem Blatt.

Das Aquarell „Der Einfiedler” muß man farbig fehen. Das kalte Grau der Fels- wand und der aSfetifde Gottesmann im wunderſamen Gegenfag gegen den warmen erjten Sonnenftrabl, in dem die neue Welt erglüht. Jeder dient feinem Gott auf feine Art. Der Einfiedler betet und fafteit ftd, aber das Vöglein preift die gütige Liebe, Die Sonne und Leben fpendet, und der Baum hält fein filigranartiges Gewebe der Sonne hin, daß fie den grünen Schmud hineinfpinne. ç

Wo der Wald lauft und die Flur [eife atmet wie auf dem Sommerbild, bleibt nichts zu fagen. Da ift ber Mund nur zum Singen gut, und das beforgen die Kinder mit Kränzen und Blumen, die auc) wieder nur wie Blüten in diefer ſchönen Welt find.

Es ijt doch ein Eigenes um diefe deutſche Hergenstunft, fie will gar nidhts Bejonderes und wirkt doch mie alles zugleich: Andacht und Gedicht, Ton und Lied. Sie fommt nidt fo fehr auf die Ruhmestafeln der Kunſtwiſſenſchaft, aber fie gehört vor die Augen und in das Herz des deutſchen Volkes, aus dem fie geboren ift und in dem fie lebt und Leben wedt mit der tiefen Kraft der deutfchen Seele. i Ludwig Benning hoff.

Der Beobarhter

$) Beftrebungen, urjpriinglide Landſchaften in ihrer Eigenart zu bewahren, hatte vor

langem jchon den Erfola ebabt, daß ein befonders ſchönes Stüd der Lüneburger Heide als „Naturſchutzpark“ aufbehalten wurde. Sept im Beitalter des vielen Geredes von „Ge- meinidaftsmerten” tommt ein Sapitalijt aus Berlin in den geſchützten Heidebezirk und fudt einen der dort liegenden Höfe in die berühmte „intenfive Kultur“ zu nehmen. Juft dort an der Stelle. Wir find neugierig, ob unfre Zeit, die allenthalben von Sozialismus und Gemeinjdaft redet, die Tat fertig bringt, für unfre deutiche Volksgemeinſchaft jenes @tüd urwüchfiger Heide gegen den Zugriff des Berliner Kapitalismus zu verteidigen.

ur Kenntnis des „deutichen” iſt es lehrreich, den Streit zwiſchen der

Voſſiſchen Zeitung und dem Berliner Tageblatt zu verfolgen, der wieder einmal (ogl. den Beobachter im Julibeft 1919) ausgebroden ift. Der Anlaß verfällt der Tages- geihichte, die Wahrheiten aber, die man fic) im Borne fagt, haben dauernden Wert. Georg Bernhard fdreibt (Mr. 205 ber Voſſiſchen) über das Berliner Tageblatt: „Dieſes Blatt, das während der Kriegszeit und nad) ihr weder zu den Möglichkeiten der Beendi- gung nod) zur Wiederaufrichtung des deutfden nationalen Selbjtbewußtjeins noch ihrer Wirtfehaft auch nur einen fruchtbaren Gedanken beigetragen hat, deffen Politif fich darin erfchöpft, in frangofelndem Stil Kritit an allem zu üben, toas fid) an den Verſuchen ab- müht, aus den Trümmern des deutfhen Vaterlandes wenigjtens ein paar Baufteine für eine beffere Zutunft des Reiches abzulefen. Alles muß diefem Blatt herhalten, um zu feiner Selbjtbeweihräuherung zu dienen, um die Oeffentlidfeit über feine ftet3 deutlicher werdende nibilijtifdhe Negativität hinwegzutäuſchen.“ Und vorher in Nr. 202: „Wir lehnen es ab, uns von einem Blatte journaliftiihe Zenfuren erteilen zu laffen, das, wie man in eingeweihten Streifen weiß, feine politiichen Beiträge daraufhin prüft, ob fie „elastisch“ genug find, um jederzeit beweifen zu können, daß man „es fon lange vorher- gefagt habe.” Das Berliner Tageblatt (Nr. 205) drudt einen Brief ab, den der Verlag er Voffifhen Zeitung an einen Diiffeldorfer Zeitungshändler gefdrieben hat: „Die Voſſiſche Zeitung ift jest dasjenige Blatt, das in Diiffeldorf die beiten Abfagchancen hat. Dieje Zeitung wird von der franzöfifhen Bejagungsbehörde überall mit größten Ent- gegentommen behandelt, weil ihr bekannt ift, daß die Voffifche Zeitung das einzige Blatt in Deutſchland ijt, das für die Verftindigung mit Frankreich eintritt. Die frangofifde Befagungsbehörde weiß, daß fic bei der unbedingten Freigabe des Verfaufes der Voſſiſchen

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Zeitung keinerlei Gefahr läuft, weil in ihr fiir allerhand Vermutungen und fonftige politijde Kombinationen, die nicht der Annaberungspolitit dienen, fein Raum gegeben wird. In une Weife verhält es fid mit den Bildern in der Berliner Flluftrierten Zeitung. Der franzöfiihen Befagungsbehörde ijt auch hier befannt, daß von der Redak— tion die nötigen Nüdjichten genommen werden.” Der Jude des Berliner Tageblattes ſchwört auf England, der Jude der Voffifden Zeitung ſchwört auf Frankreich, der deutfche Ejel aber ſchwört ſowohl aufs Berliner Tageblatt wie auf die Voſſiſche Zeitung und die Berliner Jluftrierte und kauft fie maſſenweiſe. Zuftände!

u dem Unternehmen der Sozialdemokratie, Kultur in eigener Parteiregie zu maden,

möchten wir aus unferer Sammelmappe ein Inferat des „Hamb. Edo” vom Januar diefes Jahres beijteuern: „Der berühmte Preisjfat in dem naat Saale der „Produf- tion” (50 Tifhe)... Am legten Freitag wurde an 40 Tifhen gefpielt.” Gollte die „Produktion“ Schon verbirgerlidt jein? ein, fie überwindet die berrottete bürgerlic)- individualiſtiſche Kultur durch fpiehbiirgerlide Maffenkultur. Au, rige, det wird ER artig. (Wenn die Vertreter einer angeblich eigenen Kultur nicht fo anjpruchsvoll auf- träten und beifpielsweife behaupteten, fie wären die wahren Befiger des pon den Bürger- lien verwirtten Goethefchen Erbes, fo brauchte man diefe heiteren Menfchlichkeiten nicht hervorjtellen.)

SS: frühere Zeremonienfaal des Kaiſerſchloſſes Schönbrunn wird für Kabarett- und

er are benubt. Wenn auch Wien feit der Revolution zu einer Baltan= ftadt geworbden ijt, ſo viel mejteuropaijoes Gefdhidts- und Würdegefühl tónnte man den Machthabern dort immerhin zumuten, daß fie einen folden Raum ernfteren Sweden (3. B. zioniftiichen Kongreſſen) vorbehalten. (Es ijt feine angenehme Vorftellung, daß der Schieber Veilchenblüt aus Butareft fich auf einem ehemaligen Kaijerjtubl rátelt und fid von einer halbnadten Mia Ria aus Budapejt „künſtleriſch“ aufgeilen Laßt.

$) Vorwärts befämpft den Tendenzfilm „Die ſchwarze Schmach“. (Siehe oben Alfred Kerr über Tendenzjtüde.) Das joll der Vorwärts gern tun wir find feine Freunde von Filmdramen mit oder ohne Tendenz. Aber die ArtundMWeife, wie er tut, verdient dod) einige Betradtung. heißt von dem Inhalt des Films: „Jede Frau erhält die Ver- gewaltigung, nad) der fie verlangt, möchte man fpredjen; fo tadellos tlappt alles.” Weiter: „Die deutſche Arbeiterjchaft proteftiert gegen jede Anmaßung des Militarismus, ob er fi) in der Zerjtörung belgischer Kunftwerfe, in der Verwüftung franzöfiiher Objtplantagen und Induftricanlagen oder in der Schändung von Frauen und Mädchen äußert.” r charakteriſtiſche Stil zeigt, daß der anonyme Verfaſſer, der die Meinung „der deutſchen Arbeiterfhaft” wiederzugeben behauptet, weder ein Veutſcher nod ein Arbeiter iſt. Dieje geiftreihen Sagblüten find in der Plantage aufgebrochen, darin die Kerr, Tucholsty uf. wudern. Unter der Sonne Polens und Galizieng. Warum foll man aud von einem folden Autor verlangen, de ihm die Schändung deutſcher Mädchen und Frauen im prieden weber tate als die Yerfidrung belgijdher Kunſtwerke im Krieg? Ihm iſt beides idlieflid) eine Angelegenheit des Portemonnaies. Aber daß der Vorwärts ſolche Weisheit deutfhen Arbeitern zu lejen gumutet —!

Die bayriſchen Staatsbahnen haben die gemeſſene Eg ll nad) allen Orten, die zur

Zeit ftaatlid) der Tſchecho-Slowakei zugehören, nur Fahrkarten in tſchechiſcher Sprache auszugeben. Zu an Zwed find fie mit tſchechiſchen Nachſchlagebüchern ausgejtattet. Forderſt du in Münden eine Karte nach Karlsbad, fo erhälſt du eine nad Karſovy Vary. Wie fommt es, daß der bayrifche Lowe, der fo mutig mit dem Schweife peitjcht, wenn er den Breußen feinen Rüden zudreht, fofort artig wird und Männchen macht, wenn Brruderr Tſchech ae tommanbiert? Das fommt daher, daß der bayrifche Lowe Vegetarier geworden iſt und blog nod) Radis frißt. Er ijt jon gar tein vichtiger Löwe mehr wenn er „brüllt“, tlingt es manchmal verdächtig nad) bah! Vielleicht läßt er fi) aud nod) die Klauen bejchneiden und die Zähne ausziehn.

Il erdatten tir uns wieder mit Freund Kerr! Er gehört zu den erfreulichen Erſchei— ‚Aungen, die immer anders interejjant find, als fie felbft meinen. Es ſich

ro die Gedadtnis-Auffiihrung von Kurt Eisners ,,Gotterpriifung” auf der Volksbühne. Test der Vorwärts tut das Werk verlegen-wohlwollend mit einem fanften Gtreicheln der dat ab. Anders Kerr. Eisner ift von Serra Art. Alfo!_ Der Meifter der „deutjchen“ pu eee (in Berlin) läßt Hd) mie folgt vernehmen: „Hätten wir eine wirkliche Re- iti a fo nrüßten die Staatstheater folde Stüde fpielen. Das Erziehungsftüd als Zug- ain ¿Par beadjte die Brillanz: un) Ein Tendengwerk ijt es? Jawohl, e N onnerivetter. Gebt fie, foviel Ihr wollt, ie Erde fennt ſchlechte Zweckdramen gefe Vides Sweddramen. hr wendet ein: morgen tonne jemand ein Still mit entgegen- bter Tendenz fpielen. Das wäre dann ,dasjelbe”. Nein! Denn es gibt gewiſſe Ideen,

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die abjolut richtiger (fein Drudfebler für „relativ richtiger”!) find als andre Sdeen. Ein Tendenzjtüd zur —A— der Folter iſt ein abſolut beſſeres Stück als ein ſonſt gleichwertiges Stück zur Einführung der Folter. Ecco. Spielt alſo Tendenzſtücke mit Ideen, die abſolut lebensvoller find als Tendenzſtücke mit überlebten Ideen. Das gibt es. Und Ihr dürft in folhem Fall auf das Uefthetijde, na, huften.” Das langweilige Jamben- Getón, das Eisner in Stunden zuſammengeſchillert und zuſammengekörnert hat, wünſcht Kerr, zum Donnerwetter, ſeiner Tendenz wegen, na, auf die Staats- theater. Meinthalb alg Anjhauungsunterricht, na, der repubiifanifchen Stupiditát. Aber Serra Wort von der ED aqu Tendenz und vom Huften u hr Aejthetiihe wollen wir uns merken. Eine Frage, Meijter zum Donnerwetter! ie fteht es mit Kleiſts Hermannsſchlacht? Sie it ,,abfolut lebengboller” alg Cisners Drama, das nad) Ober- Ichrer und Hundstagsferien ſchmeckt. Aber fie wird nicht aufgeführt. Warum nit? Dit ihre Tendenz „überlebt“?

Sy Neichstagsabgeordnete Ludwig Haas behauptet (im Berliner Tageblatt) über die deutide Stimmung während des Krieges: „Die große Grundftimmung in der Hei- mat war die, daß jenfetts der Grenze Verbrecher find, und daß der fein wahrer Patriot oder doch ein „ſchlapper Hund“ fei, der im Feind nicht die Ausgeburt der Holle fieht.” Gerade auch gegen die Kriegsgefangenen foll fic) diefe Stimmung geltend gemadt haben. Unter was für Y 5 muß der „Volfsvertreter” Haas im Kriege gelebt haben! Unter dem deutjchen Bolt habe ih nid ts bon diefer „Srundjtimmung“ gemerkt. Wir bitten Herrn Dr. Haas, das deutſche Volt nicht nad) ein paar nerböfen Zeitungsichreibern und Sedidtfabrifanten zu beurteilen. Die Grundftimmung unjres Volkes gegenüber den feindlichen Gefangenen war vielmehr diefe: die armen Kerle haben nur ihre Pflicht getan und fónnen fowenig dafür wie wir. Wie mande Eltern find, im Gedenken an die mogliden Edidjale der eignen Sohne, gerade mit den Gefangenen befonders fanft um— gegangen. ES ift uns wohl feltfam gumut gewefen, wenn mir, von unferm Kohl- und Stedrubennapf aufs Land fommend, Gefangene am Knechtetiſch bei Sped und Wurſt figen fanden, aber es ift uns nicht eingefallen, darüber ein Wort zu verlieren. Jeder hat fein Recht. Wenn aber Sie, Herr Dr. Haas, der Sie freilid Staats deutſcher find, nicht umbin tónnen, ſich bemüßigt zu fühlen, in einem PBropaganda-Auffag für über» nationale Gedantengánge” nebenbei ein faljches Bild des deutihen Voltsempfindena zu

meen dann dürfen Sie fd nicht wundern, wenn wir den peinliden Trennungsſtrich ziehen.

& nise Zeitungen berichten über eine Gießener Gerichtsverhandlung, der unter anderm aud) folgendes Ereignis zugrunde lag: Mehrere deutfhe Studenten in Gießen, meijt angetrunten, befdimpften einen vorübergehenden jüdifhen Studenten. Diefer haute dem Hauptſchreier, nahdem ihm Genugtuung veriveigert worden war, eine runter. Die andern fielen zu fünf mit Spazierftöden über ihn Der und gaben fchlieglih dem am Boden Liegen- den Fußtritte. Das Gericht fprad den jüdifchen Studenten, der zu ſchlagen „angefangen“ Batts, frei, er habe in Notwehr feiner Ehre gehandelt. Was tun die ftudentifden Ver-

indungen mit Rüpeln, die wie jene fünf ihr Deutſchtum fo befhämend entiviirdigen? Liebe dein Volfstum und achte das Volkstum der andern!

SZwiefprache

3 (pringlió wollten wir diefes Heft mit einem Auffag von Dr. Ullmann über das Verhältnis von Nation und Perfontidfeit beginnen, und es follte eine längere Wus- je pon mir über Möglichkeit und Art eines deutfchen Lebensideals (Vom „unmittels aren” Leben) folgen. Da fam Ullmanns Brief frijd) aus Tirol id) verfdiebe das andre aufs Julibeft und ftelle Tirol voran. Gerade in diejen enttwürdigenden Tagen der Unentſchloſſenheit im Anfang Mai fühle id) aufs deutlichjte, wie ftraff es macht, die Ver— bindung mit 1809 und 1813 zu haben. Man wird dieje innere Stärkung aud im Anfang Juni, wenn das Heft erfcheint, nod brauden fónnen. Zum Ausflang wähle id) bie Worte Ernft Morik Arndts, die er 1812 in einen Gedichtbrief an Antonia Amalia, Her- gogin bon Wirtemberg, richtete. Was äußerlich geſchieht, ift heute nicht das Wichtigite. Sondern es fommt darauf an, daß uns die Not innerlich zu einem Volfe eint. Sind wir Deutſche feelifd und geijtig eins, dann werden wir irgendivie auch ftaatlid) eins werden, weil, wie mir glauben, der Geijt es ift, der Hd den Stdrper baut. Die politifche Einswerbung mag fid) in der Zukunft friedlic) ohne große Erſchütterungen vollziehn oder fie mag, wenn die Franzofen es durdaus nicht anders wollen, zu Satajtrophen führen —- gleicviel, fte ift unaufhaltfam.

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Eine Betraftung über die Unentſchloſſenheit unferer offentliden Meinung angefidts des Ultimatums unjerer Feinde möchte id) nicht unterdrüden. Ich maße mir nicht an, cin {adlides Urteil darüber zu haben, ob der deutſche Staat zu den Forderungen der Feinde ja jagen muß oder nicht. Vielleiht muß er ja jagen, nicht fo jehr aus aufen- politifdjen als innerpolitifhen Gründen. Unangenehm ift mir freilich der Eifer, mit dem allerlei Leute, die auc) nicht befjer urteilen fonnen als w: fid) mit ihren dringliden Rat- Tchlägen an das deutjche Volt wenden: man müſſe durchaus unterzeichnen. Ohne dafür andre Gründe beizubringen, als foldhe, die jeder, der nicht auf den Kopf gefallen ift, von felbjt erivágt, aud) wenn ex anders entjcheidet. So der novemberbeflifjene Dr. Streder, der dank der Revolution als „Kultusminijter” in Darmitadt een ziert. Er beginnt jeinen Aufjag in der Frankfurter Zeitung mit den Sägen: „Wir ftehen zum dritten Male am Rande eines Abgrundes. Das exjte Mal war es bei dem öfterreichifchen Ultimatum an Serbien. Ich jak in jenen Tagen in Berlin „an der Quelle”. Ich war erjchroden über die fürdhterlihe Plumpbeit diefes diplomatijden Schrittes und jah hinter ihm den Weltirieg.” Yn Hamburg pflegen wir zu jagen: Pedd di man nid) up'n Slips! Dofter- ben, wenn Sie fein Gefühl dafür haben, wie die Welt hinter folder Ihrer pompojen Wichtigtuerei Ir a baled dann muß man es Ihnen bautz ins Geficht jagen. Genießen Sie die Seligteit, Kultusminifter zu fein, fo lang es dauert, aber mimen Sie nicht den bedeutenden Staatsmann! Das deutihe Volt ijt Uinteinend mit Dilettanten verforgt, die ftaat8mannijden Weitblid mimen. Was foll denn Ihr Hinweis darauf, dak der Freiherr vom Stein 1807 eine Berjtändigung mit Napoleon fudte? Ga wenn unfere heutigen Minijter wie der Freiherr bom Stein zwar Verjtandigung, aber aud etwas mehr wollten! Wenn fie aud) nur einen Teil des Verkrauens erweckten, das Stein durch fic) felbjt hatte! Dann hätten Sie es nicht nötig, fid über „Eitihige nationale Sentimentalitat” und „traurige Degenerierung eines elementar gefunden Nationalbe- wußtfeins” aufzuhalten. Golde Worte hat eben Stein nicht gebraucht.

ine Erjheinung des deutjchen öffentlichen Lebens diefer Tage ijt befonders Iehrreich: das Verhalten der refe, die von Juden verantwortlich geleitet wird. Wie verhält fich die Voſſiſche Zeitung und das Berliner Tageblatt? Natürlich find fie fitr die Annahme der feindlichen Forderungen. Aber nicht das ift das Wefentlihe es mag ja meinthalb tanfendmal ſein. Auf das Wie wollen wir achten. In der Voſſiſchen wagt der Großinduſtrielle Robert Friedlander das Erftaunliche, das deutſche Volt, ſoweit er ver— mag, zur Annahme zu zwingen dadurch, daß er klipp und far ſchreibt, das Repa- tations-Ultimatum fet aniy unvernünftig”. „Und barum ift es annehmbar.“ Es mülfe ein ,€hrenpuntt” des deutichen Bolles fein, die Forderungen von London nicht nur zu unterfchreiben, fondern auch zu erfüllen. Damit gibt der Mann dem Feinde für den Fall, daß aus irgendwelchen Gründen nicht unterfchrieben würde, eine bedeutende moralijhe Waffe in die Hand. Er fagt nicht bloß feine Meinung die hätte er aud anders jagen fonnen fondern er übt perjönlich-vordringlic einen Drud auf die Politit aus. Die aber, deren frangofenfreundliche Bolitit neuerdings ja jehr tompromittiert erjcheint, drudt das ab und preift dazu in einer Anmerkung die „von ftarfem Ethos getragene nationale Ueberzeugung“ Friedländers.

Das Berliner Tageblatt (Nr. 213) bringt zunächſt einen Auffag des füddeutfchen Demokraten Konrad Haugmann, der eine deutichgefüblte und deutjhgedachte Entſcheidung gibt: „ch weiß feinen Dentidjen, der nicht grundfägli eine Antifanttionspolitit mit- Maden finnte. ES it febx gut, alle Einzelfragen „Hug“ abzuwägen. Aber gerade dann wird man nur Politit auf vierzehn Tage maden. Man fol von Deutichland fagen können: Da ift der Kluge wieder einmal Hug genug gewefen, nicht zu Flug zu fein. Dann werden die Franzoſen auf Steintoble beißen. Wir bannen die Kataftrophen nicht durch ein uns erfüllbares Ja. Wir drehen uns einen neuen Strid.” Gleich in der nachften Nummer aber jagt Theodor Wolff feine eigene Meinung. Nach wunderliden Windungen um auch die andern Gründe mit vertreten zu haben, denn man fann ja nie wiffen, ob es nicht für [pater nützlich ift rat er doch ſchließlich zur Annahme der feindlichen Forderungen: „Es ift eine gewiß gulaffige Form des Nationalgefühls, wenn man ſelbſt durch unerträgliche Opfer Heimatboden und Heimatmenſchen vor der Fremdherrſchaft bewahren will.”

m Vir tiederholen, daß wir nicht über den fadliden Inhalt fprechen und nicht die Wenſchen aufgrund ihrer ſachlichen Entiheidung in „national“ und „nicht national“ jon- en Mir wollen vielmehr auf die Falſchmünzerei mit dem Worte national hinweiſen, te da getrieben wird. Das unwillfirlide deutihe Empfinden Ichnt das Ulti- Matum ber Feinde ab. Denn es will ehrlich bleiben, es will nichts unterjchreiben, was Fe jeiner Ueberzeugung ungerecht und unvernünftig it. Diefes unwillkürliche und uns peöingte nationale Empfinden hängt nicht von irgend einer Berechnung der wirtichaft- gen und —— Zukunft ab. Es urteilt nicht aus Berechnung, ſondern aus innerer dig Eeit tun kann zwar der äußere Zwang dazu führen, das nationale Emp. mden fic) einmal vorübergehend nidt auswirken zu lafjen, aber niemals darf man ein

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anderes, nicht inftinftives, fondern berednetes Urteil als „eine gewiß zuläflige Form des Rationalgefühls“ einführen. Sonjt wird es in feiner inneren Wuchs- und Triebtraft zer: fest. National üt der, welcher die unten wiedergegebenen Verfe Arndts als vollen, reinen Ausdrud feines Gefühls ausfprechen (nicht blog crio nadfiiblen) kann, imSbefondere den Sab: „Selig, welche bejtanden und unbefledt bon der Schande

Hielten den heilgen Stolz, hielten den glaubigen Sinn!” Hieran hat auch jeder Nr einen PBrobierjtein. Selbjt wenn wir gegen das befte, was in uns lebt, handeln müjjen, wir dürfen uns dod) das Gefühl nidt berwirren laſſen.

Gs liegt uns fern, Antifemitismus maden zu wollen. Cs handelt fid) un3 um die Reinheit des VolEsgewiffens. Aus den Tatfaden und aus den zu erwartenden Folgen fann man Gründe Mir und gegen das Ultimatum geltend maden. Aber die legte Wer- tung, von der es abhängt, fommt aus dem A ERAS! Ein Friedlander tann jagen: das Ultimatum fet „vernünftig“ (meil es dem Unvernünftigeren abgerungen fet_und Auffhub ki Ein Theodor Wolff kann jagen: es fei „eine gewiß zuläflige Form dez Nationalgefühls” ufw. Man wird fic darum nicht gefühlsdumm oder verjtiegen nennen. Der Deutjche aber empfindet jo: Zufunft bin, Zukunft her, es mu 8 abgelehnt werden nennt es Ehre, Schidfal oder wie ihr wollt! Und wenn er dennoch gezwungen ja jagt, fo tut er e3 unter dem beilgen Schwur, mit allen Mitteln darauf hinzuarbeiten, des Bwanges fo bald als möglich ledig zu werden. Es wäre ein Ja im Dienfte der Emporung. ie beim Freiheren vom Stein. Aber was empfinden jene Salager davon? Sie denfen an das ungejtörte Leben und an die behaglide Zukunft. Wir fampfen dagegen, daß das deutſche Schidjal aus einem andern als dem deutſchen Inftintt beftimmt wird. Das ift unfer Menſchenrecht.

Aus dem Verlag von Hermann Boufjet, Berlin SW. 61, ging uns ein Buch zu, das wir bejonderer Aufmerkſamkeit empfehlen: Stewart E. Bruce, Kriegsfhuld und Frie- densverbrechen der Entente. 199 ©. Geb. 12 ME. Der Amerikaner urteilt als Amerifaner, er fest uns anders, al wir uns jelbft. Aber er urteilt in der Schuldfrage mit Kritik und Gerechtigkeit. Da ift fein Cant und feine politifche Kuliffenihieberei. Das Bud verdient alg Zeugnis eines objektiven Betrachters die SA Verbreitung überall da, wo aus ga egg Talti€ die Legende von der „deutſchen Schuld“ vor- und nachgebetet wird. Wenn unjre Preffe einen Northcliff hatte, würde das Buch in zahlloſen Zeitungsauffägen wiederhallen. Aber fo —.

Denen, die Freude an Hans Schroedters herzlichen Bildern haben und fic) telde taufen wollen, fei mitgeteilt, daß er in Haufen bor Wald bei Donauefdingen wohnt. Sein junger Siegfried —man fehe fid) Geficht, Haltung, Glieder lange und genau an ift die einzige bon allen mir bekannten Sungfiegfried-Gejtalten, die ich gelten laffen tann. Sie ift die richtige deutfche Jugend in all ihrer Herrlichkeit. Das fieht man ſich nicht über. St.

Stimmen der Meijter.

Si: 3d) verfünde es dir, fo wahr mir der Gott in die Seele Künftiger Tage Gefdhid, Deutung der Zukunft gelegt: Herrliches wirft du nod) fehn, das heilige Volf der Germanen, Wieder ein ritterlich Volt, ftehen gerüftet in Kraft; a wirft du noch leon, die Heldengeftalten der Vater ieber in Enteln erblühn, blühn mit dem Zepter und Schwert. ¡Dann wird Freiheit den Erdball umivalten, Gerechtigfeit herrſchen, Klingen gefürchtet das Wort, bliken gefürchtet das Schwert, Ueber den blutigen Staub und über die u des Tages Schweben die Wahrheit, das Recht, glänzende Engel, dahin. Selig, telde beftanden und unbefledt von der Schande Hielten den heiligen Stolz, hielten den gläubigen Sinn! Gott wird richten und hat gerichtet, der mächtige Walter. Klinge, prophetifher Slang! Halle, verfliegendes Wort! Ernft Moriß Arndt.

Derausgeber: Dr. Wilhelm Stapel. (Gir den Inhalt verantwortlig). Sa Dr. Lub- mig Denninghoff. u ciften und Cinfenbungen find zu rigten an die GHhriftleitung des Deutigen Doltstums, ern 36, Holftenplas 2. Gur unverlangte Einfendungen wird feine Derant- wortung übernommen. Berlagunbdb Drud: Hanfeatifge Derlagsanftalt Attiengefelifhajt, Hamburg Desugspreis: Dierteljibriid 9 Vlart, Einzelheft 3,75 Mlart., für bas Ausland ber doppelte Betrag. Dom rin Hamburg 15475.

Ta gerne ber Deiträge mit genauer Quellenangabe ift von ber Schriftleitung aus erlaubt, unbejhabdet der te bes Berfaffers.

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Aus dem Deutfhen Bolfstum Hans Sdhroedter, Jung Siegfried

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droedter, Der Einfiedler

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Aus dem Deutſchen Volfstum

Deutfches Dolkstum

Monnatsfchrift für das deutfche Geiftesleben Hrernusgeber Wilhelm Stapel

Inhalt:

Dr. Hermann Ullmann, Perfjönlichkeit und Nation ea Dr. Wilhelm Stapel, Dom ,unmittelbaren” Leben Dietridy ferdjau, Die dentidje Oberſchule franz fjeyden, Schöpfung und Seftaltung in dentídjer Lyrik.

2. Storms Fulilied Dr. Sottfried fittbogen, Literntur fiber Ons Ausiandsdent{djtum

in Ueberjee

Kleine Beiträge: Dr. Karl Bernhard Ritter, Jdenlismus und Religion / K. o. 8., Der gebundene Großbeſitz / Dr. fjermann Ullmann, Zeitgenoffen. 7. Der Almateur-Unternehmer. 3. Dolks- vertreter Tiulpke / Dr. fjermann Unger, Wege ¿ue neuen Mufik / Dr. Wilhelm Stapel, ,Thadphilfeftunden ¿ue Menfdywerdung” / Dipl.- Ing. Fans Detlev Rófiger, friedridy Oftendorf carcseseseses

Der Beobadter: Die Salzburger Dolksabftimmung / Statiftik des Grenglanddentidjtums / Frebels Biblifdye Erzählungen / Eine neuartige fingeberei / Ketty Suttmann oder Heinrich von Kleift? / Goethe und Cohn / Der Proletarier Sciller. eseseseseseses

Bilderbeilngen: ° Bauten und 2 Entwürfe von Friedrid; Oftendorf.

Franjentijche Derlagsanftalt, Hamburg Preis viertelj. 9 Mark Einzelheft 3.75 Mark

Fult 192]

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Deutiche Dramaturgie | I Bon Leffing bis Hebbel | Bon Robert Petfd ::: Yin Saw |

Die „Deutfhe Dramaturgie”, feit Jahren vergriffen und auf dem Büchermarkt gefudt, erſcheint nun nad) gründlicher Umarbeitung in vermebrter und wefentlih verbefferter Form. Das —— Bud) enthält die dramaturgifhen Außerungen von Didtern, Dentern, Krititern und Bühnen- Soeben erfhienen leuten und führt von Leffing und feinen Zeitgenoffen über Stürmer und Dränger zu den in zweiter Auflage Klaffitern, von da über die Romantiter zu den Meiftern de3 dramatifhen Realismus 7 (Hebbel und Otto Ludwig) und zu Ridard Wagner. Außer thevretiihen Schriften find

| fleinere Auffage, Befpredhungen, Briefe ufw. berüdfichtigt worden. Die ausführlide Cin: | leitung reiht die audgehobenen Stellen und bie dramaturgifden Gedanken ihrer Verfaffer | in den Entwidlungsgang des deutihen Bdealismus ein. Cin zweiter Band, der von

Hebbel bis zur Gegenwart führt, ift in Vorbereitung und wird möglihft bald erfdeinen | Ein Bud), unentbebrlid) fiir jeden Theaterbeſucher und | Theaterfreund, Schaufpieler, Kritifer, Literaten ufw. |

Paul Hartung ::: Verlag ::: Hamburg

DOS (>a

JGBriginat·Granghiß SI Miederdentiher Rüuſtler

Ex (Itlies, Eigmann, HShulg-Malbaum, Mitte, Greve-CLindau um.)

| Radierungen, Steindrnce, Bolsfchnitte 194

Grobe Auswahl el Verzeichnis Koftenfrei

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Aus dem Deutfhen Volfstum

Deutiches Dol€stum

7.5eft sine Monatsfchrift 192)

Derfönlichfeit und Nation.

< Geheimnis der Perfönlichfeit, des höchſten Glüdes der Exdentinder, ift nirgend mehr durchdacht, erörtert, erwogen worden alg in Deutjchland; nirgend aber aud) weniger injtinkt- und triebmäßig erfaßt und im Leben erprobt worden. Das was der Deutfche feit fünfzig Jahren Perjönlichfeit nennt, ijt meijt nidts anderes alg Spezialiftentum, und zumal heute, im Krieg wie in der Nad)- friegszeit, ift die Armut an Perfönlichkeiten im legten und höchſten Sinne erjtaunlich groß. Wenn wir von einigen Geftalten des Wirtfchaftslebens, einigen Offizieren und höheren Beamten abjehen, die aber alle ftart ans Spezialijtentum grenzen, fo ijt, namentlich auf dem weiten Felde der Politik, faum eine twirklich gejchloffene, reife und jchöpferifche Perfönlichfeit zu finden.

Nicht daß es an den großen Verbáltnifien gefehlt hatte, fie zu entivideln. Der Strieg und auch fogar die exfte Zeit nachher, vor allem aber die legten Jahre vorher boten auch etwas von der Weiträumigfeit weltwirtſchaftlicher und weltpolitifcher Wirfungsmöglichkeiten wie bei anderen Völkern. (ES fehlte etwas anderes: Die breite Grumdlage, auf der fid) die in die Höhe reichende Pyramide aufbauen fonnte.

Man jehe fic) den Werdegang eines deutfchen Politifers, Publiziften, Volks— führers und -lebrer3 an, der nicht auf einem Spezialgebiet allein, fondern im ganzen Bereich des geiftigen Lebens der Nation zu führen verfprid)t oder vorhat: von früh auf muß er fic) um die Grundlage mühen, um die Zuftimmmung der eigenen Anhänger, um die Einigung der vielen widerfprechenden Streburtgen und Meinungen, unt die Widerlegung pedantifcher und fleinlider Kritiken, felbft um die Betámpfung perfon- licher Intrigue und neidifcher Gehäffigkeit. Zuerft werde ein Taftiter im Sample gegen VolfSgenoffen: Dies ift das Gebot an alle, die Deutfchland zu führen verfuchen wollen. (ES find Kleine Ziele auf turze Sicht, um die der Streit und Kampf geht; aber die beiten Jahre und Kräfte werden damit verbraucht. Man nennt das Partei- politik oder wifjenfchaftliche Fehde oder einfach Wettbererb: immer ifts Kampf nad) innen, Erledigung innerer Fragen, beftenfall3 oft auch einfach die Aus- ichaltung jenes bösartigen und ebrgeizigen Dilettantismus oder jenes noch bös— artigeren leeren Strebertums, das in Deutfchland nirgend und niemals fehlt, wo irgend eine Sache verfochten wird. Darüber find ſchon viele an fic) großzügige Naturen fleinlid), andere fchöpferifche Geifter miide und berbittert geworden, und übrig bleiben die Leute, die nicht viel mehr für fich anzuführen haben als eine bide Haut, robufte Nerven und ein gutes Gedächtnis, wenns hoch fommt, Gewandheit, Findigfeit und Unverfrorenheit. Hoch tommen die Nenner, Scheidemann und Erz- berger, und gelingt es einmal einem tieferen und reineren Menſchen zur höchjten Verantivortlichfeit und Wirkungsmöglichkeit zu gelangen, fo fommt er als Fachmann dahin: nicht mit den Kräften, die man in Deutjchland politifch nennt, fondern ihnen zum Troß. Die Fachleute haben weder Zeit noch Kraft, bis zum legten Ziele mit den Rednern, Demagogen und VBerwandlungstünftlern zu tetteifern. Und ebenfo ijt3 in der Publiziftit und Journaliftif, in die der gebildete und unabhängige Schrift- fteller nicht gegen den Schmod und Senfationsfabritanten auffommt, in der ein

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Harden und andere Feuilletoniften eine Rolle fpielen konnten, die anderswo unmöglich ift. Der Publizift von Rang und Haltung wie in Frankreich, ſelbſt in dem unliterarifchen England und Amerika, fehlt in Deutfchland, das die meijte Literatur und and) die meifte Dichtung und Kunft noch immer hervorbringt, voll- ftandig. Ebenfo zeigt fic) aber ein erftaunlicher Mangel an geeigneten Perfónlid) feiten, wenn es gilt, irgend einen geiftig reprafentativen Vorfigenden einer großen Kulturorganifation, eine auch praktiſch führende Gelehrtenperfönlichkeit ausfindig zu machen, die über ein Spezialgebiet hinaus Autorität wäre. Man bleibt regelmäßig in folden Fällen an Titeln und Erzellenzen hängen aus Mängel an Perfönlichkeiten. Es ift nun einmal fo: Perfönlichkeiten von größeren Maen können nur innerhalb größerer Gemeinfchaften fid) entwideln, deren Zufammenfafjung, Repräfentation und fchöpferifche Ueberwindung fie bedeuten. Cine gewiffe Rube und Sicherheit der geiftig-feelifchen Ummelt ift notwendig, die die werdende Perfönlichkeit der Not- wendigfeit überhebt, fich in Stleinigfeiten zu verbrauchen. Weber getviffe gemeinfame Ueberzeugungen muß man nicht erft zu ftreiten haben, wenn man zu Taten gelangen will. ES darf nicht jeder von der Weltfchöpfung anfangen miiffen, wenn irgendivo einmal eine Vollendung, eine Reife erlangt werden foll. Wo zuviel Auseinander- fegung, Reibung und Zweifel ift, da fann [doer Sicherheit und Feſtigkeit gedeihen. Vor lauter Chaos fommen wir nicht zur Schöpfung, vor Individualitát nicht zur Berfönlichkeit. Es muß ja bei uns Taufende von unbeträchtlichen, jeder auf eigene Fauſt fid) befonders diinfenden Meiers geben: wo foll dann, bei der Gefchäftigfeit und Tüchtigkeit all diefer Meiers, ein ganzer Menſch hertommen? Wir haben ja den Kommunismus der fogenannten allgemeinen Bildung, der jeden in die Kaſte Auf- genonmenen ein Exiftengminimum weniger an Geld als an jozialer Achtung und geiftiger Saturiertheit verbürgt. Wer aus diefem Schema heraustritt, hats fehr ſchwer und braucht ein gut Teil feiner Kraft dafür, um fich vor all den Neidhammeln, Outriguanten oder ſchlechthin Meiers zu „rechtfertigen“. Diefelben Meiers, die es ala Ehrenſache erachten, jedem Schmierfinfen und Schweinigel von Literaten, namentlich feit der „Revolution“, die größte Sauftallfreiheit zu gewähren, laufen Sturm gegen jeden, der fid) 3. B. nicht in eine beftimmte Berufstategorie einreihen läßt, nicht recht organifierbar und definierbar ift, etiva als Ingenieur, Unternehmer, Schriftiteller, Dozent, Kaufmann fid) zugleich betätigt. Der Schieber, ja, der genießt nit nur Duldung, fondern geradezu Achtung. Aber der frei aus fid) heraus Schöpferifche wird erft geduldet, wenn er Erfolg hat. Daß man ihn eine Weile ungeftört laffen muß, ehe er Erfolg haben kann: das ift bei uns nicht befannt. Nichts Großes kann befanntlich ohne Geheimnis werden. Bei uns muß man diefes Ge- heimnis höchft fünftlich erzwingen, die Meiers dulden feine Gebeimniffe. Wir wären fein demofratifches Volt? O, die Untugenden der Demokratie, ihren Argivobn, ihre Kleinbürgerheuchelei, all die falfde Moral des Volfstribunals, die Indiskretion und den Mangel an Ehrfurcht, den man in gefunden alten Demotratien dadurch über— windet, daß man eben das Lebte und Befte doch bor der virtuos beherrfchten Maffe rettet: das haben tir alles längſt.

Es ift nirgend üblicher, Neues und Eigenes zu erörtern, zu fagen, zu denfen als bei uns; nirgend ſchwerer, neue und eigene Wege zu.gehen. Unfere Perfönlichkeiten bleiben meijt im Entwurf, in der Theorie, im ,,Geiftigen” fteden. Gene Perfón- lichkeit, bie das Leben geftaltet, ift bei uns jest fo felten wie früher. Dazu bedarf fie der großen ungebrochenen Wirkung ins Ganze einer Nation. Und es ift beffer für Perfönlichkeiten, einer Heinen, aber gefdloffenen Nation anzugehören, als einer großen zerriffenen. Denn in der großen uneinheitlichen Gemeinfchaft freuzen fid) die Einflüffe und Refonangen fo verwirrend, daß fon ungeheure Selbitzucht und Kraft dazu gehört, einen beftimmten Weg zu Ende zu gehen, und zivar ohne Scheuflappen; das ift unbedingt nötig. Ohne Spezialiftentum, Dogmatismus und Eigenbrötelei, unbefangen und bent ganzen Leben der Nation aufgejchloffen.

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Bon welder Seite Der man fommen mag, immer wieder ftößt man auf das Eine, das uns vor allem nottut und das mit den verfdiedenjten Mitteln angeftrebt werden muß: wir müffen eine Nation werden. Mit allen Weiträumigfeiten und Engen, Widerfprüchen, Liiden und Ueberreichtümern, allen Ungleichmäßigfeiten und Schiefheiten unjerer Entwidlung und unferer geiftig-feelifchen Lage belaftet! Ohne Nation fein Führer, ohne Führer fein Weg. Ohne Weg fein Weiterleben.

Hermann Ullmann.

Dom ,unmittelbaren* Leben.

1

ie Engländer haben ihr Gentleman-Ideal, die Franzofen ihr Stavaliersideal, die Spanier, dik Italiener haben ihre völtifchen Lebensideale: jo muß ich fein, um al3 ein vollendeter Engländer, Frangofe zu gelten. Welch eine Macht der Volts- erziehung liegt darin befchloffen! Dieje Ideale beftimmen unmilltürlich das Wejen des Einzelnen wie der Gemeinfchaft. Seine abfidtsvolle Erziehung mit pſychologiſch durchdachten Methoden fann etwas Achnliches im deutfchen Volte bewirken, wie das Dafein des einen Wörtchens gentlemanlife im englifhen Volt. Ein foldes Wörtchen * die Entſtehung ſo mancher unerfreulicher Politiker ſchon in der Wurzel erſtickt ben. Derhalben hat man oft gewünſcht, daß auch wir uns ein ſolches völkiſches Lebens- ideal anfchafften. Aber könnte fich ein Rofenftraud vornehmen, Tulpen aus feinen Zweigen erfnofpen zu laffen? Könnte er fic) auch nur vornehmen, Rojen erblühn gu lafjen? Es fteht gar nicht in feiner Macht, ob oder mann er blüht. Es ſteht gar nicht in unjerer Mat, ob wir ein völtifches Lebensideal aus uns entwideln. Das hängt von Gemalten ab, die nicht unter den menfchlihen Willen gegeben find. Durd ein nadgeahmtes oder fünjtlich fonftruiertes Lebensideal werden die Menjchen zu Berrgeftalten erzogen gebogene und gejtupte Baume in franzöfifchen Parks. Jedes Leben muß feine Formen „unmittelbar“ und „urfprünglich” aus fich hervor- bringen. Das deal des Gentleman ift aus dem englifchen Volke durch den englifchen Adel erblüht. ES ift nichts als die natürlihe Beredelung des natürlichen Eng- landertums. AbermwoiftderdeutfheAdel,derunsdasperedelte Deutfhtumvorgelebt hatte? Ym Mittelalter hat der germanifde Adel das Lebensideal des Ritters hervorgebracht. In der Neuzeit hat der Deut fide Adel den franzöfifhen Adel nachgemacht. Der Adel, der feinem Wefen nad) eine natürliche und fittliche Funktion des Volkes ift, hatte bei uns die Verbindung mit dem Volte verloren, hatte über fein Volt hiniveggelebt (wie auch der ruffifche), hatte die Pflicht der Erziehung und Veredelung verfaumt und ift, da er feine Lebens- aufgabe nicht erfüllte, endlich abgehauen und ins Feuer getvorfen worden. Heute find wir ein Volt ohne Adel. Jm natürlihen und im fittlihen Sinn ohne Adel. Ohne eine führende Menjchenfchicht und ohne ein führendes Lebensideal.

Aber wie eS feinen Menſchen geben fann, der nicht feine ihm beftimmte Lebens- entfaltung als Kern und Keim in fid) trägt, fo fann es aud) fein Volt geben, das nicht feine fic) entfaltende Zukunft als fein ,Wefen” in fic) trägt. Srgendivie in Trieb und Sehnfucht muß diefes „Weſen“ als völkifches Lebensideal fchlummern und des Erwachens und Erwachfens harren. Anders ware ein Volk fein Volt, jondern nur ein Haufe von Menſchen. Wenn das deut fae Lebensideal nirgends im Zu— fammenleben faßbar verwirflicht worden ift, follte es nicht dod) heimlid leben und treiben in allem Dichten, Denken und Tun unferes Volkes? Vielleicht ijt die Tatfache, daß es niemals zu einer Konvention, zu einer Sitte oder gar zu einem Gefeg vergegenjtändlicht worden ijt, gerade in der befonderen Eigenart diefes deals begründet? Oder vielleicht fteht die „Verwirklichung“ noch bevor in zukünftigen Zeiten? Man fagt ja, wir feien ein junges, fpät reifendes Volt,

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3d glaube beides: daß unfer Lebensideal feiner Art nach niemals zu einer äußeren gefellfchaftlichen Bindung werden fann, und daf feine volle Auswirkung und alfo Verwirklichung noch in der Əufunft liegt.

2,

Wohl mancher hat an Hd) zweierlei Zuftände des Lebens wahrgenonmten. Ent- weder lebt er nach Erwägungen der Zivechnäßigkeit, überlegt, wie er dies und das machen muß, um vorangufommen. Er fieht fich und die andern und berechnet, wie er fic) oder „feine” Sache, die natürlich auch die der andern und überhaupt das Bejte für die gejamte Menfchheit ijt, durchfebe. Mit einem Wort: er ift klug. Oder ex denft gar nicht an „Zweckmäßigkeiten“, fondern er lebt das Leben, das in ihm entzündet üt, aus fic) heraus, er weiß von fic) felbjt gar nichts, will weder fein nod) feiner Mitmenfchen ,Beftes”, er geht auf in der Sade, die nicht er, fondern die ihn ergriffen Dat und die ex felbft ijt. Ex dentt felbft- und welt-vergeffen nur: wie made id) die Sache da gut? Mit einem Wort: er it unmittelbar.

Es ift wie ein Wunder, wenn ein Menfch ploglid „unmittelbar“ wird. Fede „politiſche Einjtellung” auf die andern if zu Ende, fein Auge wird offen, fein Mund wird wahr, das innerjte Leben fpriiht im „Eifer“ aus ihm hervor. Es ijt ein Rauſch ohne Beraufchtheit. Das Leben ijt wad) und tlar mie niemals fonjt. Die Aengftlid)- feiten, die Vermutungen, Hoffnungen und Befürchtungen find abgefallen. Jeder Wedanfe und jede Handlung ift ficher und in Hd felt.

Während das fluge Leben von erdachten Zwecken gelenkt wird, wächjt das unmittelbare Leben in den durch die eigene Art gegebenen Formen. E3 wird nicht durch Abſichten, fondern durch „Art“ und „Urfprung“ beftimmt: es entjpringt dem eigenen Steim. Darum nennt man das unmittelbare Leben auch das „urſprüngliche“.

Für den klugen Menſchen iſt der eigene Wille der Lenker des Lebens. Der Wille allein ſoll herrſchen und geſtalten. Die Klugheit iſt im legten Grunde willfürlid: frei wählend. Der unmittelbare Menjch aber tut, was durch feine Art urfprimglid gegeben, alfo vorbeftimmt ijt. Er handelt ohne Willkür nach einem inneren Geſetz: all fein Tun ift un willkürlich.

Der fluge Menfch Handelt zwar folgerichtig nach den Zwecken, die ex jid) gejegt hat. Aber die Zivede werden aus irgend welchen „praftifchen” Gründen aufgeftellt. Sie find fchließlich doch zufällig, fie tónnen und miifjen in veränderter Lage verändert werden. Daher hat das fluge Leben freilich eine Folgerichtigfeit, wenn ntan es bom Zweck aus beurteilt, aber es hat feine Folgerichtigfeit, wenn man es von feinen Urfprung aus beurteilt. Das unmittelbare Leben aber fließt in einem, wenn auch oft gehemmiten, fo doch niemals unterbrochenen Strom aus fich felbit, es ift überall in fich felbft notwendig.

Der tuge Mann ift der Mann der Erfahrungen. Er erinnert ſich bei jedem Urteil, bei jeder Tat, was alles daraus folgen fann. Er lebt immer in der Frage: „Was fommt danach?“ Der unmittelbare Menfch ift unbefiimmert und herrifch, weil er immer auf der ficheren Bahn innerer Notwendigkeit vorfdpreitet. Sener [u d t feiner Flut ein Bett, diefer rei ft fich feine Bahn. Da dies die Art des Kindes ift, nennt man das unmittelbare Leben oft aud ,tindlid”.

Der fluge Menjch denkt nach und fühlt nach. Der unmittelbare Menfch denkt felb jt und fühlt fe 1 dt. Sener Schafft um feine Seele her Masten des Lebens, nach Bedürfnis erfcheint er in diefer oder jener Masfe. Der unmittelbare Menfd) hat nur feine eigene Form. Gener mag reicher, gebildeter, umfaffender fein, diefer aber ift in dem, was er ift, echt.

Unmittelbarteit, Urfprünglichkeit, Unwillfürlichfeit, Notwendigkeit, Kindlichfeit, Echtheit damit unterfcheidet fid) die eine Art Leben von der andern Art, welche mittelbar, abgeleitet, willfiirlich, zufällig, innerlich unficher, unecht ijt. Wenn nun Menden unmittelbar leben, fo ijt es unmöglich, dak fie irgend ein fonventio-

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nelles Lebensideal annehmen und fich bemühen, ihr Leben banad zu gejtalten. hr Leben fann nicht der Konvention einer Geſellſchaft oder Gemeinfchaft, fondern nur fid) felbjt gemäß fein. Es ift nun aber fo, dak uns Deutſchen immer das unmittelbare Leben alg das „wahre“ und „iwejentliche” erjcheint. Gerade weil wir das Unbedingte, das Notivendige, das Echte wollen, fonnen wir uns nicht willfürlich ein völkiſches Lebensideal zurechtmaden und uns darin hineinzivangen. Wir bedürfen der Freiheit, dent Schicfal, das in unferer Bruft Hd) regt, zu folgen.

3.

Wir jtellen nun den Sag auf: Unmittelbar zu leben ift in allen Zeiten die tiefite Sehnfucht des deutjchen Volkes gervejen. Immer wieder fommen bie deutfchen Denker davon ab, die Wahrheit mit der Logik meijtern oder das Geſetz de3 Lebens in irgend einer Zweckmäßigkeit finden zu wollen. Sie taften immer wieder zu dem Geheimnis der Subjeftivitát. Nicht anders unfre Dichter und Künftler. Ich wünſchte mir eine Literatur- und Sunftgefhichte, die in unfern Meiftern und ihren Werfen das Ringen um das Unmittelbare aufzeigte. Aus diefem unabläffigen Stampf fteigt auch die Tragif auf, die all unfere großen Geijter umivittert, den alternden Dürer, den alten Rembrandt, den alten Luther, den alten Kant, den alten Goethe.

ALS der deutiche Geift zum erften Male feiner felbft inne ward, gejtaltete Wolfram von Ejchenbach in feinem Erziehungsroman, dem Parzival, die Sehnfucht nach tem Unmittelbaren. Meift deutet man den Parzival moralifch, und fchiebt ihn dabei die aufflärerifche, Humanitäre Moral des achtzehnten Jahrhunderts unter. Parzival wird aber nicht zu einem moraliſchen Menſchen, fondern zu einem Gotte8ftreiter. Er vollbringt fein Werf auch nicht allein aus fich felbjt, fondern ift erwählt. Mur für den Aufflärer, der die Widerfprüche löfen und dic Tragif befeitigen muß, weil dergleichen nicht zu ihm paßt, ift Moral und Gottestum dasfelbe. Das deal Wolframs fchlieft die Moral mit ein, ift aber viel höher, ift jenfeitig. Parzival lebt zuerft das tumbe göttlich-natürliche Leben. Dadurch daß er „lernt“, andern Befehlen alg denen des Schickſals zu gehorden, dak er fich der Konvention im Gegenfag zu feinem Herzen fügt, verliert er den Zuſammen— hang mit Gott. Er zweifelt niemals an Gott folche aufllärerifhe Deutung verbaut das Verftandnis des Werkes er zürnt t gegen Gott und empört fid gegen fein Schidfal. Aber der Auserwählte geht nicht verloren. Auf einer höheren Stufe gewinnt er die Unmittelbarfeit, die Sicherheit, Einfalt und Treue des Lebens wieder. Er ift nun nicht mehr unmittelbar wie das Tier, fondern unmittelbar mie Gott felbjt.

Was Wolfram von Efchenbach in farbigen Geftalten ſymboliſch darftellte, das predigte ein Jahrhundert [pater Edehart von Hochheim, der Myſtiker. Das Ent- werden zur Gottheit ift der Weg zum Gral. Und abermals zwei Jahrhunderte fpäter, in einer Zeit, da das Religivfe rationalifiert und moralifiert war, brach das Unmittelbare wieder durch bei Martin Luther. Ihm ift die Erlöfung der Seele nicht abhängig bom der Milltitr des Menfchen, von jemandes Wollen oder Laufen. Die erlöfte Seele ift frei von alledem. Sie ift los von der Welt, verwurzelt in Gott, fie lebt unmittelbar aus Gott. Diefen Zuftand nennt Luther „Glauben“. Der gläubige Menfch zweifelt nicht, bangt fich nicht, zergrübelt und zerquält fich nicht, er weiß flar und ficher feinen Weg. Er hats „ohn Mittel von dem heiligen Geijt“. Es handelt jich bei Luther nicht um Fragen der Moral oder gar der Zweckmäßigkeit, um Brab- und Ordentlidfein, fondern allein um das göttliche Leben in unmittelbarer Gewißheit.

Selbſt das achtzehnte Jahrhundert vermochte nicht die tiefſte Sehnſucht unſeres Volkes abzutöten. Wenn wir in Goethe Erfüllung ſpüren, ſo iſt es eben da, wo ſein Leben und Werk unmittelbarer Ausdruck eines Ewigen iſt. Und was erhebt Kants Gedankenleiſtung über andere? Dies, daß ſein Denken die Welt des Denkbaren

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durchmißt und anlandet bei den unüberfchreitbaren Grenzen und nun ftaunend erkennt, wie alles Leben, auch: das Erfenntnisleben felbjt, aus einem etvigen Rátfel aufíteigt. Was ift denn fein „Eategorifcher Symperatib” anders alg die Loslofung des fittlichen Lebens aus aller Berechnung und Abjichtlichkeit, und die Einfentung ins göttliche Geheimnis? Sein moralifches Sollen unterjcheidet fic) von allem andern Sollen dadurch, daß es weder durd) Dinge noch durch Gedanken, alfo durch nichts Irdiſches gelenkt wird, fondern unmittelbar durch fich felbft und unbegreiflich für das Denken gegeben ijt. Man laffe fich nicht durch die von Kant veriwendeten ratio- naliftifchen Schulwörter wie „Sittengefeg” und dergl. täufchen. Der Schluß feiner „Brundlegung zur Metaphyfif der Sitten“ fagt dem, der hören kann, vernehmlich genug, worauf es anfonımt: „Wir begreifen aber dod feine Unbegreiflidteit, welches alles ijt, was billigerweife von einer Philofophie, die bi8 zur Grenze der menfchlichen Vernunft in Prinzipien ftrebt, gefordert tverden kann.“

Wenn Fichte Anſchauung fordert, fo ijt das nichts andres, als dak er and das Erfenntnisleben zur Unmittelbarteit führen will: die volle und durddringende Erkenntnis, die fid) nicht im Schattenwefen des Ungefahren und Wahrfcheinlichen befriedigt, tft auch unmittelbares Leben.

Sites fünf Epochen der Entwidlung ftellen dar, wie der Mienfch bon der Unmittelbarfeit des blinden Vernunfttriebes über die rationaliftifche Kritik hinweg zur Unmittelbarfeit der freien Vernunft, darin das Göttliche fich darftellt, gelangt. Es hat einen eigenen Reis, die Entividlung Parzivals in Fichtefchen Begriffen bar: guftellen: da wird überrafchend deutlich, wie Wolfram von Efchenbah und Johann Gottlieb Fichte im tiefften Grunde einander entfprechen. _

Diefe Durchgehende Einheit in all der Fülle ijt nicht Zufall, fondern fie deutet auf ein heimliches Gefeg: die Volfsfecle. Das waltet auch heute nocd. Am Anfang unferes Jahrhunderts ftellte Hermann Kutter fein erjtes Werf hin unter dem Titel „Das Unmittelbare”. Und was ift Johannes Müllers Predigen andres als ein Hinweifen auf das unmittelbare Leben? Auch Bonus und Gogarten gehören in ihrer Art zu den Verkiindern der einen Wahrheit. Sie alle find Zeugnis defjen, dak wir an der Schwelle ftehn.

4.

Die heutige Menfchheit hemmt und zerftórt das unmittelbare Leben durch den unkritiſch angewendeten Entwidlungsbegriff.

Entwidlung (im übliden Sinn) fann nur da fein, wo fich eing zum andern binzufegen oder wegnehmen läßt. Beifpielsweife kann fid) die Wiffenfchaft entivicteln, indem immer eine Erfenntnis zur andern zugefügt wird (oder indem eine hinweg— genommen und dafür eine andere hinzugetan wird). Entwideln fanır Hd die Wirt- ſchaft, weil in ihr fid) eins ans andre reihen läßt. Wir tónnen das in diefe Formel faffen: Entwidlung ift überall da möglich und erfennbar, wo es fich um Suntulier- bares handelt. j

Zum Unfinn aber wird der Entwidlungsbegriff, wo er auf unmittelbares Leben angewendet wird. Man fann es geradezu alg ein Merkmal desfelben bezeichnen, daß es fic) nicht in ein Entwidlungsfchema einfpannen läßt. So das künſtleriſche Schaffen: die „Entwidlung” von Homer über Dante und Shafefpeare zu Goethe betrifft doch nicht die Fünjtlerifche Kraft. Diefe Kraft äußert fich zu verfchtedenen Zeiten in verfchiedenen Formen, aber nur ein Narr hält den fpateren Dichter, weil er fpáter ift, für den größeren. Ebenfo ijt eg mit den „originalen“ oder ,,intuitiven” wiffenfchaftlichen Leiftungen. Ebenfo mit den veligiöfen Offenbarungen. Ebenfo mit dem echten fittlihen Handeln. Jede wahrhaft fittlihe Tat ift „kategorifch”, ift „ſpontan“, ift aus fic) felbft gut, Ut unmittelbar. Da gibt es gar fein höher und niedriger, größer und Eleiner. Das Ewige ift unmefbar, two immer es im Irdiſchen erfcheint. Man fann auch nicht fagen, daß das unmittelbare Leben fic) dem Umfang nad) eriveitert, daß etiva heute mehr echte Kunstwerke gefdaffen, mehr Offenbarungen erlebt, mehr fittliche Taten vollbracht werden als früher. Wer derartige Behauptun-

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gen aufitellen wollte, verjteht nichts vom Wefen des Lebens. Yn den Streifen des populären Monismus find folde Fortjchrittsbehauptungen freilich noch geläufig, aber fie werden mit dem verkehrten Entwidlungsbegriff des letzten halben Jahr— hunderts ausfterben. Dann wird man Sunft, Moral, Religion nicht mehr nad) der „Entwidhungslinie” berechnen, und die fittliden Handlungen nad) den „Erforder- niffen des Fortſchritts“ einrichten, fondern wird wieder den Mut zum Unmittelbaren und Spontanen gewinnen. Dann wird man auch aufhören, eine „neue“ Sittlicfeit zu erfinden, fid) „neue“ Gottesbegriffe auszugrübeln und eine „neue“ Kunft in die Welt zu fegen. Aber man wird ohne Theorie wieder fittlid) handeln, Gott gehorfam fein, und die Sunft wird es nicht mehr geben, fondern nur Werkichaffen.

Ranke hat fehr fein das Wefen des unmittelbaren Lebens empfunden und den trivialen Fortichrittsbegriff abgewehrt. Es Lohnt ich, einige Stellen aus feinen „Epochen der neueren Gefchichte” anzuführen. Er fagt über den Fortfchritt in der Geſchichte: , Jn jeder Epoche der Menjchheit äußert fid) eine bejtimmte große Tendenz, und der Fortichritt beruht darauf, daß eine gewilfe Bewegung des menfchlichen Geijtes in jeder Periode fic) darftellt, welche bald die eine, bald die andre Tendenz hecvorhebt und in derfelben fic) eigentiimlich manifejtiert. Wollte man aber an- nehmen, diefer Fortjchritt beftehe darin, daß in jeder Epoche das Leben der Menfchheit fi) höher potenziert, daß alfo jede Generation die vorhergehende vollfommen über treffe, mithin die lebte allemal die bevorzugte, die vorhergehenden aber nur die Träger der nachfolgenden waren, jo würde das eine Ungerechtigkeit der Gottheit fein. Eine folche gleichfam mediatifierte Generation würde an und für fic) eine Bedeutung nicht haben; fie würde nur infofern etivas bedeuten, als fie die Stufe der nachfolgen- den Generation ware, und würde nicht in unmittelbarem Bezug zum Göttlichen fteben. Ich aber behaupte: jede Epoche ift unmittelbarzu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, fondern in ihrer Eriftenz felbft, in ibrem eigenen Gelb ft.”

Weil echtes fittliches Leben urfprünglich ijt, immer new aus der Tiefe des Seheimnifjes aufjteigt, darum gibt es auch feinen „fittlichen Fortſchritt“ in der Ent- widlung der Menfchheit. Rante: „Ein unbedingter Fortfchritt, eine höchſt ent- ſchiedene Steigerung ift anzunehmen, ſoweit wir die Gefchichte verfolgen können, im Bereiche der materiellen Intereffen, in welchen auch ohne eine ganz ungeheure Umwälzung ein Rüdjchritt faum wird ftattfinden fónnen; in moralifder Hinficht aber läßt fid) ein Fortfchritt nicht verfolgen. Die movalifchen Ideen können freilich extenſiv fortfchreiten; und fo fann man auch in geiftiger Hinficht behaupten, bab 3. B. bie großen Werke, welche die Kunft und Literatur hervorgebracht, heutzutage von einer größeren Mengegenoffen werden als früher; aber e8 wäre lächerlich, ein größerer Epifer fein zu wollen alg Homer oder ein größerer Tragifer als Sophofle3.” Zufammenfaffend: „Der Begriff des Fortſchritts ift nicht anwendbar auf die Verbindung der Jahrhunderte im allgemeinen; b. h. man wird nicht fagen dürfen, daß ein Jahrhundert dem anderen dienftbar fet. Ferner wird diefer Begriff nicht anwendbar fein auf die Produftionen des Genius in Kunft, Poefie, Wiffen- ihaft und Staat; denn diefe alle haben einen unmittelbaren Bezug zum Göttlichen; jie beruhen amar auf der Zeit, aber das eigentlid Produftive ift uns abhängig von dem Vorhergängigen und dent Nochfolgenden. So 3. B. ift Thucydides, der die Gefchichtfehreibung eigentlich produziert hat, in feiner Weife unitbertvefflich geblieben.” ,. . . wie denn überhaupt die großen Produktionen des Genies den Charakter des unmittelbar erleuchteten an fic) tragen.” Denfelben Charakter trägt aber auch die befcheidenite fittliche Tat an ſich, wenn fie echt ijt. Sant nennt ihren Antrieb daher „kategoriſch“. Dasfelbe gilt für jeden fchicfalhaften Entſchluß, durch den wir dem Eivigen Gehorjam leiften. Am Schluß der „Epochen“ wiederholt Rante jeine Erkenntnis: „In der Sittlidfett fann ein Fortjchritt nicht angenommen werden, denn die Sittlihfeit ift zu fehr mit der Perfönlichkeit verbunden. In der

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Sumanitát aber ift ein Fortfchritt wahrnehmbar, b. h. das Volt betrinft fid) jet weniger alg früher; es prügelt fic) weniger ufo. Daß aber in jedem nad)- folgenden Jahrhundert eine größere Anzahl von fittlich höher potenzierten Menfchen eriftiexe, Läßt fic) nicht annehmen. Auch glaube ich nicht, daß in diefen Jahrhundert eine größere Anzahl intelligenter Leute fic) vorfinde als in dem vorigen Jahr— hundert.”

5.

Das unmittelbare Leben ift ein Leben, das nicht von unferm Willen abhängt. Wir haben e8 oder haben es nicht. Ich fann mir nicht bornehnten, von heute ab ein unmittelbarer Menſch zu fein, wie id) mir vornehmen kann, von heute ab jeden Tag ein beftimmtes Opfer zu bringen oder ein fogenanntes gutes Werk zu tun. Wie aber fommen wir dann dazu, unmittelbar zu fein im Fühlen, Denfen und Handeln?

Alle Welt ftimmt heut den Ruf nah Erziehungan. Es ijt aber ein Trug, wenn man glaubt, den Menfchen durd) Erziehung zum unmwillfürlichen, echten, ein- fältigen, guten Leben bringen zu fünnen. Das war auch der große Jrrtum Fichtes. Aber wenn er glaubte, die Menfchen durch Erziehung beffern und befehren zu fonnen, fo war er wenigftens folgerichtig: ex wollte die Kinder ihren Eltern entreigen, fie aus der Atmofphäre des verdorbenen Zeitalters nehmen und fie von frithefter Sugend an zwingen, jeden Augenblid des Lebens unmittelbar zu leben. Wenn das möglich wäre, dann ware es möglich, die Sehnfucht nad dem unmitteldaren - Leben durch Erziehung zu erfüllen. Aber wer von Fichtes Nachfolgern nimmt denn feine Lehre von den fünf Zeitaltern, welche die Vorausfegung der in den Reden an die deutfche Nation geforderten Erziehung ift, ernft? Man befchräntt fic) darauf, einige pädagogische Mittel und Methoden aus Fichte aufzulefen, aber der eigentliche Sinn des Ganzen nun, dag ift eben der utopifche Fichte, der fchroffe, gewalttatige, hinreigende Geift! Der „kommt heute nicht mehr in Betracht.”

Nein, Fichtes Lehre ift nichts andres als die Ueberfegung der deutichen Myſtik in die Sprache des achtzehnten Jahrhunderts. ES ift ein Reft des Nationalismus, wenn er bie Erlöfung durd Erziehung erfebte. Das konnte er nur fo, dak er zuvor den Begriff des Menfchen ins Göttliche erweiterte. Das geht, und hat feinen tiefen Sinn. Aber man darf fid) nicht täufchen laffen und den empirifhen Menfchen für einen Gott nehmen. Man darf Fichtes Erziehungsplan nicht für ein Reichzfchul- geſetz halten.

Das unmittelbare Leben machen wir und nicht, es wird uns gegeben. Die Kraft quillt aus dem ewigen Geheimnis, wir wiffen nicht, von wannen fie fommt und wohin fie zielt. Für das Geheimnis fegen wir das Symbol: Gott. Gott fchentt uns das unmittelbare Leben, fein Leben in uns, wenn wir auf das Huge Leben verzichten und uns damit den Werten und Wertungen der Welt entziehen. So erfennen wir: das Ziel der deutfchen Sehnfucht ift das Göttliche. Whnet ihr, was Fichte fagen wollte, als er betonte: das deutfche Volt fei ein urfpringlimes Volt? Durd Staub und Blut der Yahrhunderte leuchtet unfre Sehnfuht. Darum haben wir nicht ein irdifches Lebensideal wie die englifche oder franzöfifche Gefellfchaft, fondern es ift da ein leerer Raum ein heiliger Raum für die Offen= barung Gottes.

Was aber ift ein Parzival, der feine Waffe hat, den Gral zu fhirmen? Heut ift das deutfche Volk der feufzende Amfortas mit eiternder Wunde.

Hier figen wir über alten Büchern und finnen über der Tiefe der Jahrhunderte. Die Mitternacht hebt an, mitten zwifchen Tag und Tag. Dein Reich fomme, Dein Wille gefchehe auch auf Erden! St.

Die deutfche Oberjchule.

y: etwas Schulgefhichte läßt ſich ſchwer von der deutfden Oberjchule reden. Aber der Lefer möge felber in Gedanken rückwärts wandern durch das neun- 208 °

zehnte Jahrhundert und fid) fragen, wie wir nacheinander zu den drei verjchiedenen Gormen der höheren Schule gekommen find, die wir heute haben. Zuerſt mar ja Humboldt3 humaniftiihes Gy mnafium die einzige Form, die e3 gab; und man fonnte fid) faum eine andere denfen. Nad) dem idealen Bilde des Griechentums fid) menſchlich zu bilden und durch römifche Formtraft fich felber geiftig formen zu laffen, war für die Deutjchen vor Hundert Jahren das Biel aller Bildung. Man hatte einen einheitlichen Bildungsglauben und lebte unter der Herrfchaft einer allgemein gültigen pädagogifchen Sdee. Gm Laufe des Jahrhunderts wurde das anders. Als Goethe und Hegel, Humboldt und Schleierntacher gejtorben waren, erloſch allmählich der Glaube an die Bildungskraft alles defjen, was man deutjchen Idealismus nennt. Auch das alte Gymnafium verlor immer mehr feine urfprüngliche Geftalt; in der erjten Reinheit uit es heute nirgends mehr vorhanden. Die Gegen- wart ift drauf und dran, die hHumaniftifche Schule vollends umzugejtalten und vielleicht für immer zu zerftóren. Fajt nur in Süddeutjchland ijt das Gymnaſium nod) einigermaßen volfstümlich; dort findet man es nod) felbjtwerjtändlich, bab es da ift. Schon um 1850 herum trat neben das Gymnafium bas Real- gymnafium. Man verzichtete anf das Griechifche, das wertvollſte Stück des alten Bildungsgutes, und begniigte fic) mit dem Latein. Man öffnete dem Zeitalter der Naturwiffenfdaft und Technik die Schule und gewährte auch der wejteuropaifden Kultur bereitwilliger Cinlak als bisher. Die alte und die neue Zeit jchloffen pädagogifch einen Vertrag miteinander: fein Ergebnis war die Mifchform des Real- gomnafiums. Die feindliden Brüder, Humanismus und Realismus, mußten fics vertragen lernen. Auch diefe Schulform erivies fic) als lebensfähig, obwohl fie nicht fo wie das Gymnafium auf einem einheitlichen Bildungsgedanten beruht. Sie fam dem praftifchen Arbeitsfinn des bürgerlichen Jahrhunderts entgegen und wurde ſchließlich ein Mittelglied zwifchen dem Gymnaſium und der dritten Gattung unferer höheren Lebranjtalten, der Oberrealfdule. Diefe ijt nun ganz und gar ein Kind der legten Jahrzehnte an Leib und Seele; aber die Seele ift Hinter dem äußeren Wachstum des Leibes ein wenig zurüdgeblieden. Diefe Schule it groß geworden in den welt- und wirtjchaftspolitifchen Zeiten Wilhelms des Zweiten, zuſammen mit der Kriegs- und Handelsflotte und mit der Jnduftrie. Sie hat fich befonders in den Städten des deutichen Weſtens angefiedelt und hat auch in ihrem Vejen etiwas Ynduftrielles an fich. Alle unfere Schulen, find ja immer mehr pädagsgifhe Fabriken geworden, in denen mit Hilfe von Lehrkräften das Schülermaterial unter ftändiger Verbefjerung der Methode bearbeitet wird. An der Oberrealfdule wird wahrfcheinlich am meijten „gearbeitet“. Sie hat aud) den umfangreichiten Lehrplan. Inhaltlich bleibt fie möglichit im Lebensfreis der Neuzeit und der abendländifchen Kultur. Alfo nicht Latein oder gar Griechifch, fondern Franzöfifch und Englisch; doch gleichberechtigt neben den Sprachen die mathematischen und naturwiffenfchaftlihen Lehrfächer. Irgend eine ideelle Einheit halt freilich diefen modernen Bildungsstoff nicht mehr zufammen; dafür ift gewiß die geijtige Bejchaffen- heit des jüngjten Menfchenalters in diefer Schulform am deutlichjten nachgebildet. Die Oberrealfdule ijt die neudeutjhe Zeitſchule, die Bildungsanftalt für den Gegenmwartsmenfchen, der in der Welt des Altertums fein pädagogifches Jenfeit8 mehr fiebt, fondern eine voritbergegangene hiftorifche Erfcheinung; der ftolz darauf ift, daß das neue Europa nun endlich fich felbft genug fein darf. Innerlid) ganz verjchieden geartet, doch ftaatlich alg „gleichwertig“ anerkannt, fo ftehen nun dieje drei Schulen nebeneinander, und jeder Vater, der feinen Sohn auf die eine oder die andere ſchickt, befennt fic) damit, oft halb unbewußt, zu einem beftimmten Bildungs- glauben, ja zu einer Weltanfdauung. Da will nun in unferen Tagen noch eine vierte Schule Geftalt gewinnen: die deutſche Oberfdule.

Schon als die Oberrealjchule auftam, dachten manche daran, ihr den Charakter eines „de ut ſchen“ Gymnafiums zu geben. Das Bildungsgut unferes eigenen Volfes hätte dann im Lehrplan diefer Anftalt die Hauptfache werden müffen. Am

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Realgymnafium und bejonders am humaniftiihen Gymnafium jteht ja der deutjche Unterricht ftart im Schatten; er gilt in manden Klaffen nicht viel mehr als ein Nebenfad). Es gelang, dem Deutjchen an der Oberrealjchule einen breiteren Raum zu erobern, aber nicht genug, als daß man die Oberrealjchule wirklich als „deutſches“ Gymnaſium bezeichnen könnte. Die fremden Sprachen und die Naturwiffenfchaften machen. dem Deutjchen die Herrfchaft ftreitig. Die Oberrealfdule ijt fein neufpracy- liches und fein naturwifjenfchaftliches, aber fie ijt auch fein „deutiches” Gymnaſium; fte ijt, wenn man will, das alles miteinander, vielgeftaltig und im Innerſten dod) formlos, wie eben unfer ganzes Zeitalter ift. Warum gelang es damals nicht, eine „deutſche“ Höhere Schule gujtande zu bringen? Man glaubte nicht recht daran, bab fie Bildungstraft genug in fid) haben werde, unt es mit den anderen Schulen auf- nehmen ‘gu können. Diejer Bildungsweg, jo fagte man, wird die Schüler nad) übrigens ziemlich miibetofer Wanderung doch nur in die Enge einer unfreien deutfchen Selbitbefhränfung führen. Wir müffen vielmehr hinaus in die weite Welt und uns draußen mit Franzofen, Englándern und Amerifanern auScinanderfegen. Was deutfch fei, das wiffen wir ja, das Gefühl dafür bringt jeder von Natur ſchon mit. Was braucht es da nod) eine befondere deutfche Schule! Soweit aber Schulung dafür nötig it, muß fie eben an fremder Sprache und Kultur gewonnen werden. Ohne diefen Spiegel werden wir unfer eigen Bild nie fcharf erfennen fónnen. Und e3 ift doch auch Gefahr dabei, aus den Werfen deutfcher Dichter vollends nüchterne Schulbücher zu machen und die angeborene Mutterfprache als regelrechte Schulfprache zu lehren und zu lernen. Dies und manches andere gab man zu bedenken. Und it das meifte davon nicht auch heute noch richtig?

Tropdem ift die Sehnfudt nad) dem „deutſchen“ Gymnajium nicht ſchwächer getvorden, fondern immer nur ftärker. Früher waren ed mehr die Alldeutihen und wer etiva in ihre Nähe gehörte, die jene Sehnſucht ausfprachen. Sie wollten ſchwächliche Hingabe an all das fremde Wefen nicht mehr leiden und durch bie „nationale“ Schule das völkiſche Selbftgefühl der Jugend kräftigen. Friedrich Lange gab die Lofung aus: Reines Deutfchtum auch in der Schule! Heute haben fich viele Gozialdemotraten von drüben her ihnen zugefellt. Sie folgen dabei dem Gedanfengang von der demofratifchen Einheitsfchule. Die Mauern ziwifchen den Gelehrtenfchulen und den Volfsfchulen follen niedergeriffen werden. Man freut jich: hier rüden Rechts und Links einander einmal näher, wenn aud) die Stimmung auf beiden Seiten verfdjieden ift. Das Wort vom , Volt” hat hüben anderen Klang und andere Bedeutung als drüben. Und auch die Lehrer haben den Plan der deutjchen Oberfchule aufgenommen. Sie wollen heraus aus ihren abfeits gelegenen Seminaren und meinen, gerade die „deutſche“ höhere Schule fet für fie ein gangbarer Weg zur Vorbereitung auf das Amt. Und die Germaniften haben fich zufam- mengetan. Sie fchreiben in ihren Flug{driften: Es muß eine Schule geben, die nun endlich dem Deutſchen den erften Pla unter allen Fächern gönnt. Jn Diefer Schule foll nicht wieder der Alt- oder Neuphilologe, der Mathematiker, Phyſiker, Chemifer den Ton angeben; hier will der Germanift feine Wiſſenſchaft auf ihren Lebenswert und Bildungsgehalt erproben. Hier foll die deutfche Sprache zufamnten- hangend und gründlich bis ins Altdeutfche hinein durchgearbeitet werden. Die Lebens- gefchichte der deutfchen Wörter, der eigenen und der entlehnten, foll aufgededt twerden, ähnlich wie Rudolf Hildebrand es damit meint. Was deutſche Sprachfraft und Sprachkunſt vermag, foll man an Meifteriverten und Beifpielen zeigen. Die Gejtalten der Dichtung follen alg Urbilder deutfcher Menfchenart in der Phantafie unferer Kinder und Jünglinge walten und mweiterwirfen von Gefchlecht zu Geſchlecht. Neben der Dichtung follen bildende Kunſt, Philofophie, Volfsfunde ihr Recht befommen. Auch die Geographie foll deutfcher werden als bisher und bom Volfsboden und feiner Befiedelung reden. Geſchichte aber foll gelehrt werden, wie fie im Volks— gedächtnis lebt und leben follte und als’ Offenbarung unferes Volfstums bis heute

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auf uns wirkt. Alles germanijde Wefen foll unferen Gebildeten durch diefes germaniftiihe Gymnaſium einheitlich zur Anſchauung gebracht werden. So wollen wir uns freimaden vom Bann des Griechentums und von den Kunſt- und Lebens- regeln der Renaiffance. Wir wollen heimfehren zur Edda und Saga, zum Nibe- lungenlied und zur Gotif. Bei ihren großen Vorvátern foll fürder die deutfche Jugend in die Schule gehen. ...

Sa, Dann hätten wir wohl wieder, was wir im neunzehnten Jahrhundert Stüd um Stüd verloren haben: den Glauben an eine höhere Wirklichkeit, die unfere Seele erfüllt, die vor uns jteht als überlegenes Bild, das gleichwohl aus uns felber ſtammt und wächſt. Nicht um ein nachträgliches Yocalifieren der Vergangenheit Handelt es fid) und um ein fünjtliches Nachnahmen unerreichbarer Ideale. So ftellt man fic ja gewöhnlich folche Dinge vor. Aber der Sachverhalt ift viel einfacher und natür- licher. Es kommt nur an auf ein wechfelfeitiges Nehmen und Geben hin und her zwiſchen ihnen, die unfterblich leben, und ung, in denen fie lebendig find. Diefe Gemeinfdaft zwifhen uralten Bátern und immernenenjungen Erben ware der Sinn diefer Bildung.

Er wäre es dod) ftórende Fragen hängen fic) an diefe Antwort. Iſt jene ger- manische Selbjthejinnung, jene gotijde Romantik, jene ſehnſuchtsvolle deutiche Ein- tebr, ijt das alles fchon mehr als Strömung und Bewegung? Iſt da ſchon in Ge- finmung und Gewiffen ein dauerhafter Lebensgrund vorhanden, der eine Schule tragen fann, die mehr fein foll als ein Haus mit Lehrern und Schülern und Fächern und Stunden? Und wie foll diefe Schule ausfehen? Wie fol fie auch fich einfügen in das Ganze des Schulwefens, das doc) auch nod) da ift und mit anderen Gefinnun- gen fortiwirft? Auch dies ift bedenklich: je mehr für eine Sache geworben wird, dejto zweifelhafter wird bei vielen Anhängern die Liebe zur Sache. Die glaubensvolle Ueberzeugung, aus der die neue Schule fic) nähren will, muß doch eigentlich wie von jelber über uns fommen und am Ende fo unwiderftehlich fein, daß es nur nod) wenig zu ftreiten gibt. Was tft dann überhaupt nod) anderes nötig als die Ankündigung: wir wollen es verfuchen, weil wir tifjen, daß es gelingen muß. Wer dabei fein will, der weije uns jein inneres Recht auf Mitwirkung nad). Aber Einer muß die Füh- rung haben, ein Mann, der nicht bloß ernannt, fondern in der Seele ergriffen worden ift und der reine Gedanken Hat, fo daß cx dem Ziel nicht Hüglich aus dem Wege gehen wird. 3

Leider fieht das, was wir fehen, wejentlich anders aus. Es foll etwas Neues gejchaffen werden. Was tut man? Dian redet und fchreibt eine geraume Weile viel Papier voll, um alle „snterejjenten“ mobil zu machen. Die entdeden denn auch im legten Augenblid ihr Intereſſe und ftimmen in Ausschußfigungen und Voll- verfanmlungen ab. Zuerſt über den „weitgehenditen” Antrag ufiw. Dabei ftimmen Unzählige mit, die weder eigene Gedanken noch ehrliche Liebe zur Sache haben, fon- dern Hichftens das Bedürfnis nah „Stellungnahme“ empfinden. Irgendwo dort oben im Minifterium häufen Jd die Entfchliegungen zu Attenbergen an, und ein Geheimrat, der fein Amt bildungspolitifch verwaltet, bringt unter Berüdfichtigung der öffentlichen Meinung einen Entwurf zuftande, für den er felber nur mit halben Herzen verantwortlich ijt. So ähnlich geht es weiter. Der eine Intereffentenverband bringt noch Diejen, der andere jenen Paragraphen hinein. Am Ende ift das Werk ohne Einheit, feiner ift mit ihm zufrieden, aber man hat doch etwas für den „Wieder- aufbau” getan und wendet fd alsbald einem neuen Schopfungsatt zu. Die Ge- Ihichte beginnt unter anderen Namen von born. Die Geburtsvorgange bei der deutichen Oberfchule laffen uns befürchten, dak auch hier wieder ein folder Kom = promißbalg entitehen wird, der nachher nicht leben und nicht fterben fann.

Da kommen die radikalen Realiften. „Was wir von der deutfchen Oberfchule erwarten!” Was denn? Dah diefe Schule nun endlich das naturwiffenfchaftliche Gymnafium werde. Wenigitens darf fie in Mathematif und Naturwiffenfchaften

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nicht Hinter der Oberrealichule zurüdbleiben. Ein Unerjättlicher möchte feine Primaner fogar foweit bringen, daß fie die mathematifhen Gedantengange der Ein- fteinfchen Relativitatstheorie halbivega mitmachen tónnen. Wenn diefes Begehren geftillt werden follte, fonnten wir uns die neue Schule erfparen. Sie wäre neben der Oberrealfchule überflüfjig. Und die Volksſchullehrer kommen; fie ſchlagen vor, die Lehrerjeminare in deutſche Oberfchulen umzuwandeln. Wer immer nur Hort, wie gering die Lehrer felbft von ihren Bildungsftätten denken, muß über diejen Vorſchlag exftaunt fein. Wie oft würde wohl die Ummandlung nichts anderes be: deuten als eine Namensänderung. In Sachjen, Anhalt und Sondershaufen ijt man dennoch diefen Weg bereits gegangen. Betrachtet man den Plan der Sondershaufer Oberfchule, fo findet man fajt alles wieder, was am alten Seminar jo unzulänglid) ijt: die leitfadenartige Uebermittelung von Wiffen, die worterbudmagige Einprägung abjtrafter Begriffe und die ewige Langiweiligteit der Herbartfchen Methodit. Pſycho— logie in Oberjefundal Das tann doch nur ein Auswendiglernen von Namen werden: eine Affoziation ijt dies, eine Apperzeption ift das. Nein, die deutjche Oberſchule muß pädagogifch auf eigenem Grund und Boden erwachſen; fie muß ein neuer Anfang fein. Sonft werden die Lehrer felbft feine Freude an ihr haben. Und es tommen noch allerlei andere Ratgeber: Lehrplantheoretifer, die überall und auch hier ihre Lieblingsfader unterbringen möchten; Organifatoren, die nicht fehlen dürfen, wenn irgendtvo gebaut wird; fprachenfcheue Geijter, die jeden fremden Laut aus der Schulftube verbannen wollen; Lebensſchwärmer, die aller Wiffenfdaft abgeſchworen haben. Yn diefem Durcheinander der Meinungen muß dreierleifeftftehen, wenn aus der deutfchen Oberfchule etwas werden foll.

Erftens: fie muß nicht wifjenfchaftlich fein, aber einen wiffenfchaftlichen Untergrund haben. Sie muß zum mindeften das werden, was mir in Deutjchland mit freilich fümmerlichem Amtsdeutich eine „Höhere” Schule nennen. (Der Name ſträubt fic) jedesmal, wenn man ihn gebrauchen will; „Oberſchule“ ijt leider aud nicht befjer; follen ihre Schüler „Oberſchüler“ heißen?) „Höhere“ Bildung das befagt hier doch wohl Bildung, die geiftig bis in jene Tiefe reicht, wo die Gründe und Zufammenhänge von Leben und Wilfen fic) vor unferen Augen auftun. Und wiffenfhaftlich heißt Hier nichts als quellenmäßig. Die Schüler fonnen fic) nicht vier oder fünf Stunden am Tage für deutjche Vergangenheit und Größe begeiftern; fie werden hoffentlich auch diefe Begeifterung nicht ganz berlernen; bor allem aber follen fie fic) geiftig an die Quellen heranarbeiten. Sie müffen ſchließlich deutfches Leben an feinen Urfpriingen zu faffen verftehen; wenn fie das nicht tónnen, find fie nicht „reif“ geivorden. “af e8 zu foldjem Können fo oft nicht langen will, ist gewiß das Schlimmite bei vielen Schulen und bei vielen Schülern. Die rechte Schule muß die Schüler dahin bringen, daß fie zuleßt doch auch die Früchte ihrer Arbeit fchmeden. Wer aus den Quellen zu fchöpfen weiß, dem werden Wiffenfchaft und Leben eins. Und fo ift es gemeint, wenn wir jagen: die deutfche Oberſchule muß Wiſſenſchaftsſchule fein, um deutfche Lebensfchule fein zu können.

Biweitens: die deutfche Oberfchule muß nad) ihren eigenen Lebensbedürfniffen geftaltet werden. Ihr Arbeitsplan muß ſo befchaffen fein, dak er auch wirklich zu den Quellen deutſcher Gefhichte und Kultur Hinführt. Diefe Quellen aber ent- fpringen in der Vergangenheit. Und daran läßt fich nun nichts ändern: fie find nicht ohne Kenntnis fremder Spraden zugänglich. Die Frage, welche Sprachen in den Plan der Oberfchule aufgenommen werden follen, ijt noch eine Streitfrage. Ur— fprünglich wollte man nur eine fremde Sprache. Neuerdings hat man befchlofjen, neben diefe eine Hauptfprache nod) eine Nebenfprache zu ftellen. Aber ob eine oder zwei Sprachen die Frage ift: welche? Nun ift man ja im Begriff, allen höheren Lehranftalten einen gemeinfamen Unterbau zu geben und überall in den unteren Klaſſen Franzöfifch zu lehren, gegebenenfalls auch Englifh. Sollte es dahin fommen, fo müßte, heißt es, auch die deutfche Oberjchule fich fügen. Selbft die

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meijten Gynutafien müßten ja Damn in der Sexta mit dem Franzöfifchen beginnen und Latein und vollends Griechiſch auf die höheren Klaſſen zurückſchieben. Es laffen fid) freilich ftarfe Gründe für dieſes „Kefor mſyſtem“ anführen, das guerjt in Frankfurt aufgefommen it. Aber die ftarferen Gründe fpreden dagegen! Der Sieg des Reformſyſtems würde bedeuten, dak die neudeutiche Organifationswut nun auch in der Pädagogik iiber die innere Notwendigkeit der Sache triumphieren darf. Gemeinfamer Unterbau das heißt: wir geben aus äußeren Gründen dem Sranzöfifheneme Mad titellun g in unjeren Schulen, die eS doch für uns und unfere Seele garnicht hat. Es behauptet auch gar niemand, daß es fie hätte. Man fühlt fich verjucht, von einer gedanfenlofen Franzöfierung der deutſchen Schule zu jprechen. Und das in unferen Tagen und nur deshalb, weil man auf der Suche nad) einer allgemeinen Grundfprache feine findet. Franzöſiſch aus Verlegenbeit. Gemeinfamer Unterbau das bedeutet für die deutfche Oberfchule: Wir fragen nicht, welche fremden Sprachen erfchließen uns die heimischen Quellen, fondern welde Sprachen treibt man auf der Nachbarſchule. Alfo fachfremtde Maßſtäbe. Da- mit die Bildungspolitifer von Einheit und Gleichheit fabeln können, machen fie aus dem Schulmwejen einen technifhen Mechanismus und fchieben die Sprachen Hin und Der und auf und ab eine Sprachverwirrung, an der allein die Gegner des Latein ihre Freude haben, allerdings bloß Schadenfreude. Latein aber braucht nun gerade die deutſche Oberfchule.

Denn drittens: foll die deutfche Oberfchule von innen her fic) entfalten und joll ihr Lehrgang im Suchen und Finden der Quellen beftehen, fo ift die latei- nifde Sprade ihr fchlechthin unentbehrlih. Als Nebenfprade ijt gewiß aud Englifch oder Franzöfifch notwendig, aber die fremde Hauptſprache muß Latein fein. Davon tft nichts abzumarkten. Mit der Germania des Tacitus beginnt die Quellen- {unde zur deutfchen Geſchichte. Die Worte Klingen fremd, aber ihr Inhalt, den fie meinen, tft [dor unfer Land und Volt. Bis auf Luther und dariiber hinaus ift die deutfche Zunge doppelfpradjig; jie fpridjt Altdeutfch und Latein. Latein als lebende Sprache, ja als einheimische Mundart. Die mittellateinifche Philologie ift freilich ein berborgenes Veilden. Aber die deutfdj-lateinijde Welt des Mittelalters ift der Wald der Heimat, tie er vor taufend Jahren in Grün und Blüte ftand. Der lateinlofe Wanderer läuft in diefem Forft halbblind gegen die Baume. Wie ift die alte Raifer- und Rirdhengefdichte aufgefchrieben? Wie haben fie gedichtet von Etfehard und dem Erzpoeten bis auf Hutten? Wir haben die Monumenta Ger- maniae und wollen ein deutfches Gymnafium zuftande bringen, in dent diefe Dent- mäler zu totem Schweigen verurteilt find? Kurzum: ohne Latein geht es nicht.

So foll man’s denn verjuchen, obwohl es noch reichlich frith ift. Und fo foll es ausjehen, das deutfche Gymnaſium: Es foll feinen Hintergrund haben an dem breiten, feiten Boden der Vergangenheit; der Flugfand der Gegenwart ijt doch fein Baus grund. Es foll altdeutich und deutjch-Humaniftifch fein, dem Gymnafium verwandter al3 den realen Anftalten. (Es foll wiffenfdaftlich ernjthaft und quellenmäßig ftreng fein und fich verbinden mit dem Drang nad) Reinigung der deutfchen Volfsart. Das ijt ein Weg, der garnicht fo bequem ift, wie man’s haben möchte. Man wird ihn aud nicht gegen, jet nicht. Man wird den Berg, der vor uns liegt und uns auf feinen Gipfel winkt, nicht fo bald erjteigen. Man wird fic) um.den Berg herumdrüden und zu feinen Füßen einen Schulpalaft errichten, einen „gemeinfamen Unterbau” and einen „gegabelten Oberbau” mit befonderen Treppenftufen für Begabte und aller- neueften Aufzügen für hervorragend Begabte. Inſchrift vorne: Deutfche Oberfchule nad) Haeniſch. Inſchrift Hinten: Seminar nach Herbart. Cintrittsgeld: fünfhundert Mart. Dietrid Ferman.

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Schöpfung und Oeftaltung in deutfcher Lprif. 3umNaderleben lyriſcher Gedióte. 2. Juli, von Theodor Storm.

lingt im Wind ein Wiegenlied, Sonne warm herniederfieht, Seine Aebren fentt das Korn, Rote Beere ſchwillt am Dorn, Schwer von Segen ift die Flur Junge Frau, was finnft du mur?

heodor Storm nannte dies tleine Gedicht gern „mein Gommerlied’, und mie 7 Hebbel einmal, Ublands „Die linden Lüfte find erwacht” bewundernd, ausruft: „Gibt es denn fonft noch ein Frühlingslied?”, fo befennt Storm Emil Kuh, Hebbels Wort für feine eigenen Verſe abwandelnd, „den eitlen Gedanken“: „Gibt es denn ſonſt nod) ein Sommerlied?” In demfelben Briefe an Kuh jagt Storm über die Ent- itchung des Gedichts: „Mein Vers war übrigens an eine junge Frau gerichtet, bei der ich exfte Schiwangerjchaft vermutete.” Es bedarf der Worte Storms nicht, um uns empfinden zu laffen, bab diefe wenigen einfachen Sábe ein Gommer- und Mutter gedicht zugleich in feltener Vollendung verkörpern. Aber es beleuchtet doch ben Vorgang der dichterifhen Schöpfung und Geftaltung des fleinen Wunderwerks eigenartig flar und tief, enn tir wiſſen, daß fich dem Dichter aus dent Mitempfinden der Seelenftimmung der jungen Frau dies ſcheinbar ganz auf Naturjtimmung ge- jtellte Sommergedicht geftaltete. Und darin liegt wohl legten Endes die Vollendung des Gedichts, daß Natur- und Seelenftimmung einander jo vollfommen entjprechen und fid) fo innig durchdringen, daß wir fie immer als eine und diefelbe ungeteilte empfinden, ob wir e3 mui alg Sommer- oder Muttergedicht anfprechen.

Wenn Storm im Vorivort zu feinem Hausbud) deutfcher Dichter jagt: „Von einem Kunstwerk will ich, wie bom Leben, unmittelbar und nicht erft durch Ver- mittlung des Denfens berührt werden; am vollendetiten erſcheint mir daher das Gedicht, deffen Wirkung zunächft eine finnliche ift, aus der fid) dann die geijtige von felbft ergibt, wie aus der Blüte die Frucht,“ fo fann wohl faum ein Gedicht diefer Forderung vollfommener entfprechen als fein Julilied. Schon in der erjten Zeile ift die finnliche Stlangivirtung fo beftridend und malt das leife Säufeln des Sommer: windes fo ziwingend, daß wir der zarten Andeutung, die in dem Worte Wiegenlied liegt, zunächit faum achten. Und ebenjo eindringlich malen uns die voll und ge: wichtig einfallenden Worte „Sonne warm” Bild und Wirkung der brütenden Sommerfonne, in dem Vollflang ihrer Vokale noch verjtärft durch den Gegenfat zu dem voraufgebenden und nachfolgenden Singen des hellen i. Noch volltommener entjprechen und ergänzen Bild und Slang einander in der dritten Zeile. Meinen wir aus den ftabreimenden 3-Lauten und dem fcharftlingenden à das NRafcheln und Sniftern des reifenden Kornes zu vernehmen, jo malt der dreijtufige Tonfall der Botale e a o in den Worten „jenkt das Korn” das Hängen und Niden der körner— ſchweren Aehren mit fo zwingender Deutlichfeit, bab fic) der Slang für den mit- empfindenden Hörer unmittelbar in das entiprehende rhythmiſche Bervegungsgefühl umfegt. Und glauben wir nicht in ähnlicher Sinnfälligfeit die ſchwellende Beere in der Hand zu fühlen, wenn in der folgenden Zeile das Wort „ſchwillt“ an unfer Ohr flingt, deffen i in der Vofalreihe ve ia o die Mitte und den Gipfel bildet und das in der Reihe der fünf Wörter in Sinn und Klang in genau entfprechender Meife dominiert? Nicht weniger eindringlich verfinnlichen Klang und Tonfall im nadjten Sat die laftende Schwere des Fruchtfegens, während wieder durch die Kontrajt-

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wirfung verſtärkt der ſchwebend leicht verflingende Frageton des Schlußſatzes mit dem auf „ſinnſt“ verweilenden Klang das träumende Sinnen der jungen Frau trefflid) „vertont“.

Geben wir uns diefer rein finnlichen Klang» und Bildwirkung jeder einzelnen Zeile hin, fo ergibt fic) die geiftige daraus, ganz wie Storm es fordert, „mie aus der Blüte die Frucht“. Der gedanflide Sinn des Gedichtes bleibt unausgejprochen, er wird nur in der erften und legten Zeile [etje angedeutet, und es fommt wohl vor, daß das Gedicht erft „verjtanden” wird, wenn man auf den Zufammenhang diefer beiden Sage hindeutet. Aber nicht ohne Abficht find diefe beiden Zeilen räumlich ant mweiteften voneinander getrennt, und wer die Dichterfprache recht verfteht, zu dem fprechen die Bilder der dazwifchenliegenden Zeilen, eben in ihrer fich an Gefühl und Phantafie wendenden finnlichen Bilderfprache, deutlich, genug, dem wird jedes Bild „von felbjt” zum Sinnbild. Das aber ijt entfcheidend für die Bildfraft der Tichterfprache, dak die einzelnen Bilder nichts von ihrer finnlichen Wirkung ver- lieren, indem fie zum Symbol werden, und daß fie als Symbol feiner befonderen Deutung bedürfen. Der Dichter weiß die Dinge fo zu geftalten, daß fie mit ihrem eigenen Wefen ihre ſymboliſche Bedeutung zugleich aussprechen. Bedarf das Klingen des Windes noch des deutenden Wortes, fo fprechen die brütende Sonne und die körnerſchwere Aehre, die fchivellende Beere und der Fruchtfegen des Feldes finn- bildlich durch fich. Die zivingende Anfchaulichfeit aber, mit der diefe Dinge nicht vor allem zu unferm Auge, fondern unmittelbar zum Gefühl in vein körperlichen Sinn, zum Temperatur, Bewegungs- und Taftgefühl fprechen, läßt uns den Seelen- zuftand der jungen Frau mit einer fast förperlich wirkenden Intenfitát, man möchte fagen aus ihrem eigenen Störpergefühl heraus, mitempfinden.

Verdeutliden wir ung fo die Wirkung der dichterifchen Bildiprache, fo fonnte man fajt meinen, die Grenze feufcher Zurüdhaltung fet burd) zu aufdringliche An- fhaulichfeit überfchritten worden. Doch nur die Enge und Einfeitigteit gedanklicher Betrachtung kann diefen Schein auffommen lafjen. Geben wir uns der dichterifchen Gejamtivirtung hin, fo empfinden wir es al3 einen gerade das innerfte Wefen diejes Gedichtes bejtimmenden Zug, daf fich feine greif- und fühlbare Anfchaulichkeit mit zartejter Keufchheit paart. Und fpricht ſchon jede einzelne Zeile mit ihrem „der jetë jungfräulich reinen Natur” entnommenen Bilde Sinn und Stimmung des Ganzen für fic) aus, fo zwingt uns der Dichter doch exft gerade durch diefe Folge der Einzelbilder in ein immer intenfiveres Miterleben hinein. Vom unbeftimmten Stimmung eriwedenden Klingen des unfichtbaren Sommerwindes führt er uns, von Stufe zu Stufe fonfreter werdend, bis zur greifbaren Plajtif der einzelnen Beere, gleichfan dem Symbol der Frucht an fich, fodak wir nun Fülle und Reichtum des Segens der Flur auch im abjtratten Wort finnlich zu empfinden glauben, und doch in der geiftigen Bedeutung desfelben Wortflanges zugleich die Brüde gefchlagen fühlen zu dem feelifchen Empfinden, das in der legten Zeile aus der gefattigt ſchweren Naturftimmung leicht und zart erblüht, und nun riidiwirkend jedes einzelne Bild geistig durchſtrömt und durchleuchtet.

Wie wir nie entrátfeln werden, worin die Schönheit einer Blume be- jteht, fo werden wir auch nie die Fülle der Beziehungen erjchöpfend aufzeigen fónnen, durch deren Zufammentvirten die Schönheit des tleinften aus dem feelifchen Erleben durch die Schöpferfvaft eines Dichters hervorgewadjenen Gedichtes Des dingt wird. Und wenn tir gefehen haben, wie die zwingende Wirkung unferes fleinen Kunſtwerkes vor allem der unmittelbar gum Körpergefühl Tprechenden thythmifchen und plaftifchen Anfchaulichkeit zu danken ijt, fo braucht es doch faum des Nachweifes, bab auch die malerische Bildwirfung durchaus nicht fehlt. Als bejondere Feinheit aber empfinden wir es, daß das zunächit noch allgemeine Sommerbild durch die rote Beere am Dorn auf einmal Farbe und den beſtimmten Charakter der Holjteinifchen Landidaft erhält. Jn der. mufifalifchen Wirkung fällt

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bor allem das Rlangivunder der drei Reimpaare ins Ohr, die vom hellen i über das volltlingende o zum tiefen ſchweren u herabfinfen, und fo Bild- und Stimmungs- gehalt begleitend, Gejchloffenheit und Gefühlswirkung des Ganzen verftarfen. Und felbft der arditeltonifche Aufbau des tleinen Kunſtgebäudes erwedt unfeve Be- wunderung. Wie die Aneinanderreihung der feds Gabe gerade in diefer Folge innerlich wohl begründet ift, fo entfpricht die Gleichzahl der Silben und das metrifche Gleichmaß der Zeilen der ſchweren Ruhe und Reifeftimmung, welche da3 Gedicht durchweht. So find auch je zwei durd) den Reim verbundene Zeilen in ihrem Inhalt verwandt, und wenn wiederum den Zeilen 1, 2, 3 in umgefehrter Reihe die Beilen 4, 5, 6 entiprechen, fo gewinnt durch diefe von außen nad) innen gehende Parallelität das Heine Wundergebilde an Gefdloffenheit und Rundung, fo dak man e3 gleich einer vollausgereiften wohlgeformten Frucht mit Auge und Hand umfaffen zu fonnen meint.

Dod ift nach Storms eigenem Wort „die Form nichts al3 der Kontur, der den lebendigen Leib befchließt“. Und wenn wir die Blutiváarme diefes bom innigen Erleben feines Schöpfers gefpeijten Sommer- und Muttergedichtes voll empfinden wollen, fo müffen wir immer wieder ihm Sinn und Seele öffnen und feinen lebendigen Pulsſchlag ſüß und tief in unfer Gefühl überftrömen Laffen.

Franz Heyden.

Bäãcherbriefe

Das Auslanddeutfchtum in Ueberſee. (Nebit einem Nachwort über Zeitſchriften- und Schulliteratur.)

ie deutfche Diafpora jenfeits des Meeres hat troß ihrer Millionenzahl fein

fefteres Fundament unter den Füßen als die oft- und füdofteuropäifche, von der in einem früheren Bücherbriefe die Rede war. Jm Gegenteil! Das fpiegelt fich aud) in der Literatur wieder.

Das umfaffendite Werk über die Deutichen in den Vereinigten Staaten bon Nordamerika, deren Zahl vor dem Kriege auf etwa zehn Millionen angegeben wurde, find Die beiden Bande von Albert Bernhard Fauft (Profeffor an der Cornell-Univerfitat in FthacaNeuyord): Das Deutfhtum in den Ber- einigten Staaten in feiner gefhidtliden Entwidlung (Leipzig, Teubner, 1913) und: Das Deutfhtum in den Bereinigten Staaten in jeiner Bedeutung für die amerifanifhe Kultur (ebenda 1912).

Wie ftellt fih nun nad) Faufts Auffaffung die Gefhichte der Deutfdjen in den Vereinigten Staaten dar?

Fauft verfolgt zunachft die deutſche Einwanderung in die englifhen Kolonien bis zur Unabhängigfeitserflärung und jchildert die Entftehung und Entwidlung der deutfchen Siedlungen bis zu diefem Zeitpunkt im einzelnen. Die Deutfchen erfcheinen als eine felbjtandige Gruppe neben den englifch fprechenden Koloniften. Dann aber erfolgt ein Bruch in der Linienführung. Fauft geht nicht geradlinig weiter der— geftalt, daß er die Gefchichte diefer Siedlungen verfolgte und die Gejchichte ber Mil- lionen fpáter Eingewanderter, fondern bon der Unabhängigkeitserflärung an ftellt er fic) auf den Boden des nordamerifanifchen Angelfachfentums und begnügt fich zu zeigen, daß an der Gefchichte der Vereinigten -Staaten die Deutfchen aud) einen nicht unwichtigen Anteil haben. Der Inhalt diefer fpäteren Kapitel läßt fich daher in den einen Sat ¿ufanmenfaffen: bei allen wichtigen Ereigniffen der amerifanifchen

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Geſchichte, bei tem Unabhangigtcitsfrieg (Kapitel 11), bei der Gewinnung des Mejteng (Kapitel 12 bis 15), den Sriegen des neunzehnten Jahrhunderts mit Einfchluß des Krieges gegen Spanien (Kapitel 16) find die Deutfden auch dabei gewefen. Ju dem zu ziveit genannten Bande ftellt Fauft dann dar, was bie Deutfchen zur Bildung und Entwidlung der amerifanifhen Kultur beigetragen haben.

Was dagegen der deutfde Bevölferungsteil für ſich felbft ift, welches Leben in ihm felbjt a[8 einem befonderen Beftandteil des gefamtamerikanifchen Lebens pulfiert, das heißt: von der eigenen gejchichtlichen Entwidlung des Deutfchtums erfahren wir faum etivas.

Das mag zum Teil daran liegen, dak die Vorarbeiten für eine derartige Geſchichte des Deutſchtums fehlen oder doch jehr lüdenhaft find; zum größeren Teil liegt es aber an der Meinung des Verfaffers, dak die Deutfchen ſich vollfommen im Ganzen der amerifanifchen Bevölkerung, das heißt alfo: im Angelſachſentum auf- löfen follen. Er hat fid) diefer Auffaffung rüdhaltlos hingegeben. Darum ift es irreführend, wenn in dem Titel beider Bande der Ausdrud „Deutfchtum“ vorfommt; denn das ijt ja gerade ihr Inbalt, dak es fein Deutfchtum als eigene Größe in den Bereinigten Staaten gibt, fondern nur ein „deutſches Element“, das nicht auf eigenen Füßen ftehen fann und zur Auflöfung beftimmt ijt. Die amerifanifche Schrift bedient fid) auch nur diefes farblofen Ausdruds: The German Element in the United States, with fpecial reference to it8 political, ntoral, focial and educational influence (Verlag bon Hougthon Mifflt u. Co., Bofton, 1909, 2 Bände).

Auf die beiden umfangreichen Bücher von Georgvon Botte, Das deutfde Element in den Vereinigten Staaten unter befonderer Berüdfichtigung feines politi- iden, ethifchen, fozialen und erzieherifchen Einfluffes, Stuttgart 1908, Chr. Belterfche Berlagsbuchhandlung, und von Rudolf Cronau, Drei Jahrhunderte der Deut: {cen in den Vereinigten Staaten, Berlin 1909, Verlag Dietrich Reimer (Ernjt Nob- fen) haber im ganzen diefelbe Haltung; alle drei find aus demfelben Preisausfchreiben hervorgegangen.

Daher bleibt neben diefen größeren Werken bie fleine Schrift von Julius Goebel (Profeffor der deutfchen Philologie und Literatur” an der Stanford Univerjitat, Californien): Das Deutfhtum in den Vereinigten Staaten bom Nordamerika, Verlag J. %. Lehmann, München, 1904 (Der Kampf um das Deutfdtum, Heft 6) doch unentbehrlich; denn fie fucht das, was bei Fauft fehlt, anzudeuten: die eigene Entwidlung des Deutſch-Amerikanertums.

Syn Südamerika ift das deutfche Element am ftarfften in Südbrafilien vertreten. Einen anfhaulichen Einblid in das tägliche Leben diefer fich lange felbjt überlaſſenen Volt8genofjen gewähren die Erinnerungen von Hoppe (einem früheren Reife prediger der Riograndenfer Synode): Aus dem Tagebud cines brafi- lianifhen Urmwaldpfarrers. Verlag von ©. D. Bacdefer, Ejfen, 2. Auf- lage 1901. Am tiefften führt uns in ihre Verhaltriffe ein die auf eigener Anschauung und exakter wiffenfchaftlicher Arbeit beruhende Einzelftudie von Ernft Wage- mann: Die deutfchen Soloniften im brafilianifchen Staate Ejpirito Santo. Verlag bon Dunder und Humblodt, München und Leipzig 1915 (Schriften des Vereins für Sozialpolitif, 147. Band, fünfter Teil). Einen fummarifchen Ueberblid über alle diefe Kolonien gibt BD. $. Woltmann, Deutfhe Siedlung in Süd- Brafilien. Ein erfolgreiches Jahrhundert deuticher überfeeifcher Siedlungsarbeit. Verlag Y. A. Perthes, Gotha (während des Krieges erfchienen; leider ohne Literatur- angaben).

Ueber Die Deutfchen in Chile antereiähiel Johannes Unold: Das Deutfhtumin Chile. Verlag S. Y. Lehmann, München 1899 (Der Kampf um das Deutfchtum, Heft 13). Dan ganzen Kontinent betrachtet Siegfried Benignus, unter dem etivas ruhmredigen Titel „Deutſche Kraft in

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Südamerifa. Hiftorifch-wirtichaftliche Studie von der Sonquifta bis zur Gegenwart. Politik, Verlagsanftalt und Buchdruderei G. m. D. H., Berlin W. 57. 1917 (ohne Literaturangabe).

Damit waren wir am Ende unferer „Einführung“ angefommen. Die fleineren Gruppen von Diaſpora-Deutſchen, die e3 noch mancerwärts auf der Erde gibt, müſſen füglich hier unberüdfichtigt bleiben. Und die Auswanderer-Literatur, die jest üppig ins Kraut fchießt, wird grundjäglich von der Betrachtung ausgejchloffen.

Nachträglich ift nun noch auf die Schrift von Hoeniger: Das Deutſch— tum im Ausland vor dem Weltfrieg, BD. ©. Teubner, Leipzig und Berlin, 2. Auflage 1918 (Aus Natur und Geifteswelt, Band 402) hinguweifen; jie gibt eine Furze, mit Bewußtſein vorfichtig und nüchtern gehaltene Gefamtdarftellung. Wenn tir fie exft jegt nennen, gefchiebt es, weil wir dem, der fic) in diefe Dinge einarbeiten will, empfohlen haben, vom Speziellen zum Allgemeinen zu gehen, b. 5 mit einem Einzelgebiet zu beginnen und von da aus, allmählich um Hd greifend, nac) und nach die übrigen Gebicte fennen zu lernen. Das Nachjchlagewerf, das der ‘Verein für das Deutfchtum im Ausland herausgegeben hat unter dem Titel Hand— buch des Deutfhtums im Auslande (Dietrich) Reimer, 2. Auflage, Berlin 1906), enthält für die ältere Zeit fehr wertvolles Material. Die Ereigniffe, welche in den legten Jahren über den größten Teil der Auslanddeutfchen wie über uns jelbjt hercingebrochen find, machen aber eine neue Auflage für lange Jahre un: möglich, ;

Die Literatur über das Auslandsdeutichtum ijt, das hat Hd gezeigt, febr ungleihmäßig für die einzelnen Gruppen an Zahl und an Wert. Sie ijt grokenteils Zufallsergebnis. Cine Stelle, von der aus die Erforfhung des Auslandsdeutſchtums ivjtematijd) geleitet, betrieben oder auch nur angeregt würde, gibt es bei uns nicht. Immerhin, wer fid von irgend einen Punkte aus in die aufgeführte Literatur „hineinfrißt“, wird doch Gewinn davon haben und dann in der Lage fein, fich feinen Weg weiter zu fuchen.

Dod) mit einer Einfchränfung: nur über die Zeit bis zum Ausbruch des Welt ivieges wird ex fid) daraus leidlid) zuverläffig orientieren founen. Was aber tut er, wenn er über das Datum hinaus zur Gegenwart vordringen will?

Etwas können da die Berichte helfen, die der Verfafjer diefer Zeilen von. Jahr zu Jahr in der Deutfhen Rundschau (Berlin, Verlag Gebrüder Patel) über die wichtigeren Neuerjcheinungen auf diefent Gebiete veröffentlicht hat: Juni 1916: Die ungarländifchen Deutjchen während des Krieges. Februar 1917: Prodleme des Auslandsdeutjchtung. März 1918: Von den deutfchen Balten und Bauern Ruflands. Sanuar 1919: Vom Auslandsdeutfchtum. Juli 1920: Vom Auslandsdeutjchtum nad) dem Kriege.

Viele Einzelauffäge find in Zeitfchriften zerftreut. Die wichtigiten Sanunel- beden dafür find erſtens: die Vierteljahrshefte des Vereins für das Deutfchtum im Ausland „Das Deutfehtum in Ausland“. Sie haben mit dem Ende des Gabhres 1919 ihr Erjcheinen eingejtellt; Dafür gibt der 93. D. A. feit Fanuar 1920 eine größere Zeitjchrift Heraus, die Halbmonats- rejp. Monatsjchrift „Wolf und Heimat“ (Verlag Philipp Reclam jun. in Leipzig). (Seit dem 1. Januar 1921 mit der Zeit: Schrift des Deutjchen Schülervereins in Wien, dem ,,Getrenen Eckart“, vereinigt.) Zweitens: die Halbmonatsschrift „Der Auslandsdeutfche”, welche das deutjche Aus: land-Injtitut Stuttgart feit dem Herbft 1918 (im eigenen Verlage) herausgibt. Diefe Zeitjchrift enthält auch eine gute Bibliographie, in der die gefamte einjchlägige Bücher- und Zeitſchriften-Literatur (jegt auch mit Einſchluß der Starten) verzeichnet wird eine Bibliographie, die allerdings nicht blog das Auslanddeutſchtum beritd- fichtigt.

Bei der Benugung von Zeitjchriften- und Zeitungsauffägen ijt natürlich zu beachten, daß es fic) großen Teils um Stimmungsbilder, Wiedergabe von emp:

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fangenen Eindrüden, Momentaufnahmen und dergl. Handelt, nicht unt wifjenfchaft- liche Arbeiten.

Zum Schluß nod) ein Wort an die pädagogiſch tätigen Lefer. Sie werden felbjt- verftandlid) den Wunſch haben, für diefe Dinge auch die Jugend zu erwärmen und werden dabei mit ihren eigenen Schülern anfangen wollen. Winfe, wie man das zweckmäßig anfängt, finden fie in meiner programmatifchen Schrift „Das Deutfchtum im Ausland in unferen Schulen“; fie ift bereits einige Zeit vor dem Krieg erjdienen (bei B. ©. Teubner, Leipzig und Berlin 1913), aber fie ift leider, foviel ich fehe, immer nod) nicht veraltet. (ES geht damit verzweifelt langjam bei uns. Immerhin ijt mindeftens einiges für Schulzwede gedrudt. Willfommene Handreichung werden dem Lehrer etiva leiften das „Quellenlefebuch”, das die Lehrer Georg Soldegel und Walther Jentzſch unter dem Titel „Deutfhes Schaffen und Ringen im Ausland” haben erfeheinen laffen (bei Julius $tlinthardt, Leipzig 1916 und 1917; Bd. 1: Dejterreich-Ungarn, Balfan, Orient; Bd. 2: Rupland, Nord- und Mittelamerita, Siidamerita; ob ein urfprünglich ge- planter dritter Band nod) erfcheinen wird, ift nach Lage der Dinge mehr als ziveifel- haft); und die Heinen Skizzen, die Emil Lehmann unter dem Titel „Deutfches Volfstum auf Vorpojten” herausgegeben hat (Schulwiffenfchaftlicher Verlag Haaje, Prag-Wien-Leipzig; „Volksbücher zur Deutichtunde”, herausgegeben von A. Hof- jtaetter, Nr. 5). `

Und damit genug!

Wer in dieje Fragen fich tiefer einläßt, wird zwar vielleicht im einzelnen manche Enttäufchung erleben, im Ganzen aber eine große Bereicherung erfahren.

Gottfried Fittbogen.

Seine Beiträge

Idealismus und Religion. 1.

Ser Idealismus ift die Fälſchung der Religion, Ut „Religionserfaß”. Wo der Idealis—

mus aufhört, da fängt die Religion an. Wer der Wirklichkeit Gottes ausweichen milf, der hat Jbeale. Wer aber der Wirklichkeit Gottes begegnet und von ihr beziwungen wird, dem jchwinden alle Ideale dahin. Gottes Gegenwart wird erlebt in heiliger Nüchternheit. Und Jdealismus ijt die Angft vor diejer Ernüchterung. Gott fet gedankt, wenn die Menſchen aufhören, Jdeale zu haben. Dann fangen fie an, Gottes Stimme zu hören und ihm geborjam zu fein.

Es ift das Wefen des deals, bab es nie erreicht werden fann, daß es fich nicht ber: wirklichen läßt. Das ift Schmerz und Trojt zugleich für den Spealiften. Go muß und fo fann er fid) damit abfinden, bab er das deal nicht erreicht. Darum ift es die Praxis des Ydealismus, Kompromiffe zu ſchließen. Das ganze Leben des Ydealijten ift ein Kompromiß, und das heißt eine Halbheit. Er bleibt notwendig immer auf halbem Wege fteben. Der Idealiſt ift wohl traurig, bab er nie bis zum deal findet. Aber feine Traurigkeit ift eine menfchliche, endliche Traurigkeit. Und darum gibt es aud) für fie mur einen menſchlichen, endlichen Trojt. Diefer Troft ijt die Begeifterung fir das Ydeal, der Rauſch. Der Idealiſt beraufcht fich an feinem deal, das heißt, er vergißt den Zivie- fpalt zwijchen Ideal und Wirklichkeit fir Stunden. Es folgt das bittere Erwaden.

Der Fdealismus der Jugend it der Traum vor dem Beginn der Wirklichkeit, Ut die Dämmerung des Morgens, die liebenswerte Sehnſucht nad) der Religion, nad) dem wahren Leben. Darum ift die Begeifterung der Jugend heilig, wo die Begeijterung des Mannes leicht ein Hinweis auf haltlofe Schwäche ift. Die Angjt vor dem Erwachen, vor dem hellen Tag des wirklichen Lebens führt zu der Halbheit des Idealismus, bon dem wir fpredjen, dem Verjud), ewig Jüngling zu bleiben und zu der Flucht in die Selbittäufhung beraujchter Stunden. Beides ift Lüge, weil beides den Sompromig nicht zu überwinden vermag. Diefe Ueberivindung jdentt allein die Religion. Sie ijt das Manntverden des Jitnglings, der Aufgang der Sonne eines wahren Lebenstages.

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2;

Aber handelt denn der Menſch der Religion nicht aud) unvolltommen? Entgebt er dem Zwiejpalt zwifchen deal und Wirklichkeit? Gewiß nicht. Er erft erfennt ja er lebt am Tage und in der Nüchternheit des Tages die ganze Größe diefes Ziwiefpaltes. Er erkennt, daß diejer Zwieſpalt einem unbedingten Gegenfag entipringt, den fein Kom— promiß überwindet. Darum ift er erfüllt von göttlicher Traurigkeit. Die menſchliche Traurig- feit geht auf die einzelnen Taten und bedauert fie. Die göttliche Traurigfeit aber geht auf das ganze Sein. Der Menfd) der Religion ertennt, dak er nit nur Bofes tut, fondern daß er böfe ift. Cr muß fic darum felbft aufgeben, weil er nicht einem deal, fondern Gottes Wirklichkeit gegemüber fteht. Sein Schmerz ijt gang wahr und nimmt es ganz ernit. Darum führt er zum Tode. ß

Aber, weil diefer Schmerz ein göttlicher, ewiger Schmerz ijt, darum gibt es aud für ihn einen gottlid-ewigen Trojt. Der Schmerz des religiöfen Menjchen re nicht auf eine zufällige, leider ımabanderliche Tatfache feiner perfönlihen Unvolllommenheit. In diejem Schmerz befreit fich der Menſch von fich felbft und leidet am Leben fel it. Er ift Hd nicht wichtig, ex verliert fic) in diefem Schmerz über dem Leben felbjt mit dem ihm ewigen Begenjag. Ex ift traurig, nicht über fich als Sünder, fondern über die Sünde felbjt. Es ijt das „mit Chriftus“ leiden, „im Chriſtus“ gefrengigt werden. Da leidet nicht mehr das zufällige Ich an feiner zufälligen Unvolltommenbeit, da leidet das Leben jelbit, da leidet Gott im Menjhen. Darum if e3 göttliche Traurigkeit, und fie hat gottliden Trojt. Wo Gott Teidet, da ift der Menſch zu Ende und Gott fängt an, Gott wird im Menſchen

eboren. Gejegnet der Tod, durch den Gott in uns auferjtebt. „Sch lebe, doch nun nicht ich,

briftus lebt in mir.” Das ift ewiger Troft. Da ijt der Gegenjag überwunden zwijchen deal und Wirklichkeit. Da ijt bie Sünde getilgt, da gilt der Tod nicht mehr, da ijt wahr- haftige Seligfeit des Lebens. š

Es gibt einen Prüfftein für die Wahrheit defjen, was wir fo gefunden haben. Das it die Frage nad) der Möglichkeit menſchlicher Gemeinfdaft. Für den Jdealiften ift die uelle der Gemeinfdaft das gemeinfame deal und das Erlebnis Be⸗ geiſterung. Es iſt die Gemeinſchaft der erhobenen Stunden, der geſteigerten Gefühle, in denen wir uns und die anderen vergeſſen, vergeſſen, was wir ſind und was ſie wirklich ſind. Solche Gemeinſchaft hält nicht ſtand im hellen Tageslicht. Denn das bringt ihr die Enttäuſchungen. Da ſind die Menſchen auf einmal ganz anders als wir ſie im Rauſch wähnten, der uns die Wirklichkeit verhüllte und nur das Ideal ſehen ließ. Da offenbart ſich dann die Gemeinſchaft als unfruchtbarer Schein. Sie führt nicht zur Tat.

Die Gemeinſchaft der Idealiſten verträgt die unerbittliche Wahrhaftigkeit heiliger Nüchternheit nicht. Die Gemeinfchaft der Gläubigen aber wird geboren in folder Wahr- baftigfeit, in Stunden, da wir cin Ende machen mit allem Betrug, aller Täufhung, mit der Selbittäufhung und der Täufhung der anderen, in Stunden, wo mir aufhören, uns irgen etwas vorgumaden. Wo mir vor der Wirklichkeit Gottes ung in ganzem Schmerz beugen und uns reinigen lajfen zur Auferjtehung feines Lebens. Da entiteht die Gemein» ſchaft der Liebe, die fic) nicht enttäufchen läßt, der Liebe, die einander vergibt, der Liebe, die alles überwindet in der volltommenen Freude gemeinfamen Dienites.

Karl Bernhard Ritter.

Der gebundene Grundbefig.*)

al. uraltem deutſchen Volksrechte erbten in das Grundeigen nur die Söhne, während die Töchter mit der Fahrhabe, alfo dem beweglichen Gute abgefunden wurden Aber Ihon in den Anfängen des Mittelalters beftand ein Vorgugsredt des ältejten Sohnes, um den Befig und gwar gerade den tleineren vor Zerjtüdelung zu bewahren. Auf dem bäuerlichen Hoje war aus praftifhen Gründen häufig der Jüngſte bevorzugt, auf dem die älteren Brüder weiter als Knechte arbeiteten, fofern fie dió nicht anderweit felbjtandig machten oder als Handwerker in die Stadt zogen. So lagen und liegen zum Teil nod) jest die Verhältniffe bei Groß- und Kleinbefit.

Die neuzeitlihe Rechtseinrichtung des Ka in der gegenwärtigen Form aus Spanien, ift aber germanifd, aljo weſtgothiſch-ſuebiſche Rechtsfagung. Tat: ſächlich entípridt das Fideitommifredt dem áltern Lehnrecht und ift ihm bloß nad: Bei der Aufhebung der Leh re im Jahre 1848 wurde deren Recht auf die Fidei-

ommifje übertragen und es ijt blog ein Zeichen der unwirtſchaftlichen Auffaffung und politiſchen Verbildung, daß nicht alle.Lehne durch Gejeg in Fideifommiffe umgewandelt

*) Die Auflojung der Familiengiiter in Preußen ijt feit dem 1. April „in vollem Gange”. Ein Landesamt für Familtengiiter in Berlin und fo und foviele Auflöfungs- ámter, die ihm unterjtellt find, arbeiten. Der großen DOeffentlichkeit fommt faum zum Bewußtjein, was da „aufgelöft“ wird.

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toorden find. (Es handelt fich aljo um eine uralte, al3 zweckmäßig befundene deutich- rechtliche Bildung, die natürlich allerhand Entartung unterlag. Die fraglofen Auswüchſe, die in der Latifundienbilduna liegen, machten mit Ref die Gebundenheit beg Grund Man unterſchied aber nicht den berechtigten Kern von der plutokratiſchen Verbildung.

Der im Fideikommiß ſteckende geſunde Gedanke führte logar im legten Drittel des vorigen Jahrhunderts zur Uebertragung auf den bäuerlichen Bejig, deffen Zerfplitterung nur allzu befannt it. Durch die bauerlide Höferolle wurde die Freizügigkeit des Slein- bejiges verboten und damit die Seßhaftigkeit des Bauernjtandes gefördert. Es tam hinzu, daß in den Sigen des zäheſten und wirtſchaftlich feſteſten Bauerntums [don längſt die bejdranfte Vererbung Sitte war. Die wirtſchaftlichen Gründe für diefe Gebundenhert find ar. Es gilt aber auch die wichtigeren Vorteile für die Familie zu prüfen, um die Not- iwenbdigteit diefer alten Nechtsbildung zu begründen. Ein Gejchlecht, einerlet ob bauerlid, bürgerlich oder adlig, muß im eignen Grund und Boden mwurzeln, foll e3 nicht wie Spreu zergehen und zum Proletarier im jhhlehten Sinne werden. Aud die Sozial: demotratie, die in dem Bauern ihren zähejten Feind empfindet, hat fic) entſchließen müjjen, der Nüdfiedelung des gewerblichen Arbeiter aufs Land das Wort zu reden und damit jelbjt zur ſchützenden Scholle zurüdzutehren, von der fie den Bauern losreißen wollte. Jm Kriege hat jich die [done Neigung, ein Häuschen oder ein Stüd Land zu ertverben, mit Kraft gezeigt, ohne daß in unſerer wirtſchaftlichen Not die Erfüllung möglich war.

9 gebiglid ber Umitand, dak tatjadhlid) übermäßig große Fideikommiſſe bejtehen, wo— dur die gefunde Mijdung zwiſchen Groß-, Mittel- und Stleinbefig geftort wird, hat zu dem Sampfe gegen die Gebundenheit der heimifhen Scholle geführt. Aber felbjt eine

ewiffe Größe des gebundenen Befiges ijt bei einer bejtimmten Bodenart und wirtichaft- iden Nugung geboten. Der Forft fann nie pargellentweije pfleglich behandelt werden. Er bedarf großer Flächen, wie dies ja unfer großer ftaatlimer Waldbefiz acigt Die törihte Caprivifde Handelspolitit hat tatjadlid) dazu geführt, dak die Bewaldung Deutjch- {ands von etwa über 24 bom Hundert auf 27 geftiegen ijt.

3d bin perfónlid der Meinung, bab wir bet eindringlicherer Waldbewwirtfchaftung die

Verhältniszahl auf 20 vom Hundert herabdrüden und damit 7 bom Hundert dem Pfluge und ber Hace erſchließen. Hiermit wird fon ein ungeheures Bauernland gewonnen, wozu nod) eine Million Heftare bisher nicht erfdloffenen Moorbodens in Deutichland kommen. Wir haben aljo nicht den geringften Bodenmangel zu fürchten, felbft wenn wir eine groß- zügige Bauernanfiedlung durch gewerbliche Arbeiter ins Leben rufen. Es ift ficherlich er wuͤnſcht, die Größe der Fideifommiffe felbjt bei überwiegendem Waldboden ganz erheblich zu bejchränfen, freilich nach der Bodenart und dem Klima. Schließlich ift noch der unerfreuliden Ausnugung des Fideikommißrechtes durd die Plutofratie zu Luguszweden zu gedenken. Neichgeivordene Städter legten einen Teil ihres Geldes im Grundbefig und gwar größtenteils in Gütern an. Diefe Form des gebundenen Großgrundbefiges ift durchaus verwerflih. Wird der ftädtifche Reichtum in befcheidenem Umfange auf fleineren Gütern unter wirtfchaftliher Ausnugung des Bodens angelegt, fo läßt fic) gegen dieſe Beſitzverſchiebung nichts fagen. Aber der Austauf des alten bodenftändigen Grundbefigers zu unfinnigen Bodenpreifen iſt wirtſchaftlich ſchädlich und jchafft Latifundien, die mit Recht zum Untergang des Staates führen, wie Rom und in gewifjer Weife Spanien unter zu ftarter Betonung der toten Hand zeigen.

Bei diefer Sachlage erfdeint die gefeblide des Grundbeſitzes, der bas durch zu einem beweglichen Gute wird, durchaus ſchädlich. Es heißt das Kind mit dem Bade ausfdhiitten, wenn man die fraglofen Auswüchſe im Fideilommißmwefen durch, Lati-

ndienbildung alg Regel anfieht. Es ware erwünfcht, wenn das Reich eine einheitliche, em neuzeitlihen Bedürfniſſe angemejjene Regelung herbeiführte, die fogar die Gebunden- heit des Kleinbeſitzes nod) verftärkt. Der Grofgrundbefig ware froh, wenn er fic) behufs Anfiedlung eines beträchtlichen Teiles jeines Umfanges entäußern fónnte. Wie die bal- tiſche Ritterſchaft ein volles Drittel der deutfchen Regierung zur Verfügung geitellt hatte, fo Wi der Großgrundbefig Schlefiens diefem Beijpiel freudig gefolgt und zwar bor der berhängnispollen Staatsummwälzung. Aber leider ijt die Zahl der Bewerber erſchrecklich gering, Wozu nod kommt, da dieje zum Teil durchaus ungeeignet zur bäuerlichen Ans Ntedlung find. Der gewerbliche Arbeiter wird nicht leicht wieder zum Bauern, bedarf dazu einer Webergangsform. Unfer Großgewerbe war in diefer Richtung auf dem beiten Mege, indem es den jeßhaften Arbeitern Hof und Land neben der Brotftelle gab, wodurch der gewerbliche Arbeiter wieder mit dem Landbau vertraut wurde. Der Strieg hat durd) feine primitiven die Luſt und Liebe zur Scholle geweckt, ein ſiegreicher Krieg datte ſicher einen erfreulichen Umſchwung gebracht. Die en Vergnügungsfucht beweift abear, da die dem Voltstum jo verderbliche Großſtadt nod) immer ihre verhängnis- bolle Lodure y ausübt. Ein Gefdledt kann aber nur lebenstráftig erhalten werden, wenn eS itgenbipE e mit der Scholle verwachſen ijt. Die Bevslterungserhebung hat ergeben, daß

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fid) jelbft reichgewordene nur in drei Geſchlechtsfolgen halten und dann verarmen, weil eben die wurzelhafte Grundlage des eignen Grund und Bodens fehlt.

Schließlich wird ftets iiberfehen, bab der gewiffenhafte Fideitommißbefiger, und diefe Auffaffung muß man als Regel annehmen, fdon als Vater verpflichtet if, für die nad- geborenen Kinder aus den Einkünften ein Vermögen zu fammeln, das ihre Zukunft fider a Bei Einderreihen Familien ift daher mit Recht der Fideitommißbeftger ſchlechter aran, als ein freier Eigentümer und leidet perfönlich fir die Zukunft feines Gefdledts. Die Familie foll eben höher ftehen alg die Einzelperjon. Frühere, leider nicht Gefeg gewordene Entwürfe haben daher die Anfanımlung eines beträchtlichen Grundftodes für die nadgeborenen Kinder vorgefehen und außerdem das Großgut wie das Bauerngut in der Fideitommiggefeggebung gleichwertig berüdfichtigt. Diefe Gemeinjamteit, die ftets bejtanden hat, war dem Gedächtnis entſchwunden, fie follte den vorurteilslofen Polititer darüber aufklären, daß man eben Auswüchſe befchneiden, aber den gefunden Grundgedanken der Gebundenhett der Scholle, diefein Spetulationspermögen ijt, nicht zum Schaden des Volfstums und der Wurzel unferes Gedeihens weiter ſchädigt oder

ar vereitelt. In diefem Sinne muß eine verjtändige Demokratie diefe uralte germanijche Redtseinridtung betrachten und ausbauen, aber nicht finnlos über Bord werfen, wie wir ähnliches einst in der Innungsgeſetzgebung erlebt haben. Der Zopf muß bejchnitten, aud die Latifundienbildung befeitigt und befonders die Schaffung von Gütern der Stadtreiden unmöglich gemacht werden. Dann wird diefe vernunftgemäße Bindung der Aderfrime und des Waldes dem gejamten Volfe zum Vorteil gereichen.

Ich begrüße daher die Stellung des Privatwaldes unter Staatsaufficht, wie fie bereits in den Eleineren Bundesftaaten geubt wurde. Id) felbjt habe amtlich ganze Privatforften bor Verwwiiftung behütet und damit der Familie erhalten. Am jhlimmiten fieht es aber in den Gemeinden= und Bauerniváldern aus, wo geradezu Raubbau getrieben wird. Diefer lüdenhafte, verfrüppelte Gemeinde- und Baucrnwald ijt wirklich eine Schande für unjere Forſtwirtſchaft, die bekanntlich die befte der Welt if. Hier muß die ftaatlihe Fort- aufficht eingreifen, zumal wir über eine hochgebildete Forjtbeamtenjchaft verfügen. Die eindringlidere Bejtodung des Waldbodens fonnen mir mit Leichtigkeit durd) die oben

edadte Minderung der Waldflächen durch höheren Ertrag ausgleihen. Mit 20 bom Hundert Waldflähe im deutfchen Reiche würden wir immer nod) an der Spite der Kultur- ftaaten ftehen. Selbjtverftändli muß die Rodung allmählich gejchehen. Aber die Ver- wandlung in Aderland fegt auch viel Hände in Bewegung, die jest arbeitslos find. Freilich die Einführung des gewerblich gewordenen Handarbeiters aufs Land wird Schwierigkeiten maden. Man hat den Menjchen einen allzu leicht erreichbaren Himmel auf Erden ver- {fprodjen. Die Beifpiele für rajde Bereicherung, wie Schieber und Wucherer fie alltäglich bieten, haben die Neigung zum onen Landleben durchaus nicht verftártt. So ijt die Umtebr zur Gefundung leglich eine fittlide Frage. Sittlich gefund aber wird der Menſch nie dur) Ermahnungen und Vorftellungen, fondern nur wenn's nicht mehr N geht

. b. ©.

3citgenojjen. 7. Der Amateur-Unternehmer.

Eigentlich iſt er Hiſtoriker oder Philologe oder gar Theologe, Archivbeamter oder ſo etwas. Als Sekretär eines großen Mannes kommt er in die große Welt. Er be— kommt Verbindungen nach allen Seiten und entdeckt neue Talente in ſich. Die Aemter beginnen ſich in jener ſchönen Zeit zu häuten. Die Bürokraten alten Stils fühlen ſich nicht mehr ſicher in ihren Methoden. Leute mit „Ideen“ und doch loyaler Geſinnung, ohne Oppoſitionsgelüſte um jeden Preis, find willfommen. Sie bringen Bewegung in die Starrheit des bisherigen Amtsbetrieb3. Unfer Archivar wird alfo mit „Mifjionen“ betraut oder betraut fid), da fein Gottvertrauen zunimmt, auch felbft mit folden. Er wird zwar bor den Vertragsgegnern übers Ohr gehauen, aber ehe derlei ihm und feinen Auftraggebern zu Bewußtſein fommt, ijt in diefer vafchlebigen Zeit fon längft wieder eine andere Sorge drängender. Alfo: ex managed allerlei erjtaunlihe Dinge und berichtet über fie im Trompetenftil: Sch, ich, ih... Derlet ſchätzt man im neuen Deutſchland. Und da die Unternehmer oft noch Leichter Suggejtionen unterliegen als die Durchſchnitts— bürger, wenn die Aufmahung nur ihren befonderen Bedürfnifien angepaßt ut, fo ijt er auch in diefen durchaus nicht bitrofratifcen SKreifen, denen immerhin ein offiziöfes Ge- rüchlein angenehm ijt, bald gern geſehen. Vereine und Zeitfchriften werden nebenbei ge- gründet, VBerfammlungen abgehalten, Reifen veranftaltet: alles nebenbei, meijt jchlecht und jchlampig, aber, was dem Deutſchen im Zahlenraufch des Defizits am wichtigiten zu fein jheint: großzügig. Wenigitens in der Reklame. Diefe verfchlingt bei jedem feiner Unternehmen bon vornherein erhebliche Summen aber es ift ja die Zeit, in der wir das Sparen als eine Dummheit erfannt haben. Er felbjt hat es zu großartigen Büros und einem Auto gebracht. Vor allem aber hat er fid) mit einem unentbehrlichen Mittel des Berliner Erfolgs vertraut gemacht: er gibt Gejelljdaften. Auf Gejdhaftsunfoften.

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Sie find ebenfo greulich gemifcht wie feine funterbunt durcheinander gewirkten Projekte, die Säfte paffen ebenfowenig innerlih und der Herkunft nad) zueinander wie feine Ge— ſchäfte, Zeitſchriften, Miffionen, Vereine und Verbindungen; die Gefelligteit, in der er mit einem gewiſſen von früher Der geretteten Wefthetentum, einem Reft feiner guten Bildung, ins Snobiſtiſche jtilifiert, den Wirt madt, ijt ein getrenes Abbild jeines un- durddrinaliden und vor lauter Perworrenheit geheimnisvollen Betriebs. Diplomaten treffen fic) mit Schiebern, ohne in Diet etivas anderes zu fehen als Gajte des Ge- —5 und allerhand unbeſtimmbare Ausländer verſchaffen ſich hier, wo man ſie als

undertiere hegt, einen Glanz, den fie bei Rd daheim ſehr gut brauchen können. Kurzum: es ijt recht intereffant. Zwiſchen dem legten Gang und dem ſchwarzen Kaffee ründen der Wirt und feine Bertrauten einige Heine Ge-em-be-has, geheimnisvolle ‘reife fondern fic) ab in allerlei Nebenzimmern, Verbindungen werden geihaffen und jene jo überrafchenden Miffionen entjtehen dort vielfach, von denen es wohl heißen mag: da ftaunt der Fachmann und der Late wundert fid).

Dabei fieht aber unfer Unternehmer zum Unterjhied bon den gewöhnlichen Schiebern und das ift ein fehr wefentlider Unterſchied von Tag zu Tag elender aus. Hindert ihn feine alte Bildung und gute Kinderjtube, feine Gelehrtenerziehung oder ein Reit von Gewiffenhaftigkeit oder gar Mangel an SGachfenntnis, fofern folder Mangel überhaupt in diefen Dingen hindern fann? Kurzum: er hat von alle dem, das doch dem normalen Schieber jo herrlich anſchlägt, nichts als den äjthetifchen Reitz unendlicher Be- wegung bei Tag und Naht und die Plage entfeglich ſchlechter Nerven.

Mein lieber Doktor der Philojophie Archibald Meier oder wie du fonjt gut bürgerlich beißen magjt: warum bift du nicht Privatdozent geworden? Warum haft du did) von den Sirenen der Zeit verloden laffen? Von diefen falfhen Sängerinnen, die zudem mehr faut als ſchön fingen? Sch fürchte, ich fürdhte: es geht fchief. Und am Ende magit du noch von Glück reden und Gott danken, wenn du nod) irgendivo dein Ardivbeamten- jtühlen von ehemals wiederfindeft. Möge es nicht bejegt fein!

8 Voitsvertreter Nulpte.

($: ift nicht von heute, auch nicht von gejtern, eher bon vorgeftern. Im alten Reichstage

war er eine Nummer auf der Linfen. Je ſchlechter es uns im Sriege ging, defto näber an die der Macht rückten bekanntlich dieſe Leute. Nulpke mit ihnen. Ohne ſonderliche Anſtrengung, immer ſelbſtzufrieden ſtrahlend, von der Knopfnaſe an über das ganic glänzende Geficht, das an einen Schufter im Sonntagsftaat denfen ließ, aber auch den Volksvertreter und beliebten Lofalredafteur und Leitartitler nicht verleugnete. Er war ein unjchägbares Parteigrammopbon. Steiner von den Parteihelden fonnte jo unermüdlich und zuberläflig, fo wohl temperiert und dod) feurig die Phrafen abfdnurren, Die bei den Wahlen vorgejehen waren. Auf allen Plakaten prangte in diefen Schidjals- zeiten fein Name. Er blieb dabei, trog aller felbjtbewußten Würde, die cr feiner Stellung Ihuldig war, ein echt demofratijder Mann des Volkes, der niedre Kragen und einen Schlapphut trug. Weltkrieg, Zuſammenbruch, die glorreihe Revolution änderte fein Weſen nicht, wohl aber feine Stellung. Die Nationalverjammiung in Weimar, diejes Triuntphlager der Revolutionsſpießer und dazu gehörigen Schieber, brachte auch „Glanzzeit“, Cr mußte Hd vor Geſchäftigkeit nicht zu helfen, er war unentbebrlid, er wor ein Stüd jener geheimnisvollen Macht, die in jenen unbergebliden Tagen Deutſch⸗ land „regierte“. Wo iſt Nulpke? Wir brauchen unbedingt Nulpke. Er muß einen Artikel lanzieren, cine Verſammlung abhalten, eine Vermittlerrolle übernehmen, einen Fühler ausjtreden, cine Abordnung empfangen, eine Minifterfandidatur ftügen, einen Sturz vor- bereiten, einen Bericht erjtatten, eine Zufammenfunft managen Nulpte ift unentbehrlich. Der befcheidene des Volkes begnügt ſich mit dem Lobe ſeiner Freunde aber er bat die Faden in der Sa weiß alles, füllt jeine Miene mit Geheimnis und figt am Web- ftuhl der Zeit. Als Partei-Mädchen für Alles wird er wahrhaft eitgenoffe. So ſchafft die Partei: freie Bahn dem Tüchtigen. Ein wahrer Sohn des Be und darum fein danfbarer Förderer. Deutfd bis in die Knochen bei Verjammlungsreden, Vorfichtig aber aller übertriebenen Ueberfhätung der eigenen Nation fern, den Vorzügen unjerer Feinde gerecht werdend, und fotvohl aus fittliher Ueberzengung wie aus Refpeft vor der Yintspreffe, die ihn ernährt, bereit, die Schuld Deutjchlands am Sriege zuzugeben. Jeder Soll ein Demokrat durchdrungen bon der Gewißheit, daß „wir“ es herrlich weit gebracht haben. Er und feinesgleichen. Hermann Ullmann.

Wege zur neuen Muſik.

Por lauter Debattieren über die Ziele der neuen Bewegung in der Muſik vergift man nur allzufehr, fid) über die mannigfahen Möglichkeiten klarzuwerden, die zum B ets Kändnis Diefer neuen Kunft führen. Mit der Methode des alten Blücher „Wo iſt Baris? Derz Finger drauf, das nehmen wir“ vermag ein moderner Generalftábler nicht mehr allzuv&el anzufangen. Jm Gegenteil gilt es heute, um beim Bild zu bleiben, als die erſte PflEcht eines Soldatenführers, ſich der Anmarfch⸗ und Etappen, b. 0. Nachſchub—

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ftragen bewußt y werden. Das Ziel fann immer nur eines fein, und jeder, der fid mit Fug und Recht Künftler nennen will, muß fein Bild unverrüdbar in fic tragen. Da hilft ihm fein Diskutieren, fein „Sichausfpredhen mit anderen“. Der Wege aber, die nah Rom führen, find viele, und erft da beginnen die eigentlichen Schwierigkeiten, wo die Wahl über die Marjchroute zu treffen it.

Man braucht Befter3,, Bufonis und Pfibners Streitfchriften nur recht unparteitfd durchzuftudieren, um bald zu erkennen, daß fie in der Auffaffung vom Weſen und der Bedeutung, der Beftimmung der Mufit genau befehen übereinftimmen. Erjt in dem Augenblide, wo fie fic) drangeben, Begriffe, „Marjchregeln” zu fixieren, geraten fic aus: einander und werden leidenfchaftlich, parteiijch, —— Ich habe ſchon einmal ver— ſucht, in dem Streite Pfitzner contra Bekker zu vermitteln, indem ich auf das Wagnerwort hinwies „Der Künſtler iſt der Wiſſende des Unbewußten“ und Belfer zubilligte, er meine ganz wie fein Gegner ja auch den „Einfall“ als En a Urelement, nur nidt den ,exjten” bom Himmel herab fich auf den Empfängnispailiven fentenden, fondern jenes traft der geftaltungsbereiten künſtleriſchen Phantafie Halb mwillenlofe, Halb getvollte Weiter- wadjen aus rätjelhaft vorhandenem Urfetm, jenes Antriftallifieren neuer und doch tief wejensperwandter Elemente an Die vorhandene Urzelle, welches den Schaffenden erft in eigentlidjter Bedeutung zum „Geſtalter“ madt, ihn cine Art künftlerifcher Selbjtzeugung vollziehen läßt. Der ganze übrige Streit Bufoni-Pfipner-Belter ijt doch nichts weiter als ein etvig erneutes Auftláren von Mißverftändniffen, eine Abwehren von Lefefehlern durd den gereizten Autor, ein mehr oder minder ſympathiſches Anbläffen der Großen durch die . MHeineren Mitläufer.

Aus diefer Verworrenheit, diefem Kampf um Wolfen, der ein getreues Gegenbild zu unferer politifchen Partei» und „Ziel”haderei abgibt, ift es zu erklären, wenn heute fur die Erziehung zur neuen Kunſt, zur neuen Muſik fo gut wie gar nichts getan wird oder aber Kleine Seitenpfade für —— gehalten werden. Mit dem Kampf für die neue Muſik Hand in Hand geht ein folder um die Demotratifierung der Mufit überhaupt. „Band in Hand“ ift freilich reichlich euphemiftiich ausgedrüdt. Denn ehrlich gefagt, treffen fid beide Kampflinien nur ganz gelegentlich und mehr zufällig. Die Berliner Volksbühne ijt wohl die einzige (etwa neben Schulz-Dornburgs großzügigen Bochumer modernen Bolfs- fongerten mit Einführungsvorträgen), die es bisher unternommen hat, die allerneuefte muitalifde Produktion unverbildeten und deshalb bisher als ,ungebildet” geltenden Boltskreifen vorzufegen. Ihre guten Erfolge, die fie mit folden Sonzerten dabon- getragen, haben nod) wenig Unternehmungsgeijt an anderen Orten gezeitigt. Dagegen haben fie den Widerfprud) derjenigen hervorgerufen, tele die Gejundung unferer mufitalifhen Kultur aus der erneuten und intenfiver gejtalteten Pflege der alteingejefjenen Volksmuſik erhoffen.

Soviel Scheint [don heute als jicher zu gelten: daß man für beiderlei Beftrebungen: Hebung der Volksmuſik wie Stärkung der modernen Richtung im mufifalifden Schaffen, wenn wir nicht den gleichen, fo doch mindejten3 einen ähnlichen Weg wird einschlagen müjjen. Die Vermehrung der Stonzertveranftaltungen allein tuts bei weitem nicht. Dadurd wird man es nur dahin bringen, dak wir das Wort des Theaterdirettors aus dem Vorfpiel zum alt jo werden abwandeln müfjen: „Allein fie haben ſchrecklich viel gehört“. Wir wiſſen chon heute nad) fo kurzer Erfahrungszeit, daß die „volkstümlichen“ Kconzertwwiederholungen faft immer nur bon der Yntelligens des Mittelftandes befucht werden. Das gleiche gilt bon den neuerdings mit großem Wagemut unternommenen Einführungsvorträgen. Daß die hier und da verſuchten Erläuterungen in Programmen, foweit fie überhaupt zu „er lautern” vermögen, ebenfalls einen geiftig (wenn nicht gar theoretiſch) gejchulten Lefer borausfegen, wird danad) nicht weiter wundernehmen. Wie Hy da zu beffern? Um dies vorwegzunehmen: ijt überhaupt und aus welden Gründen ijt denn ein Sidwenden an die Ungejhulten der neuen Mufik erlaubt?

‚Wir diirfen heute zwiſchen grob gerechnet zwei muſikaliſchen Kampflagern unter- ſcheiden: der expreſſioniſtiſchen Modernen um Schönberg, um die Zeitjehriften „Melos“ und „Mufitblätter des Anbruch“ und den „Geſetzesgläubigen“ aus der Schule Regers, Thuilles, Pfitzuers. Wollen die einen durd den Bruch mit der materialijtifch-imprefliontjtiichen Ueberladenbeit und techniſchen Ueberfultiviertheit der letzten Epode den Weg zur „höheren Einfachheit‘ im Sinne Theodor Dánblers freimachen, zur „neuen Sloffizitat” Bujonis, fo gedenfen die anderen, durd bie Abfehr von der „Schilderungsmuſik“, bte Hinwendung zur nur-mujitalijden „Spielmufit” mufitalijdes Neuland zu finden. In beiden Lagern herrſcht der Drang nad) Sparſamkeit der Mittel, nad) engem Anſchluß an “aa aaa Voltstim. Nur dak die einen ſolches Volkstum, ſolche Primitivität auch außerhalb der eignen Landesgrenzen fuchen und zum Vorbild nehmen (Bela Bartok und die ungarifch- rumäniſchen Volfslieder, Petyref und die ufrainiihen), die anderen fid) auf die Geimat- grenzen bejchränten (Haas; Waltershaufen als des „Freiſchütz“).

Die Sehnſucht nad dem Volke im eigentlidjten Sinne ift na gleihermaßen vorhanden und muß neue Wege weifen. Nicht „populäre” Konzerte alfo werden da helfen,

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nit Vorträge, nicht Vereinsgriindungen, fondern allein engftes Sichanpafjen an die Be- dürfniffe und Gepflogenheiten dieſes Volkes. Es hat feinen Zweck, dem ftaunenden Publitum Schönbergs fünf Orcheſterſtücke triumphierend zu verfegen und es dabei auf mehr oder minder anregjame Standälden anfommen zu lajfen. (Es hat aber ebenfowenig Bwed, irgend ein ſchönes altes Volkslied zum Gegenstand mehr oder weniger komplizierter finfonifher Schöpfungen werden zu lafjen. Und in beiden Fallen ift es von Uebel, dem Volke Geiftigfeit und immer wieder nur Geiftigteit zu predigen, das nad) ungeheuren Entbehrungen, vor einer Zeit ebenfo itbermenfdliden jrenbienlies am Zufammenbreden ijt, dauernd ideale Fata-morgana-Erſcheinungen einer buddhiftijden „Selbjtentäußerung“ eines gänzlichen Verzichts auf alle böſe „Sinnenluft“ vorgubalten. Wer das tut, ijt mit ihuld an dem Strom der Mtaffen nad) Tingeltangels und dden Minos.

Die neue Mufit mu „Unterhaltung“ im ſchönſten Sinne fein. Yhre ,Geiftigleit” mag fid) meinethalben in der Abkehr von überlebten „Wirktungsmitteln“ äußern. Niemals aber darf fie den Teufel des Abjchilderungsimpreffionismus durch den Beelzebub der AAA barbus ll austreiben. Dann find aud die Wege zum Herzen des Boltes ret: feine dürftigen Erläuterungen mehr, fein Anhaufen von Konzerten und „Mufikfeften“. Wo fic) junge (und es werden in der Hauptfache junge a fein) Nachſchaffende, Pianijten, Sanger ufiv. mit Werfen der neueften Literatur befajfen, follen fte diefe Werke da, und dort in fleinen Kreifen, nicht fonzertmáfig, fondern in einer Art von Studienaufführungen darbieten, follen in Rede und Gegenrede die Stimnten der Hörer fammeln, follen ftiidweife wiederholen, wo etwas unverjtändlich Alieb. Eine einzige folder Studienaufführung wird hundertmal mehr nugen als ein Dugend durd- gehajpelter Nummern im Rahmen eines „modernen Abends”. Griindet folhe Studien- vereinigungen allerorten, laßt fie Erfahrungen und Notenmaterial miteinander aus— taujchen, damit jedes Icere Lofalpatriotentum bon vornherein ausgejchaltet bleibe. Legt Voifsbibliothefen moderner Muſikwerke an, Yejehallen und Probelofale mit Bafjanten- zuhörern! Wie in der Kirche jeder Vorübergehende eintreten und fid) erbauen Yaffen darf, fo tue er es im Tempel der Mufif. Nur fo fommt die Mufif zum Volke und das Volt zur Mufit! Hermann Unger.

„Nachhilfeſtunden zur Menfdwerdung.”

Die Unzufriedenheit mit dem überkommenen Schulweſen hatte ſchon ſeit Jahrzehnten allerlei private Schulreformen hervorgebcacht. Mit der Revolution brachen hier und da aud) die Damme der ftaatlihen Schule, es gab teil3 böfe Ueberſchwemmungen, teils feudtbare Anfeuchtungen eines ausgetrodneten Bodens. In Hamburg tobte die pädagogiſche Sturmflut bejonders heftig, oder wenigjtens, fie gebärdete fid) befonders heftig (welches immer ein wefentlider Unterſchied ift).

Die jtrudelreichite Einbrudsjtelle, um die herum die Menſchen mit angjtvollen Mienen eb dem Beftand des Beftehenden herumftanden, hieß der „Wendekreis“ mit der „Wende- joule”. Zwar das Planetenfyftem ließ man unangetajtet und forderte keineswegs, daß die Sonne fortan um den Mond zu rollieren habe, damit der eifige Bann ice jüngjten Mitgliedes eines Syſtems pebromen werde und fein inneres Leben heraus— blühen könne, aber das jüngjte Glied der m enfd (iden Geſellſchaft follte von dem Bann des böfen Syftems erlöft werden. Nicht das Kind follte mehr um den Lehrer, jondern der Lehrer follte um das Kind kreifen. Nicht der Lehrer, fondern das Kind follte mit eigenem Lichte die pädagogifhe Welt erhellen.

Wir, die wir oft über das Wort „So ihr nicht werdet wie die Kinder...” nachgedacht en: befennen uns jchuldig eines ftillen Wohlwollens für die reinen und edlen Ge— innungen, die in diefer Schulrevolution nad Ausdrud rangen. Aber unjer Gefühl für den tragijden Brwiefpalt alles Lebens verhinderte uns erjt inftinktiv, dann bewußt im buntbewimpelten Rahn des Optimismus auf der ſchäumenden Flut einherzuſchwimmen. Es ift der Fluch des Lebens, dak man es nie nad einem Grundjag meijtern fann. Und e8 ift der Fluch des Yntellefts, es immer wieder einmal vergeblich zu verfuden. So tampft die Dummheit der Klugen ihren ewigen Kampf gegen die Klugheit des dummen Lebens.

Frig öde, einer der Promadjoi des Wendetreijes, der die alte Lehre mit einer neuen Lehre befämpfte, fentt die Waffen vor dem Leben. Diefes ift die Bedeutung feiner neujten Schrift „Die Lebensfrage der neuen Schule”.*)

*) Exrjdienen bei Adolf Saal in Lauenburg a. E. 45 S. 6.50 Mt. Gn dem Büchlein find feine großen Buchſtaben und feine Saggeiden. Die Sagteile find mie Verfe unter- einander geftellt. Mit diefer wunderliden Anordnung will Jöde erreichen, daß die Lefer

enau Wort für Wort lefen und nicht wie über einen Zeitungsartifel hinfahren. Cin fadelborfti er Gedante, wie er nur einem Deutfhen fommen fann! Wir unferfeits nehmen tat Jöde ebenjowenig Rüdjicht wie er auf feine Lefer und druden unjre An- führungen aus feiner Schrift durhaus normal. BVerzeihung!

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Jöde verleugnet den Weg, den ex hinter fid) gebradt hat, nicht. Wer feine Ver- gangenbeit verleugnet, f immer ein Lump. Der anftandige Menſch ſchätzt auch ben Irrtum, der ihn näher heran zur Wahrheit gebracht hat. (Fd fage nicht: zur Wahrheit jelbjt, denn id) habe felbft nicht die Wahrheit, fondern nur ein Gefühl für fie.) In ber alten Schule vermißten die Jungen das Leben. Darum fuchten fie das Leben in die Schule hereinzuziehen, die Schule follte Leben werden. „Tat vor Wort, Vertorperung vor Anjhauung, Leben vor Lehre!” Aber das war felbjt eine „Lehre“, nad der man nun die Schule „einrichtete”. Darum blieb die Schule immer Schule. Das Leben? „Wir fahen es an, wir fahen uns an, erlebten nach, wie man fo treffend fagt, und o Schande! jpraden darüber, ſchwatzten es mit großer Gefte auseinander, madten eine öffentliche Angelegenheit daraus, die das Natürliche verframpfte, wie es die Oeffentlidfeit mit unferm ganzen Leben getan hat.”

Das Leben war den Jungen „der Menſch“. Den Menſchen im Kinde fudte man, nicht das nützliche Glied der Gefellfchaft, zu dem man es madden könnte. Aber Bode erfuhr: „Kommt der Menfh wirklich an den Tag, hört die Schule auf.” Denn Leben und Schule, Menjch fein und Schulmeiftern find unvereinbare Gegenfage. „Auch wenn die Schule zehnmal als ihre Lehre verkündet: Feder ans fic felbjt heraus zu Hd! Was will jie dann nod)? Wenn jeder aus fid) felbjt heraus zu Hd) tommen foll, zu feinen beiten Sträften, dann foll fie die Türen ſchließen und den Menkden nur irgendivo ins Leben laffer, an irgend eine Stelle! Denn wer fo fpricht, will fic) überflüffig machen, aber fie

aubt nit, was fie jagt. Sie hat eine heimliche Sinpufügung, die jefuitijd ein könnte: Seder aus fic) felbjit borausgefegt, daß td dabei bin, das beißt: als Nachhilfe. Nadbilfeftinden zur Menſchwerdung! Iſt das nicht die Frage? Und doc haben wir das durchgemacht, weil wir in dem Qetiybuinaprosea fteben, ſchon drin ftanden, che mir anfingen; denn es fing ſchon bor uns an, wo zum erjten Menjd- lies Material wurde, nämlich zum Betrachten; nicht zum Tun, zum Schweigen, zum Vorübergehn da war, fondern zum Betrachten, wenn nicht Begaffen.”

„Das Menschliche ift fein Arbeitsgebiet unter Menſchen, das Menfchliche Tebt ſich felbjt.” Der Menſch baut fic) einen Wagen, darin zu fahren. Er pflanzt ſich Apfelbäume, um Aepfel zu effen. Der Schulmeijter aber baut Wagen, nicht zum Fahren, fondern zum Konjtruierenlernen. Er zieht Aepfel, nicht zum Efjen, jondern zu pädagogiihen Ziveden. So ift es, „nicht nur im Handfertigfcitsunterridt der Mädchen, wo in ein Stüd Stoff ein Loch geriffen wurde, damit das. Kind das Fliden lerne, und die Hälfte der Brüder hatte ein Lod in der Hofe.” Die Arbeitsfhule macht man, „nicht um das Verlanger zu weden nad) wirtlider Arbeit, die einen unmittelbaren Sinn hat, fondern um den Schulzuftand zu retten.“ Statt, dak man Schufter und Tifdler in die Schule holte oder die Kinder zu Schuftern und Tifdlern Ididte, lernte der Lehrer ſchuſtern und tifdlern, um es mit ghivagogit durd)jáuert den Kindern beizubringen. Dabei muf das Zweckhafte jeder Arbeit, ber Dien fe berloren gehn.

So ftebt Föde am Ende: „Die alte Schule lak ich, da ihr fann ich nicht zurüd, trogdem lejen, rechnen und ſchreiben üben feine Schande ijt.” Die Schule mit den alten Begriffen von „Wiſſen“, „Können“, „Nuten“, mit ihrem „mechanifierten Leben” ift in Berfeguna pourd rüdfihtsvolle Vermenfóligung und Unterrihtswohlfahrt aller Art.” Die „neue Schule“ aber iſt auch Zerſetzung. Sie zerſetzt die Schule durch Scheinbilder des Lebens, das Leben durd eine Schule, die keine iſt. Was alſo? Was foll mit der Schule geſchehen, wenn die alte in Zerjegung begriffen ift und die nene mur die Tendenz ins Leben bedeutet? Sollen wir etwa die Schulen jhliegen?... Nichts foll geſchehen! Meinetwegen werdet Bauern, werdet Handiverter oder fonjtwas. Schließt die Schulen und überlaßt die Kinder fic) felbft, oder tut das Gegenteil von alledem, es ift einerlei, es ift ganz cinerlei.” Die Kraft im Tun und den Sinn wird man pao merfen, wenn es nur ein fräftiges, redjtes Tun war. „An dem, was in der neuen Schule an den Tag fommt, geht fie zugrunde, wie alles zugrunde gehen muß, was Leben werden will. (Es tft immer nur das Eine: Stirb und werde. Nur ein Sprung ift es, das Wagnis ins Leben, aber er geht in den Tod.“

Lieben Leute von der neuen Schule, baut und organifiert immer fefte drauf, wenn ihr den Mut habt. Aber verwechfelt nicht das Laboratorium mit dem Leben! Ein Laboratorium dem, der etwas zur berfuden hat! Stein Geheimrat foll einen innerlich bewegten Neuerer mit Paragraphen piefaden. Aber verlangt nicht, dak ein ganzes Volk Vorlaufigtciten und Intonfequenzen in Gefesesform fejtlegt, und daß es halb gar gebadene Gedanken für Offenbarungen nimmt. Nicht die Poje, fondern die Wahrheit madt den Propheten. Wahrheit ift das, was fd bewährt, nichts andres. Heil dem, deffen Wert fid) bewährt! St.

Friedrich Oſtendorf. Pr ſechs Jabren, im März 1915, ijt Citendorf auf der Lorettohohe gefallen. Sechs Jahre fon, und doch ift er Tag für Tag denen, die ihn gefannt haben, lebendig, und die Trauer, daß mir diefen Mann verloren haben, wird immer erneut, wenn wir daran denen, was er uns allen nod hätte geben fonnen.

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Es ijt ſchwer, fic) aus den paar Bildern, die wir geben können, eine Vorjtellung von der Bedeutung ee zu maden. Die verhältnismäßig wenigen Bauten, die er aus- geführt hat, find in diefem unendlich tätigen und ſchöpferiſchen Leben nur Epifoden, die das Gepräge des augenblidliden Zujtandes- feiner Entwidlung tragen, vielleicht ſchon von ihm felbjt geil überholt, als fie faum vollendet waren. Denn in Ojtendorf Iebte ein ungeheurer Trieb zur Erkenntnis, zur Klarheit über die Aufgabe und das Wefen der Kunft, für die er lebte. I

Das ganze neunzehnte Jahrhundert war erfüllt von einem unrubigen Suben in der Baukunſt, nad) einem Neuen, als deffen weſentlichſtes der „Stil“ betrachtet wurde. Stil ijt ein Begriff des wiffenjchaftlich arbeitenden Sunjtgelebrten, eine Betrachtungsweiſe des Aejthetifers und Hijtorifers, der die Fülle der Erſcheinung zu ordnen fucht, nidt ein Werkzeug des ſchaffenden Künjtlers. Dieje ——— geht aus von den Formen, deren Wandel ſie als weſentlichſte Erſcheinung verfolgt. Mit dem Klaſſizismus eines Weinbrenner, der nod) mit beiden Beinen in der ungebrochenen Ueberlieferung des acht— zehnten Jahrhunderts jtand, war die Iette Epoche in der tungelehrten Bautunft dahin- gegangen. Die Romantik wollte die Erneuerung der mittelalterlihen Kunſt, brabte es aber natürlich nur rein äußerlich zur Wiederaufnahme der Formen, nicht des Weſens. Es iſt ja überflüſſig, hier auseinanderzuſetzen, wie dann allmählich die ganze Litanei der Stile hervorgeholt, durchprobiert und wieder beiſeite geworfen wurde. Das Ergebnis im einzelnen war je nach der Größe der Begabung, der geijtigen Kraft oft nod) erſtaunlich. Daneben verlief fid aber der ehemals ftattlihe Strom der einfachen Bauten in Stadt und Land, dem handwerkliche Ueberlieferung Blut und Wärme gegeben hatte, mehr und mehr, bis aud) da nur nod) Leute wirkten, die auf Schulen unterrichtet, durch ihre traditions- lofen Lehrer jeden Zufammenhang mit den altgewohnten Bauweiſen verloren. In den fiebziger Jahren verfiegte wohl der Leste Reft diefer gefunden, unmittelbaren Bautunft. Seitdem war e3 immer nur nod der einzelne, dem es gelang, ſich unter Aufbietung uns gewöhnlicher Kräfte zur wirklich architeftonifchen Leiftung durchzuringen; die große Maffe des Bauens verfam, alle Begriffe verſchwanden und machten der gefühllofen Roheit nadter Nitglidyf eit oder der Verirrung gefeßlofen Unvermögens Platz. Immer mehr aber and berjuchte nun ber einzelne fic) bervorzutun auf dem Felde der Erfindung neuer Formen, auf der Jagd nad) dem neuen Stil, bts fid) diefe Krankheit eines hemmungslofen Indivi⸗ dualismus in den Exzeſſen des Jugendſtils sa he Aber daneben mud dod langfam eine Bewegung Derbor, die nad) fejteren Grundlagen des Schaffens fuchte. Sie ging wieder aus bon dem Studium der Kunft des Mittelalters. Aber diesmal fuchte man die Erneuerung doch nicht nur in der Aufnahme der alten Formen, fonder and in dem, worin man glaubte, die Grundlage des Schaffens jener Zeiten gefunden zu haben, in ber Wiederbelebung des wunderbaren handwerklichen Sónnens jener vergangenen Zeit. In— dem man dabei auf der Suche nad) einer Sunjtivelt, die dem bürgerlichen Anjprud Genüge tun könnte, wieder weiter und weiter hinabjtieg auf der Stufenfolge der Gahrhunderte, er- fannte man, daß and noch in der Kunst des achtzehnten Jahrhunderts diefes Handwerk ee am Werfe war, ja felbjt nod) bis in das neunzehnte Jahrhundert feine Kräfte lebendig fortiwirtten. Man geriet fo auf Wege, die abfeits führten von der Straße der großen Kunft, und man entdedte da eine Sunftitbung, die taum nod) eine Stilform zeigte und in ihrer fo anjpruchslofen Sicherheit der Erfcheinung eine Erlöjung jchien bon dem Ballaft der Stile. Wir können in Oftendorfs erften Werken, die er in Lippftadt, feiner Heimatjtadt, baute, das fehrittweife Vordringen zu diefer Auffafjung verfolgen. Aber fein judender Geijt blieb nicht bei ber Aeußerlichkeit der Mode „um 1800" jtehen. Er fuchte nad) dem inneren Bildungsgefeg diefer Schöpfungen, die ja nur lester Ausklang einer großen Kunftauffafjung fo fiher und Mar bilden konnte. Er erkannte als diefes Geſetz die Auffaffung von der aufgabe der Bautunft, die die italienische Renaiffance aus der Antike wiedergewonnen hatte, daß nämlich die Architektur Räume bilde, nicht nur im Innern des einzelnen Bauwerks, fondern daß diejes Bauwerk felbjt bejtimmt fei, Teil eines Raumes zu fein unter freiem Himmel als Wand eines Plabes, einer Straße, eines Bartens. Dieje Aufgabe zu erfüllen mußte die Bildung des Raumes faflicd fein, einfad), Har, der Vorjtellung im er ¿ugánglic); damit war der Weg gefunden, Der aus der Willkür zur ührt. Die wiederkehrenden Bedürfniſſe ähnlicher Lebens— bedingungen ergeben im Wohnbau die Herausbildung von Typen, und ähnlich bei allen großen Erforderniſſen menſchlicher Kultur. Das ſind dann die Bauſteine, mit denen Straßen und Plätze als Räume geſtaltet werden können.

Die aufs legte fomprimierte Sunft Weinbrenners, der in Karlsruhe eine ganze Stadt hatte räumlich bilden können, und eine Fahrt nad) Rom gaben diefer Erkenntnis Gewißheit der Anſchauung. Damit verlor die Stilform die Bedeutung, und der Blid . war frei für das Hinter diefen Formen dauernde Geſetz. Der Weg des Hiftorifers war verlafjen und das Studium der alten Kunft für den Architekten erſt fruchtbar gemorden: Für das einzelne Bauwerk, für den einzelnen Raum nicht minder, mie für die Bewálti-

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gung der größten raumliden Aufgabe, der künftleriihen Ordnung des ganzen Organis- mus der modernen Stadt.

Auf ähnlichen Wege find noch mande gegangen neben Ojtendorf. Dod) was er cı- rungen hat, das geht weit über die glückliche Lofung einer einzelnen Aufgabe hinaus. Er errang Klarheit über die Gefebe künſtleriſchen Schaffens in der Architektur, und ba: mit erft die Möglichkeit eines fruchtbaren Schaffens. Jn Wettbewerben um viele große Aufgaben der Zeit fuchte er die Probe auf diefe neue Erkenntnis zu maden, fo beim Wilmersdorfer Rathaus, dem Friedhof Ofterhol; in Bremen, dem Babubofsplas in Mies- baden, um nur einige zu nennen. Der Erfolg der großen Ausführung blieb ihm dabei verfagt. Aud) jeine zunehmende Bautätigkeit vor dem Kriege diente natürlich zur immer flareren Durdarbeitung diefer gewonnenen Anſchauung. Daneben wuchs feine Tätigkeit als akademiſcher Lehrer von Jahr zu Jahr zu immer größerer Bedeutung, je lebendiger und größer die Aufgabe erfannt wurde. Oftendorf mußte [ehren. Sein Biel war die Schaffung einer neuen Tradition, einer Baukultur, die fic) aufbaut auf dem Klar erkannten

Gejeh künſtleriſchen Schaffens, daß der Entivurf nur die Wiedergabe in den Darjtellungs- weiſen der Künſte tft von dem, was im Geifte als Einheit vorher erfdaut ijt, Nur was fo im Geift vorgestellt werden fann, fann ein Kunftwert werden, niht was irgend wie auf dem Neißbrett erzeichnet ift. Das ifteine Forderung, die für die Fleinfte Aufgabe und für die größte gilt. Auf diefen Grunde follte fi) das Gebäude der neuen Bautunjt erheben, die are Anſchauung diefer Grund» begriffe auch der Mafje der Durdhfdnittsleijtungen wieder Anftand und Würde geben. Seine Gedanken hat Ojtendorf niedergelegt in feiner „Iheorie des Entiverfens”. Der Tod im Felde hat diefem Wirken ein Ziel gejegt. Aber nichts Geiftiges vergeht, _ und heute lebt fein Werk in all unferem Tun und Schaffen. Hans Detlev Röfiger.

Der Beobarhter

ys Tirol nun Salzburg! Ein itherwaltigendes Bekenntnis der Deutfden zur um: faffenden ftaatliden Einheit! Aber, wendet man ein, prattifd find dieje Abjtim- mungen ohne Bedeutung, denn der en der Grengdeutiden ans Reid) hängt nicht von ihrem Willen, fondern vom Willen der Frangofen und Engländer ab. Gang richtig: poli: tifd) wird durd die Abjtimmungen nichts geändert. Aber es handelt fic auch mi um nabeliegende praftifch-politifche Dinge, fondern um ganz andere Werte. Erſtens: Unjre Gegenwartsaufgabe ift es, das deutihe Volt feelijd) zu einen. Ye heftiger die Feinde uns ftaatlid auseinanderdrängen, umfomehr muß uns die gemeinjame Not ſe eliſch zuſammen ſchmieden. Wie das Sozialiſtengeſetz der Sozialdemokratie in Deutſchland eine ungeheure moraliſche Wucht gab, ſo gibt uns die Unterdrückungspolitik der Sieger für die Zukunft eine unwiderſtehliche moraliſche Wucht: das große, beige leidenſchaftliche Dennoch des Willens. Dieſer Wille will und muß fd über all die kümmerlichen politiſchen Klug: heiten des Alltags hinweg befennen. Zweitens: Diefer Wille des Volkes, nicht die Politif ber Staaten, ijt der Nährgrund der künftigen Gefdidte. Was fic in den Par: lamenten und Regierungen abjpielt, hat gwar feine Folgen für das Leben des Tages, it aber nicht entjcheidend für die Zukunft. Das Wirtſchaftsleben und das Gewerkfchaftsleben ijt für die Zukunft wichtiger als die ,,Parteifonftellation” in den „Staatsregierungen”. Sine der allerwwichtigjten Yebensäußerungen aber find die durch feine Staatsmweisheit zu verhindernden wahrhaften Volfsabjtimmungen. Laßt den ganzen Staatenfrempel denen, die fid) darin wichtig vorfommen, und werfet all eure Arbeit und Liebe dorthin, wo die Zukunft fic) vorbereitet!

n der von Dr. Ullmann eg asas k „Deutihen Arbeit” gibt Dr. Wilhelm Wint-

ler eine wertvolle Statiftit des Grenglanddeutidtums. Danad find vom Deutjchen Reich aufgrund des Verfarller Friedens abgetreten: an Litauen 71114 Deutſche, an den Hreijtaat Danzig 315705, an Polen 1099492, an die Tſchechoſſowakei 6519, an Frant- tcid) 1 634 260, an Belgien 50 387, an Dänemark 40 139, alfo zufammen 3 217 616 Deutiche, von denen 2666 343 in völkiſch gejchloffenem Siedlungsgebiet wohnen. Die Deutſchen Ocjterrcid-Ungarn3 wurden aufgrund des Friedens von St. Germain in folgender Weije jtaatlic) getrennt: an Deutjchöfterreich tamen 6030825, an die Tſchechoſlowatei 3 740 943, an Jtalien 258 764, an Ungarn 337 927, an Südflawien 1010000, an Rumänien 493 256, an Polen 136 891, an den Freijtaat Fiume 2 315; gufammen 12 010 921 Deutſche, von denen 9 419064 in völkiſch geſchloſſenen ebieten, die übrigen in der Diafpora wohnen. Vom cinheitliden deutſchen Staat find alfo durch den Friedensvertrag ausgefdlojfen worden e a Millionen Deutſche! Das ijt eine Tatfade von fo gewaltiger meltgefchicht- Tider Bedeutung, dak die Wirkung diefes Unrechtes durd feine Diplomatie und feine

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Heeresmadt wird aufgehalten werden tónnen. Uebrigens jtimmen wir Winkler zu, daß ein gefamt deutjdes a la Handbudy een werden muß, fo wie bie Staliener vor dem Sriege ein gejamtitalienijdes Handbud) gujtande gebracht hatten.

Wy" weiß heute noch, daß Johann Peter Gebel einjt „Biblifche Erzählungen” gefdrie-

ben bat, in denen er die Gefdicdten des alten und des neuen en in feiner entzüdenden Art den Kindern herzgerecht mad)? Statt diefes Buch im Religionsunterridt zu gebrauchen, hat man bejondere ah Geſchichtsbücher“ hergeftellt und „im Unter- richt verwendet“! Jetzt hat der Heimatglodenverlag in Schmiedehaujen (Bad Sulza) den vergeiienen Hebel wieder herausgebradt (158 Seiten, 15,40 Mf., gebunden 20,40 ME.). Hier eine Probe der wundervollen „Moralen“, die Hebel zuweilen den Geſchichten anhängt. So heißt es nad) der Erzählung vom zwölfjährigen Jefus: „Yon gut garen und wohl: erzogenen Kindern hört man in ihrer Jugend gewöhnlich nicht viel, als daß fie ihren Eltern untertänig find, daß fie an Weisheit und Liebensiwiirdigfeit bei Gott und Menſchen zunehmen und gerne in die Kirche und Schule gehen, wo viel Gutes zu hören und zu lernen tit. Von mem man in feiner Jugend fonft viel zu reden hat, daran ift felten viel Gutes. Ich will mit Gottes Hilfe titi) verjtändiger und frómmer werden. Ich will meinen Eltern untertan fein. Ich will gerne da fein, wo Gott geehrt und Gutes gelehrt wird, bab 1.5 Gott gefalle und dem frömmſten Knaben Jefus ähnlich werde. Die Leute follen nicht diel von mir zu reden haben.” Man muß es laut lefen, um den Schmelz diefer Sprache zu genießen. Warum aber zu diefem Buche nad) dem Herzen Richters die Zeich— nungen bon Georg Kötſchau, die eher in ein theoſophiſches Werk gehören? Cine nadte Maria id) bitt End, i Ihr denn von allen guten Geijtern verlafjen? Fort mit diefen ,,prinzipiellen” Zeidnungen aus der nächſten Auflage.

ad) der Revolution waren die SEO DERART ee Zeitungen voll typijder Heiner

Angebereien: da und da hat ein Beamter, ein Lehrer eine Aeußerung getan, die im Sinne Der Republif nicht forreft war. Der Stebrreim lautete ftets: Genofje Minifter fo und fo muß einjchreiten. Man las das Seug mit lächelndem Berftändnis: es war eben die Fremde von Menjchen, die, bisher einfluglos, nun im Gefithl ihres „Einfluffes“ ihwelgten. Sid) wichtig vorzukommen it die pridelndfte Würze des Lebens. Jetzt ent- deden wir aber im Vorwärts eine neue Art von Angeberei, die weniger harmlos und moralifd) durchaus nicht entfchuldbar ijt. Man weiß, mit welder perfünlichen Brutalität die Franzoſen im bejegten Gebiet alle Männer und Frauen, die ihr Nationalgefühl unge: Iheut äußern, verfolgen: auf Monate und Jahre birit man fie ins Gefängnis. Der Vor- warts macht fic) nun dabei, Aeuferungen des Bornes und der leidenidaftlimen Freiheits- jchnfucht von Männern, die nidhtjozialdemofratifden Verbänden ange- hören, mit fetter Entrüftungsfauce der breiteften Deffentlichfeit vorzufegen. Angeblid) nur, um den „Nationalismus“ zu befámpjen, aber mit der vielleicht nicht ganz ungewollten Wirhing, die Franzoſen im bejegten Gebiet auf die betreffenden Verbände und deren Leute zu hegen. Gerade einer Partei, die unter dem Sozialijtengejes gelitten hat, fteht es am tibeljten zu Geficht, Menſchen von unbequemer Gejinnung dem Gegner ans Meffer zu liefern. Wir ftehen nicht an, eine derartige publizijtifche Tatigfeit niederträhtig zu nennen. Möchte diefer Hinweis genügen, den Vorwarts von dem vielleicht nur aus

nbedadt betretenen Wege abzubringen.

Set Guttmann fingt in der Hamburger Volkszeitung der Arbeiterjchaft mit reizvoll öjtlihem Akzent folgenden Pjalm vor: „Was ijt biete Armjeligteit, Leben genannt? Dag id) nicht zwiſchen den Dreigig bin, deren Leiber auf das Pflafter gejtredt wurden, id gie deffen nicht ſchuld! Es lohnt auc) mir nicht zu leben! Gibt es einen Reichtum für Sud) und für mich? Gibt es Genuß und Kultur —- gibt es den roten Wein des Herrjdhens für uns? Warum follte ich das Leben bewahren wollen, da mir die Güter diefes Lebens nichts find. Wie fonnte ich etwas anderes jagen, als was die Wahrheit für alle Arbeiter ift: Spart Eud nicht auf für das armielig vertrodnete Leben eines Almofenempfängers. Liebt nicht die fable Erbärmlichkeit der Freuden von Stnechten Euer Ofterbrot und Euer brüdiges Heim und Euer zweifelhaftes Glück mit Weib und Kind! Einen Proletariertod auf der Straße zu jterben wer bon uns wäre jo gemein, dies Biel [es fich nicht zu wine fhen? Meine Trauer und mein Schmerz find nicht um die Toten fewer ijt es, zu leben in diefen Tagen!” AL das, was Ketty Guttmann vom Proletariertod fagt, fagten andre vom Zod fürs Baterland: von Homer an bis zu unfern Freiheitsdidtern Hin. Wer hat recht, Ketty Guttmann oder Heinrich von Kleijt? Wer ift der vedlichere Künder des Gewiffens: die Herausgeberin des Prangers oder der Dichter der Hermannsid)ladt?

SH Hat einen neuen Biographen gefunden, einen der fih Emil Ludwig nennt und der Emil Ludwig Cohn heißt. Wir unfrerjeits verfechten die Anfchauung, dak jeder Menſch im andern nur immer das erkennt, was in ihm, dem erfennenden Menten felbjt, als pſychiſche Wirklidfeit oder Möglichkeit jtedt: Wenn id) das Leben eines andern bes

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ſchreibe, fo bejchreibe ich unmillfürlich, weil es jeelifch gar nicht anders möglich ift, durch ee mid) felbjt. Ich „interpretiere” den andern „auf meine Art“. Das gilt aud für das Völkiſche. Wir Deutſche sas die Seele der andern Volfer nur auf unfre deutſche Art es wäre töricht, fid) darüber zu. täujhen. Entil Ludwig Cohn begreift Goethe auf fetne Art. Und die iſt bezeichnend. Damit man mir nicht Voreingenommenbeit des Urteils borwirft, will i nit meine eigene Meinung jagen, fondern anführen, was Dr. $. A. Korfi in der Frankfurter Zeitung über das Werk ſchreibt: „Ohne Frage ift die Darftellung von Goethes Erotik der angreifbarjte Punkt in Ludwigs Bud. Und wenn Goethe hier als Mann einer ffrupellofen Sinnlichkeit gejdildert wird, deffen Liebesverhaltniffe fajt ausnahmslos wie jelbjtverjtändlich, und fei es and) um den Preis des Ebebruds, mit der leiblichen Bejigergreifung der Geliebten enden, fo pora bres wir hier peinlicher als irgend- wo das MigberbaltniS zwifchen dem Biographen und jeinem Helden, von dem ihn offenbar eine tiefandere Art de3 soto en Sublens |deibet“ (Es ift natürlid) fehr Iehrreich zu erfahren, wie Cohn unjern Goethe auffagt. Aber betrogen ift der, welder den Cohnfden Goethe für den wirtliden Goethe nimmt (wie es fiderlid) taufend brave, tutige deutjche Literaturjünglinge und -Qungfraucn tun werden); denn der wirflide Goethe war ein Deutſcher, a ud) in feinem Liebesleben, gerade und vor allem in feiner metaphyfifd durchfeelten Liebesmujtif! Soweit id) febe, ijt merfwitrdigerweife nod) nie- mand darauf gekommen, einmal darzulegen, wie das uralte germanifde Schiefalsgefühl (das im Nibelungenlied ebenfo wie im altnordijhen Schrifttum maltet) in ganz nae Weife bei Goethe (3. B. in dem tragifd-liebliden Verhältnis zu Friederife) lebendig wird.

er „Kämpfer“ brachte folgende von Schillers Tell an den Tag: „Welch

prächtig revolutionärer Geiſt durchglüht Schillers letztes Drama, das wohl als ſein reifſtes Werk angeſehen werden fann. Wohl bat die bürgerlich-kapitaliſtiſche Kunſtkritik verſucht, auch dieſes Werk des großen Dichters im Sinne des widerlich-byzantiniſchen Patriotismus umzudeuten. Und reaktionär-monarchiſtiſche Dunkelmänner haben auch heute noch bei jeder Ba und unpaffenden Gelegenheit ein Zitat aus Wilhelm Tell zur Hand. Glauben fte dod) nod) heute den „vaterlandslofen Gejellen” zurufen zu müffen: „Ans Vaterland, ans teure, ſchließ Did) an!“, nicht wiffend, daß der alte Attinghaufen nee Neffen Rudenz mit diefen Worten von „eitlem Fürjtendienft” zu feinem Volte guriidrufen will... Und wie trefflid) gemahnen Melchtals Worte in der Apfeljchußfzene an die im Jabre 1918 erie Revolution Deutjchlands, wenn er den Einwand Staujfaders, dak Widerftand gegen Thrannenwillkür umfonjt fei, da fie feine Waffen hätten, beantwortet: „D hätten mira mit friiher Tat vollendet. Vergeih’s Gott denen, die gum Auffchub rieten!” Ujw. Junge, Junge, jest geht mir erjt ein Licht auf! ver! weiß ich aud, warum Schiller gerade einen Apfel und nidt eine Pflaume (obwohl eine Pflaume an fich eine viel revolutionärere Frucht ift als ein Apfel) zur der Revolution benutzt hat: diefer Apfel ift ein prophetiſcher Hinweis a pfelbaum-Sinotvjew. So beginnt der geheime Sinn unfrer Slaffiter offenbar zu werden! Nur: wie ift das mit der verfludten /Slode” von Schiller? ie wird in diefer revolutionären Dichtung der Klaffenfampf propagiert? Jm Ernft: das fehlt uns in Deutjdland gerade nod), daß Schiller und Goethe, Luther, Kant, Dürer, Rembrandt parteipolitijd abgeftempelt werden, oder daß man fie mit den Maßſtäben „bürgerlich“ und „proletari d”, „reattionär” und „revolutio= nar” mißt. Es gibt wohl nur einen einzigen „Klaffifer“, der bei foldem Beginnen mit mephiftophelifhem Behagen grinfen würde Heinrich Heine. Allen andern aber würde bitter ums Herz.

SZwiefprache

Sy) Angelegenheiten, auf die id) in dem Auffag vom unmittelbaren Leben eingegangen bin, gehören gwar zu den widtigften, aber aud) zu den dunfeljten; jie find nicht leicht ananfallen. 3d babe eben darum en fie mit einem handfeſten Griff zu ken námlid) mit dem Intellekt. Aber ich weiß auch, bab mit dem Begreifen nichts Wejentliches Een ijt. Für den, der die gemeinte Wirklichkeit nicht fennt, find das alles nur Worte, ejtenfalls intereffante Gedanken. Man fann zwar hindeuten e) Seelijdes, aber man fann feine Seelen mit dem Schmetterlingsneß einfangen. Im Zujammenhang mit jenem Aufſatz Heb aud) der fleine Beitrag über „Nachhilſeſtunden zur \ der nach⸗ denkliche Gemüter veranlaſſen möge, ſich mit Fritz Jödes dort angeführter Schrift zu be— red en. Die Worte von Heinrich von Kleift am Schluß des Heftes wird der aupmerf- ame ejer ohne weiteres mit meinem Aufſatz verbinden. Dieje Worte hat Kleift unter dem Titel „Bon der Ueberlegung. Eine Paradoxe” in den „Berliner Abendbláttern” bom

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7. Dezember 1810 veröffentliht. Endlich fet nod) bemerkt, dak fid von diejen Gedanken auch zu dem mir febr wichtigen Leitauffag Dr. Ullmanns allerlei Faden hinüber- und her- überfpinnen laffen.

Zu dem Aufjag über die deutſche Oberjchule: Der Verfafjer Dietrid) Ferchau ijt, das fet für neuere Lejer wiederholt, der Studienrat Wilhelm Schäfer in Stettin. Er hat den Schriftjtellernamen nur angenommen, um den Verwechslungen mit dem Ludmwigshafener Wilhelm Schäfer vorzubeugen. Den Ausführungen Schäfer-Ferhaus ſchließe ich mid) volljtändig an. Seltjam, daß manche gerade jeñt dem Frangofifden eine Hauptitellung im Unterricht einräumen wollen. Abgeichn von aller Kulturpolitit [don die Sh wie- tigteiten, welche die franzöfiiche Sprache als erjte Unterrichtsfpradje für ae Kinder hat, follten bedentlid madjen. Yateinijd als exite Sprache ift leichter alg franzöſiſch. Ausihlaggebend aber ift: wenn man überhaupt eine Fremdiprade für eine deutſche Ober- pu fut, dann fommt aus der J dee der deutiden Schule heraus nur die lateinifche in Betrabt. Schon zum innern Berjtändnis der deutihen Sprade bis in die Satzkon— Button Kine ift Lateinifch erforderlich, denn das Lateinische ift die einzige Sprache,

ie, weil jie Jahrhunderte lang von unjern Staatsmännern, Kirchenmännern wurde, nahhaltig auf unſre Sprache eingewirkt hat. (Die franzöſiſche hat der unfrigen dod) nur Lappen aufgebeftet, deren Entfernung eher ein Vorteil als Nachteil nd weld) eine Fülle deutſchen Schrifttums in lateiniſcher eat gibt es aus den Zeiten des romifden Reiches deutjcher Nation! Cinhards Leben Kaijer Karls, das BWaltharilied, Schriften Meifter Edeharts und eine Anzahl der beiten Schriften Luthers! Sollte eine deutſche Oberjchule ihre deutihen Schüler nicht befähigen, dieje unerjeglichen Urkunden deutſchen Lebens in der Urfprade zu ee Und nod) eins: für die gebildeten fatholifchen Deutiden it die Kenntnis des Lateinischen aus religiöfen Gründen notivendig. Bir wollen feinen abermaligen Humanismus in der deutfhen Oberfchule, aber wir wollen das Lateinijde als ein Mittel zum Verftändnis unfrer großen Vergangenheit. Für das praltijche Leben fpringt dabei heraus, daß die Kenntnis des Lateinifchen die Erlernung des Spaniſchen, Italieniſchen und Frangofijden nidt nur wefentlich erleichtert, fonderit aud) zu einem Genuß madt, weil man alsdann alles in ſprachseſchichtlichen und etymolo- gifden Zufammenhängen erfaßt. Das Lateinifbe gibt ber elite Sprade ihren Hintergrund und den romanifden Spraden ihren Zufammenhang.

Der Beobachter macht auf Johann Peter Hebels Biblifhe Erzählungen aufmertfam. Von diefen Erzählungen hat lange geht nur der „Kenner“ etwas eri Wir Deutihe verlieren ja fo Br unjer Beftes. Gottfried Keller hat einjt das Büchlein wert Ein aot farrer berjelbe, der das ſchöne Thüringer Heimatglodenjahrbud)

emadt hat fand den Mut, es in feinem Heimatglodenverlag in Schmiedehaufen (bei en rr 130) herauszubringen. Das Volt der Dichter (Eſchſtruth, Courth3-Mabler) und enfer

üchner, Hadel) läßt ihn damit Figen Warum ift er aud) fo dumm, dem deutjchen Volt im Zeitalter des Kinos fo Jartes, Reines, Herzliches wieder anzubieten? Die Er- fahrung, die diefer Pfarrer machen mußte, ijt nea eine Schande für uns Deutjche. Dag die Canaille den red vorzieht, ijt ja natiirlid. Aber dak die gebildete ont im deutichen Volt nicht esi he tit für ein foldjes Bud), das it eine Lumperei. Das Bud, 154 enggedrudte Seiten, fojtet 15,40 ME., hübſch gebunden 20,40 ME, in einer guten Vor- zugsausgabe 75 Mi. Id) empfehle das Werk der Teilnahme aller, die [inte prachkunſt und ſtille Herzlichkeit zu ſchätzen wiſſen. Ich habe im Winter oft zu Hauſe daraus vor— geleſen. Der zweite Teil, der die neuteſtamentlichen an enthält, kann hoffentlich) trog allem einmal gejondert in billiger Ausgabe a Bilder eriheinen. Schade, dak uns Hebel nicht die Dveutjche Geſchichte fo wie die altteftamentliche erzählt hat!

Zum zweiten Mal zeigen wir deutſche Acchitektur. Oftendorf ift im Kriege gefallen. Uber er darf in unferm Volfe MR vergeffen werden. Seine Bücher bom Bauen gehören gu den unvergänglichen Werfen. Die Entwürfe, die wir daraus wiedergeben, wolle man auf die räumlichen Verhaltniffe und Formen hin griindlid anjehn.

Und nun kremple id) die Aermel auf und jege eine Schüffel Waffer bereit; denn id) muß eine ſchmutzige Sade anfafjen.

Ein Mann namens Heinrich Keffemeier, „Bundesporfigender des Deutfchen Fidte- Bundes”, pumpt fic) die beiden Lungen voll nationaler Entrüftung über die Fichte— gefellihaft und läßt fie in pathetifchem Tremolo von fi). Ort der Handlung: Deutich- völfiihe Blätter. Die Sade geht das Deutſche Volfstum infofern an, als bejagter Keſſe— meier fid auch an ihm reibt. Er macht die Fichtegefellichaft pe die enttfeblichen Bilder der Jakoba van Heemskerd in unjerm Aprilheft verantwortli

Erftens: Die Fichtegefellfhaft ijt für den Inbalt des Deutihen Volkstums nicht ver- antiwortlid. Vorwürfe wegen der Heitjchrift find alfo gegen mich zu richten. I é —— Die Blätter der Heemskerck find in ihrer ganzen Art deutſch, und ſie find beadtenswerte Zeugnifje eines beftimmten germanifden pal la Auch im läßt ſich deutſches und fremdes Yaw us unter|deiden. Diejer Auf- gabe unterziehn wir uns. Freilic) wäre es leichter, über den Expreffionismus als eine

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„iüdiſche Erfindung“ Toszufhimpfen. Hunderttaujend Schafe, vermutlich aud Herr Keſſe—

meier, würden aus ihrer Intelligenz heraus ein jreudiges Bah dazu extónen lafjen. Wir

verzichten auf diejen Beifall. Sie fonnen ja auc) auf uns verzihten. Unfre Zeitichrift

ijt für ernjthaft Suchende da. Wir haben Achtung vor ernjtem Ringen, and) wo die Er- ebnifje noch nicht „Klar“ und „eingänglich” find. Wer aber nichts weiter als einen Leit-

hama braucht, für den ift von Leuten, die Hd) aufs Geſchäft verjtehn, hinreichend gejorgt. itte.

Jm Uebrigen trágt Heinrich eine Anzahl Unwahrheiten zuſammen, die er aus verſchwiegenen Quellen des Klatſches gejhöpft hat. Was foll das? Bu den gehäfjigen Bemertungen Keſſemeiers über die Gründung der Fichtegefellfhaft noch Fol- wo: ALS fie gegründet wurde, hatte niemand der Beteiligten eine Ahnung vom Dajein

ejjemeiers und jeines „Fichtebundes“. ALS diefer dann am Horizont auftaudte, hieß es, daß es fic) um eine Offultiftenfette handle. Kefjemeier lieft nämlich aus Fichte nicht nur den nationalen Willen, fondern aud) allerlei über das Leben nach dem Tode heraus, viel- mehr in ihn hinein. (Es gibt eben wunderliche Käuze. Der eine macht's mit der Offen- barung Jobanni3, der andre mit Fichte. Die iſt, daß die Quelle den Adepten unverſtändlich iſt und bleibt.

Wie bei den Kommuniſten einige immer noch „echter“ und „reiner“ und „radikaler“ ſein wollen als alle andern, ſo auch bei den Leuten völkiſcher Geſinnung. Neulich konnte man ſogar den Vorwurf gedruckt leſen, Alfred Roth habe die völkiſche Sache an die Frei— maurer und Jeſuiten verraten. Man ſchmunzelt. Ich halte die krampfhaften Verdäch— et nidt Gejhäftstüchtigfeit mit im Spiel ift, einfach für aufgeregte Franke Menſchen.

Wenn wir über dieſe a Worte verloren haben, fo deshalb, weil unfundige, barm- loje Lefer auf Stefjemeiers Behauptungen hineinfallen fónnen. Will Keſſemeier jein Deutihtun etwa dadurd beweifen, bab er die deutjhen Untugenden der Etánferei und Schulmeijterei herauskehrt? Wir raten ihm: ehe ex andre Leute in Dingen der nationalen ee a möge er fid) an die durchaus nicht über jeden Zweifel erhabene eigene Naje fafjen.

. Nunmehr erwarten wir, daß er uns vorwirft, wir hätten ihn angegriffen und den Frieden geftört. So pflegt es nad) unfern Erfahrungen dieje Art Meriden zu madden, wenn ihnen eine jchnöde Lat miglungen ijt.

Stimmen der Meijter.

yr" rühmt den Nugen der Ueberlegung in alle Himmel; befonders der faltblittigen und langivierigen dor der Tat. Wenn id) ein Spanier, ein Gtaliener oder ein Franzoſe wäre: de möchte e3 damit jein Bewenden haben. Da id) aber ein Deutſcher bin, fo dente id) meinem Sohn einst, bejonders wenn er fid) zum Soldaten bejtimmen follte, folgende Rede zu halten:

Die Ueberlegung, wifje, findet ihren Zeitpunkt weit fdidlider nad als vor der Tat. Wenn fie vorher oder in dem Augenblid der Entſcheidung felbjt ing Spiel tritt: fo Iheint fie nur die zum Handeln Kraft, die aus dem herrlichen Gefühl quillt, zu verwirren, zu hemmen und zu unterdrücken; dagegen ſich nachher, wenn die Handlung abgetan ift, der Gebraud von ihr machen läßt, zu welchem fie dem Menſchen eigentlich gegeben ijt, nämlich fid —27 was in dem Verfahren fehlerhaft und hee We war, be- wupt zu werden, und das Gefühl für andere, ee Salle zu regulieren. Das Leben jelbjt ift ein Kampf mit dem Schidfal; und es verhält fid auch mit dem Handeln wie mit dem Ringen. Der Athlet kann, in dem Augenblid, da er feinen Gegner umfaßt hält, ſchlechthin nad feiner andern NRüdficht, als nad bloßen augenblidlihen Eingebungen verfahren; und derjenige, der bere nen wollte, welde Musteln er anftrengen und welche Glieder er in Bewegung fegen foll, um zu überwinden, mürde unfehlbar den Stitrzern ziehen und unterliegen. Aber nachher, wenn er gefiegt hat oder am Boden liegt, mag es zwedmäßig und an feinem Ort fein, gu überlegen, durch welchen Drud er deinen Gegner mieberioni, oder weld) ein Bein er ihm hätte jtellen follen, um fid) aufrecht zu erhalten. Wer das Leben nicht, wie ein folder Ringer, umfaßt hält, und taujendgliedrig, nad) allen Windungen des Sampfes, nad) allen Widerjtänden, Drüden, ausweihungen und Reaktionen, empfindet und fpürt; der wird, was er will, in feinem Gefprad durcfegen; vielweniger in einer Schladt. Heinrich von Kleiſt.

Derausgeber: Dr. Wilhelm Stapel. (Für ben Inhalt verantwortlig). Schriftleiter: Dr. Lub- wig ninghoff. Zufhriften und Cinfenbungen find zu rigten an bie Schriftleitung des Dentigen Doltstums, 36, SHolftenplas 2. Sür unverlangte Cinjendungen wird felne Derant- wortung übernommen. Derlag und Druc: Hanjeatifge Derlagsanftalt Attiengefelljihaft, Hamburg

Bezugspreis: Dierteljähelih 9 Mart, Einzelheft 3,75 Mart., für bas Ausland ber doppelte Betrag. Samburg 13475.

Aegtrut der Deiträge mit genaner Quellenangabe ift von ber Schriftleituung aus erlaubt, unbejhabet ber hte bes Derfafjers.

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Monatsſchrift für das deutfche Geiftesleben Herausgeber Wilhelm Stapel

Inhalt: Dr. Peter Ridjard Rohden, Das Puppenfpieleseseseseseses De. Wilhelm Stapel, fiberjehbungen eseseseseseseseseses Chriftian Boeck, Literarifdjes Urteil eseseseseseseseseses Prof. Paul Sickel, Künftler, Kunft und Publikum eseseseses Pan! Bricker, Das Dolk als Lebewefen Prof. Karl Sóble, Zur Brahmsliteratur

Kleine Beiträge: Dr. fjermann Ullmann, Leben / Dr. Wilhelm Stapel, Cine Antwort an fjeren Stern in Kattowit / Dr. Wilhelm Stapel, Wurzelplaftik

Der Beobadter: Derbot der Myfterien-Spiele in Kirdjen durch das ev. Konfiftorium in der Mark Brandenburg / Cin Wort des freiheren von Stein / Jm Schnellzug Berlin-Karlsbad / Das politifche Sprungbrett des Ferrn Mifiano, Führer der „Reinen” / Der „Mies- badjer Fingeiger” ; Erzberger, Stefan Srogmann und das Chriften- tum / Das Berliner Tageblatt über Ofterreidjs Anfdlußproblem

Bilderbeilagen: 2 Blätter Kafperlefiguren von Dr. Peter Ridyard Rohden und 2 Blätter mit Proben nus Straucds TWurzelplaftik

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Aus dem Deutfben Voltstum

Deutiches Dol€stum

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Das Puppenjpiel.

) ( ber den ivelligen Hügelfetten der Touraine finft die fable Dämmerung eines Spatherbjtabends hernieder. Den ganzen Tag hat e3 geregnet, nicht heftig, nein! aber mit jenem feinen Sprühen, das den Slörper bis in die legten Fibern durch- froftelt. Dort drunten in der fumpfigen Niederung, eingepfercht zwifchen des Stachel- drabtes zähen Zivang, ftapfen deutfche Kriegsgefangene im Streife. Lautlos... end- los! Dit doch diefe Bewegung das einzige Mittel, fic) des verdammten Froftelns zu erivehren, das einzige Mittel vor allem, den bohrenden Gedanken zu übertäuben: „Wann endlich geht e3 heim?” Drinnen in der Barade, die in diefer Dimmer- ftunde faft noch ummirtlicher ift als fonft, Hoden nur ein paar Eigenbrödler: ein Maler, ein Mufifer, ein junger Dichter und ein Wifjenfchaftler. Sie find Freunde. Aber auch zwifchen ihnen will feine rechte Unterhaltung in Fluß fommen. Wovon jolíten fie auch fprechen? Von der Dual des Alltags, der finnlofen Sehnfucht nad) Haufe? Von der geijtigen Not, dem nagenden Hunger nad) lebendigen Eindrüden? Gie ſchweigen und tráumen.

Da plöglich ballt fic) Traum und Stille zu einem Wort: ,Weihnadten!” Wer jprad) es aus, mas fie alle denfen? Stein Lächeln erhellt die müden Gefichter. Dumpfer nur, laftender wird das Schweigen, und die Falten um Mund und Brauen graben fich tiefer. Endlich bricht der Maler los: „Wir müfjen Weihnachten ins Auge fehen. Kein Gedanke, daß uns der Franzofe bis dahin freigibt. Wollen mir etwa am Heiligen Abend aud) fo ftumpffinnig beieinanderhoden? Die Vorftellung ſchon macht mid) vafend!” Und nun entlädt fic) die Angft ihrer gequälten Herzen in dem frampfhaften Willen, zu handeln, zu wirken, um nur der feelifchen Unficher- heit eine Richtung, ein Ziel zu geben. Die Vorfchläge überftürzen fic) förmlich: „ch will Bilder ausftellen!” „Ich will Lieder fpielen!” „Ich will Gedichte vor- tragen!” Dann folgt eine verlegene Stille. Und wie auf Verabredung fuchen Die drei Augenpaare den Wiffenfchaftler. Der fängt die fragenden Blide feelenrubig auf und antwortet fchlieglich mit einer Stimme, in der Wehmut und Spott fic feltjam durchdringen: „Sch will einen Vortrag halten über den Begriff des reinen Apriori.” Dann aber fährt er, ihr Aufbegehren abfichtlich iiberfehend, mit er- barmungslofer Schärfe fort: „Ihr wollt Weihnachten feiern? Vergeßt Ihr, dah ein Feſt nur auf bent Boden geiftiger Gemeinfchaft gedeiht? Bis vor furzem waren mir eine Gemeinfchaft. Uns einte, unausgefprochen, der Wille zum Sieg. Aber jest? Die Heimat hat diefen Willen in den Slot getreten. Wir find entwurzelt. Wie wollt Ihr einem Fete heute die Einheit wahren? Soll es eine chriftliche Feter fein? Wer unter una darf ſich denn noch Chrift nennen? Oder wollt br ein deutjches Feſt begeben, eine Sonntvendfeier in Trog und Hoffnung? Ja, find wir denn überhaupt nod) Deutfche?”

Aufzudt die Wut befeidigten Gefühls: „VBerdammter Verneiner! Alles zerdenkſt Du, alles zerfegft Du! Nichts ut Dir Heilig, Du fchnüffelnder Vielwiffer!”

„Spart Eure roten Köpfe! Selbftbetrug, Selbjtbetäubung tft all Euer Planen. Aber fern fei es von mir, nur fühle Kritik zu üben. Ein Weg, der lebte, ſchwerſte freilich, jteht ung allzeit offen.”

Geframpfte Finger löfen fic) zu bittender Gebärde: „Nenn ihn, oh nenn ibn!”

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„Jeder Menfd) trägt in der Bruft eine eherne Glode, übertönt freilih bom wirren Geflapper des Alltags: fein Volfsberwußtfein. Dies Erz bringt zum Klingen! Erzählt Märchen oder befjer noch, führt ein Puppenfpiel auf!“

Sift Du verrüdt? Deutfchland am Boden, und wir fpielen Hanswurſtiaden?“

„Ich höre alle Unten und Griesgrame des Lagers fprechen. Aber gegen diejen Widerftand gibt es einen vortrefflichen Sturmbod: die Not! Eine Welt bricht rings um uns zuſammen. Verloren ift, wer nicht den Weg zum Ueberfinnlichen findet. Nun, Puppenfpiel ift Märchenfpiel. Märchen ijt Vorjdmad des Glaubens. Schon einmal, nach den Greueln des dreikigjährigen Krieges, bewährte Kafperl die Straft, ¿ermiirbte Herzen emporzureißen.”

„Was aber follen wir fpielen?”

„Unfer eigenes Leid. Kaſperl fann alles. Go mag er diesmal im Trommel- feuer zittern, von Tanks gehegt, von Granaten verfdiittet. Er mag dem Dolmetfcher Rede und Antwort ftehen. Mag fliehen, erwiſcht werden, mit Kolbenftößen traftiert und bon den wütigen Lagerhunden gebeutelt.”

„Sind unfere Qualen Dir fo wenig ernit, dak Du fie in das leichtfertige Ge- gappel einer Marionette bannen willſt?“

„Seitalten heißt überwinden. Verfleinern wir unfere Schmerzen auf ein Fünftel ihrer natürlichen Größe, und wir werden fie belächeln.”

„Sprich weiter!”

„Hört mid) an! Von jeher hat der Menfch einen Gegenftand gebraucht, den er liebfofen und mißhandeln konnte. Beides bot ihm die Puppe. Dies Spiel ift fo alt wie die Menjchheit felbjt. Aber damit aus dem findliden Spiel eine Kunft werde, mußte die Puppe aus ihrer Paffivität heraustreten. Erſt dadurd, bab fie befeelt gedacht wird oder wenigſtens Seele bedeutet, wird fie fähig, menjchliche Leiden und Freuden zu verkörpern.”

„Aber warum in aller Welt bedarf eS denn dazu der Marionette? Stellt nicht der Schaufpieler unfere Leiden und Freuden menſchlicher, alfo bolltommener dar?”

„Die Marionette hat bor dem Schaufpieler einen großen Vorzug: fie ift un- wirklicher und darum fünftlerifcher. Sie ift Materie, an der fich feelifche Regungen vollziehen, fteht alfo beftändig auf der Grenzfcheide zwifchen zwei Welten, ohne daß jedoch, wie beim Menfchen, Stoff und Geift, Leib und Seele in ihr zu einer Einheit verjchmelzen. Die Marionette ift daher niemals Perfon im genauen Sinne des Wortes. Denn ihre Schiefale find nicht der Ausfluß eines feelijden Seins, fondern werden ihr von außen her, gleichſam mit einer laterna magica, auf den Leib projiziert. Diefe innere Unbeteiligtheit aber, diefe vollfommene Verantwortungslofigteit ift für den Menfchen unerreichbar. Selbft ein Caliban weift noch eine dunkle Ahnung feiner Urbeftimmung auf. Feder Narr von Fleif und Blut ift von. einem Hauch der Tragit ummittert. Nicht fo die Marionette. Sie hat feine Seele, und fie rühmt fich deffen. Die Komik Kafperls ift reine Komik. Er ift nicht nur den Dingen verhaftet, er ift Dingaan-fih. Zwiſchen dem, was er it: Materie, und dem, was feine Ge- bärden darjtellen: Seele, ragt eine gläferne Mauer. Sein Spiel ijt Symbol. Und diefer Symbolcharatter fett ihn von vornherein gegen die fünftlerifche Todfünde: den Naturalismus.”

„So wäre alfo das Puppenfpiel eine expreffioniftiiche Kunſt?“

¿Sanz recht, fofern Du nur unter Erpreffionismus die im Grunde felbftver- ftändliche Einficht verftehft, daß Kunſt niemals Abbildung eines gegebenen Gadhver- altes, fondern ftet3 Ausdrud eines feelifchen Erlebniffes ijt. Nichts haft Kafperl grimmiger als jenen felbitficheren Miaterialismus, für den Welt und Seele den Saud) des Unfahbaren verloren hat. Aeffiſche Entwidlungslehren eteín ihn trog feiner affartigen Gelentfigfeit. Diefer Haß ift übrigens ein gegenfeitiger. Der Rationalift verabfcheut die Marionette. Erinnert Euch nur an den erbitterten Kampf, den der Literaturpapit Gottiched gegen den deutfden Hansiwurjt führte. Der diintelbafte

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Pedant, dem aller Mutwille, alles Märchenhafte ein Greuel war, fühlte ganz richtig heraus, dak ihm hier eine Macht gegeniiberftand, die feiner äfthetifchen Arithmetif ein Schnippchen ſchlug. Und wenig fehlte, fo hätte feine verftindige Blutarmut das Feld behauptet. Unfere zutiefft völkiſche Sunftart, die Komödie, ging durch diejen Ausflug in die Tarusheden fauber befdnittener Vernünftelei zum Teufel. Kafperl jedoch war aus härterem Holze gefchnigt, als fein Verfolger. Er überftand die Zeit profefforaler Drangfalierung und flüchtete in den pfadlofen, duftenden Irrgarten der

Geniezeit. Dort traf ihn Goethe auf feinem Weg zur Höhe. Jm „Wilhelm Meijter” hat er fic) dantbar zu diefer Begegnung befannt. Und fein „Fauſt“ fteigt dann voll- ends zu den Quellen unferes Volfstums hinab, aus deren launifchem Gligern uns einft das altbefannte Oeficht des Hanswurſt grüßte. Freilich, Kafperl felbft fand feinen Pla mehr in dem gewaltigen Menfchheitsdrama. Aber faut Euch einmal den Mephifto etwas genauer an! Nicht den Satan, fondern den Kobold, den neden- ten Elementargeijt, der den Schüler foppt, die truntenen Studenten nasführt.

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Mertt Ihr nicht, wie feine boshaften Augen dem harntloferen Vetter zublinzeln in verwandtichaftlicher Zärtlichteit? Und gar erft die Romantif! Da brad) eine goldene Zeit für unferen Wurftel an. Wie ward er von den Anbetern des Volfsgeiftes bewundert und verhätfchelt! Zivar die Bombenrollen, auf die er fid) gejpigt hatte, die Haupt- und Staatsaftionen, in deren Glanz er fid) fonnen wollte, blieben un- gedichtet. Ein richtiges Kaſperlſtück zu fehreiben, dazu fehlte es den Romantifern an Blutfülle und Erdenſchwere. Der einzige, der das Zeug dazu hatte: Heinrich von Sleift, bejchritt andere, herbere Wege. Aber wenn auch Deutjchlands größter und heigblütigjter Dramatiker felbjt feine Puppenfpiele jchrieb, fo ging er doch an diefem Jungborn völfifchen Geiftes keineswegs achtlos vorüber. Er widmete dem hölzernen: Freunde nicht nur eine gründliche theoretifche Studie, das Tiefíte, was je ein Dichter über das Puppenfpiel gefchrieben hat —, fondern er bat ihn aud bei allen Kindern feiner fomifden Muje zu Gevatter. Wer anders als Kaſperl zwängte feine breiten Schultern in bie zierliche franzöjifche Jade des Sofias, bis alle Nähte plagten? Und vollends die Geftalt des frechen, gefräßigen, Tüfternen Dorfrichters Adan, der jo wundervoll zu lügen verfteht und ſich am Ende doch den Hals ins Eifen judiziert, ift fie überhaupt denkbar ohne die lange glorreiche Reihe hölzerner Ahnen? Schielt man nicht bei jeder Gebärde diefer derben, niederdeutichen Gefellen unmillfürlich nach den Drábten, die ihre Bewegungen Ienten? Und drängt fich nicht angejichts ihrer Sprünge und Windungen immer von neuem die Frage auf die Lippen, was diefe Liimmel eigentlich ſchwitzen: Waffer oder Harz?”

„Wohin weifen denn die erften Spuren des Puppenfpiel3?”

¿Rad Indien! Dort ijt das Puppenjpiel eine uralte Kunftübung. Schon in den Veden werden Marionetten erwähnt. Und das Ganstritwort für Theater- direftor: ,jutradhara”, das wörtlich „Fadenführer” bedeutet, legt den Schluß nahe, daß in der indifchen Dichtung das Puppenfpiel dem wirklichen Schaufpiel zeitlich boraufging. Freilich von den indiſchen Marionettenftüden it uns fein einziges erhalten. (8 waren Stegreifdichtungen, ähnlich der italienifchen commtedia dell’ arte. Dagegen vermittelt uns die indifche Plaſtik ein fehr deutliches Bild bon der Geftalt des indifchen Hanswurſt, des Vidufata. Sie ftellt ihn dar als haplichen, ver- wachſenen Zwerg mit didem Band, kahlem Kopf, gelben Triefaugen und großen, gierig gefletichten Zähnen. Die Hauptzüge feines Charakters finden wir {pater in der tomifchen Figur des literarifchen Dramas wieder. Vidujata ift immer durjtig und über alle Magen gefráfig. Seine dummbreijte Pfiffigfeit macht ihn zum bevor- zugten Helfershelfer feines Herrn bei allen Liebesabentenern. Dod) bringt er dtefen wiederum durch feine Schwaghaftigfeit in die größten Verlegenheiten. Citel, ver- logen und feige, nad) überjtandener Gefahr fred) und rechthaberiſch, trägt ihm feine Streitfucht manche wobhlverdiente Tracht Prügel ein, die er jedoch zumeift mit Binjen zurüdzahlt.” `

„Aber das ift ja unfer Kafperl, wie er leibt und lebt! Sollte etiva Indien bie Heimat des Puppenfpiels fein? Ich entfinne mich dunkel, einmal eine ähnliche Thefe über die Herkunft des Märchens gelefen zu haben.”

„Du ¿eigft für einen Riinftler wirklich eine abjonderliche Neigung zu philo- logischen Denfmethoden. Glaubft Du wirklich, fo allgemeinmenfdlide Kunjtformen wie Märchen oder Puppenfpiel würden von einem beftimmten Volte erfunden, bon den anderen aber nur nachgeahmt?“

„Gleichviel, gleichviel! Kommen wir lieber auf den Rernpuntt Deiner Aus- führungen zurüd. Denn troß all des Hiftorifchen Materials, das Du uns fo frei- gebig über den Kopf fchütteft, bift Du uns immer noch den genauen Beweis dafür ſchuldig, was denn das Puppenfpiel mit der religiöfen Einftellung eines Zeitalters zu tun hat.”

„Die Marionette ift die Selbitironifierung des Menſchen. Welches Recht aber habe ich, den Menfchen ironisch zu nehmen, wenn mid) nicht die Gewißheit einer

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geiftigen Welt erfüllt? Wer die irdifche Wirklichkeit entwertet ohne die Ahnung

tenigfteng einer überirdifchen, der fpottet nicht mehr, er höhnt. Laufcht nur genau

auf den Slang der Worte! „Hohn“ und „höhnen“ verzerrt, wie das Gefidt, fo die

Welt. Der Spott aber hat etwas Leichtes, Bejchtvingtes, Liebenswertes. Gefellt fich

= on nod eine Dofis Gutmittigteit, fo entfteht der Humor, der Zwillingsbruder des ubeng.”

„Du ſcheinſt mir tatfächlich nicht übel Luft zu haben, die Bibel zu ergänzen: ‚So ihr nicht werdet wie die Puppen... !’“

„Und warum nicht? Ich kann mich dafür auf einen fehr guten Gewährsmann berufen, auf Heinrich von Kleift. Sein Auffag, von dem ich Euch vorhin fprad, gipfelt in dem Gedanfen der Polarität von Puppe und Gottheit. Gott ift reiner Geijt, die Puppe reiner Stoff. Beide find in ihrer Art vollfommen, denn fie ge- horchen nur dem inneren Wefensgefeve. Der Menfch aber ift zwiefpältig. Sein Inſtinkt wird durch die Reflexion, fein Gefühl durch den Verftand gehemmt. Da nun der Aufitieg zu reiner Geiftigteit ben meisten Menfchen verjchlofien fein dürfte, jo wenden fie ihre Blicte unter fic), laben fich an der Problemlofigteit ber Puppe und Ihöpfen daraus die Gewifheit, dak auch ihrer am Ende des Erdentwallens ein Zu- ftand leidlofer Befeeligung harrt.”

„Du machft einem mit Deiner Metaphyfit den Mand ganz wäſſerig mad) einer praftifchen Erprobung des Gedanfen3.”

„Das jcheint mir nicht allzu fchiver. Boden und Zeit find ausnehmend günitig. Die Puppe verfteht ein jeder. Denn fie ift die reinfte Spiegelung unferer materiellen Triebwelt. Und der nötige Wille zum Wunder dürfte fich jegt wohl auch langjam einftellen. Eine ganze Welt geht um uns zu Grabe. Wir ftarren ing Chaos. Da erwacht Wunſch und Sehnfucht nach einem feften Salt im Unmandelbaren, im Emigen. Die Not ift da. Dak fie als gemeinfames Erlebnis empfunden werde, ung zur Gemeinjchaft zufammenfchweiße, dazu mag Safperl beitvagen. Er gehört zu den guten Genien unferes Volksſtums. Warum feine Hilfe ausfchlagen?”

„Horch, das Abendfignal! Wir müffen uns trennen. Nun fet aber einmal ganz aufridtig! Haft Du uns heute abend nur mit Baradorien gefüttert, oder ift es Dir Ernft mit Deinem Plane?”

„Alle Wahrheit ift parador, fchlägt der Doxa, der Tagesmeinung ins Geficht. Die Tragfähigkeit meines Vorfchlages fann nur der Verfuch ertweifen. Wenn id) Eurer Hilfe jicher fein fann, gehe id) morgen ans Werk. Darf ich auf Euch zählen?“

„Du darfjt!”

„Auf morgen denn!”

„Auf morgen!” Peter Ridhard Rohden.

Überfegungen.

an jagt, fein Volf fei fo reich an Ueberfegungen aus fremdem Schrifttum mie

das deutjche. Das ift ficherlich ein Borzug, e3 zeugt von ernjtem Suchen

und bon innerer Teilnahme an dem, was andre fanden. Gleichwohl ift heute diejer

Reichtum zu einer Armut und diefer Vorzug zu einem Mangel gelvorden. Der

ungeheure Verbrauch unfres Volfes an Ueberfegungsliteratur hat viele, viele unter

ung mit einer Halbbildung behaftet, von der die einmal Befallenen erfahrungsgemäß

niemals wieder zu heilen find. (Es wird Zeit, von diefen Dingen laut zu reden, um wenigitens die Gefunden bor Anftedung zu warnen.

Was ein Kunſtwerk von einer bloßen Wiedergabe, von einer Reproduktion mie von einer Kopie, unterfcheidet, ijt feine Einmaligfeit. Man fann fein Kunſt— wert in einer andern Technif wiederholen, man fann in der andern Technik nur ein neues Sunjtwert fchaffen, ba8 mit dem andern zwar den „Stoff“ gemein hat, das aber ala Kunſtwerk völlig unter feinen eigenen Bedingungen fteht. Was

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für ein Gemälde, was für jeden fünftlerifchen Holzjchnitt gilt, gilt auch für die Dichtung. Man wird das literarifche Urteil eines Menfchen nicht ernft nehmen, der Klaus Groths Gedichte oder Reuters Erzählungen in hochdeutfcher Ueberjegung left, weil er die fleine Mühe fcheut, fic) in das Plattdeutfche einzulefen. Aber ſchon beim Mittelhochdeutichen findet man es jelbjtverftändlich, ſich mit Ueberfegungen des Nibelungenliedes, der Gudrun, des Parfival zu begnügen. Und gar bei griechifchen, ruſſiſchen, italienischen, englifchen Dichtungen! Aber gilt das, was für Dialekte gilt, nicht in erhöhtem Mage fiir @ p ra @ e n?

Wir behaupten, dak jede echte Dichtung ein einnraliges, unüberſetzbares Kunſt— werf ijt, und daß jeder, der vermeint, fie aus einer Ueberfegung fennen zu lernen, fich felbft betrügt. Beweis:

Die Sprache ift entiveder Mitteilung oder Ausdrud. Die Sprache alg Mit- teilung von Tatſachen, Gedanken, Gefühlen, Abfichten bedarf nur willfürlicher Wortzeichen, die nach Uebereintunft der Menfchen bejtimmte „Bedeutungen“ haben. Sie ijt vergleichbar der mathematifchen Zeichenfprache: man ift übereingefommen, gewiffe Begriffe durch gewiſſe Zeichen darzuftellen. Wie die Zeichen find, das tft Gadhe einer willfürlichen Feſtſetzung.

Die Sprache als Au 8 b ru d ift der Körper einer Seele. Sie ijt die „Materiali- fation” eines Geiftigen oder Seelifchen, dies „offenbart fich” in Slang und Rhyth- mus. Die Sprache als Ausdrud „vermittelt“ nicht Tatfachen, Gedanken, Gefühle, fondern in ihr ftrómt das Geiftige und Seelifche „unmittelbar” aus und zündet, tedt, entfad)t „unntittelbar” ein entjprechendes Leben. Eine folde Sprache ift ein „ur- fprüngliches” Slang- und Lautiverden der Seele. Zwiſchen dem Seelifchen, das fid) ausdrüden will, und dem Laut, in dent es fid) ausdrüdt, befteht eine „innerlich not= wendige” Gefegmäßigfeit. Nur wenn diefe Gefegmäßigfeit da ijt, fann man den ſprachlichen Ausdrud „echt“ nennen.*)

Da mun jede Dichtung als ſolche unmittelbar, urjprünglich, innerlich notivendig, echt fein muß, muß die Sprache als ihr Körper ebenfo fein. Folglich darf man in einer wirklichen Dichtung auc) nicht einen einzigen Laut verändern, denn alsbald ware fie nicht mehr unmittelbar und innerlich notivendig, fondern „teilte” nur einen Gedanten oder dergleichen „mit“, wäre alfo nicht mehr S u mit, fondern nur Mit- teilung. Jeder wohlreimende und glatt rhythmifierende Stüntper wäre dann ein „Dichter“. j

Eine Ueberjegung in andre Dialekte oder Sprachen ift eine Veränderung der Laute. Folglich find Dichtungen unüberjegbar.

Erläutern wir den deduftiven Beweis durch einen induftiven Berveis. Echte Dichtung find die Verfe: „Und an dem Ufer fteh’ ich lange Tage, das Land der Griechen mit der Seele fuchend.” Da ift ein Unausfprechliches Klang geworbden. Nun fage man: „Und lange Tage fteh’ id) an dem Ufer und fuche mit der Seele Griechenland” Auch zwei treffliche Jambenverſe, aber feine Dihtung! Die Worte find diefelben, der Inbalt ijt derfelbe, was fehlt? Wir fühlen nicht mehr „unmittelbar“ das Schwellen, Sehnen, Sich-neigen einer erhabenen Seele. Das it der Unterfchied ziwifchen Goethe und irgend einem Herfteller ſchöner Jambendramen. Der Unterjchied ziwifchen dem einen und andern ift nicht ein Unterfchied des Wollens oder der Arbeitsleiftung, fondern der Gnade. Oder man [ele laut den Vers aus dem eriten Gefang des Nibelungenliedes: „Sr kunde in birre Werlde leider nimmer gefchehen.” (Das mittlere e in gefchehen ift kurz, das y ift als deutliches Zungen=r, das ei ala Doppellaut e-i zu fprechen.) C3 ijt ein dumpfes Gewwitterrollen in dem Vers, das erfte ferne Donnern um Kriemhildes Haupt. Ins Neuhochdeutiche „überſetzt“ lautet es: „Ihr konnte in diefer Welt leider (b. 1. mehr Leid) nimmer gefchehn” oder mit Simrod: „Ihr tonnte auf diefer Erde größer Leid nicht geſchehn.“ Ausgewiſcht

*) Zur Bedeutung der Wörter „unmittelbar, urjprünglich, notwendig, echt” vergleiche meinen Aufſatz „Vom unmittelbaren Leben” im vorigen Heft.

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it das Gedicht, blind find die Laute! Oder man nehine den Vers, der des fterbenden Giegfrieds Hinfinten malt: „Do fiel in dice Bluomen der Krisemhilde Mann.” Liejt man aber die Doppellaute i-e und u-o auf neuhochdeutfche Weife als einfache Vokale „da fiel in die Blumen der Kriembilde Mann,, fofort ijt das taumelnde Sinten nicht mehr jinnfällig gegenwärtig in dem Vers, ez bleibt nur die Mittei- lung von dem Hinfinfen übrig.

So jehr ijt alfo die Dichtung an ihren ganz bejtimmten fprachlichen Slang ge- bunden, der nicht die gering|te Willkür duldet. Das it bei der dichterifchen „Proſa“ genau ebenfo. Wer da glaubt, er fonnte einen echt goethejchen, fellerjden, ftifterjchen, raabeſchen Sag in eine andre Sprache überjegen, der hat überhaupt feine Ahnung von dem, was einen Goethe zum Goethe, einen Raabe zum Raabe macht. Er hat fein Empfinden von dem, was Dichtung ift, er ift in diefer Hinficht ein ungebildeter Menſch. Und ihr glaubt, ihr könnt einen Doftojewsti, einen Balzac, einen Vedentert aus der Ueberfegung kennen lernen? Ihr fonnt euch durch Ueberfegungen nur von dem unterrichten, was „Darin vorfommt”. Wenn ihr nichts weiter wollt alg eure Neugier ftillen, wenn ihr niht unmittelbares Leben wollt, dann freilich feid ihr wert, dak ihr mit Ueberfegungen eure Zeit hinbringt.

Aber, lautet der regelmäßige Einwand, willjt du uns Luthers Bibelüberjegung und Voffens Homer verbieten? Luthers Bibel it nur äußerlich, der Form nad), eine Ueberjegung, in Wahrheit ift fie ein urfprüngliches, einheitliches Meijterwert. Luther hat nicht bloß „überſetzen“ wollen, fondern er wollte das Wort Gottes fo fagen, wie Gott es gejagt hätte, wenn er hätte wollen deutfch veden.*) Gerade in den Stüden, in denen Luther, aus gelehrten Gründen, zaghaft und forgfáltig „über: fest” ftatt ,Verdeutícht” Hat, fo in großen Teilen der Paulusbriefe, fällt fern Bibel- wert mertbar ab. Alg Ganzes aber ift Luthers Bibel eine geniale Neufhöpfung. Seine Patriarchen, Propheten und Apojtel, fein Chriftus und feine Maria find freilich dem Begriff und der gemeinten Tatfächlichfeit nach ,,diefelben” wie in den bebräifchen und griechifchen Texten, fie find aber zugleich Deut {dhe Geſchöpfe von anderm Blut und andrer Seele als die „geihichtlichen” Gejtalten. Aus der Luther- bibel fann man urfprüngliches religiöfes Leben ſchöpfen, aber aufgrund der Qutber= bibel fann man feine Gefchichte treiben. Aehnlich ift es bei Voſſens ſchöner Homer- Ueberfegung. BVoffens Helden find fo, wie das achtzehnte Jahrhundert fich homerifde Menſchen vorstellte. Wer den Urtert fennt, weiß, dak zivifchen den Menfchen Homers und denen Johann Heinrich Voffens eine Welt liegt.**) Voffens Meiſterwerk ijt ent- züdend zu lejen, aber betrogen ijt der, welder glaubt, damit habe er nun „die homeriſche Welt” fennen gelernt; er hat nur die antikifchen Götter und Helden des bürgerlichen achtzehnten Jahrhunderts kennen gelernt. Was hilft es, dak die Ge- ftalten begrifflich diefelben, mit Kant zu reden: numeriſch identifch find mit denen, die Homer meinte, wenn die Seelen andre find?

So laffen wir alfo Ueberfegungen durchaus gelten, aber als jelbftändige Werke, die mit ihren Urterten nur den Inbalt, nicht die Seele gemein haben. Wila- motoig-Möllendorffs Ueberfegungen der griechifchen Tragódien wird man außer den Urterten immer mit Bereicherung lefen fie find jel ft etwas! Hermann Bütt- ners Edebart-Ueberfegung eine bewundersiverte Leiftung gibt nicht den alten Meijter Edehart, der jchlechthin nicht verneuhochdeutfcht werden tann, fie gibt Büttners Darjtellung Edeharts. Genzmers Edda möchte ich nie miffen: fie gibt uns aufgrund des eddilchen Stoffes und mit felbjtandiger Einfühlung erbabene Heldenlieder in neuhochdeutfcher Sprache. Aber ich werde mir nicht einbilden, dak ich damit die altnordifche Edda habe. Fede Dichtung hängt unlösbar im Klang ihrer Sprache; ihre Lebendigkeit fann nicht einfach in einen wefensandern Körper geftedtt

*) Bgl. Luthers „Sendbrief vom Dolmetjchen“. à =) Sehr treffende Bemerkungen dazu macht Hermann Grimm in feinem ebenfo un- zünftigen wie feinen und tiefen Bud über „Homers lias”.

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werden. Man fann nicht das Blut eines Menfchen in die entleerten Adern eines andern pumpen und glauben, diefer andre Menſch könne nad) diefent Umpumpen den Play des erften einnehmen; ein jeglicher lebt aus feinem Blute und aus feiner eigenen Lebenvdigteit.

Wir ziehen nun die allgemeine theoretifche Folgerung: Begriffe fann man überfegen; denn fie bleiben ,,diefelben”, und es fommıt nur darauf an, daß die Wort- bedeutung in diefer oder jener Sprache fih bedt. Tatjahenangaben fann man überjegen; denn es fommt nur darauf an, daß die Worte „dieſelben“ Tatjachen „meinen“ und „bezeichnen“. Nicht überjegbar tft alles Geelifde, weil es feinem Wefen nad) individuell ift (ſowohl perfönlich wie ftammesmáfig und völfifch indivi duell). Alfo fann ich wiffenschaftliche Werke, ſoweit es fic) um begriffliche und tat fachliche (empirifche) Erkenntnis Handelt, überjegen. Es ift jchliegli für die Er- kenntnis gleichgültig, ob ich Darwins „Entjtehung der Arten“ deutſch oder englifch lefe. Dasjelbe trifft zu für praftt{ dhe Werke der Wirtfchaft, des Rechts, der Politik u. dgl., forweit es fic) um gegenjtändliche Erkenntnis und Anweifung handelt. Unüberjegbar aber ift alles, was unmittelbarer Ausdrud der Seele ift: die Dichtung, das religiöfe Befenntnis und die unmittelbare religivfe Aeußerung überhaupt, die intuitive Darftellung in der Wiffenfchaft, kurz: alles, was „perfönlich” und „völkiſch“ ift, was, nad) Rankes Wort, „einen unmittel- baren Bezug zum Géttlichen hat.“

Wir ziehen daraus die allgemeinen praftifchen Folgerungen: Erjtens: Wir bedienen uns ohne Bedenken einer forgfaltigen Ueberfegung, wenn es uns darauf anfommt, nur die in einem Werke dargeftellte Erkenntnis zu erfaffen oder wenn wir den jtofflich-tatfächlichen Synbalt einer Dichtung, einer religiöfen Darlegung, einer Philofophie tennenlernen wollen. Dabei ziehen wir folche Meberjegungen vor, die auf die Nachahmung der äußeren Form verzichten, aber den Inhalt begrifflich fauber und genau wiedergeben. Eine fünftlerifche Form, die aus einer beftimmten Sprache gervachfen ift, fann man nicht in einer andern Sprache wiederholen. Fede tünjt= lerifche Form, man fann es nicht genug fagen, ift einmalig; felbit in ein und der- felben Sprache. Daher ift die Metrit als Normenlehre im Grunde eine vergebliche Wiſſenſchaft: fie bleibt immer im Vorhof des Heiligtums, und ihre Abjtraftionen find niemanden: zu Nug und vielen zu Schaden. Darum ift fie aud) in Alexandrien erfunden worden. Gu den Zeiten, in denen am eifrigften ffandiert wird, wird am wenigjten gedichtet. In deutfcher Sprache gibt e3 feinen griehifchen Herameter, e3 wird zimangsmäßig etwas wefensanderes daraus. C8 ift lächerlich zu glauben, fran- zöfifche Alerandriner könnte man mit Hilfe der Metrit nachahmen. Und die Blank: verje! Gott hat unfre Dichter mit dem elenden Jambengetón wahrhaftig genug ge- züchtigt die Dummköpfe unter ihnen haben e8 immer noch nicht verftanden. Aljo werden wir niemals erivarten, aus einer Ueberſetzung auch nur eine Ahnung von dem eigentlichen dichterifch-feelifchen Gehalt und der dadurch bedingten Form einer Dihtung andrer Sprache zu befommen.

Zweitens: Wir werden Dichtungen als fol he nur im Urtext lefen. Darum foll man die Mühe nicht ſcheuen, um einer Dichtung willen eine Sprache zu lernen. Es iſt nicht zu teuer bezahlt, wenn man um Homers willen Griehifch, um Dantes willen Jtalienifch, um Cervantes, Calderons, Lopes willen Spanisch, um Shatejpeares willen Englifh, um Doftojewstis und Tolftojs willen Ruffifch lernt. (Nur ift es freilich zu teuer erfauft, um Racines und Corneilles willen Franzöſiſch zu lernen. Moliere fonnte reizen, immerhin, fo wertvoll wie die andern ift er uns zur Zeit nicht.) Wie fehr lohnt fich die leichte Mühe, fic) in deutſche Sprachen wie Holländifch und Flämiſch einzulefen! Vor allem aber: es ift eine Kulturfchande, bab nicht jeder gebildete Deutjche Mittelhochdeutfch verjteht. Da haben wir unfterblide Meijter- werfe wie das Nibelungenlied, den Parzival, die Edehart-Predigten, und begnügen uns mit Ueberfegungen! Die Germanijten und Verleger haben uns noch nicht ein- mal die heute mögliche Gefamtausgabe von Edeharts Urterten bejdert! Nur bewahre

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uns der Himmel davor, mittelhochdeutihe Grammatit zu paufen. (8 handelt fid) ja nit um eine fremde Sprade, fondern um eine Erfcheinungsform unfrer eignen Sprache. Die Methode des Hineinhörens, die ich in der „Voltsbürgerlichen Erziehung“ (Seite 126) andeutete, habe ich feither erprobt: fie erreicht völlig ihren Bwed. Auf diefe einfache Weife fonnen wir Schäge von erjtaunlicher Schönheit den Schränfen der Gelehrten entreigen. Die Werke unfrer großen Vater find heute nod) faft aus- fchlieglich dazu da, Dak die Philologen ihren kritiſchen Scharffinn daran üben. Unter all dem hiſtoriſchen, philofophifchen und afthetifchen Sritifieren find die ungeheuren Werke ganz Hein und unjcheinbar geworden. Aber wahrhaftig, es find Geijtestaten von unfäglicher Schönheit und Tiefe wenn ihr euch nur den philologifchen Ohren— ſchmalz herausſpritzen lieget und die Ohren unbefangen der Dichtung öffnetet, wie fie tft! Man faBt fid) an den Kopf, daß fo etwas Läppifches wie die Lachmannſche Liedertheorie ernjt genommen werden fonnte. Heute ift die Philologie auf dem Wege, dienjtwilliger und unbefangner zu werden. Es muß eine Zeit fommen, da man in allen Schulen die mittelhochdeutiche Dichtung als Dihtung aufnimmt. Zu diefem Ende muß der Wahn verjdiwinden, als täten es Ueberſetzungen ſchließlich aud. :

Drittens: Niemand kann eine Kultur felbftandig verjtehn, der nicht die Sprache Diefer Kultur fennt; denn das Mejentliche der Voltsfeele ift in der Sprache am un- mittelbarjten ausgedrüdt.*) Wer nicht die Seele aus einer Sprache heraushort, dent wird das Wejen etiva der bildenden Kunjt, der politifhen Berfaffung uſw. des be- treffenden Volte3 nicht völlig deutlich werden er hat immer nur Brudftiide. Wer aber nicht felbjtandig eine Kultur verftehn und beurteilen kann, foll auch nicht wagen, andre darüber zu belehren. Luther hatte ganz recht, al3 er forderte, bab die Pfarrer, eben als Lehrer des Volkes, Hebräifc und Gviedifd lernten, nicht damit fie es andre lebrten, jondern damit fie jelbftändig urteilen fünnten. (Ob fie das dann tun, hängt freilich von den Einzelnen ab, aber fie follen die Möglichkeit basu Haben und dadurch willen, dak es ohnedies nicht geht, in welchem Fall fie die nötige Bejcheidenheit aufbringen. Ein Theologe, der Hebraifd und Griechifch fann, wird nie fo genial unbefcheiden drauf [08 urteilen wie der Seminarift, der nur Artur Drews’ törichte Chriftusmythe und ein paar religionsgefhichtliche Populärfchriften eingelöffelt hat und mun aller Weisheit Meifter ijt.) Ebenfo, wer über griechifche und römische Kultur unterrichtet, muß Griechisch und Lateinisch tónnen. Wer über mittelalterliche Kultur lehrt, muß das germanifche Latein können, das bon einem ungeredtfertigten Sumanijtendiintel alg Küchenlatein oder Mönchslatein verächtlic) gemacht worden ift. Wer uns in chinefifche Kultur und Weisheit einführen will, muß wohl oder übel Ehinefifch fonnen, fonft foll er fich zum Teufel fcheren, oder zum Feuilleton des Berliner Tageblattes. Wer uns in die Welt Doftojervstis einführen will, ohne fic) die Mühe zu machen, ihn zuvor im Urtert zu lefen, dem foll man auf den borlauten Mund flopfen. Wir wollen uns die deutfche Griindlidfeit nicht von den pädagogischen Schnellbädern als itberfliiffig oder gar fomifch in die Ajchenputtel- ede treiben laffen. Auch im Bolfsbildungsiwefen nicht. Die deutiche Republik würde weniger armfelig erjcheinen, wenn fie nicht fo glatt auf Leute Hineinfiele, deren Mundwerk nur deshalb fo leicht geht, weil fie nicht genug gelernt haben. So fommt eins zum andern.

Vierten3: „Aber”, antwortet mir regelmäßig der gebildete Deutfche von heute, „wenn ich Doftojersti und Rabindranath und Kong-fustje nicht in Meberfegung lejen fol, dann fann ich fie überhaupt nicht lefen, weil ich feine Zeit habe, rufjifch, benga- liſch und chinefifd zu lernen!” Ga, Herr Meier, dann lefen Sie fie eben nicht. Es fteht durchaus nicht felt, dak ein Menfch, der alle neuften Titerarifhen Moden mit Hilfe von Ueberfegungen mitmadt, für die Menfchheit wertvoller Ut als einer, der Stat fpielt. Nach meinen perfönlichen Erfahrungen arbeitet die [ebtere Sorte fehr oft gründlicher, zuverläffiger, gefcheiter als die erftere. Wer irgendwie fpielen

*) Bol. Fichtes vierte Rede an die deutjche Nation. 241

fann, ift gefammelter, fefter und tlarer in feinem Wefen alg einer, der fid) durd) literarifche Modenjägerei nervös madt. Es ijt nicht immer fo, aber fehr oft. Ueber die Narrheit unfres Zeitalters, die man „Bildung“ nennt, werden künftige Zeiten nod) mehr lachen als wir über den Nationalismus, der für alle Dinge einen ,,ver- nünftigen Swed” ausfindig madte. Es made mir doch endlich einer begreiflich, warum man Doftojewsti lefen „muß“. Um der Lebensmwerte willen? Gewiß, aber dann lies ihn ruſſſiſſch und nicht in Meberfegung, denn eben die Lebensiverte find unmittelbar und daher durch den Urtext bedingt. Das fannjt du aus Zeitmangel nicht? Ja, guter Freund, haft du denn fchon Luther und Goethe ausgelefen? Sennft du Seller, Stifter, Raabe, Stleift, Hebbel ach, und es gibt auch deutfche Schrift- fteller, die mit uns leben, die haben auch etwas Gutes zu fagen. Warum einen echten alten Rheinwein verſchmähen und ftatt deffen einen nachgemachten Sprit-Cognaf trinfen, nur weil für diefen gerade an den Anfchlagjäulen Reklame gemacht wird? 3d glaube gerne, dak Doſtojewski viel zu geben hat, aber nur er, nicht ein We be r= feger. Wilhelm Raabe aber gibt mir fic) er unvergleichlich viel mehr als eine Ueberfepung Doftojewstis, weil ich Raabe im Urtext lefe. Wer das beitreitet, der ift durch den modernen Bildungsbegriff fo verdorben, daß er fein Gefühl hat für das Wefentliche; er weiß überhaupt nicht mehr, was Sunft it.

Damit wiirde die große Menge der Lefer auf das deutfche Schrifttum beſchränkt. Welch ein Segen ware das für unfre Kultur! Nun würde die Berfahrenheit und Unficherheit aufhören, wir würden zu uns felbft fommen. Wir wiirden endlich rein entfalten, was in uns tft. Aber weil wir fauftifcher Art find, werden wir gleichwohl nie aufhören, die Welt in uns Hineingufdlingen. Sit es denkbar, dak das deutjche Volk auf die Flias, auf die göttliche Komödie, auf Don Duichote, auf Hamlet je ver- zichten kann? Wahrlich nicht! Aberes müffen nihtalle alles! Ein Bolt ift ein Organismus mit Arbeitsteilung der Organe. Etliche werden griechiich, etliche ruſſiſch, etliche jpanifch, italifch, englifch, altnordifch fernen. Sie werden die Kraft des Fremden in jd) aufnehmen, um teils alg Lehrer die Volksgenoffen über die fremde Welt zu belehren, teils als Künftler das Fremde in deutiches Leben umzu- {chaffen. So werden wir groß fein aus eigner Kraft und reich in der Aneignung des Fremden. Aber es fällt endlich ab der bettelhafte Gligerglanz einer Bildung, die nichts weiter jchafft, alg daß Betriebmacher fic ein Anfehn gewinnen und macher Geſchäfte machen.

Literariſches Urteil.

FJ" wir es bisher noch nicht gewußt haben follten, fo ift es uns jet durch ungeheures Leid und Web eingehammert, dak die öffentliche Meinung eine furchtbare Macht fein fann, daß fie nicht immer ein Gewächs ift, das auf dem Boden der Menfchheit angeflogen wild und frei wuchert, fondern oft genug von heimlichen Händen wie eine Teufelspflanze ausgefat wird, um alles natürliche Wachstum zu er- ftiden und das ganze Feld zu verderben. Wir haben es im Weltkrieg erfahren, Die geſchickte Propaganda unferer Feinde, von Jabrzebnten her betrieben, hat uns bie Voltermafjen auf den Hals gehest, fie hat zulegt in ungeheurer Anftrengung es fertig gebracht, die Verbände unferes eignen Voltszufammenhangs zu locern: wir fönnen fagen, durch die öffentliche Meinung find mir befiegt. Wenn die Feinde dem eigent- lichen Sieger in diefen Kriege ein Denkmal ſetzen wollen, jo gebührt dieſes nicht einem Feldheren, nicht einmal einem Staatsmann, fo fehr diefe auch mit der offent- lichen Meinung zu arbeiten verftanden haben, alle Kränze müßten fie dem Lord Morthcliffe zu Füßen legen, dem geriffenen Macher der Volfsitimmungen.

Wir follten aus unferm Unglüd lernen; und wenn wir darauf verzichten vollen, felbjt die Anfichten der Menfchen nad) unfern Bedürfniffen und Wünfchen zu formen, fo follten wir doch dem unbeimliden Saemann fein Handwerk legen und die Saat ausraufen, die er ausftreut. Diefe Arbeit haben wir während des Krieges zu unferm

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Schaden unterlafjen, fo hat uns die furchtbare Ernte überrafht. Es muß fid in Zus funft zeigen, ob wir duch Schaden wirklich tlug geworden find.

Was uns auf politifdem Gebiet zum Verhängnis geworden üt, das droht uns nicht minder auf geiftigem. Auch hier gibt es eine öffentliche Meinung, die nicht immer frei gemachjen, fondern oft nicht weniger fünftlich gejchaffen ift. Auch hier gibt es Súeleute, die unentivegt ihre Saat ausftreuen, Macher der geläufigen Anſchauungen, heimliche Falfder der Volksanſichten. So erfteht uns auch Hier die Aufgabe, nad) dem Rechten zu fehen und auf der Hut zu fein. Und die Gefahr ift nod größer als jene, der wir im Sriege unterlegen find, denn handelte es fic) damals um unfern Staat und unjere Wirtfchaft, fo geht es jest um uns felbjt, um unfer Inner— {tes und Eigenjtes. Wenn wir dies verlieren, fünnen mir jenes aud) nicht wieder aufbauen.

Mir machen nicht den geringiten Sprung, wenn wir in diefem Zufammenhang von unferer Literatur jprechen. Denn gerade auf ihrem Gebiete gibt es eine Mache, eine Falſchmünzerei, ein Schiebertum, das alle Werte durcheinander würfelt und falſche Urteile zu verbreiten fucht, wie Northeliffe englifche Lügen. Hier befteht ein Klüngelweſen, eine gegenfeitige Hinaufloberei, ein Totjchiweigen des Guten, eine Be— einflufjung der Anfichten, größer und zufammenhängender als die meiften denken, und in den Wirfungen defto ſchlimmer, als die Literatur den Volksgeijt aufs ſtärkſte bez einflußt.

Auch auf diefem Gebiete müfjen aljo Abwehrmaßregeln getroffen werden. Ein Gegenfeldzug muß unternommen werden, der alles Schiefe zurechtrüdt, das Verfehrte bon feiner Höhe herunterholt und das Vernachlaffigte ans Licht zieht. Noch ganz anders alg es bisher gejchieht, follte die Preffe, die für unfer deutjches VoltStum támpft, auch nach diefer Seite hin den Kampf führen. Daran fehlt e3 aber zum Teil nod), wenn auch gute Arbeit geleiftet wird. Gedenfalls ift hier fo viel zu tun, daß die Arbeitskräfte noch viel zahlreicher herangezogen werden müffen.

Hier ift aber der Punkt, wo auch der einzelne Lefer wieder zur Fritifchen Selbjt- biilfe greifen muß. Jeder follte für fich feinen Mann stehen, auf Ordnung in feinem geiftigen Hausweſen halten und alle fremden Einflüffe zurückweiſen. Was uns Bei- tungen und Zeitfchriften, mas der allgemeine Beifall uns auffchwägen will, wir wollen es felber prüfen und nad) eigner Einjicht feinen Wert beftimmen.

Zu diefem Zived ift es nötig, dak man fich exnftlid) um einige literarifche Bildung bemüht. Das ift fein Lurus des Gefühlslebens, vielmehr ein notivendiges Werkzeug, ung geiftig rein zu halten und uns gegen das Urteil anderer felbftandig zu machen. Dazu gehört aud) feine außerovdentliche Belefenheit, nicht der Bang, fid) in der Hehe Hinter dem Allerneueften her „auf dem Laufenden zu halten“. Literarifche Bildung ift überhaupt nicht fo fehr ein Befib als die Fahigkeit, vihtig zu ur— teilen. Sie gründet fich auf eine Anlage des Geiftes, die bei jeden Menfchen mehr oder weniger vorhanden ift. Es fommt nur darauf an, fie mit Bewußtſein auszu- bilden.

Angefichts der Notlage, in der tpir uns bei dem gegenwärtigen Betrieb der öffent- lichen Rritit befinden, in dem bervufte und unbewußte Diener und Vortámpfer der literariſchen Mache den Ton angeben, wird es nottvendig fein, dak wir uns ernftlich um die Ausbildung unferes eignen Urteils bemühen. Wie man das am beiten ans fängt, dazu fonnen in einem kurzen Wuffak nur einige Fingerzcige gegeben werden. Am beiten wird es fein, wenn man dabei auf die einzelnen Gattungen der Poefie, Lyrif, Epos und Drama der Reihe nach eingeht.

Eine allgemeine Bemerkung werde vorangejhidt: Wir fuchen in der Literatur feine Künftlichfeit, fondern Kunft, feine Mache, fondern Leben, nichts Ausgeflügeltes, fondern Gemwachjenes. Wir fuchen ferner feine Senfationen, fondern das Edel- Menschliche, keine Aufpeitfchung der Triebe, fondern Anregungen oder auc) Erregun- gen des Geiftes, wir laufen nicht dem Zeitgeift nach, fondern find dankbar, wenn tir auf den Sinn des Dajein3 gewieſen werden. Schliehlich wollen wir nicht vergeffen,

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daß e3 bei der Kunft immer auf den Punkt anfommt, wo Form und Inhalt fd durchdringen, bloße Rüdficht auf die Form gibt ein leeres Aejthetentum oder faltes Virtuofentum, fieht man nur auf den Inhalt, dann verfällt man der Tendenz im ſchlechten Sinne, die auch dann von Uebel ijt, wenn fie Gutes bezwedt. (ES ijt eine alte Regel, daß im Gegenfaß zur Ethik in der Kunft der gute Wille nicht genügt.

Wenden wir uns zur Lyrif. Das deutfche Volk ijt während des Weltkrieges mit jehr vielen Gedichten überjchüttet worden, aber wenige find haften geblieben. Be- tradten wir furg die ganze Flut und darunter die befannteften, dann feben wir viel- leicht, worauf wir zu merfen haben.

Bon denen, die gut gemeint waren, aber von vornherein unzulänglich blieben, abgejehen, glitten viele diefer Gedichte ab, weil fie zu bewußt, zu gefünjtelt, zu wenig elementar waren. Das ift überhaupt eine Klippe, an der fo manches Gedicht fcheitert: für das ftarte Gefühl foll der treffende, traftigite, lebendigjte Ausdrud da fein. Beim echten Dichter, aber nur in der rechten Stunde, ftellt fich diefer Ausdrud wie von felbft ein, er wird gleichfam aus innerer Anfchauung geboren, die Empfindung, die nad) außen drängt, wird ganz eingefangen und teilt fic) dem nachfühlenden Lefer ganz mit; finnliches Bild, Klang und Rhythmus dienen mit dazu, die Empfindung dem Lefer oder Hörer zu übermitteln. Dann fchießt im giinftigiten Fall ein Iyrifcher Kriftall an, aber wenig zahlreich find die Dichter, deren Geftaltungstraft dazu gelangt. Von den älteren fünnen wir wohl nur Goethe, Mörike und die Drofte nennen, aber auch bei diefen fommen nur wenige Fälle von einem foldhen Grade der Verdichtung zustande. Ein Hohes Ziel ift fchon erreicht, wenn der Ausdrud folche Anjchauungs- fraft erlangt, dak er die Empfindung des Aufnehmenden unmittelbar erwedt und lebendig erhält. Dazu muß der Ausdrud frisch, unmittelbar und neu fein. Bei jehr vielen Striegsgedichten war er aber gefucht, gejchraubt und auf Stelzen erhoben, er war geijtreich, ftatt anfchanungsgefättigt, und fo erregten dieje Gedichte bei einfachen Leuten mehr Kopffchiitteln als Begeifterung und Ergriffenheit.

Zu den befanntejten Liedern des Weltkrieges gehören da3 Gedicht von Hugo Zudermann „Drüben am Wiefenvand hoden zwei Dohlen“, der Hafgefang von Ernſt Liffauer und von Heinrich Lerih das Lied mit dem Kehrreim „Deutjchland muß leben, und wenn wir fterben müffen“. Das Gedicht von Zudermann hat etwas, das fehr eingeht, etivas Gefälliges und Einnehmendes; Bild, Stimmung und Gedanke faffen aufs befte in einander. Aber ihm fehlt die Unmittelbarfeit und das Zwin— gende, e3 hat zu viel Kultur und Feinheit, man hort Anflánge heraus an Friiheres, etwa an Mörike und an das Volkslied. Wenn man diefe zum Vergleich heranzieht, merft man, wie viel eindringlicher fie find, dann erfcheint dies Gedicht wie ein ge- ſchickter Wurf, aber nicht a[8 ein notwendiges Ereignis, und in der Sunft hat nur das Wert, was einmalig und notwendig ift. Alles andere fann ganz anfprechend fein, aber e3 hat feine innere Notwendigkeit. Auch bei Liffauers Gedicht hat man Ziveifel, ob es echt ift, ob e8 wirklich notwendiger Ausdrud eines großen Haffes ift, der den Dichter befeelt, oder mur eine geſchickte Burechtmachung für die augenblidliche Stim- mung in Deutfdland, die übrigens von großem, ich möchte jagen, ethifdhem Haß weit entfernt blieb. Wie ein reiner Slang aus der Tiefe der Seele wirkt dagegen bas Gedicht pon Lerfch, und zugleich erfcheint diefer Klang neu und eigenartig bei aller unendlichen Schlichtheit und Einfachheit. Echte Lyrik ijt immer fchlicht und einfach; gegen Gedichte, die allzu geiftreich find, kann man von vornherein mißtrauijch fein. Es gehört bereits zur zweiten, unteren Stufe der Dichtkunft, wenn ein Gedicht durch Pointen, durch überraschende Gedanken und Wendungen, durch Verblüffungen irgend- welcher Art Eindrud maden will. Biel alles echten Dichtens ift das Menjchliche, der tiefere Gehalt des Lebens, zur Anfchauung verdichtet.

Das fuchen wir aud im Epijden, bei der Erzählung, der Novelle, dem Roman. Von diejer Gattung der Poefie wird am meijten verbraucht und auch gejchaffen, aber ein ganz Teil dejfen, was hier gefchrieben und gelefen wird, hat mit Poejie nichts mehr zu tun. Das Meifte vielleicht wird zum Zeitvertreib gelefen, und wenn

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es für diejen Swed auch bewußt geiyafjen wird, dann liegt es außerhalb des Gebietes aller Didttunjt. Darum ift das eine bedeutfame Frage, die man fic) beim Lejen irgend eines Erzähleriverfes vorlegen mag: aus welchem Trieb und zu welchen Zweck hat der Verfafjer fein Buch gefchrieben? Hat er fein Werk verfaßt, um Lefe- jtoff zu jchaffen, arbeitsmäßig mie ein Steintlopjer, oder hat er Freude an feiner Phantafietätigkeit gehabt, Freude an jeinen Gejtalten, die er jchuf, Freude am Aus- jtrómen feines Innern in die entjtehende Form hinein? Oder fpürt man es ihm gar an, daß cr einem inneren Zwang gebordte, alg ex jchuf, daß er nicht anders fonnte, daß das Gejtaltete mit Gewalt aus feiner Seele heraus mußte? Man wird dieje Fragen nicht immer mit Beſtimmtheit beantworten fonnen. Aber wie man im- jtande ijt, aus dem ganzen Wejen eines Menfchen heraus, der vor einem fteht, ge- fühlsmäßig gu entnehnten, welcher Art und welchen Wertes er ift, ob aufrichtig oder unecht, jo fann man and) aus dem Inbegriff aller Eindrüde, die man von einem Dichter empfängt, mit einiger Sicherheit beurteilen, ob er alg Dichter echt ift oder nicht. Darin muß man jd etivas üben, und wie man fic) ¿ur Menfdenbeurteilung erzieht, jo auch in fic) die Fähigkeit ausbilden, einen Dichter nach feinem inneren Bert abzufchägen. Da Romane und Erzählungen die Formen der Poefie find, nut denen die Menfchen am meijten in Berührung zu fonımen pflegen, läßt jich diefe Urteilsbildung am leichtejten hier erreichen.

Dabei find diejenigen Erzahlungen am ſchwerſten zu beurteilen, bei denen offen- jichilich eine große Sunjt angewandt ijt in Zeichnung der Charaktere, in der Schil- derung der Ercigniffe, im Aufbau des ganzen Werfes. Das alles bejticht und erwedt deu Eindrud von etwas Hervorragendem und Bedeutenden. Es ift demgegenüber jtets zu beachten, daß die Form in der Stunft feinestvegs allein das Ausſchlaggebende tft, fondern bal Form und Gebait fic) entfprechen miiffen. Ferner ift zu berittiid)- tigen, Daß Heute die äußere Technik in der ſprachlichen Kunft dermaßen vorgejchritten it, daß oft Leiftungen zu Tage treten, die in der Form hervorragend find. Meiſtens wird man finden, Dak bei den Werken bon großer Virtuofität der menfchliche Gehalt gering und mager ift. Biel gelefen wurde 3. B. vor wenigen Jahren Kellermanns Roman „Der Tunnel“, em Werk, das in der Spannung, die die Handlung bietet, in dem geſchickten Aufbau, in der Bewälligung der Stoffmafjen Großes lerftet, das aber faum den mindeſten Gehalt bietet; dic Menſchen, bie es vorführt, find eigentlich feine Menschen, jondern nur Puppen und Warivnetten. Die meiften unferes gepricfenen Nomanfchreiber, und zwar gerade die, die fic) am mobernjten zeigen und die nach dem Urteil ihrer Anhänger und kritijchen Bahnbreder an der Spike der Literatur mar- ſchieren, verblüffen durch allerhand Virtuoſenkunſtſtücke, aber find merkwürdig dürftig an innerem Gehalt. Außergewöhnliche Eveignijfe und Charaktere, Sonderbarteiten, ja Perverfitáten werden mit einem Aufwand von Geift, mit einem ungewöhnlichen Gefchict der Aufmachung, mit blendender Gewandtheit der Form dem deutfchen Volk als Höchftleiftungen der Literatur aufgeredet, aber wenn man Hd den Schaden bei Licht befieht, wenn man befonnen nachprüft, was man denn auger einem Kunſtſtück der Technik wirklich gewonnen Dat, dann bleibt nur etwas Abſtoßendes oder ein Nichts an menſchlichem Gehalt nach. Wie wertvoll erſcheint dagegen ein ſchlichter Roman wie „Die Nann“ von Anna Croiſſant-Ruſt, in dem ein Menſchenſchichſal an⸗ ſprechend dargeſtellt wird. Wie verſchwindet all dieſer Wuſt gegen ein Werk wie „Maren“ von Fehrs, das allerdings plattdeutſch geſchrieben iſt, aber in den meiſten Literaturgeſchichten überhaupt nicht erwähnt wird, trotzdem es nach dem Urteil Sach— verſtändiger nur wenige Romane aus den letzten Jahrzehnten gibt, die ſich ihm an die Seite ſtellen können. Was wir von der Erzählung erwarten dürfen, das iſt die Darbietung eines Stückes Menſchenleben, das aus der Seele eines Dichters geformt iſt. Fingerfertigkeit kann uns nicht genügen.

Ein Stück Menſchenleben, aus der menſchlichen Fülle einer Dichterſeele darge— ſtellt, das iſt es, was ung auch das Drama bieten ſoll. Jn dem hellen Licht der Bühne zeigt es fich am leichteften, ob die Figuren, die dort auftreten, im runde

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Marionetten oder wirklihe Menjchen find. Wir wollen hier nicht von der dichte- tijden Unzulänglichfeit fprechen, die fic) vergeblich bemüht, Menſchen zu fchaffen, wir achten wieder auf die Hochgepriefenen Literaturwerfe, welche den Gipfel der Ent- widlung darftellen follen, Was leiften aber diefe Sternheim, Saifer und wie fie alle heißen, an wirklicher Menfchengeitaltung? Faft gar nichts. Ihre Geftalten find wie aus Blech gejchmiedet, fie rafjeln aneinander, dak e3 einen ungeheuren Lärm gibt, aber feine Menſchenſtimme läßt fic) vernehmen, oder ihre Menjchen find jeelifch derartig verzerrt, daß fie wie Ausgeburten eines franfen Gebhirns anmuten. Dabei joll gerne in Rechnung gejtellt werden, daß die Kunſtrichtung des Expreffionismus mit ihrem bewußten Verzicht auf pfychologifche Entwidlung der Unfähigkeit zu leben- diger Menfchengeftaltung ungeheuren Vorſchub leijtet. Trogdem bleibt zu Weniges und zu Dürftiges an wirklicher Menjchendarftellung übrig.

Eine Gefahr für den Dramatiker bedeutet aud) bie Fdee, der fein jeweiliges Wert Ausdrud geben foll. Fede große Dichtung geftaltet legten Endes eine dee, aber bieje foll aus dem Ganzen wie von felbjt herauswachſen. Wenn aber für die Idee bewußt Fabel und Perfonen gefucht werden, dann übt fie einen verhangnis- vollen Zwang aus und erftidt das Leben. Nur dem größten Dichter gelingt es, Werte zu jchaffen, aus deren lebensvoller Geftaltung die Jdee hervorfchimmert, mie die Sterne aus dem Nordlicht. Gerhard Hauptmann ijt das 3. B. nicht gelungen. Die beiten jeiner Dramen feinen mir die zu fein, in denen er ein Charafterbild zeichnet. Wo er aber Ydeen darftellen will, verfagt er, über einzelne Schönheiten fommt er dann nicht hinaus. Noch weniger ift es den meijten feiner Nachfolger gegeben, ber leitenden Gedanken ihrer Dramen mit Leben zu umbiillen.

Die Kunſt fann nichts anderes wollen als den Menfchen. Menfchlicher Gehalt tft daher die Forderung, die wir an fie ftellen, auch in der Literatur, menfchlicher, feelifcher Gehalt in der Darftellung, menfchliher Gehalt aud) in dem Dichter, aus deffen Seele das Dargeftellte fließt. Alles andere, was uns fonft etwa unter dem Namen der Sunjt aufgedrängt werden foll, müffen wir ablehnen, und wenn es mit nod) fo großem Gefchrei ung angepriefen wird. Dabei wollen wir freilich nicht ver- Geffen, daß mir an jedes Neue mit Aufmerffamfeit und innerer Aufnahmebereitichaft berantreten müffen, und wohl beachten, dak ungewohnte Form am Neuen uns nicht ftören fol. Aber wir laffen uns nur dort gewinnen, wo wir den Menfchen und die Seele finden, und ganz Hingeben fonnen mir ung nur, wo wir es zu unferer tiefften Freude jpüren, dak Menfd und Seele aus der fchöpferifchen Fülle unferes Volkstums geboren find. Chriftian Boed.

Siinftler, Sunft und Publifum.

ie geiftige Welt des Künjtlers und die des Nicht-Künſtlers bilden zwei Lebens-

fornten, die fid) im Grunde ausfchliegen. Dort die äfthetifche, in gewiffen Sinne „interefjelofe” Anfchauung der Dinge, hier die auf prattifde Ziele gerichtete Arbeit, dort ein Schaffen aus innerem Drange, die Selbftdarftellung des Geijtes, hier eine auf den Erfolg gehende unperfönliche, rein fachlich beftimmte Tätigkeit, dort die Ent- faltung des Lebens, hier wefentlid) deffen Erhaltung, dort (nad) Sombarts Ausdrud) der Erotifer (im weiteſten Sinne des Wortes), hier ber , Bourgeois”. Aber diefe Lebensformen ftehen fid) in der Wirklichfeit doch nicht in folder Ausfchließlichkeit gegenüber, dak ihre Vermittlung, ja ihre gegenfeitige Durddringung unmöglich wäre. Der ſcharfe Gegenfaß, in dem fie gegenwärtig zueinander ftehen, beruht vielmehr in der Art des fünftlerifchen Schaffens wie auch in dem Verhalten des Publitums und legthin in den fozialen Berhältniffen unferer Tage.

Auf Seiten der Kunjt liegt hier die Hauptfhuld an einer eng fahmäßigen, „artiſtiſchen“ Richtung, einer einfeitig formal-technifchen Bewertung der Kunſtwerke, die im Grunde ein Ausflug intellektualiftifcher Geiftesverfaffung ift; denn alles Techniſche läßt fid) verjtandesmäßig begreifen. Demgegenüber ftellt das heutige

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Publitum im Durchſchnitt eine Maffe dar, die fic) trog dem unbejtimmten Sehnen nad) Erhöhung des Lebens von praftifch-materialiftifchen Trieben und Werthaltungen nur ſchwer loßreißen kann. ES jchäßt daher Kunſtwerke nad) ganz egoiftifden Nütz- lichfeitsrücfichten und nad) dem rein Stofflichen des Gegenftandes ein. Dak der Künftler felbjt das Formale und aud) das Technische gegenüber dem Inhalt, der ihm irgendivie gegeben ift, befonders ftart betont, ift begreiflich. „Man ijt um den Preis Künftler, dag man das, mas alle Nichtkünftler Form nennen, als Yubhalt, als die Sache felbjt empfindet.” (Nietzſche) Aber andrerfeits ift von dem Kunjtgeniefenden, der mit Reht Inhalt und Form als Einheit auffaßt, fchlechterdings nicht zu verlangen, daß er die , Made” allein bewundert, daß er die gut gemalte Ritbe für ebenjo wertvoll hält wie die gut gemalte Madonna. Gewiß beginnt tieferes Ver- ftandnis der Sunft erft da, wo die Betrachtung über das bloß Stoffliche fich der Form der Darftellung zumendet und das Kunſtwerk weiterhin als Ausdrud einer Perjönlichfeit erfaßt. Gerade das aber wird dem heutigen Publitum durch die Wirrnis und Zerfahrenheit unferer Sunjt fehr erſchwert. Man hat darauf hin- getviefen, bab in der Malerei ein Formverftandnis wohl zu Zeiten möglich mar, als einige wenige Stoffe wie die Madonna und das Heiligenbild in immer neuer Formung wiederholt wurden, wodurd die Aufmerfjamteit von felbft von dem ganz befannten Gegenjtand auf die jeweilige Geftaltung gelenkt wurde. Statt folder Beihränfung auf einen engen Stofffreis haben wir heute eine fchier unerjchöpfliche Fülle von Gegenftánden. Zwar tritt, zumal in der Malerei, die verjchiedene technifche und formale Behandlung, fei fie imprefjioniftifch, expreffioniftifch, fubiftifch oder dal, dem Befchauer aufdringlich genug entgegen; aber das gärende Durcheinander der Stile wirkt eher verwirrend als kunfterziehlich.

Diefe Vielheit der Richtungen ift bedingt durch den Uebergangsdharafter der heutigen Kunft, in der ein junges Gefchlecht fic) emporringt. Ueberall finden mir ftatt reifer Sicherheit taftende oder aud) fühne Verfuche, bei denen das Ausſichtsvolle don dem Mißglüdten nur ſchwer zu fcheiden ijt. Am meiften geflart find wohl die Bejtrebungen in Sunftgewerbe und Baufunft. Biel unbejtimmter erfdeinen die Biele, denen die Malerei zufteuert. Viele Gemälde der neuejten Stilrichtungen find nur zu verftehen als unbefriedigende Anſätze, gegenüber der loderen Haltlofigteit der legten Impreſſioniſten einen fefteren Aufbau des Bildes zu gewinnen. Ebenſo ift das Zurüdgreifen der Plajtifer auf die altorientalifche Formenfprache nur zu vecht- fertigen als Mittel, zu einem eigenen fraftvollen Stile zu gelangen. Aber man fann von dem durchfchnittlihen Betrachter nicht verlangen, daß er bei Werfen, bon denen er lebendige fünftlerifche Wirkung erwartet, fic) mit dem bloßen Be x= {preden auf zufünftige Genüffe begnügt. Tatſächlich bieten viele Sunft- ausitellungen jest mehr Verfprechen als Erfüllung. Auch in der Poefie laufen die verjchiedenften Richtungen durcheinander, ohne bab fich ein beherrfchender Zug herausgeloft hatte. Wie ſchwer ift es jchon, die Perfönlichfeit Gerhart Hauptmanns, in der fich alle Stilarten vom Naturalismus bis zum Symbolismus freuzen, als geichloffene Einheit zu erfaffen! Endlich hat e3 die Muſik noch nicht zu einem neuen Stile bringen fonnen. Die höchſte Steigerung ordeftraler Wirkungen fonnte für turze Beit beraufchen; aber die Sehnſucht nach einfacher, tiefer Melodif hat bisher feine Befriedigung gefunden.

Gerade diefer Drang, den neuen feelifhen Bedürfniffen auch künſtleriſchen Ausdrud zu verleihen, hat dann vielfach, da der fchöpferifche Duell nicht von felbjt fprudelte, gum Nachdenken über neue Darftellungsmöglichkeiten geführt und aud) die Kunft dem alldeherrfchenden Einfluffe der Wiffenfchaft ausgeliefert. So fuht der Impreffionismus zum Teil auf der Theorie des Sehens und der Farben, die Mufit berfucht es mit neuen Tonleitern und Halbtonen, und auch die Dichtung, insbefondere die Lyrif, gelangt zu ihrer neuen Form durch theoretifche Ueberlegungen, wie denn die Dichter des Charon-Kreifes bon den Grundfagen der Eigenbeivegung der Vor- ftellung, des Rhythmus und ber Phonetif ausgehen, um einen freieren lyriſchen

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Sprachftil zu gewinnen. Aber man wird auch vom äfthetifchen und rein tiinft- lerifchen Standpunfte aus zugeben müſſen, daß folche theoretische Begründung für die Bewertung des Kunſtwerks gar nicht in Betracht fommt, dak das Kunſtwerk ganz für fid) ivirten muß. Trog aller Abneigung der Künſtler gegen Aejthetif und wiffenfchaftliche Kunftlehre find Heute viele unter ihnen bon eben diefer Aefthetik und damit von gedanflichen Erwägungen ftárter beeinflußt, als ihnen felbft bewußt ijt. Natürlich hat der Künſtler das Recht, die Ergebnifje der Wiffenfdaft aud für die Kunjt zu verwerten; aber dem Sunftliebenden ift es nicht zu verdenfen, wenn er ftatt extliigelter Mujterbeifpiele für irgend eine Theorie eindrudsvolle Kunſtwerke verlangt und fic) dem Anfpruche widerſetzt, allein mit dem Verjtande arbeiten zu müffen, wo feine Phantafie und fein Gemüt Nahrung fudt.

Freilich ift damit die gleichgültige, träge und berjtindnisioje Haltung des Publifums gegenüber den Erjdeinungen der gegenwärtigen Sunft keineswegs ent- Thuldigt. Man kommt meift über einen jelbftjüchtig beſchränkten Standpunkt nicht hinaus und gibt fid) gar nicht die Miibe, in den Ginn des Werkes, in die Abfichten und Ziele des Künstlers einzudringen, um auch bent zunächit Fremdartigen gerecht zu werden. Kunſt aber ift nach Niegfches Wort „Einkehr in fremde Individualitát”. Statt des edleren Genuffes, der zugleich geiftige Mitarbeit, ein Schwingen der eigenen Phantafie erfordert, will man nur das fchlaffe, mühelofe Genießen. Darauf beruht dann das unerfreuliche Verhalten des Publitums, das Kritiffucht und Kritiflofigfeit feltfam miteinander vereinigt. Wie fann man bei Leuten, die den ganzen Wert ihrer Perfonlicfeit in ihrer amtlichen Stellung oder ihrer wirtichaftlichen Geltung erbliden und die daher gewohnt find, fich in allen Dingen für maßgebend zu halten wie kann man bei ihnen Befcheidenheit im Denfen und Urteilen oder gar Ehrfurcht vor dem Werke irgend eines „obſturen“ Künſtlers erwarten!

Der Mangel des Kunjtverftändnifjes in den breiteren Bevolterungstreijen fann freilich nicht Wunder nehmen. Denn bis in die jüngfte Zeit diente die gefamte öffentliche und private Kunftpflege mehr dazu, das Publikum zu ver bilden als zu bilden. Wer, wie die Heutige mittlere Generation, feine Jugend meijt in einer Umgebung von gefchmadlojer und progenhafter Scheinfultur, zwijchen überladenen Straßenfronten und theatralifchen Dentmálern, swifden Möbeln mit Mufchelauffat und fonftigen Hausgreueln verbracht hat ie follte der Sicherheit in Gejchmad3- urteilen befigen? Jener Tiefitand der Kunft aber wirkt immer nod) nad und beeinflußt die Entwidlung aud der heutigen Jugend. Denn gerade was als ein Selbitverftändliches aus der täglichen Ummelt aufgenommen wird, fest fic) mit zäher Kraft im Geifte feft und läßt fic) nur fehwer ausrotten. Die öffentliche und ftaatliche Kunftpflege verjagte vollftándig. Der Beifpiele bedarf e3 nicht, weil jeder fie vor Augen hat, von den Briefmarken an bis zu den Pruntdenfmalern der Reich8haupt- ftadt. Unfere Mufeen arbeiten durch ihre ivarenbausartige Ueberfüllung mit Gemälden, wodurch das eine die Wirkung des anderen ftört, der Entwidlung eines gefunden Kunftfinns entgegen. Auch die Kunftausftellungen leiden meift an einem Zuviel des Gebotenen und find außerdem einfeitig auf Verfaufs- und perfonlide Künftlerintereffen eingerichtet, während der Wille, die Sunjt felbft zur Geltung zu bringen, außer Acht bleibt. Das Publitum fieht zuviel Minderwertiges und Ge- {hmaclofes, um fich auf eine höhere Stufe der Gejhmadsbildung erheben zu fünnen. Und tote erbärmlich ift das, was mufitalifch bei feitlichen Gelegenheiten oder in der Geſellſchaft der fog. gebildeten Kreife geboten wird!

Neberhaupt ijt das Kapitel: Kunft und Gefellfchaft in feiner ganzen Tragweite nod) nicht beachtet. Der gefamte geiftige Bujtand der Geſellſchaft fteht in engiter Beziehung gu dem Kunftleben. Nicht eine hochſtehende Kunjterzeu- gung Shafft [jhon Hohe Quni, fondern erft die lebendige Wechfelbeziehungzwifhenihrundeinerverftändnispvollen, funjtempfanglidhen Geſellſchaft. Und bab wir heute feine große Kunft im objektiven Sinne, fein Kunftleden Haben, liegt vor allem daran, daß

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zwiſchen der Sunftitbung, wie jie durch die Künſtler und ihre Werte dargejtellt wird, und dem Publitum ein unbeilvoller Ziwiefpalt tlafft.

Die Eigenart des heutigen Publifums hängt mit der durchgreifenden Umiwand- lung unferer fozialen Verhältniffe, b. 5. mit der Demoftratifierung des Lebens, zufammen. Während das Publitum früher aus einem eng umgrenzten Kreife von durchweg einheitlich Gebildeten, aljo einer Bildungsariftotratie, beftand oder, fofern es über weitere Streife hinausreidte, fic) der Führung diefer herrfchenden Bildungstajte anvertraute, fegt fic) das heutige Publikum, das auf Bildung Anspruch macht, aus einer großen Maffe von Menſchen und Gruppen gujammen, die ſowohl durch ihren Erziehungsgang wie durch ihren Beruf fic) grundfäglich voneinander unterfcheiden, ja fo wenig Gemeinjames haben, daß fie fich in ihren Anfichten über Leben und Lebensziele faum verftehen. Der frühere Künstler, Mufiter und Dichter fonnte alfo, felbft wenn er eigentlich nur für ein ideales Publifum ſchuf, jich immerhin ein wirkliches Publifum vorjtellen, mit dem er als Beurteiler, Genießer oder Stäufer zu rechnen hatte. Das Mäzenatentum vergangener Zeiten bildet den jchärfiten Ausdrud eines jolhen Verhältnifjes zwijchen Künftler und Kunftempfänger. Wir brauchen nur an die Renaiffance, an Beethovens Beziehung zum Wiener Adel oder an Goethes Weimarer Kreis zu denken, um gefchichtliche Beijpiele zu haben.

Die Verbreitung und Demofratijierung der Bildung hat zweifellos zunächſt zu ihrer Verflacung geführt. So bedauerlich das ift, fo tann doch der Bildungshunger des Volfes inımer nur als eine erfreuliche Tatjache beivertet werden. Biel ſchlimmer ift jedenfalls die gleichzeitig damit entjtandene Zerfahrenheit unferer ganzen Volks— bildung und ihr Mangel an Einheitlichfeit und innerem Zufammenbang. Darunter muß natürlich das Verhältnis des Künstlers zum Publitum leiden. Denn nun fieht fich der Künftler jener unheimlichen, weil unergründlichen Majje gegenüber, deren Gefdmadsurteile unberechenbar, deren Gefühle unguberlaffig find. Am meijten trifft Dies denjenigen, der für das Theater- und Sonzertpublitum fchafft, weil hier die Erfcheinungen der Maſſenpſyche offen Hervortreten: das Ueberwiegen der mittel— mäßigen Geifter über die höher Beanlagten, und die Herridaft des leicht erregbaren Affetts über die befonnene Bewertung. Giinftiger ftebt in diejer Hinficht der bildende Stinjtler; aber da feine Beziehung zum Bublitum nicht mehr perfönlich, fondern durch das Ausjtellung3mejen vermittelt ift, das ja zur Demokratifierung der Sunft mit beigetragen hat, jo ſchwebt er fozufagen ganz in der Luft. Denn das Verhältnis - zwiſchen ihm oder feinen Werken und dem Publitum fommt faum zum Augdrud. So roh auch die Beifallstundgebung im Konzert und Theater ijt, fo gibt fie dod) immerhin einen Maßjtab für die Anficht des Publitums ab und ift, wenn nicht für den Wert des Werkes, fo doch für das Kunjtverjtändnis der Maffe fennzeichnend.

Die fozialen Wandlungen haben aber nod) in anderer Hinficht das Sunftleben unbeilvoll beeinflußt. Jene Unruhe und Unraft der Arbeit, jenes Haften nach Erfolg, das unferem ganzen Leben etwas Fladerndes, Drängendes gegeben hat, fteht im Widerſpruch zu allem künftlerifchen Erleben, fiir das gerade das ruhevolle Verweilen, das von allem Willensdrange abgelöfte Sichverfenten wefentlich iſt. Vielleicht fann man das Widerfpiel diejes eilenden Lebenstempos in der fchnellen Folge der ver- ſchiedenſten Kunftrichtungen und Kunſtmoden fehen, die wir in den legten Jahr— zehnten durchgemacht haben. Auch die modernen Vermögensverhältniffe und ihr plöglicher Wechſel fpiclen hier eine Rolle. Denn als Bejteller und Käufer übt das MBublitum einen weitgehenden Einfluß auf die Sunjterzeugung aus, am meiften bei der bildenden Kunft und hier wieder bei der Baufunft und dem Runjtgewerbe. Es ift eine Tatfache, daf tiefere fünftlerifche Bildung felten in einer Generation er- worben wird, fondern meift der allmählichen Entwidlung und Steigerung durch Vererbung bedarf. Wenn nun niedere Bevölferungsichichten plöglich zu Wohlhaben- Heit gelangen und fich mit der nötigen Sunft zu umgeben wünfchen, fo werden jie infolge ihres Mangels an Gefhmad und Kunſtverſtändnis einen verderblichen Einfluß bejonders auf die Künftler ausüben, deren Kunft nach Brot geht. Die Zeit nad)

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1870 hat eg uns deutlich genug gezeigt; und heute wäre die Gefahr durch derartige Emportómmlinge vielleicht noch größer, wenn nicht gerade Baufunft und Kunft- gewerbe fich auf einer weithöheren Stufe befänden, als vor fünfzig Jahren. Wie ungefunde Zuftände ferner durch die ploglic) anfchwellenden Vermögen auf dem Sunjtmartt zutage getreten find, ift befannt.

Durch all diefe Verhältniffe ijt der Begriff des „Publikums“ in Künftlerkreifen jehr in Verruf getommen, und man fonnte fich zu der Behauptung verjteigern, bab dasjenige Schön fei, vor dem das Publifum eine inftinttive Abneigung babe. (Goncourt.) Das heikt alfo: vom fünftlerifchen Standpunkt aus wird das Urteil des Publituma für gang wertlos und unfinnig erflärt. Auf der andern Seite herricht in funjtfremden Streifen vielfach die Anficht, daß die Kiinftler, befonders die modernen, verjdrobene, ja minderwertige Menjdjen feien, aus denen eben nichts Befferes werden konnte. Wie ift diefe Kluft zu überbrüden? Die berufenen Vermittler waren die Kritifer und Kunftichriftiteller. Die Srititer indeffen ftellen fic), zumal in den großen Städten mit eigenem Sunftleben, meist auf feiten der Künftler gegen das Bublifum; und auch die übrige Sunjtichriftitellerer genügt ihrer Aufgabe jehr wenig. Soweit fie bon der akademiſchen Kunſtwiſſenſchaft ausgeht, ijt fte meifteng rein philologifch-hiftorifch, bezieht fic) vorwiegend auf die ältere Kunft und fteht dem eigentlichen Sun ftioert gleichgültig oder gar verjtändnislos gegenüber. Werke wie die Wölfflins find vorläufig nod Ausnahmen. Bezeichnend it es, was einer der befannteften afademifchen Kunfthiftorifer, der felbft ein fehr nahes Berhältnis zur Kunft feiner Zeit hatte, namlich Ricard Muther, von fich fagte: er habe das Dottor- examen in der Kunjtgefchichte gemacht, ohne eine Ahnung von Kunjt gehabt zu haben. Die neuejte Kunft aber wird, da fie noch nicht Hiftorifch geworbden ift, von den meijter Hochichullehrern überhaupt nicht in den Bereich ihrer wiffenfdaftliden Arbeit ge: zogen. Sie bleibt daher dem Tagesschriftfteller und dem Feuilletonftil überlaffen. Dabei verleitet ber Mangel fiderer Kenntniffe, die enge Subjeftivität gefühlsmäßig begründeter Urteile und das Bejtreben, das eigene fünftlerifche Erlebnis in Worte zu faffen, allzu leicht dazu, anftelle flarer Begriffe vieldeutige Schlagtvorte und Atelier- ausdrüde zu verivenden, womit aber dem Verftandnis des Publifums gar nicht gedient wird. Man könnte meinen, daß die fchriftftellerifchen Aeuferungen der Künſtler felbft, die in neuerer Zeit fehr in Mode gekommen find, ſolchen Mängeln weniger ausgefebt feien, da der Künſtler doch der berufene Beurteiler feiner Werke fet. Dem ijt aber nur fdeinbar fo. Denn hohe Fünftlerifche Anlage ſchließt durchaus nicht die Fähigkeit einer theoretifchen Einficht in Wefen und Ziele der Kunft ein. Ya eS befteht geradezu ein innerer Gegenſatz zwiſchen der fchaffenden, gejtaltenden Tätigkeit des Künſtlers und der zergliedernden Geijtesrichtung des wiffenfdaftliden Menfchen, ein Gegenfaß, unter dem Stünftler, die zu beidem beanlagt waren, ſchwer gelitten haben, wie etiva Friedrich Hebbel. Vor allem aber fehlt dem Künftler meijt der erzieherifche Sinn, der nötig ift, wenn man zum Volte über eine ihm fremde Gache reden will. Dennod) gehören die meiften Aeußerungen der Kinftler zu den wert- vollften Offenbarungen über Kunſt; aber fie find mehr für den ſchon künſtleriſch Gebildeten al3 für den beftimmt, der erft nach Verftändnis ftrebt. Was diefem nottut, tft ein Schrifttum, das mwifjenfchaftlich-fritifche Fähigkeit mit äfthetifch-fünftlerifcher Bildung vereinigt.

Außerordentlich wichtig für die Kunfterziehung des Volkes ift natürlich die ftaat- life Runftpflege. Man hat bezweifelt, ob der Staat überhaupt imftande jet, von ſich aus die höheren Sulturbeftrebungen zu fördern und wird wohl denen zuftimmen, die das auf Zivang beruhende Verfahren des Staates nur da zulaffen möchten, mo die Geſellſchaft mit ihren Mitteln verfagt. Jedenfalls ift für die ftaatlihe Runjtpflege eine völlige Umfehr ihrer Ziele und Grundfage zu verlangen, wozu auf manchen Gebieten fon erfreuliche Anfänge gemacht find. Die frühere ftaatlide Kunftpflege war, da fie aus privaten Runftliebhabercien der Fürjten hervorging, durch deren perfonlide Geſchmacksrichtung und gum Teil durch dynajtifch-politifche Swede be- 250

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ftimmt. Nun fie des privaten Charafters entfleidet ijt, muß der fozialfulturelle und funfterzieherifche Gefichtspuntt maßgebend werden. Hier wie überhaupt bei aller öffentlichen Stun[tpflege hat die Entjcheidung den Kunſtverſtändigen zuzufallen, feien fie Künftler oder Nichtfünftler, während fie bisher allzu häufig bei Perfonlicdfeiten lag, die zivar den klingenden Nanıen und die hohe Stellung in der Gefellichaft, aber jehr wenig Ahnung von der Sade hatten, über die fie urteilen follten.

Die ethifche und foziale Wirkung der Kunſt ift bisher mehr theoretijch erfannt als praftijd) verwertet worden. Sie beruht in der veredelnden und vereinenden Macht der Kunſt. Genes gehobene Lebensgefühl, das von allen großen Kunſtwerken aus- ittahlt und auf den Empfänglichen übergeht, ijt von hichftem fittlichen Wert, da es aud die Lebensauffaffung des Nichtkünftlers durchdringt und feine Tätigkeit adelt. In fogialer Beziehung aber erweitert die Kunſt das individuelle Leben, indem lie es mit einem allgemeineren verjchmelzen läßt: fie lehrt die Vielen gleichartig zu fühlen und zu denken; fie fann zu einer Zeit, wo zunehmende Arbeitsteilung und bejchränttes Spezialijtentum überall die Menfchen voneinander trennt, zu einem einigenden Bande der Oejellicgajt und des Volkes, ja troß allem auch zum Einigungsbande der Volfer werden. Paul Sidel.

Das Bolf als Lebewefen.

yee räumlich begrenzter Gebiete, die politifch-twirtfchaftlich abgefchloffen find, wohnen Menſchen. Cie ftehen in einem geordneten und deshalb von Einzelnen oder von Gruppen geführten Beziehungsverhältnis zueinander in einem Staate, bilden alfo eine Geſellſchaft. Die Arbeiten all diefer Einzelnen find zu einer Wirtſchaft verflochten, die auf Arbeitsgliederung beruht. Die Geijter all diefer Einzelnen find zur Kultur verflodten, die auf geiftiger Gliederung beruht. Ihr arbeitliches Verhältnis und ihr geiftiges Verhältnis zueinander, beides als Einheit genommen, fic) gegenfeitig durchwirkend, ift der Staat, der auf Macht: verteilung beruht. Diefe ftellt fic) als wirtfchaftliche, politifche und kulturelle Macht dar. Dieje Gefellfchaft ijt eine Nation.

Außerdem gibt es Völker Ein Volf wohnt nicht auf räumlich begrenzten Gebieten. (E3 wohnt vielmehr in vielen Nationen zugleich, zufammenhängend oder ¿exjtreut, bodenfáffig oder beweglih. In der Nation dagegen wohnen alfo Teile verichiedener Völker beieinander und durcheinander. Und dod) ijt Volt im höheren Sinne eine Einheit, al die Nation eS ift. Die Nation ift eine Geſellſchaft, die Organifation hat; das Volt aber ift ein Organismus. Es ift ein Lebe- wejen, und zwar ein geiftiges, ein erlebnis-bauendes Lebervefen mit Selbſtbewußtſein. Es will leben, will fic) aljfo behaupten und will madfen. Es ift in fic geichloffener Dafeinsiwille.

Ein Volk ift deshalb zunächſt pfychologifch zu beiverten: Es Dat fein ab- gejchloffenes Empfindungsleben. (ES reagiert auf Reize, und zwar mit Refleren (unbewußten Taten) ſowohl wie mit Handlungen (beivußten Taten). Es nimmt wahr, ſchaut an, ftellt fic) etwas vor und verknüpft Vorftellungen miteinander. Das Volt bildet fid) deshalb feine ihm eigentümliche Sprache. Es hat feine eigene Phantaſie: es chafft aus feinen Vorftellungen neue Gebilde. ES hat alfo fein eigenes Gefiihlsleben, mit dem das erlebende Bewußtſein auf fein eigenes Erleben reagiert, in Freud und Leid, Erregung und Beruhigung, Spannung und Entipannung. Schließlich hat es feinen befonderen Geftaltungstrieb, beim jugendlichen Volke und bei der Jugendlichteit im Volt den Spieltrieb, beim erwachjenen Volt und bei der Ermwacjenheit im Volt den Arbeitstrieb, Triebe, die in ihm felber liegen, alfo Bejtandteile feines Willens zum Dafein find.

Der fo geartete Lebenswille des einen Volfes wirkt gegen den Lebenswillen der anderen Völker. Denn das Selbſtbewußtſein eines Wefens ift Gegenfagbewußtfein zum andren Wefen.

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Die Volfsteile fampfen im Staate der Nation gegeneinander um Macht und Führung. Sie fampfen deshalb in der Wirtfchaft der Nation um die Macht, b. h. um das Machtmittel, um das Kapital und um die Führung, 5. h. um ihren geiftigen Einfluß auf die Verfnüpfung der Arbeiten aller Einzelnen in der Wirtfchaft. Die Volfsteile fampfen um die Führung in der Kultur, d.h. um die Serrichaft der Geiftesart in der Nation. Und fie fampfen um die Macht in der Kultur, d. 5. um die Obgewalt im Staate, den fie zum Werkzeug und Sachiwalter ihres völfifchen Lebens machen wollen.

Aber auch als Körper ift das Volt ein Lebewefen. Es ift deshalb auch phyfio- logisch zu beiverten: Störperlich fteht ein Lebewesen, mithin auch ein Volk, in unumter- brochenem Stoffivechfel. (ES zieht aus der Umwelt ftandig neue Stoffe an jich heran, neue Bauftoffe, und zieht fie in fich hinein, verarbeitet fie organisch. E3 verfuht zu behalten, was die Art und Weife feines eigenen Lebenswillens zu ftarfen und zu bereichern geeignet ift. Und es fucht abzuftofen, was fich basu nicht eignet. Ebenſo ftößt es ftändig in die Umwelt ab oder gibt gezivungeneriveife her und überläßt das fo Abgegebene der Einbeziehung in andere volfifde Wejen. So daß ſich alfo der phyſiſche Aufbau aud) des Lebetwefens Volf (tie der eines jeden anderen Lebewefens) fortgefegt ändert. So zieht alfo das Volt fremde Volfsteile in fic) ein, afjimiliert fie.

Die fo zufammengefommenen VolfSteile bilden die Nation. Jn der Nation erarbeitet das Volt die aufgenommenen Volfsteile, und zivar in der Wirtjchaft mit Hilfe der Staatsmacht. Urfachen, die in der Wirtſchaft und in der Staatsmacht liegen, [tofen die zur Affimilation dauernd oder nur zeitiweilig ungeeigneten Volfsteile ab oder fie iiberlaffen fie andern Nationen zur Affimilation; denn unter den Völkern tft ein ftándiger Kampf um die beftgecigneten Aufbauftoffe. Das Volk mit dem jtärfiten Lebensiwillen Ut zugleich das oon den anderen zur Affimilation am heißeſten begehrte. Und in derfelben Weife werden auch die abgejtogenen Volfsteile vom anderen Volfe verarbeitet oder abgeftoßen. So beiteht ftändig eine räumlich abgegrenste „Volkwerde— maffe”, die Nation, die fic) durch Fortpflanzung (Abjtammung) und Ernährung (Arbeit) in einer ftandigen Volfwerdung befindet, alfo in einem ftandigen Prozeh forperlider und geiftiger Umbildung Nation als Volkwerdemaſſe ijt das, was fih durch Abftammung verbindet.

Auch die Nation ift alfo pfyco-phyitologifd zu betrachten. Yn dem völfifchen Lebenstwalten innerhalb der Nation zeigt fich, dak fein gefamtes Reaftionsleberr (von der Empfindung an bis zum Erlebnis hin) abhängig ijt von den äußeren, auf die Sinnesorgane des Volkes wirkenden Reizen. Die Wirtfchaft der Nation, in der ich geiftiges und forperlides Walten miteinander verbindet, ift die Werkftatt des pſycho— phyfifden Prozeffes im Leben des Volfes.

Sn der Anreicherung fremder Volfsteile äußert Hd der Lebenswille des Volfes, erhält und geftaltet es fich felbft. Die Abgabe an andere Volfer ift gleichfalls Lebens» wille des Volfes in feiner langen, langen Entiwidlungsgefchichte fogar dann, wenn es gegen feinen Augenblidswillen gefchieht. Denn das Volt will fic) ausbreiten, und e3 muß fic) ausbreiten. Weil es leben will, muß e3 andere Volkwerdemaſſen, andere Nationen alfo, mit feiner Wefensart zu erfüllen trachten, um in den anderen inmterdar werdenden Völkern [eine völfifche Wefensart aufzurichten. Ein jedes Volt muß das andere geiftig und körperlich durchdringen tvollen und fid) hierbei felbft berwabren, alfo zur Führungsmacht im anderen Volke zu werden fuchen, wenn es leben will.

Das Zufammenleben in der Nation verfnüpft die verjchiedenen völfischen Weſen mit ihrem ganzen Reizleben, fo dak eine Gemeinfamteit entiteht, die man Kultur nennt. Jn der Nation herrfcht derjenige Volf8teil, der allein für fich ftarfer als die anderen zufammen ift. Ja, diefe Vorherrfchaft eines Volkes in der Nation ift über- Haupt die Vorausfegung für die Bildung diefer national-pjychiihen Gemeinfamteit, Denn ohne innere Führung, ohne die Vorherrichaft einer bejtimmten Zieljtrebigfeit tt feine geiftige Vereinheitlichung möglich. Erringt im Sampfe um die Macht fein VolfSteil in der Nation die Obgewalt, dann fällt beim entfpvechenden äuferen oder

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inneren Reiz die Nation in ihre völfifchen Glieder auseinander —, und jeder Volfsteil jtrebt zu der Nation, die von feinem Volt geführt wird. Die herangezogenen Volt3- teile fluten zurüd und reißen Teile fremder Volfsteile mit fid), wenn deren Stamm: volf in der von ihnen geführten Nation und auch nad) außen nicht politisch ftart it.

Erringt aber ein Volt in der nationalen Vorjtellungsiwelt, in der nationalen Wirtfhaft und im nationalen Staate die Obgewalt, daun fann eine nationale Bhantafie entíteben. Aus der nationalen Vorjtellungsiwelt fteigen dann neue Gebilde auf, die, zu Jdealen des ftarferen Bolfsteils in der Nation erhoben, in der Borftellungswelt der Nation verankert, zum Lebensinhalt der Nation felber werden fönnen. Die vom führenden Volfstum in der Nation mitgeriffenen volfifden Willens- fräfte, durch Zielgewißheit des führenden Volfes zur Einheit zufammengepreßt, und die dadurch notwendig heraufbeſchworene Schidfalsgemeinjchaft fchaffen nationales Erlebnis. Und hier fchließt fich der Kreis. Das Erlebnis flutet zurüd ins Emp- findungsleben. Fortan ijt die Nation als folde reizempfindlid) und reagiert als gleichempfindende Einheit. Das Volk ift da! Die Kultur wird zum Volfstum, die Wirtſchaft zur Volkswirtfchaft! Der Staat wird Volfsftaat!

Aberdamithortdte Nationnihtaufzufein Das Werden des Volfes ijt ewig. Niemals ift eine völkiſche Entwidlung abgefchloffen, folange das Volf lebt: denn leben heißt: fic) entwideln. Phyſiologiſch betrachtet: Die Anreicherung und Abjtogung fremder Voltsteile hört niemals auf. Die Affimilation, die innerliche Verarbeitung, ijt ftándige Funktion des Lebeweſens, folange es befteht. Pſychologiſch betrochtet: die nationale Verknüpfung völfifcher Wahrnehmungen, Anfchauungen, Vor» ftellungen hört niemals auf. In der Wirtfchaft, im Staate, in der Kultur ift Kampf ewige Notwendigkeit. Wenn fd ein gemeinvölfifcher Geift in der Nation bildet, fo bleiben doch die Gegenfage völfifch verſchiedener Geifter lebendig und ftreben aus- einander. Luft und Unluft, Erregung und Beruhigung, Spannung und Lofung als völfifche Gegenfage wirken ftandig in der Gefühlswelt der Nation. Das völkiſche Bewußtſein ift nichts anderes als das Bewußtſein des völkiſch Gegenfäglichen in fich felber, das fchlichtes Empfinden und ungeheures Erleben fein kann. Das voltifdje Gefühl ſchließt alle Sceligfeit und alle Pein des Menfchen in fic) ein. Niemals wird eine Nation aänzlich Volk fein; Wolf ift immer im Werden.

Tarunı hat jeder Volfsteil in der Nation zwei Strebungen in Hd. Nach zwei Richtungen ftrebt fein Wille auseinander. Sein Wille läßt es zu feinem Volt3- forper zurüdftreben, aus dem es ftamntt, und von dem es genommen wurde. Die feelifche VBolfsgemeinfchaft läßt es auch die körperliche Gemeinfchaft feines Volkes fuchen. So jtrebt e3 ab von der Nation. Sein Wille aber ftrebt auch zur Nation hin, um fie in ihrem Volfwerden zu durchjegen, die eigene völfifche Art in dem werdenden Volke aufzurichten, fein Empfindungsleben, fein Anſchauungs- und Vorjtellungsleben, fein Gefühl, fein Erlebnis mit einem Wort: fein Volkstum zur Führungsmacht in ihm zu erheben. Deshalb ftrebt es in der Wirtfchaft, im Staate und in der Kultur der Nation nad) Macht und nach der Verfügungsgewalt über die Machtmittel. Jn der Nation it ftandiger unumganglicher Kampf um Macht und Führung.

Aber diefer völkifche Kampf ijt nicht mur innerhalb der Nationen, fondern auch in der Menfchheit. Das Streben eines jeden Volkes, andere Völker mit fi) zu erfüllen, ftellt die Nationen gegeneinander. Denn in dem Mage, mie einheitlicher Wille in der Nation vorhanden ift, ijt er in ihr führender völkiſcher Wille, der die anderen völkiſchen Willen mit fich reift und fie führt. Indem Völker gegeneinander in der Menfchheit fampfen, ftehen Hd, Nationen unter Führung der in ihnen herr- chenden Völker gegenüber. So ift jeder völfifche Kampf nad) außen, weil er zugleich vom nationalen Kampf durchwirkt ift, zugleich vom völfifchen Gegenfagitreben in fich felbft erfüllt. Und fo werden dann, das ift die gewaltige Tragif im völfifchen Kampf, in jedem Rampfe der Nation gegen die andere ſtets Völker gegen fich felbft geftellt.

Diefelbe ungeheure Bwiefpaltigteit herrſcht auch im völfifchen Kampf inner- Halb der Nation. Aud) hier zeigt fid), dak die Gegenfäte ineinander verwirkt find.

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Sie jtehen einander entgegen und find doch untrennbar. Einheit ijt ohne Gegen- fäglichteit in fich felber unmöglich. So ijt die Wirtſchaft einer Nation die organifche Verknüpfung der Arbeit aller Einzelnen, ohne Unterſchied ihrer völkiſchen Art. Dieje organifche Verknüpfung aber ift Arbeitsteilung, wodurch die Arbeitenden je nad) ihrem Anteil an der Wirtfchaftsleitung gruppiert werden. Es müfjen Leitende dort fein und auc) Geleitete. Für das Gefantergebnig der Wirtſchaft aber ift entjcheidend, wieweit die Geleiteten auch mitleiten. Denn das menjchliche Schaffen ift unr jo ergiebiger, jteht um fo höher, ſowohl in bezug auf Menge wie auf Wertigfeit, por: nehmlich aber in bezug auf Wertigkeit, je mehr Glieder aus ihrem tätigen Freiheits- willen, alfo jelbftändig im Rahmen der Funttionszuteilung in der Arbeitsgliederung mitarbeiten. Und gwar nad) Maßgabe der perfönlichen Mitleitungstüchtigfeit und nad) ihrer Mitleitungsmacht, beides gegründet auf Mitleitungswichtigfeit. Iſt der Einzelne als Glied feines Voltes, als Leberejen teilhaftig feiner völkiſchen Art, fo ift feine Urbeitstraft notivendig völfifche Kraft, die perfönliche Wertigkeit jeiner Arbeit3- kraft nichts anderes als perfönliche Artung in feinem Volkstum. Und fo ijt aud fein Mitleitungswille völfifcher Lebenswille, und die Macht, die er erringt, die Führungs- geivalt, die er hat, find Werte und Sträfte feines Voltes. Nun ſchichtet aber notivendig die Arbeitsteilung in der Wirtſchaft die Menfchen nad) Leitenden und Geleiteten ohne Unterfchied der völfifchen Zugehörigkeit. Das eben ift ja der forperlich-geiftige Ver- arbeitungsprozeg in der Volfwerdemaffe. Arbeitnehmerfchaft und Arbeitgeberjchaft enthalten beide Glieder aller Volf8teile in der Nation und haben doch in der Wirt- ſchaft Sonderbelange als Verkäufer und Käufer von Arbeitskraft und als folche, die in der Leitung verharren, und als folche, die an ihr teilhaben wollen.

Alfo ftehen Arbeitgeber und Arbeitnehmer de3 einen Volkes gegen Arbeitnehnier und Arbeitgeber des anderen Volkes. Und fie ftehen ihrerfeits aud) wieder mit Arbeitnehmern des anderen Volkes durch gemeinfame wirtichaftliche und foziale Be-

__ lange gegen Arbeitgeber des einen Voltes. Geeinigt werden alle gleich wieder dadurdy,

daß fie miteinander die nationale Wirtfehaft erhalten wollen und müffen, die ja die gemeinfame VBorausfegung ihres Sonderdafeins und deshalb die ihrer Einheit ift. Getrennt werden fie gleich wieder dadurch, dak jedes Volfstum für fic) das Beftreben bat, diefe nationale Wirtfchaft unter die eigene Führungsgewalt zu bringen, fie zu feiner völtifhen Wirtfchaft zu maden. innerhalb der Wirtfchaftsgruppen felber berrjcht eben wiederum der völfifche Gegenjag. Arbeitnehmer des einen Volt3teil3 ftehen zu den Arbeitnehmern des anderen Volfsteils in Gegenjat, Arbeitgeber des einen Volfsteils zu den Arbeitgebern des anderen Volfsteil3 in der Nation, und Arbeitnehmer und Arbeitgeber des einen Volkes gegen Arbeitnehmer und Arbeitgeber de3 anderen Volfe3. Die Einheit von Arbeitnehmerfchaft und Arbeitgeberfchaft in der Nation, in der Intereſſengemeinſchaft an der Erhaltung der nationalen Wirtjchaft, wird in einer vom ftart ſelbſtbewußten Volt8tum geführten Nation überragt durch die noch höhere Einheit aller gleichvölfijchen Arbeitnehmer und Arbeitgeber an der Macht— ftellung ihres Volf3teils in der nationalen Wirtfchaft. Die Wirtfchaft ift nur Mittel, das Volt ift Zived. Alfo fteht der völfifche Gegenfag über dem Klaffengegenfag, die volfifche Einigkeit über der Klaffeneinigfeit: Volt fteht über Nation. Die Wirtſchaft it Mittel infofern, als fie zunächſt wirtfchaftliche Erhaltung der Nation und in ihr des Volksteils ift. Aber fie ift auch die geiftige Erhalterin, denn Wirtjchaft in unferem Sinne ift mehr als Befriedigung der Bedürfniffe. Sie üt darüber hinaus Lebensgeftaltung. Alles menfchliche Schaffen gehört in diefe fo verftandene Wirtjchaft. Alles,waspornehbmlihförperliheundpvornehmlidgeiftige, in jedem Falle aber feelifhe, alfo in der Erlebniswelt des Volfes begründete Arbeitsfräfte [haffen, dient des Men- ſchen undſeines Volkeshöchſter Beftimmung. Arbeiten ift völfifches Tun. Infofern ift das Volt der Zweck. Seiner Selbitgeftaltung gilt all fein Sandeln und das Handeln aller feiner Glieder.

Wir ftehen zu Fichte: Das Volk als Lebewesen ijt körperlich endlich. Es entjteht

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und vergeht. Solange es lebt und darüber hinaus hat es feine Bejtimmung, an deren Erfüllung es arbeiten foll, jolange es lebt. Und diefes macht das Volt un- fterblich feelifch unendlich. Es hat eine gottgegebene Seele, in der wie im Einzel- menjchen Gut mit Böſe ringt, Schuld und Sühne erlebt werden. An der Seele foll e3 bauen, daß fie weiter mwirfe in der ewigen Volfwerdung in der Menschheit, auch wenn das Volf einft leiblich geftorben fein wird. Volter fterben; aber unjterblich ijt ihre Seele. Einft wird auch das deutjche Volt nicht mehr auf Erden fein. Aber fein unfterblicher Geift foll ewig unter den Volfern weilen! PaulBröder.

Siicherbriefe ?

Zur Brabmsíiteratur.

rat Beethoven beherrfchen die beiden großen Entgegengejegten Wagner und Brahms das Mufitleben der Gegenwart, fortdauernd und mit unverminderter Kraft. Der eine im Theater, der andere im Konzertfaal. Wagner: affetuofo, furiofo, maejtojo! Er ift der Gott der großen Menge. Um Brahms, den intimen, fammeln fich die Innenmenſchen. Der große Wagnerfrieg, der lange und beige Sampj der Neudeutichen gegen Brahms: das konnte fein Durchdringen wohl aufhalten, es jchlich- lich aber doch nicht verhindern. Und die neudeutiche Bewegung mit der Programmı- mujif, wie fie in Richard Strauß ihre legten und ftarkften Trümpfe ausfpielte, fie mußte fic) ſchließlich im Kampfe gegen Brahms und die abfolute Mufit immer deut- licher als das ermweifen, ias fie ift: eine Kultur der Aeußerlichkeit. Und damit im Zuſammenhang fteht auch die vollfommene Humorlofigteit diefer Mufif. Liszt und Strauß find wohl die humorlofejten Mufifer, Die e8 gegeben Hat. Abgefehen von den allerneuejten. Brahms dagegen in feiner Yunnerlichfeit! Sein „Deutjches Requiem” ift Heute neben der „Matthaeus-PBaffion” das am meijten aufgeführte, im Volte ge- liebte und berftandene, und damit fegenjtiftende große Chorwerk, fein Totenfonntag bergebt, wo's nicht erklingt in zahlreichen Städten, für alle die Vielen zumal, die an den Wurden des fürchterlichen Krieges leiden. Gleich die erften Takte mit ihren tränenumflorten, vertlárten Harmonien: „Selig find, die da Leid tragen, denn fie follen getröftet werden!” Wenn man fich erinnert der ungeheuren Reklame damals nit dem Liszt'ſchen „Chriſtus“, was ift dabei herausgefommen? ch dente an die begeifterten Morte in einer befannten Kunſtzeitſchrift über feelifchen Ausdrud in bes fonderer Anwendung auf Liszt; von Brahms fprach man hier dann und wann ja aud, natürlich, aber nur fo nebenbei als von dem „EHajffiziftifchen und formalifti- fen” Tonfeger. Sa man fpottete damit feiner felbjt und wußte nicht tie. Ch die Ganztlugen und Neunnraltveifen! Doch immer und in Allem! Mit einer rein Des griffsmäßigen Auffafjung der Muſik fommt man nicht weit. Die Mufit die Kunſt des Gefühls will halt „erfühlt” fein. Blut und Herz gehört dazu.

Die Beit für Brahıns mufte nad) Wagner ja fchließlich auch fommen. Brahms fiegte im Gegenfag zu Wagner in der Stille, vom Haufe aus: durch feine Lieder gu- nächit, jeine Kanunermufif. Der ihm mit Worten den Weg zum vollen Siege be- reitete, war Max Ralbed. Erin: große Brahmsbiographie! Bor allenı gleich der erjie Band, der die Nugendgefchichte enthält: diefe Sunft der Darftellung, dieje Frifche und Farbigfeit, diefe launigen und köftlich Humorvollen Schilderungen! ES lieft fic) wie ein Roman. Ein Bud;, von dem man nicht wieder lostommt. In den fpäteren Bänden gebt's wohl manchmal febr in die Breite, in den langen Beſchreibungen und Analyfen der Werle. Alles in allem gehört Salbeds große Brahmsbibel entichieden zu den biographifden Hochleiftungen, fie behauptet fic) neben dem Mozart von Dtto Jahn, neben dem Spitta’jchen Bach, neben der leider Bruchſtück gebliebenen Haydnr-Biographie von E. Y. Pohl. Die gefamte Wagnerliteratur mit rem Hexen—

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fabbath von Ucbertreibungen und funftphilofophifchen Verftiegenheiten, alle Irr— tümer Wagners nod) unterftreichend, fie hat fein Bud) aufzumeifen, das fo viel und nugbringend gelefen wird wie Stalbeds „Brahms“.

Wagner bleibt ewig fo zu fagen ein in Tinte ſchwimmendes Problem. Die Schreiberei über ihn wird niemals aufhören. Nicht minder problematifch find aud die Programmtomponijten, natürlich. Brahms dagegen ift völlig unproblematijd, wie Schubert, und fo bedarf er gar feiner literarifchen Stügen. Hier gibt’s feinen philoforhiichen Teig durchzufneten. Hier gilt'8: wer Ohren hat, zu hören, der höre.

Der Weg zu Brahms fann folgerichtig nur von den Slaffitern aus gefunden werden. Hm, von Wagner und den Neudeutjchen oder gar von den Modernen, den Neueften und Allernenejten aus zu Brahms? Heute ift ja alle Autorität, alle Form- und Gejegmäßigfeit zum alten Eifen geworfen. Hört man Schönberg, da ift die erjte Bedingung, alles Borangegangene zu vergeffen. Kann man das? Bad) und Händel und die Wiener Klaffiter haben uns unfere Tonfprache gefchaffen, jo wie Luther, Yeffing, Goethe, Schiller unfere Wortfpradde, und nun foll man anders fühlen, denken, jprechen? i

Debt ift bei Schufter und Löffler in Berlin, in der großen Sammlung ber Diufiferbiographien in einem Bande eine neue Srahmsbiographie erfchienen (437 ©., Preis geb. 32 Mi.) von Walter Niemann, dem bekannten Leipziger Mujiter und Muſikſchriftſteller. Um's gleich) vorweg zu fagen: fie verdient die wärmſte Entpfeh- lung. Ihre Vorzüge: Hier wird mit größter Entichiedenheit die niederdeutfche Ab- ftammung von Brahms betont: dak man in ihm zu allernadjt das größte fpesifiid niederſächſiſche Mufifgenie zu erkennen habe, mit ftarkfter Ausprägung aller Stam- meseigentümlichfeiten. Ferner wird nicht minder nachdrüdlich hingewiefen auf Die tiefe Bedeutung des deutſchen Volfsliedes für Brahms. Das find ja feine neuen Gefichtspuntte Kalbe! nur dak fie ihrer Wichtigkeit entfprechend hier mit liebevoller Vertiefung behandelt werden. Der Berfaffer felber ift ein Niederjachle. Ferner befämpft Niemann fehr energifd den alten Jrrtum vom harten, berftandes- mäßigen Brahms. Brahms ¡ft unbefdadet feines fcharfen Kunſtverſtandes eine feinen Landsmann Theodor Storm tiefverivandte, reine Gefühlsnatur, allerdings eine nordifche, die das Gefühl nicht offen zur Schau trägt, es vielmehr feufd) verbiillt. Man fchalt an ihm hart und herbe, was im allgemeinen norddeutich, ſchwerblütig, ernjt, verfonnen in ihm ift. Seine vielberufene Raubeit im Leben war ja nur eine angenonmene Maste. Er war die Güte felber, ein großer Tier- und Kinderfreund. Damit in Verbindung fchildert Niemann fehr fein das Bodenftandige in Brahms, ſchon im Hinblid auf die bereits durch und durch perfönlichen Jugendiwerfe. „Ge— boren unter Hamburgs melancholiſchem und regenfchiweren nordifchen Himmel mit den diifter-phantaftifden Wolfenbilbungen der Nordfee, dem oft jo erftaunlich fchnellen Wechjel zwiſchen Hell und Dunkel, Sonne und Regenfturm, den oft ebenſo ploglid) auftretenden filbernen Nebeln, dem wunderbaren Reihtum an gedämpften, doch fein und bunt opalifierenden Farben.”

Die weitaus größere Hälfte des Buches befchäftigt fic in gefonderter Darftellung mit den Werfen des Meifters. Das Bejte ift gleich das über die Klavieriverfe. Das treffliche Kapitel über die Kammermufil. Niemanns Urteilen über die Choriverfe und die Sinfonien dagegen fann ich nicht immer beiftimmen. Manchmal wird er etwas begriffsipalterifch, namentlich da, wo er über das Tragifche bei Brahms feine Anfichten entwidelt. Jn der Bewertung einzelner großer Werke, wie 3. B. des mir perfönlich befonders lieben zweiten Slaviertonzertes in B-Dur, der Haydn-Variatt- onen, des erften Streihquattettes in C-moll: ja da mag wohl aud) Mar Kalbed, wenn er's noch las, öfter zufammengezudt haben. Niemann liebt aud) Wagner und Liszt und die Modernen, und fo will er vermitteln. Er gießt deshalb mit voller Abſicht etwas Waffer in den Wein der nad) feiner Meinung mittleriveile zu groß und zu ftürmifch gewordenen Brahmsbegeiſterung. Er klagt, alles was heute, too der Brahmstult in üppigfter Blüte ftehe, über Brahms gefdrieben wird, trage den

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Stempel trititlofer Vergötterung. Daran mag ja etwas Wahres fein. Das ift aber Doch immer fo, wenn's mit einer Sunft aus dem Lamento ing Trionfo geht. Mit Wagner tvar'3 ja der reine Opiumraufch geradezu. Oder gar damals die Tiraden über Liszt, den Somponiften den Klavierfpieler und die allgemeine, große mufifa- liſche Gefamtperfönlichkeit fonft in allen Ehren! Man blättere einmal fpaßeshalber in der Liszt-Biographie von Lina Ramann. Die großen Worte verhallen, an der Sache felber das Segenbringende bleibt übrig und dauert aus. Ganz und garnicht fann id) finden, dak Brahms und Hebbel einander fo fehr ähnlich wären, wie Niemann meint und immerfort betont. Jm Gegenteil, der größte niederdeutiche Mufifer und der größte niederdeutiche Dichter waren einander fehr entgegengefest, nur in ihrem Niederfachjentum und ihrem Konjervatismus ftimmten fie überein. Beide waren fie allerdings Kinder aus dem Volke, beide lebten fie zulegt in Wien und famen Hier zu Ehren nad) einer ſchweren Jugend. Schade nur, innerlich will’s nicht ftimmen. Mit Storm allerdings, feinem anderen großen Landsmann, war Brahms, wie fon ge- fagt, innerlich fehr verwandt.

Der hauptſächliche Inhalt Brahms der Muſik ift eine unendliche Güte. Um's kurz zu fagen. So ganz die tiefe Herzensgüte und Treue des Niederfachfen, wenn er auftaut und Vertrauen gewinnt und aus feiner ihm angeborenen Scheu und Zurüd- haltung heraustritt. Wer deutfches Voltstum in Tönen fucht, der gehe zu Brahms. Bei Wagner find'3 nur die Stoffe: feine Mujfit in ihrer Efftafe und lodernden Sinnlichkeit ijt keineswegs ausgeſprochen deutſch. Karl Söhle.

Seine Beiträge

Reben.

39 gehe durd) den regennafjen Wald. Die Buen und Eichen, von unten an grün, Ihütteln fic) die Tropfen aus den Kronen, und das Rauſchen der See mifcht fid mit dem Braufen und Berklingen der Waldherrlidfeit. Gn moorigen Gräben und Gründen perlt und quillt es, die tanlenbfebenbihe Waldeinſamkeit tut fidy auf und ſchließt mid ein. Wie Pfeiler in weiten Hallen ftehen die ſchlanken Stämme und tragen ihr dammerndes Gewölbe. Dann wieder verfdranten fich die Wipfel, Schlinggewächs und dichtes Gebüjch verfperrt den Pfad. Ich ftehe vertvoben in einem unendliden Wadfen und Quellen der Kräfte, recht als ein Teil von ihnen, nicht gefdieden von diefem überſchwenglichen Leben, das rein und unbefiimmert gedeiht.

Kann Leben wie diefes, darf es getötet werden? Iſt nicht etwas wie Kraft der Un- jterblichkeit, Anhauch der Ewigkeit in diefem Ouellen und Gedeihen aus innerjten heiligen Gründen heraus, zum heiligen Lichte empor?

Iſt nicht alles Leben, das aus fich felbft quillt, ftarte Wurzeln ins große Erdreich fentt und ftarfe Kronen emporträgt, unverleglid?

Haben wir nicht als Einzelne, nod) mehr als Volf und lebendige Gemeinfchaft diejes Gefühl der Unfterblichfeit und Unverleglichkeit in uns? Alfo daß jeder Frevel gegen unferes innerjten Lebens Kern auf die Frevler zurüdfallen muß, uns aber nur bertounden und hemmen, nidt des al ular endgültig berauben fann?

Kann diejes Gefühl täufchen?

Haben wir feinen aan Trojt als diefen myſtiſchen? Als diefe Zuflucht zu den eivigen unerforfdliden Gejegen des Lebens?

Welchen könnte es geben?

Und mit unbezwinglicher Klarheit ſteht es vor uns: ſolange wir uns nicht von innen todesbereit, ſterbensreif fühlen ſolange werden wir nicht ſterben. Eher werden die Bolter, die gefiegt haben, berfiegen. Ihr Sieg war etwas Aeußeres, ein Ergebnis der Zahl und der Mittel. Unfere Niederlage wurde falihen Wegen, Irrtümern, allzuftarren Formen verdankt. Sie tam nicht aus dem Innerſten. Laßt alle Formen zerbrechen: fie hielten uns gefefjelt. Glaubt an das Leben. Und es wird end reiner und jtárter empor- quellen als je. HSermannlllmann.

Eine Antwort an Herrn Stern in Kattowig.

ie Auffaffung von Volt und Volkstum, die wir in um: Zeitſchrift entwidelt haben, ift au Tibi tther Seite bisher nur von Zionijten gebilligt worden, alfo von Leuten, die auf ihr Volfstum ftolz find und das der andern anerfennen. Duden, die den Ajlimila-

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tion3-Gedanten vertreten, haben nod) immer unfere Auffafjung abgelehnt, leider find fie nie auf das Wejentliche eingegangen. Zum erjten Male |jheint Herr Mitteljehullehrer $. Stern aus Kattowiß das in einem Aufſatz „Deutiches Volfstum und Judentum“ zu tun, den das Israelitiſche gamilienblatt am 26. Mai veröffentlicht hat.

Er verfihert mid feiner Hochachtung und fagt, daß er mid) für einen ebrliden Wahr- heitsfucher halt. Ich tann in Anbetracht feines Auffakes, wenn id) pon einigen Dr. feiten des Ausdruds abfehe, die fic) fehr merfwürdig ausnehmen, ihm gegenüber dasjelbe tun. Bleibt nur die Frage, wer die Wahrheit findet. 3

Herr Stern nennt meine Erfaffung des Tatbejtandes Volt eine ,Theorie”. Sie jei „unwirklich“ und „aus Myſtik, Vorurteil und Lebensfremdheit gewoben“, fie werde „Ion durch den politijd) unbaltbaren VoltSbegriff ad abjurdum geführt“. :

Wenn Herr Stern wiffenfhaftlich gebildet ware, würde er willen, daß eine Theorie, durch die ein Tatbeftand begriffen werden foll, nicht durch die politifmeHaltbarfeit oder Unbaltbarteit eines Begriffes SR oder widerlegt werden fann, jondern nur durch die erfenntnismäßige Fri ett oder Niht-Wahrheit des Begriffes. Aber Hiren tir, wie der jo ganz unmyſtiſche, borurteilSlofe und lebenstundige Herr Stern mid) politifd) widerlegt. Wir lejen:

„Das Volt, das Stapel vorſchwebt, ift die Stammesgemeinjdhaft, die durd) das Blut gebildet wicd; alfo im runde nichts anderes als die Raffe, bre er ay Red ablehnt. Das ift Schon ein Widerſpruch.“ Allerliebft: Herr Stern behauptet ohne eis, daß ich etwas anderes meine, als id meine, und fdiebt dann ben ae feiner mit meiner Meinung mir in die Schuhe. Er ſcheint uns Deutſche ha febr dumme Leute zu halten, daß er uns fo einfade Sunftitiide vormadt. ,,Cajus jagt, der Wolf ift ein Tier. Cajus meint im Grunde nicht den Wolf, ſondern eine Saustage. Cine Pr dik x frißt feine Menſchen. Folglich ijt Cajus’ Behauptung ein Widerjprud. Es gibt a eine Wolfe.” Leider made id) einen Unterjdied gu den Stammesgemeinjchaft, Vollsgemeinihaft und Raffe. Herr Stern hat meine „Iheorie” nicht widerlegt, wenn er feine Meinung von meiner „Iheorie” widerlegt. Er mu ich exft bie Mühe maden, mid) zu begreifen. Mit entwertenden Redensarten, wie io E

orurteil und Lebensfremdheit lafjen wir uns vom aufgetlárten Rattowik am tenigjten abtun. So mich nun Herr Stern weiter. „Gemeinſamkeitsbewußtſein und Gemeinbürgſchaft in Not und Tod, müßte die nach Meinung unlösbare Volks— ce äußerlich EN Und danı zeigt er, diefe bei den Deiter nicht

ejtanden haben, aljo —. Genau fo fann man beweifen: „Öemeinjamfeitsbewußtjein und

in Not und Tod müßte die unlösbare Familiengemeinſchaft äußerlich fennzeichnen. Nun zeigt fic) aber in vielen Fällen, daß fie nicht immer in den Familien vorhanden ift. Folglich ijt der Familienbegriff faljch, es gibt feine Familie, feine Ge- bundenbeit von Eltern und Kindern, als natürlihe Gemeinschaft.” Gofuspofus! Aber Herr Stern ift unfchuldig, er [chreibt im beiten Glauben und halt fd für febr überlegen, weil er fid) nod) niemals Gedanken gemacht gt über das Wejen einer Gemtein{ af und jener Sonderart davon, die man „natürliche Gemeinfdaft” nennt. Wenn man über- zeugt ijt, der andere wiſſe auch nicht mehr als man felbjt weiß, fo muß das, was einem an des Gegners Anficht unflar ijt, eben irgendwie el nflarheit und Unwiſſenheit des Gegners beruhn. Diefe Art Heiligen ochmutes ijt mir bei Juden verhältnismäßig häufig borgefommen. Ich finde fie ſehr poſſieclich.

. So manbberiert Herr Stern den Schatten-Stapel, mit dem er fid) herumſchlägt, in eine Stellung, daß Dr: vor Sich felbjt erfdreden muß. Ad ja: „Der unpolitifche Herr Stapel hat jedenfalls feine Ahnung, welches Unheil die unterjchiedliche Behandlung der VolfSgenoffen (ich finde nun einmal feinen anderen Ausdrud dafür) unter dem verfloffenen Regime angerichtet hat.” So, nun bin ich widerlegt. „Alfo mit dem „deutichen Volfstum” Stapels ift prattijd nichts anzufangen. Es wird wohl doch nicht anders fein, als daß jubjettiver Wille und pofitive Arbeit im Dienfte des Voltes die Aufnahme ermöglichen und and) rechtfertigen, wenigjtens jieht man bei allen Vóltern, die gefunde, natürliche Politi machen, feine andere Praxis.” Ja, wenn man die Politik aller Nationen, die es anders maden (3. B. der Schweizer), ungefund und unnatürlid nennt! Aber die Natur enticheidet leider anders als die vorurteilsfreie Vernunft Sterns: fie ftellt für die Aufnahme in natürliche Gemeinfdaften andere Bedingungen als für die Aufnahme in Organifationen. Und alle Völker, die den Inſtinkt für jene Bedingungen verlieren, werden von der Natur erbarmungslos vernichtet. ç

Diejer LSebenSinftinft, der uns empfinden läßt, was affimilterbar ift und was nicht, gibt auch die Grundlage für den Taft. Herr Stern meint, der Taft wäre fein praftiiher Maßjtab. Wo fängt er an, wo hört er auf am Meterftab? Dak ich auf fo etwas verfalle, beweife nur meine „völlige Hilflofigteit’. Takt ijt freilich nur für den ein Majtab, der ihn Hat. Für ihn ift ec aber ein f derer Mafitab. Wer ihn nicht Dat, für den ift er ein unbegreifliches Etivas. Herr Stern will an die Stelle des Taftes „Recht und Vernunft“ fegen. Wir empfehlen ihm, darüber nachzudenken, bab ¿Recht und Ber- nunj” ihrem Wefen nad) etwas Formales find. Auf das , Recht” beruft fih jeder Dog- matifer, aud) der antijemitifhe. Und die „Vernunft“ wer beanfprudt fie nicht?

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Naddem die taktlojen Menfojen mit ihrem Auftrumpfen von „Recht und Vernunft“ die Judenfrage immer mehr verwirrt haben, wird „es doch Wohl nicht anders fein“, als daß die taftvollen Menfden fie werden löſen mújjen.

a Schluß drei Fragen.

titens: Ein nicht unbetradtlider Teil der Juden, darunter berühmte Gelehrte, ver- treten denjelben Voltsbegriff wie wir. Sie feben das jüdiſche Volt als eine naturgebundene (und zum Teil überdies religiös gebundene) Gemeinfdaft an. Uns aber will man dieje Anſchauung verivehren? Warum bloß uns?

‚Zweitens: Die Juden find eben jegt dabei, ihren längjt erjtrebten eigenen Staat in Palájtina aufguridten. Sie find im Begriff eine Staatsnation zu werden. Wie darf man uns fdelten, wenn wir daraus diejelben Folgerungen für fie ziehen wie für alle andern Völker, die zugleich Staatsnationen find?

Drittens: Die Juden und die Deutjden unterfdeiden fd in den AeuBerungen des unmittelbaren Lebens*), ie wenn die Be geiite diefelben find, doch in Bezug auf das Seeli jhe. Sowohl die jeeliiche Zuſtändlichkeit wie der ſeeliſche Ausdru i nade meisbar verſchieden. Darf man es einem Volke, das in Jahrhunderten eine bejtimmte innere Geſetzmäßigkeit, eine „Art“ gewonnen hat, verübeln, wenn es feine politijden und kulturiſchen Schidjale nicht von feelifh andersartigen Menjchen in artfremde Bahnen will zwingen lafjen? Sit diefe Abwehr nicht durd) „Recht und Vernunft“ gerechtfertigt? St.

Wurzel⸗Plaſtil.

Sy große Lionardo aus Vinci liebte eS, alte Mauern angufehn und aus ihren Spriingen und Rifjen allerlei Gejtalten herauszuphantafieren. Er empfahl den Künftlern, auf olde Weife die Cinbildungstraft zu üben. Juftinus Kerner erfand die Kledjographie. r erzeugte fünftlih Tintentledje auf dem Papier und ,geftaltete” daraus mit einigen Punkten oder Striden Geſichter, Tiere, Land Sn wie der Klecks es erlaubte und die Einbildung es vermochte. Der Kampf zwiſchen leds und Seele ift nicht minder bildend als die Betrachtung abgebrödelten Salles. Wenn ich Zeichenlehrer wäre, würde ich kleckſo— grabbiice Stunden einführen. May Strauch beſchert uns nun ein drittes Fünftlerifches ildungsmittel: die Wurzelplaftif.

Er hat fie nicht als m und einziger erfunden. Schon andre, die lieber auf dem feitlihen aaa durch Heidelbeeren und Cidentratt gehen al3 auf den von den ftaunens- werten Erfindungen der Neuzeit überjtäubten und überjtänferten, gradlinigen und chaufjier- ten Hauptberfehrsadern, haben eine naddenflid-vergniigte Bwiefprache mit dem Wurzel» merk am Boden gehalten. Max Strauch aber hat feine Entdedungen gefammelt, mit der Strahlenfalle gefangen und in einem wunderfdonen Bud, mit den bafenden Unterſchrif⸗ ten und Verſen verſehn, den für ſo etwas in Betracht kommenden njdentindern vor das ns Geſicht gelegt.**) Nunmehr find diefe Menfchentinder in der Lage, darob mit dem Finger die Nafe zu reiben und die fyftematifde und methodifche Bedeutung der a ai gu erivägen. ,

ejehen tir ¿zunáchft den Tatbeftand. Max Strand en vom Boden allerlei Ziveig- und Wurzeliverf auf und betrachtet es mit der nötigen Aufmerkſamkeit, Einfühlung und Einbildung. Und fiehe da: dies oder jenes Stüd wirkt plößlic merkwürdig „befeelt” auf ihn. Es Ñi mit einem Male eine „Gejtalt“. Nun gilt es, zweitens, bie vite treffende zeihnung für das bejeclte Zweiglein, für den darattervollen Wurzelfnollen zu finden. Und nod) ein Drittes kommt in Betradt: man fann einer Wurzel mit ein paar © nitten und Schnikeleien einen gewollten Ausdrud geben. Yn allen drei Tätigkeiten erteilt fid May Strand alg Meijter.

Als Beifpiele geben wir hinten im Heft vier Bilder aus dem Buche wieder. Das „Gewiſſen“ und der „Mädchenjäger” weijen ganz Heine Nadbilfen mit dem Meffer auf. Welche Ausdrudsfraft ift damit erreicht! leinplajtit für expre —— Kunſtaus⸗ tellungen! Wie un und unentrinnbar das ſpinnenartige Gewiſſen dahereilt, es ent uns über den Rüden! Mit weld) einer gedenhaften Zierlichkeit der altgewordene Mädchenjäger die drei Beine fest! Die “Sq veo der einjt gragiöfen beiden hinteren, das elegante jugendliche Ausgreifen des vorderen Beines fann fein Naturalift und Impreſſio— nit, fein mentphotograph köſtlicher fefthalten. Dazu das Gefiht wir hören den näfelnden Ton. Das Ding ijt unglaublid lebendig. Nun aber erjt die beiden Völlig unbeeinflußte Natur tft der „Präſident“, der eben den Schwur auf die Verfafjung leijtet. Welch eine Ada von Erhabenheitsgefühl und @piebigfeit, von witrdevollem Gebabren und unfreiwilliger Komik! Man verfolge die feierlichen Beine, den Hals, die Kopfhaltung, den gu fpreden anhebenden Schnabel, den ſelbſtbewußt fic) biegenden Arm. Neben die Wiirde ftellen wir die Anmut: die Badítelze. Ein Stückchen Holz, und dod) man meint, jeden Augenblid öffnet das Ding ein Paar Flügel und wippt davon.

*) Val. über den Begriff „unmittelbar“ unfere Ausführungen im vorigen Heft.

**) Wurzel-Blaftil. Funde aus der Natur, ana und gedeutet von Max Strand. 30 en in Lidtdrud. Paul Neff Verlag (Max Schreiber), Eplingen a. N. 1921. Gebunden 40 Mart. Papier und Drud ijt friedensmagig gediegen.

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Und nun erwägen wir. Wolfen und Wurzeln find die beiden Naturerjdheinungen, die einft das Gemüt unfrer Vater fo erregten, daß fie darin die Vertórperung geheimnis- voller Mächte zu jehen glaubten. Yn den Wolfen 3 ſich Götter und Götterburgen, Riefen und Unholde. Gn den Wurzeln offenbaren fic) Zwerge und Kobolde. Man dente an die Alräunden und an Rübezahl. Wollen und Wurzeln find mythifche Dejen.

Da es fich jo verhält, warum follen wir diefe aya ait ungenußt lafjen? Wohl dem, der zuweilen den Wolfen nahträumen und über Wurzelwerk jinnen fann! Freunden wir uns wieder mit den Wurzeln an! Wir brauchen fe nicht Blof a nario auen, wir tónnen aud) mit ihnen fpielen. Was für Stafperles, Kobolde, Dämonen, Könige, Pringeffinnen, Wölfe, Ragen, Hexen und Zauberer e aus den Abfällen des Wald- bodens und des Holzjtalles! Ganze Welten! Id jehe im Geifte jdon die künftigen Dichter, die fic) ihre Wurzelivelten zufammenfuchen und ihre Dramen daraus abjid)reiben, wie Michelangelo Hd) feine Geftalten aus den Steinblöden hervorholte. „Es ift der Swed der Wurzeln nicht bloß das Drüberpurzeln” behauptet May Straud. (Es ift der Bwed der Wurzeln, daß wir uns durd fie in eine beffeve Welt führen laffen. Gefegnet fet das Sonn- tagstind Max Strauch, das im Heidefraut unverfehens den Schlüffel zur Wurzelfoboldwelt wiedergefunden hat, den die aufgeflärte Welt im achtzehnten Jahrhundert weggeworfen datos weil fie irrtiimiidjermeije glaubte, den Himmelsjhlüffel.der Vernunft erbeutet zu

aben. €t.

Der Beobarhter

Sy: evangeliſche Sonfiftorium in der Mart Brandenburg erließ eine Verfügung an die Pfarrer, die das Auftreten „verfleideter Perfonen” in den Kirchen verbietet. Diejes Verbot richtet fich gegen die Aufführungen der alten Myjterien-Spiele, die in der legten Zeit überall in Deutjchland in den Kirchen jtattfinden. ‘Das Verbot zeugt davon, wie in der Kirchenbehörde leider gar fein Verjtändnis vorhanden ie das, was uns heute be- megt. Jm Mittelalter, das in feiner Zerriffenheit mit der heutigen Zeit manches gemein hat, wurden dieſe ftarten gláubigen Spiele als Ehriftgeburts-, Paſſions- und Aufer- ftehungsfpiefe, als Paradeis- und Teufelsfpiele in den Kirchen aufgeführt; Spiele, die tief murzelten in dem feften Gottesglauben und dem Volkstum jener Zeit überhaupt. n unferen Tagen nun finden fie ihre Auferftehung. In mandem ftillen Fleddhen deutjcher Erde haben fie durch lange Reihen der Geſchlechter fortgelebt bis auf heute. unge Menſchen jpielen fie nun, bilden fie neu für unfere Zeit. Wer eines jener einfachen Spiele erlebte, in denen die Darjteller fhlichte und reine Bilder fehufen, in denen ihre Seele mit- ſchwang, und fühlte, wie all die Sufdauenden im tiefften gepadt waren, der erfennt den * großen Wert diefer Aufführungen. Hier handelt es fic) nicht um genießeriſches Anjchauen eines Schauftüds, hier wirkt Volfstunft, die fofort in den Herzen anflingt, die der Staub der Großſtädte noch nicht völlig zu überdeden vermochte. Diefe alten Spiele tragen Ein- fachheit, Schlihtheit und Würde, eine unermepliche Fülle und Kraft hodfter Werte in fic, nad) denen unfer Volf hungert. Hier liegt ein Weg frei zur ee any Menſchen unſerer Zeit. Will die Kirche ihn nun mit einer Verordnung verbauen? rid Stolt.

5 n „Deutihlands Erneuerung” führt Prof. Dr. Erich Jung ein Wort des Freiherrn von Stein an, das aus einem Brief vom 5. Januar 1818 an Ernft Morig Arndt jtammt. Es ift fo verblüffend, dak wir es unfern Lefern weitergeben wollen. Stein fehrieb alfo 1818: „So gehen wir blind in die Irre .... und verwandeln das ganze in ein Aggregat von Gejindel, Juden, neuen Reichen und phantajtifchen Gelehrten.”

m Schnellzug Berlin— Karlsbad und Berlin— Wien. Ich habe mir einen Fenjterplay C > erftanden”. Anger mir find mur drei ftrengausfehende norddeutiche Damen im Abteil. Die übrigen Plage find ſchüchtern belegt. Plötzlich ift das Abteil angefüllt mit einigen lebhaften Rinderden, zwei ungewöhnlich wohlgenährten Damen, einigen energiih aus— jebenden jehr lebhaften Herren und fehr vielem Gepad, das teils aus ganz neuen Leder foffern, teils aus ,Binteln” beftebt. „Mer wern nod Blag finden, faq ic) Dir,” erklärt einer bon ihnen, jchiebt mehrere Mäntel beifeite und fest fic. Die anderen folgen mit Geräuſch und Händeausdruck. Die drei norddeutſchen Damen verlangen plötzlich vom Schaffner ein Damenabteil. Der Proteſt der früher Dageweſenen geht im Lebens- und Ausdrucksüberſchuß der wohlgenährten Damen und der Kinderchen unter. Die Energiſchen gos die Rode aus. Die Damen paden Eßwaren aus, großzügig, weitichauend, für zmei age etwa. Das Fett trieft aus den Papieren. Die Kinderhen freuen ji vornehmlich, die Damen efjen ebenjo vornehmlich. Der Energifche mir gegenüber (an dem linten Hand= gelente hat er eine Armbanduhr, an dem rechten ein Armband, beides von Gold) fpuckt die Kirſchlerne teils auf den Bahnfteig, teils auf mid. Als er mir mit vielen PBardor 2 den Rod abwiſchen will, stehe ich mid) auf den Gang zurüd. Der Mann hatte Recht : er Hat Play gefunden, er hat fogar einen Edplat gefunden, und die Familie hat ein MbteE l

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allein. Dem Mutigen gehört die Welt. Während ich diefe Betrachtungen anjtelle, jteht der Energijche neben mir, eine Flugidrift über den Anſchluß, die id) hatte liegen fallen, in der Hand, und ehe id) es hindern fann, beginnt er ein Gejprad: „Entſchuldigen, der Herr find aud Defterreiher? Ich bin and für den Anſchluß.“ Ich nicht hätte id) beinahe gejagt. Wenn Menſchen diefer Art Defterreich repráfentieren, wie fie häufig vor allem in Berlin zu tun vorgeben, dann nicht, dann um Gotteswillen nicht. Wieviele fónnen in Berlin „Dejterreiher“ von Oeſterreichern unterjcheiden? Armes Dejterreih! Aud das nod! T.

BB olf und Zeit”, die Sonntagsbeilage des Vorwärts, bradjte einen Ueberblid über vte š ſozialiſti ae Führer in Jtalien. “Es find wundervolle Heine Bildchen vom europai- iden politijden Leben. Da fehn wir das Bildnis Mifianos, das typifde Geficht eines zer- quälten intelleftuellen Juden. Dazu folgende Angaben: „Mifiano, ein Führer der „Rei— nen“, ijt eine der eigenartigften Figuren der italienifchen Arbeiterbewegung. Während des Strieges dejertierte er, lebte guerjt in Genf, fam fodann nach Deutſchland, wo er fid) bei Ausbruch der Revolution (aljo er war {don vorher getommen) der Spartakusbewe— gung anſchloß. Er nahm an den teil, machte die Beſetzung des „Vor— warts” mit, wurde bei der Erſtürmung des Hauſes verhaftet und zu einer kurzen Gefäng— nisjtrafe verurteilt. Dies wurde ihm zum politijhen Sprungbrett: als der , Held” der „Vorwärts"-Belagerung wurde er in Neapel aufgeftellt und gewählt und fonnte nun nad Jtalien zurüdfehren.“

We kannte bor wenigen Wochen noch den „Miesbacher Anzeiger“? Heut ſchmunzelt oder erbojt fic) das ganze intellektuelle Deutichland über thn. Seine faftigen baju- warijden Kernſprüche fallen den einen auf die Nerven und maden die andern vergnügt. Ludwig Thoma joll nicht, gan unjduldig an diefen Spriiden fein. Darum wurde eine tiefgetrantte Empörung über jeine „politiihe Wandlung” in der Deffentlichfeit gemacht. Wer gegen den faijerlihen Bozantinismus gewettert hat, muß nunmehr folgerichtig für den demokratiſchen Byzantinismus in die Harfe greifen. Mer einjt auf_Krupp und Woermann gefdlagen hat, der muß nunmehr folgeridtig für Rathenau, ame Strauß und all die „Mandelſtamms und Veildenbliits” begeijtert fein. Ludwig Thoma jelbft Laßt fid zu dem merkwürdigen Cajus von Intonfequenz in den Münchener Neueften Nachrichten aljo vernehmen: „Denen, die darin tiefſchmerzliche Wandlungen meiner Ueber: eugung erbliden, gebe td) ju bedenfen, daß ich auc nur das bekämpfte, was ich fir dumm und jchadlich hielt. Ich hänge an feinem Dogma und id) Dege weder vor den Meinungen anderer Leute, nod) vor meinen eigenen jene foene Ehrfurdt, die den Poli- tiler daran verhindert, etivas zu lernen.” Im Zufammenbang damit geben wir zur Er- wägung, dak im demofratijden Me nicht nur ſchwer zu befriedigende Philofophen mie Platon, fondern auch wirklichkeitsfeite frohe Männer wie Ariftophanes nichts bon der De— motratte wifjen wollten. Wenn Artftophanes, der den demofratijden Parteihäuptling und Lederfabritanten Kleon unjterblich vermöbelte, ein Phänomen mie Erzberger in die Hände befommen hätte! O miare fat bdelyre tratta! O borborotaragi!

(Sriberaer hat neue Kampfgenoffenfdaft gefunden. Stefan Großmann, der in feinen pLagebud” den für den Berliner Kurfürjtendamm unentbehrlichen Seit ber- eee. nimmt fd der gefallenen Größe an. Er ftimmt Erzberger zu, wenn diefer die öfen Menihen verdammt, die „für ihre Lebenshaltung” nod) nicht „die Konſequenz aus der Tatſache dez Befiegt-feins ziehen“ und preijt feinen Heros zugleich als den „wohl: beleibten, dem Lebensgenuß nicht abgejagten Mann“, der nod) „lachen tann”. Stefan Grogmann vom Kurfiirftendamm ijt mit Erzberger einer Meinung, bab für den un re han „das Seelenmaterial zu verwenden jei, bas nod) nicht iſt.“ Dies „Seelenmaterial“ iſt fic Millionen ſchlichte Menſchen ihr Chriſtenglaube“. Aber Erz— berger und der Wiener Jude Großmann in Berlin müſſen „dies Chriſtentum zeitgemäß interpretieren“. Wenn man üble literariſche Mache auch in ihrer Technik einmal klar vor Augen haben will, fo nehme man ſich das Geſchreibe Großmanns bor: „Tagebuch“ Heft 18 bom 7. Mai. Man muß freilich fefte Gerudsnerven haben; denn die Mijdung von Knoblaud, Moſchus und Weihrauch ijt ein „Seelenmaterial”, das nur von ganase enen” Menjhen mit Verftandnis goutiert werden fann. Wir andern finden den Geruch ehrlicher Schweineftalljauche dagegen immerhin noch erträglicher. h

—p"s Michaelis ſchreibt im Berliner Tageblatt über die Klagenfurter Tagung des Deutſchen Schugbundes. Er NN natürlich voll und ganz die „Bedenken“, die in der Wiener Regierung gegen die Anjchlugbewegung —— Es fehlt ihm auch nicht „an grundſätzlichen Erwägungen, die das An lußproblem omplizieren”. Denn immer, wo der Wille fehlt, ftellt die „grundfäglicde Erwägung“ zur rechten Zeit fid) ein. Und ge eine wefentlicde grundſätzliche Erwägung der „innere —— zwiſchen deutſchem und öſterreichſchem Weſen. Man höre: „Man darf fic) nicht darüber täuſchen, bab der deutiche und zumal der norddentide Charakter fid) von der ganzen Lebensauffafjung des Deutjch-Defterreichers mejentlid unterioeidet. Hier eine gewiſſe Weichheit aud) in fad)-

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lien Dingen, dort vielfach eine * aud) in der Form. Solche Verſchieden- heiten laſſen ſich beim beſten Willen nicht von heute auf morgen ausgleichen.” Alſo die tleinen Stammesperjhiedenheiten zwiſchen Reichsdeutſchen und Dentjd)- öjterreichern find fo wichtig, bab beide nicht in einem Staate leben fünnen! Und die voltifhen Verjhiedenheiten zwilhen Juden und Deutihen? Da fie now viel größer find, ijt wohl ein Zufammenleben beider in einem Staat völlig ausgeſchloſſen? O über eine fo „antifemitiche” Sonfequenz! Stamm, Bolt, Raffe gibt es nur dann, wenn man damit die Wirtsvölfer gegen einander bringen fann. Wenn man diefe Begriffe auf die Yuden anwendet weh gejchrien über fo einen finftern Unmenſchen! Nein, führt Paul Michaelis in demjelben Autlan des Berliner Tageblattes wenige Abſätze fpater aus: ,fon= fejfionelle Gegenjáge” und „Raffenfragen” rn in Gaden des Orenzlanddeutibtums feine Rolle fpielen. „Entſcheidend p nicht die Abftammung, aud) nicht die Sprache, jon- dern das Gemeinfmaftsgefihl mit dem deutſchen Volt und feiner Kultur.“ Aber für die Deutich-Defterreicher darf das Gemeinjchaftsgefühl nicht entfcheidend fein. Warum billigt das Berliner Tageblatt den Deutih-Defterreihern nicht dasfelbe zu wie den Juden? Wenn es durch folde feltjame Logit die antifemitiihen Strömungen ftártt, dann AS CHN ott ber Geredjte als Zeuge angerufen, dak nur die böjen andern uld haben.

Zwieſprache

SQ aperte hat das Wort. Daf er eine fehr ernfte Angelegenheit ijt, wird aus dem, was Dr. Rohden fagt, auch einem zunächſt darüber erhabenen Gemüte wahrfcheinlich werden. Dr. Robben ſchreibt eine größere Schrift über das Kafperletheater, die wir nad Erſcheinen pünktlich ankündigen wollen. Unfer Leitaufſatz ift der Anfang davon, and) die Bilder P daraus gewählt. „Sie geben eine Anfdauung bon dem Puppenfpiel, das Dr. Rohden in Halberjtadt eingerichtet hat. Das Bild im Text foll den lernbegierigen Lefer in das „innere Leben” Kufperlea einführen. Den vom Sale angeführten Aufſatz bon Heinrid von Kleift, ET am 12. Dezember 1810 in den Berliner Abendblättern, findet man in den bollítán gen Ausgaben der Werke. Wir geben am Schluß des Heftes Stüde aus dem Teil von „Wilhelm Meifters Lehrjahren”, worin Goethe feine Jugend- erinnerungen verwoben hat. Wer das Ganze lejen will, findet es im erjten Bud im zweiten bis fedjten Kapitel. Man nehme dazu den erften Zeil von „Dichtung und Wahr: beit“, und zwar das erfte Buch ziemlih am Anfang (Tempel-Klaffiter-Ausgabe XI, Seite 13) und das zweite Buch, ebenfalls ziemlich am Anfang (a. a. O. Seite 53). Gott fried Keller hat feine Puppentheatergefühle verewigt im Grünen Heinrich, im elften Kapitel des erften Bandes. (Yn der afina von 1854/55 ijt es die zweite Hälfte des fiebenten Sapitel3 im erften Bande.) Als drittes Yugendzeugnis ift Storms „Pole Poppenfpäler“ zu nennen. Strauch Wurzelplaftit gehört in gewiffer Weife auch zum Thema Kafperle. Wir verweifen dafür auf Hermann Boufjet3 Beitrag „Spiel und Werfen in der deutſchen Jugendbemegung” im Dezemberheft 1920 unferer Zeitichrift.

: Zum Puppentheater gehören Stüde. Man denkt guerjt an Poccis Kaſperleſtücke, die berjchiedentlich ee aura find; am billigften in ein paar Heften des „Schat- räbers“ bei 55 D. W. Callwey in Münden. Die Texte zu Carlo Böcklins

aſperletheater ſind im Verlag der Jugendleſe, Berlin SW. 61, Tempelhofer Ufer 21, er- ihienen. Ganz echt und urwüchlig find die von Johannes Rabe gejammelten alten plattdeutfchen Kafperleftüde aus Hamburg. Sie find ſchlechthin unentbehrlih. Das Hauptwerk, das bei E. Bobfen in Hamburg erſchien, heißt „Kaſper Putfdenelle”. Eine Anzahl Stüde hat Rabe in drei Heften der betannten Quidborn » Bücherei (im Quidborn - Verlag, Hamburg) herausgegeben. Eben in diefen Tagen geht uns von der Elwertſchen end andlung in Marburg i. $. zu: Job. Benda, Puppenjpicle. Buchſchmuck von Otto Ubbelohde. 2. vermehrte Auflage. Darin find, ſchön gedrudt, mit ihönen Bildern, folgende Stüde: Das tapfere Schneivderlein, Aichenbrödel, Siebenſchön, Der Froſchprinz, Der Gänſerich, König Droſſelbart. Preis 15 Mart. Kaſperle tritt wader auf. Manchmal ift er mir fhon zu gebildet, zumal wenn fogar er ins Jambiſche verfällt. Dafür kann man ihn aber unbedenklich auch Kindern vorführen. Die Bereiche⸗ rung des Repertoires ift ſehr willfommen. Ferner: vergeſſen wir nicht das alte Puppen {piel von Doktor Fauft! (Es it nad alten Druden herausgefommen in der Sinjel-Bücherel, als Nr. 125. Freilich, jo ohne weiteres ift eS heute taum aufführbar, man muß fdon mit einigem Geſchick fid) dies und das am Text zurechtmodeln. Wir nehmen die Gelegenpeit wahr, ein Büchlein anzuzeigen, das gwar nicht eigentlid fürs Safperlethcater, jondern Fut Liebhaber-Aufführungen une viel Zurichtung geſchrieben ijt: Franzista Fuld a, Márdenfpiele. Ses Aufführungen. Verlag von Julius Zwißler, Wolfenbüttel. Preis 3.20 Mt. Das Heine Büchlein fommt aus der Jugendbeivegung und ijt voller Frijeßt- Die Verfe find fehr hübſch, Iebhaft, treffend. š

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Mein Auffag über die „Ueberfegungen“ hat einen bejtimmten Anlak. Im ,,Be- obachter“ des Märzheftes hatte ih Dr. Exnjt Foerfters Ankündigung über feine „Ham— burger Jugendhochichulgemeinde“ angegriffen. Meine Bemerkungen dagegen, daß Ueber— jegungen als Grundlage für die Arbeit eines Volkshochſchullehrers jollten ausreichen, haben zu meiner Verwunderung nit einmal einige ftandige Lefer des Deutiden Volt3- tums begiffen. Das find die Folgen der „Bildung“. Alfo muß id das Selbjtverjtändliche „beweifen“. Ich hoffe nun verſtändlich gemacht zu haben, warum id) fo heftig gegen bie ruffifch-hinefiich-indiiche Weisheit, die aus Ueberjebungen gewaltig quillt und ſchwillt, zu Felde gezogen bin. Aber ich will nicht leugnen: die Schärfe der Abweifung hatte and einen perfonliden Grund. ch Iehne Exnft Föriter ab, und zwar ganz herzhaft und heftig. Andere begeijtern fich für ihn. Mögen fie. Ich fann mein Urteil nur auf meine Ein- drüde, nicht auf die andrer gründen. Und meine Eindrüde find fo, daß ich Fürfter mit- famt feiner Arbeit, jagen wir: gum Sudud wünſche. Weil ich das durchaus beftimmt empfinde, will id) es ohne die üblihen Scheinfomplimente herausfagen. Ich habe nichts dagegen, wenn andre fagen, ich fet ein greulicher Kerl, dak ich einen fo idealiftifchen Idealismus vor das edle Haupt ftoke. Ich bin auf meinem Wege durch diefe viclduftiac Welt in ein Stadium gelangt, dak ich vor dem fäuerlich-fühen Salböl-Dunft des Sdealis- mus nod) naddriidlider die Fenfterladen verſchließe als vor dem ehrlichen fapitaliftifchen Gejtant der Ausflüffe der Krideroder Zuderfabrif, die Vater Pfifter ins Elend brachten. .. Der Aufjag_ bon Pfarrer Boed jteht in innerem Zuſammenhang mit feinem Auffat über „Kritiſche Juniheft, zwei weitere Aufſätze werden folgen, welche die Gedanfen weiterführen, freilich jo, daß ein jeder in fic abgeliloffen und verſtändlich ift. €s ijt ein Grundſatz unferer Zeitfhrift, daß wir nicht —— „Fortſetzungen“ bringen, ſondern nur geſchloſſene Stücke, aber freilich ſtehn unfere Aufſätze faft immer irgendwie in einem fortſchreitenden Zuſammenhang, fie find nicht Aphorismen, ſondern Erarbeitung einer Gefamtanfdauung. Das ijt der Unterfdhied zwifchen dem „Deutfchen Voltstum“ und vielen andern Beitichriften. :

2 zu den Bildern aus Strauchs Wurzel-Plaftif [ele man den Beitrag vorn. Wir geben gr ie VBerschen wieder zu den (verkleinerten) Bildern, die wir mit Genehmigung des

erlags Paul Neff unfern Lefern vorjegen, auf daß man aud einen Eindrud von Max Strauchs fozufagen Verstunjt habe. Beim Gewiſſen, das den Befchauer hoffentlich heil- fam fdauern macht, heißt es: „Deine böfe ſchwarze Tat Menſch verfolgt dich früh und ſpat“ Der Mädchenjäger: „Mit junger Lieb in alter Bruft macht ihm das Mädchen- jagen Luft.” Der Práfident: „Der Präfident gar hochverehrt den Schwur auf die Ver- fajjung ſchwört.“ Die Badjtelze: „Es wippt die Badftels’ auf dem Stein, die Jungfrau zu dem Stelldidein.” ;

Nun ware nod) gu fagen, warum mir wieder einmal den Umſchlag geredfelt haben. Wir wollen endlich zur Rube fommen. Weg mit allen Bildern! Zurüd zur reinen Sad)» lichteit! Es ift am beften, der Inhalt des Heftes jteht auf dem Umfchlag. Dann kann jeder, der den Anlauf eines Heftes erwägt, in den Auslagen fehn, was wir ihm zum Lejen anbieten.

pued Bücher, die unfern Kreis angehn, find kürzlich erfpienen. Wir hatten im Mai- heft Bilderbeilagen von Fofua Leander Gampp gebradt und in der Zwieſprache auf das fommende Mörikebüchlein hingewiefen. ES ift nun da: Motifeliederbud, Sande zeichnungen von Joſug 9. Gampp. Alexander Dunder Verlag, Weimar. 10 MI. Es find

enau bier Dupend Blatter mit entzüdenden Zeichnungen. Co ſehr Gampp immer der- feTbe ift diefe Zeichnungen haben doc) wieder eine andre Stimmung, fie find nicht im Strid), nicht im Gegenjtand, aber in dem unfaßbaren Duft anders al3 die im Stormlieder- bud. ES 9 weniger Sehnſucht und Traumhaftigkeit, mehr Wirklichkeit iſt auch nicht das rechte Wort. Sagen läßt ſich das nicht. Es wird einem warm ums Herz beim Blättern, Leſen und Beſehen. Von Walther Claſſens deutſcher Volksgeſchichte iſt bei unſrer Hanſeatiſchen Verlagsanſtalt nun das fünfte Heft erſchienen: „Die deutſchen

olfstinige als Kaiſer.“ 84 Seiten, 8 Mt. Dem Heft ijt ein Titelblatt, ſowie ein Namen- und Sadregifter für_alle fünf Hefte beigegeben. Die erfte größere Hälfte des neuen Heftes, beginnend mit Otto dem Zweiten, heißt „Kaifer, Biſchof, Mönch”, die zweite „Des Kaifertums Irrwege und Zerfall“. Das Bud ſchließt mit dem letzten Staufer, Friedrich dem weiten. A q A ; be

Gm Beobadter des Guniheftes waren wir auf die Verpriigelung eines jüdifchen

Studenten durch fünf deutfche Studenten in Gießen eingegangen. Wir hatten uns dabei eftügt auf die Berichte der Frankfurter Zeitung, ber Voſſiſchen Zeitung, des Berliner Loge lattes und des Vorwärts, die alle übexeinſtimmten. Run werden vir bon ber trauenswürdiger Seite darauf hingeriejen, daß jene Berichte ein falfches Bild neben. Der jüdifche Student fet nicht fo unfhuldig, mir mir bana annahmen. Er fei gerichtlich wegen eines Robeitsbelittes erheblich vorbeitraft. Er habe die fünf Studenten äuerjt ge» reizt. Die fünf feien nicht betrunken gewejen, fondern haben fic) ext, nachdem fie von hinten gefdlagen waren, gegen den andern gewendet. Nad diefem und anderm ergibt ſich

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ein immerhin erheblich verjchiedenes Bild. Ein objeftives Bild läßt fd, das fehen wir wieder einmal, ſchwer gewinnen, wenn ſolche Dinge mit deutlicher politifher Spike in den Zeitungen aufgetragen werden. Wenn diefes Heft erjcheint, werde ich irgendwo auf ſein. Bis 20. Auguſt bin id) „nicht zu haben”. Bor allem bitte id) keine eingeſchriebenen Briefe an mid zu richten, die können einfach nicht eingelöft werden. Wer etwas ,Cingefdriebenes” fendet, rite es „an die Schriftleitung des D. Y.” ohne Namens-Anjhrift. Dann fam Dr. Benninghoff es einlöfen. Man made es fid) überhaupt zur Bee, eingejchriebene Sen- dungen an eine Schriftleitung niht mit perfonlider Anſchrift zu verfehen, man berurfacht dadurch dem Briefboten oder dem von der Sendung ohnedies nicht immer beglüdten Schriftleiter allerlei Yauferei und Zeitvertrödelung. Das Septemberbeft wird ein Wilhelm-Raabe-Heft, und gwar ein feines. Ich hab’s nod) vor dem Urlaub ziemlid) fertig gebradt. Ym übrigen als: un Wir lafjen mit eimtüdiishem Grinſen den Schreibtiich mit den unbeantworteten Briefen für eine Weile chnöde auf fid) berubn. Man muß ein ruppiger Sterl fein fünnen und die Dee liche einung der Mitmenfden gelafjen zu ertragen tviffen, wenn man etwas vom diefer Welt abhaben will. St.

Stimmen der Meifter.

at: bejah Kajten, Sade, Schadteln, Büchfen, Gláfer mit einem jchnellen zweifelnden Blide, was ich wählen und nehmen follte?, griff endlich nad) den vielgeliebten ge- teltten Pflaumen, verjah mid) mit einigen getrodneten Aepfeln und nahm geniigjam nod) eine eingemadte Pomerangenfdale dazu; mit welder Beute id) meinen Weg rüdmwärts glitjden wollte, als mir ein paar nebeneinanderjtehende Käjten in die Augen fielen, aus deren einem Drähte, oben mit Häfchen verfeben, durd den übel verfchlojlenen Schieber Rep Ahndungsvoll fiel id) darüber her; und mit welder itberirdifden Emp- ndung entdedte td, dak darin meine Helden- und Freudenwelt aufeinander gepadt fei! 3d wollte die oberiten aufheben, betrachten, die untersten hervorziehen; allein gar bald verwirrte ich die leichten Drábte, tam darüber in Unruhe und Bangigteit, befonders da die Köchin in der benadbarten Küche einige Bewegungen machte, dak ich alles, fo gut ich fonnte, zufammendrüdte, den Rajten zujchob, nur ein gejchriebenes Büchelchen, worin die Komödie von David und Goliath aufgezeichnet mar, das oben auf gelegen hatte, zu mir ftedte und mid) mit diefer Beute leife die Treppe hinauf in eine Dachkammer rettete.

Bon der Zeit an wandte ich alle verjtohlenen einfamen Stunden darauf, mein Schau- jpiel wiederholt zu lefen, es auswendig zu lernen und mir in Gedanken borzujtellen, mie herrlich es fein müßte, wenn ich aud) die Gejtalten dazu mit meinen Fingern beleben könnte. 3d ward darüber in meinen Gedanken felbjt zum David und zum Goliath. In allen Winkeln des Bodens, der Ställe, des Gartens, unter allerlei Umitánden, fiudierte ich das Stüd ganz in mid) hinein, ergriff alle Rollen und lernte fie auswendig, nur dak ich mich meift an den Plag der Haupthelden zu fegen pflegte und die übrigen wie Trabanten nur im Geddadtniffe ließ. So lagen mir die großmütigen Reden Davids, mit denen er den übermütigen Rieſen Goliath herausforderte, Tag und Naht im Sinne; ih muxmelte jie oft vor mid) hin, niemand gab Act darauf als der Vater, der manchmal einen jofchen Wusruf bemerkte und bei fic) jelbjt das gute Gedächtnis feines Knaben pries, der von fo wenigem Zuhören fo manderlet habe behalten tónnen.

Hierdurch ward id immer verivegener und rezitierte eines Abends das Stüd zum tößten Teile vor meiner Mutter, indem id) mir einige Wachsklümpchen zu Schauspielern ereitete. Sie merkte auf, drang in mid, und ich geftand.

Nun blieb zu meiner größten sg das Theater aufgefdlagen, und da der Frühling herbeifam und man ohne en beitehen konnte, lag id) in meinen Frei- und Spielftunden in der Kammer und ließ die Puppen wader durch einander fpielen. Oft lud ich meine Geſchwiſter und Kameraden hinauf; wenn fie aber aud nicht fommen wollten, war id allein oben. Meine Einbildungstraft brütete über der Heinen Welt, die gar bald eine andere Gejtalt gewann. Goethe.

Herausgeber: Dr. Wilhelm Stapel. (Sir ben Inhalt verantwortlid). Shriftleiter: Dr. Ind- wig aninghoff. Seen und Einfendungen find zu rigten an bie Oxdriftleitung bes Deutihen Volkstums, mburg 36, Holftenplag 2. Sir unverlangte Cinjendungen wird feine Derant- wortung übernommen. Gerlag und Deu: Danfeatiihe Berlagsanftalt Attiengejellfihaft, Hamburg Bezugspreis: Dierteljibriid 9 Mart, Einzelheft 3,75 Marf., für das Ausland der doppelte Getrag. Dont Hamburg 13475.

Na gerne der Beiträge mit genauer Quellenangabe ift von der Schriftleltung aus erlaubt, unbejhabet der Rete des Berfaffers.

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Der Präfident

Die Bachſtelze

Aus dem’Deutichen Volfstum Aus Mar Strauds Wurzelplaftit

Das Gewiffen.

Der Mädchenjäger

Aus dem Deutihen Volfstum Aus Mar Strauds Wurzelplaftit

Deutfches Dolkstum

Monatsfcrift für das deutfche Geiftesleben Hrernusgeber Wilhelm Stapel

Ranbe-Feft mit zwölf unverdffentlidjten Fandgeidjnungen Wilhelm Ranbes

Inhalt: Helene Dofe, Wilhelm Ranbe und die Myftik eseseseseseses Dr. Wilhelm Stapel, Ranbes Deutſchheit Prof. Dr. Karl Lorenz, Raabe in der Schule Dr. Wilhelm Stapel, Die Deutung der „Frau Salome” Raabes franz fjeyden, Dom Iyrifdyen Raabe und feinem Mondlied eaca Prof. Karl Söhle, Meine Erinnerungen an Wilhelm Ranbe eses Dr. Conftantin Bauer, Bücherbrief fiber Ranbefcdriften eseseses

Kleine Beiträge: Dr. Karl Bernhard Ritter, Befreiung / Dr. Maria Srunewald, Cine Reife im Sadifenwald / Dr. Wilhelm Stapel, Dom gefftreidjen Raabe / Derfelbe, Ranbes Lyrik

Zwölf Sedichte von Wilhelm Raabe dwölf Zeihnungen von Wilhelm Ranbe eseseseseseses

wes

Fanjentijdje Derlagsanftalt, Hamburg Preis viertelj. 9 Mark Einzelheft 5.— Mark September 1927

OMNIA EITEII ENT

Wilhelm Ranbes atl Werke

Einzige woblfeile Ausgabe 3 Abteilungen je 6 Bände. Sede Abteilung ift einzeln Fäuflich.

1. Abteilung: 1. Selbftbiographie / ie * / ALTEA 2. Halb Mábr, balb mehr / 3. Der EA Born | N om Soke Kriege / 4. Unf. Serrgott8 Ranzlei | Verworrenes Leben. / 5. Die Leute me bon Ferne Stimmen. | 6. Drei

Federn | Der Regenbogen. 11. Abteilung: 1. Abu Telfan oder die Heimkehr vom Mondgebirge / Horader / 2. Die Kinder von $ ntenrode | Chriftoph Pechlin / 3. Der Dräumling / Deutſcher Mondfdein 4. Rrabenfelder Gefchidten / Meifter Autor peck die Gefchichte vom verfunfenen Garten 5. Wunnigel / Deutfder Adel / Fabian und Sebaftian / 6. Alte Nefter / Prinzeffin Fife. HI. Abteilung: 1. Der Schüdderump / Das Horn von Wanza / 2. Villa Schönow / Müple / Unruhige Gafte / 3. Se alten Eifen / Der Lar / Rlofter Lugau / +. Das dfeld 4 Gutmanns Reifen / 5. Stopftuden ¿ Die Alten des Vogelfangs / 6 Saftenbed / Itershaufen / Gedichte / —ã elegentliches / Gedanken und Einfälle. Sn Halbleinen 216.— M., in Ganzleinen gebunden 252 M. je Abteilung gegen Monats- zahlung von nur 25.— M. Erfüllungsort Halle.

Peſtalozzibuchhandluug Linke & Co., Halle a. b. S. Gernruf 4583 und 3365.

Ich beftelle obige nicht Durchgeftrichene Abteilungen Ort, Straße, Tag: Anterſchrift:

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Aus dem Deutfhen Voltstum Zeichnung von Wilhelm Ra a P

Man muß Bücher ee reiben, ne paid perl t, Das fie fpäter Ite gt.— 6. Sept. 1873, Na —S la yaa

Deutfches Volkstum

9.5 ft Eine Monatsfchrift 192)

‘Wilhelm Naabe und die Myſtik.

it Abu Telfan beginnt eine neue Periode meiner dichterifchen Entwidlung, nad) einer neuen Geburt.” Go erklärte, nad) Wilhelm Brandes, einft der vermeintliche „Heimtüder” Wilhelm Raabe und legte damit in betounderungswitr- diger Offenheit den Schlüffel zu feiner rätſelreichen Perjónlichteit felbft in unfere Hände. „Nach einer neuen Geburt.” Dem Wiffenden bleibt es nach diejem Aus- fprude feine Frage, dak Wilhelm Raabe bewußter und froh-ftolzer Myſtiker tar.

Ware fie zu gewagt, diefe Behauptung? CSiderlid) nicht. Ga, ohne zu über- treiben, fann man fagen: taufendfach ließe fic) diefe Tatfache aus feinen Werfen bes weifen. Nicht an der Hand von weiteren perfönlichen Befenntnifjen oder direkten Ausjprüchen (das Wort in den Aften des Vogeljangs, das der Meifter dort einer feiner vorbildlichen weiblichen Lieblingsgeftalten in den Mund legt: „Es ift mun einmal nicht anders, es gilt eine neue Geburt!“ bildet geradezu eine Ausnahme), fon- dern vornehmlich an der Hand der Gejtalten, die er bildet, und die unverkennbar durdpulft und gefpeijt find von Welten, die jenfeits unferes „bloßmenfchlichen” Er- lebens (unt mit Rudolf Euden zu reden) jtehen.

Welches aber ift das ficherjte Kennzeichen des Miyftilers? Man frage um nur einige der Alten zu nennen bei Edehart, Tauler, Seufe, dem Großen Frantfurter, bei Siwedenborg, Angelus Silefins oder dem ſchlichten Gorliger Schufter Jakob Böhme an: einmütig bezeugen fie als Angelpuntt ihrer Entwidlung und damit als unzerftörbaren Grund ihrer in Gott errungenen diezfeitigen „Seligfeit” die „neue Geburt”, die Geburt Gottes auf dem „Seelengrunde des Menfchen”. Und fie alfo fannte Wilhelm Raabe; diefes feltene Erlebnis ihm war es zuteil geworden. Und warn etwa? Bor dem Erfcheinen feines Abu Telfan, nach eigenem Ausſpruch.

Dana) waren wir berechtigt, in Abu Telfan felbft Anzeichen des neuen Men- fchen Wilhelm Raabe zu fuchen, wohl gar auf eine fünftlerifche Eintleidung feines myſtiſchen Erlebniffes zu rechnen in diefem Werke? Brweifellos. Wilhelm Raabes damaliges Wort follte ja doch ficher felbft nach diefer Richtung hinweifen fraglos dürftete er (wie alle ,,Gewordenen”, naturgemäß Einfamen) nach Verftändnis, nad) feelifchem Gleichklang gerade auf diefem, feinem heiligften Gebiete!

Abu Telfan, erfchienen 1867, ift das Mittelſtück der fogenannten Raabe-Trilogie, die außerdem den Hungerpaftor (1863) und den Schüdderump (1870) umfaßt. Dak in diefen drei Werfen ein einheitlicher, ein „Langer und mübfeliger” Weg befchrieben wird, ftellt der Verfaffer am Schluß des Schiidderump ausdrüdlich felbft feft. Diejer Weg landet (wenn auch an Sarg und Siechenhaus vorbei) am Fuß des alten germani- [den „Zauberberges”, er beginnt im Hunger. (Sungerpaftor.) Aber über diefent „Hunger“ ſchwebt unentivegt die Glaskugel des Meifters Unwirrfd, der nicht nur feinem äußeren Berufe, fondern auch der inneren Berufung nach ein echter Zunft» genoffe des finnig-tiefen Gorliker Schufters Jatob Böhme war. Es ift der Hunger, bon dem der Anfang der Bergpredigt verheift, er werde ficher zur Sättigung führen. Bur Sättigung? Nein, behauptet der Schiidderump, zu viel mehr: zu einem märchen- haften, zaubervollen, ungeahnten Reichtum! Zu einer (freilich vorerft nur inneren) Herrlichkeit und Größe, die wiederum ein Bibelivort (diesmal eins des aud recht merkwürdig geführten Paulus) beftatigt, das Wort, daß die Leiden, die zu

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folder Höhe führen, nicht entfernt „wert feien der Herrlichkeit, die an ung foll offen- baret werden.“ :

Der Myſtiker faft, feiner Erfahrung gemäß, diefe Herrlichkeit nicht etwa als eine erft im Jenſeits eintretende auf. (ES heißt ja auch biblifcherfeit3 nicht: „Selig werden dereinjt fein,” fondern ,felig find, die hungern und dürften nad) ber Gererhtigteit”. Den „felig fein” heit „die Fülle” haben, heift eingetaucht fein in den Reichtum Gottes, wie die myſtiſche Vereinigung mit Gott e3 naturgemäß mit fd) bringt. Des ift nun der Held von Abu Telfan Zeuge: Leonhard Hagebucher. Ursprünglich ein fcheinbar im Leben Gefcheiterter.. Denn Gott führt „wunderlich die Seinen”. Zunächſt wollen fie, alg herrlidfeitahnende Jimger des deals, im Hodh- flug des Geiftes die Schranfe jenes „erbärmlichen Behagen3” überfliegen, das ein fonventionell geführtes, alltagstlug gebändigtes Leben ihnen garantieren würde, aus eigner Kraft überfliegen und fie ſcheitern alle. Sie landen in unvorftellbarer Tiefe. Allmáblid werden fie klein, ganz Klein, flein vor ſich, Mein vor der Welt, ja: ein „Nichts“ ſchließlich. Das it die Beit, in der fie, wie Leonhard Hagebuder, im „Schatten des Mondgebirges” im ,Tumurtielande” leben. Sich felber jterben fie völlig ab. Aber auch das Meizentorn muß abjterben, damit ein Neues, Größeres aus ihm iwerde. ...

Was diefes Größere fet, das aus diefem „Gott leiden”, diefer vollftandigen Selbft- entäußerung erblüht, das läßt Wilhelm Raabe feinen Abu-Telfan-Helden felbjt bes richten. Gelegentlich eines Vortrags gefdiehts, ben der aus der jahrelangen, „afrifanifchen” Demütigung Heimgetebrte vor dem refidenzlichen Bublitum feiner engeren Heimat hält. Er Dat fich des realiftifchen Teiles feiner Aufgabe glänzend entledigt freilich bat der Hauch lebendiger innerer Freiheit, der diefen geiftigen Außenfeiter für wobhldveffierte Biirgerfeelen aller Färbungen fühlbar umivittert, neben mannigfacher Freude auch bedentliches Unbehagen ausgelöft aber gegen dal Ende feines Vortrages ſchwingt er fich zu einer allgemeinen Betrachtung auf, die all diejem afrifanifd-durtlen Gefchehen erft das rechte Licht das helle Ewigkeitslicht gibt. In wenig tiefernften und doch befenntnisfrohen Worten ſtizziert er da feine innere Entwidlung diefer Jahre, die Entwidlung, für die alles äußere Gejchehen nur Unterlage und Rahmen war. Ziweddienlich zitiert er „aus der 92. Nacht der arabi- fen Marden”. „Wenn der König von Serendib auf feinem weißen Elefanten aus- reitet, fo ruft der vor ihm figende Hofmarfdall mit lauter Stimme: „Dies ift der große Monarch, der mächtige und furdtbare Sultan von Indien, welcher größer tft al3 der große Salomo und der große Maharadfchah waren!” Worauf der hinter Seiner Majeftat hodende erjte Kammerdiener ruft: „Diefer fo große und mächtige Monarch muß fterben, muß fterben, muß fterben!” Und der Chor des Volles ant- wortet: ,,Gelobt fet, ber da lebt und nie ftirbt!” Und dann fährt Leonhard Hage- bucher, gleihfam in einem beftätigenden, jauchzenden Ya des myſtiſch Gewordenen fort: „Wohl dem, der feines Menfchentung Kraft, Macht und Herrlichkeit fennt und fühlt durch alle Adern und Fibern des Leibes und der Seele... . wobl dem, dem jener legte Ruf überall und immer der erfte ijt...” Jn wenigen Worten haben wir hier den Werdegang und den triumphierenden Jubelfjang des myſtiſchen Menſchen: Erfte Stufe: die überhebliche Selbjtficherheit des natürlihen Men- ſchen. Zweite Stufe: das Zerbrechen des natürlichen Menschen, der fic) in allem alg verganglid), al8 ohnmächtig erweilt. Drittens: das Geborenwerden des Ge i ft - menfden, des Ewigen in uns...

Der hier zur Verfügung ftehende fnappe Raum verbietet ein ausführliches Ein- gehen auf die ebenfalls hochintereffanten Nebenfiguren, die Leonhards Entwidlung begleiten und für den Hauptgedanten des Ganzen, die Wiedergeburtsidee, von größter Bedentung find. Da ift vor allem die Frau Claudine die geijtige Fiihrerm Leonhardts. Sie it bereits vor feiner „Erleuchtung“, die fie ihm erringen Hilft, Zugehörige des geheimnisvollen Neiches, das immer mur wenig Vertreter auf diefer Erde hat gegen „Millionen“, die draußen ftehen. Da ift die rührende, kindliche

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Schneiderfeele Taubrid) Paja, der fic) immer nod nit in feinem „Pfingft- wunder” zurechtfindet, dem es immer nod) ¿umute ift wie einem Traumenden, der fi; immer nod) fragt: „Sit diefe Welt nun die richtige, die did)” draußen umgibt, die Welt der Härten, der Tüden und Ranke und Schwächen oder ifts die andere in mir, in der id) mit Sidi Hagebucher „unter Palmen” und „auf hohen Berge3- gipfeln“, in Damasfus und Ferufalem wandle?” Da ijt ſchließlich die einft fo hach- gemute Nikola von Glimmern, die an der Schwelle ihres myſtiſchen Erlebniſſes jtebt. „Aus Millionen war Nikola Glimmern jegt allein berechtigt, diefe düftere Grenafdeide zu überfchreiten.“

Wenn wir durd Abu Telfan einen Einblid in die Nöte und in die (eine neue Welt grüßende!) Freude der Gottesgeburt im Menfchen tun, fo ftellt der Hungerpaftor die vorgeburtliche Entwidlung des myftifchen Menfchen dar. Der Lichtteim desfelben liegt in jedem Menſchenweſen. Wir brauchen nur die Bedingungen zu feiner ungeftörten Entfaltung zu jchaffen, als da find: Wärme, Ruhe, entfprechender Nährboden. Die Wärme, b. h. die voriwiegende Ge m ü t 3 veranlagung, ift bei Hans Unwirrſch unverkennbar in weiteitgehendem Make vorhanden; feine Ruhe dem Welttreiben gegenüber erfcheint zeitweilig beinah als Paffivität aber fie ift nur das ſtauuende, inftinftiv weltüberlegene, ehrfürchtige und ſchweigende Hingegeben- fein an ein Höheres, das er überall durchfühlt. Die Nahrung feines inwendigen Menfchen fucht er nie, mie fein Widerpart Mofes Freudenftein, im Intellettuellen, im „Schöngeiftigen“, in den Jongleurtiinften der Kritik, der Verneinung fein Hunger geht nad) den tiefiten Rátfeln des menfchlichen Seins aus und nad) „der Unfchuld, der Treue, der Ganftmut, der Liebe.” Gibt es beffere Elemente, den Lichtkeim in uns zu nähren? Wie aus ihnen der geiftige Organismus des höheren Menſchen fic) zufammenfügt, dak zur gegebenen Stunde das Gottesfind der ziveiten Geburt, die neue Schöpfung, an der Schtvelle eines neuen Vichtreiches fteht eines Reiches, das der Heimat des mur fleifchlich geborenen ivdifden Menfchen weit über- legen ift das ift Gottes Geheimnis.

Der Schüdderump bringt den dritten Teil des Wiedergeburtsproblems. Er beantivortet die Frage: wie vollzieht fich das fernere Leben des Zweimalgeborenen?

Hier fommt nur die wunderbare, die erfchütternde Geftalt der jungen Toni Häußler in Frage. Sie erfcheint als junges Kind fon erdenfremd. Ihre innere und äußere Entwidlung grenzt an das Wunderbare ein eigenes Licht fdeint fie zu umfließen. hr ganzes Schidfal ift außerordentlich. Und e3 ift durchweg auf ſchwerſte Tragit eingeftellt ... Soll das die Herrlichkeit der Wiedergeborenen fein? Sreilih wohl. Nur fo fann fie geoffenbaret werden. Es foll ja die Feuerprobe geliefert werden, der Schlußfampf mit der Macht der „Materie“, der feindlichen Welt. Kennen wir nicht ein Golgatha? Es blüht jedem, der zur vollen Lichthöhe fchreiten will und muß. „Es geht durchs Sterben nur.” An diefem Lebenswendepuntte des Gottestindes wohl ein wirkliches Sterben, aud dem Leibe nad. Die Feind- {aft der Welt gegen die Lichtgeborenen ijt tödlich. Und doch bleibt die Welt die Befiegte: [el bit hat fie dem Auserwählten zu feinem legten Triumphe, zum Siege über einen freitvillig auf fich genommenen Tod verholfen. Stand nicht einft ftrablend ein Auferftandener an des Grabes Pforte?

Und Toni Häußler? Auch fie hat fic) ftandhaft, wiffend dem Tode gejtellt, das Panier der adeligiten Reinheit und Seelengröße hochhaltend in einer Welt der Ober- fläche und Gemeinbeit, und der Sarg dort im „Iuftigen“ Wien halt feinen Raub feft! Aber figen am „Zauberberge” im Siechenhaufe zu Krodebed nicht drei alte, fiimmerlide Geftalten, wie gläubige Kinder, in einer Reihe auf der Bank? Sind fie nicht vom Schloß herabgeftiegen, erinnerungsvolle Andacht zu feiern an Eine, deren leichte, lichte Füße einft durch diefe Räume fchritten? Sie betrachten freilich nur die fablen Wände „wenn jedoch plóglid) ein Schein über die morfde Wand hinliefe, und eine lichte Geftalt leife winfend und freundlich Tächelnd borbeiginge und den ginger auf den Mund legte, fie würden fic) taum darüber wundern.”

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n+» kauft euch den Sungerpaftor, das ſchöne Buch Abu Telfan und den Schüdde- rump . . .” („Nachlefe” der Gefamtausgabe.) Ga, es ift herzbeivegend und herz- erhebend zugleich, zu beobachten, weld) hohen Wert Wilhelm Raabe im weiteren Verlauf feines Lebens der „Trilogie“ beimift und darin naturgemäß vor allem dem Herzſtück derfelben, dem Werke Abu Telfan. Fit eS doch grundlegendes Betennt- nis, feierliches Zeugnis und fünftlerifch grandiofes Spiegelbild der „neuen Geburt“, der höchſten Botjchaft, die der alte „Botenläufer” Wilhelm Raabe (wie er fi) 1906 be- wegt noch jelbft nennt) den „Veuten“ in die Häufer tragen konnte! Wie gern legt er immer wieder den Finger auf diefes unerfchöpflich reiche Wunder- und Offenbarungs- wert feiner bedeutungsvolliten Lebensjahre: Tumurtieland wird ihm ein feftitehender Begriff, wie 3. B. die Gegemüberftellung desfelben mit dem larmenden, zivilifationg- beraufchten und doch fo leeren Ewigheute im „Deutjchen Adel” betweijt. (Gejamt- ausgabe II, Bd 5, ©. 357.) Stopfluchens Freund durchquert den Atlantifchen Ozean auf jeiner Befuchsreife von Afrita nach Europa auf einem „Hagebucher”, und Phoebe gar in den „Unruhigen Gáften” ift unvertennbar die Schweiterfeele der Frau Clau- Dine; gefliffentlich verwendet Raabe zu ihrer Charatterijierung ftellenweis genau diefelben Wendungen, Worte und Bilder wie einft bei Frau Claudine. Wie einft die Trägerin der Weg iweifenden Heinen hellen Lampe in der Katzenmühle jehen wir Phoebe gottesficher und gottesftill im engen LichtEreis ihrer eigenen Kleinen Arbeits- lampe (nicht in dem der „römischen Grablampe” oder irgend einer anderen „Leuchte“ der Wiffenfchaft, der Kunft oder der Philofophie). Wie Frau Claudine ift fie „Die einzige Gewappnete unter all den Rüftungslofen, die einzige Ruhige unter all den Aufgeregten, die einzige Gefunde unter alle den Sranten, die einzige Starke.”

Nur, daf fie, die lange bewußt Hriftlich Gerichtete, fehr viel früher als bie Greifin in der Kagenmühle zu ihrer „Ruhe in Gott” getommen ift... Das führt ung zu einem neuen Gefichtspuntt. Denn: bon wannen kommt ihr diefe bei ihrer Jugend doppelt befremdliche Ueberlegenheit? „Sie hat die Gabe die Gnade” antwortet ber Pantheift Wilhelm Raabe.

Ja, den Vortourf des Pantheismus hat man Wilhelm Raabe wiederholt gemadht. Schon im Hungerpajtor geht Raabe lächelnd darüber hinweg. Zu vernehmlich fprad) ihm ein Gott in feiner Bruft, als daß er ihn hätte verneinen oder verflüchtigen tónnen. Dann fam das religiöfe Eigen-Erlebnis über ihn; immer bewußter faßte und fühlte er fortan die ihn führende Gand, den „Wunderwagen“ eines überlegenen Gottes. Darf e3 wundernehmen, daß wir ihn, vierzehn Jahre nach dem Sdiidderump, in den föftlichen „Unrubhigen Gáften” Aug in Auge mit dem Chriftusproblem finden? Bit doch die gefunde Myſtik freudiges Leben, ununterbrochene Entividlung! Und mert- mwürdigerweife fcheint fic) diefe Entwidlung beim Einzelnen bom deutlich gefpúrten Malten des Geiftes aus (dogmatifch gefproden alfo vom dritten Artifel aus) zum Gott-Erlebnis (erjter Artikel) und dann erjt zum Chriftus-Erlebnis Din (zweiter Artikel) zu beivegen. Die innere Auseinanderfegung mit der Perfor und dem Ge- heimnis Jeſu Chrifti ift für uns alfo das Letzte, Höchfte. (Denn: „Chriftus ift das Herz Gottes” behauptet Jakob Böhme.)

Schon 1874, in der ,Innerjte”, fehen wir deshalb den Meifter herzerquidende Einkehr halten im Heim der jungen Frau Lieschen, das fie allein durch ihr Dafein zu einem Heinen Heiligtum ausgeftaltet hat. Denn fchon in ihrer Jungmädcden- zeit hat fie es verstanden, „Weihnacht zu feiern mit dem finde in der Krippe, um das ` Hirten und Engel und Propheten, ausländifche Samele und Palmbaume ihr Bejen haben.” Und mie wunderſchön ift das Bekenntnis zu dem allein „rechten Licht” in den „Alten Neftern” vom Sobre 1879! Zunächſt macht Raabe da die fehr beachtens- werte Feitftellung, bab darüber nur die auserwählteften Geifter, und auch die nur in höchſt feltenen Fallen, ihre Meinung ausdrüden dürfen. Und dann folgt das lebenstiefe Wort des „Optimijten“, der den Peffimismus bis zum jchredlichiten Tumurtiejammer durchlämpft und niedergerungen hat: „Ste fünnen dann, mie der Maler der heiligen Nacht, den Schein vom neugeborenen Kinde in der Krippe aus-

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gehen lajjen ...” Wie echt hriftlich! Wie verblaßt gegen diefe Bejtimmtbeit jediveder vorchriſtliche oder innerchriftliche Pantheismus! Und wiederum ein nur aus tieffter myſtiſcher Erfahrung mögliches Betenntnig im „Alten Eifen“: „So fage ich nur, daß mir der Mann aus dem fonnigen Nazara am deutlichften in die Erfcheinung tritt, wennhierzulandedie Tagefurgund dieNadtelang find...”

Wir fehen: Raabefche Myſtik ijt nicht Pantheismus, fie beivegt fic) in durchaus erfennbarer Linie dem Hergpuntte gerade des Chriftentums zu. Der Wieder- geborene verfpitrt des Geiftes Walten, weiß aber nicht, „von wannen derfelbe fommt und wohin er geht.” Er grübelt auch faum darüber: gar zu mächtig ringt er nod, Jahr um Jabr, mit dem Erleben an fic) und ftammelt nur immer wieder, ftaunend dankbar Hingeriffen: „Bott!“ Dann aber gefdieht es allmählich, dak ein anderer Name im geijtigen Gefichtsfelde in neuer Bedeutung auffteigt: der Name Jeſus. Die Auseinanderfegung mit diejem Namen fommt immer. Niekjche ift vorläufig gerade an ihr gefchettert.... Und vielleicht hat Johannes Müller recht, wenn er die neue teftamer.tliche Wiedergeburt fchlechtiweg als das Werk des Auferftandenen bezeichnet, der ja auch ausdrüdlich dargelegt hatte: „So ich nicht hingebe, fo kommt der Tröjter nicht zu euch; fo ich aber gehe, will ich ihn zu euch fenden,” und der erft nach feinem Tode, zu Pfingiten, an den Fiingern das Neugeburtsiwunder wirkte. „Die Engel im Himmel wundern fich fehr darüber,” meint Swedenborg in feiner teiltueife fo ergötz⸗ lichen Art, „zu hören, daß die Menfchen der Erde immer noch nicht wiffen, daß der heilige Geift vont vergöttlihten Menſchlichen des Herrn ausgeht.“

So wenig Raabe Pantheift war oder gar fein wollte, jo wenig mar er dem O uietismus verfallen; dafür fpricht fein Lebenswerk im eigentlichen Sinne des Wortes Bande. Dafür hat diefer Mann den Kampf des Lebens viel zu heroifd auf fic) genommen. „Ich bin mein ganzes Leben hindurch die heige Hand an der Gurgel mit der Frage: Was wird mit dir und den Deinen morgen? nicht los geworden.” Machleſe.) Und wie find alle feine vorbildliden Figuren auf Ethik, auf Aktivität eingejtellt! Frau Claudine betätigt in finnfalligíter Weife fogar betvußt die voriveg- nehmende Ethit des Reidhes Gottes, wie die Vergpredigt fie fordert: wehe dem, der auch nur einen Gedanken des Haffes, der Rache, auch nur eine Regung geiftiger Lauheit in ihren Banntrei3 tragen will! Und ihr eriter Rat für Leonhard Hagebucher ift: Arbeit! Durch Arbeit jedwedes äußerlich Verfaumte nadholen! Ein liidenlofes Gein aud) im Sinne der Welt, der Wiffenfchaft, der Philofophie, der Kultur, in fic) felbft fhaffen! Und Phoebe? O, wie fchreiten diefe leichten, geift- en Füße Tag und Nacht von Pflicht zu Pflicht, zu freiwillig erroablter, oft o herber!

Werfen wir noch einen Blid auf das Verhältnis des Myſtikers Wilhelm Raabe zur Natur neben und über uns. Er ift vielfach alg Romantifer eingeordnet worden. Zweifellos ijt in ihm aud) u. a. das romantifche Element unverkennbar nur dürfen wir nicht annehmen, daf er feine tiefe Cigentweisheit aus der Romantik entlehnt habe. Was er felbft von Goethe fagt: „Diefer Mann hat alles erlebt,” das gilt ebenfo fiher aud) von ihm. Und die blaue Blume der Romantif er hat fie ja felbft gefunden in feiner neuen Geburt. Denn die i ft das wahre Wunderbare, das Märchen, die Blüte unferes Lebens. Weit aber ift Raabe über die vorherrfchend im Gefühls- mäßigen, im Formlofen fteden gebliebene Romantik hinausgegangen! Denn er war ein Menfch wirklicher innerer Schauung. Alle feine Werke find aus einer höheren Realität herausgeboren zu einer in fich felbft ruhenden, fozufagen ſchwebenden Voll- endung (befonder3 feit der ,Trilogie”), fo dak fie das Entzüden jedes Kenners bilden ntiiffen. Nicht ein Wort möchte man davon hergeben jedes hat feine geheime Miffion! Und er ift weiter dverheroifche Menjch, deshalb verlangt er heroifche ro Darum läßt er feine Höchften durch ſchwerſte Tragit gehen! Zum Siege

en!

Man halte feft: der Wiedergeborene ift durch fein Erlebnis in eine lebendigere Fühlung mit Gott getommen. Jn Gott aber ift nicht nur der Menjch eingebettet,

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fondern aud) die Natur- und Geifteswelt. sit

es ein Wunder, wenn die neue Seele da die 4

Vebensbetvegungen der Natur einerfeit3, des Metaphyſiſchen andererfeits, lebhafter verjpitrt? So jehen wir bei allen Mbjtitern ein außerft lebendiges, ein teilweife inniges Verhältnis zur Natur. (Man dente an Franz von 2Affifi, an Fechner u. a.) Sie ahnen aud) hinter den Bil- dungen der Natur individuelle Befeelung. Wes verrät ihnen geiftigen Hintergrund: das ftumm- beredte Zutageblühen (um eine Bergmanns- vedengart zu gebrauchen, fagt Raabe) farben- glühender Wunderadern und Steine (mitten im dunklen Schoß der Exde!), die formenbildende Tätigfeit des Kriftalls, das zum Himmel em- porftrebende Wachfen, Blühen und Augenauf- ſchlagen der Pilanzenmelf. Ueberall Symbol, Mitarbeit am Problem des Kampfes zwifchen Geift und Materie, zwiſchen Licht und Finfter- nis, überall ein Hinausftreben durch „Tumur⸗ fieland” zum Dihinniftan-Lichtreihe! Auf foldem Boden gefdiehts dann auc, dak ein Klopftod finnen tann: „Auch das Würmchen, mit Golde bededt, merkt auf! Bits vielleicht nicht feelenlos? Sit eS unfterblidj?” daß Goethe in der menfchlichen Seele Zauberflänge vermutet, vorläufig nod) ſchlummernde, die die Wut von Löwe und Tiger in zahmes Laufchen und Gehorfamen zu wandeln vermögen. Von hier aus erklärt fic) eben fo ziwanglos die Ver- bindung, die innerlich gegebene, mit der Welt der Geifter, ja das ahnungsvolle Begreifen einer kosmischen Allbefeelung. Yeh erinnere an Giordano Bruno, an Goethes erfürdhtig- ergriffenes Miterleben einer Verfinfterung des Aldebaran, man vergegenmwärtige fid) fein am Begrabnistage Wielands zum Kanzler Müller gejprochenes fines Wort, Wielands Seele fonne wohl einen ganzen Planeten alg Vebitel „angeeignet befommen. Und man dente, nicht julegt, an die Hochbedeutfame Geftalt der Marfarie, die er, in diefem Leibe nod, zeit- weife als Stern teilnehmen läßt an einem Teil der Sternenbeivegung. . . . Ga, es ift Eigenart der Myftif, dak fie gro vom Men- {chen denft. Nicht von dem, was er jest im Durchſchnitt ift, fondern bon dem, wozu er berufen ijt. Deshalb brauchen wir fie nicht gefährlicher Ueberhebung zu besichtigen. „ES ift nod) nicht erfdienen, was wir fein werden,” fagt aud) die Schrift in Herrlich verheigfendem Sinne. „Jeſus fam,” meint Johannes Müller, „als Offenbarer unferer göttlichen Art und als Gebitlfe unferer Freude.”

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Wenden wir uns nod) einen Augenblid der metaphufifchen Seite in Wilhelm Raabes Schriften zu, der Welt der Geifter. Sie war ihm nicht „verfchloffen”. Un— zählig find feine Anfpielungen und Berichte auf dem Gebiet der Ahnungen, der Fern- wirfungen, der Gefichte, deS Vorſpuks ich erinnere nur an Michel Haas, an Meifter Autor, an das Odfeld, Frau Solome, die Innerſte, an des Reiches Krone... . Rahrlid: eine fette Weide ift der Meifter Raabe für Feinfchmeder aus dem Rreife der metaphufifchen Sonderlinge! Schon in feinem Erftlingswerf, der Chronik der Sperlingsgaffe, plaudert er, unter dem Dedmantel eines fcherghaften Halbtraumes, Geheimniffe aus über die Geiftbefeelung des Lichtes, bie an den heutigen Karl Ludivig

-Schleich denten laffen. Und in feiner foftliden ,Grabrede aus dem Jahre 16092 fpricht er das tiefe Wort: „Das Licht und die Geifter verftehen einander.” Das Hohelied des Geiftes und der Geifter aber hat er in feinem bisher vielfach weidlich verfannten „Alten Proteus” gefungen. Diejes in der Einfleidung ebenfalls fchalfhaft anmutende Prachtftüd Raabeſcher Kunft ift ganz auf ernftefte Metaphyfit eingeftellt. Beithalten aber müffen wir die Tatfache, daß die metaphyfifden Phänomene und Erwägungen nicht im Vordergrunde des Raabefchen Suchens ftanden und nod) viel weniger den Ausgangspunft feiner eigenen Entwidlung bildeten. Das zentrale Lebensproblem war ihm: die Geburt Gottes im Menschen. Was im Laufe der Beit von diefer Grundlage aus entiwidlungsgemäß ihm entgegengeführt wurde in einem bis zum legten Augenblid ehrfurchtsvollzernften und doch heiter überlegenen Sucher- leben, das nahm er danfbar-froh als Begleiterfcheinung entgegen und als Offenbarung jener neuen Dafeinsftufe, zu der der Tod die naturgemäße Pforte ift.

Selene Dofe.

Raabes Deutfchheit.'

[3 jener Teil des deutfchen Volkes, der nicht ohne Sperren und Sträuben endlich im Deutfchen Reich untergebracht worden war, nad) dem Fünf-Milliarden- Segen von Anno Gloria fic) voll und ganz und zielbewußt mit gefdwellten Segeln in die Weltgeltung hineintreiben ließ, fak in Braunfchtweig, Salzdahlumerjtraße 3, der Schyriftfteller Wilhelm Raabe, etlichen Redakteuren und einem Keinen Bufallspublifo al3 „deutſcher Humorift” befannt, und fab mit fehr merkwürdigen Augen auf den Tumult. Er pafte weder in die Salzdahlumerftraße nod) fonft in die derzeitige Febt- zeit, bie fo hell und blendend geworden war, daß man die Sonne hätte abfchaffen können, ohne daß fie bon der Mafgebenden vermift worden wäre, und in der das gewohnheitsmäßige allnächtliche Exfcheinen von Mond und Sternen einfach lächerlich war. Die Sterne über mir und das Getviffen in mir du lieber Himmel, Kroll3 Etabliffement mar viel grokartiger! Und wo Paul Lindaus Brillantlicht funtelte, wie follte da Herr Raabe mit feiner altmodifden Nachtwächterlaterne Eindrud maden? Was hatte der Kerl überhaupt hier zu fuchen?

Wahrhaftig, eg war ein mie foll man das nun verftändlich machen? ein mwunderliher Menſch. Aus jenen dunklen Yahrtaufenden fam er her, von denen die Profefforen der aufgeflärten Zeit behaupten, dak fie roh und wild getvefen feien, von denen mir aber nod) beftimmter behaupten, dak fie voller Liebe und Leid, voller Güte und Grauen waren, nicht anders als alle Zeiten. Denn e8 wedfeln nur die Er- fcheinungen, Gott aber ijt ewig. Jener Menfch war mit den Kimbern und Teutonen durch Gallien und Hifpanien gezogen, und war dabei, al3 der König Teutobod bei den Bädern des Sertius gefangen genommen wurde. Er Stand auf dem Feld an der Aller, als die trogigen Gachfenfopfe zu Ehren von Godes egan Barn auf die Erde rollten. Hinter Tillys Spaniern war er über die zertretenen Saatfelder einher- gervandert, und die verängfteten Bauern hatten ihn blöd und mißtrauifch angefeben. Den alten Frig befuchte er in der berivorrenen Nacht, als die fiegreichen Ruffen auf

*) Aus dem eben bei Hermann Klemm erfdeinenden Sammelwert „Das Raabebud”. Näheres im Bücherbrief und in der Zrwiefprade. 273

dem Schlachtfelde von Kunersdorf bei den Lagerfeuern lármten. Mit dem alten Goethe hatte er bei der Nachricht von Schillers Tode tröjtliche Zwieſprache gehalten. Nun aber war er in diejer glorreichjten aller Zeiten angekommen und ging mit feinen langen Beinen Jahrzehnt um Jahrzehnt in der Stube auf und ab. Der zerfegte Schlafrock fchlenterte ihm um die Glieder. Sein Antlig war wie die braune, ber= Enorrte und verwachſene Heide. Aber die Augen, die leuchteten aus der Tiefe der und das ewig Liecht gehet da herein. Aber die Welt erkannte es nicht. e

Mit diefen Augen blidte Wilhelm Raabe auf das Zeitalter des Fortſchritts, und er äußerte über das, twas er jah, feine Meinung in der Gefchichte vom verjuntenen Garten, die er 1872 zu jchreiben begann, im Deutſchen Adel von 1876, in der Prin- geffin Fifch von 1881, Jm Alten Eifen von 1884 und anderen Büchern, die durchaus nicht in die literarifche Rubrik „deutfcher Humoriſt“ Hineinpaffen wollen, und die ein vernünftiger Menfd), der gelernt hat, was Raabe der deutichen Literaturgefchichte ſchuldig ift, deshalb auch nicht lieft. Daß man in diefen Büchern zum beiten gehalten wird, mag ja hingehen, denn man tft es gewohnt, von den jeweilig Modernen mit unverjtändlichen Sunitoffenbarungen zum beften gehalten zu werden. Aber bei dem alten Raabe ift Hinter dem Aergerlichen immer noch fo etwas Unheimliches.

Seine Gejtalt ragt in der Tat unheimlich in dem Zeitalter von 1870 bis 1914 auf. Für Augenblide fällt das Spießbürgerliche plöglich von ihm ab, dann wird der Schlafrod zum König-Lear-Geivand, die langen, weichen Hände an den langen Armen ballen fich zu tnodernen Fäuften, aus den Augen glüht das unter- irdifche Feuer, und ein bitterftes Wort bricht mit jähem Stoß zwiſchen den Zähnen hervor. Er ift nur felten fo gefehen worden. Aber es war in ihm. Unter all der Güte und Mildigkeit arbeitete in ihm tief unten eine glühende Damonie. „Genial ift, twas die arme, gequalte Menfchenfeele ans Licht bringt, fonft nichts.” Damit hat er das Wefen feiner Genialitat bezeichnet. Und das eigentliche Mejen der deutjchen Genialitat überhaupt ad, wenn das Lumpenpad der deutfden Lefer, Hörer und Zuſchauer ahnte, an welcher rafenden Pein es fich gefühlool erluftiert! Syn Wilhelm Raabe vedte fid) der Jabrtaufende alte Urgeift der Deutfchen auf und pro- teftierte. Proteftierte, wie nur der Deutfche proteftieren tann: aus dem flopfenden Herzen des ewigen Gottes felbft, da wo Zorn und Liebe beieinander wohnen. Wie fühlte Raabe das Leben feines Volkes und feiner Zeit alg ob es ganz durd) feine eigene Seele Hhinraufdte! Er fühlte jede edle Kraft der Weichheit und Süße, jedes Drängen herber Gefundheit, jedes „Frei Durchgehen” und „Nichtstotzufriegen” des deutſchen Lebens, mochte e8 ich auch in den ftachligften, hargigften, Holzigften Schalen verfapfeln. Liebtofend rubte fein Blid darauf. Er durchfdaute aber den ganzen Plunder einer aufgeblafenen Klugheit, das betriebfame Heben und Jagen, das Rante- machen im Dienst des eigenen Ich, die Heimat- und Rubelofigteit des Lebens. Ihm mar das, was man damals al3 foziale Frage bezeichnete, und was man zu ihrer „Löſung“ beibvachte, gleichgültig; aber er ſah bie foziale Frage, die uns heute auf- zudämmern beginnt. So deutlich er die Hohlheit und Halbheit feines Zeitalter? erfannte, er jah zugleich die reinen, ftillen Kräfte, die auch noch das falſche Getriebe nährten, und die fchliehlich Doch, wenn aud) nur tropfenmweis im ditrren Sande fidernd, eine Verbindung von der gejcheiteften Selbjtherrlichfeit bis zum Urquell am heiligen Berge herftellten. Das ift das Merkwürdige an der Seele diefes Sehers. So mußte er nicht nur denen unberftandlic) bleiben, die emfig mitlebten im Geift der Zeit, fondern auch denen, die fic) darüber mit ftolzem Spott erhoben und diefen Zeitgeift, etwa auf Niebfdefthe Weife, zum Problem machten. Da wo die Raabefche Seele, wenn Hohn und Spott des Bornes verraufcht find, in der allerlegten, mildeſten, wehmütigen Ehrfurcht die Britderlidfeit des irvenden Lebens verfpürt, da ift für die geiftreiche Seele nichts. Folglich ſcheint ihr das Verhalten der Raabefchen Seele nicht anders erflarbar, denn als Sentimentalität. Gleichwohl ift die Kritik, die ein Raabe übt, tiefer und treffender als die der pathetifchen Spotter.

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Was Raabe gum Proteft gegen feine Zeit trieb, war feine Deutſchheit. Seine deutjche Seele witterte die Gefahr, die über das ahnungsloſe Volt heraufzog: die Cutjeelung des Lebens durch wefensfremde äußere Mächte, das Ernſtnehmen von Sdealen, die ein Deutfcher nicht ernftnehmen darf, weil der Ernſt des Deutjchen etwas Innerliches und Unabläfjiges ift, etivas anderes als der Ernſt anderer Valter. Die tiefite und darum ganz einfache Erkenntnis haben wir in dem Wort aus den Alten des Vogelfangs: „Des Menfchen Dajein auf Erden baut fd) immer von neuem auf, doch nicht von dem Außerjten Unttreis her, fondern ſtets aus der Mitte. Jn unserem deutichen Volte weif man das auch eigentli im Grunde gar nicht anders.” Aber das fonnte nur gejagt werden, weil eben damals das deutſche Volt aufborte eigentlich zu fein und in feinem Grunde gu wurzeln. Was war nun die Innerlichkeit nod) anders als ein Spott geijtreicher und reichshauptftädtiicher Herren und Damen? Allenfall3 war fie gut genug für die Sinderftube. Aber felbjt da genügte fie nicht mehr: man mußte die Grimmidhen Marden mit Hilfe farbiger Glasbilder im Lichtfegel des Projeltionsapparates „darbieten” und dann in Aufjägen über die richtige Methode der Darbietung diskutieren. Die erwachfene deutjche Geiftesgröße aber mußte man mit den lururiofejten Weinreftaurants, mit den „größten Schiffen der Welt“, mit ſchmetternder Trompetenmufif und mit der ftinfend- jten BVerjtanferung fanalifierter Flublaufe iMuftrieren. Immerhin e3 war nur die Creme des Volfes, die das betraf, und die Creme fann man nötigenfalls in den Abguß ſchütten. ES wuchfen ja nod) Jabr für Jahr Hunderttaufende von flad3- Haarigen und rognafigen deutſchen Bauern= und Arbeitertindern heran, die auf ftammigen Beinen die tiefe, tumbe deutſche Seele durch die Welt weitertrugen. Schon aber waren die vereinigten Herren Theophile Stein, alias Mojes Freudenjtein, Hofrat Brotentorb, Hauler von Haufenbleib, Dr. Edbert Scriewer und tie fie alle heißen, in Verbindung mit der großen Familie Piepenfchnieder eifrig dabei, einerfeits das Menfchenmaterial für ihre Zivede auszubeuten, andrerfeits fid) als Mufterbilder des wahren und erfolgreichen Menfchentums an die Spike des deutfchen Kulturfort- {chrittes zu fegen. Klingt e8 nicht wie Angft, wenn Raabe fdon 1860 fchrieb: „D Sever, das Gezücht der Schmarogerpflanzen, das Gezücht der giftigen Pilze, der Fliegenſchwämme, der Herrenpilze, der Speitäublinge, der Judasohren, der Bovijten, der Phalli impubici wächſt nicht auf dem umgeftürzten Stamm der deutfchen Eiche nein, nein, nein, die deutſche Eiche fteht noch aufrecht, und wird nod) durch Jabr- taufende der Herrlichkeit und Pracht grünen und blühen und alle Völker unter ihrem Schatten verfammelm Was fiimmert dich das armfelige Schtvammgefchlecht am Fuße des Baumes Gottes?”

Dr. Theophile Stein, alias Freudenftein, wirft nun freilich uns oder vielmehr dem alten Raabe das Wort Spiekbürger an den Kopf. War e3 im Grunde nicht dod nur Spiekbürgerei, wenn Raabe „nicht mit der Zeit mitging?” Martin Luther rüdte im Jahre 1520 dem „Kapitalismus” zu Leibe und richtete die Waffe mit der ihm eigenen Bielficherheit dahin, wo das eben flügge werdende Teufelchen fein Brut- neft hatte: auf die feither auf dem ganzen Erdball abgefehen von Tibet und den Polargegenden hinreichend befannt gewordene Gefinnung. Aber an deutfchen Univerfitäten, mo man National: und Weltwirtfchaftslehre betreibt, urteilt man über Luthers Unternehmen, wenn man der Vollftandigfeit halber davon gelegentlich Kennt— nis nimmt: Soweit er fich auf feinem theologifchen Fachgebiet betätigte, find ihm, abgefehen von gewiffen Unzulänglichkeiten, große Verdienste nicht abzufprechen, aber in der Nationalöfonomie mar er ein untlarer Dilettant; der wadere Bauernfohn und Wittenberger Kleinbürger konnte nicht von feinen rüdftändigen agrariihen Anſchau— ungen losfommen; der ungeheure wirtfchaftlihe Fortſchritt Weltwirtfchaft Steigerung der Produktion Ermiglidung der Bevölterungszunahme laffen wir den Herrn Fachmann feine uns genügend bekannte Belehrung zu Ende reden, und bleiben wir mit dem Eigenfinn des Dilettanten bei dent, was un 3 intereffiert. Erft als Karl Marz, der in Berlin, Baris und London an der Spike der Zivilifation

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zu marfchieren und den deutichen Efeln zu imponieren gelernt hatte, die Gade, unt die es fich ſchon bei Luther handelte, in Form einer „Theorie“ den Deutſchen ein- ganglid) machte, wurde die Angelegenheit wichtig genommen. Und naddem man endlich mit großem Jammer erfannte, daß Marx mit feiner Theorie die Sade nicht beint richtigen Zipfel erwiſcht hatte, fand man auf Rongreffen und in Zeitjchriften mit Tamtam und Trara, daß es fich ,,gutiefft” um ein „ethifches und religiöfes Problem“ handle, und fam fo der Weisheit immer näher, die man feit 1520 hatte feft im Herzen haben können. Hoffen wir, daß [don etivelche „geniale“ Freudenfteins unter= wegs find, dem deutfchen Volke die Raabefde Wahrheit in Form von unverdaulichen, falf hen Theorien näher zu bringen. Inzwiſchen erheitern wir andern, die wir uns an das Wefentliche halten, uns über die feltfamen Wege der menſchlichen Gefchichte, erledigen unfere tägliche faure Arbeit, trinfen Feierabends unfern Kaffee, und find durchaus nicht erftaunt, wenn fd der Erzengel Michael oder gar die heilige Drei- einigteit felbft in Schlafrod und Pantoffeln zu uns an den Tifc fegt. So etwas tommt in Deutfchland oor, wie man auf vielen, freilich älteren Bildern wahrnehmen kann. Wilhelm Raabe behauptete in der merkwürdigen Gefchichte vom Tumurfie- Sand (das einige für „einen großen Sumpf”, andere für „eine ausgedehnte Salz- wüſte“, wieder andere „nur“ für „einen unbedeutenden Hügelzug“ halten): , Jn dem Lande zwifchen den Vogefen und der Weichfel herrfcht ein etwiger Merteltag, dampft e8 immerfort wie frifchgepflügter Ader, und trägt jeder Blib, der aus den fruchtbaren Sdwaden aufwärts ſchlägt, einen Erdgeruch an fich, welchen die Götter uns endlich, endlid) gefegnen mögen. Sie faen und fpinnen alle, die hohen Männer, welche un 8 durch die Zeiten borauffchreiten, jie fommen alle aus Nippenburg, wie fie Namen haben: Luther, Goethe, Jean Paul, und fie ſchämen fich ihres Herfommens auch feinestegs.” Wenn Johann Matthäus Mabfarth fid nach Jerufalem, der hoch- gebauten Stadt, jehnte und auf Elia Wagen in die Ehrenburg zu fahren hoffte, fo dachte er an ein vergrößertes und verflärtes Nippenburg. Darüber ware viel zu fagen, denn es ift eine nachdenkliche Gefchidte.

Wilhelm Raabe ftammte auch aus Nippenburg, und wenn er aud) die Fäufte über diefe feine Heimat fhüttelte, fo fam er doch nie mit feiner Liebe davon lo8. So wie Albrecht Dürer fein Nürnberg weder mit Venedig nod) mit Antwerpen ver- taufchen mochte, und wie Immanuel Kant ſich durch die Flegelei feines Königs nicht von Königsberg forttreiben lie. Ohne Nippenburg und Bumsdorf wären fie alle, alle zu Grunde gegangen: „Wohin tir bliden, zieht ftets und überall der germanifche Genius ein Drittel feiner Kraft aus dem Philiftertum, und. wird von dem alten Riefen, dem Gedanken, mit welchem er ringt, in den Liiften ſchwebend erdrüdt, wenn es ihm nicht gelingt, zur rechten Zeit wieder den Boden, aus dem er erwuchs, zu berühren.”

Und dies ift mun das andere Leben des deutfchen Spiekbiirgers Wilhelm Raabe: er ringt mit dem alten Riefen, dem Gedanken. Jn dem Gewölbe, das ein angeraudt Papier umftedt, figt mit arbeitendem Hirn der auch nicht totzufrie- gende deutſche Fauft. ,,Gewaltig Sehnen, unendlich. Schweifen, im ew'gen Streben ein Niedergreifen das war mein Leben.” Ins Grenzenlofe ſchwärmt die Phantafie, in mitternächtigem Kampfe ringen die fiebernden Geifter. Hier arbeitet nicht das logische Denken anderer Völker, das einen logifchen Nagel in die Wand fchlägt, die Erfcheinungen daran aufhangt und dann in aller Ruhe und Neberfichtlich- teit Faden um Faden herauslöft, bis das Gewebe aufgelöft und nicht mehr da ift. Raabe, der Deutfche, briitet über der Welt wie der Geift Gottes über den Waffern. Nicht um eine logiſche oder pſychologiſche Analyfe ift es ihm zu tun, fondern darum, die ganze Welt in fich hinein zu atmen und alg eigenes Leben zu eigen zu haben. Das Logische ift nur Hilfsmittel, die Anfhauung ift das Wefentlide. Er denkt nicht, er finnt. Darum ift er der Meifter des Fliefenden, Verſchwimmenden und Dänmernden, des Ahnungsvollen, des leifen Sauces, alles deffen, was der Grobheit und der intelleftuellen Klarheit des Logifchen nicht greifbar ift. (Nicht als ob er

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darum unklar wäre; er hat Gefühlsflarheit, ijt nicht verblajen und fentimental.) Das Ertannte ijt bei ihm nicht ein „Gedanke“, den man auffdreiben und anwenden fann, nicht ein „Geſetz“, eine Regel, fondern ein beivegendes Leben, das Geftalten und Taten zeugt. Darum gehört Raabe zu den Dichtern, die den Menfchen unvermertt befjer madjen: er gibt Antriebe des Lebens. .

Ohne das Elend auf diefer dunklen Erde würde die deutfche Seele fid) verjteigen und verfliegen. Ohne den Zivang, fich al3 ein reputierlider Bumsdorfer Bürgers- mann fein täglich Brot verdienen zu müffen, und ohne das philifterhafte Gefühl, dak Diefes eine Pflicht und Schuldigkeit fei, über die man mit feiner ,,Genialitat” hinweg- tanzen darf, würde Wilhelm Raabe geendet haben mie etliche Vorwitzige, die, mangels genügender Befrahtung mit Erdenrejt, den Verſuch wagten, völlig mit Bumsdorf zu brechen, und nie wieder aus „dem Ozean der Welten alle” zurüdtehrten, oder doch nur wie Günther Wallinger, das Fintenroder Kind. Aber eS war nicht das Mu $ allein, e3 war durchaus nicht in der Hauptfache das Verdienft Nippenburgs und Bums- dorf3, wenn Raabe in den Beihränfung Meifter wurde und von fic) jagen fonnte: „Run find umfchloffen im engjten Ringe, im ftillften Herzen weltiweite Dinge.” ES war vielmehr jo, daß er auger der Flug: und Schwarmkraft des phantaftifchen Geijtes auch eine zwingende Bildnerfraft der Hand bejaß, die Kraft, auch Grenzenlofes in Gejtalten zu bannen. Das eigentümlich Deutjche dabei ift dieſes: Seine Gejtaltungs- fraft ift ununterfcheidbar verflodten mit der Kraft fittlien Schrantenfegens. Die Geftaltungstraft ift bet ihm nicht nur Naturphänomen, fondern immer auch fittliches Wollen. Auf dieje Eigentümlichkeit der ſchöpferiſchen Deutfchen gründet fich, was die meiften nicht wiffen, Schillers Prophezeiung vom „Tag des Deutfchen” und Geibels don unwwiffenden Literaten teils mifbrauchtes, teil3 verläftertes Wort vom deutjchen Wejen, an dem die Welt ,,genefen” folle. Man fann fid) über diefe unfre befondere Wejensart bei Kant und Fichte mancherlei philofophifche Auffchlüffe holen.

Ein bei uns deutfchen Spiekbiirgern jehr beliebtes Hilfsmittel der Beruhigung und Selbjtbefdhrantung ijt eine gewiffe Art von Selbjtironie: die eigene Lage im Borderbemwußtjein fehr deutlich wahrzunehmen und fic) mit gutem Mute lächerlich zu finden. Jn der jehr wenig befannten und immer wieder zu preifenden Gejchichte vom alten Proteus (in welcher aber der homerifche Meergreis felbft nicht vorfomumt), fagt Raabe mit einem Blid auf fic) felbjt: „Und fo halten wir ung an den uralten Trojt, daß es dann und mann auch ein fleines Berdienjt fei, fic) mit Verftändnis lächerlich zu machen, und daß alles Herventum mit einer Wur- ¿el auch da hinunterhängt.” Das haben die Leute, die im Draumling wohnen, fo an fid). Die Luft- fcbloffer, in denen wir unfer Wefen und Unweſen treiben, haben fchlieglih mehr Realität als die Salzdahlumerſtraße. Mit Recht heißt es in den Alten Neftern: „Es ift immer eines und dasfelbe, diefes unergriindlide Meer der Phantafie, auf das der bedrüdte Menfch ftet8 bon neuem von dem nüchternen, grämlichen Ufer der Wirklich— keit hinausſteuert! (ES it immer derfelbe Wind in den Segeln! Wehe dent, der niemals die grauen bier Wände um fic) her mit diejem flammenden, über die Stunde twegtäufchenden, fegensreichen Lichtglanz überfleiden konnte. Was ift die nid)- tige dumme Phrafe: Mein Haus ift meine Burg! gegen die jo fehr unpolitifche, fo jelten ausge- fprochene, und dod fo tief und feft, ja manchmal mit der Angjt der Verzweiflung im Herzen feit- gehaltenen Weberzeugung: Mein Luftjchlog tit

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meine Burg!“*) Aber nur, wenn wir miffen, bab mir zwar in Quftjchlöffern leben, jedod) in Nippenburg beheimatet find, dürfen wir es wagen, ladelnd mit Raabe zu feufzen: „Unfere tägliche Selbfttaufdung gib uns heute!” Wer darum weiß, gerät nicht in die Verfuchung, andere Menfchen zu erniedrigen und fid) felbft zu erhöhen. Als ein folder macht Wilhelm Raabe „einen Spaziergang durd) den Aprilabend”, „ganz ſchmächtig und befcheiden, als des hohen Dichters entfernter armer Better oder vielmehr Halbbruder, mie die Wefthetifer fagen, der den Tag über wieder einmal fag und allerhand Rauchbilder des Lebens auf den Teller trigelte.” Ganz heimlich im Innern aber muß man, um folde Kraft zu gewinnen, wiffen, daß nicht nur Nippenburg, fondern auch die Wuftichlöffer wefenslos find, und dak die eigentliche Wirflichteit irgenbtoo dahinter oder darin liegt . Der Meijter Autor in der Geſchichte vom Verjuntenen Garten hat die Erkenntnis gewonnen: „Es fallen Schlöffer Luftichlöffer ein; aber das hat nichts zu bedeuten: die Garten allein, die den Menfchen, den armen Menſchen, verfinten, die maret ein jeglicher eine Wirklichkeit von dem verlorenen Paradiefe an! Wenn ihr das leugnen wollt, fo leugnet es aus der Mitte cines, in defjen Beſitze ihr euch noch befindet, aber nimmer bot der Pforte eines folchen, der euch verloren ging. Im erfteren Falle ijt menig= ſtens Ausfiht vorhanden, bab es euch gelingen werde, euch felber zu belügen.“ ch werde mich hüten, das in die Sprache des Tages zu überjegen. Wer keine Obren hat, e8 zu hören, fann Stadtbaurat in Nippenburg und Präfident der Vereinigten Staaten von Nordamerika werden.

Wer e3 aber verjteht, der tapeziert feine vier Wände nicht alle Vierteljahre neu. Der wird geduldig. Der hat den Humor Wilhelm Raabes begriffen. Der läßt es ich gefallen, wenn der weiſe Alte mit ihm fpielt, was der Mann an der Spige der Kultur fic) nie gefallen läßt, dieweil er eitel ijt und fid) was dünft. Der vom Tagesleben Erlöfte verfteht auch in diefem Spiel das Jneinander bon Schmerz und Güte.

Diefer fpielende Humor fann fogar ,fonnig” fein. Nur freilich nicht fo, wie die verehrten Lefer und Leferinnen das Wort verftehen, für die der alte Weife, der mit dem alten Riefen, dem Gedanken, rang, ſchreiben mußte, und für die er feine Gefchichte bom alten Proteus mit den Worten begann: „Wie machen wir's nun, um unferm Lefer recht glaubwürdig zu erfdeinen?” unferm!

Die germanifche Seele hat viele, viele Fahrtaufende am Rand der Gletjder, auf grauen, ftürmifchen Meeren, auf einjamen Heiden, in endlofen Winternadten ge: grübelt. Dies ift nicht ohne Folgen geblieben fowobl für die Art unferes Humors wie für das Pathos unferer Philofophie. Die Schleifiteine des Nationalismus haben auc) aus dem demantnen Werke Kants nicht die Sprünge und Rifje der Jronie, die Spalten der Tragit und die rauchdunklen Flede der Myftit wegfchleifen tónnen. Das befte an dem fchön gefdliffenen Edelftein diefes Syftems ift nicht der ftrablende Glanz der Flächen, fondern das dunkle Licht, das uns aus dem Innern entgegendämmert, wenn wir nahe zufehen. Wir haben einftmals unfer Vergnügen gehabt an den Fahr— ten Thors ins Land der Riefen jenfeits der Welt. Ind wir haben die alternde Welt- eſche und die Götterdämmerung als LebenSfymbole in die Welt philofophiert. Nichts bejchäftigte unfere frühen mittelalterlichen Dichter und Denker fo ftarf wie das Schid- fal Siegfrieds und der Burgunden; fie ruhten nicht, bis fie e8 zur ſchaurigſten Tragil menfchlicden Geſchehens aufgetitemt Hatten: aus Nacht und Kampf geboren, auf- leuchtend in Glanz, verfintend in die uralte Nacht. Wie würde ein Germane das vierte Evangelium gefchrieben haben! Sehet nach, wie Rembrandt das fünfte Eban- gelium vadiert hat! Diefes germanifche Gefühl für das Verhältnis von Licht und Dunkel, diefes Gefühl für das Geheimnis des Lichtes, ift auch die Herzkraft der Raabe- fen Philofophie, feiner Schidfalsphilofophie. Aus Nacht in Nacht. Schüdderump. Aber gefegnet fei das Licht, das da leuchtet in der Nacht! Es glimmt auf und ber-

2 Man beachte, wie hier angelſächſiſches und deutſches Wefen gegeneinander gefegt werben.

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glüht, immer und überall glimmt es neu. ES ijt „nicht totzufriegen”. Aber ein jeg- liches muß doch verglühn. Siehe, fein Tod ift Heilig. Atme leife, wenn das Licht ftirbt! Raabe drüdt fein Gefühl vom Tode fo aus: „Ein toter Bettelmann ijt vor- nehmer als ein lebendiger König.” Er weiß, daß dies nicht nur fein perfonlides Empfinden ift, und fagt im Deutjchen Adel: „Wir find nachdenklich deutfches Volt, und es ijt fein anderes, das fo gut und ehrfurchtsvoll mit den Toten umzugehen weiß. Und das ijt ein großes und gutes Wort; und wenn es wahr ift, fo wollen wir uns mehr darauf einbilden als auf alle unfre übrigen mertiviirdigen Vorzüge.” Und end- lid): „E3 tit deutfcher Adel, den Tod nicht ernft zu nehmen, und die Toten mit Ernft und Refpeft zu behandeln.”

Was ift im Menfchen, das folde Ehrfurcht verdient? Jm Tode ift das Ich ent- Ihwunden. Nicht ich, ich, ich bin es, der die Majeftat des Ewigen an fich hat. Es ift das Geheimnis unfrer Geburt und unjres Todes. Wir find Schidungen des Schid- fal3. Die Frau Claudine in der Sagenntiible fagt: „Wer verliert nicht mehr, alg ex findet, auf feiner Wanderung? Welche ehrlichen Leute rühmen und freuen fd defjen, was fie heimbringen? Nur die Kleinen und Nichtigen dürfen Triumph rufen, wenn fie ihren Bettelfad ausjhütten; Große und Edle werden fic) abwenden und faqen: Das Bejte gehört nicht ung zu, und wir wiffen nicht, von wem wir e8 haben! Was find wir allejamt anders alg Boten, die berfiegelte Gaben zu unbetannten Leuten tragen? Die größte Schlacht und das höchſte Gedicht, von wen fommen und zu mem gehen fie? Rein rechter Sieger auf irgend einem Felde wird je rufen: Dies ift mein Werk, und das foll es wirken!” So dachte aud) der große, edle Luther, als er fein fervum arbitrium dem liberum arbitrium des fleinen, nichtigen und berühmten Erasmus entgegenftellte.

Vor dem heiligen Geheimnis bleibt nur das Schweigen. Nur i in den ganz ſchwe⸗ ven Stunden reden wir vom Selbjtverftändlichen. Ein merfwürdiges ironifch- ernfteg Wort aus den Alten Neftern lautet: „Sonderbar ift e8 und bleibt es, daß wir Menfchen immer nur im höchften Notfall auf unfer Schiefal zuriidgreifen, d. 5. davon reden. Wir ſchämen uns unferes Schidfals, und in das große Geheimnis hängen alle Wurzeln unferes Dafeins.” Wer fich aber zu feinem Schickſal findet, der entwird von der Eitelkeit des Dafeins. Er geht in der Stille zum Göttlichen ein. „Ad, in diefer fahrigen Welt eine Philofophie des Stillehalten3, des Stillefein3, de8 Stillebleibens!” So redet Raabe mod) aus dem Nachlaß zu ung, und ferner: „Wirklich vornehmſte Leute ſchämen fich ftet8 für viele, mit denen fie es im Handel und Wandel diefer Erde zu tun befommen, mit; fie laffen fich aber gerade deshalb defto ivilliger bereit finden, alles da3, was man bon ihnen verlangen will, herzugeben, wenn auch nur, um fo fchnell alg möglich wieder Rube zu haben vor der Narrheit und Únber- {hamtheit des laufenden Tages. Das Bejte, was der Menfch im Leben haben fann, ift ein Stüd von dem, was er im Tode ganz haben wird Rube.”

Das bedeutet nicht Verzicht auf das Leben, fondern nur auf das Univefentlide des Lebens, damit wir fonnen wefentlich werden. So heißt es im Abu Telfan: „Wohl den, der feines Menfchentums Kraft, Macht und Herrlichkeit fennt und fühlt duch alle Adern und Fibern des Leibes und der Seele! Wohldemporallem, dem jener lette Ruf (,,Gelobt fet der, der da lebt und nie ftirbt!”) überall und immer der erfte ift, dem der ungeheure Lobgefang der Schöpfung an feiner Stelle und zu feiner Stunde ein finnlofes oder gar mwiderliches Raufchen ift, und der aus jeder Not und jeder Verdunfelung die Hand aufreden fann mit dem Schrei: Sch Iebe, denn das Ganze lebt über mir und um mid!”

So geht er, ein Glied des Ganzen, mild und ftart den Weg feines Schidfals aus Nacht in Nacht. Frei hindurd! Er ruht in fich felbjt, und feine Götter vermögen ihn aus feiner notivendigen Bahn zu werfen: „Wer milde ift, nicht leicht zitent und, zürnt en leicht, fich deffen im nächſten Augenblid ſchämt, dem find die Götter auch milde, und geht e8 nicht, haben fie nicht3 weiter für ihn, auch im längften tummer- pollen Leben nicht, fo ſchenken fie ihm doch einen leichten Tod, das befte, twas fie zu

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vergeben haben. Haben fie auch das leßtere verfaumt, nun, fo ſchämen fie fich deffen.” Dies ift bie Neberfegung der Bergpredigt ins Niederfächlifche.

AS bie Sendboten der römifch-chriftlichen Sirde bei den germanifchen Stämmen umberzogen, hatten fie eine freilid) mühjame, aber meift nicht übermäßig ſchwierige Arbeit. Abgejehen von einzelnen Totjchlägen und Heinen Unordnungen vollzog fid) die Rezeption des Chriftentums mit einer für den germanifchen Eigenfinn über- vafdenden Leichtigkeit. Ob Modan oder Strift, das war nicht felten nur eine Ange- legenheit der Politif. Bei den Niederfachfen freilich traf der neue Gott auf einen geihloffenen, nicht nur individuellen Widerjtand, und Karl der Große hatte feine blutige Not mit ihnen. Als fie aber den Kriſt anerfannt hatten, da begannen jie al8- bald, ihn zu ihrem wefenseigenen Herren zu machen: zum Heliand. Immerfort haben die Niederfachfen zu den wenigen deutfchen Stämmen gehört, die eigenwüchſiges religiöfes Leben Hervorbradjten, nod) im legten Jahrhundert die Hermannsburger Bewegung. Sie verbinden die illufionslofe, tatbereite Erfaffung der Wirklichkeit mit dem weltüberwindenden Emigfeitsgefühl. Der Niederjayje Wilhelm Raabe mußte Unterhaltungsromane für das deutjche Publikum feiner Zeit fchreiben, er ſchämte fid deffen nicht und hielt fic) nicht für zu gut, nicht „zu Höherem berufen”. Aber mie man nach Luthers Wort auch mit Windeln-wafden und Stank-riehen Gott dienen tann, fo man's tut im Glauben, fo ward der „Unterhaltungs-Schriftfteller” Raabe gu einem Sendboten Gottes an das deutfche Voll. Immer wenn die Zeit erfüllt it, [pringen die Siegel von der Gabe.

Da wir gegenwärtig im Jabre 1921 leben, ift es ſchließlich nicht überflüffig zu fagen, Dak Wilhelm Raabe nicht nur feinem menfchlichen und ewigen Wefen nad) ein Deutfcher war, fondern daß er auch fein deutfches Volt und Vaterland groß und geehrt wiſſen wollte. Er, der Kritifer feiner Zeit, war ein treuer Gefolggmann Bis- mard3. Bom hurrafchreienden Deutfchland hat er freilich nicht viel gehalten. Er malte e8 mit gutmütigem Spott: „Eine Feftverfammlung vieler hundert deutfcher Männer, die vom Fels zum Meer, bon der Weichfel bis zur Mofel mit allen gegen fünf Stimmen einen großen Beichluß gefaßt und ihn ficer im Protofoll haben, die hort man fchon von weitem ... Gedrange, Getdfe, Gastronleuchter, ein Redner, ein Saucennapf über die Schulter, Tufch, Getöfe, Gedränge, Tuſch, Blehmufit, Mutter Germania, Deutjches Vaterland! Kellnar! Herr Obertellner! ... Deutiche Brüder Schulter an Schulter nach innen und nach außen!” (Sutmanng Reifen.) Aber den echten Stolz ließ Raabe nicht antaften: „Auf deine Zugehörigkeit zu dem ebrbaren, tapferen, arbeitfamen, in feiner Grundfeſte nimmer zu erjehütternden Volte der Deutfchen wünfche ich dich Hiermit noch einmal eindringlichft aufmerffam zu machen. Gedente zu jeder Zeit, welch eine uralte erftaunlihe Ehre du auf diefer völkerwim— melnden, völferfchaffenden, völferverfchlingenden Erde mit zu bewahren, vermehren und verringern vermagjt!” Er hielt e3 nicht für Barbarei, wenn Männer ihr per- fönliches Leben für ihr Volkstum einfegen: „Im Kriege hüten wir nicht, was tir mit dem feindlichen Volt gemein haben: Herd und Hof, Weib und Kind, fondern das, twas uns von allen andern Völkern unterfheidet.”

Darum mahnt er in feinem letten, unvollendeten Werk, in Alter3haufen: „Bleibe in den Stiefeln, Menſch! Solange al mögli ... Man muß immer eine Waffe behalten, um einem Ejelstritt, folange es nod) angeht, ¿uvortommen zu können.” Wenn ein Volt feine Stiefel ausgezogen und feine Waffe hingegeben hat, dann pflegt e3 zweierlei Meinung unter feinen Bürgern zu geben. Die einen behaupten, man habe der „Menfchheit” ein „Opfer” dargebrad)t, man habe durch den Beweis des „Bertrauens” die Moral in die Politik eingeführt, und die Menfchheit fet nun dem Himmelreih um ein Erfledliches nábergetommen. Die andern ſchämen fid und fchuftern neue Stiefel aus befferem Leder und ſchmieden eine neue Waffe, die nicht zerbricht. Mem würde Wilhelm Raabe recht geben?

Tröften wir uns, daß mwenigftens der Born von Altershaufen nod) nicht aus— getrodnet ift: „In einem dunklen Seitentalden entfprang der Born, welcher den

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Zeichnung von Wilhelm Raabe

Aus dem Deutfehen Volkstum

Altershaufenern nicht nur das Trinkwaffer lieferte, fondern aus dem der Storch auch ihnen und ihren Frauen ihre Kinder heraufholte: das eine in unerfdopflider Fülle, die anderen in genügender Menge gegen ein- und andringendes Semiten-, Welfchen- und Slaventum.” St.

Raabe in der Schule.

G ibt es in Deutſchland wirklich noch ſolche Bildungsſtätten, in denen junge Menſchenkinder von der neuen und neueſten Dichtung unferer Beit nichts zu hören oder zu ſehen bekommen? Wie man uns beim Laokoon, der Braut von Meffina und dem Taffo fo lange mit grimdlichiten Erläuterungen und Behandlungen durch Auffatthemen fefthielt in den vier leeven Wänden der Prima, bis e8 uns zu toll wurde und wir durchbrannten ins Wilde der allerneueften , Lite ratur” hinein? Wie losgelaffene Füllen, die fid) ihrer Freiheit nicht genug freuen fonnen und irgendiwohin vafen miiffen. Wirklich niht? Es wird mir aus ver- fchiedenen Teilen unferes Baterlandes zugeflüftert, fo laut und deutlich, dak ichs vernehmen muß und hier öffentlich Anklage erhebe: viele Scharen von Jiinglingen find nod) in den Weltkrieg gezogen, ohne auf der Schule mit ihrem Liliencron gejubelt zu haben „Hurra das Leben bei Tod oder Sieg“. Und wenn fie draußen die Lieder bon Lerſch, Bartels und Bröger hörten, wuften fie nichts mit ihnen anzufangen, denn fie hatten nur mit Schiller und Goethe ihren klaſſiſchen Maßſtab mitbelommen und nicht den Weg ins Leben unferer Zeit hinein gefchaut.

Und hat nicht Nietzſche [on dagegen geivettert, dak wir jchlechtes Deutfd Iohreiben? Weil wir gute deutfhe Profa zu wenig kennen und uns nad den Mußauffägen der Schule zu wenig in unfere großen Meifter verfenften, dak ihre Welt und fo auch ihre Sprache in uns lebendig wird. Steht e3 damit wirklich aud noch nicht viel beffer als zu unferer Zeit? Doch? Left nad) in den Jahresberichten, ſoweit fte noch erfchienen find. Da ift dod) allerlei roja „behandelt“ worden. Aber Hand aufs Herz: Die Profa und der Vortrag ftehen nod) lange nicht im Mittelpunkt des Deutfchunterrichts. (ES wird aber, meine ich, wirklich die allerhidfte Zeit, wenn wir ung mit unferer Kultur von innen heraus neu aufbauen wollen.

Und wenn endlich unfere gute deutfche Profa auch der lebenden Dichter den Unterricht beherrfcht, dann ift der rechte Augenblid für Wilhelm Raabe gefommen, und für ihn mehr als für Storm, Fontane, Reuter, Keller, Meyer, Ebner-Eſchenbach, auch wenn diefe in mancher Hinficht vielleicht größere Dichter find. Gerade unferer Beit tut feiner fo nötig von diefen Meiftern wie Raabe. Denn feiner hat fo wie er das deutſche Herz und Gemüt in feinen Werfen wiedergefpiegelt, feiner ift fo im echteften Sinne ein Deutfcher, der ganz genau auch die Schwächen der feelifch Stleinen und Slleinften unferer Brüder bloßlegt (Anf. Kap. 14 Alte Nefter). Steiner hat fo weltüberivindenden Humor im tiefften und ernfteften Sinne uns gelehrt. Reiner hat fo wie Raabe die Gegenfäte zwifchen Arm und Reich itberbriidt und das größte Elend und die ſchlimmſte Vertvorfenheit, vor der die Welt ſich abfehrt, mit goldenem Lichte überftrahlt: Reiner, ber mit feiner echten Religiofitát ohne über- lieferte Formen unferer Zeit neue Wege zeigen fónnte, um das befonders in der Sugend nad oben ringende Neue zu Hären über alle Gegenfage tirchlider Strömun— gen hinaus zu dem einen großen Gefühl in Gott, da3 uns nottut, zu dem Glauben an die Zukunft und an ein Aufwärts. Keiner, der mit all feinen Abfonderlichteiten, myſtiſchen Tiefen, Unverftandlicdfeiten, leifen Andeutungen, gelegentlichen Abirrun- gen auf [hönfte Seitentvege fo durch und durch der deutfchefte Dichter ift wie Wilhelm Raabe, der die Tore feines Reiches nur denen öffnet, die immer wieder mit Liebe und Andacht zu ihm guriidfehren, bis fie den Schlüffel zum Allerheiligiten in Händen halten. _

Es find hier und dort [Hon erfreulihe Anfänge gemad+ Raabe ben

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jungen Leuten näherzubringen. Am befannteften ift „die ſchwarze Galeere” ge- worden, dann wohl „Elfe von der Tanne.“ Dies will aber noch nicht viel befagen. Unfere Kollegen müffen von der Ueberzeugung durchdrungen werden, too find die Univerfitatsprofefforen, die dies alg ihr heiliges Amt betrachten? dak deutſche Kulruraufder Schule ohne Raabe nit gut möglid ift.

Wenn diefer Glaubensjag voran fteht, find alles andere nur nod) Fragen zweiten, dritten Grades: tas gelejen werden foll, in welchen Klaffen, wie Raabe nahezubringen ift uj. Wenn in diefen Jahren mit Recht immer wieder auf Fichte hingewiefen wird als den Edart unferer Zeit, fo follte man aud) Wilhelm Raabe bei allen jungen Deutfchen fo befanntmachen, daß fie endlich millet, was wir an ihm haben, jchon lange gehabt haben, ohne e3 zu ahnen, und nod) lange haben werden, wenn manches der gelefenften Bücher [hon längſt vergeffen fein wird.

Man fann heute mit dem beften Willen nihtallediefhönen Bücher lefen laffen, die ein feinfinniger Senner*) vorfchlägt. Der Zeit wegen war es ſchon früher faum möglich, aber heute erjt recht nicht der Preife wegen. Da bleibt e3 alfo einftiveilen eine theoretifche Frage, welche Bücher die widhtigiten find, und für welche Klaffe fie in Betracht tommen. Mir will aber fcheinen, als ob man in dem Eifer für Raabe nun auch mit einem Male etwas zu weit gehen finrte, wenn den Primanern außer anderen Raabebichern ſchon Alte Nefter, Abu Telfan, Schüdde— rump, Stopfluchen, Akten des Vogelfang3 und auch Altershaufen nahegebracht wer- den müßten. Was bleibt den jungen Leuten dann fpáter nod), auch wenn fie nur einige diefer beiten Lebensbücher erlebt haben? Und follen fie denn ſchließlich nichts anderes in fid) aufnehmen als Raabe? Das wäre wieder ein ähnlicher Fehler wie der, unter dem wir mit unfern Stlafjifern gelitten haben.

Unterden heute gegebenen Verhaltniffen fame etiva für die Tertia in Betracht die ſchwarze Galeere (Wiesbadener Volksbücher), für Unter- fefunda und auch für die oberen Klaſſen des Reiches Krone, Elfe von der Tanne und Im Siegestranze (in dem nach der erften Erzählung benannten Gonderbandden), auch der Marſch nad) Haufe (Band Humoriften der Deutfchen Dichter-Gedächtnis- ftiftung) und Eulenpfingjten ( Heffes VBolfsbücherei), für Oberfefunda und Prima Der Sungerpajtor und Zum wilden Mann (Reclam). Ich fürchte aber, daß bei den heutigen Preijen e3 auch nicht mehr möglich fein wird, den Hungerpaftor kaufen zu laſſen. So muß man wohl auf das Hauslefen und die Benutzung der Schulbücherei Hinweifen und fd begnügen, bezeichnende Auszüge herauszufuchen und in der Bedeutung zu würdigen.

Bor allem fchulmäßigen Durchnehmen und Befprechen, forvie Abfragen nad) dem Inhalt und Hevausheben einiger für Aufſätze befonders geeigneter Themen” braucht unter Wiffenden nicht mehr gewarnt zu werden. Wir find im Reiche ber Kunft und nicht der Tagelöhnerarbeit der elenden Schriftftelferei. Ich räume zunächſt alle Steine weg, die das Verftandnis erfchiveren, und ihrer find, tie bekannt, bei unferem Meifter nicht wenige. Dann erft beginnt die eigentliche Arbeit, die Würdigung des Runftivertes. Bei der Galeere fann 3. B. gut gezeigt werden, wie der Unterfchied gwifden einem Kitſchkinoſtück mit nichts weiter als abenteuerlichen Handlungen und einem aus den Zeitumftänden und der Eigenart der Menjchen heraus gefchaffenen Kunſtwerk zu beobachten ift; wie Gefchichte durch einen Künftler lebendig gemacht und das Wefentliche durch befonders feine Stimmung erft recht zum Bewuftfein gebracht wird. Aud auf die Mufit der Sprache 3. B. im legten Kapitel ift hinzuweiſen, und auf all die Heinen fünftlerifchen Mittel, durch die eine große Wirkung erzielt wird Wahl der Wörter, Sagbau, Wiederholungen, An- deutungen des Sommenden u. a. m. Bei dem Sungerpajtor und wilden Mann gilt e8, aud) die Schüler fchon durch den Inhalt hindurd) in die Tiefen des deutfchen

*) Wefterburg, Zeitſchrift für deutſchen Unterricht, 33. Jahrgang, 7./8. Heft. 283

Gemiites und der Raabefden Weltanfdauung zu führen, hier und nicht bei Einzelheiten länger zu verweilen und dies als das Wefentlichite immer wieder in den Mittelpunkt zu ftellen, damit die Schüler erfennen lernen, was die eigentliche Seele eines folchen Werkes ift, und wo der Herzſchlag eines echten Dichters am deutlichiten zu fpüren ift. Weld) veiches Arbeitsfeld, befonders für die deutſche Oberftufe!

Mit der Betrachtung der genannten Werke im kurz angedeuteten Sinne habe id), foweit ich es beobachten Tann, die beften Erfahrungen gemadt bei Schülerinnen und Schülern. Nod) nad Jahr und Tag laffen fie mich immer wieder fühlen, wie tief dod) die Raabeeindriide gemejen find, und wie fie nad) diefer An- leitung von felbjt fid) immer mehr in feine deutfche Wundertvelt hineingelebt haben. Man merkt jelbjtverftändlich fogleich, daß in die Tiefen nicht alle mit hinunterfteigen fonnen. Befonders bei größeren. Werfen ift dies zu fpitren, weniger bei fleineren geihichtlichen Erzählungen. Da, wo man im eigentlichen Sonnenlande Raabes ift, muß aud) etivas Befonderes im Innern des Lefenden fein, um die Sonnennähe zu fpüren, auch wenn fie nod) verdedt ijt. Die ftreng Iogifchen Naturen, die nüchternen und Haren Denker, meift nidt immer bie für Mathematif befonders Ver- anlagten gingen eine Strede mit, ließen fic) dann auch wohl nod) die anderen Be- trachtungen gefallen, hörten aber nur noch äußerlich zu. Dagegen die Köpfe und Herzen —, in denen e3 oft mod) recht bunt ausfah voll Liebesglüd und Welt- ſchmerz und Sehnfucht in die Ferne und großer Begeifterung für etwas Erhabenes, die eigentlichen deutfchen Gemiitsmenfden, die Parfifal-, Simplizifjimus- und Fauft- naturen auch wenn fie in den Leitungen oft nur Geringes aufzuweiſen hatten wurden dann erft recht ivarm and [pürten eine Welt, mit der fie fonft noch nicht in fo wärmende Berührung gekommen waren. Da war dann das Erlebnis, und fie waren Raabemenfchen geworden. In diefem Zufammenbang fei es geftattet, einen befonderen Vorfall zu erivähnen. Ich hatte in einer Prima eines Mädchen- gomnafiums (nicht Lehrevinnenfeminars) und zugleich) aud) in der Prima einer Oberrealfchule eine ich glaube freie Arbeit über Raabe fchreiben laffen. „Was Raabe mir wert ift” oder fo ähnlich. Ich hatte vorher beim Meiſter angefragt, ob ih ihm die Auffagbefte mal fchicen dürfte. Denn ich wußte, er würde fid) über manche Arbeit fehr freuen und die Verbitterung lo8 werden, doch noch immer nicht befannt zu fein und dann auch nur mit feinen „Sinderbüchern”. Unter den Schü- lerinnen war eine Jüdin, die ihren ablehnenden Standpunkt ganz offen dargelegt hatte, was ich ihr natürlich nicht übelnehmen fonnte. Aud) Raabe hat das nicht getan, wie der abgedrudte Brief an mich zeigt, an dem man betvundern muß, mie flar fich Raabe „der Grenzen feiner Wirkung und damit feines Wefens” beivußt mor.

Braunfhweig, 28. Januar 1907. Verehrter lieber Herr! \

Anbei mit beftem Dank die Auffäge Ihrer Schülerinnen und Schüler zurüd. Mit dem größten Vergnügen habe ich fie gelefen und fann ſowohl der Oberrealfchule, wie aud) dem Lehrerinnenfeminar für ihre kritiſchen Leiftungen nur meine höchfte Anerkennung aussprechen, und felbjt der forfden Fitdin muß dabei ihr Raffenrecht gelaffen werden. Mit Aufmerfiamteit und Behagen bin ich aber aud) den Spuren

Ihrer rothen Tinte nachgegangen: wo fonnte der treumeinende Raabe-Gönner und,

Raabe-Kenner mir deutliher und freundlicher zur Erfcheinung kommen, al8 bei diefer Gelegenheit? » Hoffentlich habe ich die Hefte nicht über die Beit behalten. Nochmals berz- lichen Dant! hr treuergebener Wilhelm Raabe. Aehnlihe Beobachtungen Habe ich auch bei Nichtjuden gelegentlid) machen tónnen, während andererfeit3 unter den eingefchieten Arbeiten auch folle bon Jüdinnen waren, die fich fehr toohl in Raabes Land fühlten und dies auch zum Au3- drud brachten.

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€3 fommt nicht darauf an, ob man auf der Schule ein oder zehn Raabe- bücher Lieft. Auch im Leben fpäter nicht. Nur darauf, ob man Raabes deut {de Gemütstiefe und weltüberwindenden Humor an fid wenigitens im Kleinen erlebt und fic) nad) feinen Werfen immer twieder zurüdjehnt. Wenn dies unſere Schule leiften tónnte, nicht einzelne mur, fondern alle deutſchen Schulen, dann würde Raabe fic) noch mehr über die deutichen Schulmeifter freuen können und die Ueberzeugung wenigſtens jest zu feinem neungigiter Geburtstag im Himmel befommen, daß „feine Lebensarbeit doch nicht vergebens war“. ‚Wenn mein Reich wirklich emmal fommt, fo fommt 's durch die deutfden Schulmeiſter!!!“ (im Brief an mid vom 4. Oftober 1907). „Ans Werk, ans Werk” Ihr Herren Kollegen, es gilt, ein heiliges Vermächtnis Tebendig zu maden. KarlLoren;.

Die Deutung der , Frau Galome* Haabes.

Sy Raabe zu den ,Symbolitern” gehört, ijt befannt. Er fchildert nicht nur Menſchen und Natur ab, wie fie in der wahrgenommenen oder in einer er- traumten Welt find, fondern feine Geftalten und Naturftimmungen weifen über das finnlih oder in der Phantafie Gegenwärtige hinaus auf ein irgendivie dahinter lebendiges Ewiges. Bei allen „eigentlichen“ Raabe-Merten hat man das Gefühl, dak „etwas dahinter liegt”. E3 üt genau fo wie bei manchen Werfen Dürers, bei Grünewald und befonders bei Rembrandt: eine volljtändige, greifbare und riechbare Realijtit aber in diejes Frdifche ift ein Cwiges verflößt. Es bleibt ein unerklärlich Geheimnisvolles ſchwebend zwifchen den Menfchen und Dingen, ungreifbar dem Denken, unempfindbar dem Wahrnehmen, aber deutlich unferm geiftigen Witterungs- vermögen, unferm Ahnen. Wir „ahnen“, daß die Menfchen, Ereigniffe, Naturftim- mungen auger dem, was fie wirklich find, nod) Symbole einer andern Welt find. Das ift germanifch, das ift die Art der Edda, des Nibelungendichters, Wolframs, Goethes. Das ift die Art Bachs, Beethovens, die Art der gotischen Baumeifter, die Art Kants, Fichtes, Hegels. Ein Symbol” ijt nicht ein Gedanke oder eine Idee als folche. Denn die fann man mit nüchternen Worten ausfprechen. Ein Symbol it Kundmachung deffen, was nicht in der Gedantenfprache zu faffen ift. Gedantlid aft ein Symbol mehrfach ,deutbar”. Aber das Wefentliche darin tft eben nicht gedant- lid. Gymbolifdhe Kunft ijt Verkündigung des Gottlidjen durch die Sunjt als die „Sprache des Unausfprechlichen”. °

Deshalb find die Symbole Raabes aud) vielfältig ,deutbar”. Man darf freilich nicht einfach jagen: Jn den Akten des Vogelfangs fampft Raabe gegen die Ameritani- fierung des deutfchen Volkes. Und doch darf man es jagen. Nur ware e8 eine Ver- engung, wenn man glaubte, das wäre nun alles. .Gegen jene Gefahr hätte Raabe aud) in einem bloßen Auffa $ fampfen können, er foprieb aber eine Gef hidte. Es ift eben nod) etwas dahinter, das in „Abfichten” und ,Gedanten” nicht ein- zufpannen ift. '

Symbolifche Dichter neigen aud) zum Allegorifchen. Wie oft verhartet fid) beim alten Goethe das Symbolifche zur Allegorie! Der erfte Teil des Fauft ift ganz Sym⸗ bol, im zweiten Teil wimmelt es von Allegorien. Auch bei Raabe gibt es Werke, in denen das Symbolifche hier und da zur Allegorie führt. Cin Werf, in dem beides ſich mifcht, ift die „Frau Salome“. ES ift freilich fo, wie man es da lieft, ein in fid geſchloſſenes, realiftifches Werk. Wie förperlich gegenwärtig find die Menfden! Wie intenfiv ift die Stimmung der Landfdhaft und des Wetters! Mit welder Meifter- ſchaft ift bie unheimliche Stille vor dem Gewitter gefchildert! Eine der genialen „Stellen“ Raabes ift etiva diefe: „Nur ein einziges lebendes Wefen begegnete ihnen _ auf dem Wege zu der Hütte Querians, eine weiße, magere Sabe, die fcheu vor ihnen über die Straße ging (man beachte: ging, nicht: ſchlich oder Lief!) und in einer offenen Haustür verſchwand. Aus einem andern Haufe ertönte das laute Weinen eines

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Säuglinge, der von der hart arbeitenden (man achte auf den Klang: hart arbeitend) Mutter fid) felbjt überlaffen zu früh aus feinem Schlafe aufgewacht war und nun jeinen Sjanımer laut, aber vergeblich hinausſchrie. Das war der einzige Lebenslaut, den ſie vernahmen.“ Man muß das laut in dem zögerſamen, hemmungsvollen vaabe= {hen Zonfall lejen. Wie wird da die Stille hörbar, und wa 8 für eine Stille! es wa uns durch alle Nerven.

So ijt die „grau Salome” ein in Geftalten und Ereigniffen voll ausgerundetes, den Sinnen fahbares Kunſtwerk. Und dod) ift e3 ummittert pon einem Ahnungs⸗ vollen, ba8 darüber hinausweiſt. Man Heft wieder und wieder, und faßt es nicht. Aber einige auffallend allegorifche Züge laffen vermuten, dak in diefem Werk außer dem Unfakbaren aud) eine ganz beftimmte gedankliche Deutung möglich) äft, und daß diefe Gefchichte außer aus der Syntuition der Stimmung auch aus einer gedanklichen Abficht geboren ift.

Helene ole hat in der erften Nummer des Jahrgangs 1919 der „Mitteilungen für die Gejeljchaft der Freunde Wilhelm Raabes” die Deutung gegeben, dak Raabe uns in der „Frau Salome” den Weg zur Myſtik führt. Sie hat im Lekten recht. Aber im Einzelnen halte id) ihre Deutung nicht für zutreffend. Es bleibt auch bei ihr unverftändlih, warum Raabe hier als Sauptgejtalt eine „Raſſejüdin“ wählt. Die Meinung befriedigt nicht, daß hier nur ,,Ofzident und Orient” fich in der Myſtik zufammenfinden. Ungeldft bleibt troß allem das tieffinnige Gleichnis des Goethe- ¿itatg8 am Anfang bon den „herrlich verjtandigen Augen” der Schlange, die weder aus dem „Zuderglas”, darin die Menfchen fie fegten, nod) aus dem „Hautfutteral, das ihr die Natur gab“, ,herausfann”. Und warum wird denn Frau Salome und nicht Peter von Pilfum oder Cilife Querian zur Titelfigur? Es geht aud) nicht, wie Erich Everth es in feinem fehr feinen Büchlein „Wilhelm Raabe” tut, den Ur- fprung der Frau Salome nur aus der Neigung des Dichters zur überfpikten Gegen- faglichfeit zu erklären. Raabe hat diefe Neigung aber die Geftalt der Frau Salome ijt nicht nur aus der fünftlerifchen Neigung, fondern aud) aus der Ueber- legung entftanden. Ich trage nun dem gegenüber meine Deutung vor, ohne Ent- widlung und Begründung. Eine richtige Deutung muß in fid) Har fein und un- mittelbar überzeugen. Darauf rechne id.

Da find drei Freunde, der Yuftizrat Scholten, der Phantaft Querian und der Pfarrer Schwanewede, die alle drei aus jener weitfälifch-niederfächiifchen Gegend von ,Quatenbriidd im Fürftentum Osnabrüd” ftammen: „Das find eigentümliche Erdftriche, die eigentümliche Kreaturen hervorbringen.” Es ijt das eigenfinnige germaniſche Deutſchland. Scholten ift der Vertreter des politifchen Genius des deutſchen Volte3, er ift der deutfche Herrenmenfch mit feiner Strenge und heimlichen Gutmütigkeit. Ein Blid aus den Augen mit dem „fo fonderbar flaren bläulichen Glanz“ und felbft das widerfäglichjte und tüdifchte Gemüt wird plöglich gehorfam. Der Name Scholten erinnert ſowohl an falten wie fchelten. Als Realift und Mann des laren Dentens liebt er e8, Voltaire zu lefen. Friedrich der Große hat zu diefer Raabeſchen Geftalt Modell geftanden es ift der alte Friedrich, wie Raabe ihn fab. Nur in jener Mondicheinnacht, da er mit dem Schiefal Quevian3 und der Cilife nicht fertig werden fann, fehreibt Scholten an den alten Myſtiker. Nachher am hellen Tage wundert er fich über fich felbjt, daß er auf diefen „überflüffigen” Einfall gefommen fet. In jeder irdischen Lage weiß er zuzufaffen, zu ordnen, zu Herrjden. Nur den alten Querian, den Jugendfceund, weiß er nicht zu nehmen, obwohl er ihn innerlich berjteht und eine unter Jronie verborgene Achtung vor ihm hat. Querian geht an der fhheinbaren Jronie Scholtens zu Grunde.

Querian ift der phantaftifch-fünftlerifche Genius des deutſchen Volfes. Er lebt berquer zur Wirklichfeit, in einer eigenen abgefchloffenen Welt. Er „hält [eine Yenfterladen wie die Klappen feines Intellekts gegen die Außenwelt hermetijch ver- ſchloſſen.“ Er war nad) Seholtens Urteil „Der Begabtefte” von den Dreien. Er hat die eigentlich deutjche Begabung. Aber: „Es gibt feine gefährlicheren Verbindun-

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gen als mit Menfchen, welche die Rolle, die fie nur fpielen follen, ern ft nehmen.” Duerian nimmt feine Rolle bitter ernft. Er will nicht nur die Herren der Welt angenehm und weife ergögen mie Arioft, Moliere, Corneille, ihm ift fein Dichten und Trachten der Weg gum Leben. Findet er den Weg nicht, jo bleibt für ihn nur der Tod. Unverjtanden von den gebildeten Menſchen, hat er fic) in das öde Dorf gu der Bergleuten und Holzfällern zurüdgezogen. Das unterirdifche und malbeš= einjame Volk glaubt an den Grübler, Alchimiften und Bildhauer. ES tommt näd- tens mit feinen Nöten, Sehnfüchten, Hoffnungen zu ihm, es nimmt für ihn Partei. (Nur die Bauern, die Befigenden, halten'3 mehr mit Scholten.) In dem alten, deutfchen Künftler ftedt ein Stüd Fauft und Paracelfus. Alchimie und Kunſt geht ineinander. Seine Sehnſucht ijt, Werke wie die antifen zu bilden; dazu muß ihm jeine Todter nadt Modell ftehen. Zu dem marmornen griechifchen Frauentopf fagt Eilife Duerian in jener waden Mondſcheinnacht: „Du bift das fremde Bild, das mein Vater im Sinne hat und nicht finden fann, und mein Vater ift ein Narr.” Gn dieſem deutiden Phantaften vereinigt fid) ein Widerſpruch: der fauftifche Geift, der grenzenlos über alle Formen hinausgeht, und der plaftifche Wille zur Geftalt. So will er ein Kunſtwerk geftalten, das nicht nur Were ift, fondern das Le bt. Wie die Befucher in die Hütte eintreten, da: „Bon der duntlen Wand hob fich die Tongruppe im roten fladernden Schein des Herdes riefenhaft, übertrieben farifatur- artig, aber doch mächtig und überwältigend ab. Der nadte Gigant mit dem toten Kinde in den Armen lebte! Die Muskeln zudten, er mußte den grinfenden Mund jegt, gerade jegt zu einem Gebrüll der Verzweiflung aufreifen!” Querian felbit er- flart: „Das ift mein Kind, gnädigfte Frau. Ich habe fünfzig Jahre gearbeitet, ein Lebendiges zu jchaffen; es ftirbt mir aber in den Armen.” Aud) das große Feuer, das Querian immerfort in feiner Hütte unterhält, ijt ſymboliſch. Yon friert felbjt an den heißeften Tagen. Ihn „friert nad) der Sunnen”, mie einft Albrecht Dürer. Je einfamer e8 um ihn ift, umfomebr heizt er feine innere Leidenſchaft zu einem abenteuerlichen Feuer. Und ploglidó ſchlägt aus einem Kleinen Anlaß die Glut nad außen und zerftört bie Wohnungen der Menfchen. Welches ift der Anlaß? Aengft- lid) bat Querian die Befucher, ſowohl den Yuftizrat Scholten wie die Baronin Salome, nur nidt ju [a den. Dak man ihn nicht ern ft nimmt, ift fein Schmerz. Scholten verfteht den Querian wohl, er fagt: „Wenn er aus feiner Haut heraustónnte, ware er ein großer Mann! Wenn er Rechenfchaft ablegen könnte über das, twas er madt, wäre er längjt Profeffor an irgendeiner Akademie der bildenden Künfte und Profeffor der Philofophie obendrein.” Aber dann lächert ihn das Abgelebte, Spiepige des alten Mannes, der groteste Gegenfag zu dem Wollen, und „da lachte Scholten dod.” Nun folgt jener Abfchnitt: „Um diefe Stunde ziwifchen drei und vier Uhr nachmittags“, dem nur weniges in aller Literatur zur Seite zu ftellen ijt. Querian wirft Feuer in fein Haus, er verbrennt, das Dorf verbrennt. Vernichtet ift die alte deutfche Kunft.

Der alte Querian hat eine dreizehnjährige Tochter, die von Scholten aus der Taufe gehoben wurde und von ihm den freundlich milden Namen Eilife erhielt. So mar einft der alte Friedrid) Pate einer neuen deutjchen Kunft. Eilike hat in ihrem Kammerden die griehifche Maste zu Hängen und berebrt in ihr die tote Mutter. Nur in jener feltfam wachen Mondfdeinnadt regt es fich in ihr: „Nein, bu bijt doch nicht meine Mutter. Meine Mutter ijt erft feit zwölf Jahren tot, du aber bift {chon vor taufend Jahren geftorben.” Gie fann nicht zu fich felber formen. Zum Paten, der ihren Vater einen Narren jchilt, darf fie wohl fehliipfen. Er lieb- foft fie und gibt dem hungrigen Mädchen Nahrung die ihr freilich von der gierigen alten Witwe Bebenroth bor dem Munde weggefreffen wird. Die Frau Salome hält das Kind zuerjt für blödfinnig. Und dod) fühlt fich Cilite von der Frau Salome an- gezogen. Heimli macht fie fid) nachts auf und fchleicht um die Villa der fremden Frau. Diefe fucht zu deuten, twas in der Bruft des Kindes vorgegangen fei, als fie, den Vater nicht aus böfem Herzen verlaffend, zur Frau Salome irrte: „Und

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weil du gern möchteft Heraus aus deinent Leben in ein anderes, mein armes Herz, haben fie dich jchlafend gefunden in meinem Garten! Weil du fo groß gemadjen fein möchteft, wie ich und folche Kleider tragen und reinlich fein, bift du gefommen!“ Eilite fagt Hilflos ja und ſchluchzt: „Es iſt alles jtarter gemejen als id. Ich habe müfjen! ch weiß aber nicht zu jagen, was ich getan habe, was ich will, und das weiße Bildnis in meiner Kammer ijt nicht meine Mutter, fondern eine fremde, heid- nifhe Frau.” So rational, wie Frau Salome meint, ijt der Drang der jungen Eilife nicht zu deuten, aber es ift dod) auch wahr, was Frau Salome meint. Was Cilife im tiefiten 30g, ift die Sehnfucht zum „Ichor“, die Verwandtſchaft zum Ootterblut, dem Blut der alten Propheten und des Nazareners. Das wunderfdine Sind mit dem gelbweißen Saar und den hellen, blauen Augen, das feiner felbft nur traumhaft bewußt ijt, das zuweilen jo fremd-feierliche gotiſche Bewegungen macht und das doch einen fo gefunden Hunger und ein fo gefundes Leben hat, if die junge deutjche Sunjt.

Der dritte der drei Freunde ut der Pfarrer Peter Shwanemwede. Er fist in Pilfum an der Novdfee, beim Raufchen des unendlichen Meeres, und liejt, wie Scholten feinen Voltaire, den Meifter Jakob Böhme. Er ijt der Mann des Tiefblides und der Abnungen. Er it der, dem „es ſchwant“. Er fteht mertwürdig im Hinter- bewußtjein des „Atheiften” und „Verſtandesmenſchen“ Scholten. Wenn Scholten hilflos wird, was freilid) nur in Mondſcheinnächten und angeſichts tiefiter feelijcher Not vortommen dann, wenn der Verftand nicht zureichen will, dann erinnert er fid) feines Freundes Schwanewede. So jteht Schwanewede eigentümlich hinter der gan- gen Geſchichte. Und nun das Tieffinnige an diefer fymbolifden Geftalt: Schwanewede ift in Wirklichkeit längſt tot. Nachdem die Gefchichte aus ijt, kommt Scholtens Brief aus Pilfum zurüd mit dem Vermerk: ,,Adveffat bereits vor einem jahre ver- ftorben.* Schwanewede ijt der religioje Genius des deutſchen Voltes.

So haben wir den ftaatlichen und wirtfchaftlichen Scholten, der das Leben tapfer meijtert, den phantaftifchen Grübler und Künſtler Querian, der am eigenen Feuer verbrennt, den Religiöfen und Myſtiker Schwanetwede, der eigentlich ſchon tot ift. Alle drei zufammen find das deutfche Volt. Alle. drei zuſammen find aber auch Wilhelm Raabe felbjt.

Und nun auf der andern Seite die reiche Witwe und Varonin Salome von Bei tor, die Raffejiidin, die, ohne Reffentiment, fich ftolz zum Blute Abrahams befennt. Sie hat „den uralten fdarfen Geierblid, wie er durd) die Bücher von den Königen funtelt und in den Büchern der Mattabáer vor Antiohus dem Syrier.“ Aber weil fie diefen Stolz und diefes Herrenhafte hatte, argerte fick) „Die fo weit über ganz Europa verbreitete BlutSverivandidaft” oft an ihr. „Auch ich bin aus Uffrontenburg wie mein Stammesgenoffe, der gute Heinrich Heine, und id) bin ein armes Mädchen und Weib gewefen, und id) habe mich duden müfjen vor jedem Uffront, der mir angetan worden ift zu Affrontenburg. Sa, fie hätten es gern gehabt, wenn ich hätte auch gelächelt zu jeglichem Affront; aber ich habe dann und mann gelacht! Ich habe auch meine Zähne, und fie find echt; und find echte jüdifche Zähne. Ich habe gebiffen, wenn ich gleich feine biffigen Gedichte und Lieder druden laffen tonnte, mie der Parijer Poet, mein talentvoller Herr Vetter aus dem Morgenlande.” Sie hat nicht wenig gelitten unter der ſchlimmen Nachbarſchaft in ihrem eigenen Volke, unter den „Füchſen, Luchfen, Wolfen”, vor allen anderen aber unter den „Affen“.

Worauf ruht nun die Freundfchaft der Frau Salome zu Scholten und Scholtens zur Frau Salome? Der Yuftizrat driidt es mit dem homerifchen Worte , Ibor” aus: „Götterblut”. Das Blut der Menfhen ift das natürliche Blut: Haima. Das fließt, wenn die irdifden Männer bor «Jlion kämpfen. Aber werden bie Götter verwundet, fo fließt Jchor. ES gibt unter der Menge, die nur Haima in den Adern hat, etliche, die haben außerdem atd) ein Ewiges, Böttliches in den Adern: Ibor. Das wittert ber Germane in diefer Jüdin. Sie aber wittert ebenfalls Ichor

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in dem Germanen. Das trennt fie von ihrer eignen Sippe daheim in Affrontenburg, da3 treibt fie zu dem Germanen, treibt fie an den Blodsberg. Aber fie fann die fremde Art doch nicht erfaffen. (ES bleibt bei einer bloßen Freundichaft, der Gegen- fag der Natur bleibt immer bewußt, und niemand denkt daran, ihn zu „überwinden“. Wer Ichor hat, achtet das Schickſal. Die Sehnfudt des Ewigen, nicht die des Blutes, treibt die Frau Salome zu den Germanen. Sie ah nt das Cwige in ihnen wohl, begreift es aber nicht. Sie ift entzüdt bon der natürlichen Schönheit Eilites, halt fie aber zunächſt für blöd. Sie deutet Cilifes Entiweichen in der Mond- ſcheinnacht durchaus rational. Sie murmelt vor der Tür des geheimnisvollen Querian: „Der Himmel fopitge und erhalte mir mein fühl femitifch Gehirn.“ Und fobald der Unheimliche als „der Heine, ſcheue, ſchämige, ſchwächliche Mann mit dem tümmerlichen dünnen Haar, im fümmerlichen grauen Rodden” herbortritt, hatte fie „beinahe einen Ruf der Enttäufchung ausgejtogen.” Da fie mit der Anteil- nahme der Neugier dem Fremdartigen gegenüberjteht, braucht fie auch nicht zu laden. ferner: fie ift bei der erften Begegnung mit Cilite alsbald hilfsbereit. Sie hat nicht die Strupel Scholtens. Scholten alg germanifcher Individualiſt ſcheut fich, in den Eigenwillen Querian3 einzugreifen; er hat innere Achtung aus heim— lihem Verftändnis. Frau Salome aber, die Fremde, hat nur Hilfsbereites Mit- leid. Von ihr foll die Cilite nicht nur ein Halbe 3 gebratenes Huhn haben wie bom Paten Scholten, fondern ein ganzes, und Wein dazu! Scholten faft das Wejen der Frau Salome, als er mit der Fauft an OQuevians Tür Hopft, in die Worte: „Wir ftehen bor deiner Tür, das Kapital und der Wik.” Nach dem Brande übernimmt Frau Salome die Pflege Eilifes.

Alfo: die reiche Júdin, die Jchor in den Adern hat und dem Eigen verwandt tft, nimmt die unverftande Cilife, weil fie Eiviges in ihr ahnt und menfchliches Mit: leid Dat, unter ihre Obhut. Jüdiſches Kapital und jüdischer Wit helfen der jungen deutſchen Sunft weiter ins Leben.

Aber: wie Goethes Schlange troß der herrlich verjtändigen Augen nicht aus dem Zuderglas und erft recht nicht aus der Schlangenhaut heraustam, fo tann Frau Salome niemals ihr Haima verleugnen. E3 bleibt bei Ahnung, Sehnfudt und Freundfchaft. Die Gejchichte ſchließt mit einem äußerlich berubigten, aber innerlid untlaren Schidfal der Cilife.

Sie bleiben unrubige Gajte, Scholten und Frau Salome. Der tote Myſtiker zieht da8 Ydhor in beiden an. Sie wandern weiter ihre Wege, nunmehr nad) > zum toten Schwaneivede. Das Ichor will heim zu Gott.

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Dom Iprifchen Maabe und feinem Mondlied.

JJ" echten Raabeton ſchreibt der Fünfzigjährige im Auguft 1881 an feinen „lieben alten Freund und ſchnöden alten Pojttarten-Correjpondenten” Carl Schönhardt aus dem Stuttgarter Krangden: „Wir epifchen Profaiter oder profaifden Epiter find eben bejjere Menjchen als ihr fubjeftiven Singvögel; bedeutend teilnahmsvoller ver- jegen wir uns in die Gefühle, Stimmungen ufw. Anderer hinein, und daß das unfer Handwerk ijt, nimmt der Tatfache nichts von ihrem Werte.” Man hört die Wahrheit durch den humoriftifchen Ton hindurdflingen, und doch hätte Raahe mit weniger Selbjtironie, aber vielleicht mehr Recht fich auch einen epifden Lyrifer oder lyriſchen Cpifer nennen können. Die Heine Zahl der Raabefhen Gedichte ijt doch leglid) nur darin begründet, dak es dem Meifter gegeben tar, fein tiefites Selbjt in feiner „Profa” zu offenbaren, und wenn all diefe Iandläufigen Begriffsmünzen nur ¿ureichen wollten, die ganze Lebensfiille des Raabefden Dichtertumz zu fafjen, jo könnte man vielleicht jagen, daß das Wefen des vielverfannten Raabeſchen Humors vor allem darin liege, daß der Dichter Iyrifhe Empfindung in epijde Form Heide oder unter ihr verberge. Gefühlsmäßig anfchaulicher deutet Peter Hilles ſchönes Wort „Berfniffenheit vor fauter, lauter Seele“ auf Raabes Art, feine Iyrifche Dichterfeele epiſch oder tie fonft immer zu verhüllen und doch gerade dadurch in ihrer ganzen Zartheit und Schambaftigfeit zu offenbaren. Man foll darum Raabes Erzähltunft beileibe nicht unterfchägen. Sie ift fo groß, daß er fie nicht für einen Raub zu halten brauchte, fondern jederzeit die epifche Form zerfchlagen durfte, um fie als ein Mittel zum Zwecke tieferer Wirkung zu eriveifen, als fie einem bloßen Erzähler möglich ift. Reinesfalls werden wir Raabe mit der Abftempelung „epifcher, lyriſcher oder dramatifcher Dichter” gerecht. Und wollten wir für fein Dichtertum, wie e3 fich in feinen Romanen und Erzählungen darjtellt, alle drei Dichtungsarten im Sinne eines „Geſamtdichtwerks“ beanfpruchen, fo hätte das einen fchönen Sinn nur müßten wir dann auch den autobiographifchen Dichter noch dazu bemühen; denn wir fennen feinen zweiten unter den deutfchen Dichtern, der fo wie Raabe in der einen Form feiner Profadichtung zugleich fein eigenes Leben und Denken und tiefites Fühlen zu gejtalten weiß, indem er in diefem großen Volfs- und Lebens- drama „Mutter Deutfchland und ihre Leute” nicht nur über die Bühne gehen, fondern fic) gleichfam häuslich auf ihr niederlaffen und im Guten und Bofen ihr Eigenftes darleben läßt. Und in feiner allheilenden Wirkung wird nur Goethes Werk diefem Raabedrama zu vergleichen fein. Aber nad) Raabes eigenem Wort werden nur alle vierzig Bände Goethe „die große Panacee” bilden, und in diefen vierzig Banden vereinigt diefer andere Trófter der mit Raabe fein Volf in alle Wahrheit leiten möge Lyrif, Epit und Dramatif mit all ihren Nebenformen und geftaltet in ihnen Didhtung und Wahrheit aus feinem Leben; die Lyrif aber fteht bei ihm wahrlich nicht an letter Stelle.

Raabes Lyrik aber „in gebundener Form”, faft ausfchlieglich das Ergebnis der drei kurzen Igrifchen Perioden feines Schaffens in den fünf Jahren zwijchen 1857 und 1861, wird nicht nur bon feiner Profadichtung durch deren weit überragende Fülle ftart überfchattet, fondern e3 wird auch dem Raabefreund gefchehen, dak er in ihnen den Oberton vermift, der in jenem Hohenliede „in gebundener Form” die Mufif macht, und es von der Sperlingsgaffe bis nach Altershaufen durchklingt. Es ijt der Oberton des über allem in Freiheit ſchwebenden und zur Freiheit erhebenden Raabeſchen Humors, der durch die epijd-lyrifche. Form bedingt ift, und der fich regt und in Raabeftinmning berfegt, fobald wir ein paar Gage feiner großen Konfeffion, verforpert in den unvergänglichen Werfen feiner Profadichtung, lefen. Trogdem . wird, wer fid) in die ,,Gefammelten Gedichte” vertieft, nicht nur manches Stüd bon

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tiefem Gehalt und vollendeter Geftalt entdeden, fondern aud) in ihnen gar oft die Wafjer raufchen hören, aus deren Gründen der tragifche Raabehumor erwädft. Für beides möge unfere Betrachtung des Liedes „Wenn über ftiller Heide” zeugen, das der Dichter die Laurentia Hevligerin in feiner Erzählung „Das legte Recht” fingen lapt.*)

Wenn wir das Gedicht Raabes Mondlied nennen, fo tun wir e8 mit Beziehung auf Goethes Lied „An den Mond”. Man [ele nur die erfte und die vorlepte Strophe, um nicht nur die wortliden, fondern aud) die feelifhen Antlánge an die Verje zu

vernehmen Fülleft wieder Buſch und Tal Still mit Nebelglanz, Lofeft endlich auch einmal Meine Seele ganz.

Aber auch in dem für beide Dichter typiſchen Inhalt berühren ihre Mondlieder fid) nahe. Nur dak das eine große Thema bom Leidtragen und Leidiiberivinden, das die Dichtung beider beherrfcht, hier Raabifch, dort Goethifch behandelt wird. Wir wollen den Vergleich zwifchen beiden nicht durchführen, fondern nur einen Seitenblid auf das Goethefche Gedicht werfen, wobei denn für Raabes Mondlied fprechen möge, daß e3 felbft neben diefem Iyrifchen Stern erfter Größe nicht erlifcht.

Zwar mag es fcheinen, a[8 ob Goethes Mondlied das Raabes in der Unmittel= barkeit der Naturanfhauung und in der Bildhaftigkeit ihrer Geftaltung, forvie in der Lebhaftigkeit des Gefühlsausdruds weit übertrifft. Doch wenn die Gefühlswellen des „leichtbeivegten Herzens“ bei Goethe aud) höher gehen, und die Natur und das Fad zueinander in unmittelbarere Beziehungen gefegt werden als bei Raabe, fo haben wir darin weniger einen Unterfchted im Werte als in der Weife beider Lieder und der Eigen- art ihrer Dichter zu fehen. Dort bei Goethe wird, ehe die Wogen fich in Beruhigung und Entfagung glätten, „Freud und Schmerz”, ,,froh’ und trübe Zeit” noch einmal im lebhaften Wechfel und in aller Leidenfchaftlichkeit erinnernd durchlebt, und in der direften Anrede An Mond und Flug im Wedfel mit der JH Ausfage, im Bilde des fließenden und raufdenden Fluffes und im leidenfchaftlihen Auf und Ab der drängenden Rhythmen findet diefe Lebhaftigteit und Unmittelbarteit ihren ent- fprechenden Ausdrud. Raabes Lied ftellt das verhaltene, tief innerliche Ringen des Menfchenherzens mit dem Erdenleide dar und fleidet ſich in die Form des fanft mahnenden und befdwidtigenden Zuſpruchs. Diefer zur Stille mahnende Ton duldet nicht die lebhafte Leidenfchaftlichteit des Gefühlsausdruds, und, der verhaltenen Innerlichkeit des fchmerzlichen Ringens entfprechend, bleibt das Naturbild in der erften Hälfte des Gedichtes noch völlig im Hintergrunde.

Nur einleitend wird das Bild der jtillen Heide mit der darüber ſchwebenden Monöfichel, gedämpft durch die Bedingungsform, als fernwirkendes, die Moglid- feit der Erlöfung verheigendes Ziel mit zwei Stridjen angedeutet, und man fpredje und hire noch einmal nebeneinander jenes „Löfeft endlich auch einmal meine Seele gang” und diefes „Mag löfen fi) bom Leide Herz, das im Leiden bebt,” um den Unterfchied im Gefühlston zu erfaffen. Es ift der Ton halb hoffnungsvoller Sehn- fucht, Halb fehmerzlicher Entfagung, auf den das Mondlied Raabes [don in diefen Eingangsverfen geftimmt wird. Das Leidtragen ala Erdenlo3 dies eine große Grundthema der Raabeſchen Dichtung beherrfcht auch dies Gedicht und wird nun in feiner ganzen Tiefe und Spanntveite gleich in den vier Zeilen! der zweiten Strophe in genialer Knappheit nicht nur gedanklich umriffen, fondern aud) gefühlemäßig erfchöpft und bildhaft geftaltet. Bei aller Allgemeingiltigteit aber fühlen mir den Schlag des einzelnen im Leiden bebenden Herzens durch jedes Wort hindurchzittern. Wir fühlen und fdauen bei den Worten „Tritt vor aus deiner Kammer” mie ein

*) Lies den Text des Liedes unter den in diefem Heft veröffentlichten Gedichten. 292

getreuer Edart dem in feinen Schmerz gefangenen Herzen gleidjam die Hand reicht, um e3 quí feiner Sammerenge herauszuführen, und aus dem ziveimaligen „trage trage“ hören wir nicht nur die fanfte Mahnung „nimm auf dich” heraustlingen, fondern wir fühlen die. ganze Lajt des Schmerzes, der in dem drängenden Aufftieg diefer beiden Zeilen zum Jammer der ganzen Menfchheit emporzuwachſen jcheint. So gejtaltet der Dichter zugleich die Bergeslaft und bruftbeflemmende Größe des Schmerzes, obgleich der tröftende Sinn diefer Strophe ift, dak das in den Bann des Leidens gefchlagene Herz an dem ihm warm entgegenfchlagenden Herzen der Emigfeit Befreiung und Rube finden kann.

Und nun fühlen wir, wie der führende Trofter vor ber ſchweigenden Majejtát de3 Ewigen ftille halt, jehen, wie er nach oben und nad) unten deutet, und fpiiren das erhabene Wandeln des Univandelbaren im fchreitenden Rhythmus der Worte: „Schweigend geht Gottes Wille über den Exdenjtreit.”

Darum ſchweige auch du, beuge did) diefem guten Gottesiwillen, dann wirſt du bald überwunden haben fo neigt fid) nad) diefem Aufblid die fanft mahnende Stimme wieder herab zu dem mit feinem Schmerz ringenden Herzen. Mit den Worten „Tritt in die ftille Nacht” aber wird in einer dem neuen Zufammenhang trefflich entipreenden Abwandlung das „Tritt vor aus deiner Rammer” und mit ihm das Bild des eingefchloffenen Herzens und das Naturbild der ftillen nächtlichen Heide wieder wachgerufen. Die Wiederholung des Iodenden Zufpruchs hier und in der nächlten Strophe verftarft zugleich den Eindrud des fiyiveren Kämpfen und Ringen3 und erhöht die befchwichtigende Wirkung im Gleichflang des tröftenden Worts. Und wieder mit leifer Abwandlung jenes „Trage des Weltlaufs Jammer der Ewigkeit ans Herz” wiederholt fic), dem nun demütig fic) beugenden Herzen ent- fprechend, nod) wärmer und teilnehmender im Ton, perfonlider und gegenftändlicher im Bilde das Sernivort des tröftenden Zufpruche: „Und trag dein armes Herze an Gottes Herz hinaus“. Wie innig mitfühlend und troftlid flingt der Gegenfag heraus: Das arme zitternde Menfchenherze und das Herz Gottes, das ewig ruhige und fefte.

Jetzt endlich lofen fich die beengenden Bande, zaghaft wird die Schtvelle des Haujes überfchritten und, in der Vorftellung des Hinaus- und Hinaufführens fort fahrend, wird nun im plajtifchen Bilde Befreiung und Aufſchwung des Herzens phantaftemäßig vorausgefchaut und geftaltet. Durch den unmittelbaren Uebergang in das Naturbild und den deutlichen Anklang im Wort und Ton der Aufforderung „Weil nicht im dunklen Walde”... „Trag deinen Schmerz ins Licht“ ift der Bu- fammenbang gewahrt, und der bedeutungsvolle Gegenfab, „das etvige Kontrarium zwifchen Finfternis und Licht”, wird durch die beiden Vorftellungen der dunklen Tannen und der im freien Lichte liegenden Halde nod) fonfreter geftaltet. Vor der beraufchenden und verlodenden Wirkung des Lichtes aber berfintt alles bannende und beángitigende Dunkel, und im überwältigend großen und fchönen Bilde wird diefer Lichtraufch geftaltet: „Dann hält die Seele trunten das Firmament umipannt”. Symbolifd zufammenfaffend, doch deutlich die geheimnisvolle Macht des Mondes, „die Gemüter der Menfchen fich nach und zu fic) emporzuziehen“ fpüren laffend, wird dann im Bilde des fich glänzend aus dem Nebelfleide emporringenden Nachtgeſtirns der Aufſchwung des Herzens gefdaut und empfunden.

Dod) nur gefhaut und empfunden, nur in der Phantafie erlebt. Dem im Erdendafein gefangenen Herzen bleibt fehließlich doch nur Sehnfuht und Entfagung. „Wir können nicht heraus, es ift vergeblich wir fteden in ung, wir fteden in der Menſchheit, wir find gefangen in dem harten Gefängnis der Welt. Wir feuden nad) Freiheit, Erkenntnis und Schönheit, und im günftigften Falle wird uns der Mund gejtopft mit Erde.” In diefen Worten herbfter Tragif aus dem Munde der Frau Salome fpricht fic) tiefite Lebensweisheit Raabes aus, und auch fein Mondlied [chließt mit einem Sehnfuchtslaut des gefangenen Herzens. Vor dem Anbaud) der

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Ewigkeit befteht nur, was das arme gequálte Menfchenherz liebt und leidet „sont

nichts” das ift Troft und Tragit zugleich, wie Wilhelm Raabe fie auch hier im

lyriſchen Gedicht tief empfunden und vollendet geftaltet zum Ausdrud bringt. Franz Heyden.

Meine Erinnerungen an Wilhelm Naabe.

S bin etliche Male mit dem großen Einfamen bon Braunſchweig ¿ufammen gemejen. Er hatte meine Mufitantengefchichten gelefen: „mit dem größten Behagen”. Damals fannte ich nod) nichts von Raabe. Weil man gleich vielfach hervorhob, meine Art erinnere an ihn, fo las ih nun auch ein Raabebuch. Buerjt den „Horader“, und damit hatte er mich, fürs Leben. Stein befferer Anfang!

Jn jener Beit verbrachte ich meine Ferien nod) häufig in meiner alten nieder- ſächſiſchen Heimat, und ich fuhr immer über Braunfdiweig hin, der wunderbaren alten Stadt zuliebe. Ein mir befannter alter Freund von Raabe er hatte lange mit ihm zufammen gewohnt, am Windmühlenberg: Carl Schultes, brachte mich mit ihm zufammen. Genau bor zivanzig Jahren wars, im Auguft 1901, furz vor Raabes denfiviirdigem fiebzigiten Geburtstag.

Ich jtehe vor feiner Tür, mit etwas peinlichen Gefühlen, denn es ijt mir fehr zuwider, bei berühmten Leuten einzudringen und fie aufzuftören. Endlich faffe ich Mut und ziehe die Klingel. Niemand erjdeint. Schon fühle ich mich erleichtert und will fachte wieder verfchwinden: plötzlich fteht er in der Tür, lebensgroß, er jelber hei ſülwſt, oh, Herrgott! Gleich erlöft er mich aus meiner Schwulität. Ehe id) meinen Namen ihm nenne, reicht er mir die Hand. Er wife jhon Befdeid, vom alten Schultes, und übrigens: ich fábe. ganz fo aus, wie er es fid) gedacht hätte. Ob, wie er dajtand, ich vergeffe den Anblid nie! In feinem hiftorifchen Schlafrod, ganz fo wie auf dem befannten Bilde von Hanns Fechner, das hatte ich zufällig furz vorher in einer Ausftellung gefehen. Wilhelm Raabes Schlafrod! Grau war er wohl urfprünglich und mit grünen Auffchlägen, und tvie war er abgetragen und aus- gefranzt, und er fchlotterte im um die hageren Glieder. Darüber das mächtige Haupt, fo ein echter niederfächjifher Langjchädel, mit dem in langen Strähnen zurüd- gefämmten Graubaar. Ein Kopf faft fo markant wie der vom alten Frigen. Bufdige Brauen überjhatten ein Paar unbejchreibliche Augen, tief eindringenden Blices, dabei gütig, verfonnen und ganz eigentiimlich hell und fchalfhaft, jo Hinter herum. Jawohl, der berühmte Raabeblid! (Es lag etwas bom Blid eines alten und äußerſt gefcheiten Ziegenbodes darin. Man erfchrede nicht: man fchaue nur einmal fo einem alten Ziegenbod richtig und vefpeftvoll ing Auge. Till Eulenfpiegel, der ſtamm— verwandte, alte niederfächfifche Schalfsnarr, der mag wohl aud) zuweilen fo ähnlich aus den Augen gefdaut haben.

Syn fein Arbeitszimmer nahm ex mich mit hinein. Und hier fag id) nun neben ihm, wie auf dem Fechnerfchen Bilde noch mit hineingemalt. Ganz alles fo, wie auf dem bewußten Bilde. Die merfwürdigen Bücherregale, vollbepadt mit philoſophiſcher und biftorifcher Gelahrtheit, fonderlid aus alter Zeit: ich las nur die Titel Hijtori- {her und philofophifcher Klaſſiker, in höchſt harakteriftiihen, alten Einbänden, mahr- haftige Bücher der Chronifa! (Wo mag die fehr merkwürdige Raabebibliothet hin- gekommen fein doch hoffentlich nicht in alle vier Winde?) Die unglaublich ſchwachen, ſchwarzgeſtrichenen Regalbretter waren von der ſchweren Belaftung in der Mitte tief niedergebogen, die Seitenwände ftüten und balangierten fid) gegenfeitig, man tvar darauf gefaßt, das Ganze könnte jeden Augenblid in fid) zufammenbrecen. Ein paar alte Stiche an den Wänden, fonft nichts Bemerkenswertes von Kunft. Am Fenfter hing ein langer, alter, englifcher Barometer. Ein Laubfrofch hätte ihm vielleicht diefelben Dienfte geleiftet. Die Möbel von größter Einfachheit, im Geſchmack wie bei einem alten Landpfarrer. Der Fußboden war fauber befandet. Am Ofen

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anb ein did mit Sand gefüllter, riefengroßer Spudtaften, aus bligblantem Meffing, eine große Merfwiirdigfeit von einem Spudtajten, ſchade, dak ichs verfaumte, einmal —: hm, aber der Rejpett!

So fag ich nun da in einem jehr wadeligen Rorbjeffel, und mit Wobliwollen tubten feine Blide auf mir. Es erging mir aber leider wie fo vielen Raabebefuchern: ein rechtes Gefprach wollte nicht in Fluß fommen. Wilhelm Raabe war fehr zurüd- haltend im Sprechen, ex ließ tluger Weife lieber andere reden, und dabei dachte er fich fein Teil. Seine Augen freilich verrieten fdjon, was er dabei fich dachte: hm, Menfchlein, rede, rede du nur immer, nad Herzensluft, damit du did) —. Jawohl, man bat der Obren zivei, jedoch nur einen Mund. Er bemerkt ſchließlich, ich mache öfters krumme Augen nad) feinem Schreibtifch am Fenfter. Ein merfwiirdig fleines, ftart abgenugtes Möbel. Faſt alles, was er gefchrieben habe, bedeutet er mir, ware darauf entítanden, der Hungerpaftor, der Schiidderump, Abu Telfan, die alten Nefter ufo. Nun aber wäre e8 aus damit. Reine Zeile mehr nad) feinem fiebzigften Geburtstag, denn er hätte wahrhaftig genug zufammengefchrieben in feinem langen Leben. Und er hat Wort gehalten. Freilich jo ganz hat er3 doch nicht Laffen fonnen: „Altershaufen”.

3d erzähle ihm, ich Hätte den ganzen Morgen in den alten Braunfchweiger Straßen zugebracht, voller Begeifterung, voller Entzüden, und ich nenne, befchreibe - einzelne alte Haufer, Höfe, Siren, und nun dente ich, das foll ihn freuen, ihn inter- effieren. Weit gefehlt. „So,“ erwidert er troden: „jo, Sie waren darin, in dem alten Gefröfe?!” Damit hatte ich, ach, mein bejtes Pulver verſchoſſen. Ich ſah ihn mir noch einmal recht genau an und empfahl mich.

Mein Verſprechen, bald wieder zu kommen, konnte ich erſt ſechs Jahre ſpäter einlöſen, im Mai 1907. Er war inzwiſchen umgezogen, wohnte außerhalb der Stadt, ſonnig und geſund, nur leider in einem ſchauerlich häßlichen Neubau, man kann ſich gar nichts Oederes, Raabewidrigeres vorſtellen. Ich erſchrak, als ich jetzt wieder fein Arbeitszimmer betrat. Alles fo anders tie früher am Windmühlenberg! Und der alte Herr diesmal trug er einen unbejchreiblich abgetragenen, alten Gehrod aus ſchwarzem Tud —: er war inzwifchen fehr gealtert. Geiftig freilich nicht. Dide Tränenbeutel hingen ihm unter den Augen, und die beeinträchtigten ftarf den ganzen Gefihtsausdrud. Sd) lentte das Gefprach auf den größten Mujifanten nieder- Tächfischen Blutes. Brahms und Raabe man kann fie viel zutreffender miteinander vergleichen, in ihrem tiefen und herben Gemüt, in ihrem Deutjchtum, als Brahms mit Hebbel, wie es fälfchlich fo oft gefchieht. Und nun erfuhr ich von Raabe, Kalbed, der Brahmsbiograph, habe ihm gefchrieben, Brahms habe noch in den legten Wochen feines Lebens eifrig und in tieffter Ergriffenheit feine Bücher gelefen. Auf Salbeds Beranlaffung. „Hm,“ bemerkte er dazu, „das fonnte er ja jchon dreißig Jahre früher haben, meine Bücher lagen da, aber aber —.” Und er befannte mir: „Ich bin völlig unmufitalifch und weiß nichts von Brahms, aber meine Tochter, die fingt feine Lieder, und da höre ich gern ihr gu.” Ja, das mar wohl fo. Er war überhaupt feine ausgefprodjene Künftlernatur. Auch als Dichter ift Raabe im Grunde mehr Philojoph und Menfdjentenner: als eigentlicher Siinftler. Das ift feine Starfe und zugleich Schwäche. Deswegen ift er auch fo ſchwer zu leſen. ES hat wohl faum noch einen Dichter gegeben mit fold) merfwürdigem Tiefblic für Menfchenfchidfale, fo wie Raabe ihn befaß; einen Dichter, der wie er fo tief in die Herzen zu fchauen und darin zu lefen verftanden hätte, und damit befak er allerdings die entjchieden feltenfte der Kräfte, die den Poeten machen. Feine Künftler find ja fonft unter den Poeten nicht fo felten. Und bei der Gelegenheit erfuhr ich auch noch von ihm heute weiß mans ja aus dem Ietten Bande der großen Brahmsbiographie, der war aber damals nod) nicht erfchienen —: Brahms hatte die Whficht, Raabe mit einem Legat zu bedenken. Raabe aber winkte ab, als Salbed dieferhalb bei ihm anfrug. Wie er ja fon früher eine Unterftügung der Schillerftiftung verfchmäht hatte. Zulegt famen mir auf die

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Stadt Hannover zu fpredjen. Die verabjcheute er geradezu. Ich erzählte von den Auslagen in den dortigen Buchhandlungen fam gerade von Hannover —: lauter modifches Zeug wars gerejen, fein Raabebud) darunter. Er fchneidet mit erjchreden- der Heftigfeit mir das Wort vom Munde ab: „Diefe Stadt exftidt im Materialismus! 30 haffe Hannover! Wenn ich durchfahre, ſchließe ich die Augen, um nichts davon zu feben.”

Sehr bald fah id) ihn darauf wieder. Zum legten Male. Schon nad) ungefähr einem halben Jahre. Nach einem Vortrag aus meinen Dichtungen in Braunſchweig. Da war id) mit ihm zufammen in der Weinftube von Herbjt, wo er, wie befannt, allabendlich mit gutem Rotwein fich fein Leben regulierte und verlängerte. Ganz im Sinne bon Jeſus Sirad). Er freute fid) des Wiederfehens und ehrenvoll an feiner Seite mußte id) fiken. Ich beobachtete, zuerft tranf er eine halbe Flaſche ftarf angewärmten Bordeaur der: Wirt fannte feine Getwohnheiten und brachte fie fo bon felber —, und fpäter trank er noch Wein in normaler Temperatur. Der alte Herr hatte eine wunderbar weisheitsvolle und fennerifde Art, zu trinken, äußerft langfam, in fleinen Schluden, ſchmeckeriſch, nachdenklich, jeden einzelnen Tropfen genießend, fehr ernft und tief dabei ins Glas fchauend; ja, er war ein Original in jeder Hinficht, auch im Trinken. Der Raabetifd) war diesmal fehr ftart bejegt. ES fam auc) ein Gefprach in Fluß, woran der alte Herr fich mit beteiligte. Ueber die ungeheuerliche literarifche Ueberproduftion die alljährliche Weberfchwemmung mit Büchern in der Zeit vorm Stiege, und wie unheilvoll leicht e für fo einen Bücher- fchreiber damals war, einen Verleger zu finden. Man fiehts ihm ab an feiner Stirn mit den vielen Adern: die Adern ſchwellen, der Zorn fteigt in ihm anf. Plötzlich ſchlägt er heftig mit der fladen Hand auf den Tijd) und laut und gereizt jeine Stimme, wie Hang fie fonft fo weich und gütig, er war ganz und gar ein Pianomenfd! laut und gereizt fpridt er: „Als ich vor 50 Jahren mit meiner Sperlingsgaffe ans Licht wollte” Allgemeines Aufhorchen! Herrgott, vor 50 Jabren! „da habe ich bei diefem Vevleger angeflopft und bei jenem, aber alfe zudten die Achſel, feiner wollte anbeigen. Schließlich lieh ich mir 50 Taler und drudte auf meine eigenen Koften.” Go gefdehen mit der „Chronik der Sperlingsgaffe”, und die ift neben dem „Hunger- .paftor” fein am beiten gehendes Buch geblieben; er lebte davon, wie zu lefen in feiner foftlichen Kleinen Selbftbioguapbie, erfchienen im Heidjer-Malender von 1907.

Als der verehrte alte Meijter fic) endlich erhob, fo um Mitternacht, um nad) feiner Gewohnheit ganz pianiffimo, ohne Abſchied auf polnifch zu verſchwinden, da ante idj3 nicht: e8 war das lebte Mal, dak ich ihn fah. Sechs Jahre vergingen. Jm Winter 1913 fprach ich wiederum in Braunfchweig, und diesmal mar es leider hernad) nur eine ftille Gedenkfeier am, ad), jebt vermwaiften Raabetifh. Wilhelm Raabe war faft achtzigjährig im Herbit 1910 heimgegangen.

Unverändert ſonſt die alte Hiftorifche Stätte, nur leider die Seele fehlte ihr. Ueber feinem Stammplag, too er fo mandes Glas geleert und fein Behagen gehabt hatte, da hängen jet zu feinem Gedächtnis die wunderbar charakteriftiichen Raabebilder. Ganz fo fah er aus, ganz fo lebt er in meiner Erinnerung. Sa, da hängen jegt diefe Bilder, allwo er fo lange Jahre hindurch allabendlich fid) labte an dem „edelen Gewächs des Weinftods”. Karl Sohle.

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Diicherbriefe Raabefrhriften.

Sy Literatur über Raabe hat in den letzten Jahren erjtaunlih an Umfang zu- genommen; wer fic) eingehend darüber unterrichten will, lefe die fortlaufenden Berichte über Raabefdriften von Hans Martin Schul in den „Mitteilungen für die Gejellichaft der Freunde Wilhelm Raabes.” Aber obwohl Raabes Stellung in der deutjchen Literatur nunmehr feſtſteht und er anfängt, ein Klaffiter zu werden, über den eifrige Doktoranden bereits gelehrte Abhandlungen fchreiben, fehlt es noch an einer erfchöpfenden, Leben und Schaffen umfaffenden Gefamtdarftellung. ES ift ¿rar zu hoffen und zu wünfchen, daß der treue Freund und innige Vertraute des Dichters, Wilhelm Brandes, wenn die Laft der Berufstätigkeit von feinen Schultern genommen fein wird, noch die Kraft und Beit findet, fein Lebenswerk mit b e m Buch über Raabe zu tronen; vorläufig aber muß fic) der Raabefreund mit mehr oder weniger umfang- veichen Einzeldarftellungen und Teilunterfuchungen begnügen. Er wird dabei nod die betrübende Entdedung machen, daß die eine oder andre der zu nennenden Schrif- ten augenblidlid) im Buchhandel nicht mehr zu haben ift.

So die grundlegenden „Sieben Kapitel zum Verftandnis und zur Würdigung des Dichters” (Wolfenbüttel 1906) von Wilhelm Brandes, die auf 124 Seiten eine liebevolle, tiefgründige Einführung in Raabe bieten, vortrefflid) unterftügt von Bildern Raabes und feiner Heimftätten fowie Federzeichnungen des Dichters.

So aud) das erjte jelbftändige und umfangreiche Buch, das über Raabe gefdrie- ben worden ift, Paul Gerbers „Wilhelm Raabe, Eine Würdigung feiner Dich- tungen”, (Leipzig 1897, 338 Seiten), und die liebensivürdige, warmherzige Schrift von Auguft Otto: „Wilhelm Raabe” (Minden 1899, 94 Seiten). Gerber teilt Raabes Werke in drei Gruppen ein: in ſolche mit gefchichtlihem Hintergrund, in ernitere, Iebensphilojophifche aus der Gegenwart, und in rein humoriftifhe. Wenn dieje Gliederung auch zu fehematifch ift und dem dichterifchen Schaffen Raabes damit nicht Genüge getan wird, Raabe felbft äußerte: „So entfteht eine Dichtung nicht; nad) einem Rezepte macht man fein Kunſtwerk“ fo ift das Bud) dod) feffelnd durch manden trefflichen Gedanken und bemerkenswert durch die Beherrſchung des Stoffes.

Von den NRaabefhriften, die allgemein zugänglich find, muß an erfter Stelle „Das Werk Wilhelm Raabes” von Heinrid) Spiero (Leipzig, Heinrich Find, 187 Seiten) genannt werden. Es ift befonders geeignet, Menjchen, die erft an Raabe herantreten, mit feinem Schaffen befannt zu machen und in feine Wefensart einzu- führen. Jm erften Teile wird mit wenigen, aber fideren Strichen die Entividlung des deutfchen Schrifttums von 1831, dem Geburtsjahre des Dichters, bis 1856, dem Erſcheinungsjahr der „Chronik“, gefennzeichnet und die literatur= und zeitgefchichtliche Stellung Raabes feftgelegt. Ein zweiter Teil würdigt die bedeutendften Werke am ausführlichften die Trilogie und rüdt die Hauptfiguren in die Beleuchtung, die ihr Verſtändnis erleichtert. Mit Geſchick find trodene Aufzählungen und ermiidende Snhaltsangaben vermieden; überall merden die inneren Zufammenhänge aufgededt und Iehrreiche Parallelen zu zeitgenöſſiſchen Schriftftellern gezogen. Go widerlegt Spiero die nod) vielfach vertretene Behauptung, daß Raabe durch Jean Paul beein- flußt fei, und weiſt dagegen auf die zunächſt überrafchenden Beziehungen hin, bie zwifchen „Abu Telfan” und dem „Grafen von Monte Ebrifto” beftehen. Mas er ferner über Raabes realiftifches Bekenntnis zum Leben mie über feine Weltanfchau- ung überhaupt jagt, gehört zum Vortrefflichften, was darüber gefchrieben worden ijt. Ein Gefamtbild von Raabes Schaffen und Bedeutung fliegt das Bud) ab, deifen anregende und genufßreiche Lektüre dem Raabefreund fehr zu empfehlen ift.

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Aus ebenfo liebevoller und tief eindringender Beichäftigung mit dem Dichter hervorgegangen ift bag Buch von Hermann Junge: Raabe, Studien über Form und Inhalt ſeiner Werke“, (Dortmund 1910, Fr. W. Ruhfus, 140 S.). Der Untertitel deutet ſchon darauf hin, daß es ſich um eine Unlerſuchung der künſt⸗ leriſchen Technik und Stoffbehandlung Raabes handelt. Junge wendet ſich beſonders gegen den Vorwurf der Formloſigkeit, der oft gegen Raabe erhoben wird, und weiſt nach, daß Raabe die Regelmäßigkeit des Aufbaus, das Ebenmaß der Teile und die Einheitlichkeit des Ganzen niemals vernachläſſigt hat. In einem Abſchnitt „Symbolik und Motive“ geht Junge als erſter auf eine künſtleriſche Eigenart Raabes ein, die zur tiefſten Erkenntnis ſeines Weſens führt: die Darſtellung ſeines inneren Lebens durch Symbole und die Wiederkehr und Wandlung gewiſſer Motive in feinen Wer- fen. Ueber „Mittel und Eigenarten der technifchen und [pradhlichen Darjtellung“ und über Raabes Charatterifierungstunft handeln die folgenden Abfchnitte; ein kurzes Schlußkapitel faßt die Ergebniſſe der Studien des Verfaſſers zuſammen und ſetzt ſie in Beziehung zu Raabes Weltanſchauung.

Von kleineren Raabeſchriften über ein beſonderes Gebiet oder ein einzelnes Werk können nur einige kurz erwähnt werden: Wilhelm Fehſes „Raabeſtudien“ (Magdeburg 1912, Creutzſche Buchhandlung, 58 Seiten), die Quellen, Aufbau und Technik von „Unferes Herrgotts Kanzlei” und dem „Studenten von Wittenberg” unterfuchen; Maria Speyers feinjinnige Arbeit über die „Hollunderblüte” und zwei Differtationen, die fid) beide mit Raabes Charatterifierungstunft befdaftigen: Werner Fanfen, „Abfonderlihe Charaktere bei Raabe”, (Greifswald 1914) hierin der Ausdrud „Edelkäuze“ für jene feltfamen Menfchen, die in Wirklichkeit ftille Helden find und unter der närrischen Hülle eine tiefe Weltanfchauung tragen und Hans Jlgner: „Die Frauengejtalten Wilhelm Raabes”, (Berlin 1916). Auch Herm. Zimmers wertvolle Doftorfchrift: ,Raabes Verhältnis zu Goethe”, (Gor- lig 1921) und die Meine, aber gehaltvolle Schrift von Eri) Everth: Wilhelm Raabe, (Leipzig, Xenien-Verlag 1913, 37 Seiten) feien hier genannt.

Nahdrüdlihe Empfehlung verdient indes ein Buch, das im Rahmen einer Einzelunterfuchung bis zu den Tiefen von Raabes Perfönlichkeit und Sunft vordringt: Margarete Bönneken: „Wild. Raabes Roman ‚Die Alten des Bogelfangs™, (Marburg, Elwert 1918. XI und 186 Seiten). Die Faden, die diefen Roman mit andern Dichtungen Raabes.verbinden, find fo ficher aufgefpürt, die bedeutfame Rolle, die das literarifche Symbol in Raabes Schaffen fpielt, ift an den „Alten des Vogel- fangs” fo feinfinnig dargelegt, Raabes Charatterifierungstunft jo vortrefflich gefchil- dert und das Buch durchzieht ein fo warmer, herzliher Ton, dak man es immer wieder mit Gewinn und innerer Anteilnahme lefen wird. Niemand, der fi in Raabe3 Gedantentvelt und Kunft ernftlich vertiefen will, darf daran vorübergehen.

Während die bisher genannten Werke Raabes Schaffen, von der Fiterarhiftorifchen oder von der formalen Dale, zum Gegenstand haben, bietet Hermann Anders Krüger in feinem Bude „Der junge Raabe, Jugendjabhre und Erftlingswerke”, (Leipzig, Xenien-Berlag 1911, 189 Seiten) eine eingehende Darftellung von Raabes Vorfahren, Kindheit, Schul- und Lehrzeit, Studien- und Lebensgang bis 1862. Der Dichter felbft fprach wenig über feine Yugendzeit; e8 wären wohl auch nicht immer freudige Erinnerungen getvefen, die er hätte wachrufen müffen. Aber was er gelegent- lich mitteilte, hat Krüger geroiffenhaft verivertet und durch Berichte Heinrich Raabes (des Bruders des Dichters) und der nächitftehenden Freunde ergänzt. Dadurch hat feine Lebensbefchreibung urfundliden Wert bekommen und wird, wie der Verfaffer im Vorwort hofft „für die fünftigen Raabeforfcher ... eine willfommene Ergänzung zu dem reichen, aber zumeift die Mannes- und Greifenjahre des Dichters umfaffenden Nadhlakmaterial” fein. Auch die Behandlung der Erftlingswerfe Chronif, Frith- ling, Halb Mähr, halb mehr, Kinder von Finfenrode im zweiten Teile ift im tuefentlidjen chronologifch, wenn auch Aufbau, Motive und Sprache nicht auferacht- gelaffen werden. Befonders eingehend und aufihlußreich ift der Vergleich zwifchen

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den beiden Fafjungen des „Frühlings“. Gn einem Anhang hat Sriiger zum erften Viale eine Bibliographie der Werke und der Raabeliteratur gegeben, die, wenn auch in Einzelheiten nicht immer zuverläffig und jegt naturgemäß überholt, doch grund- legend für die Raabeforſchung bleiben wird und für jeden unentbehrlich ijt, der fid auf ihrem Boden, anbauen will.

Aus Kriigers Buche tritt uns bereit3, wenn aud) nur bis zum Mannegalter, der Menjch Raabe entgegen. Naber noch fommt er uns in der Schrift von Frig Hartmann, „Wilhelm Raabe, Wie er war und wie er dachte”, (Sannover, Spon- hol 1910, 71 Seiten). Als einer aus dem Kreife um Raabe und dem Dichter in mancher vertrauten Stunde nahe, hat Hartmann Gedanten und Erinnerungen auf- gezeichnet, die in ihrer lebendigen, gemütvollen Art fo reizend zu lejen find, daf es einem ganz heimelig ums Herz wird und man meint, im Kreiſe ber Kleiderjeller mit dem „alten Herrn“ in Herbits Meinftube zu figen. Jn die Schilderungen pon Ausjehen und Lebensgeiwohnheiten flict Hartmann Ausſprüche und Urteile Raabes über literarifche, politifche und perfünliche Dinge ein, die er erlaufdt und mit Eder- mannſcher Treue niedergefdrieben hat. Sie find gwar, wie Hartmann auch betont, mit Vorficht aufzunehmen, da fie meift die Stimmung eines Augenblids tiedergeben, aber fie fügen fich doch in ihrer Gefamtheit ausgezeichnet bem lebensvollen Bilde ein,

das Hartmann uns vorführt, und bilden den Orunditod für eine anguftrebende Sammlung von Gefprädhen mit dem Dichter.

Biel perfönliche Erinnerungen an Raabe und mand) fdones Wort von ihm wird man aud) in den reich ausgejtatteten Raabefalendern von 1912, 1913 und 1914 finden (herausgegeben von Otto und Hanns Martin El fter, Berlin, Grote), bon denen allerdings die beiden erjten Jahrgänge vergriffen find. Daneben enthalten die hübfchen Bändchen Zeichnungen Raabes, Briefe aus verjchiedenen Lebensaltern, Urteile befannter Schriftfteller über ihn, vortreffliche Wuffabe über fein Leben und Schaffen und eine Fülle von wohlgelungenen Bildern. Man kann Anregung und Belehrung nicht angenehmer fchöpfen, als aus diefen Kalendern, und wird nur be dauern, dak ihre Fortführung durd) Krieg und Teuerung unmöglich geworden ilt. Eine gewiffe Ergänzung dazu bildet, wenn auch in nicht fo reicher Ausftattung, bie leider auch vergriffene Raabe-Gedäahtnisfhrift des Kenien-Verkages (1913, Herausgegeben von Heinrich Goebel).

Dem jüngeren Herausgeber der Kalender, Hanns Martin Eliter, verdanfen wir auch eine Veröffentlichung bon befonderem perfönlichen Reig: eine Facſimile⸗ Ausgabe von Raabe's Gedichten in Naturgröße (Dresden, Lehmannfehe Verlagsbuch- bandlung, 64 Seiten, 25 Mart). Raabe hatte felbjt feine Gedichte jorgfältig für eine Sonderausgabe abgefchrieben, (die dann nad) feinem Tode, 1912, mit einer bedeut- famen Einleitung von Wilhelm Brandes bei Otto Janke, Berlin, erjchienen ijt), und fein Manuffript hat Elfters Veröffentlihung als Unterlage gedient.

Ein Gefamtbild endlich von Raabes Perfonlicdfeit und Werk wird man durd „Das Raabebuch” erhalten, das, herausgegeben von Conftantin Bauer und Hans Martin SH ule, foeben anläßlich des neungigiten Geburtstages Raabes im Berlage von Herm. Klemm erjchienen ijt. Ueber den Anlak der Veröffentlichung hin- aus wird es feinen Wert behalten durch die Beiträge der Tochter und des Schwieger- fohnes Raabes, die viel noch Unbefanntes zu berichten wiffen, durch bisher unver: öffentlichte Gedichte, Briefe und Ausfprüche des Dichters, wertvolle Auffähe nam= hafter Raabefenner und eine Fülle von intereffanten Bildern.

Wer aber fich zu Wilhelm Raabe betennt, der trete der ,,Gefellfchaft der Freunde“ bei,*) die fic) fo nennt, weil fie alle um fic) verfammeln will, die in Raabe einen Geftalter und Lehrer deutichen Lebens und Denten3, wie es fein foll, erfennen und e8 danach als ihre Aufgabe anfehen, feinen vorbildlichen fünftlerifchen und fittlichen

*) Anmeldung beim Erften Schriftführer, Studienrat Dr. Bauer, Wolfenbüttel. Der Jahresbeitrag, für den and die „Mitteilungen“ geliefert werden, beträgt 6 Mt.

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Einfluß auf unfer Volf zu ftárten und auszubreiten. Die „Mitteilungen“ der Ge fellfchaft, die den Mitgliedern vierteljährlich zugehen, enthalten außerdem alles, was für den Raabefreund wiſſenswert ift: eine bollitändige, fortlaufende Naabebiblio- grapbie, Wuffage zum Leben und Schaffen des Dichters, Quellenftudien und Ein- führungen in einzelne Werke, Ungedructes aus Raabes Nachlaß, Beiträge zur Gor: [hung und Kritik. Conftantin Bauer.

Seine Beiträge

f Befreiung.

Su liegft gujammengefauert in enger Lehmgrube. ek und Hände fühlen die Kühle der Feushten Erde. Und über dir, um dich das Kraden und Sitren und Klatſchen der feindlichen Gejchoffe, Raud und Bligen. Und das Stöhnen Vertoundeter. Unerbittlich fteht die feurige Wand vor dir und hinter dir. Du bift wie auf einer unendlich einfamen

nfel. Und dein Leben berfintt vor dir. Alles was dir teuer und wertvoll war, es wird abl und wie Nebel im Frühwind. Die bunten Farben deiner Hoffnungen er-

ben. orauf du vertraut haft, es gilt nicht mehr. In folder Einfamteit fann man erfahren, was Glauben beigt. Da fallen einmal alle Hüllen. Die Welt verfintt. Und die Seele f t gang nadt und bloß vor ihrem Gott: Wenn id) nur Did) habe, fo frage id nidts na immel und Erde!

Es ijt wohl das erfchütterndite Erlebnis, deſſen eine Menfchenfeele fähig ift. Wenn ung alles, alles ftirbt und in folhem Sterben fid) Gott gewaltig, alles erfilllend, als der alleinige Herrfher und als einzige Wirklichkeit aufrichtet. Wenn mir gleich Leib und Seele verjdmadten, fo bift bu dod, Gott, allezeit meines Herzens Troft und mein Teil. Es gibt fein feligeres Jauchzen als den Glauben und die Frjehnung folder Worte.

Geht es uns in diefer Zeit nicht ähnlich, wie dem Soldaten draußen im feuchten Erdtrihter? Auch uns find viele, wenn nicht alle newohnten Stügen unferes Lebens forte Fem een und im Augenblide, wo uns ganz bewußt wird, was alles wir verloren feit

erjten Auguft 1914, wo wir irre werden an allem, was mat, und wit nicht willen, mas

ein wird, da taften wir wohl nad) vorn und hinten in dichtes Dunkel und verftehen bie

timmen nicht, die uns gurufen. Wohl uns, wenn dann unfere Seele fieghaft aufjauchzt: Wenn ich nur Dich habe, fo frage id nichts nad Himmel und Erde. Wenn alles verfintt, woran ich mich hielt, worauf id) mid) gründete, dann, gerade dann, ach endlich einmal ganz tein, Iaufde id) deiner Stimme, mein Gott, und fühle deine große Liebe, die auch jest noch, aud) in diefer Einfamteit, über mir wadt.

Ob uns foldes Erleben nicht rettet? Haben pir folde Worte wie diejes Pfalmmort früher jemals ganz verjtanden? Saben wir denn früher Tiefen erlebt, in denen Leib und Seele dem Verſchmachten fic hingegeben fühlten? Ach, das Leben verlief fo glatt und fatt. Es fehlte an nichts. Unfer Leben war fo vielfältig gefichert und geordnet, daß es ung gar nie in den Sinn fam, es könnten uns einmal alles erfdiitternde Stürme in biejem warmen Haus bes fo wohl EN ya Lebens treffen. Nun, die Wände find eine gefallen und der kalte Wind fegt Durch das Gebalf. Er wird nod) viel Dunft und Schein —— Aber darum funkeln nun auch ewige Sterne über uns, da die irdiſchen Lampen erloſchen.

as hülfe es dem Menſchen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an ſeiner Seele? Kaum ein Wort iſt ſo bekannt wie dieſes Wort. Fand es Beachtung? Wir jagten unferem Glück nad, aber was wir fanden, war Schaumgold und fein echtes Gold, wirtſchaftlicher Aufſchwung und Entfaltung einer materiellen ftofflichen Kultur von nie gefehenem Glanz. Wir bauten den Taten unferer Vater ungeheure Stein- male. Aber der Geift, der fie ihre Taten tun ließ, entfloh vor diefem Geſchlecht von Enteln. Wir wollten das Glüd erzwingen und mußten nicht, oder glaubten es nicht, daß das Glid nur als Gnadengabe des Himmels in reine Herzen einzieht.

Nun bat das alles uns verlaffen, und wir bliden zurüd auf eine vergangene Zeit und bliden vorwärts in das Ratfel der Zukunft. Werden wir es lernen, fidere Tritte zu tun? Was biilfe es bem Menſchen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme dod Schaden an feiner Seele? Hätten nicht viele vordem gelächelt über folche a die heute aus —— Geſchick lernten? Es war wie ein Rauſch über den Menſchen: Geld und Macht und Genuß. Daß fie ihre Ruhe, ihren Frieden, die Stille des Herzens, ja mehr noch, viel mehr dem Dienfte diefer Götter opferten; zu Sflaven ihrer Arbeit, ihres Geſchäfts, ihres Bormwärtstommens wurden. (ES war ein Knedtsdafein in den Ketten des Goldes.

Und dod will die Seele frei fein! Und doch bricht die Verzweiflung aus, wenn der Menſch den Gütern der Welt verfflavt wird, ftatt der Welt Herr zu fein. Wir haben es

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in unferen Tagen erlebt. Da ringt fid) der Ruf nad) Freiheit aus der nequälten Menſch— tt! Wird fie begreifen, wo bie rl wohnt? Ben fie dod) nur nicht auf3 neue teibeit und Glüd draußen fuden wollte in der Welt und fd felbft aufs neue tnedten! as Himmelreid ift intvendig in Euch! Jn der Seele, die der Welt verfintt, der bie Welt ftirbt und die dann jau zen fann: wenn ich nur did) habe, fo frage ich nicht nad Himmel und Erde, wenn mir gleich Leib und Seele verſchmachten, fo bijt du dock, Gott, meines Herzens Troft und mein Teil! Golde Seele hat den Hafen ihrer Freiheit an- gelaufen und Anker geworfen in fiderem Grund. Karl Bernhard Ritter.

Eine Reife im Sadjenland.

V on einer Reife durch die Städte Magdeburg, Halberftadt, Quedlinburg, Gernrode, Gos- Tar, Hildesheim, Braunfdhweig zurüdgefehrt, bin id felig und in zitterndem Bangen ugleid. Wie B. und ftart war Deutjchland einft! Und mie verftand es der ermano

tft, fid) in finnliden Denkmalen zu geftalten! Etwas unendlich Reines und Stolzes, Keujdes und Selbftbewußtes lebt in jenen Formen. Go viel tráftige Eigenart. Aus der naturhaft wächſt die Stiftskirche in Gernrode auf. Eine Burg Gottes. Harte

auern gehn empor, Türme ſtehn wehrhaft. Und doch in Wohllaut ſchließt x an Bu Das Hauptidhiff fteigt, Seiten neigen fih. Das Querhaus lentt in neue Richtung,

ifchen runden. Türme is en flingend ein. Kraft und Wohllaut ftrómen dem Schauenden entgegen. Stolze Sicherheit und leife webendes Lied. Wir treten ein. Diefelbe Schön- beit. Streng und R umfpannt ber flare Raum; es fpielen Stügenmwechfel, Bogen in den Emporen, Gurte, Dober Chor. Chern und Felfenhart wiegen heimlid) die traumerifde Seele, das Mirdentind. AnfdlieBend an alte Farbrefte wurde die Malerei in vere ftändiger Zurüdhaltung ergängt.

Die Luft am ee Klang wird ftárter. Flache Dede weicht ſchwingendem Auf und Ab. Jm Dom von Braunfdhiveig, in der Neuwerkfirde Goslars nimmt den Eintretenden die ernjte Melodie vorgotiiher Gewölbe auf.

Wie konnte man nur darauf verfallen, den Stil „romaniſch“ zu nennen! Wo fände fid in Jtalien ähnliches? Wir Deutſche find oft gar zu töricht. Nicht a im Lauf der Geſchichte haben wir uns bon fremdem Sinn und Geift unterjoden laffen. Und mo wir Eigenes onen. benennen wir’3 gar mit fremdem Namen. Der „romanifche” Stil ift in —— eſen urgermaniſch. Darüber iſt ge die a auch klar.

r ber fremde Name bleibt. Gewiß, die Bauart knüpft an Römiſches an (Strgygowsti hat auf die Be zum Orient hig at en). Aber fdon das Einzelne wird umpes wandelt (das Wiirfelfapitell ift eigene in ung), und gar die ganze Anlage in ihrer wunderbar Elingenden Bewegung ift unbeftreitbare Schöpfung Des deutſchen Geifte3. Kein italienifder Bau hat fo viel Melodie.

Getragener Wohllaut der Linien und w n fteigt in der Gotik zu leidenfdaftlider Glut. Der Dom von Halberftadt reißt die Seele in verzehrendes Feuer. Dicht reihen fid)

ebiindelte Pfeiler. Taujend Aefte ſchießen hoch und neigen fich zu einander im unendlichen aum. Schmal wird die Erde, zum Himmel fteigt die Begier. Und warm und Tiebend umfuntelt Sonne den eg; der Seele zu Gott.

Mande Erklärung hat die Größe und felt umriffene Eigenart des Stiles angeregt. ‘Die Romantifer daten an den deutihen Wald als Vorbild, der Materialismus erklärte den raſchen Siegeszug gotifher Bauart durd Europa nur aus der Borzüglichkeit techniſcher Ronftruttion. Andere faben im feharf & liederten Aufbau eine Gleiche zu den Begriffsgerüften der Scholaftit, im ſchwebenden —— des Raumes, der Linienfülle, Blumen und des bunten Lichts die Sprache der- Myſtik. In Ausſchalten der Mauer und der den Sieg des Geiſtes über den Stoff, im Hochſchießen unendliche Leidenſchaft ur Tat (Aktivität). Spengler meint, durch die gotiſche Kirche geſtaltet ſich Eindruck unend- iden Raumes gegenüber der Körperwelt der Antite. Alle haben Recht, am wenigſten die Materialiften. Die Konftrultion hat nicht Eigenwert, fondern bietet nur dag Mittel, den erfehnten feelifchen Anhalt finnlid auszudrüden.

Das Innere des bp berjtädter Domes if ein überragendes Dentmal deutichen Geijtes. Er übertrifft an Gefdloffenheit und Eindringlidfeit der Wirkung Straßburg und Köln. Wie inbrünftiges Gebet, feuriges Belennen jagen die Linien, entſchwebt Sehnfudt in den unendliden Raum. Schöne deutſche Seele, die bu bag Ewige zum Heim ertorft! Immer lebte es fo in dir und ijt aud But da. Was deine Meifter in buenas epi túrmten, Dichter im feurigen Lied. „Ringe recht, wenn Gottes Gnade dich nun iehet und belehrt Ringe, denn die Pfort' iſt enge und der Lebensweg ift ſchmal. Hier Teibt alles im Gedränge, was nicht zielt zum Simmel8faal. Kämpfe bis aufs Blut und Leben, bring hinein in Gottes Reid Ringe, dak dein Eifer glühe” Und mild wie Leuten jener Fenfter ſcheint Gnade ins rajtlofe Gemüt. Da wird es jill. „Wenn id aud gleich nichts fühle von deiner Macht, du führft mich dod) zum Ziele auch bur@ die Nabt. So nimm denn meine Hände und führe mid.”

Das ift die Kraft des Domes, er ift Gotterleben. Nur Menfhen, deren Dafein im

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Ewigen wurgelt, tónnen ava fchaffen. Hier formt der Glaube felbft den Stein. Und das tft e8, was felig mat und zugleich bang. Wir hatten e3 einmal, das im All-Einen verfentte Sein, das dem Künſtler Macht gibt, Ueberirdiiches im irdiſchen Werk fidtbar gu maden. Die Gotif war der legte echte Glanbensjtil.*) Wohl gibt es fchönheit- prangende Barodtiráen bon unbeftreitharem Kunftwert. Die legte Keufchheit und ber legte Ernft im Schauen Gottes find nicht mehr darin. Werden mir wieder ein echtes Gotteshaus finden? Was eigentlich ift uns verloren gegangen? Unfer Schrifttum hat je und je den Ausdrud tiefen Glaubens gehabt. Warum fehlte die finnliche Gejtaltungs- kraft? Vielleicht weil der Glaube nicht gi end das ganze Leben durdrang. ES bat fo viel Neues gegeben feit der Zeit der Gotik, unfere Gottestraft hat es nod) nicht bes waltigt. Sind wir erft fo weit und ficher, die deutſche Seele fann es bollbringen, tenn fie nur innig die innere Stimme hört —, fo finden wir wohl auch das echte Hetlige tum, das uns entipridt. Nachahmung tann nicht Helfen, neugotifhe Bauten find lahm und ohne Leben. Der neue heilige Geift muß es fdaffen. =

Die gefchichtlich bedeutfamen Familienhaufer find naturgemäß jünger, das Bedürfnis madt da häufiger Neubauten Sie ſind aus dem ſechzehnten und ſiebzehnten Jahrhundert, der Zeit des italiſchen Einfluſſes. Wie wenig jedoch bedeutet ex hier der eingeborenen Sicherheit. völkiſchen Empfindens! Der Name „deutſche

enaiſſance“ ift ein Unding, es handelt ſich durchaus nicht um eine Wiedergeburt der Antike in Deutfhland. C3 werden aus vi Einzelheiten des Zierat3 übernommen. Die Grundform de3 Haujes bleibt . €8 behält das große, jchügend warm gee breitete Dad), den fdonen fteilen Giebel. Die entlehnten Formen werden mit eigener Erfindung gemifht und in neuer Art, in heimiſchem Gefdmad verflodten. Wie fol man den Stil nennen? „Deutjche Fantafie”, wurde mir einmal geantivortet, eine ſchöne und ehr treffende Bezeihnung. Deutſche Schöpfertat hat einiges Fremde in ihr heiteres und tarte3 künſtleriſches Spiel aufgenommen. Es fehlt uns eine Gefdidte deutfcher Bau-

nft, die von der Grundform des deutfchen und deutſchen Baugedankens ausginge und die Entwicklung von innen her aus deutſchem Weſen fakte, irreführende, fremd—⸗ ländiſche Namen beiſeite ließe. ir können ſonſt unſeres Beſitzes nicht froh und gewiß werden. Wir gewöhnen uns, die fremde Zutat für das Wichtige und eigne Erfindung für das Nebenſächliche zu halten. Das iſt uns zum Verhängnis geworden. Immer mehr ge— langte das Fremde zur Herrſchaft mit Unterbrechungen immer mehr wurde Eigenes zurückgedrängt man denke an den Klaſſizismus. r heut gibt es gute Anſätze zu neuem echten Wachstum.

Wunderbar ift an den alten Häuſern in Hildesheim und Goslar das Holz und die Farbe. Eine unfagbar feine Augenerziehung gibt fih fund. Wie hat das nur verloren gehen lónnen? te war e3 möglich daß wir uns dem falten und dürren fremden

ugten? Hier, im Anfhauen und Sidverfenten in herrlide altdeutſche Art fpringt die Quelle der Verjingung für unfer bildhaftes Schaun. Nur in fold echten Häufern fann echter Familienfinn gedeihn. Oder der Geift wird, wenn er da ift, fid) das Haus ſchaffen und tut e8 fdon.

Gefunde Freude an fatter Farbigteit tommt funtelnd und warm zum Ausdrud im Bi ungszimmer des Goslarer Rathauſes. So blutvoll und lebendig der Reichtum ift, o fiber etriót bie künſtleriſch ordnende Hand, q alle Töne trotz ihrer Kraft nidt gegeneinander fdrein, fondern Mangvoll ineinander braufen wie Orgelfang. Nod dazu tft der Maler tein größter Meijter wie Dürer, Grünewald, Holbein, fondern eher tüchtiger Aber der Handwerker einer Zeit, in der fünftlerifcher Takt etwas Natür-

ches bedeutet. Wenn man fid) die alten Städte gang in ihrer Formen- und Farbenihön- er borjtellt, fo fühlt man fic) überwältigt. Und das war unfer. Das waren wir felbit. ir müffen e3 aud) heute nod fein, wir müffen uns befinnen.

Und wie fahen die Menfden aus, die in Haufern und Kirchen aus» und eingingen? Der erfte ftarfe Eindrud tam vom Denkmal Ottos des Großen in Magdeburg (Ende des dreizebnten Jahrhunderts). Der Raifer und die begleitenden Frauen erfdeinen jugend»

Ich, kühn, keuſch, adelig, jelbjtbewußt, natürlid. Ganz neidifch könnte man werden eim Anblid ihe frei und fraftvoll fic entfaltenden Perfonlidfeiten. Im Braun» fhweiger Dom ijt ein holage|dnitter Chrijtus am Kreuz, man pflegt ihn um das Jabr 1000 zu fegen. Weld) ein Antlig! Von Tiefe, Geheimnis und Adel, von durchdringen⸗ der Schärfe! Reine Abbildung laßt ben fehneidenden Geift voll erfennen, der fid) in den körperlich bors und zurüdtretenden Linien und Fladen ausdrüdt. Vor der Burg fteht

mannen, Burgunden, alfo Deutiche, die den Stil ſchufen. Ueberhaupt ijt eS nur unferer verhängnispollen Nachgiebigkeit en daß Frantreid ein franzöſiſches Sand geworden ijt und nicht ein deutjches. Waffe ift nicht nur etwas RKorperlides, [one dern and etwas Geijtiges. Widerftandsfraft und geiftiger, ore (der Erobererwille tónnen natürlich abgejehen von gewiſſen Unmöglichkeiten Raffe Ichaffen.

*) Man erinnere nicht an ie Ene? in Frankreich. (Es find die Franken, Nore

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der eherne Löwe (Ende des zwölften Jahrhunderts), gefpannt, fchnellend Er ben Rachen geöffnet. Jeder Stoß der natiirliden Linie tft bom Künſtler vereinfacht, se fpannt, gefteigert. Ein Bild der edlen Kraft, die fid) nichts bieten läßt, zum n. bereit. Und im herzoglihden Mufeum hängt das ffamilienbilb des greifen Rent tandt. Geheimnts die Dargeſtellten. Unergriindlides Geſchehen webt in Gee ſichtern und Farben. Der Menſch ift tie eine flüdjtige Blume, wie ein Hand), ein. getvoben, verwurzelt in unergründlichen Tiefen, im Dafein Gottes. So ſchließt fid) alles zu einem Bild. Der deutſche Menſch in feiner Kraft und Schön- t, Tiefe und Bartheit {ee neben Haus und Gotteshallen, die er fi ute. Alles h ammen ift fein wie ein Traum und wird der Seele, die es erlebt, gum hochheiligen Ste Maria Grunewald.

Bom geiftreichen Raabe.

u den Gaben, die dem Dichter Wilhelm Raabe für die Bewáltigung feines von inner Der nicht gerade leichten und Aku Erdenlebens bom abivagenden Schidfal mite egeben worden find, a ein gutes Pfund Intelligenz. Er hat mit diefem Pfunde in > rechten u gewudert: er tft niemals zum Knecht feiner Sntelligeng geworden, er bat die Vernunft nie zu feiner Gottheit erhoben wie die weiland Gallier, al3 fie toll eivorden waren; fondern er hat fie als ein feines und edles Werkzeug benubt. urd) die Uebung hat er es zu einer Meifterjchaft des „Witzes“ im eigentliden Sinne ges bradt. Die drajtiihe Antwort, die überragende Pointe, bie mitlos Paradozie, all das ie: in weiſer Verteilung, wohin es gebórt und wohin nicht Gier any ki tigem Glanz. Die Wigtvorte Raabes find „Einfälle”. Er jagt einmal: „Die Ein-

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mit gei ert logif es Denken

dem Worte: , Mem nicht jeder Sab, den er q ber wichtigſte it foll bas Schreiben laſſen.“ Das it es in der Tat: Wer nicht a | Angelegenheit halt ... 3 gentitmlid) ift die draſtiſche Anſchaulichkeit Raabes, verwandt mit der, welche die plattdeutjchen Sprichwörter fo reizvoll macht: „Jeder Johanniswurm übertrifft uns in der Fähigkeit, fobald es dammerig wird, fein Licht der Umgebung mitzuteilen.“ ) —— tir es nunmehr, uns ihm zu nahen, ohne die Augen zuſammenzukneifen, wie ein Sind, das überredet worden ift, einen Yael anzurühren.“ „Es iſt nidt die Kraft, es ift die Ang ft des Gefangenen Gdelfalten, die bas Schredlidjfte ift und das Publitum vor den Gittern des K figs am meiften ‚Was ift alles Schlepperaufhen und Fächerſpiel lachender zierlichſtet Weiblichteit gegen das graziöſe Behagen einer tazie in ihrem Gommergewande im Sommerwinde?” „Wer {a grün macht, den freffen die Ziegen.“ „Ein pele der nicht druden laffen fann, und ein eingefrorener Schwan.“ . „Man fann Levtoien, Rejeda und Nelten im Februar ins freie Land fáen, aber ob fie gedeihen, das hängt von der Praxis der Natur ab.” Es ftaubt aud in der Stube des Königs. Ein Floh hüpft auch über den Teppich ber Königin und findet, wen er fudt.” om. Und jab aus wie ein Bauer, der Ya zu einer Sabe jagen muß, ohne vorher einen jahrelangen Prozeß darum führen zu dürfen.“ Die Bauern: und wenn die Roggen= und Weizenernte nod) jo gelungen ausgefallen ijt; dann ift ihnen natürlich das Stroh nidt on Ben Das find geijtreide Einfälle, die aus einer lebhaften Borjtellungsaffogiation hervor- gehn. Aber der ed te Raabetvig bat feine Wurzeln a es ift die Paradorie, die aus einer —— entſteht, welche die Eigentümlichfeit hat, dak der Anſchauende in einem ſichern un erubt, die Welt, gleidjam aus einem Genfeits, wie fern gerückt bes tradtet. „Wir nehmen mandmal das auc) etivas ernjter, was die Menjchheit im ihrer Ed e co nur für, einen guten Spaß hält“ erflärt fi Raabe im Odfeld felbft. Die Umkehrung ergibt fid) als notwendige Folge. Es kommen dann geiftreiche Worte ¿uftande wie diefe: . ; „Wahrlich, es geht keine Müdigkeit über die des Starken und Tapfern!“ „Zu iſt der Menjd: ſolange er ut ſchnappen fann, gibt er den Atem nicht auf.” „Wieviele würden fic) mit der Bejferung der Welt abgeben, wenn fie nicht die bes bagltche Ausficht hätten, fich felbft daber zu verbeffern?” „Das ijt das Schrednis in der Welt, jchlimmer als der Tod, dak die Kanaille Herr ift, und Herr bleibt.“ m... in den zn jenes feltíame Suchen der im Gewühl Einfamen.“ „Die Leute, welde die Gefidter jchneiden, wechſeln; jedoch die Gefichter bleiben.”

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„Was haben wir vom waden Leben mehr als unjere Träume?“ „Die Klugen haben vena nicht Behaglichkeit in die Welt gebracht und foviele Glüclliche darin gemacht wie die Einfältigen.“ „Gott iſt nicht wähleriſch in feinen Boten und Werkzeugen, und die irren fid, die da meinen, daß er die Welt mit |pigen Fingern anfaffe und das namlide von aa verlange.” „Ein ib möchte immer alles gern jelber verrichten; aber zuglei immer einen haben, dem es die Verantwortung dafür in die Schuhe ſchieben kann. „Bas will das alles jagen, was die Männer erleben können, gegen das, was bie Weiber dann und wann erleben müfjen.“ „Ich will mit feinem Menfden etwas zu tun haben, der die Stubenubr aus feines Baters Haufe aus Not verkauft, wenn ex borher nod) etivas anderes zu verſchleudern a

„Der Kerl hat viel zu oft recht! Der lehrt es einem, wie man fid) dann und mann nad einem Menfden N fann, der aud) mal unredt bat.” „Karoline ieß fie, und es ift ein Ebaratterzug, Fe fie po nie, von Sinbesbeinen an, auf ſowas tie Lina! Line! Linden! einließ und daraufhin fam, wenn man ihr rief.“ „Alfo Staub zu Staub halten wir uns daran, daß aller Erdenftaub, wo die Sonne gehn, bed wenn fie durch das Fenfter einer Geheimratsftube fällt, zu Licht und Gold- nfen wird.” Ul das ift Spiel des Geijtes, aber ein Spiel, das aus tiefftem Exnft fommt. Es ift nicht blog Gedanke, jondern geprägtes Leben. Das aber ift einer der Gründe, warum aud) für Raabes Werke felbft fein Wort gilt: „Die Harzberge erhoben fic) lachend im blauen Glanz, über den Feldern und Wiejen lag jenes Flimmern und Zittern, welches aud über den Werken der großen Dichter liegt und überall die Sonne zur Mutter hat.” St.

Raabes Lyrik.

& 8 wird dem Deutſchen nichts faurer, als einen Meifter fo, wie er ift, voll und rund anguerfennen. Insbeſondere, wenn der Deutihe Philologe, Kunft- oder Literatur- fritifer ijt. (ES gibt Exemplare diefer Gattung, die das verfauerte Lob zu einer Art Tieber voller Niedertradtigtcit ausgebildet haben. % gendivie ift der Gelobte immer nicht der Rechte. Nur wenn der Meifter von weit her ijt, mindeftens aus Rußland, Tieber nod) aus wo dann ift er dem Deutfchen recht, dann rennt das Volk und wälzt fic dort. Wilhelm aabe aber wohnte ja bloß „nebenan in der Etage”. Wie fonnte man denken, daß er mas andres tat al3 Kartoffeln bauen, tie foviele feiner Weggenoffen im Leben? Schrumpflige Aepfel zog er aud) nun ja! Da beißt man gar nicht erſt hinein und verſucht den Oe er Mulſchige Apfelfinen und fade Bananen find viel was Schoneres, die find dod wett ber: ° Wilhelm Raabe hat fehr unter der deutſchen Naſeweisheit leiden miiffen. Unter anderm hieß es zuieilen, er fet „eigentlich“ ein Lyriter und deshalb gelange ihm das epiſche zählen nicht. Oder er fet eigentlich „nur“ Epiter und hätte feine Mitmenfden nicht durch die Herftellung von lyriſchen Gedichten in Verlegenbeit fegen follen.

Aber wenn aud) die Mohlweifen feine Gedichte nur ladhelnd mit in Kauf nehmen, e8 bejtebt zu & ft einmal diefer Tatbeftand: Wilhelm Raabe hat und Gedichte geſchrieben. Er hat ſelbſt etwas von ſeinen Gedichten gehalten. Er hat bedauert, daß er ſie einmal in einer Laune in den Ofen geſteckt hat, und feplieglid) bat er, was vorhanden mar, forgjam gefammelt und zur Veröffentlichung niedergeſchrieben. Da es fi um einen fo ungewöhnlichen Menſchen handelt, wollen wir vor diefem Tatbeftand erft einmal Refpett haben, damit wir ung vor der Nachwelt nicht leidtfertig bloßftellen.

Dah Raabe aus Eitelkeit oder zu feinem Vergnügen oder weil er zuviel Beit hatte, Gedichte gefchrieben hätte, ift in Anbetracht feines Lebens und der vorliegenden Gedichte ausgefchloffen. Er hat tirtlid müffen. Alfo wird wohl ein Lyriker in ihm geftedt haben. ES fragt ftd) nur, erftens, ob ex einen menſchlichen Gehalt in fic) hatte, der für die edle tnappe P Sas ausreichte, zweitens, ob er den Gehalt in Iyrifder Form ausgeftalten tonnte. Erfteres ift unbeftritten, bleibt das Zweite.

Buvor einiges Allgemeine, das nicht unwichtig zur Beurteilung ift. Die erften erhaltenen Gedichte wurden 1857 gefchrieben, von dem Sechsundzwanzigjährigen. Bis 1861, alfo fünf Jahre hindurch, een 56 Gedichte. Aus den zehn Jahren von 1862 bis 1871

aben wir nur 10, zum größten Teil ziwedhafte, unbedeutende Sader. Dann zwanzig

bre hindurch Schweigen. Erft 1892 wieder ein Gedicht, fein Iektes. Dann bis zu feinem Tode 1910 achtzehn Jahre Schweigen. Seine legte Erzählung hatte er 1899 angefangen und nicht vollendet.

Beginnen wir mit Raabes [egtem Gedidht. Er fehreibt in einem kurzen Abrig feines Lebens: ,. . . wo mir zwei Töchter geboren wurden, deren jüngfte, ein liebes fchones Mädchen, ſechzehnjährig ihren Eltern am 1892 durch den Tod genommen durch Aurora entführt wurde.” Am Johannistag hat er dann jenes Gedicht nieder- geichrieben, die denkbar jchlichteften Zeilen, ohne jeden Schmud von Reim oder von dem,

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was man gewöhnlich Rhythmus nennt. Aber weld) ein Zauber in diefen zum Bere fpringen und Erjtiden mit verhaltenen Tränen erfüllten Worten! Auch als id) den Anlaß nicht kannte, überfchauerten mid) diefe Zeilen mit den verfinfenden Rhythmen und Tönen. Man nehme eine eile wie diefe: „Dreimal drüdte ein Heiner Mund fic an das harte Holz.” Am Anfang und am Ende ¿mei ftabende Wörter, das Wortden Mund ragt genau in der Mitte der rhythmifden Reihe auf. Wie ift ber Gegenſatz des weichen Mundes zum harten Holz finnenfallt ! Und wie ift am Schluß das banale Abfchiedswort Adieu veredelt: das alltägliche Wort fdmeibet gerade in diefer Umgebung durch die Seele.

Wer eine ſolche Macht des feelifhen Ausdruds hat, ift Lyrifer. Nehmen wir die unten zufammengejtellten Gedichte Raabes, eine Auslefe des nach meiner Meinung am beiten Gelungenen: was lehren fie uns im Ganzen über Raabes Lyrik?

Erjtens: Wo Raabe in die Tiefe geht, flingt eS immer gedämpft und verhalten. Stein laut ausbrechender Jubel, feine Teidenfchaftliche Klage auch wo die Klänge ſich fteigern und laut hallen, ijt Anfang und Ende doch immer leife; oder wenigftens mit zufammten- gebiffenen Zähnen von fic neneben. Der feelifhe Grund diefer Lyrik üt bitterer Schmerz, der bon einer herben Männlichkeit qebándiat wird. (ES ift, wie bei feinem andern Lorifer, eine Mifchung von Bitterkeit und Tapferkeit. Das qibt Raabez Gedichten den eigenen Ton. Bemerkenswert ift. daß Raabes Lyrik, die gleichſam auf den Klang dea tiefen a geftimmt tft, nicht von den Frauen gefproden werden kann, es ift ganz männliche Lyrik.

Bweitens: Nicht anfdaulid flare Bilder ftellt Raabe vor ung hin. Das Anfdhaue bare wird nur mit wenigen Strichen entworfen. Aber dazwiſchen quillt das Unfakbare auf. Go kann ein anfcheinend rein nedantlidhes Gedidt wie das aus der „Holunder- blitte” bei einem Raabe Iyrifch fein. Beim Lefen oder Hören erfaßt man gunadft nur dámmernd den ,Gedantengana”, aber es ftrömt die herbe Qual unmittelbar aus jedem Ber3 auf uns über. Die Urjae diefer Wirkung bleibt qeheimnisvoll. Der Träger des Gebeimniffes ift nicht ein Bild der Phantafie, fondern ein Klang; wie häufig beim deutſchen Volkslied. (Dak Raabe manches Volksliedähnliche hat, ijt nicht zufállia. Die Anklänge ans Volkslied find bet ihm häufiger als bie an Keller oder an feinen Meifter Goethe, von dem er ftart beeinflußt ift. Wo Raabe in Heines Ton Verfe macht, ift es übrigens fiderlid beabſichtigt und nicht ernft gemeint.)

Drittens: Der Aufbau der Gedichte üt von neiftvoller Zartheit. Der ,,formlofe” Raabe erweijt fic) al8 ein Meifter der Form. Sehr beliebt ift bei ihm der Parallelismus von Strophe und Gegenftrophe. Yn dem Gedicht aus dem „heilinen Born” handelt die erfte Strophe vom leifen Tod des Einzelnen, die zweite vom lauten Tod der Maflen. In der „Beruhigung“ wird dem fauftifhen Streben der eriten Strophe die Selbſtbeſchränkung des Meifters in der zweiten entgenengeftellt. Yn dem Gedicht aus der „Holunderblüte” beachte man den verfdrantten Parallelismus der vier Strophenanfange, das regelmäßige Anheben mit „und“ in jedem legten Vers einer Strophe. Meifterhaft wendet Raabe den Stabreim an, er bewährt darin feinftes Spradhaefühl.

Viertens: Das Wefentlide der raabiichen Lyrik lieqt im Rlana. Kür mich ift das mädhtigite feiner Gedichte das aus dem „heilinen Born”. Man adte einmal darauf, wie e3 in der erften Strophe von Vers zu Vers leifer und zönernder wird. Die lebten beiden Berfe find faft gehaucht. Aufflagend und Derbe Elingt nur das helle a des Iekten Reimes bor dem Reim mit dem langen i. Dagegen bäumt fid) in der zweiten Strophe Vers um Vers immer madtiger auf, es ift mie anztehendes und ausbrechendes Gewitter. Man höre nur die Reime: ſchauen Grauen, braufen araufen, rührt er febitet er, rollt es grollt es, bis dann die zugleich ſchreiend lauten und verbiffenen beiden Verfe mit den bier Tontvórtern Schwert Händen Peſt Enden kommen. Diefe e und a flingen, mie wenn Meffingbeden mit Gewalt aufammengefdlager werden. Alsbald folat Tetfe franend und ¿ufammenfintend der Abaefana: gelingen zwingen. Klang und Rhythmus find nicht zu trennen. G8 liege fitch viel über die rhythmifchen SFeinheiten der raabefden „Profa” und „Boefie” fanen. Ich will nur auf den Vers im „SFlüchtinen Glück“ auf, merffam machen: „Und nie feb id) die Sonne wieder.” Wie da eine hörbare Paufe nad dem bittern „nie“ einfegt und wie dann bie drei tonlofen Silben ,feh ich die” auf das abfintende Wort „Sonne“ zueilen, das zwifchen den beiden i in nie” und „mieder” ftebt.

Fünftens: Sehr fein nelingen Raabe die Fulturhiftorifhen Stimmungen. Rototobaft graziös iſt das „Debout, ihr Kavaliere!“ Und in der „verlorenen Stadt” (Maadebura) tt die Stimmung des dreißiniährigen Krieges eingefanaen wie in menta andern Liedern. Man nehme nur in der [ebten Strophe die Vers für Vers folgenden Morte: Sferufalem, Vittoria, heilige Jungfrau, Gloria, Troja (ein konzentrifcher Aufbau der ftimmunagebenden Borftellungen, deren Mittelpuntt die heiliae Yunafran ift,) naiv baroder Humanismus!

Go gibt die Lyrik Raabes weder Bilder nod Gedanken, fondern Stimmungen, und zwar ganz unmittelbar in Klang und Rhythmus. bre Tiefe beruht nicht in tiefen oder feltfamen Gedanken oder überrafchenden Vergleichen (mie die der erquälten und aefünftelten Lyrik berühniter Lebender al3 zum Erempel Liffauer, Werfel). Die Tiefe der quten Gedichte Raabes ruht im befeelten Kiang. (ES find ftarte, aus dem Innerſten der Seele

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aufquellende Stimmungen, deren klanglicher Wiederhall uns Lörperlich-feeliih erbeben mabt. Yd warne Yntelleftuelle!

Diefer Gedichte find jehr wenige. Das liegt in der Natur der Safe. Es liegt bei Raabe aber aud) an äußeren Verhältniffen. Warum können die Liffauer und Werfel fic ausdidten? Seien wir einmal rüdfichtslog offen! Weilfie Geld haben. Warum fonnte Raabe fi nicht ausdidten? Weiler Geldverdienen mußte Er nahm fic nicht die Muße. Daraus erflärt fic auch, dak foviele feiner Gedichte nicht ausgereift, jondern gleihfam nur Entwürfe find. Es at eine Anzahl Gedichte, die als Ganges mißglüdt, in Teilen aber vollendet find. In folchen Fallen. fann man zuweilen das Bollendete aus dem Unvolllommenen herauslöfen: fo haben wir 4. B. unten die Strophen „Flüchtiges Glück“ und „Sonnenfhein” aus längeren Gedichten herausgeloft. Die Aeftheten, die nicht wiffen, was es heißt, mit der Fauft der Sorge an der Gurgel zu leben, werden den nafeweilen Einwand erheben: Ya, wenn Raabe wirklich Lyriker qewefen wäre und gemu Rt hätte, fo würde er der Sorge zum Troß erft recht nedichtet haben, fiehe Beifpiele in der Literaturgefchichte Seite fo und fo. Verebrter Herr Hofrat Brotentorb! Greulichiter der Beitgenoffen! Raabe hat aud Nippenbúra und Bumsdorf zum Trog fein Leben lang lyriſch nedichtet! Für Raabes Erzählungen find bekanntlich die „prachtvollen Stellen” typiſch. Nun denn, in viele diefer „Stellen“ hat fich feine Iyrifche Kraft ausgeſtrömt. Er bat feine Lyrik prattifd angewandt, er hat fie betätigt in feinem Handwerk ber

Unterhaltungsforiftitellerei”. Dabinein floß fein Herablut. Mande diefer „Stellen“ brandy te man nur pergmábia untereinander zu [dreiben, und Herrn Hofrat Brofenforbs Weiskett ware erledigt. St.

Aus Wilhelm Raabes Gedichten.

Aus dem „Studenten von Wittenberg“.

8 bricht herein die dunkel’ Nacht, Schütze ung, Gott, mit deiner Macht! Lag leuchten deine Sternelein, Sende deine heiligen Engelein! Führe uns ficher auf unferm Weg, Laß uns nicht gleiten vom ſchmalen Steg! Lag leuchten deinen Mond, fend ung dein Licht! Berlaß uns nicht! Verlag uns nicht! Schüte uns, Gott, mit deiner Macht, Führ uns in dein Reich aus der dunklen Nacht! 2. Sept. 1857.

Verlorene Stadt.

Pen lange, lange Wochen

gab die Liga Sturm auf Sturm, Vierzehn lange, lange Wochen

Trogte Mauer, Wall und Turm. Tapfre, fromme teutfde Bürger Schützten Glauben, Ehr’ und Haus Dreifigtaufend Ketzerleben

Rottet heut die Kirche aus!

Stadt getvonnen! AN getvonnen! Und des Kaiſers Feldherr fpricht: Seit Jeruſalem verloren,

Gah man fold” Viktori nicht! Heilige Jungfrau, Mutter Gottes, Dank und Gloria! Dir die Ebr! Seit man Troja hat gewonnen, Sah man folden Sieg nicht mebr!... 13. Dez. 1857.

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Trauriges Wiegenlied,

chaukeln und Sauteln Halb wachender Traum! Schläfit du, mein Kindlein?

3% weiß es kaum.

Halt zu dein Aeuglein, Draußen geht der Wind; Spiel fort dein Träumlein, Mein herzliebes Kind!

Draußen geht der Wind, Reift die Blatter vom Baum, Reift die Blüten vom Biveig Spiel fort deinen Traum!

Spiel fort deinen Traum, Blinzäugelein!

Schautelnd und gaufelnd Gig” 1d) und wein. 1858.

Wunſch und Vorſatz.

Sir Tor, tein Türchen

fol fein mir verfchloffen!

Kein Herz, fein Herzchen Soll mid) verftoßen! Aber wollen die Großen Nichts von mir hören,

Will zu den Kleinen Schnell ich mich kehren. Aber wollen die Klugen Nichts von mir wiffen, Will die Einfältigen Jn Demut ich grüßen. 1859.

Aus dem „heiligen Born“.

en Tod hab’ ich gefehen: Er tam im leifen Wehen, Er fam mit fanftem Sauden, Nicht wollt! Gewalt er brauchen. Er fam beim Sterneflimmern, Bei Mondes bleihem Schimmern; Kein Liiftlein ſich beivegte, Kein Blatt am Baum fich regte: Ein Vöglein ſchwieg im Flieder, Ein Fünklein fiel hernieder, Ein Herz hört' auf zu ſchlagen Zwei Stündlein vor dem Tagen.

Nun tu den Tod ich ſchauen, Er kommt im wilden Grauen! Er kommt im Wetterbrauſen Zu Volfes-Not und Grauſen! Die Glock' zum Sturme rührt er, Des Krieges Feuer ſchürt er! Aus Nord und Süden rollt es, Aus Oſt und Weſten grollt es! Das Schwert in allen Händen, Die Peſt an allen Enden: Wem mag es wohl gelingen, Den grimmen Tod zu zwingen?

1860

Aus der „Holunderblüte“.

egt in die Hand das Schickſal dir ein Glüd, Mußt du ein andres wieder fallen laffen; Schmerz und Gewinn erhältit bu Stüd um Stüd, Und Tieferfehntes wirft du bitter haffen. Des Menſchen Hand it eine Kinderhand, Sie greift nur zu, um adhtlos zu zerjtören; Mit Trümmern überftreuet fie da8 Land, Und was fie hält, wird ihr doch nie gehören. Des Menfchen Hand ijt eine Kinderhand, Gein Herz ein Kinderherz im heft’gen Trachten.

Greif zu und halt!..

. Da liegt der bunte Tand,

Und Hagen müffen nun, die eben lachten.

Legt in die Hand das Schidfal dir den Kranz, So mußt die ſchönſte Pracht du felbft zerpflüden; Zerftören wirft du felbft des Lebens Glanz Und meinen über den zerftreuten Stüden.

308

2. Sept. 1861.

Ri alle Höhen, da wollt ich -fteigen, Zu allen Tiefen Mich niederneigen. Daz Nah’ und Ferne Wollt’ ich erfünden, Geheimite Wunder Wollt’ ich ergründen. Gewaltig Sehnen, Unendlih Schmweifen, Jm eiv'gen Streben

Nun iſt's gefdehen; Aus allen Räumen Hab ich gewonnen Ein Holdes Träumen. Nun find umfchlofjen Im engiten Ringe, m ftillften Herzen Weltweite Dinge. Lichtblauer Schleier Sant nieber leife; Sn Liebesweben,

Ein Nieergreifen Goldzauberfreife Das war mein Leben. Iſt mun mein Leben. | 2. @ept. 1861. Flüchtiges Grüd. 8 treijen in alle Emigfeit Aus all dem Glanz, aus all der Prat

Biel hunderttaufend Sonnen Was hat aus all dem Glanz und Licht Meine arme Seele gewonnen?

Fiel mir ein Stern hernieder; Nun ift es Nacht, ijt dunfelfte Nacht, Und nie feb ich die Sonne wieder.

5. Sept. 1861.

Sonnenſchein.

ogelſang in den Wäldern, Sonnenſchein über den Feldern, Vogelſang in den Lüften, Voll das Feld von Düften.

Schieb das Fenſter zur Seite, Blick hinaus ins Weite, In das Leuchten und Funkeln Ach, gar balde wird's dunkeln!

In deinen goldenen Locken Fangen fd duftige Floden; Einſt wird im Ernſte es ſchneien, Ahnſt du den Winter im Maien? 24. Okt. 1861. Aus dem „letzten Recht”.

enn über ftiller Heibe des Mondes Sichel ſchwebt, Mag löſen fic) vom Leide Herz, das im Leiden lebt. Tritt por aus deiner Kammer Und trage deinen Schmerz, Trage be8 Weltlaufs Jammer Der Ewigleit ans Herz. Das Ewige ift ftille, Laut die Vergänglichkeit; Schweigend geht Gottes Wille Neber den Erdenſtreit. Sn deinem Schmerze ſchweige, Tritt in die ftille Naht; - Das Haupt in Demut neige, Bald ¡ft der Kampf vollbradht.

Schweige in deinem Schmerze, Geh vor aus deinem Haus Und trag dein armes Herze An Gottes Herz hinaus.

Weil nicht im dunteln Walde, Zwiſchen den Tannen nicht; Ueber die freie Halde Trag deinen Schmerz ins Licht.

Wenn hinter dir verfunten, Was Ohr und Auge bannt, Dann hält die Seele trunten Das Firmament umfpannt.

Wie aus dem Nebelfleide Der Mond fich glänzend ringt, So aus dem Erdenleide Aufwärts das Herz fich ſchwingt.

O Heide, ftille Heide,

Wie fehnet fid hinaus Bu dir das Herz im Leide, Gefangen Herz im Haus! 17. Dez. 1861. 309

G8 ift ein eigen Ding.

8 ift ein eigen Ding, zu figen und zu laufchen,

Wenn draußen vor der Tür die ſchwarzen Tannen raufden, Wenn TropP auf Tropfen tlingt hernieder von dem Dad), Und jeder leife Klang ein altes Bild ruft wad; Wenn von dem Bergeshang den Schnee die Windsbraut fegt, Und auf dein träumend Herz die Hand die Liebe legt. Das Feuer ſchilt und murrt, im Winkel pidt die Ubr, Traumend der Jagdhund knurrt, veriveht wird jede Spur Bon deinem Fuß da drauf’, da draußen in dem Schnee, Nun ift die Welt dein Haus... 24. Nov. 1862.

Auf den Tod feiner Tochter.

Sy Zür war zu. Verfchloffen war die Tür. Senfeits ihr Spielplag! Jenſeits alle hellen Wege Für ihre Heinen Füße. Senfeit3 der Garten und der Frühling; Diesfeits der Tür die Dammrung und das Fieber, Die Dämmrung, die zur Nacht wird, und der Weg, Der langfam, langfam abwärts führt Wohin? Wohin?!

Und an die Tür fam'3 dreimal, Dreimal drüdte ein Heiner Mund fic) an das harte Holz, Dreimal erflang’s hell, Helle und nod) heller: Adieu! Mien!.....

So trennten fid) die Wege.

24. Juni 1892.

Zwieſprache

GSopderhe te bringen wir in der Regel nicht heraus. Wenn wir gum neunzigſten Geburts— tage Wilhelm Raabes eine Ausnahme maden, jo liegt ein wichtiger Grund por. Als ich diefe Zeitidrift wählte ich zu ihren etn die drei groper Nordiveit- deutihen Rembrandt, Raabe, Brahms. Wenn mir aud fonft auf Jubilaen pfeifen e3 gegiemt fic) dod, bes Heren Paten an feinem Ebrentage mit Refpeft zu gedenken und ihm im Himmel eine Heine Crdenfreude zu maden. Aber Wilhelm Raabe wird's nicht als einen Abbruch an der ſchuldigen Ehrerbietung racy die eigentlide Urfa diefes Raabebeftes ift nidt er, fondern das dumme deutihe Volt. Wir wollen diejes tiderborjtige Wefen beim Schopf faffen und es mit der Nafe auf die dreimal feds gleich —— ände der ſämtlichen Werke Wilhelm Raabes ſtoßen. Ein Menſch, der nicht den u Telfan und Schüdderump, die Alten Neſter und die Alten des Vogelſang, Im alten Gifen und das Odfeld und fonft nod) einiges von Raabe kennt, weiß über fein eigenes Volt nicht hinreichend Befdeid und darf darüber nicht mitreden. Er wird auch nicht völlig mit der gegenwärtigen und nächſt zufünftigen Beit Ea werden. Raabe ift der Dichter der fommenden Beit. Diefe Wahrheit regt fidh von felbft fogar die Leihbibliotheten können e8 ſchon bezeugen. Aber das SEN olt hat ein dides “ell, wenn es fic) um es felbjt handelt. Daher tónnen wir gar nicht nahdrüdlich genug fagen, was das deutfde Vol? an Wilhelm Raabe gehabt hat, ohne es zu wiſſen. Meinen Sat Raabez Deutſchheit drude ich hier ab, weil ich dasfelbe nicht nod) einmal auf andre Weife fehreiben könnte. Ex mag zugleich für bas neue Raabebuh

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fiehe darüber am Schluß des Bücherbriefes von Dr. Bauer werben. Das Buch erfcheint trog aller Hinderniffe im September. Der Preis ſteht noch nicht feſt.

Die beiden Aufſätze über Raabes Lyrik ſind unabhängig von einander entitanden. Diefe Lyrik wird nad) meinen Dafürhalten meift unterfhäßt. Gute Anthologien wie die „Ernte“ und „Vom goldenen Ueberflug” —— nichts bon Raabe. Nur Avenarius bat drei Gedichte in fein „Hausbuch deutfcher Lyrik” aufgenommen. Nun bringe ich hier eine Raabe-Anthologie, mit freundlicher Erlaubnis des Verlegers. Ich hoffe, fie trägt dazu bei, das Urteil zu revidieren. ¿franz Heyden hatte ich gebeten, von fic) aus einiges über den Lyriter Raabe zu jagen, da id fein Urteil über Gedichte gang befonders ſchätze. en bradjte ich felbft einige polemifche Gedanken über das Thema zu Papier. Beides, cheint mir nun, ergänzt fi gut

Dag Raabe guft zur Malerei hatte und daran dachte, diefe Kunft ganz ernfthaft zu betreiben, ift wenig bekannt. Eine Zeit lang hat er in Del gemalt. Sehr viel hat er Oft auf Manuſtripträndern. Die Manuftripte wurden zwar, da Raabe einerlei Kult mit fic) felbft trieb, oft weggeworfen; aber feine Angehörigen ſchnitten glüde licherweife die Bildchen heraus und enehrien e auf. Eine Anzahl diefer Handzeihnungen bradten die Raabe-Ralender, das erwähnte Raabebud bringt neue. Die, welche wir in unferm Heft vorlegen, find nod) unveröffentlit. Wir verdanken fie der Freundlichkeit der Kinder Raabes. ALS Zeichner und Maler tritt Raabe unter die erlauchte Gruppe der großen deutjhen Dichter, die Auge und pane zu gebrauchen wußten: Goethe, Stifter, Keller.

Die Blätter zeigen, wie Raabe 12 . Obwohl er in den Erzählungen das Optifde oft nur mit ganz Pau Striden gibt, bor feiner Phantafie ftanden dod deutlich Bilder. Und nur daraus erklärt fid) die aren feiner Stimmung. Zum Titelblatt fet bemertt, bag die Worte unten, die im Nachlaßteil der Samtliden Werke nod) nicht mit wat emo po, da fie wegen der Abkürzungen unverftändlich waren, nad) einer glüdlien Deutung

er Tochter Raabes lauten: „Man muß Bücher jehreiben, die gewinnen, wenn das Ge- fchlecht, das fie fpáter lieft, andere Röde und Hofen trägt.“ Die drei Zeitungen bom Juli ie wir auf Seite zeigen, find auf einem Blatt gezeichnet, wie es (früher wenigftens) alg Dede oben in den Bigarrentiften gu liegen pflegte. Raabe hat diefes mit Vorliebe als Zeichenpapier benutzt. Die Zeichnungen Seite ildeten einen Rand des Manuſkriptes „Vom alten Proteus”. Unten die Villa Piepen- fhnieder mit dem Gartentor? Oben unter der Kerze beachte man das Widelfindden. Ein tez Gefdid befak Raabe, die Bewegung auszudrüden, man fehe auf bag Spontane er bewegten Menfden und Tiere. Das Bild Seite fceint aus dem Keds im Vorder- grund entftanden zu fein, an den die Phantafie das Uebrige angefponnen hat.

Raabes Arbeitszimmer, von dem uns vorn Karl Söhle erzählt, ift erhalten. Es ift alles darin genau fo, wie er es peri ic Dank der Liebe der Seinen! ffentli orgt die Stadt Braunſchweig dafür, daß dieſes Heiligtum unberührt bleibt. Sonſt verdient

e, daß Ped und Schwefel auf fie regnet.

Die Worte am Schluß des Heftes hat Raabe felbjt nicht untereinander gefdrieben. Wir haben e3 getan, um den Rhythmus der Sprache deutlich zu maden. Die Stelle ftammt aus der „Billa Schönow“ von 1882.

Der Beitrag von Dr. Maria Grunewald führt ung zu der alten Kunft des raabefden Landes, darum bringen wir ihn in diefem Heft. Es fei bei ber —— darauf nidos: daß 1918 von ber Verfafferin ein größeres Bud bei J. G. Ed. gr in

traßburg erfdienen ift: „Germanifche Formenfprade in der bildenden Sunft”. Inhalt: Die künftlerifche Form als Darftellung der Natur, die Form als Eigenart, die Farbe, das Licht, der geiftige Gehalt der Kunſtwerke, germanifde Beltauffaffung, der germanifche Stil. Eine kurze Zufammenfaffung gibt Maria Grunewald in ihrem Vortrag „Vom Wefen der germanifden Runjt” (12 Seiten Tert und 10 ©. Abbildungen), der im Haten- treuz-Verlag in SHelleran exſchienen ift. Es handelt fd um ordentlihe wiſſenſchaftliche Heftrebungen, nit um Schwärmerei. Die Abfichten der Verfafferin liegen gang in der Richtung unferer Zeitfchrift.

Jm September feiern die Jtaliener ihren großen Dante. Die Abgrenzung des Stoffe gebietes unjrer Zeitfchrift läßt es nicht zu, daß mir darauf eingehen. Aber an diefer Stelle fei doch des alten Ghibellinen gedacht, der den deutfchen Saifer als Herrn der Erde grüßte. Mar er tein Gote, fo war er doch ein Gotifer. Darum war er auch einer, der aus Zorn und Liebe proteftieren konnte. Darum haben wir ihn lieb und lernen um feinet- willen die italifche Sprache. Welche Kraft: Te fopra te corono e mitrio! Welche unfägliche Pracht des Paradifo!

iefes Raabe-Heft ijt um die Hälfte er als ein gemwöhnlidhes Heft. Trotzdem braucht der regelmäßige Bezieher der Zeitſchrift nichts nachzubezahlen. Er merfe fic) die Tatſache an, daß er jogar in diejen Zeiten noch etwas gefdentt befommt, und ziehe daraus für é Fick die Folgerung, bab aud) er nicht tnauferig fei, wenn er andern eine Freude maden zu können glaubt. Wer nur als ein gelegentlider Käufer diefes Heft erwirbt, muß freilich fünf rf bezahlen, etwas mehr als fonft für einzelne Hefte.

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Seit Juli faun man unjre Beitidhrift nur nod durd den B

ubbánbler ode durd) die Bo jt, nicht mehr unmittelbar vom Verlag beziehen. Wir haben das groß und breit zur rechten Zeit verfündigt. Trogdem tundern fid mande, warum ihr Heft feit dem Juli ausbleibt. Einfach deshalb, weil fie vergeffen —*— die Zeitſchrift bei der Poſt oder beim Buchhändler di bejtellen. Aud) aus diefer Tatſache ziehe man bie richtige Birne

Diefes Heft By teße ich ab in einem Gemäuer des fünfzehnten Kahrhundert3: in dem von Efeu uminobenen und von Linden umraufchten alten Wachtturm einer Stadtmauer. Eine Treppe aus diden Bohlen führt Tee der Sonnenschein fpielt durch die bleigefaßten nfter. Ein Ort, in dem die alte Zeit leibhaft gegenwärtig ift. Gott fegne die kommenden hlechter, die der alten Zeiten nicht pergeflen. @t.

Stimmen der Meifter. :

& 8 ift jedenfalls ein feltjames Ding um das Muthaben auf diefer Erde. Der, der ihn niet bat, habe ihn einmal auf guten Rat und vernünftiges Bureden guter Freunde, guter Belannten und mohlmeinender Nachbarſchaft hin! Und doch, tie leicht und under mutet und fo ganz felbitverftándlid) bringt ihn oft ein Teifer Saud) bon Menſchenatem oder Mejtwind, ein Ton aus der Ferne oder ein Geräuſch in ber Nähe, ein Lichtftrahl aus einem Kinderauge oder aus trübe ziehendem Regengewölk! Dann ift ex, den Rog und Reifige und alles nod) fo verbefferte Geſchütz dem mächtigften Könige nicht geben können, da:

n dem duntelften Gefängnis

chebt er dem Gebundenen das Gefidt,

riy Erdenbred und Lumpenbehang Und alles ift ——

Und alles iſt Erhebung Alles ein Wohlduft,

Ein Ranfden pu an ng,

Ein blaugoldenes Leuchten und Funteln auf allen Seiten,

Und fete Sabet

Bis in alle Fernen! Wilhelm Raabe

Herausgeber: Dr. Wilhelm Stapel. (Sir ten Inhalt verantwortiih). Schriftleiter: Dr. Sa wig mninghoff. ujhriften und Cinfenbungen find zu luto tes Deutigen Doltstums, 36, Holftenplas 2. Gur unverlangte Einfendungen wird feine Teron! wortung übernommen. Derlag und Drud: Haufeatiihe Derlagsanftalt Attiengefellfihaft, Hamburg Bezugspreis: Dierteljährlih 9 Mart, Einzelgeft 3,75 Mark., für das Ausland der doppelte Bectas · 7 edtonto: Hamburg 13475.

TEO ber Beiträge mit genauer Quellenangabe tt von der Schrijtleituugs aus erlaubt, untef óabet der te bes Berfaffers. ?

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Aus dem Deutfhen Volkstum Zeihnungen von Wilhelm Raabe

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Deutfches Dolkstum

Monatsfchrift für ons deutfche Geiftesleben Frernusgeber Wilhelm Stapel

Inhalt:

Dr. Wilhelm Stapel, Banerndümmerung oder Bauernherrfhaft? Reinhold Planck, Karl Chr. Planck und Steiners „Dreigliederung” Gottesdienftformen junger Menfdjen. Don einem Fungdeutfchen er Fans Ralfs, Nolde und Jllies

ex

Bücderbriefe: Georg Kleibömer, Dramen nbfeits der großen

es

Bühne 1. eseseseseseses

Kleine Beiträge: Dr, Karl Bernhard Ritter, Demut / Dr. Wilh. Stapel, Ruhige Erwägungen in aufgeregter Zeit / Dr. D. R. Rohden, Herr Marimilian fjarden und die Franzofen eseseseseseses

Der Beobaditer: Dolksgemeinfdjaft oder Dolk? / Ludwig Thoma / Adolf Bartels und Johannes R. Bedjer / Mo impropriety! / Was für junge Menfdjen von den franzofen gefudjt werden / Georg fjaberland in bengalifhem Licht / Merkwürdige Ergebnifje der Sammlung für Oberfdjlefien / Die Alten und die Jungen eseses

Bilderbeilagen: Arthur Jllies, Sterbender Siegfried / Prophet / Emil Nolde, Srablegung / Knecht eseseseseseseseseses

Hanſeatiſche Derlagsanftalt, Hamburg Preis viertelj. 9 Mark Einzelheft 5.- Mark

Oktober 192]

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Sanfeatifche Derlagsanftalt Aftiengefellfchaft '5amburg 36

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Soeben erfcdienen:

Homantit-Lans

in deutfcher Srubling in Wort und Bild

HLingeleicet und zufammengeftellt von

Ludwig Benninghoff

Lin fchöner Gefdhentband nad Entwurf von J. 2.Gampp Preis 24.— ME.

Erzählungen, Gedichte, Briefe von Arndt, Arnim, Bren:

tano, Kichendorff, Goethe, Hölderlin, Rleift, Novalis,

Tief, Ubland, Wacenroder ufw. 7 einfeitige, auf

beftem Runftöruchpapier gedruckte Bildwiedergaben nach

Schöpfungen von Cornelius, Sriedrih, Roch, Kerbel, Runge, Schwind, Schinkel u. a.

Das Bud nimmt aus der Romanrit den Willen zum

Glauben an das Wunder und an unfer deurfches Wolf.

Bild und Wort ergänzen fi zu einem boben Alang.

Inhalt wie reiche und gediegene Ausftartung geben bei

áuferft mäßigem Preis bier ein einzigartiges deutfches Haus: und Geſchenkwerk

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Aus dem Deutiben Bolfstum Arthur Illies, Sterbender Sie

Deutiches Dol€stum

Jo.Seft sine Monatsfchrift 192)

Bauerndámmerung oder Bauernherrfhaft 2

ir haben gelernt, daß im Mittelalter der Menſch fich nicht als Einzelner,

fondern nur als Mitglied eines „Standes“ gefühlt habe; mit der „Geburt der Perjónlidteit”, mit dem Trog auf die eigene Befonderheit und Selbftändigfeit gegenüber der Gefellichaft habe „die neue Zeit” begonnen. Alle gefhichtlichen Wahr- heiten find halbe Wahrheiten, auch diefe. Die andre Seite ijt: im Mittelalter Tab der Menfd) vor allem das Befondere, das eins vom andern unterjcheidet, in der neuen Zeit beachtet er mehr da3 Allgemeine, da vielen gemeinjam ijt. Früher war man jtolz darauf, fid vom andern zu unterfcheiden. Heut ift man ftolz darauf, mit andern gleich zu fein. Früher jab man jeden Menfchen in feinen eigentümlichen Zufammenhängen, feiner perfönlichen Lage, heut beachtet man die bejondere Be- ſchaffenheit des Menfchen nicht fehr, man denkt ihn blog noch als „Individuum“ unter , Jndividuen”. Darin liegt es: wir fehen nicht mehr fo deutlich die Wirk- lichkeit, wir denfen fie vor allem. Das Denten jchafft Begriffe, Begriffe find Ver: allgemeinerungen. So werden aus all den bejonderen Einzelmenfchen in ihrer bunten Mannigfaltigteit lauter abftratte Individuen, die „gleich“ zu fein jdeinen. Wo früher ein farbenfrohes Durcheinander von Befonderheiten war, da find heute nur fcattenbafte Ziffern, die man mit Eifer alle auf einen Generalnenner (Indi— viduum) zu bringen ſucht. (ES it nicht wahr, dak der moderne Menfch mehr Wirt- lichkeitsfinn habe al3 der mittelalterliche, er hat nur ein anderes Verhältnis zur Wirklichkeit. Der mittelalterlihe Menfch hatte ein unmittelbares, finnliches Ver= hältnis zur Wirklichkeit, vor allem durch das Auge. Der moderne Menfd) hat mehr ein mittelbares, abitrattes Verhältnis zu ihr, durch das Denken. (Aud die „äſthetiſche Einstellung“ als Gegenſatz zur fachlich intereffierten Einftellung ift evjt durch Abjtrattion möglid. Für den „ninmittelbaren” Menjdjen gibt es feine „äſthetiſche Einjtellung”.)

Weil man im Mittelalter Freude an der Verfdiedenheit der Menfchen hatte, betonte man alles Befondernde. Man betonte Familien= und Stammeszugehörig- feit, Beruf und Stand, weil die Mienfchen ſich Hierdurch von einander unter- iheiden. Heute fucht man die Menſchen aus ihren befonderen Berhältniffen herauszulöfen und „nur alg Menfchen“, als „Individuen“ zu werten. Deshalb ijt da, wo früher eine Fülle von Gruppen und Ordnungen war, heut mur ein une gegliedertes Nebeneinander. (Man dente beifpielstveile an eine fo groteste gejchicht- liche Erſcheinung wie das „gleiche Wahlrecht”. Künftige Zeiten werden Mühe haben, fich in diefe wunderliche logiſche Ausgeburt abjtratter, wirklichkeitsferner Gehirne hineinzudenten, und feine hohe Meinung haben von einem Zeitalter, das fid mit einer ſolchen Abftraftion um eine wirkliche Selbftverwwaltung und um eine ver- nünftige, jachlihe Geſchäftsführung betrog.)

Die mittelalterliche Welt war ein Kosmos, die moderne ift ein Chaos. Die Buntheit des mittelalterlichen Lebens ift wundervoll geordnet, ſowohl nad) den natür- lichen Zufammenhängen der Geburt wie nach den beruflichen Zufammenhängen der Arbeit. Heut fpielt man gegen die natürliche Gebundenheit durch die Geburt die „perfönliche Tüchtigfeit” aus, und gegen die Verfchiedenheit der Berufe macht man die formale Gleichheit des „Arbeitsverhältniffes” geltend. Was find uns fteigende und finfende Gefhlehter? Der Einzelne ift alles! Und ob einer Bauer oder

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Mathematifprofeffor, Maurer oder Schiffstapitan ift er gilt ala „Arbeiter”. Die Abjtrattion fiegt, und es ftrudelt alles in das Chaos fchattenhafter „Individuen“.

Aber die Natur kümmert fid) nicht um die Abftraftionen und „Ideale“ der Menſchen, fie erzeugt immer neue Ordnungen. Die mittelalterlichen Zuſammenhänge der Menfchen find zerriffen, aber ſchon ift eine neue große gefchichtlich-natitrlice Ordnung da die Menfdjen fehen fie nur nod) nicht, weil fie vor lauter Wbftrat- tionen die Wirklichkeit nicht mehr erkennen.

Die Menſchen in einem modernen, europäifchen Volt, insbefondere in Deutid- land, find in drei große Schichten geordnet, die durch berufliche Verjchiedenheiten, alfo durch die Art der Arbeit gefondert find: Bauerntum, Bürgertum, Jn duftrie. Fede diefer Ghidten hat ihre eigentümlidhen Lebens: bedingungen und Lebensordnungen. Mer alle drei nach einem gleihen Schema beglüden will, muß notwendig fcheitern, denn er will Unmoglides.

Das Bauerntum ift die gefchichtlich altefte Schicht. Mit ihr haftet das Volks- ganze an einem beftimmten Boden. Mit ihr faugt das Volt feine Nahrung aus bent Boden. Bauernarbeit ift an Landbefig gebunden. Daher ift der arbeitende Bauer etwas grundjaglid) andres al3 der Induftriearbeiter oder Ynduftrieunternehmer. Wehe dem Volk, in dem der Bauer zu einem „Lohnarbeiter” oder „Unternehmer” wird. Eine Wirtfchaftsordnung (fei fie fapitaliftifd oder fozialiftifch), die das Weſent⸗ liche de3 Bauerntums, fein förperlich-feelifches Verhältnis zum Boden zerftört, ent- mwurzelt das Volt.

Das Bürgertum ift aus dem Bauerntum hervorgewachſen. Es hat fid in Städten zufammengezogen und führt ein wefenhaft andre Dafein als das Bauern- tum. (ES ift auch in fich weit mannigfaltiger als diefes. Ym Bürgertum erwachſen einem Golf Werte, die das reine Bauernvolf unmöglich haben fann. Erſt durch das Bürgertum wird ein Volt recht eigentlió aus einem natürlichen zu einem ge’ Ihihtlihen Weſen. Das Arbeitsverhaltnis im Bürgertum ift jeelifch etwas ganz andres als im Bauerntum und in der Induftrie. Man fann das Bürgertum nicht nach bäuerlichem Recht regieren, man fann e3 aber aud) nicht in das Schema des Unternehmertums und Proletariertums hineinpreffen, denn in beiden Faller wiirde die Seele diefer eigentümlichen Volksſchicht zerftört. i

Die Synbultrie ift aus dem Bürgertum und Banerntum hervorgewachſen als die füngfte Schicht. Mit ihr ift das Volt in die „Weltwirtſchaft“ verflodjten. Lo die aus dem Boden gefogenen Kräfte zur Erhaltung des Volles nicht mehr ausreichen, faugt die Ynduftrie das zum Leben Notwendige und Ertvünfchte aus fremden Lan- dern und Erdteilen zufammen. Daher kommt es aud, dak die Induftrie iammer nad) einer Umfaffung des Erdballs jtvebt: die Indufſtrie eines fiegreich ſich ent: twidelnden Volkes drängt zum SYmperialismus, die eines unterlegenen Volles zu Pazifismus. Imperialismus und Pazifismus find zwei Seiten derfelben Leben* tendenz. Bauerntum und Bürgertum dagegen find ihrem Wefensgefeg nach national, das eine ift ftammesmäßig, das andre ftaatlid) national. Die Induftrie befteht ihrer Struktur nad) aus den beiden ,Mlaffen” der „Unternehmer“ und der „Arbeiter”. Daraus ergeben fich eigentümliche Lebensgefege für die induftrielle Schicht. Bue nächft fuchte man diefe Schicht nad) den Begriffen und Gejegen des Viirgertusns zu regeln ganz natürlich, denn man hatte noch fein Gefühl für die EigengefegEichteit der neuen, vafch heranmwachfenden Volksſchicht. Bis zur Revolution hat das Bürger⸗ tum die Staats und Lebensformen beftimmt, foweit nicht Bauerntum und Qn duftrie ihre eigenen Bedürfniffe durchſetzten. Seit der Revolution bejtimmt die ou duftrie durch ihr wirtfchaftliches Gewicht und durch ihre Maffe Staats- und Leben formen, ſoweit nicht die beiden andern Schichten ihre Eigenart behaupten.*)

*) Diefe Lehre von den drei Schichten, die ich in meinen Auffagen mehrfad Berühtt habe, ijt tein Gedanke ad Doc, fondern eine grundfägliche Erkenntnis bon großer zul „0 werde fie in meiner Schrift über „Volfswirtihaft und Voltstum” ausf ührli

egründen.

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Sede der drei Schichten hat ihre eigentiimlide Bedeutung und ihren befonderen Wert. Aber alle find nad) ihrer gefchichtlichen Reihenfolge auf einander angetviefen. Man kann die Reihenfolge nicht willtürlich ändern. Vernidtet man das Bauern- tum, fo breden Bürgertum und Induftrie zufammen, es fet denn, die Induftrie habe durch Imperiali3mus tie in England (oder durch Pazifismus wie in einem er- hofften Zutunftsitaat) das Dafein des Volfes fichergeftellt. Vernichtet man das Bürgertum, fo fönnte zwar das Bauerntum beſtehen, aber es könnte nut vegetieren; und die Induftrie würde zerbrechen, weil zu ihrem Aufbau die Intelligenz und Bildung des Bürgertums nötig if. (Vgl. das ruffifhe Schidfal unter Lenin.) Würde die Induſtrie, alfo die jüngfte Schicht, zufammenbrechen, fo tónnten Bauern- und Bürgertum weiter bejtehen, aber nur in dem Umfang der vorinduftriellen Zeit. Für den Beltand und das wurzelhafte Wachstum eines Volkes ift aljo das Bauern- tum die wichtigfte, das Bürgertum die zweitwichtigite Schicht, die Ynduftrie ijt erſt notivendig bei einem Hineintvachfen in eine itberftaatlide Wirtjchaft.

Und nun made man fd die Bedeutung der heutigen politifchen Kämpfe in Deutjchland Har: die jüngfte Schicht will ihr befondere 3 Nebensgefek den andern Schichten als allgemeines Staatsgefeg und durchgängige Wirtfchaftsform auferlegen. Sie trägt die Begriffe „Unternehmer“ und „Proletarier” (bzw. „Arbeitnehmer“), die in diejer Weile für Bauerntum und Bürgertum gar nicht gelten, fünftlich in die älteren Schichten hinein. Das führt zu Begriffsvergewaltigungen, mie fe bei- ipielsweife vorliegen in der Konſtruktion von „geiftigen Arbeitern” fo tauft man Beamte, Lehrer, Gelehrte, Kaufleute. Gegenüber den fleineren und mittleren Bauern verjagen die Begriffe „Arbeiter“ und „Unternehmer“ völlig. ES gehört icon die ganze intellektuelle Unfauberteit eines Agitators dazu, um die Begriffe „kleine“ und „große“ Landbefiger an die entfprechenden Stellen zu fchieben.

Jn der Ynduftrie fampfen nun, entfprechend ihren beiden ,,Klaffen”, zwei Lebensformen miteinander: die tatfächlich geltende: der Kapitalismus, und bie ideale: der Sozialismus. Beide, die twirkliche und die fich-verwirflidjen-wollende Form liegen im Kampf. Beide dringen zugleich auf die älteven Schichten ein. Der Kapitalismus fut fchon feit Jahrzehnten bag Bauern- und Bürgertum zu über- formen, in feine Form zu preffen. Der Sozialismus beginnt erft neuerdings damit. Beide tun unrecht, denn beide kennen ihre natürlichen Grenzen nicht.

Wir haben weit ausgeholt. Aber es war nötig, um dem Lefer ein Gefühl für den Zufammenhang des Folgenden zu geben. Bisher haben wir alfo drei Er- fenntniffe gewonnen: Erjtens: Wenn mir bon den üblichen Abftrattionen und Theorien des modernen Denkens abfehen und auf die Wirklichkeit bliden, erkennen wir, daß auch heute nod) das Volt ſtändiſch geordnet ift, e8 befteht im Wefentlichen aus drei natürlich-gefchichtlichen Standen. Zweitens: Das Leben jeder diefer drei Schichten hat feine Eigengefeglichkeit, die nur aus den Lebensbedingungen einer jeden entwidelt werden fann. Drittens: Jn der Gegentvart fuchen die Lebens- formen oder Lebensideale der jüngften Schicht bie der früheren zu vertilgen und

zu erſetzen.

2.

Die feelifche Struktur des echten Bauerntums erfaffen wir im Wefentliden in drei Mertmalen:

Erftens: das Bauerntum it naturhaft. Es lebt, feinem Wefen nach*) un- gefhichtlich, im unmittelbaren Zufammenhang mit Boden, Pflanze und Tier. Daz Durch lebt es in unmittelbarer Abhängigkeit bon den Kräften der Natur. Die Nas tur prägt ihren Rhythmus dem bäuerlichen Leben auf: der Bauer muß fic) nach dem Wandel der Fahresseiten, dem Wechjel des Wetters, den biologifchen Geſetzen der Tiere ribten. Er kann nicht willfürlih nach feinen menſchlichen Bedürfniffen

*) 30 bitte gwifden Wejen und Tatjächlichkeit zu unterjcheiden und zufällige Gingeltatjachen nicht als Argumente gegen Wefenserfenntniffe aufzufahren.

315

„Die Produktion bejtimmen”. Dadurch kommt ein Bivang zur Gelafienheit, ein Warten-müffen und Warten-fonnen in das Leben; zugleich ift damit ein eigentiim- liches feelifdes Verhältnis zu den ,,Produftionsmitteln”, zu Vand und Vieh gegeben. š

Zweitens: das Bauerntum it felbftgenitgfam (lebt in Autarkie). Der Bauer ijt bereit, das ihm von der Natur Gegebene hinzunehmen und fd darauf zu befdranfen. Bauerliche Selbjtfucht ift feelifch etivas andres alg bürgerliche und induftrielle (fapitaliftifche) Selbjtfucht. Der Bauer kann bejtehen mit dem, was et jelbft erarbeitet, und diejes Können ijt ihm zugleich ein Sollen. Daher der „Eonfer- vative Grundzug” des Bauerntums.

Drittens: das Bauerntum ijt in weiten Umfang ohne Arbeitsteilung. Der Bauer ift zugleich Leiter und Arbeiter in feinem Betrieb. Als Leiter ijt er „Herr“ eines „Beſitzes“, fet der Befig auch noch fo tlein. Als Arbeiter fteht er in einer Reihe mit feinem Hausgefinde (Frau, Kindern, Knechten, Mägden). Diejes Ineinander von Leitung und Mitarbeit ergibt ein eigentümliches Verantivortungs- gefühl und eine eigentümliche Selbftändigfeit. Dazu kommt die große Mannig- faltigfeit der bäuerlichen Arbeit, die in ein und demfelben Betrieb von ein und ber: felben Perfon gefordert wird. Hieraus entfteht jene feelifche Haltung, die wir „praktiich” nennen.

Wir fagten, dak die tatfächliche Lebensform der Indujtrie, der Kapitalismus, jeit einigen Jahrzehnten immer ftarfer ins Bauerntum eindringe. Die fapitaliftifd- induftrielle Lebensauffaffung ruft folgende Veränderungen im Bauerntum hervor:

Eritens: Die feelifche Verbundenheit mit der Natur hört auf, der Bauer fiebt feinen Ader und fein Vieh nicht mehr als fein Schieffal an, fondern wertet fie nur als Kapital und Produftionsmittel. Er pflegt Ader und Vieh nicht mehr alg etivas, das Selbſtwert hat, fondern er beutet fieaus. Er ftellt das Stapital über die Natur, die Natur ift mur dazu da, fic) zu ventieren. Damit hört die Naturbaftigteit auf, die ungehemmte menſchliche Willkür und der Nationalismus tritt an ihre Stelle.

Zweitens: Hort der Bauer auf, das ihm von der Natur Gegebene als fein Schickſal aufzufaffen, e3 als ein „Sollen“ zu empfinden, jo fällt auch jeder Grund ¿ur Selbitgenügfamfeit weg. Durch das Kapital wird er in die großen Zufanimen- hänge der Volfs- und Weltwirtfchaftsfonjunfturen verflochten. Er nutzt diefe Kon juntturen aus, wird „reich“ und gibt fic) ohne Scheu allen Bediirfniffen hin, Die er, feffellos geworden, fennen lernt. Diefe neu angenommenen Bedürfniffe treiber ihn, feinen „Betrieb“ immer mehr fapitaliftifd) auszunugen, es überfommt ihn die „Unerfättlichteit” und ,Begebrlichteit”, die ein Merkmal der Induftrie it.

Drittens: Der Bauer fühlt fic) nur nod) als Produktions leiter. Es tritt umn Bauerntum die Scheidung ein zwifchen bent „Unternehmer“ und dem „PBroletarier - Gener ijt Befiger und Leiter der Fabrik „Bauernhof“, welche Mehl, Gemüfe und Vieh produziert; Diefer ijt Befiber von „Arbeitskraft“, die er auf Grund des „freien Arbeitsvertrags” oder eines ,,Tarifvertrags” an den Arbeitgeber „verkauft“. An jtelle des Bauern mit feinem Hausgefinde fehen wir einen fapitaliftifchen inter nehmer und eine Anzahl ihm innerlich fernftehender Proletarier (oft gemug Volls⸗ fremde, Polen). Damit ziehen die Gegenfabe und Kämpfe der dritten Schicht ind Bauerntum ein, das Bauerntum wird zerſtört. Man glaubt, das Heilmittel des Sozialismus auch hier antvenden zu fónnen und predigt eine ,Sogialifieru mg ber Betriebe”.

Der wirtfchaftliche Vorgang der Induftrialifierung des Bauerntums fest e ſchon lange bor der Revolution ein. Da die Revolution den beherrſchenden Einfluß ber dritten Schicht gefördert Hat, Ht die Induſtrialiſierung in den legten drei Syabren getvaltig vorangefommen. Freilich jteht die „Arbeiterklaffe” der Induſtr Te Bauerntum innerlich feindfelig gegenüber, weil der ,,fonfervative Grundzug“ ye Bauern ein ftarkes Hindernis für die Durdfegung fozialiftifcher Pläne ift. Di efe

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neigung gilt jowohl dem alten echten Bauerntum (Gegenfag der Stände oder Schichten) als dem modernen fapitaliftifchen ,Agrariertum” (Gegenjat der Klafjen). Aber eine weltgefhichtlihe Ironie verurteilte gerade die agrarfeind- lie Staatsleitung dazu, den Bauern immer neue Neichtiimer, immer neue wirt— ſchaftliche Macht zuzuführen. Das tommt fo:

Das VBauerntum, als grundlegende Schicht, erzeugt das zun Leben des ganzen Volfes Notivendigite. Je jtärker die Nachfrage nad) diefem Notwendigiten, um fo größer die Iwirt{dhaftlide Macht des Bauerntums. Induftriegrbeiter fann man nötigenfalls „entlaffen” und als Erwerbsloſe eine Zeitlang mitführen. Bauern tann man nicht entlaffen oder enteignen. Eben wegen der mangelnden Arbeits- teilung: jeder einzelne Bauernhof hat feine eigene Natur und Geſchichte. Das ift nicht eine Mafchine, die man für einige Zeit abftoppen oder an die man einen andern Arbeiter ftellen fann. Darum fließen, eben wegen der zunehmenden SHerrichaft der dritten Schicht, wegen der Ausbreitung ihrer Lebensformen, un— geheure Sapitalien in das Bauerntum hinein. Man nennt das die „wirtjchaftliche Erjtartung” des Bauerntums. In Wahrheit ift es die jeelifjhe Vernidgtung des Bauerntums,

Der Vorgang ijt in den verjchiedenen Gegenden Deutfchlands verjchieden weit fortgefchritten.. Wie weit die Jerfegung des Bauerntums geht, das hängt ſehr wefentlic) auch von der Stärke der bäuerlichen Tradition ab. Es gibt Bauern, die aud) ala Millionäre Bauern bleiben, fie verachten e3 nicht, felbft die Mijtforfe zu führen, fie fühlen Hd für ihr ,Gefinde” verantwortlich; aber e3 gibt auch welche, die völlig den ftädtifchen Lebensformen erlegen find.

Dak die ungeheure Anhäufung von Papiergeld in den Bauernhöfen Luxus erzeugen muß, ift jelbitverftändlih. Es fragt fich, ob es bäuerlicher Lurus in den Formen alter Tradition ift oder ftädtifcher Luxus, der das Bauerntum ſchließlich zeritort. Die gefcheiteren Bauern wiffen, daß es Unfinn ift, das im Werte finfende Papiergeld längere Zeit in Pfundbündeln hingulegen, jie machen ftatt deſſen „An— fchaffungen”. Die „Warenhäufer” in den Kleinftädten blühen auf, Trine hat ſößtein feidene Blufen und twintig feidene Roce up'n Bohn to hangen, und wenn Minden ihren Geburtstagstaffee gibt, daun ſchlagen fie fid) fieben verfchiedene Torten to Buk, und Minden friegt von den Gaften einen ganzen Tifd voll teurer Hausgreuel zum Gefchent, die nachher in der „guten Stube” pafjend aufbemabrt werden, bis einmal ein Entel den ganzen Quart wieder ausfehrt. Vatting jchafft fic) Rennpferde an, denn ein Rennpferd verliert nicht fo leicht feinen Wert wie die deutfchen Taufend- marffdeine, und fein Sohn Auguft reitet Sonntags ftolz im „Pferderennen“ mit. AN das ift harnilos. Aber: es fommt eine jüngere Generation, die „fühlt“ fid), die reift in die Großjtädte, die trinkt Sekt, die macht Rennietten. Und eines Tages fommt über diefe dem Bauerntum entwöhnten Menfchen der notwendige wirtichaft- liche Rüdfchlag twas dann?

Kein Menſch kann wiſſen, ob die deutfche Republif in irgend einer Form Banterott macht oder unter welchen Erjhütterungen die deutfche Volkswirtſchaft einmal wieder mit der übrigen Welttwirtfchaft übereintommt. Aber dal eine können wir fid er wiffen, daß, wenn auch nach ungeheuren Gewinnen, für die bäuerliche Wirtſchaft einmal ein ſchwerer Rüdfchlag kommt. Geht die Entwidlung nod) Fahre fo weiter wie jebt, Dann ift die Gefahr da, dag unfer Bauerntum feelifó zerrüttet wird und die fommende Krife nit mehr überfteht. Wir fonnen die Papiergeldüberflutung des Bauerntums nicht mit ruhigem Optimismus betrachten, diefes Papiergeld führt das Gift der Beit in die Adern des Bauerntums ein, das Gift, an dem es fterben tann. Man möchte zu— weilen twünjchen, daß diefer ganze papierne Unfegen feinen Pfifferling mehr wert wäre; denn die Kraft des Bauern ruht mehr als im Kapital in feinem Bauerntum.

Darum fehen wir in dem papiernen Reichtum den Anfang der Bauern- dämmerung.

317

3.

Aber der Zufammenbruh muß nicht fein. Wenn fi) das Bauerntum bent gegenwärtigen Reichtum nicht gedantenlos Hingibt und darin verfonmt, jo find ¿ei Möglichkeiten eines dauernden Aufftiegs gegeben:

Erjtens: Es fonnte fid) aus der Wohlhabenheit eine gejunde, bodenjtändige Bauerntultur entwideln. Wäre der Bauer ft olz auf fic felbft, fo könnte er fein überflüffiges Geld, ftatt es in Seft, Suchen und Pferderennen finnlos zu bertun, für Heimatpflege und Heimatkultur anwenden. Hier wäre ein Arbeitsfeld für das unter den Bauern lebende Bürgertum, insbefondere für Pfarrer und Lehrer. Wird die Kirche aud) diefe Stunde nicht merken? Gebt dem Bauern feine Gefdidte und helft ihm um alles in der Welt nicht zu eurer bürgerlichen, jondern zu feiner bduerliden Kultur. Daß es einft bäuerliche Kultur gab, lehren die Muſeen. Was war, fann in andern Formen tvieder fein. Aber es gehören jchon befondere Umftände dazu, wenn dergleichen gelingen fol.

Zweitens: Es ware möglich, daß das Bauerntum feine wirtfhaftlide Macht politifch ausnügt. Die Arbeiterfchaft tut es feit Jahrzehnten und ver- dankt ihre Erfolge der „zielbewußten Bolitit”. Aber einen Mangel hatte diefe Politik: fie war nur Klaffen politif, nicht Volts politif. Darum hat fie nur Klaffenführer, nicht Volfsfiihrer hervorgebracht. Das ift ja der tiefite Grund, warum die Revolution ein fo Hägliches Ergebnis zeitigte. Auch das Bauerntum hat natürlich langft feine politifchen Organe, aber fie dienen allzu fehr nur der Wirt- fchaftspolitit, nicht der Volfspolitif. (ES ijt die Frage, ob das Bauerntum aus fid heraus eine Führerfchaft entwidelt, die nidjt nur Wirtfchaftspolitif von heute auf morgen, fondern Volkspolitik zu machen imftande ift.

Die Führung durch den Landadel ift nicht mehr in der Weife tvie früher möglich), da alle Entidheidungen jegt auf Mehrheiten geftellt find. Der Landadel hat zudem in diefen Zeiten mit fic) felbft zu tun, es geht ihm vielfach fchlechter als dem Bauerntum. Aber das Bauerntum Hat viele Kräfte, die e8 bisher an die bürgerlichen Berufe, befonders an die afademifchen, abgab. Wenn diefe Kräfte, geftitgt auf bie beimatliche Wohlhabenheit, fich betvußt der Politik zumenden würden, nicht bloß, um höhere Sornpreife u.dgl. herauszufchlagen, fondern um ſowohl den Einfluß ihrer Schicht im Ganzen zu Stärken, al3 auch um die politifchen Aufgaben zu übernehmen, welche heute teils aus Demagogie, teil3 aus doftrindrer Beſchränktheit vergefjen werden, fo fonnte aus dem jungen Bauerntum eine Gruppe von Führern ertvadjen, die Volksführer im edelften Sinne waren. Das Schidfal des Bauerntums ware dann nicht mehr dem Zufall der Konjunktur preiSgegeben wie heute, und das Bolt al3 Ganzes würde durch einen ftarfen bäuerlichen Einfchlag in der Führerfchaft nur gewinnen.

Die zweite Aufgabe ift viel handgreiflicher, fie ift auch leichter zu erfüllen ala die erfte. Aber auch fie wird nicht mit einem bißchen VBoltshochichulbetrieb allein geichafft. St.

Karl Chr. Planıf und Öteiners „Dreigliederung.“”

Sy große Magier, der feit der Revolution fein deutjches Hauptquartier in Stutt- qart aufgejchlagen hat, halt unausgejept die Welt in Atem mit feiner Behaup= tung, daß e r die äußere tie die innere Kriſe der Kulturmenfchheit zu ihrer endgiltigert Lofung zu bringen berufen fei, die erftere mit feiner „Dreigliederung des jozialert Organismus“, die legtere mit feiner Geifteswiffenjchaft, der „Anthropofophie”. Zu> verlaffige Kenner der Steinerjchen Gedantenivelt behaupten nun, dak der Zuſammen⸗ bang der beiden Sphären nicht innerlich notwendig fei, dak die foziale Aufmahung

*) Vgl. die Bemerkung in der Swiefprade. 318

nur ein anziehendes Gewand fei, um das eigentliche Geheimnis Steiners, feine Anthropojophie, in weitere Streife zu bringen.

Man wird Steiner und feinen Freunden die Anerkennung nicht verjagen dürfen, daß fie äußerſt rührig und gefdhidt vorgehen. Daher ihr unvertennbarer Erfolg. Ob er von größerer Dauer fei, daS muß fd nod) zeigen. Einftweilen mag diejer Aufjag auf etwas hinweifen, das unjeres Willens im weiteren Deutfchland über- haupt nod) nicht beachtet worden ift, das aber bei der Beurteilung des Stuttgarter Huuptquartiers von faft allen Stennern mit bemerfenswerter Zähigfeit und Feftigteit betont und bis heute behauptet worden ijt. (Sch werde jest eben wieder von allen Seiten darauf hingewiefen.)

In die Revolutionszeit fiel der hundertite Geburtstag des ſchwäbiſchen Philo- jopden, defjen Namen an der Spike diefes Auffages fteht. Man mag über defjen Lebenswert denten, wie man will, aber Niemand wird leugnen können, dak Plands praftifche, fittliche und rechtliche Forderung unmittelbar aus feiner ganzen Welt- und Lebensauffaffung herausgefloffen fei. Der deutfch-menjchheitlihe „Berufsſtaat“ ijt bie geijtige Krönung wie der natürliche Abſchluß der ganzen Mienfchheitsentivid- Jung, wie land fie verjteht. Steiner hat an der Stuttgarter Plandfeier weder miind- lich noch Ächriftlich Anteil genommen, obgleich er mehrfach bewiejen hat, daß er ihn recht gut fennt. Das einzige, was er auf Befragen äußerte, war, dak der Plandjche Berufsftaat durch feine „Dreigliederung” langft überholt und überboten jei. Was daran wahr, habe in dem Steinerfhen Wirtfhafts-Programm feine Stelle gefunden. Mit diefer großen Gejte ging er über die Tatſache weg, dak land gerade die innere Einheit der geijtigen Weltauffafjung mit der natürlich-praftifchen Gefamt- Zebensaufgabe bejißt, die man bei ihm vergeblich fucht. Denn die Parallele VeibGeele-Geift mit der Dreigliederung Wirtichaft-Staat-Geiftesleben ift dod) nur ganz äußerlich durchgeführt, bei ihm überhaupt gar nicht wirklich durchführbar, da dem menfchheitlihen Organismus, wie er ihn faßt, juft das Organ abgeht, das im Einzelorganismus leiblich wie geiftig und feelifch die allregierende Einheit in jedem Augenblid darjtellt, nämlich das Herz. Wo bleibt es in der Dreigliederung? Genau an der Stelle, wo in dem bisherigen „Einheitsjtaat” die blinde Gervalt das Regiment führte, wird auch im Steinerjden Neubau die legte Entſcheidung fallen, namlich in dem geheimen luftleeren Raum zwiſchen den drei geftempelten Bolfsvertretungen, b. D. mit anderen Worten: die Geheimregierung geht weiter und mit ihr das, mas unjer Bolf den „Schwindel“ heißt. Das aber war es gerade, was Pland mit feinem Berufsitaat tödlich treffen wollte. Er wollte ja anjtatt des alten geheimen Yentval- regiments, ba8 die weftlidje Revolution mit ihrem durch und durch getwalttatigen Charakter hatte ftehen laffen, das foderative Regiment, d.h. die fortwährende Ver- jtandigung der verjdiedenen verantiwortliden Stellen jegen. Die notwendige Ben- trale follte in dem ftándigen Ausſchuß der Berufsvertretungen liegen, fodaß die volle BVerantwortlicdhfeit ber Regierung vor dem ganzen Volt beftandig gewahrt fei. Diefen Augpuntt des Planckſchen Berufsitaats hat Steiner, ſoweit ich jehe, entiveder ab- fichtlich oder unabjichtlich überfehn. Wo bei ihm die legte Entjcheidung liegt, bleibt fchleierhaft. Aber davon, dak Steiner den Berufsitaat „überboten” habe, fann keine Rede fein. Er hat ihn gar nicht verjtanden, einfach weil er etwas ganz ans deresmill.

Sollten wir ihm aber unrecht getan haben, nun, warum läßt er die auzfchlag- gebende Volksjtimme nicht wenigjtens aus Vertretern aller drei Gliedergebiete fic zufammenfegen? Bei Pland ijt auch die Rechtsgewalt eine beruflich geordnete ge- worden und damit jeder geheimen Willtür entfleidet. Spricht Steiner das frei aus nun, dann ift feine Dreigliederung zum Berufsftaat geworden und der neue Name entfpricht nur noch der Abfolutheit des Originalitätsbewußtfeins. Wher aller- dings, wir muten wohl Steiner zu viel zu, wenn wir von ihm verlangen, bab er Wirtſchaft, Staat und Geift an einen Tifch fegen folle. Das hieße ihre Stufenfolge außer acht laffen. Der platonifde Primat des Geiftes über Rechtsgewalt und Wirt-

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>. od

ſchaft wäre dantit angetajtet. Fragt fich mur, ob die beiden Exftgenannten insfünftig von der reinen Luft der Wahrheit und des Rechts leben werden und nicht aud) vom täglichen Brot, das ihnen die Mirtichaft liefert. Dann hat diefe aber auch das Redht, von ihren Köſtlingen Recdhenfdaft und Verantwortung zu verlangen für das, was fie leiften. Sonft geht der alte Betrug weiter. Deshalb muß die legte Entfcheidung an einer einzigen Stelle fallen, die völlig fichtbar ijt und die feine neue Verjchleierung ermöglicht. Hält Steiner dies Verhältnis der Geifteswiffenjdaft für unwürdig, jo ftellen wir die Gegenfrage: ob die bisherige Gönnerſchaft vermögender Privater,

; deren er fich erfreut, ein fichereres Afyl für den wirklichen felbftandigen Geijt be:

deutet? In was für amerifanische Abhängigkeiten gerät dann der deutfche Seit in

Kirche, Schule und Hochſchule? Gegen folche Gefahren blind fein fann nur, wer

; in feiner Wiffenfchaft einen abfoluten Befits zu haben glaubt.

Da müßten wir nun freilich Steiners ganze anthropofophifche Weisheit bor: nehmen und diefen großen Blumenftrauß nad) Herkunft und Art aller ihrer Geiftes- blüten zerpflüden. Diefe Arbeit ijt aber von anderer Seite ſchon mehrfach gründlid gefchehen. Welch ungeheures Wiffen darin ftedt, ift ung fo Avenig unbekannt mie der Inſtinkt, ber das alles mit zielficherer Beftimmtheit ausgelejen und zujammen- geftellt Hat. Ihren Erfolg aber verdankt diefe Emfigteit der Eugen Berechnung, mit dem der Leiter diejes riejigen geiftigen Warenhaufes die Bedürfniffe feiner Kund— Ichaft zum voraus erriet und der ebenfo wohlberechneten Art, mit der er ihnen entgegenfam und fie in feiner Weife befriedigte.

Vor allen hat ex hier das Verjiumnis der Kirchen weidlid) ausgenußt, die den europäifchen Menfchen über den komplizierten Apparat feines Innenlebens fo gut wie ganz im Untlaren gelaffen haben und dadurch alle diejenigen, die über fich felbjt hinaugjtrebten und Hinter ihren natürlichen Zuftand mit feinen feelifchen Geheim- niffen zu fommen fudjten, von fid) abjtiegen. Hier hat Steiner das unbejtreitbare Berdienft, natürliche Seelenfunde in großem Mafftab unter das Volt gebradt.är haben. Freilich Hat er diefen danfenswerten Dienjt Tofort mit einem anderen

zweifelhafteren verfnüpft, ber natürlichen Neugierde und vor allem der Todesfurdt

in einer Weife und in einem Grade Rechnung getragen zu haben, die ihn wieder in unmittelbare Nachbarſchaft mit den ſchon genannten geijtigen Herren der öftlichen und weftliden Hemifphare bringt. Das tut dem Glauben an die Solidität feiner ganzen Wiffenfchaft erheblichen Abbruch. Was ausfchließlich am meiften imponiert, dag ijt wieder die Mannigfaltigfeit der feelifchen Bedürfniffe, die Hier in Rechnung genommen werden, nicht aber die ¿ivingende innere Gejchloffenheit des geijtigen Bares, diejenige innere Einheit, die im Denken diefelbe Unerbittlichfeit aufweift, wie der fittliche Wille mit feinen Forderungen. Diefer Exrnft nach beiden Seiten war bis heute ber Ruhm der deutfchen Denker, auf die fic) Steiner beruft, der Trager des tlaſſiſchen Fdealismus.

Kommt man aber aus deren klarer reiner Geiftesluft in die Steinerfde Welt mit ihren offulten Wiffensfächern, fo ift der Unterfchied zwischen der zwingenden Ge- walt geiftiger und fittlider Erkenntnis dort und der trüb phantaftifchen Wiffensquelle bier nicht zu verfennen. Oder wenn Einen jener Idealismus oft in allzuhohe Regi- onev zu entführen fcheint, wo man zivar alles in wunderbarer Klarheit überfchaut, wo e8 aber an Wärme und an Nahrung fir Herz und Gemüt fehlt, und wenn man dann nad) einer foldhen Herdſtelle fucht für den intwendigen Menſchen auch dantit fommt man bei Steiner nicht zu feinem Rechte. Wo ift denn eigentlich die Heimat der Seele in diefem unendlichen Weltall, durch das fie nur immer weiter gejchoben wird zu endlofer Entwidhung? ES verläßt Einen die Empfindung bon der jchließlichen Ziwvedlofigfeit diefer Entwidlung doch nie ganz. Was ift das Ende von all der End- lofigteit? Warum nicht das ehrliche Geftändnis, dak die Ewigkeit für uns Menjchen ¿unachft ein unvolljiehbarer Gedanke if? Dies Eingeftändnis enthielte viel mehr Glauben und Vertrauen als die Steinerfche Alleswifferei. Matth. 6,33. ch geftehe trog aller Weltwerte bei Steiner feinen wahrhaft befreienden und befriedigenden Gee 320

tanfen gefunden zu haben. Man bleibt immer im Baue des Schemas, man bleibt in f “der Aeugerlichteit jteden, aud wo es fich um das Innerlichſte Handelt. Wann kommt da die Seele zu fic) felbjt?

Und wie es im Bereich der Weltanfchauung ftebt, ergeht es Einem auch im Gebiet des fozialen Lebens. Nirgends ein frifcher Luftzug, überall nur zur alten Bindung zwei neue. So in der Verdreifahung des Parlaments. Man braudte diejen Gedanken nur ein einziges Mal in die Wirklichkeit umzufegen, unt feine innere wie äußere Unmöglichkeit (Verdreifachung des Wahlapparats wie des Wahlſchwindels) für alle Zeiten darzutun. Ueberall nur neue Einrichtungen und neue Fächer, mit gends ein neues Recht. Deshalb wird jchlieglich alles mit den handgreiflichjten Mitteln gemacht, denen man von vornherein den Mifbraud auf der Stirne ge- ſchrieben fieht, auch wenn es von Steiner jelbjt durchaus nicht fo gemeint ift. Der ;. „ehrliche Wille ift ihm zuzugeftehen, aber überall fehlt das eigentlich š Durchſchlagende, die ſittliche K Kritik, deren auflöſende Schärfe die unmittelbare Vorarbeit iſt für die neue Saat. Und das iſt's, was Planck von Steiner grundſätzlich ſcheidet. Y

Dag Steiner feinen ehrlichen deutíchen Manneszorn aufbringt, ijt ihm von einer deutjchen Frau, der Schriftitellerin Augufte Supper, mit Fug vorgehalten worden. Ohne einen ſolchen aber gibt es feinen wirklichen geijtigen Umbruch! Er wagt es ja nicht einmal, das fchmarogende Unfraut beim rechten Namen zu nennen. So wuchert es üppig weiter bei ihm und erjtict vollends den guten Samen, der Hd) bei Steiner zweifellos da und dort findet. Diefer Mangel ijt es, der Steiner verhindert, vollen Anfhluß an die Wirklichkeit zu finden. So äußerlich und handgreiflich all feine Borfchläge find, fo ſcheinbar großartig feine Einfügung des Menfchheitsgangs in den Gang des Kosmos fid) anjieht den Sinn der Menfchheitsgefchichte hat ex nicht erfühlt und drum ift er der Erneuerer des Chriftentums nicht, als der er fic) _gebárdet. Die Erweiterung des Horizonts, auch die, welche die eigene Seele betrifft, ft nicht, was ung nottut. Was uns retten fann, ijt allein ein Neuerivadjen des hrijt- lichen Ethos, des evangelifchen Gewiffensurteils, das uns auf dem entfcheidenden Punkt auch ein Luther jchlieglich fehuldig blieb. Cs ift die Tragif der dentfchen wie der abendlandifden Gejchichte, dag fein Werf nur eine Reformation der Kirche, nicht aber eine wirkliche Renaiffance, d.h. eine Wiedergeburt des Evangeliums, aus feinem Urfprung in Jefus felbjt gebracht hat. Die Reinigung der apojtolifchen Glaubenglebre bon römifcher VBerderbnis war fein Erſatz für die Neuanfahung des fhöpferifchen Urfeuers, wie es im Geift Jefu brannte. So war die evangelifche Kirche unfähig, die Geijtesjdhlacht zu jchlagen, die nötig gewejen wäre, um die abend- ländifche Chrijtenheit vor dem einbrechenden jittliden Verderben zu retten. Der Betrug bon Byzanz, der die hriftliche Kirche und Glaubenslehre und Kultur ftaats- und regierungsfähig machte, aber mit der geheimen Bedingung der Sufpenfion des evangelifchen Urteils in den Dingen von Politif und Wirtfchaft, ijt nod) Heute nicht aufgededt und nad allen geſchichtlichen Gefegen geht er ſolange weiter, bis er ent- larvt ift. Mas 325 n. Chr. auf dem Konzil von Nicda unter dem Schild des Staijers Konftantin angebahnt wurde, das ift 1525 nicht revidiert worden! Go ift es heute zweifelhaft geworden, twas überhaupt „evangelifch“ heißt. Steiners Gefhichtsfennt- nis Ware groß genug gewefen, um ihn auch auf diefen Punkt den Finger legen zu lafjen. Aber die äußeren Mittel liegen ihm näher, als die neue Leidenschaft um , die Wahrheit und das Recht, wie fie in der Bergpredigt brennt. Und fo fällt aud ſeine Sade feblieglid) unter das Gericht bon Matth. 6,25, wie fo vieles Menjchliche, wie alles das, was nicht aus der Wahrheit, fondern aus der Berehnung jtammt. —Was Deutfchland Teiften muß, ehe es eine Revifion des Vertrags von Ver- failles zu fordern innerlich berechtigt ift, das ijt die Vollendung der Tat Luthers, d. h. der ehrliche Vollzug des Bundes der deutfchen Volfsfeele mit dent unbeftechlichen Urteil Jeſu Ehrifti. Dort allein entfpringt der Duell, der das deutfche Volt verjüngt und der ihm die Kraft verleiht, die Welt einer befferen Zukunft entgegenzuführen. Erſt dann hat es geleijtet, was es der Menfchheit fchuldig it.

Reinhold Pland. 321

Sottesdienftfjormen junger Menſchen.

ier von Gottesdienjten junger Menfchen zu fpreden, mag vielen vielleicht felt-

fam erfcheinen; denn fie meinen, bab dies doch in die Fachzeitungen der Kirche gehört. Aber ich will als Š ate nur etwas von dem erzählen, was ich rings um uns neu emporblühen fah. Unter „jungen Menjchen” möchte ich heut hier mur die verftanden miljem, die aus der engeren Jugendbeivegung fommen: aus dem freien Wandervogel, dem bürgerlichen „Deutjchen Jugendbund” und den verjchiedenen Gruppen der freien fozialiftifchen Jugend. Dak in den Vereinigungen der Deutfd)- Ebrijtlifen Studentenjchaft und den Bibelfreifen ganz ähnliche Strömungen bot: handen find, weiß ich wohl, doc) da ift das Suchen nad Gottesdienjtformen eher verjtändlich. Yd) glaube, wir müffen es für ein ganz befonders auffallendes Zeichen anjehen, daß auch in den ausgefprochen firchenfremden Streifen fold) neues Leben emporblüht.

Antiticchlich war der Wandervogel vom erjten Augenblid an, und das beran- late teilweife die Kirchen, ihn abzulehnen. Die katholifche Kirche jab durch die damaligen Formen hindurch und titterte Gefahr für ihr Dogma; die proteftantifde Kirche aber verjtand nicht jenes neue Werden. So ging denn lange Zeit ins Land, die Jungen kämpften un die Freiheit von kirchlichen Zwang. Bis dann auf einmal ein merkwürdig innerliches Ergreifen der Kirche als folder fam. Wir ftanden nicht mehr nur bewundernd vor den gewaltigen Bauten einer einjt religiojen Zeit und tapften durch das widerhallende hohe Kirchenschiff, fondern gingen hinauf in den Chor, um uns an dem Schwingen und Getragenfein der eignen Stimme zu er: freuen um die alten Ofterleihen und Marienlieder zu fingen. Hier wurden fie plöglich lebendig, gewaltig groß und zum Erlebnis des jungen Menfchen. Hier fanden wir die Kirdhe, unfern Ausdrud für das, was ein Pfarrer vielleicht Religion nennt, wenn er ein ahnend Verftindnis hat. Waldemar von Baufner hatte ung eine ganze Reihe alter Marienlieder und geijtlidje Weifen ſchön in mehreren Stimmen gejegt und eine Zeitlang drohte die Gefahr, dak es zur Mode wurde, roenn auf den Gau- und Bundestagen die bunten Scharen in die hohen Dome zogen, um fich an dem Klang der Orgel, dem Geläut und den feinen flaren Stimmen bom del Chorbrüftung aus zu erfreuen. Es war aber ein ftárter Leben in all dem, und anftelle der Leute, die nur des äfthetifchen Genuffes halber famen, fanden fd bald Kreife, denen diefe Stunden eine ftille innere Feier wurden.

Dies mag als Einleitung voransgefchidt fein, denn ich will nun verſuchent, em Bild von dem heutigen Werden und feiner Form zu geben. Es wird naturg emap nur ein Querſchnitt durch diefen aufitrebenden Schoß fein, und ich werde piele Keimzellen nicht getroffen haben und nicht jehen. Aber es ift ein ftartes und i Ziner⸗ liches Emporblühen, und einft wird vielleicht diefe Pflanze aud) Blüte hervorbrngen und Frucht tragen. Doch darum fonnen wir nur in Demut bitten.

Als Luther die evangelifche Gottesdienftordnung fduf, nahm er mit Bel die Formen des liturgifden Dienftes der tatholifehen Stivche in weiten Make mit. Er wollte die ſymboliſche, geheimnisvolle Macht, die in diefer Handlung lag, nicht miller. Aber es wurde ein Kompromiß in der Hand der fpäteren Kirche, der Sinn ging verloren; es wurde eine äußerliche Handlung in Gebárde und Sprache, un D emm fatholijder Freund hat ganz recht, wenn er fagt: „Die evangelifche Liturgie iſt Er ganz {cone Schale aber fernlos. Es fehlt ihr letter Sinn, das Mepopfer Wir Jungen empfinden diefen Kompromiß ganz befonders ftarf, und jo ijt es ber ftandlich, daß fich alles Streben nach einer neuen Form grundfäglich in zivei Rich⸗ tungen teilt: Ausbau und Hinſtellen eines wirklichen Predigtgottesdienſtes und Ver⸗ innerlichung und Zuſammenfaſſung der liturgiſchen Form. Es ift natürlich b edeir tend ſchwerer, ein Bild bon erſteren zu geben, als bon den liturgiſchen Gezeneil- ſchaftsandachten, die immer doch eine fejte, in Hd) gefchloffene Form tragen; auch find auf diefem Gebiet [don viel mehr glüdliche Verfuche gemadt worden.

322

Ich mug Hier nod) ein anderes tlarjtellen, ehe ich von den Bildern fpreche, die vor mir itehen. Sind e3 denn Formen junger Menfdjen, zu denen pir uns befennen? Geſchaffen und berausgeftellt wurden fie doch fait ale von Menfchen der mittleren Generation. Es find junge Menfchen, die fie fchufen, getragen von der Gemeinde. Nicht das Alter entícheidet, fondern die feelifche Struftur und wir find mit diejen Menfchen, die zum weſentlichſten Teil fogar der Geiftlichfeit an- gehören, im Innerſten verknüpft. Cin lebendiges Band umſchließt ung und fie, und nur folange fonnen fie vorwärts fchreiten, als fie getragen find von den Gleid)- gerichteten und Starken, die nur da find und dod fo die Kraft find. Was mist uns alle Form, was der Dom, den wir bauen wollen, wenn feine Menjchen da jind, in ihm anzubeten. Sie exjt find das lebendige Leben, das die Pfeiler hod)- aufſtreben läßt und die Gewölbe fpannt, darin der neue Geift flingt und die Seele fich frei aufrichten fann. Das Formale gehört zu den Einzelnen, ihr Wefen aber ift die Kirche der Gemeinfchaft in der Liebe; fo wie St. Auguftin einmal fagt: Ecclefia eft compages animarum caritate formata.*)

Die Menfchen, die heut in die Kirche gehen, tun es aus jo grundverjdjiedenent Bedürfnis: Die Einen fehnen fic) nach einer jtillen Stunde, wo fie fid) abtehren fönnen vom Tag und verfinten in der Andacht vor Gott, der hier im Orgelfpiel, im Raum der Kirche und in der alten Form der Handlung für fie lebendig wirkſam wird. Andere gehen aber um der Predigt willen hin, weil ihnen der Geijtliche etwas ganz Perſönliches mitgibt, das ihnen Hilft und ihnen Nahrung in den Stunden des grauen Alltags ift. Sie empfinden die Liturgie und Agende als etwas Unwahrhaftiges, das ja nur aufhält. Sie wollen die Predigt hören. Sd) weiß, bab an manchen Univerjitáten die Vorlefungen einzelner bedeutender Philojephen von Hörern aller Falultäten befucht werden. In der geiteinfamen Arbeit, 3. YB. über die Ethik, findet fic) ein Kreis von Menfdjen zufammen, dem diefe Stunde am Tag mehr als eine bloße Ktollegftunde wird; fie ift der Rrijtallifation8puntt ihres ganzen Lebens, und gibt ihm feinen inneren Gehalt. Hier ift ein wirklich innerlich gemeinfames Leben afademifcher Jugend. Waren nicht die genteinfamen Lefeftunden der Mönche ein Gleiches? Einer las alg Predigt ein Evangelienftüd vor und die Brüder erlebten e3 hörend mit. Hatte nicht das Wort aus der Heiligen Schrift, das der Hausvater jeden Morgen vorlag, einen gleichen Sinn: eine ftille Predigt? Es gibt Grund- formen des religiöjfen Gemeinfdaftslebens, die immer iwieder- fehven werden, wenn and die Wege, die zu ihnen führen, andere find.

Befonders Karl Bernhard Ritter, der Berliner jungdeutfche Pfarrer von der Neuen Kirche, geht far auf diefem Weg. Neben den Gottesdienften, in denen er verjucht, die Liturgie unter den Leitgedanten der Predigt zu ftellen und mit ihr enger gu verbinden, find eigenartig wertvoll die bloßen Predigtgottesdienfte. Go famen oft junge Menfchen am Spatnadmittag eines Sonntags in dem Rundbau der Neuen Kirche zufamnten, und in der Stille des Raumes, über dem Hd hoch und riefenhaft dic Kuppel wölbt, tlangen madjtvoll und wild feine Worte als des Propheten Fefaias. Unfer Schidfal, das er fitndet, unfere Laft, die wir tragen müffen, bis es in uns aufftand, gewaltig, wie der Gefang der Männer aus dem Feuerofen. Wir gehen durch das alles hindurch, denn wir wiffen, daß in uns ein neues Land lebt; wir werden überwinden. Und zum andern imar es tvieder Fichte, der zu uns fprad); Balder aus der Anweifung gum jeligen Leben wurden lebendige Taten und ergriffen uns mit ihrem verborgenen Feuer, daß wir inneres Leben jpürten.

Da eine reinlihe Scheidung zwifchen Predigt und Gebets- (Titurgifchem) Gottes- dienst vorerft wohl in der Kirche ausgefchloffen ift, jo ware nod) immer die Mög- lichfeit, daß man eine Umftellung vornimmt, und gwar derart, dak man guerft den Predigtteil abhält. Eingangslied, Gebet des Geijtlicen und nad) der Predigt ein Gleiches. Dann mag während eines Orgelfpieles Gelegenheit gegeben fein, binauszugehen, während fich die Andern um den Altar fammeln, um anzubeten.

*) Deutſch: „Die Kirche ift die durch die Liebe geformte Seelengemeinjchaft.” 323

So ift es vielleicht möglich, dies Gefühl der Unmvahrhaftigfeit, das diejenigen haben miiffen, die den einen Teil des heutigen Gottesdienftes ablehnen, zu Dejeitigen.

Die Liturgie und Gebete haben einen engen Zufammenhang mit der katholiſchen Kirche, ohne die fie wohl nie diefe Ausprägung erfahren hätten, und fo ift es and nicht verwunderlich, bab die Menjchen, die diefe Formen rein und far faften, in ihrer feelifchen Struftur etivas dem Katholifchen Verwandtes haben. Am helliten zeigt ba8 wohl eine Gegenüberftellung der beiden Gauptvertreter: Kurt Dienel, der itberfeine, demütige Menfch mit den weichen Händen und dem feinen mufifalifchen Ohr, der Sohn des früheren Organiften zu St. Marien in Berlin, und Karl Bern- hard Ritter, der aufrechte Mann, wahrhaft wie einft die alten Kirchenfürſten, ein Herr denen, die er führen mug, und doc ebenfo ftart im Dienen. Er ijt ein Bild eines altevangelifchen Pfarrherrn, der das Wort feinen Bauern recht predigt, jelbit frifch wie der Duft der Scholle. Kurt Dienel, der frühere Wanderpogelführer, wird erſt in dem myſtiſchen Verfenten in der Symbolit des Raumes und des Lichtes lebendig; und hier liegt vielleicht auch die Verbindung zu feiner ftarten Annäherung an den Marientult.

Diefe ganze Richtung wird wohl für eine große Reihe der ftrengen Dogmatiter und Religionslehrer ein befonderer Stein des Anftofes werden, denn jie fommen und beweifen mit der Bibel, bab nichts von all dem in der reinen Lehre Play bat, und dak das Bild „unferer lieben frame”, der Gottesmutter, nicht der geſchichtlichen Bahrheit entfpricht. ft denn die gefchichtliche Wahrheit des Glaubens lester Grund? Sie fürchten fid) vor dem fhlichten Marienlied, da3 jo ganz aus der deut- iden Volf8jeele geboren wurde; einer Seele, die findlid) verfuchte, ihr perjönliches Verbundenfein mit der Natur und dem Himmel in ein Bild zu tleiden.. „Das ijt zum Teil doch einfach Marienanrufung, Marienkult, und mit andern Worten Förderung des Katholizismus in einer Zeit, die uns ohnedies ein bedenkliches Zunehmen MS römiſchen Einfluffes bringt,“ fo anttvortete mir ein Evangelifcher, „unfer immeriter Halt ift die Begnadigung des Sünders, die wir immerfort verfünden.“ Wir jelbit wiffen die Gefahr, die ung droht, wenn aus dem Marienlied Marien minne wird, und die eigentliche, unmittelbare Verbundenheit mit Gott zu einer äſthetiſchen Se: firhlsfeligfeit herabgedrüdt wird; wir wehren aber denen, die fein Gefühl mehr Mr das Bild der Mutter mit dem Kind haben welches der Menfchenfohn wvurde, unfer Herre Jeſu Chrift.

Die Abendvefpern und Frühmetten, die Kurt Dienel in der Kloftertix de zu Berlin und dann aud in anderen Städten, 4 BD. Breslau hielt, haben ſchnell een ſehr ftarfen Kreis Menſchen gefammelt und haben diefer Art des liturgifden Sottes dienftes eine fejte Form gegeben, die bereits überall in ihrer Wirkung zu fpitacen iſt Es mag deshalb angángig fein, wenn ich etwas weiter auf fie eingehe. Cre De des Jahres 1919 fanden zwifchen Wandervögeln aller Bünde, Afademifchen Gilden um Freifcharen in Berlin Borbefprechungen über die von Dienel geplanten mona lider Frühmetten ftatt. Gedadt war an predigtlofe, kurze Gottesdienfte früh b ot der Fahrt; im Sommer um feds und wintertags wm ſieben Uhr. Bar jeder dogmas riſchen Erörterung follte nur die heilige Muſik und Schriftverlefung der Andacht uxt? Er bauung dienen. „Wir brauchen gerade in diefer Welt voll Shmuß und Schutt voll Kitſch und Kulturlofigfeit quis reget wir brauchen im Kampf geg el die fatanifden Finfternismächte, wie fie in unferer ſchlimmen Stadt am Vafe find, Kräfte, die wir nur in der Verbundenheit mit Gott finden,” fo fehrieb ex mir damos Ein Kreis, der die engite Gemeinde bilden follte, hatte daneben ein weites beit? feld: Schaffung eines gutdifziplinierten Chors für Paläftrinas Motetten und 0 Chorale, daneben ein Orchefter für Bachs große Kantaten. Weiter ware eirt pitt: lic) gutes Gefangbuch „Heilige Lieder“ mit wenigen, aber einwandfreien Lieder zu ſchaffen*) und eine mujitalifd) ſchöne Liturgie unter Verivendung alter, zurrt Tei vorreformatoriſcher Antiphorien und Pſalmodien auszufchreiben.

. *) Hierzu vergl. die Mitteilungen Hinten in der „Zwieſprache“. 324

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Am fiebenten März 1920 fand die „Erjte Frühmette der Großberliner Wander- vogel” jtatt, veranjtaltet von der Wandervogelgilde Cacilia, einer „freien Vereinigung religiös und kirchenmuſikaliſch intexejfierter Wandervdgel”. (Eine jchauderhafte Bezeichnung, aber man mußte doch einen erflärenden Namen haben.) (3 war fein öffentlicher Gottesdienft, nur Wandervögel famen, und unter ihnen Karl Fifcher; aber fie füllten das hohe Schiff der Stlofterfirde, die uns für diejen Swed zur Verfiigung geftellt worden war. Ein wundervoller Chorgefang zwang alle in feinen Bann; die Liturgie wurde auf alte Art gefungen, und anftelle der Predigt ein epijtolifcher und evangelijder Text gelejen. Das freie Gebet, das zum Schluß in ein Gedicht von Schiller austlang („Herr Chrifte, komm in unferer Not“) gab allen eine freudevolle Stärke mit in den jungen Tag hinaus. Am fünften Maien fand Die erfte geiftliche Abendmufit (Vefper) in der Kloſterkirche ftatt, in Wort und Ton ganz auf die abendliche Andacht gejtimmt. Zuerſt vom Chor ein Feierabendlied: Der Tag neigt fid) zu Ende, von Grell, dann-aber etivas ganz Ungewohntes und Eigenartiges, ein Einzellied zur Laute nach der alten Weife: „Es ift fo jtill geworden, verraujdt des Abends Wehn“. Wie zart und fein doch dies bon Luther fo ge- pflegte Saitenfpiel durch das hohe Schiff klang, und wie voll die Menjchenftimme mit ihren warmen und fchönen Tenor den Raum füllte. Die Liturgie war erfüllt von dem Ton der Hymne: „Meine Seele ift ftille zu Gott, der mir hilft“, und der Chor antwortete in dem mächtigen Sag von Johann Sebajtian Bad): „Laß dir mein Herr und Gott, mein armes Lied gefallen”. Die Abendftunde ſchloß mit des front men Matthias Claudius Nachtgebet, das andächtig die Gemeinde fang, „Der Mond ijt aufgegangen” draußen nahm die Sternennacht die ftillgewordenen Menſchen auf, und in der Kirche verlöfchten langjam die Sterzen, die an den alten Meffing- leuchtern gebrannt hatten und die aus der dreifchiffigen Baditeinbafilita (fo erklärt wohl der Küſter den Fremden bei Tage den Bau) den geivaltig-hohen gotischen Dom hatten werden laffen, in dem wir wieder ein Gefühl für Raum und Größe betamen.

Eine bedeutende Weiterentiwidlung fehen wir in einer fpateren Mai-Andad)t, Die ganz unter dem Feiteszeichen ftand: „Schmüdet das Feft mit Maien, laffet Blumen jtreuen, zündet Opfer an.“ Ihre Krönung war die Pfingjtkantate von Johann Sebajtian Bad): „Erfchallet, ihr Lieder, ertlinget, ihr Saiten“, ein Aufjubeln der jungen Sänger, das in dem mächtigen, von Paufen und Trompeten begleiteten Schlugchoral endet weld) Werk, das da mit den geringen horiftifchen Mitteln erreicht worden war! Das ijt fein SKonzertieren, fondern bewußte Evangeliunis- verkündigung; es war ein Sidh-Herausretten aus dem Alltag in Vertiefung, Andacht und Anbetung.

Sanct Johann die Sonne wendt. Am bierundzivanzigften im Rofenmond Anno Salutis 1920 war ein Yohannesfeft, oder geiftliche Gonnenwende. Die Täg— liche Rundihau vom 26. brachte in ihrer Unterhaltungsbeilage Nr. 136 darüber einen jo guten Bericht, daß ich alle bitten möchte, diefen nachzulejen. Es it natür- fich unmöglich, hier eine Darftellung der Arbeit zu geben, die die Gilde Cäcilia geleiftet hat, und mur der fann einen ganzen Eindrud von biejen Metten und Vejpern haben, der fie einmal perfönlich miterleben fonnte; fie find ganz an die Berfon und Stimme Dienel3 gebunden. Aufmerkffam möcht! ich nur auf die gejchidte Benugung alter Volt3feiertage machen. Ich erwahne noch die Toten-Vefper vom zweiundzwanzigiten November, die ganz unter dem gewaltigen Slang des lateini- ſchen Antiphons Notter3 von St. Gallen ftand: „Media vita in morte fumus”.

Weiter gebe ich das Programm einer vorweihnadhtlichen Veſper vollftandig als eine weitere Anregung wieder:

Introitug von Vittoria (geb. 1540 in Spanien): Sofianna dem Sohne Davids. GBeiftliches Wiegenlied aus dem Kölner Gefangbuch (1623): Vom Himmel hod, o Englein, fommt! Eta, fufani! (zu Laute und Geige). Rezitativ des Evangeliſten aus dem Weihnachts-Oratorium von Joh. Seb. Bach: Es begab fich aber zu ber Beit, dah ein Gebot von dem Kaiſer Auguſto ausging. Luthers Choral: Vom

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Himmel hod), da komm id) Her (Wechfelgefang zwifchen Gemeinde und Chor). Wtardienft: Antiphone und Pjalm 98. Anſprache. Adventiied von Bruno Leipold, Cantor in Schmalfalden: Freue dich, Chriftfindden fommt bald! Die mitternächtliche Chriftmette in Nürnberg! Jn der riefenhaften gotifchen Kirche zu St. Lorenz harıt die Menge. Steilauf fpringen die Säulen und wölben ſich hochoben. Bor den hohen fpigen Fenftern liegt die Nacht, aus der die Menſchen tamen; innen aber ftrahlt ein Serzenmeer von den geſchwungenen Mefiingarmen der Leuchter daß es Licht fei. Ein ſchwerer einftimmiger Wechfelgefang de> Chores, dann folgen die lieblichen Weihnachtslieder, in die fid) die Geigen hinein— tanten. „Das ewig Licht geht da herein, gibt der Welt ein neuen Schein, es leucht wohl mitten in der Nacht, und uns des Lichtes Kinder madt. Kyrieleis.“ Dag war der inbriinftige Widerhall von Stählins Worten in der Gemeinde. Karl Bernhard Ritter in feinen reinen Predigtgottesdienften (das fiard aber vorerst nod) Ausnahmen) und Kurt Dienel in feinen rein auf die heilige Mufica aufgebauten Metten und Vefperi find wohl heute die Pole, swifden derren alle andern Formen fdwanten; deshalb mußte ich fie fehärfer herauszubeben Auden. Mannigfad und zahlreich find die neuen Anfábe, in denen der Verfuch gemadt wird, in Fugendgottesdienften die alten Formen mit neuem Jrubalt zu füllen. Man greift auf die alten Iutherifchen Gebete zurüd und auf die mach tvollen Zeugnife der Reformationgzeit. Zu denen haben wir ein engeres Verhältrris, ale zu der Sprache der Prediger des achtzehnten und neungehnten Jahrhunderts. Wit haben wieder ein Gefühl für die Myftit eines Meifter Edehard, Johannes Zauler und Jakob Böhme. Ungeheuer ftart wirkten einmal in Chor von der Orgel gt jprodjene Pfalmen. Dann finden wir wieder unter unfern jüngften Didterrr Mer ſchen (Stephan George, Karl Thylmann), die unfer innerftes Sehnen und ihnen ausdrüden. Pfarrer Donndorf gibt in den Mitteilungen aus dem Bund Dexstider Jugendoereine, Heft 1 (1921), den Bericht eines JugendgotteSdienftes, der txt ſofern bemertenswert ift, als er die tätige Teilnahme der Jugend in der Liturgie bef chreibt. Ein Bub als Sprecher und ein Nadel fagten Lutherjtellen, auch ein Gedicht, auf, auf welche der Chor antivortete. Nach der Predigt gaben fid) alle die Hände und biLDeten jo mit dem Pfarrer einen lebendigen Ring, der nun Sag für Sat den Rit Le ſchwur prach: ,. . . . Wir wollen trauen auf den höchften Gott und ung nicht fürrchten vor der Macht der Menfchen!” Aus der heiligen Not fonumt der Glaube einer meuen Jugend, ein Glaube, der hinüber in die Zukunft führt. : Bum Ende nod) ein anderes Bild: Die Begrüßung des anbrechenden Ofte x tages: Vor Tagesanbruc find die jungen Menſchen des Dorfes (e8 ift ein deutiheS a niftendorf in Beffarabien) hinausgezogen auf den freien Hang des FridhrfeS- . harren fie nun und fehnen die Sonne herbei, die die Nacht vertreibt. Ein get ſtlicher Bruder lieſt die Geſchichte von der Grablegung des Herrn Jeſu Chriſt. zona wird der Himmel in leuchtende Farben getaucht. Als aber ftrablend die Sorert® ur geht, da wendet fic) ihr jedes Antlig entgegen und bricht in den jubelnden Lobgei aus: „Wach auf, mein Herz, die Nacht ift hin!” Es ift eine große Erlöfung t3t Menfchenfeelen und ein rechter Oftertag bricht für fie an. vie AN diefe Gottesdienfte verfuchen durch ihre Gefchloffenheit und Wucht ze reißen und wollen dem Menfchen dadurch den inneren Auftrieb geben. pet e: fühlt ein Teil der Unfrigen leicht etwas, ich möchte fagen, zu Geſchäft 19 qu die innere Unruhe: nur nicht, daß es irgendivo mal abreift, oder der Mest 1H und Befinnung kommt. Sie finden nicht die Stille, die fie im Segten july e rt die ihnen zum Teil die Liturgie gibt. argie, Die Menſchen wollen nicht nur die Predigt oder die Erbauung in der on viele von ihnen fuchen noch nad einer andern Stille; der Stille des gemeE att died Gebets. Wie unendlich überlegen ift darin die fatholifde Kirche gewefen, pte

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leife, ewige Bedürfnis erfannte und immer wieder im Rahmen der großen Majfe Stellen des ſchweigenden Gebetes eingufledjten mußte. Die Menſchen haben wieder ein Drängen nad) dem Gebet ganz felten vielleicht mod), aber es kommt gerade jenes, ba8 ich das große gemeinfame und ftille Gebet nennen möchte. Sit es nicht das legte Berwußtjein einer Bindung zum anderen Menfden? Aus diejem Be- dürfnis heraus find wohl im Sommer 1920 unabhängig von einander die ftillen Stunden entjtanden, in denen fid) freideutiche Studenten, Wandervögel und Leute von der Deutfch-Hriftlihen Studentenfchaft zufammenfanden; in der ſchönen Schloß— fapelle von Tübingen und dem Michelchen, dem Eleinen Gotteshaus oberhalb ai Hang der Elifabethkirche zu Marburg. Man fonnte nod) viel von diefer Sehnſucht zur Einfamteit jagen, von diefem Sehnen nad dent Slofter, ich glaube aber, dah es nicht wie im Mittelalter einer Abfage ans Leben entfpringt, fondern dent Willen, ber ſich durchjegen will und der in der Cinfamfett Kraft und Klarheit jucht. 3d) habe hier etwas von diefem neuen Emporblühen zeigen wollen; nun jollt ihr Begriffsmenjhen aber nicht gleich alles rubrizieren und feftlegen. Freut euch an diefem Reichtum der Form und an dent ernithaften Suchen nad) Dingen, die ihr nicht mehr ergreift. ES find neue Menfchen, die dort emporiwadfen. Gott wohnt in einem Licht, zu dem die Bahn gebricht; Wer e3 nicht felber wird, der fieht ihn ewig nicht! (Angelus Silejius.) Bon einem Fungdeutfden.

Nolde und Jllies.

1.

nláglid der Kieler „Herbſtwoche für Kunſt und Wiffenfdaft” im vorigen Jahr fah man zu größerer Zahl vereinigt Bilder von Emil Nolde und Artur Illies. Noldes Werk in ziemlich geſchloſſenem Ueberblid, von Fillies fehlten die Bilder der Frühzeit. Bei wiederholtem Durdivandern der Au3jtellung wurde in uns der Wunſch lebendig nad) einer AuSeinanderfegung mit dem Werke diefer beiden Nieder- fachfen; das Hinundhergerifjenfein zwifchen den Polen Nolde und Flies mußte aus-

geglichen werden, und die folgenden Blätter find die Frucht diefer Mühen.

Die Kunft unferer Tage ſcheint ein brodelndes Chaos zu fein. Gervaltige, ftür- mifche Anläufe, das Temperament wirbelt die Talente fcheinbar in die Sphäre des Genialen. Die Ueberivindung des Ympreffionismuffes, mit der man fid) briiftete, zertrümmerte alle Hemmungen, unter denen fonft Kunft erjtarfte. Mit der for- malen Hemmungslofigkeit geht eine ſeeliſche Hand in Hand, ein intelleftueller Myſti— zismus fommt auf, die feften Grenzen der einzelnen Künſte verfchieben fic), man mill die Kunſt entlörpern, um für das Geiftbefreitfein der neuen Menfchheit ein würdiges Ausdrudsmittel zu haben. Die Kunft unferer Zeit tritt auf, Menfchen zerrüttend mehr als aufrüttelnd. Die Kunft unferer Zeit frantt an felbjtgewählter Einfamteit, an hochmütigem Aejthetizismus. Daher liegt auch faft unvermeidbar die Gefahr nahe, allen Einflüfterungen zu unterliegen. Mit fanatifder Eifrigfeit wirft man fich auf altertiimelnde Stile. (Man überfieht, daß allen diejen eine Unfähigkeit zu Grunde liegt, daß ein unbejtreitbar großes Erleben nicht in ihm entfprechende Form gebracht werden konnte.) Faſt noch ſchlimmer und oberflächlicher ift die Wendung zu den fremdoölfifchen Primitiven. (Gauguin verträgt keine Nachfolger!) Wir leiden an der Theorie bon der Kulturlofigkeit der Kultur, und in ftolgem Hochmut flüchtet fich die Einzelfeele in die ihr fablide Region und begnügt fd in ihr. Unmotivierte Sprünge in der Entividlung unferer heutigen Súnftler find typifch geworden, und fie gefchehen nicht felten auf Koften der formalen Kraft. Wenige Ausnahmen, jelbit- ftarfe Charaktere find mit Genugtuung zu begrüßen.

2.

An äjthetifcher Selbſtgenügſamkeit leidet Emil Nolde. Diefe Selbftgenügfamteit

verhinderte ein reiches formales Können, [este Möglichkeiten herzugeben. Es gibt 327

bei Nolde vulfanhafte Ausbrüche künftlerifchen Temperamentes. Cs gibt fie als grelle Blige, hevvorgefchleudert aus einem Atom der Bildtafel (bezeichnend), es gibt fie auch als Reflex eines gefchloffenen Werkes. Um fo beivunderungstwürdiger, als . häufig die Dafeinsfarbe in den Rhythmus der Tafel gepreft wird. Dafeins- farbe! Als folche verftehen wir das Grün des Laubes ohne Zuſammenhang mit atmofphärifchen Brechungen, das Rot oder Blau eines Stoffes, ohne Beziehung auf ein danebenliegendes Somplementáar. Nolde hat das Verdienft, diefe Dajeins- farbe in die Sphäre der Ausdrudsmöglichkeit Hineingehoben zu haben. In dem blauen Mantel des Simeonbildes riefelt diefes Blau; ſchwermütig, ein tvenig müde zivar, aber doch ftolz jcheint es uns auf den ganzen Chriſtusweg Hinzudeuten. Dod aus der Dafeinsfarbe kann fich leicht die Symbolfarbe entivideln, und dann verliert fie ihre Entwidlungsmöglichkeit innerhalb des Ganzen. Golder Verlujt fann ausgeglichen werden durch die Linienführung. Erwächſt aus ihr eine genügend ftarte, zwingende Kraft, fo dak der Beichauer das Zuviel oder Zuwenig der Farbe überfieht, fo ift der künſtleriſche Wert des Bildes noch fichergeftellt.

Es ijt interefjant, daß Noldes Auseinanderjegung mit der flaffifden und er preffionifchen Linie zu der Flächenlinie führt. Einer Linie, die in die Hand eines Meijters gelegt zu außerordentlichen Möglichkeiten führen tann. Syn feinem „Einzug in Jeruſalem“ übernimmt fie wie fie gebildet wird Durch die Köpfe der Zu- ſchauer die Funktion eines Rahmens um die Hauptfigur. Jm „Pfingjten” jedoch jtreitet die in dem Dreied enthaltene Dynamit, deffen Spike der Kopf des mitten Hinter dem Tifche jigenden Yüngers ijt, wider die große Horizontale, die ams den Köpfen aller hinter dem Tiſche befindlichen Berfonen fic) aufbaut. In gleicher Weife ftreitet ein folches Dreied auf dem Abendmahlsbilde gegen eine deutliche Kurve. Noldemwollteeineungeordnete Maffeaufeinen Mittelpuntt jentralifieren,abererrednetenihtmiteinerdemMenjden eigentimlide Befhaffenheit, Chaotiſches durd Linien zu— fammenzufdhließen DasErgebnisiftein Jwiefpalt. Vielleicht joll dic neugerwonnene Linie bie formziwingende Kraft des Raumes erjegen. Nolde gerät hier in ſcharfen Gegenfag zu Hildebrand, der in feinem „Problem der Form in der bildenden Sunjt” die Linie, ja fogar die Farbe als formfdjaffende Kraft bewertet. In fid) wachjend zertrümmert Nolde die Farbform des Impreſſionismus, ja ſchon in feinen fogenannten imprefjioniftifchen Bildern findet der Beſchauer, der beobachten fann, diefe Zertriimmerung, da der Kitnftler atmofphärifche Ausgleiche beifeite ſetzt. Indem er fich feheinbar Hier nod) der Natur nähert, entfernt er fid von ihr. Die Abtehrvom Jmpreffionismusals Bantheismus beginnt. it fo der Weg zur Zertrümmerung durch die geringe Betontheit des realen Raumes jchon bejchritten, fo macht er hier aber frühzeitig halt. (Man ber: gleiche Nolde mit Mar Kaus.) Er bleibt, und das ift das Einzigartige feiner Stel- lung, als Einfamer zwiſchen imprefjioniftifcher und exprefjioniftifcher Orientierung.

Was ift der Inhalt diefer Orientierung? Aus Noldes Werken fpricht Häufig die Tierheit des dargeftellten Menſchen: er möchte uns überzeugen, daß Diefe Tierheit den niht megzuleugnenden Grundbeftand unjferes Menſchſeins bilde, daf ohne diefe Tierheit die Geiftigteitdes Menfhen Torfo bleiben würde; er endet hier in einem merkwürdigen unbegreifliden Pofitivismus. (Nolde malt ein Bild: „Alter Mann und Weib”.) Etwas darauf Paffendes hat Lefjing bereits gefagt in jeinem Anti-Stlog, im fünften Brief! Ein nadter alter Mann, der ganz Auge geworden ijt, [treichelt einem nadten jungen Weibe die Bruft. „OD, des alten Bodes!” Rembrandt malt ein Bild: „Die Judenbraut”. Ein befleideter Mann, den Blid in fich zurüd- gezogen, berührt die junge Bruft feiner Frau and leidet [don unter diefem Durd)- bruch feiner Sinnlichkeit.

Nolde malt Masten. Er erftrebt demgemág masfenhafte Farbgebung und Lichtführung, um das ganze Bild zur Maste formen zu können. Maste bedeutet eine

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Abart des Typus. Jn der Tat gelingt es ihm, uns unter wenigen Einzelformen Maſſen zu fuggerieren. (Beifpiele: „Einzug“, „Pfingſten“, wo er jeiner Flächenlinie eine ihrer Funttionsmoglicdteiten entreißt.) Aber es taucht die Frage auf, und fie wird für den Denfenden beunrubigend: Soll das Leben einfach typifiert werden, oder will der Stiinftler ein Ueberleben bringen, zu deffen Symbol das reale Leben werden foll? (ES ift bezeichnend für die Wirkung feiner Kunft, daß fie einen Zug von Gedanken auslojt, eine intellektuelle Freude am Fortjpinnen des Gedanfens gewährt.) Vereinfadt wird das Problem des Lebens in den Bildern einer anderen Reihe man beachte beide parallelen Reihen! Wir denken hier an „Ehriftus und Die Kinder” und „Ehriftus in Bethanien”. Auf diefen wirkt fic) das Leben aus, frei von jeder Abjtraftion. Der Strom des Lebens wird vom Siinftler eingefangen und wirkt fich aus über die Bildebene hinaus. Wer vermag eine Synthefe diefer beiden Auffaffungen zu geben?

Noldes Religiojitat: Er bringt ung Jefus, nicht Chriftus. Er zeigt uns den Mienfchen jenfeits von Leid, von Schmerz, hinausgerücdt über Jronie, er zeigt uns den Menfchenleib vergeiftigt, aber wir bleiben in der Sphäre des Erfahrbaren. (,Sreuzigung” und „Abendmahl”.) Religion fordert Glauben; dar- über hinaus Hingabe an das Abfolute. Das aber zeigt uns Noldenurinfeinem Pfingjtbilde. Hier gelingt ihm der Wurf: Diefe Jünger fteben unter dem Eindrud einer Neugeburt des Geiftes, fie verkörpern ung das Erlebnis der Pfingjten fo ftarf, daß wir fogar die äußere Symbolik der Flammen entbehren fónnen.

Stoff und Form. Man hat das Wort geprägt: Stoff und Form müßten im Kunftwerfe zur Harmonie zufammenklingen. Diefe Forderungerfheint uns gu gering, denn fie bringt nur eine gewiffe Parallelitat diefer beiden Komponenten zum Ausdrud. fehlt das Durhdrungenfein, es fehlt das Betonen Der Herrfhaftder Form über den Stoff. Ein Beifpiel: Rembrandts fegtes Selbftportrát von 1668 läßt Licht und Farbe fo ftart ſchwingend auf uns einjtrömen, daß wir hierdurch zu einem unbedingt fünftlerifchen Erleben kommen. Alleindurhdie Form! Und erft nachträglich auf Grund diefer erreichten Iſolation aus den Lebenszufammenhängen gelangen wir zum Verjtandnis des Stoffes. So verfahren auch Delacroix, Renoir, Mund. Glüdt es uns bei Nolde gleicherweife? Sicher bringt er ftarte Anläufe dazu. („Gier“ mit feiner lüſtern farbenen Sturve, „PBhilifter”, die Mastenbilder.) Aber in vielen Fallen wird felbjt eine Harmonie nicht erreicht. ES läge außerordentlich nahe zu behaupten, dak ein Menſch, der die Noldefchen Anjchauungen (daß Tierheit ein nicht imegzuleugnender Grundbeftand if) übernommen, zu reinem Genuſſe jeines Werkes fommen fonne. Wir glauben es nicht. Vielmehr muß grade diefer Menfch inne werden, bab die Form, unter der Nolde dies geben will, nicht ausreicht, denn fie loft noch Affoztationen aus dem Stlafjizismus aus. Vielleicht ijt er wieder durch feine Farbſymbolik gebunden. run kann man einwenden, man folle durch die Form Hindurchftoßen, durch bie Farbe, durch die Linie, durch die Lichtführung, um zum eigentlichen Sein des Bildes zu gelangen, denn es ginge um die Geijtigteit al3 feinem eigentlichen Zentrunt. Ein Einwand, über den man vernünftig nicht veden fann, denn galte er, fonnte man Kitſch nicht von Nicht-Kitfch unterfcheiden.

Grade durch die Auffaffung der Form fommen wir zu dem äfthetifchen Genuffe Das ijt der Sinn der fantifden Aeſthetik. Wbgefehen von wenigen Fallen werden wir auf diefen Boden jtehend durch die Noldefche Sunft nicht hingeriffen.

Wir haben nur auf einen Teil der Elemente und Tatjachen hingewiejen, die uns nicht zur Rube bei der Betrachtung feines Werks gelangen laffen, da wir durch Zmiefpältigfeiten nicht aus dem Lebenszufammenhange herausgerifjen werden. Daher fcheint uns, was die Wirkung des Werkes Noldes in dem Sunftganzen anbetrifft, paf fie nur Jmpulfen auf eine fpätere Zeit gleichfommen wird. Betrachten mir Dagegen gehalten feine großen formalen Möglichkeiten, fo enthüllt fic) uns die Tragit ſeines Strebens, die in der Jerriffembeit unferer Zeit begründet liegt.

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3.

Jm engjten Zufammenhange mit der Voltsfeele, aus innigjter Bodenftändigfeit heraus wächſt Arthur Flies.

Man foll uns bei dem Worte VBodenftandigteit nicht mißverjtehen, man dente um alle Welt nicht an die Schar der „Idylliker“ in Farbe oder Wort, die Pinfel oder Seder in Sentimentalitat tauchen und eine Heimattunft ſchlimmſter Sorte (meijtenë nod) ohne jede Kunft) unter ſchwerſten feelijden Geburtswehen in die Welt jegen. Wenn wir hier von Bodenftändigfeit reden, fo denfen wir an eine Bodenjtändigfeit, wie fie Hebbel eignet, wie fie Storm zu feinem reifften Werke Hilft, zu feinem „Schimmelreiter“. Bodenftändigkeit ift etwas anderes, als nur ein Aufgewadjen- fein in einer beftimmten Landfchaft, unter einem beftimmten Volksſtamm; Boden: ftandigfeitinunferem Sinne bautfid erftaufausintenfib- fter Auseinanderfegungmitder geiftigen Beute,dieden Ge- nerationendorungsentrifjenmwordenift. Das Land, das den Schaf fenden augenblidlic umgibt, die Wiederfpiegelung des Charakters des Volkes, das mit ihm lebt, find Faktoren, die bis an die Schwelle führen fonnen, bleiben aber Faktoren einer auslöfenden und richtunggebenden Art, Ein Erfühlen nist nihts, Erarbeiten heißt die Loſung. Der Joylliter, der fich befcheiden mit dem Abjchildern einer „alten fate” oder eines „Buchenwaldweihers“ begnügt, jpielt mur mit einem Reichtum, deffen Werte er nicht ahnt. Der echte Bodenftändige verwaltet diefe Reichtümer nicht nur, fondern er vermehrt fie und bringt dieje ge fteigerten Reichtümer der Seele feines Volkes wieder nahe, die durch ihn über jid felbft hinauswachſen fann. Der Idylliker lebt höchitens alg Verteidiger einer Tau— tologie; der Bodenftändige ift fein Schlußftein, fondern Fundament für fernere Gebäude. Denn das ift ja der Begriff der Bodenftändigfeit, daß durch fie die Geiftig- feit der Sippe, des Stammes gefteigert wird.

Jn diefem Sinne müffen wir lies Bodenftándigteit zufprechen, die Landſchaft der Geeft mag als ihr Symbol gelten. Uebermittelt ung nicht die Geejt einen Rhyth- mus ganz eigener Art? Knid8 auf beiden Seiten des Weges ſchließen uns völlig ab und treiben uns in uns felbft hinein. Der eintönige Zug ziveier grüner Mauern beftimmt uns nicht, fondern wir werden durch unfer eigenes Ich beftimmt. Dann bietet fic) der Ausblid. Und nun beftimmt ung die Sandichaft in jtärkjter Weile. Aus diefen beiden Komponenten Dejtimmt fic) der Rhythmus, ein ſchwerer, erniter Rhythmus, der wirklich erlebt, zur Arbeit an fich felbft und für andere führt. So fpricht gu uns die Seele des Landes. Die fanfte Melodie, die Oftholftein widertlingt, der große feierliche Attord der March fehlen hier, der Geejt find aljo Grenzen gefebt.

Dieje Bodenftindigteit Illies', aufgebaut aus dem, was wir oben betont haben, erfennen mir aus feinem Werke nicht nur, fondern wir erleben fie; darauf beruht e3, daß jeder eine Stellung zu der Sunft Illies gewinnt, der Kenner wie der Laie. Er verlangt feine Differenziertheit der Seele von ung, das ift das elementar Gefunde in feinem Werfe. Will man Stellung zu den Erjcheinungen des Exrpreffionismufjes nehmen, fo muß man eine ganze Reihe von Vorausfegungen erledigt haben. Das Werk an fich fpricht zu ſchwer unmittelbar zu uns. Hat man aber bei Illies das „Motiv“ überwunden, und bringt man nur den Willen zur Abftrattion mit, fo muß aud) der „Ungefchulte” zum Begriffe der Kunſt durd das Kunſtwerk gelangen. Das ift das, was Illies grundfäglich von Nolde trennt.

Solange Kunft Hd äußert unter einem der Natur im weiteſten Sinne ente nommenen Inhalt, muß fie in der Tat eine erzieherifche Wirkung ausüben, dadurd, daß fie den Beſchauer in einen eindeutigen Zufammenbang ftellt. Diefes wr möchten jagen Einswerden zwiſchen Werk und Beſchauer wird um jo ftorier betont werden, je mehr der Anhalt des Werfes formuliertes Geiftiges ijt. e Gegenpol finden wir in der fogenannten abftraften Kunft, die fie mag ſich geber⸗ den wie fie will nie das Biel des Erzieheriſchen haben kann. Inwieweit dieſe Wirkung vom Betrachter als „gut“ oder „böfe” empfunden wird, das hänggt bon feiner Weltanfhauung ab. Wir ftellen hier mur feft, hap die Wirktungg der 330

Kunft Jllies in einem Weiterbauen des Volksempfindens beruht, Jaf dagegen die Kunst Noldes bewußt andere Wege judt. Ehe man es wagt, über die Kunft der beiden ein Werturteil in diejer Hin- ficht zu fällen, mache man Jd die ungeheuren Schwierigkeiten flar, die einem ridtend hieraus erwachjen. Wir find der Meinung, daß cin VWerturteileine Gefhmadlofigteit ijt. I

Treten wir an ein Werf von lies heran, fo erftaunt uns zuerft die rejtloje Ueberwindung des Motivs. Wir erleben gradezu, und das ift eigenartig perjünliche Wirkung, die intenfive Arbeit, in der fich der Künſtler befreit. Erjt ftärkjter kritischer Betrachtung enthiillen fid) die Grenzen lies’. Jn dem rein Formalen Dat er fic feine jtärffte Grenze gejegt: eine Steigerung verträgt diefe Form nicht mehr. Dies Gefühl verläßt uns nicht beim Betrachten, da wir eine gewiffe Erftarrtheit aus feinen Formen erfühlen fónnen. Sein Wert muß notwendigerweife über fid binausführen Aber dazu muß ein Brud erfolgen mit der Form. Und diefer Bruch mit der Form würde dem Kiinjtler ſchwer fallen, denn als Gegenfomponente wirkt eben die vorhin erwähnte Arbeii. Als Beifpiele mögen dienen: „Stiller Winkel” und „verlorener Sohn” * Fillies ift feine fom- plizierte Natur im Sinne der Modernen, daher find feine Grenzen leicht man möchte fajt fagen billig aufzudeden. Aber, und das fann nicht fcharf genug betont werden, Mit dem Aufzeigen feiner Grenzen wird fein Werturteil über den Miinjtler gefällt. Ein Beleg feiner Untlompliziertheit ijt die innere Folgerichtigtcit, mit der fich feine Entwidlung vollzogen hat; nichts erfcheint natürlicher als das Werden der jebigen Form verglichen mit der Form der Bilder feiner Frühzeit. Dagegen Nolde!

Zurüdzufommen auf die rejtlofe Ueberivindung des Motivs, nehmen wir als Beifpiel den „Weg ins Tal”. Das Bild zeigt, wie gefährlich eine zu große Ueber- fteigerung werden fann. Man könnte die boshafte Redewendung gebrauchen: Das Motiv ift fo reftlos überwunden, bab man dauernd an das Motiv erinnert wird. Zu einer folden Zugefpigtheit tonnte das „Hexengeſindel“ nicht führen, weil es bon einen gedanklichen Erlebnis, wie jenes von einem gejchichtlichen ausgeht. Und es ift interejant zu beobachten, wie der Siinjtler hier Anfábe zu einer neuen Form befonmt. 4

Will man die Stellung beider Künftler zum Expreffionismus bejtimmen, fo fónnte es fic) fteeng genommen nur darum handeln, inwieweit ftd) die Form Noldes oder Jllieg in die des Expreffionismus einordnen läßt. Vergegenivártigt man fid) Dagegen die außerordentliche Mannigfaltigteit dex Erjheinungen der neuen Sunjt, fo fieht man fich doch genötigt, von einer inhaltlichen Orientierung auszugehen; denn bisher beziehen fid) die Programme des Erpreffionismus nur auf das fogenannte Geijtige. (Die Analyfe der Form ¡ft man uns bisher nod) [dulbig geblieben.) Das Kennzeichen der Entfernung vom Gegenftandliden durch die Zertrümmerung der Form reicht nicht hin. Denn die Form wird nicht zertriimmert. Der wird alfo Erpreffionift fein, der mit feinen Mitteln die Möglichkeit befigt, fic) einer gewiſſen Mnitit zu nähern. Wir glauben auf Grund des bisher Entiidelten behaupten zu tónnen, daß die Form Fillies’ nur zu einer Entladung ins Dramatifche fähig it. (Man bemerkt es felbit in feinen feinen Landichaften und Städtebildern.) In dem Sinne tft das Abendmahl Illies' weniger erpreffioniftifch zu nennen als das bon Nolde. Selbit die Nimben, die unter gewöhnlichen Uniftánden den Vorgang ins Geijtige heben können, twerden hier zu Trägern der Dynamit. Das ijt natürlich be- abfichtigt. Es foll ein Momentbild gegeben werden: „Einer unter Euch wird mid) verraten”. Kein Zweifel, Nolde geht weiter. Die Dynamik ift bei ihm latent ge- worden. Der geijtige Vorgang wird zum Bilde. Mit diefer legten Auseinander- ſetzung aber ijt fein Urteil über Wert oder Uniert der fünftlerifchen Leiftung der beiden gefällt; wir verfennen tweder die ftarfen Seiten des Bildes bei Illies nod) die Schwächen in Noldes Abendmahl. . Hans Ralfs.

x *) Eine Wiedergabe im „Deutſchen Volkstum“, Aprilheft von 1920. 331

DSiicherbriefe Dramen abjeits bez großen “Bühne.

Wwe taufend unaufgeführte qaña in Deutfchland leben, mag wohl niemand erraten. Ob fd die Bühnen mit Recht ihren Werken vevjchliegen oder ihnen Unrecht tun, ift von der öffentlichen Kritik nicht nachzuprüfen. Aber die Frage, warum fo viele allgemein anerfannte lebende Dichter mit ihren dramatiſchen Werfen vom Theater ausgefchloffen bleiben, muß doch wohl einmal gejtellt und ernit- lich geprüft werden. Tragen die Bühnenleiter die Schuld, oder liegt fie bei den Werfen? ch nenne hier drei Namen von gutem Klang: Lienhard, König, Avenarius. Cie dürfen Anfpruch erheben auf Beachtung. Die Bühne aber haben fie fich nicht erobert. Warum das?

Bei Friedrih Lienhard möchte man wohl gleich die Antwort geben: Das dichterifche Weſen diefes Künftlers widerfpricht der Eigenart der Bühne. Feine Seelenregungen, feine Naturftimmungen, feine Ideen find Eigenschaften feiner Did: werfe. Alles Feine aber geht auf der Bühne verloren; es wird getötet von Leinwand— £ulifjen, Schnürboden, BVeleudtungsmafdinen. Go ergibt fid) die tweitere Frage: Bleiben die feineren poetiſchen Werte alfo grundfäglich aus der dvamatifden Kunit verbannt, oder ließe fich eine andere Bühne denken, die auch leifere dichterifde Schwingungen binüberleiten fann in den Zufchauerraum? Lienhard hat nun mit feinem dramatifhen Schaffen eine Stätte gefunden im Natur- (Berg-) Theater und bei den HaakBerfow-Spielen. Da bahnen fich neue Bühnenformen an, die aud Werke zur Darftellung zulaffen, von denen man bei der bisherigen Bühne ohne weiteres annahm, daß fie undramatifch feten.

Segen wir mun bei der folgenden Beurteilung ein Theater voraus, das nicht nur großzügige, finnfallige, grobe Wirkungen erjtreben muß, fondern auch leijer antlingende Töne vernehmbar machen fann, fo miiffen wir uns doch darüber Har fein, bab es unabänderliche Formen und Gejege gibt, die für jede Art von Qar; ftellung gelten und denen alfo aud) jedes dramatifche Werk entjprechen mug.

Lienhards Dramenhelden Wieland, Heinrich von Ofterdingen, die Heilige Elijabeth und Luther, in der Zeit, da er auf der Wartburg lebt, tragen alle ihre Seelenkonflikte nicht aus in ſichtbar darftellbaren Ereignifien; fie ſchlagen bei ihnen nach innen wie heimlich zehrende Flammen. Es find Jdeen, um die ſie ringen. Umfomehr Begabung des Dramatifers ift erforderlich, um jolde durchweg wenig beivegte Helden auf der nad) Bewegung verlangenden Bühne fefjelnd darzujtellen. Am ebejten wird Lienhard den Gefegen des dramatifchen Lebens gerecht in „Wie- landder Schmied”. Die dee des flügelfchaffenden Schmiedes ijt der Zellkern des Werkes. Sie ijt, entgegen dem urfprünglichen Sagenftoff, ins Symbolifde er- hoben, und die Láuterung des Helden durch das Leid foll die Dichtung durchziehen. Wir fónnen es feinem Dichter verwebhren, aus den Redengejtalten unferer Helden- fage moderne, durchgeiftigte Menfchen zu machen. Obgleich es mir perjönlich allemal leid tut, Lienhard will es fo; er will am Wielandftoff zeigen, wie ein nod) halb— tierifcher Höhlenbewohner durch göttlich-weiblichen Einfluß (námlid den der Wal- füre, die als fein Weib bei ihm lebt) herauswächſt aus der Niedrigkeit, fein edles Menfcentunt entividelt und durch großes Leid endlich den Adel freien Menjhentums in fich entfaltet. Schon hier liegt der Verſtoß gegen das Gefeg des Dramas: y wei aufiteigende Bewegungen folgen fid) nacheinander. Die Entwidelung des nie Deren Menschen zur Kultur ift die erfte Linie. Dann folgt noch ein ztveites Pro Blem, nämlich die Lauterung durchs Leid. Der Aufbau des Dramas ijt durch diefe Un: Harheit von vornherein verwiſcht. Die evfte dee kommt nicht zur Auswirkung; das Wejentlichjte an ihr, ihr Werden, wird zwifchen zwei Atte verlegt. Auch ſonſt teilt

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der Aufbau des Dramas einen Mangel an dramatifchen Ynjtinft auf. Die durch das Werk laufende dee wird ungebührlich überwuchert durd das Gegenfpiel, das zudem noch nicht einmal ein wirfliches Gegenjpiel, fordern vielmehr ein Nebenjpiel ift. Bodwild, eine Nebenfigur, wächſt fic) gur zweiten Heldin aus, während fie dent Hauptthema „Wieland“ hätte eingegliedert werden miiffen. Diefen ganzen Sreis der Gegner des genialen Schmiedg, der Menschen aus dent diifteren, unedlen Gefchlecht der Finfternis, hat Lienhard nicht geftalten können, da fie ihm unſympathiſch waren, da fie nicht Träger feiner wDealiftifchen Lebensanfdauungen find. Wir merfen, wie fie nicht gedichtet, jondern erdacht find und ihre Pfychologie extiinftelt ift. Dagegen wirkt fich eine wundervolle dichterifche Kraft, die uns unweigerlich gefangen nimmt, in der Hauptizene aus, da Wieland den inneren Kampf durchzufämpfen hat. Rann die heutige Bühne auch nicht die inneren Werte des Stückes zur Geltung bringeit, die fleinen Einzelzüge, die dichterifchen Gedanken, die Iyrifchen Stimmungen, die epiſchen Gejchehniffe, jo könnte fie dod) das vorhandene dramatische Leben wirkſam genug machen, um einen Erfolg zu fichern.

Dagegen treten in den drei Dramen der Wartburgtrilogie die Schwächen des Dichters viel ftárter hervor. Drei Stoffe hat Lienhard der Gejdidte der Wart- burg entnommen, um an ihnen wichtige Kulturepochen Deutfchlands zu fchildern. Alfo wieder ijt die Idee das Urfprünglie. Und wenn Lienhard im Vorwort zur Trilogie fein „Ihüringer Tagebuch” und die „Wege nach Weimar” zufammen- ftellt mit den „Wartburgdramen“ als Ergebniffe feiner Studien der Kulturepochen Weimar und Wartburg, fo zeigt uns das jchon, bab dicje Bühnendichtungen nicht aus inneren Zwang als Dramen entitanden, fondern daf fie eine freiwillig gewählte Form find, um darzuftellen, was dem Dichter und Menfchen Lienhard das Wefent- lichte ijt: Ethik und Kulturgefchichte. Vielleicht noch alg drittes Hinzu: Aejthetif. Daf er fein geborener Dramatiker ift, lefen wir auch hier fhon aus dem Vor- wort, Wo er ganz eingehend, ja bis zum ausgeführten Schema Hin den Aufbau der Stüde bloßlegt. Wer fo far am Geriift baut wie Lienhard, der braucht es nicht nod) befonders Harzulegen. Ein ganz intuitiv, unbewußt fchaffender Dichter könnte viel- leicht fo einen Kommentar vertragen (den er dann allerdings wohl ſchwerlich jel b ft fchreiben tonnte!). Auch der Ethifer verrät fich ſchon in den Vorbemerkungen: „Der Verfaffer fuchte bei Geftaltung der handelnden Menfden unbefangen zu fein.” Weld ein Bekenntnis! Und dann fegt ex fic) mit feinen bon ihm gefdaffenen Geftalten, ja mit fid) felbft auseinander! Ich fann mir nicht borjtellen, mie cin Dramatiker fo fritifd) betrachten und beurteilen fann, was aus feinem tiefiten Innern erwächſt. Es find doch feine leiblichen Kinder, die er lieben muß!

Sm Heintih von Ofterdingen wird der Sängerfrieg vorgeführt. In die höfifche Welt der Wartburg, wo „das edle Mak” einziger Glaubensfag tft, tritt ein Freund der Volkspoeſie, felbft derb, gefund, „mahlos“ in allen Leidenschaften wie das Volt: Heinrich von Ofterdingen. Durch fein rückſichtsloſes Auftreten ver- wirft er fein Leben, das er nur retten fann, wenn er in Jabresfrift eine Dichtung Ichafft, gleichtvertig dem Parfifal von Wolfram von Efdenbad. Nun haben wir uns ein Jahr voll dichterifchen Schaffens bei Heinrich zu denken, um dann zulett zu erfahren, daß fein Gedicht, unfer Nibelungenlied, auf der Wartburg vorgelefen und mit großen: Beifall aufgenommen wird. Wie Lienhard diefen Stoff wählen fonnte, der fon bei der kürzeſten Inbalt8angabe feine Unmöglichkeit für dramatifche Be- handlung fundtut, ift taum zu verftehen. Dak durch das Zufammentreffen des leiden- fchaftliden Ofterdingen mit dem ihm feindlichen Hof einige äußere Wirkungen ent- ftehen können, läßt fd, nicht leugnen. Wenn diefer Mann alle Schleufen feines heißen Herzens öffnet, dann fühlen wir Bewegung und Wirkung. Umfo ftärfer fällt dann aber die Weichheit ja Weichlichkeit der andern Menſchen auf. Ganz befonders die zart pertlingenden Aktſchlüſſe Laffen mich bedauern, dak Lienhard nicht einen Roman aus dem Stoff gemacht hat, was ihm gemäßer gerejen ware. Auch die hübfchen ful- turgefhichtlichen Volksſzenen wären da zu vollerer Wirkung gekommen.

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Moglicherieife ware durch Romanform auch der zweite Teil der Trilogie zu retten getvefen: Die heilige Elijabeth. Als Biihnendidtung ijt fie voll- ftandig verfehlt. Schon der Dramatiter Hebbel erlebte es, wie ihm jeine „Genoveva“ beim Arbeiten zu einem Golodrama wurde, weil die Heldin eine rein pajjive Natur war, die fraft aller Dranıengefege von der ftärferen, tätigeren Nebenfigur in den Hintergrund gedrängt wurde. Dabei war Hebbels leidende Heldin immerhin ein feelifch und geiftig weit vielfertigeres Weſen als Elifabeth, deren Seele nur einen einzigen Ton hat. In diefem Werk hat Lienhard verfagt. ES entftehen ganz leere Akte und jchlieglich ein undramatifches Verflingen zum Schluß.

Vor ſolchem Miglingen blieb der dritte Teil: Lutheraufder Wartburg bon vornherein bewahrt durch die männlichere Gejtalt des Helden. Aber ein Luther- drama entítand nicht. Lienhard, der Geijtige, hielt an der dee der Wartburg: trilogie felt, juchte gar nicht nach den drantatifden Elementen im Leben des Refor- mators, jondern wollte das Bild Luthers zeichnen in dem Beitabjdnitt, da er auf der Wartburg wohnte. Luther foll fic) entjcheiden, ob er das Wort oder das Schwert wählen, ob er Sänger oder Krieger fein will. Er halt am „Wort“ fejt, und fo zieht fic) durch das ganze Drama die Entjtehung des Liedes „Ein fefte Burg ift unfer Gott”. Vielleicht tat Lienhard recht daran, Hd) nicht an das Lutherdrama zu wagen. Würden bei ihm auch die tief frommte, deutjche Gefinnung und die flare Erfenntnis der in diefent Manne wirkenden Ideen wertvolle VBorausjegungen für ein folches Wert gewefen fein, fo fehlte ihm doch die Kraft, einen überragenden Menjchen zu geftalten. Sein Luther ift mur ein Redner geworden, wo er ein Volfs- führer jein mußte. Zweimal werden uns alle führenden Männer der Reformations- jahre in einer großen Gefellfchaft vorgeführt. Aber wie unbedeutend bleiben fie alle, wie undeutlid) alg Charaktere! Und was ein gewaltiges Zeitbild hätte werden müffen, wird zu einer leeren Apotheofe. Als Dramatiker verjagt der Dichter wieder, aber alg Dichter beweift er fich doch in den tleineren Menjchen, die er jchafft, vor allem aber in den lebendigen kulturgefchichtlichen Bildern. Gut charakterifiert er die Beit: die unfichere, leidenjchaftlihe Jugend, die religiös aus dem Gleichgewicht Ge- worfenen, dazwiſchen die feften, ficheren Ratholifen und die durch die epangelifche Lehre in Freude lebenden Lutheraner. Eigentlich ift alles, was nicht3 mit den füh- renden Geiftern und den tragenden Ideen zu tun hat, in diefem Drama gelungen und vollmertig als Dichtung. Alfo ein Beweis für die dichterifche Bedeutung Lien- bards, aber auch für feine Nichtbegabung als Dramatifer.

Noch geringeren Bühnenerfolg als Lienhard hat mit feinen Dichtungen E be r= hard König. Aber er bejigt eine fefte Lefergemeinde. Es üt wohl nötig, fid aud) mit ihm einmal ernftlid) auseinanderzufegen. Auch Konig hat einen Wie- lantder Shmied gejchrieben. In fünf Akten. Dabei werden diefe Atte nod) einmal zu drei Gruppen zerlegt durch Kapitelüberſchriften. „Wie Wielant 2. . .” Wirklich alg hätten wir es mit Gefängen eines Heldenepos zu tun. Und in der Tat haben diefe Gruppen gejchloffenen Inhalt. Reine Verzahnungen, keine Vorberei- tung, feine Uebergánge führen von einem Akt zum andern. Dazu eine ganz trojtloje Kompofition. Der ganze wefentliche Handlungsgehalt ift in den fünften Wit zufam- mengedrängt. Dazu Geftalten! Sie fprechen im Pathos. Das ift der gemäße Stil für die heldifchen Neden. (Wielant ijt bei König der Sohn des Wate!) Aber was für Helden! Wielant fommt mit ber Walfüre Schwanhilt vom Rudern nach Haufe. Sie ziehen fick) um, er zieht ihr die naffen Schuhe aus, warmt ihr die Füße, holt ihr trodenes Schubzeug vom Herd, nennt fie „Biltchen!” (eine Walfiire!). Menfchen bon heute unter dem Gewand altdeutjcher Reden und Göttergeftalten. Auch ihrem Empfinden nach find fie Menjchen einer iiberfultivierten Beit: lauter bor fich felbjt entblößte Seelen; alle feelijd) durchaus bewußt. Nur Heine Nebenrollen, die mit einem Strid) gezeichnet werden, gelingen ihm. Und eine Szene, mo Menfchen, Handlung, Sprache übereinftinmen und two echte Wirkung entjteht: die Reden auf der Bierbant! Und die Sprache! Wachilt die Meerminne erjcheint und fingt:

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„Wenn Wotan wandert durch die Welt, fein Bild fein Auge fo erhellt wie Mann und Weib! —“ Die Walfüre Schwanpilt fpricht: „O du! wie Heblid) wunder- fam: Weißt nicht, von wannen ich dir fant, wo ich daheim, wie ich genannt —“ Bald meinen wir Verſe aus der Zauberflöte, bald Rautendelein zu hören.

Ganz bedeutend höher als dies verungliicte Heldengedicht ftebt allerdings Königs Trilogie Dietrih von Bern. Bwei Teile find bisher erjchienen: Sibid und Herrat. König wagt fi) an den Sagenkreis heran, um den die meijten deutjchen Dichter [deu herumgeſchlichen find. Dietrich) von Bern, in dem fich deutjches Heldentum und Chriftentum jo durchdringen follen, dak eine große, ein- heitlihe Geftalt erjteht. Wir denken wieder an Hebbel, der diejes Dietrichproblem febr Har erfannt hatte und der es in feinem Nibelungenwerk glaubte gelöft zu haben. Mich hat fein Dietrich von Bern allerdings nie ganz überzeugt. Aud Konig Ut fich feiner Aufgabe Kar bewußt. Und er fat fie wohl richtiger an als Hebbel, indem er den eigenartigen Helden in breiterer Weife entiwidelt. Dietrich fieht das höchſte Werk, die einzige Tat im ,dornenpeingefrinten Heldenhaupt”. Größe im Leiden, aljo an fic) undramatiih! König hat auch dies beachtet. Der Dichter läßt darum in den beiden erjten Teilen der Trilogie andere Helden in den Vordergrund treten, Die an Dietrich gemeffen wenden, an ihm zerfchellen oder an ihm emporranten. Sibid) zerfchelt an dem Mufterbild Dietrich. Er hat fid von berechtigtem Rache- gefühl gegen den Kaifer Ermanrich zu einem teuflifden Haß verleiten laffen, der ihn folgerichtig an den Galgen führt. Jm zweiten Teil fehen wir eine Frauengeftalt fic) wie eine Rofe entfalten unter dem Einfluß des Helden Dietrich. Ihn ſelbſt aber, der aus Chriftenliebe fein Reich dahingegeben hatte und ins Elend gegangen mar, treibt das Heimiveh zu einer Treuetat und damit zu der Erkenntnis, bab nur die „Zat” dem Manne ziemt. (Er gelangt an die legte dee, an die Frage, ob ein geborener König wie Dietrich nicht von der Natur die Aufgabe hat, fich als Herrn der Menfchen durchzufegen, auch mit Gewalt, weil doch „der Guten Obmadt ein Segen in diefer Welt, ein gottvertrautes Amt” fei. Da fich im zweiten Teil Dietrich diefer Wahrheit bewußt wird, muß folgerichtig der dritte Teil die „Rabenſchlacht“ bringen. Sch könnte über die Klarheit der großen Idee diefes Werkes, auch über die vieljeitige Wiederjpiegelung derfelben in den einzelnen Geftalten noch ausführlich fprechen, ich könnte die gute Eharafteriftif der zwei Welten: germanifche und Hunnifche, er- wähnen und vortrefflide Einzelzüge der Dichtung aufzählen, und müßte trop allem das Werk ablehnen. Ganz feltiam find bei König die Menſchen und das, twas fie fagen, nicht eins. Was fie fagen, das ich nicht Teil von ihnen, fondern e ift ihnen wie ein Geivand umbangt. Gleich zu Beginn des „Sibih”: Eine im tiefiten auf- geregte Frau, deren Gehirn fiebert, fpricht langausgemalte Bilder, wie fie nur ein in Ruhe befindliches Gemüt fehen und auffaffen tónnte. Und fo von Anfang bis zu Ende. Eine überaus bildreiche Sprache. Aber unterjucht man fie, fo findet man lauter Bilder, die der Lyriker oder der Epifer, jedenfalls der in Sube und VBefdau- lichkeit empfindende Dichter aufgenommen, geformt hat, und die er dann wahllos feinen Menfchen in den Mund legt. Nie ijt die Sprache feiner Geftalten ein Stüd Ausdrud ihrer felbft. ber diefe endlofen Reden, diefes Schwelgen in Worten bes gräbt geradezu die Menfchen, die dahinter ftehen follen, fo daß ihr Tun und Denken oft vor Worten nicht mehr zu verftehen ift. Zudem führt diefes ewige Ausruhen während des Sprechens dazu, bab alle Handlung ftillftebt. Zwanzig Seiten lang reden fterbende Helden, ohne dak irgendwelche äußere oder innere Forderung dadurch erreicht würde. Vielleicht ijt die Freude am Reden im Dichter dadurch gerachjen, Daf} ihm die Bühne verfagt blieb. Jedenfall3 ift es ſchade um den Dichter, der einen jo gewaltigen Heldenftoff fo tlar zu behandeln verfteht und der dann doch nicht eine einzige dDramatifche Szene und nicht einen einzigen Menfchen zu geftalten verfteht!

Georg Kleibömer.

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Friedrih Lienhard, Wieland der Schmied. Dramatifde Dichtung. 6. Auflage. 12.—, geb. 16.50 Mt. Wartburg. Drei dramatifche Dichtungen: Heinrich bon Ofterdingen, Die heilige Elifabeth, Luther auf der Wartburg. 6. Aufl., je 11.50 Mt., geb. 16.50 ME, in einem Band 25.50, geb. 32.— Mt. Greiner und Pfeiffer, Stuttgart.

Eberhard König, Wielant der Schmied, dDramatifches Heldengedicht. Geb. 12.—, geh. 8.— Mt. Dietrich von Bern, Erſter Abend: Sibich, geb. 12.—, geb. 8.— Mt. Zweiter Abend: Herrat, geb. 9.—, geh. 6.— WE. Eric) Matthes Verlag, Leipzig.

(Ein zweiter Brief folgt.)

SL (eine Beiträge

Demut. 1

Vom empfinden wir ung draußen in der Natur befreit und neugeboren und die Stadt bleibt wie eine Verunreinigung hinter uns? Ihre Werke und ihr Mejen werden uns eitel und vergeblih? Ich glaube, es ift die tiefe, unbedingte Demut der Natur, die nichts weiß von Geltenwollen, von Lüge, von Selbitbefpiegelung. Es ift dies reine jtille Sein, das uns fo froh madjt. Uns befreit dieje unfafbare, wunderbare Notwendigkeit alles Natürlihen. Da fehlen Willtür, Zufall und Irrtum. Unbeirrt Bue ee was war und was fommt ift die Natur ganz gegenwärtig. So ift fie Gewand e igen.

Wo find die Menfchen, die feltenen und toftbaren, die auf uns mit der überzeugenden Gewalt der Natur wirken? Die nicht anders fein können als fie find deren Leben fic) geftaltet aus einem tiefen unbeirrbaren Muß, aus dem Drang eines großen, demütigen Herzens und mit dem Glanz und der Güte einer Liebe, wie fie uns fonjt nur in der Sonne und ihren lichten ſtrahlt? Die vor uns ſtehen und mit ihrem Gruß Vertrauen wecken und Troſt ſpenden mie der Bergesgipfel, der im Glanze der Morgen- jonne aufglüht und unfer Herz erfüllt mit andadjtsvollem Glüd? Das find die zu vollem Menſchentum Begnadeten, die Kinder Gottes.

So verftehen wir das Schriftiwort: „Gott widerftehet dem Soffártigen, aber dem Demiitigen gibt er Gnade.” Er widerftehet, das heißt: er entzieht fic, er ift unfaßbar, unerfahrbar. Der ee ift und bleibt ohne Gott. Und wenn fein Leben nod) fo k t zu prablenden ho eln fic) höbe es bleibt ein leerer und quälender Schein. Wie ollte bent fth Gott offenbaren, der fic) in feiner Nichtigkeit blaht? Hoffart und echtes tiefe Leben find unvereinbare Gegenfage. Wer fic) nit in Dürre und Starrbeit verframpft, in dem Hochmut beffen, der feinen Stolz aus feiner Ditritigteit nährt, ter fih dem Leben gab, das über uns fommt alg Sonne und Sturm, mer jauchzte in feinen und in ſeinen Schmerzen bebte, dem ſchwindet alle Eitelkeit, der wird ſich ſelber Tein vor dem ewigen Wunder des Lebens. Der Reichſte ijt der aller Eitelkeit barſte. Wem die Liebe als der Sinn des Lebens aufging er gehört zu den wahrhaft reihen wer erfuhr, daß nur der lebt, der fid) liebend dem Du eint; wer jo die unendliche Aufgabe der wahren Einung alles Lebendigen in ihrer ewigen Tiefe fafte, wer fo liebend zum Dienft des Allgeiftes aufgerufen wurde, der demütigt fid) vor ber Herrlichteit des Lebens und wird begnabet wie die Blume, die nidts fein will als ein Lob defjen, der das Leben alles Lebens ift.

Es gibt freilich ein berlogenes demütiges Wejen, das mandem gerade Gewachſenen das Wörtlein Demut verleidet hat. Es it das die Eitelkeit, die fid in der eigenen Erniedrigung gefällt, bie unter der Maste der Nichtachtung des eigenen Selbit unerträg- lien Dintel birgt... Golde Scheindemut ift eine jehr gottloje Sade, gegen bie ein Luther beftig anging als gegen Satans Wert. Gefährlid, da fie im Gewand ner Frömmigkeit wandelt. Diejes nicht über feine Sünden wegfommen fonnen üt ja dod nicht8 anderes al3 das Unvermögen, über fic) hinaus zu Gott zu fommen, da8 Unvermögen, von fih weg auf Gott zu fdauen, weil man fig, felbft ewig im Mittelpuntt feiner Gedanken bleibt und meint, man fei etwas fo gar ejonderes, dak Gott nit mit einem —— könnte. Es it „jelbfteigene Bein“, die da im Gewand der Demut auftritt.

ber echte Demut ift die Demut des reichen und begnadeten Herzens, die Demut des en Marienbildes und die des Chrijtophorus, des ftarten Helden, der fid) nur dem größten Herrn beugen will und darum bor dem Den Kind in die Knie fintt, dag er auf feinen Schultern trägt. Von ihr fingt Hebbel in dem Lied der Fitnglinge:

336

Gott dem Herrn ift's ein Triumph,

Wenn ihr nicht vor ihm vergeht,

Wenn ihr Statt im Staube dumpf inzufnien, herrlich jteht,

Bern in ftolz, dem Baume gleich, Euch nicht unter Blüten büdt, Wenn die Laft des Segens eud) Erſt hinab zur Erde drüdt.

2.

Es wird in unferen Tagen von Bertretern eines bewußten Deutihtums dem Chriften- tum der Vorwurf gemacht, feine Predigt der Demut fei eine Gefahr gerejen fir unjer Volt und jedenfalls zur Beit das allexvertebrtefte, da es ja dem deütſchen Wolfe vor allem an Selbftahtung, an Stolz gebrede. Die Predigt des Chriftentums habe unfer Volt entnervt. Dem miiffen wir ein anderes Sdriftwort entgegenhalten: „Demütigt euch unter die gewaltige Hand Gottes.” Das ift das Mort, das wir heute brauchen. Weil man fig nicht Gott untertwirft, darum ift man ſchwach und feige gegenüber den Menjden. er fein Leben em Gott anheimgibt, der ift damit unbedingt frei und tbn. Der ift damit wefentlich unabhängig, Was follte er nod) fürchten? Der geht unbefümmert und durch Dunkel und Grauen. Er reitet wie der Ritter auf Dürer Holzfchnitt gelaffen ue Tod und Teufel. St er dod) ganz geborgen in der gewaltigen Hand Gottes. Sagt er doch demütig ja zu feinem Schidfal und darum überwindet es fein Herz. So tft er frei vom Zufall, von Laune und Villtir. Darum bat er alle eitle Se eng hinter fic) getan und fegt nit mehr auf irgend welde re Pd Dingen und Menjhen. Er hat in vollfommener Demut unantajtbare Würde un art. “A |

Nein, das find die Menfden, die heute Deutſchland niederhalten, die zu flein und zu boffártig find, um das deutſche Schidjal, fo wie es ijt, in feiner ganzen Größe und Schwere auf ftd zu nehmen. Es find die, die mit diefem Schickſal grollen und es gern abwälzen möchten a die anderen. Die das jammerlide, fo veradtlidje Schaufpiel der gegen- junges Anfhuldigungen bieten, die fic) darum zanken, wer da Recht gehabt hat und es efier wußte. Statt dak wir uns endlid) von den Menſchen weg zu Gott hin wenden und fo unter unferem Schidfal erftarfen, rein und reif werden. Denn die fich demiitigen, die er. o led ung in unferem Schickſal Gott offenbart, da finten Angit, Sorge, Streit ab und es wächſt die herrlichite Freiheit der Kinder Gottes, die handeln aus dem ewigen Muß und leben gefegnet wie die ftarten Berge, die ihr Haupt zum Himmel heben. „Wenn du mich bemütiolt, jo madjft bu mid) groß.” Möchten wir Deutfden es zu diefer unferer Zeit erfahren! Karl Bernhard Ritter.

Rubige Erwägungen in der aufgeregten Zeit.

1. Song die Welt —— iſt Politik ein lebensgefährliches Handwerk geweſen. Auch am Anfang der deutſchen Geſchichte ſteht ein politijdjer Mord: Arminius wird bon einen Vermandten aus politiſchen Gründen getötet. Irgend eine Spur von „ſittlicher ufmwärtsentwidlung” des politifhen Lebens ty all die Jahrhunderte hindurd nicht zu jpüren. Wenn man fid den Grimm und Haß, die Schurkerei und den kalt fanatijden „Idealismus“ vergegenwäctigt, ber fid) in der Politit austobt, wundert man fd nur darüber, daß von jenen Leuten, die das Wohl der rt e mit dem Nebengedanten der eigenen Macht und Herrlichkeit agieren, verhältnismäßig jo wenige auf dem Sampj- felde bleiben. Der Mord richtet [eine Waffe natürlich immer gegen die, welde die Macht aben, in monardifden Zeiten gegen die Monarchen, in demofratijdhen Zeiten gegen die magogen. Wir find uns bewußt, dak es nichts Hilft, gegen dic Naturgefebe angu- predigen. Wir fónnen nur jagen: wer in der Herrſchaft fist, jollte einen redlichen Sinn und ein gütiges Herz haben, das ift der befte Schild gegen Gewalt; und wer den Herr-

fdenden miderjtrebt, desgleichen, das ift die bejte Watt e gegen Gewalt.

2.

Ekelhafter nod als Meucjelmörder find die Scharen der Naben, die fid) über den Leichnam hermaden, darum Ken und fid daran fattigen. Es ift feine gute Sorte Menjchen, die fix dabei ift, das Entiegen und das menjdlide Mitleid politijd) ausgu- miingen. Ich glaube nidt an die Moral eines Menſchen, der in feinen Betrachtungen über die Ermordung Ergbergers ſchreibt: „Und Helfferid und Ludendorff leben!” Worin unterjcheidet fic) jeine Moral von der des Mendlers? Der eine mordet, der andre möchte morden, wagt es aber nicht deutlich zu jagen, gejdweige zu tun.

WIS Kaijer Wilhelm der Erfte bei einem zweiten Mordanfall [wer verwundet wurde, erregte man fid) über „die Sozialdemokratie” und bes Hee”. Die Regierung brachte das Sozialijtengejeg ein und die Voltsvertretung beſchloß es. C8 follte damit die Agi- tation gegen die bejtehende Staatsordnung unterdrüdt werden.

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Als der Reichstagsabgeordnete Erzberger bei einem zweiten Mordanfall getötet wurde, erregte man Hd) über „die Reaktion” und ihre , Hebe”. Die demofratijde Regierung er- ließ, ohne die Voltsvertretung zu befragen, die Nationaliftenverorónung, die dann in der Prazis aud) zu einer Kommunijtenverordnung wurde. Es jollte damit die Agitation gegen die beftehende Staatsordnung unterdrüdt werden.

Nur Hacmloje Leute wundern fic) darüber. Welche Staatsform aud) immer, jede Rat das Dejtreben, fic) gu erhalten. Und die Menfchen wollen immer wieder mit ben: elben angjtlidjen Mittelchen die Mafje des Volkes meijtern, und die Mittelhen verjagen immer wieder. Das Verfohnlicdjte an den Menfchen ift, daß fie immer fo dumm bleiben, wie fie find.

4.

Ter demokratiſche Staat und feine Vertreter follen laut Verordnung „nicht veradtlid gemacht werden”. Einſt hielten wir es für einen Fortſchritt, daß der Kaiſer auf Maje- jtätsbeleidigungsprogeffe verzichtete. und nichts dagegen hatte, daß er in Zeitjchriften und

üchern farifiert, wurde. Heut bewegt fic) der Fortichritt in die entgegengefebte Richtung. Cs gibt Yeute, die tröften fid mit der ,Spiralbewegung” des Fortſchritts.

Wir find der Meinung, dak nach wie vor die Reinheit und innere Vornebmbeit der Hegierenden eine beffere Stuge der Staatsautorität find, als Zeitungsverbote, Geld- und Sefängnisftrafen. Wenn der Reichspräfident heut wenig mehr angegriffen wird, fo liegt das nicht an den Brozeffen, fondern an feiner Perjon. Die Rede des Reichs— fanglers Wirth beim Begrabnis Erzbergers hat feiner Regierung bei billig dentenden Leuten mehr gefdadet als alle derbe Polterei der Zeitungen.

Auf dem Parteitag der nrößten deutihen Partei jpricht Hermann Müller, einft Reichs- fangler, laut Vorwärts dieje Sake: ,Hergt war unter dem dejertierten Preupentinig Sad)mintíter und best Fe mit geradezu pathologijhen Verleumdbungen gegen die Republif. Er tft cigentlid) reif dafüc, daß ihn die medizinische Fakultät der Königsberger Univerfitát zum Ehrendoltor madt. (Sehr gut!) Dem pathologifhen Lügner Ludendorff ift es cbenjo gegangen.” „Prinz Eitel Friedrich (nad) anderen Zeitungen fagte Hermann Müller; Citel Schieberih) könnte dann nicht feinen feiften Hinterfrontbaud auf dem Frontkämpfertag im Stadion prájentieren. (Große Heiterkeit und Beifall.“ „Deutic- lands Sufunft ruht allein auf der Arbeiterfchaft.” „Wir müffen uns nicht damit begnügen, bon Beit zu Zeit zu zeigen, daß wir Herren der Straße find wir müſſen zeigen, daß mir Herren im Sao Haben tir einft das Wort bom ,Hercen im Haufe” Darum be fampft, daß ein Demagoge wie Hermann Müller fid) als Herr im Haufe aufjpielt?

Jeder Staat hat die Oppofition, die er verdient. Die Demokratie, die „nicht veradtlid ao! werden will“, done fid) zunächſt nicht ſekbſt verächtlich maden; fie follte 1d) ob es Zufall iſt, daß gerade unter ihr der Miesbader Anzeiger bei ==] wurde, Y

Herr Maximilian Harden und die Franzojen.

& 8 gibt offenbar zivei Wege, dem durchſchnittlichen Zeitungslefer einen Artikel jchmad- baft zu machen. Entweder man führt darin aus, was der Lefer felbft denkt und chmeichelt dadurch feiner Eigenliebe, oder man ftellt fic) in einen grundjäplichen Gegen- ag gu der allgemeinen Meinung. Dies legtere Verfahren ift ohne Zweifel das einträg- iere. Wenigitens hat fic) Herr Maximilian Harden, der Prototyp eines Journaliften, feit Jahren dafür entidieden. Er befindet fi) grundfäglich in Oppofition. Gleichgültig, was er damit anrichtet. Die allgemeine Meinung im deutfchen Volfe geht heute dahin, daß der Friede von Verfailles eine Schmach üt, und daß das einzige Bejtreben der Fran- pn darauf gerichtet ift, uns weifbluten zu laffen. Folglich ift Herr Maximilian Harden er gegenteiligen Anficht: der Friede von Verfailles it gerecht, Frankreichs Forderungen betragen nur einen Teil defjen, was es durch uns verloren hat. Die nationale Würde- lofigteit einer folden Haltung ift natürlich für den jüdiſchen Journaliſten belanglos. Und p redet er denn Iuftig darauf los, ohne fd die geringiten Strupel darüber zu machen, wie ehr er durch folche Redereien die Stellung Deutjchlands in der Welt ſchädigt und unjere außenpolitiſche Lage erſchwert.

Das Interview, das er dem Berichterſtatter des Excelſior gegeben hat, und das ſich in Nr. 3825 des genannten Blattes (2. Juni 1921) findet, iſt fo klaſſiſch, daß es bier in feinen Hauptzügen fejtgenagelt werden foll. Herr Maximilian Harden führt aus:

„Deutſchland, mein teures Vaterland, hegt heute folgende Meinungen: 1. Ich bin nicht ſchuld an diefem Krieg, 2. id) bin nicht befiegt worden. Eine boljchewijtifche, jüdiiche und fozialiftijde Verſchwörung hat mir den old) in den Rüden gejtoßen. 3. Ich bin durd) Wilfons vierzehn Punkte betrogen worden. Man hat mid entwaffnet, um mir dann fürdhterliche Bedingungen zu diftieren. Ich bin der einzige (fährt Harden fort), der feit zwei Jahren in die Welt hinein jchreit, daß man die Dinge von einem anderen Ge- ficht3puntt betradten muß. Die Forderungen Franfreidhs find nicht auf Schäte ge- richtet, um fid) damit ein angenehmes Leben zu machen, fondern fie ftellen nur einen Teil deffen dar, was es durch unfere Schuld verloren hat.

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Die deutſchen Regierungen haben bis jegt alle möglichen Fehler begangen. Sie liefen vor allen Dingen die Chrlidteit vermiffen. Wenn man Cuch Franzofen heute zu Willen it, jo verdankt Ihr es nur Eurer Madt und Eurem Droben.

Schuld an diefem fürchterlihen Seelenzuftande meines (!) Landes find der Reichstag und die Preſſe. Beide haben folange an dem armen Volt herumgefnetet, daß es nicht nur den Eindrud hat, fondern geradezu den Aberglauben, daß alle Eure Forderungen furdtbar ungerecht find. So erfdeint ihm der Verfailler Vertrag eine Infamie. Es jaat fid) nicht, bab ei im Kriege am meiften gelitten hat, und daß jet wir an der Reihe find. Als unjere Führer den Vertrag unterzeichneten, jehrien fie: man enthauptet uns. Und jest wiederholen fie bet jeder Eurer Forderungen: man enthauptet uns. Was foll das heißen? Kann man zweimal enthauptet werden? Wenn man den Vertrag ber- hindern konnte, mußte man ihn verhindern. Jetzt, wo er in Kraft ijt, müſſen wir die Sonfequenzen daraus ziehen. Aber feine unjerer Parteien will in den jauren Apfel beißen. Go bieten wir der Welt das Bild eines faumigen Schuldners.”

Und auf die Frage de3 Franzofen, ob Deutſchland denn zahlen tonne, fährt Harden fort: „Das it nicht die Hauptjache, es fommt vor allem auf die Ehrlichkeit an. Aber das Problem wurde in einer Eindiihen und unehrenhaften Weife angepadt. Die pathetifchen Reden von Simons, feine Appelle an die Menjchheit hatten feine Epiftenzberehtigung. Nur die Zahlen durften fprehen. Jm Augenblid erfcheint die Kluft swifden Frankreich und Deutjchland faft unüberbrüdbar. Man malt fic) hier Frankreich aus triumphierend, hodmiitig, harthergig. Das Geld, welches es fordert, hat es nicht nötig, jagt man. Es will uns nur vernichten. Ich für meine Perfon habe niemals daran geglaubt, daß Frankreich uns vernichten will. Aber wenn unfere unterirdifde Politik fo weiter withlt, jo wird es, fürchte ich, eines Tages ausrufen: Mit diefen Deutſchen kann man nicht verhandeln. Zapfen wir ihnen foviel Blut ab, wie wir tónnen.

Mein (!) Volk glaubt, dak Frankreich eine Beute des Militarismus ijt. Wenn die Namen Fod) oder Poincaré genannt werden, fo fieht eS darin einen Marmruf. Ich da- gegen bin erftaunt, zu jehen, wie wenig militariftiich Frankreich ijt. Man Dat immer gelaubt, daß aus Eurem Siege ein Cäſar entjtehen werde. Was aber fehe ih? Ihr be- reitet Euren fiegreihen Generalen nicht entfernt fo heiße Ovationen, wie wir unferen befiegten Marfdallen. Der este Umitand braucht Eud übrigens nicht zu beuntubigen. Nicht der Geijt der Race fpricht daraus, fondern die Gewohnheit. So alte Wurzeln fann man nicht mit einem Mal ausreigen. Das Volt Dat nichts mehr. Vergegenwärtigt Eud dod nur einmal den ungeheuren Sturz diefer Nation. Man hatte ihr immer gepredigt, daß fie die Herrin der Welt fei. Heute bleibt ihr nicht3 übrig, als zu geboren. Gie —— an das Geſpenſt der alten Zeit. Das iſt nicht ſchön, aber es iſt menſch— id) begreiflich.

Es he indeffen gubiel gefagt, daß fic) nidts bet uns geändert hat. Leider haber wir die neuen Männer und das neue Verfahren nod) nicht gefunden, das die Stunde fordert. Das Volk weiß nur das Eine, daß es ihm heute fehlecht geht, und daß es früher beffer war. ES gibt fid nicht darüber Rechenſchaft, daß gerade die Vergangenheit die Quelle der gegenwärtigen Uebel ift. Aber zu folden Einfichten ijt die Maffe nicht fähig. Sie lernt nur langjam um. Suchen wir nichts belto troß ein Heilmittel. Wir wollen lat zu jenen nervenſchwachen Aerzten gehören, die beim Anblid des Kranken feige er-

affen.

Ich wünſchte zunächſt, dak Frankreich aufhörte, die Rolle des Minotaurus zu fpielen. Seht die en die Lloyd George bei uns auslöfte durch die wenigen Worte, die ihm ficher nicht viel fofteten. Die Männer, die Heute an unferer Spite ftehen, find Feine Genies, aber fie find von gutem Willen bejeelt. Sie wollen der Unterſchrift Deutjchlands vor der ganzen Welt wieder Geltung verihaffen. ES ift eine Lint8regierung. Helft ihr! Man muß nicht immer mit der Peitſche fuchteln.. Schmeichelt Herrn Wirth ein wenig, Anjtelle ihn mit Ultimaten zu bombardieren, richtet höfliche Noten an ihn. Nennt ihm Eure Beihmwerden, Eure pe pt ed aber im Ton eines wohlwollenden Nachbarn. Welche Gefahr lauft Ihr dabei? Meine Worte appellieren an das pſychologiſche Ver- ftändnis Frankreichs. RT

Seit der Annahme des Ultimatums, die eine verdienftliche Tat war, haben mir fein Wort der Ermutigung von Euch gehört. Wenn wir etwas recht machen, fo belobt uns. Jedermann liebt Las Lob. Lenft uns mit freundlichen Worten der Dantbarteit. Sagt uns: Gut, wir find zufrieden, fahrt fo fort! Macht einen ernftlihen Verjud), das Mip- trauen zu überwinden. Ständiges Miktrauen ijt eine ſchlechte Politik.

Wenn fid Herr Wirth gegen die wendet, telde ihn beleidigen, fo muß er jagen tónnen: Gewiß, id) verfüge über weniger Geld, aber gejtebt es nur, Ihr atmet freier. Ich

laube, daß Herr Briand der richtige Mann für dieje Mifchung von Höflichkeit und Ent-

hiedenheit ijt. Im Anfang zeigte er ſich hart, das ftand ihm nicht Ichlecht. Jetzt ber- udt er es mit Milde und Feinheit, das fcheint feine ftarte Seite zu fein.

ch begreife den Gemütszuftand Frankreichs volltommen. Ihr habt Eure Erfahrungen,

Ihr jagt zu uns: Warum follen wir Euch ſchmeicheln? Ihr werdet unë dod) beißen. Und

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in der Tat. Deutſchland hat Eud ftet3 gebiffen, wenn es dazu imjtande war. Darum bin id) oft der Verzweiflung nahe. Wenn fid) aber Frankreich, das über eine jo edle Seele ake t, und Deutſchland, das barbarifde Kraft und hohe Geijtigteit vereint, nod nidt wahrhaft Melon können, fo fteden wir das Ziel niedriger. Spreden wir Profa. ES ‚gibt nur eine Möglichkeit, den glimmenden ae des Mißtrauens auszutreten, die wirt⸗ Phaftlide Annäherung. Bejdreiten wir diejen Weg. Wenn unfere Seelen fid) nicht ver- Itebn, jo vereinen wir wenigjtens unfere Intereffen. (E3 wäre ein großes Unglüd, wenn a8 mißlänge. Die Weltgejhichte fann nicht bei Verfailles haltmaden.

Glauben Sie denn ernftlid), daß wir uns Jahrhunderte lang gegenfeitig den Dold in die Kehle ftoBen können? Sie werden erwidern: Was hätte Deutichland getan, wenn es gefiegt hätte? Ach! ficher nichts Gutes. Trogdem aber muß die Feindihaft aufhören. Wir muffen endlich Menfden der Zukunft werden und aufhören, Schatten einer ber- juntenen Vergangenheit zu fein.”

Ein jeder Kommentar zu diefen Worten dürfte überflüffig fein. R.

Der Beobachter

tot und Butter ipt fic) der Menſch niemals über, wohl aber Yederbiffen. Gleid:

wohl langt er jtets am eifrigjten nad) Lederbiffen. Sit er frant, jo bat er feinen Hunger mehr nad) fhlihter Nahrung, fondern er bat nur „Selüjte“ nad) etwas „Bejon- derem”. Die flaren, runden Grundworte der Sprade wie Mann, Weib, Erde, Stern, Zorn, Liebe u. dgl. werden im Gebraud niemals abgenugt. Gleichwohl greifen die Menfden immer die neujten ,Prágungen” auf und maden fd damit widtig. Sit die Seele trant, jo mag fie die einfache, gewadhjene Sprache überhaupt nicht mehr ured ber langt nad) immer neuen „Prägungen“. (Es ift die Blütezeit der Feuilletoniften. Früher jagte man jdjlidjtiveg , Volt” gue Bezeihnung einer bejtimmten Art von natiirlier Oe: meinjchaft. Heute tut es das flare, runde Wort nidt mehr, man muß überall eine Volks⸗ gemeinſchaft“ daraus machen. Das Wort „Gemeinſchaft“ ift ein beſonderes Zeitgewücz. (Schulgemeinfhaft und meinſchaftsſchule, Erziehungsgemeinihaft und Gemiein ſchafts erziehung en nie eL und Gemeint Ñ A N eben uj. Merkwürdigerweiſe gibt es zur Volksgemeinſchaft noch, tel Gemeinjdaftsvolf. Auf und gründet es!) Mich

a

er” was ift aller aust Iliigelte Idealismus gegen diejes Stiid Leben! Bur Jlujtration des —— Geiſtes“; die Beilage des Vorwärts bringt ray! Thomas Bild mit der Unter] an j:

en Simpliciffimus viel belahte- š! Bende Satiren ſchrieb.“ Das ijt aljo für einen Parteimann bie Summe biejes e benó-

folder Demofrat war, wollte ex nichts von jener Profitoemotratie willen, bt bee

tung für die Beamteten des „neuen Ge tht.

: Sy" und wieder erhalte ich einen RO ie Brief: id) müßte einmal ein au

gegen Adolf Bartels jagen. Er wirke durd feine Judenrieherei pet" rie Wenn id) aud) die von Bartels betonte Bedeutung des Stammes- und BVoltstums T Br Dichtung anertenne, jo bin id) doch mit der Art und Weile, wie er dieje Maite pe per wendet, gewiß nicht einverjtanden. Gleichwohl werde ich mid) nicht über Bartel Z aud maden. Sd) habe eine Ahnung bon dem bittern Lebensfampfe diejes Mannes , ser feine Uebertreibungen haben ihre Gründe. Und wenn man weiß, daß er ein last Terer.

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unbejtechliher Menſch ijt, dann nimmt man aud) Herbes und mit in Kauf. Das Schimpfen über ihn beſocgen andre Leute hinreihend. Cin Beiſpiel von dem, was Adolf Bartels geboten wird, gibt ein Brief des auf die übliche Weije berühmt gemachten Dichters Johannes R. Becher, veröffentlicht in Bartels’ „Deutihem Schrift tum” Nr. 8. Die wüſteſten Stellen druden wir nidt ab, denm fie riechen unerträglich übel. Alfo nur einige „milde“ Stellen: ,Sid mit Yonen allerdings auch nur einige Minuten befaffen: das heißt og fogufagen zum Latrinen-Ausfehrer werden und in eine Stloafe abjteigen. Denn Sie gehören zweifellos zum Stanıme derer, denen zwiſchen ihren unjauberen Fingern nicht nur alles zerrinnt, jondern jofort zum “red wird oder u Faude.” „Was ift, fo frage ich mid, body die von Ihnen fo viel und fo drohnend laut eſchrieene iy re Q Schmach“ gegenüber Ihnen und Ihren Gefinnungsgenoffen?” „sch weif febr pay , daß diejer Brief und vielleicht bin ich ein Wohltäter einen Schlaganfall bewirken kann, daß er einem Anfpuden auf offener Straße gleichfommt, einem Steinwurf ins Gefidt, einem Arthieb mitten “u den Schädel, einem Attentat. Es ijt ja a nicht meine Abjicht, einen Verleumber zu beleidigen. Sie zu vernichten, das ijt mir für Sie q pathetiih. Ich wünſche nur und handle darnad), dag das Erxfrement, das mit Ihrem Namen verbunden ijt, möglichit bald und ohne daß weiterhin viel Aufhebens davon gemacht wird, einer abfrage von der Erde. „Das walte Gott.” Amen.“ Der Schluß des Schreibens ift in unfrer gewiß nicht gimperliden Zeitfchrift nicht wiederzu— geben. Johannes R. Becher ijt immerhin nicht blog ein namenlofes eraltiertes Student- lein. Man ärgert fid a über die Radaufprade mancher Antijemiten. Aber jchließlich: jolhe Bhilofemiten find jolche Antifemiten wert.

RU ein reizvolles Beijpiel für die Durchſchnittshöhe der von den Amerifanern jo ſtolz Y gepriefenen amerifanijhen Kultur madt Rudolf Euden in der Täglichen Rundihau aufmerfjam. Nad den „Times of to-day” vom 21. Mai itt in Amerifa eine Bronge- medaille zu Ehren der Striegsteilnehmer hergejtellt worden. Auf deren Ritdfeite entehren fih die Amerikaner durch Befdhimpfung des Gegners folgendermaßen: „Ihe great war for civilifation.” (Dee große Krieg für die Kultur.) Es folgen die Namen der Staaten, die fid) zufammentaten: „to coufh the Bode and to et Sun „Kultur“. (Um den Bode zu verſcheuchen und die hunnifche „Kultur“ aufzuhalten.) Als Deutjch- Amerikaner darüber beim Secretary of War (Sriegsminijter) der Edelmenſch Fa Sohn 99. Weeks Beſchwerde erhoben, ftredte er die tarierten langen amerifanijden Beine aus dem Slub- jejjel burd) die Stube hin und faute aus feinem Munde die Antivort hervor: die Inſchrift jet „no impropriety“ Unziemlichkeit). Verry pretty, isn't? Vielleicht ſchicken die Amerilaner einmal ihren Kriegsminiſter in eins von ihren vielen hervorragenden päda— gogiichen Jnitituten, in denen die Amerikaner befanntlid unfehlbar zu Prachtexemplaren der Deenjchheit herangezogen werden.

n den „nungen Menſchen“ leſen wir dieje Anzeige: „Für eine zu griindende Tages-

‚zeitung in größerer Stadt des bejegten Rheinlandes mit unabhängig-demoftatifcher, pagifijtijder Tendenz, die insbefondere auch die deutjch-franzöfifche Annäherung erjtreben toll, wird zum 1. Oftober oder jpater ein 1. politijder Redakteur geſucht. Derjelbe müßte -..-fih nachweislich bereits Zeit in der deutſchen Friedensbewegung betätigt haben. Es wird gutes Gehalt geboten, jpätere Gewinnbeteiligung und freie ungebundene Tätigkeit in freundihaftlihem Sollegentreife.” Die neuen Zeitungsgründer haben richtige Witterung, wenn fte fid) mit einer jolden Anzeige an unerfahrene junge Menfaden wenden. Erfahrene Leute werden nicht geneigt fein, für „gutes Schalt“ und ,,Ge- ivinnbeteiligung” das deutide Rechts- und Voltsbewußtjein im Rheinland mit unechtem Jdealismus zu narfotifieren. Dem Völferfrieden und der Verfóbnung würde in den be- jegten Gebieten viel befjer als durch eine Frangofengeitung damit gedient, dak man die WMiaroftaner wieder dahin entliege, wo fie zu Haufe kmo, ah man dem Schwindel beim franzöſiſchen Wiederaufbaugefchäft fteuerte uf. Bei der Gelegenheit: id) werde öfter nach meiner Meinung über die „Zungen Menſchen“ gefragt. Hier ift fie: Ich halte dtefe Beitidrift für die greulidjte Sompottiditffel der Jugendbewegung. Urſache diefer Er- Iheinung: Walter Hammer einer von den Literaten, die den Namen gewechjelt haben ift eine Schüffel, in die andere Leute ihren Sompott hineintun.

Pcie Berliner Vorortszeitungen, denen die Gunjt der Hausbejiger Goldes wert ijt, bradten folgenden Waſchzettel: „Am Sonntag hat Berlin Georg Haberlands jechzigiten Geburtstag gefeiert, des Mannes, dem die vor dem Ungliidstrieg jo groß Qez mordene Stadt einen guten Teil ihrer intenfiven und viel beftaunten bauliden Entwid- lungen zu danfen pat Von Eópenid bis Dahlem und vom Tempelhof bis Schöneberg und Wilmersdorf hat die Wirffamfeit diejes Städtebauers dem modernen Berlin un verganglide Spuren aufgedrüdt; und wenn nad Ausbruch des Krieges und in den ſchweren «abren, die dem blutigen Elementarercignis gefolgt find, die Tätigkeit Haber- lands eine gewiſſe Cinjdrantung, insbejondere auf das Siedlungsweſen, erfahren hat, jo zweifelt doch niemand, der feinen Glauber an deutiche Lebenskraft nicht ganz verloren hat, daran, bab Bayerifder tag, Viktoria-Luijen-Plag, Nüdesheimer Play oder Neu—

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tempelhof feinesmwegs die legten Wahrzeichen der Haberlandidjen Bautätigkeit bilden werden. Georg Haberland, nod) bis vor wenigen Jahren in Gemeinfdaft mit feinem von ihm hochverehrten Vater Salomon Haberland, dem Begründer der Berliniigen Bodengejellichaft (einer Tochtergejellichaft der Dresdner Bank, deren Auflichtsrat Kom— merzienrat Georg Haberland angehört), ift es gelungen, nicht nur für die fogenannte Bourgeoifie, jondern aud) für Deittel- und Arbeiterjtand Rn geihaffen zu haben, die wirklich, im praftiihen Sinne, mit jedem „Komfort der Neuzeit“ ausgejtattet find und die den guten Ruf der „modernen Berliner Wohnung“ nad) aller Welt getragen haben. Er hat feine großzügigen «Jdeen und Pläne im Kollegium der Stadtverordneten und im Zeltower Kreistag, im Zwedverband und in der Handelstammer, oft gegen ſcharfe Oppo: fitton, aber zumeijt verteidigen und ducchzuſetzen berjtanden; denn er it, ungeachtet feiner perjinliden Liebenswiirdigteit, aud) ein temperamentooller Politiker und ein fd) waya Debatter; und fein Wort ijt eine gute Klinge, vor der auch die Gegner Rejpett haben.” Gere Haberland, der Bodenfpetulant und Verteurer der Wohnungen „von Eöpenid bis Dahlem“ als Städtebauer und Wohltäter der Was wäre jelbjt die fettejte Dividende, wenn fie nicht auc) nod) ihren Homer fände? T.

a}: Heringsdorf fojtet im Hotel Atlantic ein Tag „volle“ Penfion 1000 ME Tie Sammlung für Oberfdlefien ergab in Heringsdorf 600 Mt. fehshundert Mart. In Smwinemünde ergab die Sammlung 1200 zwölfhundert Mart. Bn Zinnowig, das bez fanntlid) bei den Juden nicht beliebt und nur von Beamten und Mittelftand befudt ilt, war das Ergebnis 10000 Mark. Das Heringsdorfer Badepublitum ijt bekanntlich jo, dab re nidt Hingehn. Ausländer waren aljo die generöfen Heringsdorfer Gaite nidt

Sy Unrecht, das die Alten fo oft den Jungen angetan haben, üt, dag fie die Jugend nur als „Vorſtufe“ für das „Leben“ gelten liegen, wobei fie unter , Leben” nur die Intereffen des Alters verftanden, Schon das Sind wurde in_unfindlide Formen ge pceBt, um fid) „wechtgeiti zu „gewöhnen”. (Oft war Kor die Kinderkleidung nichts als eine verkleinerte Erwachſenenkleidung, yt Ahnung für findlide Körper und findlide Seelen guredhigefdneidert.) Heut madt es die Jugend genau umgetebrt: fie läßt nur die „Jugendlichkeit“ gelten und fieht im Alter nichts als Entartung und Ver- greilung. Aber allein ber Sal geziemt Gugendlidfeit dem Manne geziemt Männ- tchfeit, dem reife geziemt Weisheit. Unter der Theorie bon der alleinjeligmachenden „sugendlichfeit“, die von der Jugendbewegung aufgebradht wurde, bemühen fich nun mande Männer jonderlich die, welche rieden, daß „da etwas zu maden ijt’ fid) redt swanzigjährig zu benehmen. ES ift ein erbarmlider Anblid, Männer endlos in Bolte tangen berumbopjen, in Ausſprachen fid) jugendlid gebärden zu jehn. Ein jugend- mäßig auftretender Mann üt ebenjo unerfreulich wie ein altluges Kind. (Man lafle Hd durd den Doppelfinn des Wortes „jugendlich“, das mandmal einfach für „friſch“ oder „krä ig gebraucht wird, nicht täufhen.) Wann wird man ausgeglichen genug fein, um jedem Alter feinen Cigenwert und jeinen Lebensfreis und Lebensitil zuzugejtehen ? Die 3 end treibe Jugendlides, der Mann Männliches! Die Stantsgeichäfte find ihrem 3 * nach “w lr des mannliden Alters. Jugend bringt den Staat U Ichweifende Unruhe. ceijenalter macht den Staat hart und drüdend Das Peanmes- alter aber hat das rechte Gefühl für Staatliches. Der Mann aber adte das Recht be Jugend und adte die Weisheit des Greifenalters. Co allein geht es gut voran.

Zwieſprache

Sites Heft erſcheint, da id) durd) andere Dinge in Anfprud) genommen war, ein wenig {pater als üblich. Wir renfen es anne wieder ein. : 4!

Der Leitaufjag über die Entſcheidungsſtunde für unſer Bauerntum ijt die Ein Leitun des Vortrages, den ich beinahe in der Nordifden Mode in Liibed gehalten hätte. Als id erfuhr, daß id) als dritter an einem Vormittag und hodjtens eine halbe Stunde lang iprechen follte, wollte ic) an einem folden eiligen Vortragsbetrieb nit mitjchuldig zer und verzichtete. Nun will id) die allgemeinen Ausführungen der Einleitung wer ĩ gſten⸗ Hier an die Oeffentlichkeit geben, da mir an dieſer Problemſtellung ſehr viel liegt _

Ueber Steiners „Dreigliederung“ habe id) fein eigenes Urteil, da ich mur SEC” „Kernpunkte“ und einige Auffage der —— aos fenne. Goviel ick I" muß man zum redten Verjtandnis der Dreigliederung in die Anthropofophie einge derungen fein, und zum red ten Verftändnis der Anthropojophie wiederum mu man Sachen lejen, die nur engeren Kreifen zugänglich find. Sd kann mid) in meinen 09, ba ich anfangen muß, mit meiner Zeit zu geizen, um nod) einiges gujtande zu bx angel, nieht entidliefen, eine Leiter zu bejteigen, deren Ende mein Auge nicht erreichen Mann. 342

Ich bin überhaupt le gegen Leitern, die oben in den Wolfen verihiwinden. Dazu fommt zweitens, was mehrfach mit Recht gejagt worden ijt, bab Steiner fein gutes Dentjd) ſchreibt und einem dadurch die Sache ſchwierigec als nötig madt. Drittens habe ich be- merit, daß jeder, der Stritif an Steinerjden Gedanken zu üben wagt, von diejen oder jenen Anhängern des Meifters als Heudler und Lügner behandelt wird. Ich habe es einmal als Redakteur erlebt, daß ein gelegentlider Mitarbeiter, der befcheidene Vorbehalte gegen Steiner zu maden gewagt hatte, bei der Redaktion in der gemeinjten Weiſe perfonlid) verleumdet wurde. Man [deut fic), in ein Gebäude zu treten, defjen Tor bon einer fana- tifierten Slide bewadt wird. Das trifft nicht Steiner, aber er könnte feine Anhänger moralifd) etwas mehr in Zucht nehmen. Ich möchte das einmal deutlich jagen. In Reinhold Plands Aufjag fceint mir der Hinweis auf den Zufammenhang Steiners mit den Gedanten des ſchwäbiſchen Philojophen Sarl Planck und die daran ſchließende Kritit jadlid) wertvoll genug, um dafür eine Anzahl erregter Zufchriften und Anſchuldi— gungen uber mich ergehen zu lajjen. Wir werden uns übrigens mit der Steinerjchen reigliederung et noch weiter e ales da --

der ve fer, dec uns auf unfern Wunſch über die Gottesdienftformen junger Menjden gejhrieben hat, nicht genannt jein will, wird man ehren. m Anflug an jeine Ausführungen möchte id) wieder auf Hans Harmjens jungdeutihes Gejangbud) „Seiftlich Lied“ zurüdtommen. Sein Erjcheinen ift nun gefihert. R. Voigtlánders Verlag in Leipzig bringt es heraus. Preis hodjtens 8 Warf. Das ijt nur durch befondere Ver- günfti ungen und fiderlid) nur für die exite Auflage moglid. Ich empfehle rafde Vor- aus! ehellung butd) da3 Arbeitsamt der Fichtegejellichaft. Harmjens Arbeit ijt in doppelter Weife erfreulid): in der ar die ganz jugendlich ift, und in der Sorgfalt für die Texte und Melodien. Diejes Buch, das auger Kirchenliedern auch fromme Volts: und Kinderlieder enthält, tónnte das Gefangbud für Qugendgottesdien|te werden. Die Lieder find in folgende Abjchnitte eingeteilt: Sonnenheimat. Gott Vater. Gott mit uns. Beten. Frieden. ndweben. Weihnadt. Maria. Kyrie eleifon. Lobgefang.

Emil Nolde und Arthur Jllies find ſchon einmal in unfrer Zeitihrift gewürdigt worden (März 1919, April 1920). Wenn wir diesmal einen Aufjag über die beiden Schleswig-Hollteiner und Bilder von beiden bringen, fo tun wir es nicht, um Ver— gleiche anzuregen. Jeder von ihnen ift ein Kerl für fic), in feinen Starfen und Be- dingtheiten. Wir bedauern nur, daß wir die Gemälde (Noldes Illies' Ster- benden Siegfried) nicht farbig wiedergeben können, aber auch ein Heiner Vierfarbendruck mürde das nn nur ahnen Co und jo viele Lejer werden wir wijjen es unzufrieden jein, daß wir „jowas überhaupt bringen“. Es hilft ihnen abec nichts: dieje Grablegung it e3 wert, daß man fid) ernithaft um fie bemüht. Vielleicht betradtet man, um fid) einzujtellen, vorher Noldes Holzſchnitt „Knecht“. Wie ift da in ziwingender Weife der Typus Knecht gelungen! Die Stirn, der Blid, das Kinn, jede Linie jagt: Knecht. (Es ijt eine vollendete Darjtellung des Eindruds „Knecht“. find lies’ Bilder. Sein eindringlider Prophet feffelt [don auf den erften Blid. Sein fterbender Siegfried ijt freilich taum aus einer Wiedergabe zu verjtehn: man muß den grünen Rafen mit den roten Blumen, das rote Blut, den braunen Körper ſehn. Unvergeßlich pragt See fterbende Antlig ein, die bredjenden Augen, die im Schmerz und Zorn fletihende Oberlippe. ziehen über den aa a: die Wolfen hin, angeleuchtet von bren: nenden, bredenden Bäumen, gefpenjtijd bliden aus den Wolfen drohende und bredende Augen. Nur in der Mitte auf Goldgrund ein Blid in friedliches Land. Es ift der neuefte „lieg, der Künftler geht hier auf der mit dem „Abendmahl“ eingejchlagenen Bahn weiter.

Nun haben toir einige Bücher anzuzeigen. Von Walther Claffens „Werden des deutichen Voltes” find bisher fünf Bändchen erjdienen. Sie find jest in einen jtacten Band gebunden zu haben (56 Mart). Damit liegt der erjte der que Bände diefer Volfs- gefdhidte fertig vor. Er reicht bon der Steinzeit bis zum Ende der Hohenftaufer., Es ift unter allen voltstümlichen —— die innerlich ſelbſtändigſte. Claſſen hat ſich den Stoff aufgrund eigener Ideen erarbeitet und geſtaltet ihn ungewohnt neu. Daher lernt man vieles von ihm, was man in andern Geſchichtsbüchern nicht findet. Dazu fommt, daß Elafjen ein Bollspädagoge ift, der weiß, was das Volt innerlic, braudt.

Die „Schriften der Fichtegefellichaft” haben zu erjheinen begonnen. Die erjte Reihe erjcheint unter dem Titel „Deutjcher Geift” im Verlag von R. Voigtländer in Leipsig.

erausgeber ift der bekannte Leipziger 6 e, Prof. Dr. Felix Krüger. Heft 1: Dr. Bruno old Í eutſche Kultur. Mit 12 Bildtafeln. Geb. 6, fart. 7 MI. Heft 2: Prof. Dr. e

3. Rörig, chidtsbetradtung und deutſche Bildung. Geh. 4, fart. 5 Mi. Heft 3: Dr. Alfred Sent. Beethoven. Geh. 4, fart. 5 ME. Seh 4: Dr. Bruno Golz, Wagner und

Wolfram. Eine Sritit des Parzival. Geh. 4, geb. 5 Mt. Ueber das Beethovenbiiblein wage id nicht zu urteilen, da id) fein Mufiftundiger bin. Die beiden Büchlein von Gols haben mid) aufs ftärkfte gefejjelt. In angenehmer, geijtvoller Form werden uns jehr nad): denfenswerte enti übermittelt. Der Vortrag Rörigs hat feinen befonderen Wert durd) das ausgeführte Beifpiel von den Deutfchbalten. = Eine andere Reihe ericheint unter dem Titel „Deutiche Pe in der Hanfeatijden Verlagsanjtalt. Herausgeber ijt Frank Glagel. Das erjte Heft ijt die Neu-Ausgabe von

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Dr. Hans Gerbers Schrift „Ueber die Jugendbemegung. Gedanken für folde, die fie fennenlernen möchten.“ Geh. 4 Mt.

Ferner fet Hier hingewieſen auf die neue feine Zeitjchrift des Vereins Deutihe Bühne, die unter dem Namen des Vereins feit Auguft erjdetnt, aud) in der ig Verlags: anjtalt. Den fünftlerifchen Teil beforgt unfer Mitredakteur Dr. Benninghoff. Die Zeit Ichrift tommt jehsmal tm Jahr und foltet nur 5 ME. Sie bringt auger den Ankündigungen des Vereins Aufjäge über Dramen und Muſikwerke. Befonders hinweiſen möchte ich auf die Auffage Benninghoffs über Kleift, über die Hermannsſchlacht (im 1. Heft) und über den gerbrodjenen Krug (im 2. Heft). B

Damit find mir für diesmal mit den Ankündigungen zu Ende. Nun ein paar Brud: fehler. Jm vorigen Heft war die legte Korrektur durch ein Mikverjtändnis nicht mehr be: riidfidtigt worden. Van leje Seite 276, Zeile 12 p. u. Nie-Ergreifen ftatt Niedergreifen. €. 291, 3. 7 b. u. ungebundener ftatt gebundene, ©. 311, 3. 27 b. o. Zeichnungen ftatt Zeitungen. «Jn die drei offenen Stellen für die Seitenzahlen auf S. 311 find nadyeinander ten , 272, 285. Syn dem Bücherbrief über das Auslandsdeutihtum im Juli en! ijt qu beridtigen: ©. 217, 3. 23 v. o. Boffe jtatt Botte, 3. 25 Belſerſche jtatt Belteriche, 3. 27 Bohfen jtatt ROTEN ©. 218 3. 9. b. u. Schulvereins jtatt Sdhilervereins.

Von den beiden folgenden Stüden aus Gottfried Keller ftammt das erfte aus dem vierten Band des Grünen Heinrich, vierzehntes Kapitel; die Verje habe id dem Gedicht „Der öffentliche Verleumber” entnommen. Wer es ganz lefen will, findet es im erjten Band der Gefammelten Gedichte in dem Abſchnitt „Bandora”. Die kräftigen Reime find für heute gejchrieben. Leider hat Gottfried Seller, der fic) als ein rechter Demofrat mit der Demofratie ausfannte, das deutiche Vol? vergeblich gewarnt. St.

Stimmen der Meijter,

Daß große Mehrheiten von einem einzigen Menſchen vergiftet und verdorben werden können und zum Danke dafür wieder ehrliche Cingelleute vergiften und verderben, daß eine Mehrheit, die einmal angelogen, fortfahren kann, angelogen werden zu tollen, und immer neue Lügner auf den Schild hebt, als wäre fie nur ein einziger bewußter und entichlofjener Böſewicht, daß endlich aud das Erwachen des Bürgers und Bauers- mannes aus einem Mehrheitsirrtum, durch den er fid) felbjt beraubt hat, nicht fo rofig il, wenn er in feinem Schaden dajtebt, das alles bedachte und fannte id) nicht. Aus dunkler Höhle fährt Gehüllt in Niedertradht Ein Schäder, um zu ſchweifen, Gleichwie in einer Wolfe, Nad Beuteln möcht’ er greifen Cin Lügner vor dem Volte, Und findet bejjern Wert: Ragt bald er groß an Madt Er findet einen Streit Mit Kine: Selfer Zahl, Um nichts, ein irres Willen, Die hod und niedrig ftebend, Ein Banner, das zerriffen, Gelegenbeit erfpábeno, Ein Volt in Blödigfeit. Sid) bieten feiner Wahl. Er findet, wo er gebt, Sie teilen aus [ein Wort, Die Leere dürft'ger Zeiten, Wie cinft die Gottesboten Da kann er ſchamlos ftreiten, Getan mit den fünf Broten, Nun wird er ein Prophet; Das fledet fort und fort!

Auf einen Kehrricht ftellt Er feine Schelmenfüße Und ziſchelt feine Grüße Jn die verblüffte Welt.

Erjt log allein der Hund,

Nun lügen ihrer taufend;

Und wie ein Strom erbranisud, So wuchert jest fein Pfund.

Hod) liek empor die Saat,

Verwandelt jind die Lande,

Die Menge lebt in Schande

Und lacht der Schofeltat!

Jetzt hat fic) auch erwahrt,

Was erftlid) war erfunden:

Die Guten find verſchwunden,

Die Schledhten ftehn geſchart! Gottfried Keller.

Deutihen Golfstums, Für unverlangte Cinfendungen wird felue Detant- wortung übernommen. Derla gund Deucd: Hanfeatifwhe Berlagsanftalt Aktiengejellfhaft, Hamburg DBesugepreis: Vierteljährlih 9 Mart, Einzelheft 3,75 Mart., für bas Ausland ber doppelte Detras. Dots hettonto: Hamburg 15475.

Nah dru ber Beiträge mit genauer Quellenangabe ift von der Schriftleituns aus erlanbt, unbeſ chadet der Neote des Berfafjers.

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Herausgeber: Dr. Wilhelm Stapel. (Sic den Önhalt verantwortlid). Sant Dr. £nb- wig aningbhoff. Zufchriften und Cinfenbungen find zu riften an Heiftieiturg des

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Aus dem Deutfhen Volfstum Emil Nolde, Knedt

[Par [hamburg] eft 1] [Beutfdes Dolkerum |

Deutfches Dolkstum

Monatgfchrift für das deutfche Beiftesleben Herausgeber Wilhelm Stapel

Inhalt:

Dr. Karl Bernhard Ritter, Totengedúd]tnisfeier eseseseseses Edmund Tleuendorff, Die Zerfplitterung der nationalen Jugend es Chriftian Boeck, Cigenleben der Literatur eseseseseseseses franz Heyden, Schöpfung und Seftaltung in deutfcher Lyrik. 3. Klop- ftock, Die frühen Griber eseseseseseseseseseseseseses Georg Kleibömer, Dramen nbfeits der großen Bühne, 2. eseses

Kleine Beiträge: Dr. Wilhelm Stapel, Ruhige Erwägungen in der aufgeregten Zeit, 4.5. / Karl Peter, Kultur- Senfation / Dr. Gottfried fittbogen, Die Bildungsbewegung in Siebenbürgen / Dr. Hermann Unger, Die Kammermufik im Dienfte der Dolksbildung / Dr. Wilhelm Stapel, Bücher für unfern Kreis / Dr. Ludwig Benninghoff, Midjael Kohlhaas / Ridjard Braungart, Alois Kolbeseseseseseseses

Der Beobadter: Schwarz-weiß-rot oder [hwarz-rot-gold / Wie man politifd; agitiert / Albzeichenreizung / Cin Flugblatt des Zentral- vereins deutfcher Stantsbürger jüdifchyen Glaubens / Der gewalt- tätige Kerr / Kleifts Amphitryon / Das Troftlofe / Die Waffen.

Bilderbeilngen: Alois Kolb, Wanderer und Tod (zweifeitig) / Herenweg / Zu „Michael Kohlhans” / Zum „Erdbeben in Chile”

Franfentijche Derlagsanftalt, Hamburg

Preis viertelj. 9 Mark Einzelheft 5. 5 Mark Tlopember 792]

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Das WMerdendesdeutjchenDolkes E

von Walther Claffen Erfter Band: Inhalt: Raffen und Vólter Von der Steinzeit bis zur Sermanns- ſchlacht Die Germanen und das Chriftentum Wie der deutfche Often ent- ftanden ift Die deutfchen DolFePónige als Raifer Perfonen und Gachregifter.

Über 560 Seiten, dauerhaft í

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n Salbleinen gebunden Wark 56.—

yine Tat bedeutet diefer erfte Band. Befdyeiden, nad und nad in 5 Heften berausgebracht, zeigt die Vereinigung diefer Arbeiten, weld) ungeheure Leiftung Claffen volloracht hat. Der erfte Stod des großen, berrlihen Bebäudes der deutſchen Gefdhichte ift feft und fiher bingeftelle. Don einem Manne durdyforfd)t, innerli verarbeitet und dann mit Serzenswärme ge: fhildert, der wohl feinen eignen Weg gebt, aber dabei ftets an das Banze dente, in und mic ihm lebt, erfteht vor unferen Augen lebendig und über- jeugend das erfte Stud dDeutfher Geſchichte. Wir erleben, wie aus dem Urzuftand fid Samilie, Stamm, Gemeinde, DolE berausbilden. . ... - - -

„Der Stil ift glänzend. Wenn erft folde Bhcer wieder Kingang fánden, würde Das deutiche Dolf eber wieder zur Befinnung fommen.” (Ullgem. Evang.-Lutb. Rirdenzeitung, Dezember 1920).

„Überall binter den f&lichten Worten merft man den Renner der Quellen und Probleme.” (Dergangen. beitund Gegenwart ]92].) e

„Meifterlich und pactend geſchaut und geftaltet. So muß „Geſchichte“ er Abit den.“ (MT evang. Religions -Unterridt, De3.20) , A A A f „Sier begrüßen wir eine voltstimlide, Dod auf guten Quellen berubende Darftellung, in der die Vorgänge richtiger als Wert u. Wachstum des Volles,denn als Unternebmung der Süriten a ‘abe und erzäpl 1.“ (Padagogifdhe Urbeitsgemeinfhaft, Ofrober 1920.) al wisefab u ar „Un feinen farbenfroben, anſchaulichen Bildern, die, obwohl dichterifch intuitiv erfaßt, do ° icht · lichen Wabrbeit kaum je abweichen, Fann jeder feine helle Freude baben.” ( Sn re der Wefer-jeitung, Juni J921.)

Anfang Dezember 192] gelangt zur Ausgabe:

Das bürgerliche Mittelalter

von Walther Claffen

Aus dem Inbalt: Der deutfche Staat I254—1439 Das Bürgertum

(Die Sanfa, Städtifche Demofratie und die Sürften, Die Borhif) Der deutſche

Staat am u des hoben Mittelalters (Das neue Militármefen; Mip- lungene Reichsreform; An den Öftgrenzen des Reiches).

Über JOO Seiten, Preis 12.— Mark zuzügl. Teuerungszuſchl. TIIIIITIIIIWUITWTITITTITITITITITHTTTHITHTTWTWHTTITTITIHTITIITITITIITIITIITITTTIITITITITITITITITITITITTITITITITITTITTTTTITITITITTTTTTTTITITTTI

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„In Claffen vereint fid der Rúnftler mit dem Siftoriker, um ein böchft lebensvolles Gemälde der Seſchibte FE des Deuticen Doles zu geftalten. Left die Bücher und ſchenkt fie euren Söhnen !” (Schlefifbe jerrung) E

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Totengedärhtnisfeier. 1

Finem der mit dabei war in der großen, todbereiten Kameradſchaft der Front,

wurde dieſe Erkenntnis: Ein Volk ändert ſich nicht durch den Rauſch begei—

ſterter Tage, ein Volk ändert ſich nur durch Leiden. Dieſe Erkenntnis ließ ihn den Sinn des Opfers ahnen, dem dieſe Stunde geweiht iſt.

Wozu unſere Feier? Damit wir teilhaben am großen Opfer der Brüder und ſein Segen über uns komme, ſeine Frucht uns Heil bringe.

Die Toten reden heute zu uns. Sie warten und ſie bitten. Daß wir uns zuſammenfinden möchten mit ihnen in heiliger Leidensgemeinſchaft. Daß wir an dieſem Opferaltar, auf dem fie ſelbſt, ein heiliger Frühling, verbluteten, in Ehr- Furcht, Andacht, in reinigender Scheu begraben, was uns trennt und Volt werden.

Ein Volt ändert fid) nicht durch den Raufd) begeifterter Tage, ein Volk ändert fid) nur durd Leiden. Aber find wir denn ein leidendes Volt find mir nicht immer nod im Rauſch? Nur dak der Raufd der Begeifterung fic) wandelte in den Raufch der Exbitterung, der Verzweiflung, der Wut? Lernten wir e8 fdjon, find wir jchon fähig, mit ihnen zu leiden, den Toten, uns zu finden als Leidens- brüder in deutfcher Schidfalsgemeinihaft? Ft nicht allzuvielen auch unter uns das deutfche Leben feit 1918 finnlos geworden, jodaß fie nur mehr ihr eigenes tleines Leben fennen?

„as hilfe es dem Menfchen, fo er die ganze Welt gewönne und verlore fid) felbjt?” Das war die große Schidjalsfrage an unfer Volt und fie ift uns zum Gericht geworden und uns fagen die Toten: Habt ihr euch opfernd twiedergefunden? Haben twir auch nur angefangen zu leben getreu unferem eigenften Wefen, gehorfam Der deutſchen Bejtimmung, die Gott uns in die Seele legte?

Gie ftarben für ung. Brennt uns das auf der Seele? Sie wollen nicht um- fonjt gefallen fein. Sie wollen leben leben durch uns. Ihr Opfer ift der An- fang des großen Leidens, das uns wandeln fol, wandeln zu uns felbft zurüd, zur Freiheit.

„Du warſt am größten, da du zerfchlagen lagft”. Dies Wort von Deutfchlands vergangenen Tagen gejagt, ein Zeugnis über die Größe der Väter, eS muß wieder wahr werden! Warum am größten in der Stunde der Not? Weil Deutfchland in diefer Stunde nicht zerbrad), fondern die Not in fic) nahm und in feinem Herzen umwandelte in fieghafte Kraft der Auferjtehung. Weil Deutfchland in folder Not fic) fand zu fid) felbft. Laßt uns Ja fagen zu unferer Not mit dem Ja des Ueber- winders, wie fie eS taten, die das heilige Ja des Opfers und der Hingabe lebten und ftarben. Damit aus diefer Feier des Todes die Feier unferer Auferstehung werde. Die heilige Saat fordert heilige Ernte.

2.

Aber bleibt nicht auch fo wehe Frage und fchmerzliches Ratfel? Warum muß Denn das Leben aus Leiden geboren werden? Warum muß der Weg dur Nacht und Grauen führen? Warum braucht es dies Meer der Tränen und das Blut der Edelſten und Beften?

Wir jpüren, daß das alles nicht fo fein follte und dürfte. Dak die tieffte Schn-

345

fucht unferes Herzens dagegen anfchreit. Die Frage nad) der Menſchheitsſchuld vichtet fich auf. Die tragische Not der Verftridung von Schuld und Leid. „Ihr laßt den Armen fchuldig werden, dann überlaßt ihr ihn der Pein!” Warum ihr Götter, warum du Schidfal? Das ijt doch das Innerſte unfves Schmerzes, dieje Dunkelheit, daß wir daftehen vor der Grenze alles Begreifens, vor dem Unbegreif- Lichen, dem Nichtfeinfollenden, der Sünde.

Und in diefer innerften Tiefe des Schmerzes und der Rätfel erhebt fich die Frage nad) Gott. Nad) einer legten Einheit des Lebens, nach einer UÚeber- tvindung des tragifchen Widerſpruchs. Fallt denn fonft die Welt nicht auseinander in Bitterfeit, bleibt uns nicht nur der Spott des Verziveifelnden oder der Traum des Toren?

Die Frage nad Gott! Denn das nennen mir dod) Gott, das foll uns doch Gott fein, die lepte Löfung, die Möglichkeit eines Dennoch, der Sieg des Lebens über den Tod und aller Widerfpruch!

Du Jagft vieleicht: Iſt Gott nicht da, mo die Dunkelheit verfhmwindet, das Leid verfiegt, die Schuld nicht ift? Und fo mare Gott nicht alles in allem, wäre eine Hoffnung nur, ein Fenfeits diefes Lebens mit feiner Dual? Und hätten fie alfo recht, die Parzen, mit ihrem Lied?

Sie aber fie bleiben

Qn ewigen Feften

An goldenen Tifchen.

Aus Schlünden der Tiefe Dampft ihnen der Atem Erftidter Titanen

Gleich Opfergeriichen Ein leichtes Gewölk.

3

Unzählige dunkle Kreuze ftehen in fernen Lander. Und alle ftehen heute vor unferer Seele. Gn der weiten Ebene Polens, in rufjifchen Sitmpfen, in den Albanerbergen und hod) im Karft und Schneegebirge, am Nordfeeftrand und auf den Hügelfetten Frankreichs. Unzählige dunfle Kreuze. Aber über ihnen allen ftebt das eine, große leuchtende. Daran hängt der Göttliche. Und um ihn leuchtet Klarheit. Da tiindet fich Ueberivindung des Widerfpruchs an. Das Kreuz ftrablt. Gott leidet den Tod in Liebe. Er liebt diefe dem Tod verfallene Welt. Er liebt den Sünder. Er offenbart fein Lettes und Innerſtes, fein Höchftes am Kreuz. Da funfelt aus der Tiefe der Nacht ein Sinn: Liebe.

Wir ahnen das fühne Geheimnis: Gott fchafft die leidende Welt aus Liebe. Bur Offenbarung feines Wefens. Um fein Innerſtes zu enthüllen. Er bleibt nicht bei fich felbjt in unmirklihem Glanz. Er ift Liebe. Und darum drängt er zur Wirklichkeit, wirft diefe Welt aus fich heraus, läßt fie leben, leiden, fterben. Schafft fich feinen eigenen Gegenwurf, wie Jatob Böhme e3 grübelnd nennt, um ihn wieder liebend an fein Herz ziehen zu fonnen. Das Licht fcheint in der Finfternis. Wir ahnen und ftammeln: Liebe und Leben ift dasfelbe in Gott. Liebe tt Vereinigung mit dem Getrennten. Der Sinn des Lebens aller Welten: Fliehen und fich mieder- finden in der Liebe. Liebe ift nicht fonder Leide. Im Leid entratfelt die Welt ihren göttlichen Sinn.

So loft fic uns der Widerfpruch, der ung quálte. Gott ift Tiebendes Gein, das fic) im Werden erfüllt. Und wenn tir jet leiden, fo tft es Verheikung eines fchöneren Lebens, eines reicheren Seins. Aller Tod wird Geburt. Sie, die fielen, find nicht vergebliche Opfer. Sie fielen al3 die frühen Boten eines aufgehenden Tage. Denn das nur ift das Leiden feinem Wefen nach: der Widerftand der alten Welt, einer zerriffenen, fterbenden, öden, erfalteten Welt gegen das Werden gótt- licher Wirklichkeit. Leiden ift das Feuer, in dem die ftarren, auseinanderfallenden

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Zeile ſchmelzen, um aufzuerftehen in einer neuen, wahren Einheit des Lebens und der Liebe. Damit Gott leben Tann, muß der Tod Tod fein und das Nichtige Der Vernidtung anheimgegeben werden. Gegrüßt feieft du uns, fehmerzlicher Läuter- brand, denn deine Flanımenzeichen find die Morgenröte des neuen deutfchen Tages!

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Der aber, der dem neuen Tag zugehört, in dem fich regt, was da kommen foll, er leidet am ſtärkſten. Er fteht an der Front. Da wo der Sieg erfochten werden mug. Wo davum das ganze Leben gefordert wird und die ganze Hingabe. Wo die dem Untergang beftimmte Welt fich am ärgften regt und wehrt. Schlugen fie ihn nicht darum ang Kreuz, weil in ihm die Zutunft Gottes war? Jn uns, Freunde, in uns Deutfden, im Herzvolk Europas, will heute der Gottesgeift Wirk- lichfeit werden. Wehe dem, der unter uns nicht leidet und opfert. Er hat den Ruf des Geiftes nicht vernommen und hat nicht Teil an dem Leben, das fchmerzvoll Gottes Reich gebären joll.

Noch Stehen mir wartend und verlangend in der Dämmerung der Frühe. Nod) ging die Sonne ung nicht auf. Nod ift unfere Freiheit nur Hoffnung. Nod) fragen wir auf einem Feld voll Trümmern und vol Erfchlagener und gtöhnen:

Wann fteigt hinauf der Tag aus fahlem Traum?

Wir träumen Schmerz um Schmerz und Schlaf heißt diefer Raunt. Doch unfere Träne, die fic) Heiß ins Auge brennt,

Wird bald Kriftall des Lachens fein,

Wenn das zerbiffene Herz den Trug der Nacht erkennt!

Bon ihnen aber, die vor uns gingen in diefem Kampf, foll uns das Wort gelten, ba8 der Vollender deutichen Denkens über die Großen der Geſchichte ge- iprochen Dat:

„Sie find infofern Heroen zu nennen, als fie ihre Swede und ihren Beruf nicht bloß aus dem ruhigen, durch das beftehende Syſtem geheiligten Lauf der Dinge geſchöpft haben, fondern aus einer Quelle, deren Inhalt verborgen und nicht zu einem gegenwärtigen Dafein gediehen ift, aus dem inneren Geift, der nod) untericdifd) ift, der an die Außenivelt wie an die Schale pocht und fie fprengt, weil e3 ein anderer Kern, als der Kern diefer Schale ift.“

Datum nur konnten fie fingend fd hintverfen in den Tod. Darum ftarben fie voll Heiliger Sorglofigteit und heldifcher Getwißheit. Weil fte ftarben für das Deutfch- land ihres Glaubens und ihrer Liebe. Für das Deutfchland der Zukunft. Das da kommen foll, an da3 wir mit ihnen glauben und das in unferem Glauben wächſt und wird. Darum par ihr Opfer nicht vergeblih. Wir gehen mit zum aleichen Kampf im gleichen Tritt, diefem Deutfchland entgegen. Go find wir ver- bunden, Kameraden im Leben und im Sterben, durch ein heiliges Band. Sie ftarben. Und fiche, fie leben ung. Amen. Karl Bernhard Ritter.

Die Jerfplitterung der nationalen (Jugend.

m Spatjommer diefes abres, faft um diefelbe Zeit, hat in Bielefeld die foztaliftifche, in Nitrnberg die im Deutfchnationalen Jugendbund zuſammen— gejchlofjene nationale Jugend getagt. In Bielefeld waren zehntaufend, in Nürn- berg etwa zweitaufend Jugendliche verfammelt. Beide Tagungen waren angefüllt mit inneren Kämpfen. Auf beiden Tagungen traten ſcharf zwei Richtungen einander gegenüber: die eine, die nichts als Jugendbemegung, hier fozialiftifche, dort nationale fein, Die andere, welche die großen Ziele der fozialiftifchen oder der nationalen Bez twegung überhaupt zu ihrem Inhalt machen und für fie mitfämpfen wollten. Die Bielefelder Tagung endete harmonifch in großer Begeifterung: man beſchloß Jugend» beivegung und Arbeiterbetvegung zugleich zu fein und damit als Parteijugend im Rahmen der fozialdemofratifchen Partei zu bleiben. Der Nitenberger Tag endete

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mit einem Mißklang: beide Richtungen trennten fih für immer. Wieder einmal hat e3 die bürgerliche Jugendbemegung mitten in einer verheifungsvollen Ent: wicklung dahin gebvacht, bak fie die von ihr gefchaffenen Organifationsformen jelbit gerftort. Wie nun fchon fo oft. Liegt es in ihrem Mejen, daß es fo: jein mu?

Dabei erhebt fid) die Frage nad) dem Wefen der modernen Jugendbewegung überhaupt. Wer wiffen will, worin es befteht, foll eines gewiß nicht tun: die Jugend felbft nad) ihm fragen. Go fehr fick) einige intelleftualiftijd gerichtete jugendliche Führer, die aber eben darum im Grunde gar feine Führer waren, bemithten, den Inhalt der Bewegung verjtandesmäßig feftzulegen, jo wenig ijt es ihnen gelungen. Wie alle großen Bewegungen, ift auch die Gugendbewegung nicht durch den Verftand gemacht worden, fondern aus Ideen evwachfen. Ideen aber tourzeln immer im Unbewußten. Hätte jemand 1517 Luther gejagt, daß er mit feinen Thefen den Grundftein zum Bau einer neuen großen Kirche legte, er hätte ihn ausgeladt. Alles Wefentliche in der Welt, was „an fich” ijt, ob es Ideen oder Dinge darjtellt, fommt aus dem Ahnen und Glauben, dem Inſtinkthaften und Unbewußten. Niemand kann über Sant hinaus. Was vor ihm der größte der vationaliftiihen Denker, Leibniz, gefagt hat, als er die Nangordnung der Seelen darnadPbeftimmte, ob fie tritbem Glasfluffe oder Harem Srijtalle glichen, ift ebenfo fall), wie wenn der größte der idealiftifden Philofophen, Fichte, gegen das „Meinen“ zu Felde zieht und erklärt: „Der wahrhaftige und vollfommene Menſch foll durchaus in fich felber tlar fein.” Die großen Männer der Tat, die jchöpferifchen Menfchen, find fich im Augenblide des Schaffens felten, darnad) feinesiveg3 immer defjen flar bewußt geivejen, twas fie gefdaffen und warum und wozu fie es ge- fchaffen haben. Wenn Profeffor Radbruch in der Feitfchrift zur Bielefelder Yung- fozialijtentagung fehreibt: „Sit Leben Bewußtheit, fo tt höchſte Bewußtheit Höchites Leben. Das Unbewufte ut fiir die Seele, was das Fett für den Körper ift: es macht bumpf und ſchwer, ſchwerfällig und fchwermütig, es ift tote Maffe, mit der das Leben belaftet ijt’, fo gibt er damit jenem platten Nationalismus Ausdrud, der in Wahrheit die tieffte Quelle unferes nationalen Unglüds von heute geworden ift und den verfälfchten Begriff von Bildung gefhaffen hat.

Durd) die berühmte „Meiner- Formel“ hat die Jugend einmal felbft verfucht, das Weſen ihrer Bewegung zu bejtimmen. (ES ift doch nur halb gelumgen. Ws ihr Wefen gab fie Wahrhaftigkeit und den Willen zur Selbjtverantiwortung an. Was Wahrhaftigkeit meint, ift durch fich felbft far. Unter dem Willen zur Selbit- verantivortung berftand die Jugend den Willen, nicht fritiflos die von dem älteren Gefchlecht überfommenen Wege zu wandeln, nicht fic) von Schule und Elternhaus in fefte Formen und Formeln, Gewohnheiten, Moden, Gefchledhtsfitten, Dogmen und Parteifchemata preffen zu laffen, fondern fic) ihre Wege felbjt zu juchen. Wahrhaftigkeit und Selbftverantwortung es ift viel. Aber es ift fchlieglich auch nicht3 anderes, al3 toas die wertvolle Jugend aller Zeiten erftrebt hat und too-= durd) immer wieder aufs neue die Spanmungen zwiſchen Vätern und Söhnen entjtanden find. Man dente an Schillers Rauber oder die Dichtungen der andern Stürmer und Dránger. Lange bevor es eine Jugendbemegung gab, fdrieb Lagarde über die Jugend feiner Zeit: „Das Gewiffen der Jugend, wie haar- ſcharf wägt es Ehre und Schande, Fehler gegen Lafter: wie will diefe Jugend durchaus wahrhaftig, ehrlich, echt fein, auch da, two es ihr Vorteil wäre zu Fügen, zu heucheln, zu fcheinen.” Das ift dasfelbe, was die Meifner-Formel befagt. Sie fann alfo das Wefen der modernen Jugendbemegung, der etmas Befonderes zu Grunde liegen muß, weil fie zu etwas Befonderem führte, nämlich zum Verfuch einer großen Organifation der Jugend, nicht erichöpfen.

Diefes Befondere if zuerft in der Abneigung gegen das weichliche Wohlleben der Zeit zu fuchen. Aller neue Reichtum des deutjden Volkes und alle Wunder der Technif wurden ihm dienftbar gemadt. Die Jugend wandte fid) bewußt von

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ihm ab, weil fie inftintthaft fühlte, wie ihre Kräfte in ihm zu Grunde gingen, und fie ſchuf fich einen eigenen Lebensitil.

Es beruht zweitens in dem inftintthaften Widerwillen der Jugend gegen den Spntelleftualismus der modernen Erziehung und ihrer Träger, Schule und Eltern= haus. Man muß $d tar machen, wie umfafjend diefer Intellektualismus geworden war, wie fehr in der Schule alles auf Geiftesgymnaftit und Kopfleiftungen eins gejtellt wurde, wie man, um fie zu erzielen, die Jugend an das Buch bannte und der Natur entfremdete, wie felbjt Erzeugniffe der Sunft in der Schule zumeifi nur benußt wurden, um logische Uebungen vorzunehmen und den Verftand zu Ihärfen, wie die Natur ausjchlieglich ein Gegenftand der Wiffenjdaft gemorden war, und twie das Leben täglich zeigte, bab man die Verjtandesbildung nur de3- Halb Höher züchtete, weil fie allein die Mittel an die Hand gab, die äußere Kultur zu fördern, materielle Güter zu erwerben und das Wohlleben zu fichern, man muß fid das alles einmal borurteil3log tlar machen, um die Auflehnung einer gefunden Jugend dagegen zu verftehen. Sie konnte die Schule und den Zeitgeift nicht umpgejtalten, aber fie fyuf fic) außerhalb von Schule und Haus ein ergenes Leben, in dem fie wirklich etwas erlebte, frei von dem Schulzwang der civigen Gedanfenanalyfe.

(Es berubte drittens in dem unbewußten Drange, fd) von den ſchädlichen Folgen der modernen Maffenerzichung in Schule und Leben freizubalten. Was Hier zu fagen ift, fällt in etwa zufammen mit dem, was oben über den Willen zur Selbjt- berantivortung gejagt worden ijt. Aber es erhält eine neue Note in dem Maße, wie die Maffenerziehung unferer Zeit befondere Verhältniffe der Vereinheitlidung bon Biel und Methode auf allen Gebieten und der Begünftigung des allgemeinen Durchſchnitts in Leiftung und fittlihem Verhalten, mit einem Worte die Tyrannei des Allgemeinen notivendig herbeigeführt hat. Das bedauerliche Gegenftüd diefer Verhaltniffe war die Nichtberüdfichtigung jeder befonderen Begabung und die Unter- drüdung der Perfönlichkeit. Die Jugend litt darunter. Sie konnte die Mafjen- erziehung nicht abjchaffen. Dafür ſchuf fie fi) den Wandervogel, in dem fie frei tear, in dem jeder nad) feinem Willen an Hd arbeiten fonnte, um alles Urfprüng- lie und Eigengewachſene in ſich zur Entfaltung zu bringen.

Diefe drei befonderen Umstände waren es, die der Jugend den Drang, aber auch die Kraft gaben, fih zufanmenzufchliefen und eine große Organifation zu bilden. Die Geſchichte diefer Organifation ift traurig. Schon nad) turzer Zeit zerfiel der große Bund. Neue Bünde und Bündchen entitanden und befampften einander, weil jeder den einzig richtigen Ring der deutfchen Jugendlidteit zu befigen vermeinte. Die Jugendbevegung if in ihrer äußeren Form ein dauernd wechfeln- des Bild des Werdens und Vergehens, des Neufchaffens und der Zerftörung. Gang befonders ſchlimm ijt es nach dem Kriege geworden. Es gibt heute feinen einzigen großen Wandervogelbund mehr, und die freideutfche Bewegung ift vollftändig zer- flattert. Woran liegt das nun?

Der Wandervogel fette als Reaftion gegen das weidhliche Wohlleben, den Intelleftualismus und die Gleichmacherei der Beit: den neuen Wandervogellebens- ftil, das romantifche Erleben auf der Wanderung, bei Fejten und Feiern, beim Tanzen und Singen, die verantivortliche Arbeit an der eigenen Perfönlichkeit. Mit genialem Injtintt hatte er damit nicht nur fic) felbft aus einer Not geholfen. Er Hatte taufend anderen die Bahn gerviejen, aus der dumpf gefühlten gleichen Not herau3zutommen. Der Wandervogel hat um die Wende des Jahrhunderts durchaus fchöpferifch getvirtt. Der neue Lebensftil machte in weiten Kreijen der Jugend, der bürgerlichen wie der proletarifchen, ja auch in Kreifen, die jenfeits der Jugend felbft ftanden, Eroberungen. Die Liebe zum Wandern und die Naturfreudigteit gewannen im Volte gewaltig an Boden. Der Kampf gegen Intellektualismus und Sleichmacherei blicb keineswegs auf den Wanderbogel befdrantt. Die Kunft

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gab ihm im Expreffionismus fdopferifden Ausdrud. Alle moderne Schulreform geht bewußt oder unbewußt bon ihm aus, und ziveifellos ift es ihr gelungen, Ihon heute einen ganz neuen Geift in vielen deutjchen Schulen Hhervorzubringen. In vielen Elternhäufern herrfcht gleichfall3 eine ganz neue Auffaffung von Rechten und Pflichien der Jugend und vom deutfchen Menfdentum, gewollt oder ungewollt haben fie fic) vom Geift der Jugendbemegung beeinfluffen laffen. Die Jugend- pflege nahm ſowohl vom Fnbalte wie von der Form der Gugendbewegung fo viel in fid) auf, daß die ſcharfen Grenzen zwiſchen beiden überall mehr oder weniger ftart verwifcht wurden. Dieje ganze Entwidlung, die jehr bald nad) der Erſchaffung des Wandervogels einfekte, nahm im Laufe der Jahre für die Außenftehenden von der Wandevvogelbeivegung den einftigen Glorienfchein, den Wandervögeln felbft nabm fie das Bewußtſein, etwas Befonderes, Einzigartiges, Nottwendiges zu fein. Das mußte zerfegend auf die Organifation wirken und hat fo gewirkt. Der gemein- fame Gegenfag gegen Leben, Schule und Haus hatte der Gugend die Kraft zur Empörung und zur Organifation gegeben. Je mehr der Gegenfag zufammen- ſchrumpfte, defto mehr mußte naturgemäß aud) die Kraft abnehmen.

Sehr viel fo limmer aber wirkte vom erften Tage an ein unlöglicher innerer Widerfpruh zwiſchen Inhalt und Form der Bewegung. Der Wille einer Anzahl Menſchen, mitten in einer Mafje und der Mafje zum Trog Individualiften zu fein, fann fie für eine Weile zur Gemeinfchaft formen. Aber es ijt auch flar, bab die herrifche und rüdjichtslofe Verfolgung des Zieles, Perfonlichfeit zu werden oder zu bleiben, allmählich, aber ficher Gemeinfchaft auflöfend wirken mußte. Gemeinfchaft fann nur beftehen, wenn fic) ein Gemeinfchaftsgeift bildet, dem fich alle unterordnen. Das ift für Perfönlichkeiten nur durd) Kompromiffe möglich. Menfchen, die mit zäher Gewalt immer aufs Ganze gehen und es für unmwahrhaftig Halten, das Geringfte von ihrer Perfönlichteit aufzugeben, können Zweckverbände gründen, aber feine Gemeinschaft bilden. Die Wanderdogeljugend, die mit ganzer Kraft auf das Abfolute ging, verfuchte e3 dennod and mußte notwendig daran ſcheitern. Es gab nur ein Mittel, den Widerfpruch zu lofen: indem man in das Wefen der Bewegung bewußt und grundfablid) außer der Selbftverantwortung auc) Verantwortung ge- genüber Mächten, die über der Perfönlichkeit ftehen, aufnahm. Dazu drängten nicht nur die Erfahrungen mit der Organifation, fondern aud) die Zeitereigniffe. Der Krieg war verloren gegangen, Deutfchlands Weltitellung erfchüttert, die innere Ordnung zufammengejtürzt. Das alte Geſchlecht hatte mit feiner Kraft und Art, das Leben aufzubauen, verfagt. Die Jugend ftand vor einem Trümmerhaufen und fühlte ihre Bufunft bedroht, wenn fie nicht felbft zupadte oder wenigiten3 das Leben mit neuem Geifte erfüllte und fich tatkräftig auf das Zupaden vorbereitete. Dafür mar die Flucht in die Wälder und der Genuß romantifchen Erleben3 fein aus- reichende Mittel. Sollte Deutfchland wieder groß, madtig und glüdlich werden, jo tat vor allem eins not, aus dem zerriffenen Haufen deutjch fprechender Menſchen eine Nation zu machen. Dafür reichte das Predigen eines fdranfenlofen Yndivi- dualismus nod) viel weniger aus. Damit waren für alle weiterblidenden und die Not der Zeit Iebendig empfindenden Jugendlichen die alten Wanbderdogelideale in ihrer Ausfchlieglichkeit erledigt. Der Mandervogel hat Großes geleiftet, aber jeine Zeit ijt vorbei. Er ift zum Sterben reif. Wer heute die Wandervögel umorganifieren will, verfucht einen Leichnam zu galvanifieren.

Eine neue Gefinnung erwachte unter der nationalen Jugend: die jungdeutfche. Die Jungdeutfchen wollten fich vom Intellektualismus nicht nechten laffen und woll— ten Daher wandern, ſchwärmen, fingen, tanzen. Sie wollten fich aber auch einen Haren Blid für die völfifchen Notwendigkeiten jchaffen und fich bewußt zu ihrer Her- beiführung ftart an Leib und Seele machen. Sie wollten in der Erfenntni3, dak Neues werden müßte, fic) nicht von den vom alten Gefchlecht überlieferten Formen und Schlagworten beherrfchen Laffen und Iehnten den Anſchluß an irgend eine

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politiihe Partei fchroff ab, aber fie bertiindeten das Gejeg des Führertums mit dem unbedingten Gehorfam gegen den erwählten Führer und daher der Mannes- zucht, und fie erklärten fich innerlich verpflichtet an der Schaffung eines auf Macht gegründeten Staates zu arbeiten. Sie wollten natürliche, eigenwüchlige Menfchen werden, aber jie fahen ein, bab das, was uns im Volte am meijten not tut, ein ftartes foziales Empfinden war und dak der Bildung der Vollsgemeinfchaft ihre beißefte Sehnſucht und ihr ftartítes Streben zu gelten hätte. Es wurde aud ein jungdeutfher Bund gegründet, aber er blieb alg folder bedeutungslo3. Dagegen eroberte fid) die jungdeutfhe Gefinnung weite Sreife der Jugend. Viele alte Wandervögel befannten fid) zu ihr.

€3 war eine bedeutungsvolle und Hoffnungsvolle Tat, als Jungdeutſche unter- nahmen, ihre Gefinnung in den Deutfchnationalen Fugendbund Hineinzutragen und ihr damit eine Organifation zu verfdaffen. Al Pioniere und Propheten gingen fie freudig ans Werk und harte Arbeit lag vor ihnen. Der Deutfchnationale Jugend= bund war unmittelbar nach der Revolution, ehe es eine Deutfchnationale Partei gab, bon nationalb- sifterter Jugend unter Führung junger Offiziere gegründet ivorden und war x.) auf etwa 60000 Mitglieder angewadhjen. In einer Be- gichung dachten alle »irklich jugendlich, jehr viel folgerichtig jugendlicher als die un ſozialiſtiſchen Jug idbund Zufammengefchloffenen: fie lehnten es ab, fic) irgend einer Partei anzufhliegen. Im übrigen aber war die Zufanmenfegung bunt- Ichedig genug. (Es gab Ort8gruppen, die ganz auf Jugendbewegung, andere, die ftart auf Fugendpflege eingeftellt waren. (ES gab Ortsgruppen, die ihre Haupt- aufgabe darin fahen, durd) Fahnen, Lieder, Schlagworte und Feftreden ganz auf die alte Art „Patriotismus” gu weden, andere, die ihr Deutſchtum erwanderten, erturnten, erarbeiteten, erlebten. (8 war die Aufgabe der Jungdeutſchen, die Gegenfage zu verfdmelzen, indem fie ihre Gefinnung hineintrugen. Hier mußten fte zügelnd, dort revolutionär wirken, immer indem fie ihrem ¿deal von der Volks— gemeinschaft Gefolgfchaft zu werben fuchten. Unzmweifelhaft haben fie Erfolge gehabt. Immer mehr Gruppen wurden, namentlid im Norden und Welten, vom Geift der Jugendbeivegung erfaßt. Der Geift des ganzen Bundes wurde jugendgemäßer, der Wandervogellebensitil fette fic) immer mehr durch. Und tvenn anbdererfeits bie älteren Gruppen mit ihren ftarreren Methoden die neuen Jungdeutſchen davon abbielten, in ungefunde Problematif zu verfallen, fo war auch dies als Gewinn zu buchen. Vom Standpunkte des ruhigen Befchauers, der weiß, dak mir ein neues Deutfchland brauchen und dak mur eine neue Jugend dies neue Deutſch— land heraufbringen kann, mußte die Entwidhing des Deutfchnationalen Jugend— bundes alg wahrhaft verheifungsvoll begrüßt werden.

Sie ift jegt in Nürnberg jah geftört worden. Einem Teile der Jungdeutſchen, vielfach folchen, die es erft eben getvorden waren, ging die Entwidlung zu langſam, und fie hielten fie daher für ausſichtslos. Sie fprachen offen davon, daß fie ſich der Untvabrbaftigteit fchuldig machten, wenn fie mit Menfchen, denen fie fich nicht völlig weſensverwandt fühlten, in einem Bund zufammenblieben und daß ihre Selbitverantiwortung ein Zufammenarbeiten mit ihnen, das ohne Kompromiffe nicht möglich ware, nicht ertriige. Das tft qrindehrlid) und grunddeutſch. Und eben darum führt es die Jugend genau ebendahin, two die Erwachſenen find: zu Zer— rifferheit, Selbftzerfleifchung, Ohnmadt. Rettung fann nur fommen von einer Jugend, die die Verantwortlichfeit gegenüber ihrem Volte fo tiefinnerlich erlebt, dak fie fie felbftverftandlid) über die Selbftverantivortung jebt; die bon der Volt3- gemeinfchaft nicht nur redet, fondern fie handelnd zu ſchaffen fudjt; die aber mit diefem Handeln nicht wartet, bis alle diejenigen, mit denen fie zufanmmenzuarbeiten geneigt ift, ihr twefensverivandt find; fondern die weiß, daß gerade durch frifches innige3 Zufammenarbeiten der verfdiedenen Menfchen die Gegenfabe überwunden und bag Gemeinfame gewedt wird, durch die eine Volfsgemeinfchaft entfteht; die überzeugt ift, dak ſolches Bufammenarbeiten obre Opfer nicht möglich ijt; die aus

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chriſtlicher Grundiiberzeugung an Opferbringen gewöhnt und gemillt ift, ihrem deutjchen Volte auch die höchſten und legten Opfer zu bringen.

Das tft nicht die Jugend, die wieder einmal in Nürnberg einen nationalen Jugendbund zerfplittert hat. Das it nicht die Jugend, die in den großen joziali- ftiihen und tatholifchen Jugendbiinden heranwächſt, weil fie viel zu feft an Parteien und Mächte der Vergangenheit gebunden und dadurd) unfrei in Arm, Auge und Denken ift. Das ift neue Jugend, die nod) erft fonunen muß, die aber auch fonrmen wird. Wir harren ihrer mit jehnfuchtsvollem Hoffen. Edmund Neuendor ff.

* Syrien Auffag unfres Mitarbeiters bringe ich, weil er nicht nur die befonderen Ereigniffe innerhalb der nationalen Jugend alfo ein ,fpezielles Thema” behandelt, fondern einen Einblid in die Krife der Jugendbeimegung überhaupt gibt. Ich dente nicht in allen Teilen fo mie Neuendorff; dennod) gebe ich ihm hier das Wort, damit viele e3 hören. Cine langivierige Ausſprache darüber werde id im „Deutſchen Voll8tum” nicht bringen, dazu find die Jugendzeitſchriften ba.

Meine yauptfächlichiten Vorbehalte: Erftens: Die Bielefelder Tagung der jozia- Lijtifchen £ ıgend fann nicht mit der Nürnberger, fondern nur mit der Detmolder Tagung der nationalen Jugend verglichen werden. Die Einheit innerhalb ber fozialiftifchen Jugend ift do nur ſchein bar. Entiveder kommen die Gegen- füge heraus, und dann wird man weiter fehen; oder man verfleijtert fie fo Lange, bis die ganze Bewegung im Sleiftevbrei verfchlemmt und verfchlammt ijt, und dann ift fie blog noch einen Dre wert.

Zweitens: Dag in der „nationalen Jugend” fo nennt man fie kurz im üblichen Jargon die Gegenfäße flar hervovgetreten find und die Gruppen fid gefdieden haben, Halte ich für einen Fortſchrit. Man muß einmal wifjen, woran man ift. Dag man fic) aber einfah trennt, ift Unfug. Wenn eine fachlich not: wendige Auseinanderfegung ftatt zur Gliederung der Gruppen und Individuen zum Kampf untereinander führt, fo ift das nichts als Zerftörung. Es gibt nun einmal in der Jugend verjdiedene Typen: die einen neigen mehr zur Politif, die andern mehr zur religiöfen Verfentung, die einen zur militärifhen Strammbeit und Badigteit, die andern zur Gelehrtenhaftigkeit, zur Grübelei u. dgl. Die einen machen Klogmärfche, die andern fchlemmen Mondichein. Das mwechjelt bei ein und demjelben Menfchen mit den Jahren. Eine Organifation muß Raum für alle haben, um die befondere Kraft eines jeden nad feiner befonderen Begabung heranzuziehen. Alſo „fürderatives Prinzip“! Uns Voltifche, ſowohl die ,Romantiter” wie die „praktiſchen Naturen“, eint das Erlebnis „unjer Volt." Wir machen den Bruder nicht lächerfi und befämpfen ihn nicht, weil er feelifch zu einem andern Typ gehört als wir, fondern freuen uns, daß es auch folde Käuze gibt, und wiſſen, daß der liebe Gott aud folche Deutfche haben will. Eine Führung, die nicht zu gliedern verfteht, fondern nur ratſch trennt, beherrfcht ihr Handwerk nicht. Gerade in der Mannigfaltigteit und Gegenfaglicfeit, die bon einer Organifation umfaßt wird, ftedt Leben und Kraft und Fülle. Die verfchiedenen Kräfte ridjtig eingufegen, ift Sache der Führung. Wegjagen ift leicht, verwenden ijt das Kunftftüd, auf das es beim Organifieren antommt. Dazu muß man freilid) das Erlebnis „wir deutjches Bolt“ hinreichend ftart gehabt haben. St.

Cigenleben der Literatur.

edes echte Literaturivert ift das Ergebnis ziveier weitwirkender Kräfte, die fic) in

der Perfónlid)teit des Dichters treffen: des Volkstums, als deffen Ausdrud der Dichter Schafft, und der allgemeinen Zeitverhältniffe, wie fie über Volt3tum und einzelnen dahin wandeln.

Man tanm in dem Leben eines Volkes, das gleichfam den Leib des Volkstums

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darjtellt, verfdiedene Zeitabfchnitte unterjdeiden, nicht nur in dem Sinne, dah in den einzelnen Jahrhunderten verjchiedenerlei gefhiebt, das dem Volfsleben jedesmal ein anderes Guberes Ausſehen gibt, fondern auch fo, daß jeder Zeitabjchnitt fein be— fondere3 inneres Geprige hat, fo daß man von einem bejtimmten Charakter, einer ‘dee, einem pſychiſchen Gehalt der einzelnen Zeiten fprechen fann. Dieje feelifde Beitimmtheit eines bejenderen Zeitabjchnittes findet fic) in allen Formen, Geftalten, ja Ereignijjen wieder, die in ihn hineinfallen. Alles, was diefe Zeit jchafft, trägt gleichfam ihren Stempel, ihre Farbe, in der bildenden Kunft jagt man, ihren Stil.

Es ift natürlich, daß auch die Literatur Hd) diefer Zeitprägung nicht entziehen faun. Gie, die nicht fo ſchweren Stoff zu überwinden hat wie Architektur, Bildneret und Malerei, trägt dieje Formen nicht fo feft und finnenfallig; aber nicht minder folgt fie jeder Wendung der inneren Zeitgefchichte, bringt fie den feelifchen Gehalt einer Epoche ganz unmittelbar und unwillkürlich zum Ausdrud, weil der Schaffende, der Dichter, auc) immer ein Kind feiner Beit ift.

Diefe Zeitangehörigfeit wird jedem Literaturivert ohne Willfür des Dichters ganz unbemuft mitgegeben, genau ebenfo wie feine innere Beziehung zum Voltstum, bon deffen LebenSvorgang es ein Ausdrud ift.

Daneben gibt es aber Zeitabhängigfeiten, die dem Schaffenden bewußt werden und an die er fich vielleicht gar mit ganzem Willen Hingibt. Diefe einmal grund» fäglich zu betrachten, verlohnt fid) der Mühe und ift nötig zur Behauptung Fritifcher Selbftandigteit.

Treten die Beziehungen zur jedesmal gegenwärtigen Zeit bewußt auf, dann ent- fteht über dem allgemeinen 3eitablauf ein Wandel der Literatur, der feinen eignen Gefegen zu folgen ſcheint. Soweit geht nämlich das Willfürliche nicht, bab eine völlige Planlofigfeit eintritt, aber, indem die bewußte Fortführung der Literatur- entiwidlung dem eignen Schwergewicht nachzugehen beginnt, erfcheint der Zufammen- bang der Literatur mit der allgemeinen Entwidlung und in den verwandten Künften geht es ähnlich zu gelodert und droht fid) in den Niederungen zu Seiten des Hauptitromes zu verlieren. C8 entjtehen Richtungen und Schulen, deren Dajein im Ganzen wohl eine Notivendigfeit darftellt, deren Ausbildung, Verfteifung und Meberfpannung fie aber alsbald aus der Entwidlung heraustreibt.

Solche Richtungen waren im vorigen Jahrhundert die Romantik, die Jung— deutfchen und die Moderne, man könnte heute den Expreffionismus als ſolche be- zeichnen,

Allen diefen Bejtrebungen lagen feelifche Bedürfniffe zu Grunde, die fic) aus der Zeitlage ergaben, aber indem man fic) bewußt auf fie einjtellte, fteigerten fie ſich in fich felber, itberfpannten fie fid) und traten fie aus dem Ufer der Hauptentwidlung heraus,

Diefer ftet3 twiederholte Vorgang verläuft nach beftimmten feelifchen Gefegen. Es fommt ganz von jelbit, daß alle die Schaffenden, bei denen zum erjten Mal die neue Zeitftimmung zum Ausdrud fommt, den Aufnehmenden als unter fic) ver- wandt erfcheinen. Alsbald fliegen fie fic) auch in fich felbjt zufammen. Dann treten die Nachfolgenden auf den Plan, in denen fid) das Zeitgefühl ſchon bewußter regt. Andere pflegen es mit Willen, verfuchen mit Abficht das, was fich zuerft ganz unbe- wußt meldete, weiter auszubilden, und damit ift die Schule fertig, die nun in fid) felber immer weiter wuchert. Es fehlen nicht die Mitläufer, die in der Befonderheit der Richtung das Ein und All der rechten, der modernen Kunft erbliden und fo die Sabe zum Gipfel treiben, bis fie im Nichts verrinnt.

Umſonſt üt freilich auch diefe Entwidlung nit. Das einfeitige Verfolgen der einen Richtung fördert in der Regel keine große Kunſt, aber fie dient dazu, eine be- ftimmte Technik ganz auszubilden, und wenn die Entwidlung nachher weiter geht, ift fie meiftens um einiges Formale bereichert.

ES ift nicht ſchwer, aus diefer Betrachtung Grundfäße für unfer fritifches Ver- Halten zu ziehen. Bon vornherein ift die Auffaffung abzulehnen, die von den unbe-

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dingten Anhängern der neuen Richtung vertreten wird, dak nur die Kunſt zu gelten babe, die diefer Richtung angehört. E3 kommt bei jedem leicht der Zeitpuntt, too er fid) gegen diefe Gefahr zu wehren hat. Hat man nämlich erjt das verhältnismäßige Recht der neuen Schule erkannt, ijt man über den Standpunkt hinaus, in ihr nur das Ungewohnte und Ungewöhnliche zu feben, bat man fic), um fie zu erfaffen, fo weit an fie Hingegeben, als nötig ift, um fie fic) innerlich zu eigen gu machen, dann erliegt man leicht dem Zivange, nun alles an ihr zu meffen und alles Zeitgenöffifche nicht für vollwertig zu halten, was nicht aus ihrem Geifte getommen ijt. Geht es heute mit dem Erprejjionismus nicht manchem fo? Buerft verftanden wir ihn nit in jeiner Unvermitteltheit, in feiner Abkehr von all den überlieferten Formen, die und formlos erjchien, in feiner Einftellung auf das Innerlichſte, in der erplofionsmäßigen Weife, in der er diejes zum Ausdrud bringt. Als uns aber das Verſtändnis dafür aufgegangen tvar, glaubten vir, wie bor und andere Generationen, an den Toren zu einer neuen, nie erträumten Sunft zu ftehen, und jedes Werk des Erpreffionismus wurde uns von vornherein bedeutungsvoll, und fo gerieten wir in Gefahr, es zu über- ſchätzen. Aber ob einer in alter oder neuer Kunſt bildet, das bringt legten Endes dem eigentlichen Wert feines Gebildes feinen Abbruch oder Zuwachs an Wert. Es entjcheidet jchlieglich doch nur die fünftlerifche Kraft und die Wahrheit und Aufrid- tigfeit, mit der fie ich betätigt.

Auf die innere Wahrheit fommt es an. Angeſichts der bejtimmten Richtung, hier des Expreffionismus, gilt es in jedem einzelnen Fall zu prüfen, ob das, was in ihrem Zufammenhange gefdaffen ift, nun wirtlid aus innerer Notivendigfeit dieje Form geivonnen hat, oder mur aus Nachahmung, vielleicht gar aus dem Willen, die Stunde auszunugen und das fick) anzueignen, was gerade jest hod) im Werte fteht und fchon im voraus des Beifall3 gewifjer Streife ficher ift. ES gibt heute folde Ge idaftstunjt, die mit der Marktlage zu rechnen verjtebt, mehr als je.

Alles läuft demnach wieder auf die Frage nad) der inneren Echtheit hinaus, die wir {chon früher einmal als das Herzftit alles literarifchen Urteilens erkannten, nur daß fie hier bejonders fchwierig ift, weil das Neue und Ungewohnte den Betrachter gar zu leicht von dem Wejentlichen abzieht. Allem Nötigen und Drängen gegenüber, das die neue Form ausübt und auf das der Beurteiler zunächit mit der Bildung inne- ter Widerftande antwortet, in aller Hingabe, zu der man fic) fpater beftimmen läßt, gilt es, fic) auf den Punkt im eignen Innern zurüdzuziehen, wo das reine Gefühl unbeeinflußt und ganz lauter fic) äußert.

Betrachtet man von hier aus einzelne Erzeugniffe des Erprefjionismus, fo will es uns jcheinen, um das Erörterte an einzelnen Beijpielen zu erläutern, als wenn die Gedichte von Otto zur Linde aus echtem inneren Drang geboren find, als wenn das Ungewöhnliche an ihnen nicht das Ergebnis gejuchter Willfürlichkeit it, fondern die Form, in die der Dichter ohne Rüdficht auf frühere Gefege und Gewohn— beiten feine inneren Erlebniffe und feine Gefichte ganz vorausſetzungslos tleidet. Hier ringt, fo ſcheint es, ein Dichter, die innere Fülle fo unmittelbar, wie móglid, zum Ausdrud zu bringen. Nicht ganz denfelben Eindrud hat man bei dem viel ge rühmten Franz Werfel. In feiner Lyrik fcheint [don mehr bewußte Methode zu herrichen, die Form trägt mehr das Geprage der Erftarrung, die Gedichte wirken nicht unbedingt als reine, ungehemmte Gefühlsergüffe, eine Verftandestálte weht durch fte, von der man unmillfürlich annimmt, daß durch fie auch bewußt die Form beſtimmt ijt. Gedenfalls ift der Expreffionismus hier auf dem Wege, Manier zu twerden.

Den Eindrud der Echtheit macht wieder Frig von Unruh. Am deutlichiten merkt man das dielleidt in feiner Erzählung „Opfergang”. Da ijt ohne Ziveifel drángendes Leben, möglichjt unmittelbar eingefangen und unter Ausfchaltung aller Mittelglieder der iEcrtommenen Form zur Darftellung gebracht. In feinen Dramen ift, vom Stoffliden nod) mehr abgefehen, die pfychologifche Längslinie vollftandig unterbrochen, alle Lebensäußerungen der einzelnen Perfonen fteigen fergengrade in

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die Höhe, und das Ganze wirkt, als wenn eine Mine nad) der andern aufflattert. Mag der Gegenftand feiner Darftellung oft nod) fo peinlich und mwiderwärtig fein, mag man ihn felbjt mit der Tendenz feines Wejens ablehnen, daß er fic) ohne Be— rechnung gibt und daß er für das, was ihn beivegt, aufrichtig nad) einer Form fucht, wird man ihm zubilligen müffen. Bei Walter Hajenclever, um einen anderen Draz matifer zu nennen, Ut man dagegen wieder im Zweifel, ob alles bei ihm ungewollt und ungefucht ift. Hier drängt fic) immer wieder der Eindrud vor, als werde das Ungewöhnliche erftrebt, um zu verblüffen und zu bezivingen, als würden Experimente gemacht, um fejtzuftellen, wie weit fic) die neue Methode durchführen läßt und mas alles man dem Publikum bieten fann, ohne daß es aufbegehrt. Jedenfalls erſcheint alles ausgetiftelt. Das ift, um zum Schluß einen allbefannten Namen anzuführen, bei Max Jungnidel am wenigften der Fall. Er gibt fich feiner Unbefangenbeit harmlos hin und fingt feine leifen Töne fo, wie ihm der Schnabel gewachſen ift, ohne daß fie fic) recht in das alte Notenſyſtem faffen laſſen.

Alles in allem wird es fic) beim Expreffionismus erweifen, joweit er als Rich- tung auftritt, was bei allen früheren Richtungen und Schulen auch geweſen ift, daß ein ernjtes Streben nad) neuen Formen der Sunft mande Anſätze zu Wege bringt und wirklich Bleibendes gleichſam nur zufällig gelingen läßt. Man foll daher ohne Vorurteil, aber auch ohne Hd) verblüffen laffen, an das Neue herantreten, man darf e3 nicht von vornherein ablehnen, fo fremdartig die erregten Gebärden des neuen Gejichlehts anfangs anmuten mögen, man foll aber and) nicht jedes Werk als Meifter- wert beftaunen, weil es den Stempel der Schule trägt.

Man kann fragen, ob die oben erwähnte Erſcheinung, daß neuerdings alle neu auftretenden Richtungen fo bald auf die Spike getrieben werden und Jd dann über- fchlagen, auger in der Schnellebigfeit unferes Dafeins nicht auc) darin begründet ift, daß diejem Vorgang, der eine Form des Cigenlebens der Literatur it, nicht auch ein Eigenleben der Literatur in einem andern Sinne zu Grunde liegt, nämlich der Um- ftand, daß nicht nur die Schriftftellerei, fondern auch das Dichten vielfach ein Lebens— beruf geworden ift. Ein Schriftfteller fann von feiner Feder leben (bei der heutigen Einſchätzung geiftiger Arbeit iſt e3 allerdings faft unmöglich geworden), jedenfalls nimmt er feinen innerlichen Schaden, wenn er es tut, aber wenn einer fic) das Dichten zum Lebensberuf machen will, aus dem er die wirtjchaftlihen Mittel für feinen Lebensunterhalt zieht, dann fett er das Bejte, was er hat, einer großen Gefahr aus. Erxlauben können es fic) nur folde Dichter, die gleichzeitig Schriftjteller find und deren ganzes Didterwejen mehr zur Schriftitellerei neigt, oder folche, deren Dichter- gabe fo echt und deren künſtleriſche Gewiffenhaftigkeit fo groß ijt, daß fie fich nicht auf eine fchiefe Ebene loden laſſen. Und jelbjt diefe haben in den allerfeltenften Fällen einen Gewinn davon, dak fie ihren Lebenszufchnitt ganz aufs Dichten ein- ftellen. Die Befchäftigungen, die ein anderer Beruf mit fic) bringt, mögen oft als ftörend und hemmend empfunden werden, der Vorteil, den fie bringen, bejteht aber Darin, daß fie den Dichter mit nötigendem Zwange in das wirtfchaftliche, gefellfchaft- fiche und ftaatliche Leben feines Volkes hineinverflechten und daß fie ihm auch perfon- lid ein Gegengewicht gegen den fortwährenden inneren Auftrieb geben, zu dem der Schaffensziwang ihn nötige. Daß ihre amtliche Tätigkeit in diefem Sinne eine von ihnen günjtig empfundene Wirkung ausgeübt hat, beftatigen fich, um ein Zeugnis anzuführen, in ihrem Briefmwechjel der Amtsrichter Theodor Storm und der Stadt- fchreiber Gottfried Keller, die nebenbei echt geborene Dichter waren. (ES ift bei dem Dichter eben anders wie etwa bei dem bildenden Künftler, Dem die Schwierigkeiten jeiner Technik dies nötige Gegengewicht jchaffen, zu deren Ueberivindung es anderer Seräfte bedarf wie beim Dichter, mag diefer feine befondere Technik, die ber Sprache, noch fo fehr und bewußt pflegen. Ein Dichter, der fich mit feiner gefamten Leben3- arbeit nur aufs Dichten einftellt, wird zahlreichere Werke hervorbringen, alg wenn er daneben nod) irgend einen anderen Beruf ausübt, ob aber die größere Anzahl der Werfe an und für fid) ein Gewinn ift, wird die Frage fein, denn in der Kunft gilt, wie Hebbel fagt, nur das Einmalige.

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Außer der Gefahr der Wiederholung und Verwäfferung befteht aber, und das führt ung wieder auf unfern Zufammenhang zurüd, aud) die der Ueberhigung und damit der überjtürzten Entwidlung der Richtungen und Schulen. Hierin liegt es wohl tatfächlich mit begründet, daß die fünftlerifhen Dinge fo bald auf die Spike getrieben werden. Unbewußt oder auch mitunter bewußt ſucht einer den andern zu überbieten und ihm den Rang in der Entwidlung abzulaufen. Go geht es immer ſchneller vorwärts, nicht in natürlichem Wachstum, fondern in Treibhaustultur.

Anders gedeihen die Früchte, die in Wind und Wetter heranwachſen, umfäufelt bon „des holden Himmels frudtender Fülle”, anders die im Treibhaus gezogenen. Oft tann man fie ſchwer unterfcheiden, aber meiftens haben jene köftlicheren Gehalt und längeren Beitand. Wenn wir in fritifher Selbfthilfe echt und unecht jcheiden tollen, dann dürfen wir nicht auf die lauten Anpreifungen hören, mit der das Neue auf die Tafel gebracht wird, aber auch vor dem Ungewohnten nicht zurüdicheuen, das man uns borfegt. In uns felber müffen wir die Fähigkeit entwideln, das Gute pom Schlechten zu trennen. Das legte Urteil hat aber auch hier die Geſchichte, auf deren Weg fo manes liegen bleibt, was einft als groß und unvergänglid) gepriejen wurde.

Chrijtian Boed.

Schöpfung und Oeftaltung in deutfcher Iprif. 3. Klopftod, Die frühen Graber. Frege o filberner Mond, Schöner, ftiller Gefährt! der Nacht! Du entfliebft? Eile nicht, bleib’, Gedanfenfreund! Sehet, er bleibt, das Gewölk wallte nur Hin. Des Mates Erwachen ijt nur

Schöner noch, mie die Sommernadt,

Wenn ihm Tau, hell wie Licht, aus der Lode träuft

Und zu dem Hügel herauf rotlich er kömmt.

Ihr Edleren, ad), e3 betvächit

Eure Male jchon ernftes Moos!

O wie war glüdlich ich, als ich noch mit euch

Sabe fid) röten den Tag, ſchimmern die Nadt. DY feiner Befprehung der Klopftodfchen Oden läßt Matthias Claudius bide

al3 einzige in ihrem vollen Wortlaut abdruden und fchreibt darunter in feiner „Mundart“: „Das wollt id) wohl gemacht haben, oder aud) bey den andern unter ein’m Maal mit ernftem Moos bervachfen, fchlafen, und da fo Seufzer eines guten Jungen hören, den ich im Leben Beb hatte. Mein bischen Aſche würde fed) im Grab” umkehren und mein Schatten durch’s Moos zu dem guten Jungen herauf fteigen, ihm eine Patſchhand geben, und'n Weilchen im Mondichein an feinem Sale zappeln.” Diefe einfältigen Worte des Wandsbeker Boten geben ſchmucklos getreu die Gefühlsftimmung wieder, die Keim und Kern unjers Gedichtes ift, un ms der allein es in feiner ganzen Tiefe erfaßt werden fann. Der „Seufzer eines guten Jungen”: „O wie war glüdlich id) . . .”, den der Vereinfamte den früh gefchie Denen Freunden in ihre Gruft hinabfchidt, durchzittert es dom erften Worte an, aber da8 fpricht fich auch ſchon in den Worten des alten Claudius aus es t ft der Seufzer eines, dem ein Gott zu jagen gab, was er leidet. Die Echtheit des Ge Fühls, aus dem es gejchöpft und das jedes Wort und jeden Slang befeelt, und die Y ollen- dung in der rhythmifch-bildhaften Geftaltung erheben diefe Klopſtockſche Ode met über die meijten ihresgleichen auf den Gipfel ſchlechthin bolltommener Dichture 4. „Sanft mie der Mond twallt” (Claudius) fließen diefe reimlofen Rhythmen

dahin. Wie vollfommen aber entjprechen Lautflang und rhythmiſche Sprach Mere gung aud im Einzelnen dem Naturbild und der feelifchen Bervegung im Geffühls—

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eusdrud! Glaubt man im Slang der Worte: „Willlommen o filberner Mond” nicht Durdbrud, Wellenſchlag und Aufſchwung des Gefühls, das das Erfcheinen de3 Mondes in dem Vereinfamten auslöft, finnenfallig gemalt zu fehen? Und mie glättet fic) die durch den Klangwechſel zwiſchen i und o verjtartte Wellenbewegung zu tubend vermeilender Betrachtung in den Worten der zweiten Zeile: „Sch ó ner, jtil—ler, Ge— fährt’ der Nacht!“ Sit es nicht, als ob die Stimme auf jedem Wort in gleicher Slang- und Gefühlsehene mit liebend eindringlichem Schmeichelton ausruht? Wir fehen das gliidfeliq lächelnde Auge des zum Monde Aufblidenden an ihm hangen, alg wollte es diefen mun einzigen Gefährten, der ihm felber nod) unbewußt das Glüd früherer Zeiten vor die Seele zaubert, fejthalten und zum Verweilen zwingen. Und um fo eindeinglicher fchlägt darum der Ton ziweifelnd beforgter Enttäuſchung in dem „Du entfliehft?” in unfere Seele, um jo flehentlicher flingt das „Eile nicht, bleib’, Gedanfenfreund!” um fo feliger das „Sehet, er bleibt, da3 Gewölk wallte nur Hin.”

So unmittelbar und jcheinbar erjchöpfend fich feelifche Bewegung und leb- bafter Wechjel des Gefühle fon in Klang und Rhythmus äußern, fo innig im befeelten Laut, im Gefühlston, beide miteinander verfchmelzen, jo wird in biejen Verſen doch nicht nur flanglid), fondern auch bildlich plaftifch geftaltet, werden wir nicht nur zum hörenden und rhythmiſch fühlenden, fondern auch zum fchauenden Miterleben gezwungen. Wir fehen den Mond in feiner filbernen Schönheit, in feinem jtillen Leuchten; wir fehen, wie er hinter dunkle Wolfen entflieht und wieder erjcheint, fehen und verfolgen da3 dabinwallende Gewölk ſelbſt. Einzig aber und ein Gipfel in der Verfchmelzung bild- und gefühlsmäßiger Geftaltung ift es, daß wir nicht mur die twechjelnden Bilder felbit fchauen, fondern auch ihren feelifchen Widerjdein gleich einem Spiegelbild vom Antli des Betradjtenden ab- fejen können. Fühlen und fchauen wir nicht, wie Licht und Schatten nicht mur droben am Himmel, fondern auch in den gefiihlsbewegten Zügen des zu feinem ſchönen, ftillen Gefährten Auffchauenden entfpredend wechjeln, fodak wir in der nadgeftaltenden Betrachtung diefer Strophe unwilltiirlid gedenten jenes andern Wortes ihres Dichters: „... Schöner ein froh Gejicht, das den großen Gedanken deiner Schöpfung noch einmal denkt.“ ber entjprechend abgetvandelt, inniger und gefühlsbetonter paßt diefes Wort auf unfern Nachtwanderer. Denn er genießt und bewundert die Schönheit der Sommernacht nicht wie ein anderer Naturfreund: ihm führt fie die toten Freunde herauf, deren Geijter mun an feiner Seite ivan- deln. Nur ſcheinbar haben die erjten beiden Strophen noch feine Beziehung zu den frühen Gräbern; jhon im Gefühlswert der Worte Gefährt! und Gedantenfreund ſchwingt fie leife mit, und in dem Plural der Anrede „Sehet, er bleibt“, fommt in fchöner Unmittelbarteit zum Ausdrud, wie lebhaft der Dichter die Gegenwart der Gefchiedenen fühlt.

Mit ihnen aber taucht aus der Erinnerung ein zweites nod) fdoneres, oder in der freifchaffenden Phantafie in gefteigerter Schönheit geſchautes Naturbild herauf, das fie vereint mit noch höherer Freude genoffen haben. Von großer dichterifcher Feinheit zeugt es, mie nun das nicht gegenwärtig erlebte, fondern nur erinnernd geſchaute „Erwachen des Maies” fprachlich entfprechend geftaltet wird. Während in dex erjten Strophe in der Folge von fünf Säten der Wechjel der Bilder und das ruhige Verweilen in Gefprad und Betradhtung zum Ausdrud fommt, wirkt die in das Gefüge eines einzigen Gages zujfammengedrängte Darftellung der zweiten Strophe wie das flüchtigere Abjchweifen der Erinnerung, obwohl fie denfelben Bers- und Strophenbau mit genau derfelben Silbenzahl wie jene fcheinbar breitere Darftellung ausfillt. Doch nicht minder lebhaft als dort die Schönheit der Gommer- nacht tritt hier im fnappen Wort und Bild das Erwachen des Maitages in all feiner jungen unberührten leuchtenden Morgenſchönheit vor unfere Seele, und nicht minder eindringlich fpridjt die freudige Erwartung und das jubelnde Will-

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fommen, mit dem er begrüßt wird, aus dem Hellen Klang der Tontworte, aus des drángender und gefchloffener fic) ergießenden Rhythmen.

Aber wie in der erften Strophe der ftille Gefährt! der Nacht doch nur der milde Tröfter eines Vereinfamten ift, fo flingt aud) in der zweiten der Unterton des Schmerzes und der Trauer mit, und alles drangt zu dem feufzenden Ad) und Š der Schlubftrophe. Jetzt erft werden fie, die doch bon Anfang an liebend und geliebt zugegen Avaren, genannt und angeredet mit dem ehrenvolliten Namen, den die Zeit und ihr Dichter zu vergeben hat: „hr Edleren”. Und nun fühle man rhythmiſch mit, wie vom hellen Aufflang diefes Namens aus der ftufentweis ab: finfende Tonfall der Worte „ach, es bewächit eure Male [dom ernftes Moos“ gleich— fam in die dunkle Tiefe der Gruft Hinabführt. Nad) diefem trauernden Sid-ver- fenten und Qn-fich-verfinfen, das wir im Nhythmus körperlich mitfitblen, bricht nun im Schlußfag mit den Worten „O wie war glüdlich ich“ in ganz unbildlichem Ausdrud unmittelbar Schmerz und Sehnfucht nad) dem entſchwundenen Glück durd. Jedez Wort wirkt mit der Kraft eines Herzitoßes, und über die tonlofen Silben ¿013 ich noch mit” eilt der Rhythmus dem „euch“ zu, auf das, feinem Gefühlsgehalt entjprechend, das ganze Gewicht der Betonung niederfallt und auf ihm veriveilt, jo daß (mit Unterjtügung des Versmafes) eine Paufe entfteht, damit nun die Schhuf: geile für fic) in ihrer ganz befonderen Schönheit und Bedeutung zur Geltung kommen fann. Wie deutlich jpüren mir im veränderten Rhythmus, mie mit ficher beherr- ſchendem Griff der drangende Anfturm des Gefühls zu ruhigem Ausklang in er innernder Betrachtung gebandigt wird, wie, abgegrenzt durch das tonlos verſchwin— dende ,fabe fich” das „röten den Tag” ,fchimmern die Nacht” wie im zivei gleich und edel gebildeten Schalen dafteht, die noch einmal alles Licht und alle Schönheit der beiden erften Strophen in fnappftem Wort und Bilde fammeln, und zufammen mit jenem „DO mie war glüdlich ich” Sinn und Gehalt und Aufbau de3 ganzen Gedichtes in einem Sage nachbildend und abſchließend zufammenfaffen.

Franz Hevyden.

Bächerbriefe Dramen abſeits der großen Bühne.

2.

as Ferdinand Avenarius den Deutſchen jahrzehntelang geweſen iſt,

das if bekannt. (Es hat zwar die Bezeichnung „Lehrer“ oder gar „Schul: meiſter“ des deutſchen Volkes einen unangenehmen Beiklang bekommen, aber es bezeichnet dieſer Ausdruck doch Avenarius' große Leiſtung am beſten. Wir Deutſche bringen durchweg ja kein ſicheres Kunſtempfinden aus unſerer Kinderſtube als ſelbſtverſtändliches Erbteil mit ins Leben hinein. Wir müſſen uns das erſt erar- beiten. Und wem von uns, die wir nun in den friſchen Mannesjahren ſtehen, hat dabei nicht Avenarius durch ſeinen Kunſtwart geholfen? Daß er, der mit ſo ſicherem Einfühlungsvermögen das Echte vom Schein zu ſcheiden vermochte, ſelbſt etwas vom Dichter in ſich tragen mußte, war anzunehmen. Aber ſtarke ſchöpferiſche Dichterkraft tonnte niemand in ihm vermuten, da feine poetiſche Leiſtung in ſechs Lcbensjahrzehnten erftaunlid) gering blieb. Umſo überrafchender mußte die An- findigung eines , Fa ujt” von Avenarius wirken. Einmal aus dem Grunde, teil bier im hohen Mannesalter eine nicht erwartete dichterifhe Schaffenstraft hervor: brad, zum andern, weil die Stoffwahl außerordentlich fühn war. Der Fauftitoff tt aud) nach Goethe noch wieder behandelt worden. Er fann fo oft von einem Dichter wieder aufgegriffen werden, wie der Adamamd-Coa-Stoff von einem Maler. Ave narius hat aber noch mehr gewagt: Er ſchreibt einen neuen zweiten Teil zu Goethes 358

erftem Zeil Fauſt! Das heißt doch: Ich Halte den ziveiten Teil bei Goethe nicht für gegliidt und unternehme den Verjud), diefelbe Aufgabe anders zu löfen. Darf ein Künftler das? Wir können ohne Vorbehalt antivorten: Gewiß darf er es. Ales darf ein Künstler, wenn er fann! Allerdings fest fic) Avenarius mit feinem „Fauſt“ der höchſten und fchärfiten Kritik aus.

Qn einer Ueberleitung von Goethes erjtem Teil des Faujt zu feiner eigenen Fortjegung läßt Avenarius den verzweifelten, ermatteten Faujt nahe dem Hoch- gericht liegen, wo ihm die Stimme Gretchens nod) im Obre tint. Ein geiftig armer Bruder mit warmem Herzen forgt um ihn, will ihn nad Rom zum Papjt führen und verjcheucht mit feinem Kreuz den herumfchleichenden Mepbifto.

Dann hebt die eigentlide Handlung an. Jn Rom lebt Fauft auf, inmitten einer künſtleriſchen Lebenstultur, die allerdings nicht mehr unangetajtet ijt, jondern bon einem neuen Weltgeift bedrängt wird. Das große Problem aus Goethes Fauft: Vereinigung von Abendland und Antike wird hierher verlegt und als eine Vereini- gung von Öriechentum und Chriftentum im Papft ausgedeutet. Auch bei Avenarius tritt Durch ein Wunder Helena auf, mit der fic) Fauft auseinanderjegen mug.

Die zweite Handlung führt das wiffenfdaftlide Leben in Deutjchland vor. Hier ift an den Hochſchulen die Pflegjtätte des Gedanfens der neuen Welt, die in dem Sag: „Und fie bewegt fic) doch!” am kürzeſten charafterifiert tt. Ein Hoch— ſchulprofeſſor geht für diejen Sat in den Tod. Seine Schüler und Fauft nehmen aus gleichem Geifte an der Reformation und am Bauernkrieg teil. Fauft, der an der einzigen Stelle, die hier entſcheidend helfen könnte, am Kaiferhof, Einfluß gu gewinnen fuden will, Laßt jud durch Mephifto dahin führen. Ohne Erfolg Er wird durch den Kanzler, der den Raijer vollftandig beherricht, gefangen genommen. Die dee der Reformation wird weiter verfolgt, und dann wendet fid) die Dichtung wieder der inneren Entwidlung Fauftens zu. Mit einer mächtigen Apotheoſe ſchließt das Werf: Vor Fauft zieht im Fluge die ganze Entwidlung der Menfchheit und der Welt als Bild vorüber. Jn ewigem Werden entivadft aus der Niedrigfeit des Tierifchen der Menfch, in dem allmählich das Göttliche fiegt. Die Erſcheinung eines mächtigen Goethefopfes bezeichnet die left erreichte Stufe der Menfchheit. ATS vormwärtstreibende Kraft in der ganzen Entwidlung aber hat das Sehnen gewirkt, das auch die etvige Unruhe in Fauft hervorgerufen hatte. Ym Gefühl der Erkenntnis diefer Weltidee ftirbt Fauft, langjt dem Böfen entwadhfen, alg er fic für Andere opfern wollte, als alfo das Göttliche in ihm gefiegt hatte.

Diefer Schluß mit feiner großen, klaren Ydee und feinem wertvollen Gedicht von dem Wachen der Menjchheit läßt uns nur mit unbedingter Achtung an die Kritik des Werkes herangehen. Rücdblidend von diefem Schluß auf die ganze Dich- tung erfennen wir Vorzüge und Mängel tlarer. In erjtaunlicher Aehnlichkeit ver- läuft die Handlung und die Entwidlung Fauftens bei Goethe und bei Avenarius. Die leitenden Motive find durchiveg diefelben. Avenarius hat fie deutlicher heraus- gehoben, er hat die ganze Handlung in eine gefchloffenere Umivelt gefegt alg Goethe. Das ift natürlich für ein Drama ein Gewinn. Er hat fejtgehalten an dem Zeit- alter, da die Kulturmwelt an der Scheide zweier wefensverfdiedener Epochen ftebt. Die Unficherheit, die Bewegung, welche folche Webergangszeit mit fic) bringt, ift gewiß der Nährboden für fauftifche Naturen. Da ift das Durchringen zu der Er- fenntnis, daß das Sehnen der Menfchheit eiviges Gut fet, wirklich die höchit- mögliche Leiftung eines Außerordentlichen.

Bezeihnen wir diefe Konzentration des gewaltigen Stoffes auf eine einheit- Liche Umwelt als ein Verdienft Avenarius’, jo haben wir andererfeits allerdings das Gefühl, bab Fauft nicht aus diefer Ummelt herauswadft, fondern mehr neben als in feiner Zeit jteht. Oft befommt er den Rang einer Nebenfigur, die nur bor- handen zu fein fcheint, um andere Geftalten ins Licht zu rüden. Neue Wefenszüge hat Fauft nicht befommen. Er zehrt von dem, twas fein eigentlicher Vater ihm gab. Und fo aud alle andern Perfonen, die Avenarius von Goethe übernahm. Mephifto

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ift um nichts bereichert. Er fpridjt und Handelt in der uns befannten Weife, fordert manchmal fogar fcharf unfern Widerfpruch heraus. Es liefen fid) mehr Mängel der Dichtung aufzählen. Doch würden wir ihr damit allein nicht geredt. Die richtige Einftellung zu dem Werk erhalten wir erft, wenn wir erfannt haben, daf diefer Fauft mehr ein Werk der Weisheit als der Dichtung ijt. Sn Avenarius ijt der Denier das Urfprüngliche. Der Dichter fteht an zweiter Stelle. Aus den S been ift das Werk entjtanden. Sie bligen überall hindurch. Gie find reich und tief. Hinzu fommt die Fülle des Gefchauten, Gedadhten, Ertannten. Der ganze Reichtum eines bedeutenden Lebens ijt hier eingefchloffen. Und er war groß genug, das Werk bis in alle Teile zu füllen, fo dak faum eine leere Stelle entfteht. Aber dichterifhe Geftaltungstraft fehlte dem Verfaffer. Dichtung in diefem Fauft find einzelne Gedichte, fo der Schluß, fo auch des Profefjors Worte an die unter: gehende Sonne u. a. Aber das hat mit der Geftaltungstunft des Dramatifers nichts zu tun. Menfchen mit Eigenleben find nicht entftanden, nur Geftalten, die ihre Ideen ausfprechen.

Nach feinem „Fauſt“ jchrieb Avenarius fehr bald nod einen „Baal“. Diefes „Spiel“ betätigt eigentlich in allem das Urteil über den Fauft, dak nämlich die ſchöpferiſche Dichterkraft fehlt und die Weisheit des Werkes befter Teil ift. Aber auch die kürzere Entjtehungszeit ift unverkennbar. Sonft wären doch wohl Szenen von mehr fünftlerifhem Wert entftanden, alg tir fie Hier haben. Hier Hat fein Dramatiker aus eingeborenem Können gefchaffen. Wir miiffen an eine gut ge lungene Szene in Avenarius’ Fauft denfen, mo Michelangelo über die wenigen gejegneten Stunden des Künſtlers fpricht, in denen das Werk von felbjt gelingt, und über die vielen, vielen nichtgefegneten, in denen man fic) erfolglos das Wert ab- zwingt! Ein Niederfchlag eigen Eigenerlebens ift der , Baal” nur in den Szenen, two fid) der Verfaffer die itbermadtigen Gefühle bei der ſchmachvollen Behandlung unjeres Vaterlandes durch die Feinde Dat von der Seele fchreiben wollen oder müſſen. Denn es handelt fich unter dem Spiel von Hannibal, Karthago, Rom im „Baal” dod) nur um die Kriegsgefchehniffe unferer Beit. Dramatifd geftaltet find fie in diefem Werk nicht.

Warum greift die deutfche Bühne nicht mad) einem Werk wie dem „Fauft“ von Avenarius? Troß allem Dat es fo viele Werte wie irgendein anderes der legten Jahre. Und warum hält fie e3 nicht für ihre Pflicht, diefe Werte lebendig zu machen? Wiffen wir doch, daß auch Goethes zweiter Teil des Fauft durch die Darjtellung auf der Bühne taufend Menfchen reichen Segen gebradt hat.

Wäre unjere Bühne wirklich die Hüterin der Kunft, dann würden foldje Werke nicht Buch bleiben! Aber pir werden wohl auf die neue Bithne warten müffen, die es ernfter meint mit der Runft. Georg Kleibömer.

werd. Avenarius, Fauft, eine Dichtung, geh. 6, geb. 10 ME. Baal, ein Spiel, geh. 3, geb. 6,60 ME., beide bei Georg D. W. Calley.

Seine Beiträge

Rubige Erwäqungen N der aufgeregten Zeit.

FM dem Sinten des Kurfes der Mart geht wieder eine Welle von Lebensangit durd Y das deutiche Volt. Wie beim Ausbruch des Krieges ftürzen die Frauen in die Kaufläden, um as was fie für ihr Geld irgend befommen tónnen. Soweit es fic) einfad) um eine pba bon Einfäufen handelt, die in kurzem doch hätten qes macht werden miiffen, tft toenig dagegen zu fagen. Wunderlich aber ift die Heine Angít, als könnte man fid mit ein paar Einfäufen vor dem großen Voltsididial retten. Kommt ein Staats» und Volts-Banterott und ein allgemeiner Niedergang des Lebens, jo kann {id der Einzelne aud mit einem Häuflein Konfervenbüchfen in der Speifefammer und einem neuen Kleid im Schrank nicht davor retten. Das Schidjal erſchlägt die Beinen Hamfter genau jo wie die harmlofen Máufe. Man follte fic) vielmehr innerlich bereiten, die

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Folgen des Volksſchickſals tapfer auf fic) zu nehmen, und man follte fic) überall einfegen, nicht als pr er, fondern alga Bolt einem feindfeligen Schiefal zu trogen. Nicht: Ad Gott, ach Gott, wenn wir nur genug Zuder zum Weihnachtskuchen boten! Sondern: Lewwer duad üs Slaab.

6. Die Regierung qe dem Volte ein verderbliches Beifpiel: das Beifpiel der Unent- ihlofjenheit. Zwei Möglichkeiten find gegenüber dem Raub Oberfchlefiens wie gegenüber allem andern Raub gegeben: entweder man fagt ja und tut nad) Kräften alles, was der Feind verlangt. Oder man fagt nein und hält dann diefes Nein auch durch. Wenn man nein ſagt, muß man folgerichtig ſein und den Kampf aufnehmen. Natürlich nicht den Kampf der Waffen, denn Waffen haben wir nicht mehr, aber den Kampf des Meijtes und der Wirtſchaft. Es müßte niemand die Befehle des Feindes ausführen; wohin ihre Truppen famen, müßten alle Arbeiter und Beamten ftreifen und fic) nit rühren. Git unfer Volf zu einem folden paffiven Kampf nicht ftart und fhidfalsfähig genug, dann bat es gar feinen Zwed, gegen das Schidjal zu maulwerfen, dann foll man lieber ja agen. Slein ijt es, wenn man erft mit Heldengefte nein jagt, und wenn dann trogdem jeder fic) eilfertig bemüht, die Befehle der ‘Feinde gehorfam auszuführen. Das Kümmer- lidjte aber ijt, wenn man weder ja nod) nein zu fagen wagt. St.

Sultur-Senfation.

Spengler, Kevjerling, Tagur: drei Namen, die feit geraumer Zeit in „aller“ Munde find. Die drei Beherrfher des Büchermarktes, der Wiſſenſchaft, Menichheitsauf- tlárung, Bollsaufrüttelung, Volterbegliitung. Bn Eilzugsfchnelle verbreitete fid ihr Name über die zivilifierte Welt, jeder geijtig oder tulturell Bedrüdte hoffte auf Löſungen, ſuchte bei pielen Männern nad Hilfe. Jedem aber, der geiftig und tulturell erfahren ijt, mußten ob jolher Sieben-Meilen-Entwidlung Sorgen und Bedenten fommen. Denn das wirklich echte Gute fentt gemach, aber felt und Fraftvoll feine Wurzeln in die Herzen und Köpfe der Sehnenden, Gudenden und Gläubigen. So war es bisher auf allen Gebieten, wo geijtige Schöpfungen, wo Offenbarungen reifer Seelen der Menfchheit anvertraut wurden. Und nod) immer ftiegen folche Werke, Erfindungen, Weisheiten auf ma und Widerfprud. Denn der Klare, Erhellte lebt feiner Umwelt und Zeit voraus. Und wenige nur waren e3 bon jeher, die das Große aufnahmen.

Spengler ift in reihlichiter, wenn aud) nicht immer veifer Form angegriffen worden. Dal zeugt von Güte in feinem Werk. Ich glaube, er wird tie fo viele heute, mo mir zerhajtet und finnabgeftumpft, nicht richtig mehr zu lefen und nachzugraben veritehen vielfach vertannt. Die Ethik feines in der Zukunft exft völlig zu erfaffenden Werkes liegt in der Aufrüttelung der Gleihgültigkeit fo vieler Kulturkreife gegen die tulturzerftórenden Aufbaubeftrebungen im weiten Deutjchland. Daß er der Gefchichte aus der Dtenjtmagds- itellung beraushelfen will, ijt verdienftvoll und fann nur bei den in unferer Hochſchulzunft verjtridten. in Geijtesbureaufratismus verhärteten Köpfen Widerftand erregen. Räumen wir der Gefchichte nicht einen weit befferen Pla in Schule und Hochſchule ein, wozu nicht ¿ulegt eine andere alg fie bis heute in den Schulen „verhackſtückt“ wird, was wiederum eine andere Gefdhidtsauffaffung, die Erziehung zu biftorifhem Sinne bedingt, fo werden wir tros aller Schäden nie flug und nach wie vor der dumme, alles. unterjdreibende nichtsgewinnende deutfche Michel bleiben. Und das Volt wird nie über den Parteiblid hinaustommen.

Keyferling je nun es fam Kunde von Betrübten und Enttäufchten über ihn aus Darmitadt. Sch hörte im Zufammenbang mit Kevferlings Schule der Weisheit anläßlich der Tagur-Woche, von der viel Gerede und noch viel mehr Gefchreibe war, etwas von höfiſcher Sitte-Audienz (!) nur für Smofings-Stinnes (!) Dinge und Namen, bie „KRulturmenfhen, nad) edler Führung Dürftende abitogen müſſſen. Er bat bereits

i fehr ernften und reifen Männern fein Führertum erfehüttert und feine Führerberufung in Frage gejtellt.

Was hat Senjerlinga Ruf begründet? Steht in feinen Werken, zumal in feinem meijtbetannten ,Reifetagebud eines Philofophen“ wirklich fo viel Neues, Bejonderes? Reife Menſchen find erfreut über einen Aufrechten und Gebenden mehr. Aber, deren gab und gibt es mehr, ohne daß fie fo zu Ehren und Lefern gefommen wären. Hier wie bei Spengler liegt offenbar eine Mafjenbeeinfluffung vor, eine Maffenfuggeftion, wie fie uns fonft nur in der Parteipolitif und im Wahltampfe begegnet. Denn die Unreifen in Scharen kaufen und loben fie. Manches Menfchlein, das bisher nur von Tageszeitungs- lektüre fic) nábrte und wohl dabei beftand, fah ich über Spengler und Keyſerling ſchwitzen. Sie waren die legte Weihnacht die am meisten gekauften Bücher. Und das bei fo hohem le two die richtigen Biihertáufer verarmt und außerjtande find, folde Werke zu faufen.

Woher tommt die Mafjenfuggeftion, die fich jebt gleich einem Krankheitskeim epidemie- artig von jelbjt fortpflanzt? pa oder wider das Werk und Schaffen Keyſerlings foll bier nichts gejagt werden. Nach meiner Eingangsdarlegung aber und nad) der bisherigen

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Gefepmagigteit muß man meffen: Die große Leferfdaft ftellt den Wert des Senferling- Werkes in Frage; Verdacht kommt in uns auf: ift es wirklich groß, nicht etiva flein und Blendwerk? Denn nodmals: alles Große bricht langfam durd und nur das Geringe grellt hell und laut auf, um dann fpurlog unterzugehen. Ich ftebe nicht an, das Wert al3 gut angufpreden. Wenn es nur nicht in die modiſche indiſche Geijtesjtrömung hinein- verwächſt. Die Begleiterfheimung aber quält mid. Gebar fie derjelbe Geijt, der die Bücher und die Schule der Weisheit erdachte? Oder ordnete er ſich höherem Wunide und Drud nur unter? Wie's aud) fei, in beiden Fallen eines Führers nicht würdig! Irgendivie, -wann, «Io ift von irgendiwem ein Wort gefallen, das dem Senfations- Hunger der heutigen Zeit entgegentam. Der verfdlang es gierig, ohne gu wiſſen, was er frag. Und was er fraß, frißt fic) fort. Man lieft und lobt und weiß nicht tas. Weit mehr nod) tritt das in Erfcheinung bei den größten unter den hier Genannten: Tagur. Gewiß, Denen fuden nad) Befreiung, fehnen fic) nad Ausruhe und neuen Wegen. Aber dak Mengen urploplich, wenn aud) vorbereitet durch die legten fieben Sabre, die Feinheiten, die abgetlárte Lebensficherhett Tagurs ertennen, ſchätzen und fid gu eigen zu maden verftiinden, ijt zu beftreiten. Mengen haben in der reinen Kultur nod nie etwas vermodt. Die Einzelnen und Wenigen allein bauen hohe Kultur auf und aus und find Singer cines Meifters (Chrijtus!), und die Mengen (ich fprede abjihtli nicht bon Maffen, die hierfür gar nicht in Betradt tommen) jtrömen lärmend nad und zufammen und bauen abwegig und zexftóren unerfeblide Werte in Verkennung des Werkes und Wollens des Meifters (Luther Banernaufftande Bilderjtirmer, erebi doriae Krieg!). enn man den Betrieb, ja, id) nenne e3 getroft Rummel, fieht, der fic) um den Namen Tagurs entwidelte, fo erfüllt uns Argwohn, Trübjal und Erſchrecken. Denn es find ja wieder die Unreifen, die Familienblattlefer und die Courth3s-Mabhler-Apoftel, die in großer Zahl mit dem Tagur in der Hand herumgehen. Yeh will alauben, bab die zum Teil unter Einjegung von Gejundheit und Leben in die Vortragsjäle gedrung?nen ER und Hörerinnen ehrliches Verlangen und wirkliches Verjtehen=-tónnen den Worten agurs entgegengetragen haben. Der Tamtam, der dabei und damit in den Tages- geitungen gemadt worden tft, überfteigt das Maß des Gefchmadvollen bei weitem. J erinnere nur an die kürzlich nahezu tagliden Meldungen über Aufenthalt und Reit Tagurs, die wie bei einem Kaifer peinlichjt jeden Schritt tundtaten. Dabei tam es dann zu Meldungen mie „Tagur wird im Flugapparat von Schweden nad Darmftadt zur Tagur-Woche fahren”, „Man plant, Zagur zum Gebheimrat zu ernennen“, (melde Plumpheit felbft der Preffe zu dumm mar). Id) bin überzeugt, dak in beiden Beiſpielen die Reflame,tunjt” der Erzeuger der Nachrichten war, dak in Wahrheit an agua Flugfahrt und Geheimratserhebung fein Menfh im Exnft gedadt hat. Dann aber die Audienz in Darmitadt! Man bevenfe einmal: ein Snbier in weitem Faltengerwand und bor ihm im Gefellfdaftsangug deutfche Jungmenſchen, denen das Herz fpringert möchte bor der Pein folder Farce und vor Begehren, hinaus in Berg und Wald gu ſtürmen uno Gott zu ſuchen! Was denn auch einige Beherzte getan haben, indem fie Darmſtadts Staub eiligjt von den Füßen jchüttelten. } Und wenn man lieft, wie die Menfden vor den Salen und auf der Straße mit ftundenlangem geduldigem Ausharren und Geſchiebe und Gedránge die Zeit geoph’ nn der Offenbarung Tagurs, fo überriefelt ung Wehmut, dak das gerade wieder ma er einem Ausländer eintreffen muß. Sicherlich, alle großen Geiftesgaben überſchreiten jeeliche politifchen und Beinlichen menſchlichen Grenzen. Aber iſt's nidt ard J das üble deutſche Hindrängen gum Fremden? Man jieht Bilder * indiſchen Weifen, und der Reiz wacht auf, ihn leibhaftig zu ſehen. Unſere Frauen’ unterliegt dem Anreiz des Südländifchen ja fo leicht. Gewiß, der Quternation als” aus der Politik wirkt hier ficjerlich ein. Aber ich fege mein Leben drauf, wenn Tagu nur ein Deutfcher ware, er würde zumeift allein geblieben fein. t se Mir fagte diefer Tage jemand, dak ich zu ſchwarz fahe und daß anfheine rb e nene, os Zeit anbrade, die eben den Geiftesherrichern den Weg bereite um fen Hemmnijje wegraume. Von nun an würde es den Künftlern und Didtern und a wohl leichter fein, den Völkern ihre Gaben gu finden und zu reichen. Frommer gg tenn, wer bereitet bier den Weg? Die Beitungsreflame und die Unmuindiget dem erftere macht's folange, alg irgendwo Geld flimpert, die zweiten miljen aber, äh Namen nichts, rein garnichts fortzupflanzen. Von Menſch zu Menſch aber pila Ti | dug Gute allein fort. Fat Ich bin ein Hellaläubiger, aber von Anbeginn an Dat mir der Zulauf ¿11 ie mißfallen. Boller Miftrauen habe ich ihn weiter genau verfolgt. Und imrrtei po gerabrte id: Deeinflußung des Senfationsfinnes, der heute felbjt in unferen @ ar It freifen nicht fehlt, Zulauf der Senjationslüjternen. hen . Bon mem gebt nun diefe Reklame, für die wir Tagur nicht verantwortlich Bücher run * ex ift dieſer Kulturſpeiulant? Gut fpefuliert hat er. Denn die Bu gehen gut.

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_ Dem Wert aber tut die Reklame Abbruch. Wer in dem letzten, wohl größtem ſeiner Bücher „Sadhana“ lieſt, wo von der Einfachheit und Wahrheit ſo viel ſchüchte gehe Morte jtehen, dem tut es toch, wenn er zugleich draußen dem Sinjtler .diefer hönbeiten einem SKinohelden gleich verherrliht und laut und grell gepriefen fieht. Man wird mir daher glauben, dag mir nichts ferner Liegt, als aus üblicher übler „gefeb- mäßiger“ Oppofitionsjudt Ruhm und Anerkennung ſchmälern und ſchmähen zu wollen. yo fomme eben heim bon einer Reife nad Deutſchlands Süden, nad Oeſterreich und Böhmen. Ueberall in den Schaufenftern und Auslagen Tagurs Bild und überall in den Zeitungen, aus en immer in den Tageszeitungen, leere, empfehlende Berichte und Anpreifungen. ir haben in deutſchen Landen feine Weifen wie Tagur. Drum ut, wenn ganze Schaufenjter mal feine Bücher zeigen. Aber wir haben tn deutjchen anden manden weiſen Mann, der uns zu helfen bereit und bereitet ijt. Denn wir find in Deutfhland, nicht in Yndien. Was von diefem fommt, mag jenem aufhelfen, mag zu neuer Volfslebensitellung führen. Haben wir dafiir aber auc nicht bei uns ein paar Köpfe und Seelen gehabt, von denen wir aufnehmen könnten und müßten? Und find nicht unter uns welde, deren ganzes Schaffen und Leben diefen Zeiten gilt? Hinein mit ihnen in die Schaufäjten! Statt folder aber grinjt ung die verfappte Schundliteratur bon „Alraune“ bis „Golem“ immer nod) viel zu viel entgegen. Das ift, was mir gugweit im een brennt. eiß Tagur von dem lauten Lärm um feinen Namen? Wenn nein, fo follte man es ihm finden, daß er ihm abjtelle. Wenn aber ja, dann ift fein Wert über Schlichtheit und Wahrheit nidt wahr. Dann bs er als Gejhäftsmann gereift. Dann hat er nur zur Schaffung und Pflege einer deutihen Sultur-Senfation beigetragen. Und ben deutjchen Seelen hat er dann Raub angetan. Und die Abgeklärtheit diefes Weifen ijt dann eine Weltliige mehr gewefen.

Yn jchlagender Weife wurde mir die Probe aufs Exempel fir meine Darlegungen uteil. Ein Angeftellter, der dem jungen Mädchen beim Yn-die-Mafdhine-fdreiben dieſes uffages über die Schulfer gefehen hat, fragt mich, weshalb ich denn gegen Tagur Sturm

laufe, wo er doch fo viel Gutes tue. Auf meine Gegenfrage, was er von dem ich weiß, daß er außer Tageszeitungen und politifden Broſchüren nichts lieft denn von Tagur gelejen, weiß er nicht mehr, was es wahr; er lentt ab und fchaltet, als ich weiter frage, ein anderes Thema ein. Am náditen Tage er wieder: „ch begreife es wirklich nicht, wo dod) foviel anerkannt tft, was er Gutes leiftet.” Ich ahne, abnte fon geftern. Ich teife wiederholt darauf hin, daß ich doch gegen Tagur oder fein Werk nicht Sturm laufe und bitte nochmals um Nennung des Gelejenen. Da gibt er zu, daß er nur aus ber Tageszeitungen fein Wiffen habe. Der gute Mann if bon Haus aus Kramer und Schlachter. Aber er muß für Tagur Stellung nehmen! Denn es ftand ja „im Blatt“. Und ich bin nur Sulturarbeiter. Karl Peter.

Die Bildungsbeivegung in Siebenbürgen,

Sys die Volkshochſchulbewegung auch nad) Siebenbürgen übergegriffen hat, ift nur natürlih. Denn es ift von jeher Gepflogenheit der Siebenbürger Gadhfen, die Kulture bewegungen im Reich aufmertfam zu verfolgen und fich dann das daraus anzueignen, was ihren eigenen Daunen und Bediirfnifjen gemäß ijt. Schon während des Krieges, aljo noch vor dem Einfegen der Hochflut bon Gründungen und Plänen auf diefem Gebiet bei ung, bat fid) dort Pfarrer G. Brandfd um die Gründung einer facdfifden Volkshochſchule bemüht; feine Gedanken hat er in der Schrift „Die däniſche Volkshochſchule und wir Sadbjen” (Hermannjtadt 1917, a. Verlags-Aftiengejell- ſchaft. Drud von Gof. Drotleff) niedergelegt. Wenn erſt jest, mach mehreren Jahren, bier darauf hingewiefen wird, jo liegt das lediglid an den äußeren Umitánden, Nun aber, nad) jo lanaer Iſolierung, follen unjere Voltsgenofjen in Siebenbürgen mijjen, daß wir an ihrem Schidjal teilnehmen.

Syn der Wahl gwifden den beiden Grundtypen der ‚Volkshochſchule“, der Univerfitats- ausdehnungsbemwegung nad) englifhem und der bäuerlichen Menfchenbildunasihule nad däniſchem Mujter entjcheidet ſich Brandſch mit unbedingter Sicherheit für das dänifche Borbild. Im Grunde hat er gar feine Wahl. Die Kraft des ſiebenbürgiſch-ſächſiſchen Golfstums ruht in der ländlichen Bevdlterung. Der Bauer aber ift in Siebenbürgen wie überall in Gefahr, nur Bauer zu fein und mit feinen Gedanken an der Scholle leben zu bleiben. „Nicht das Vaterland, (das tft damals, 1917: Ungarn), nicht die Geltung des deutfhen Gedanfens in der Welt, nicht der Sieg der höhern Gejittung über die Barbarei jteht im Mittelpunkt feines Gntereffes, jondern feine Wirtſchaft.“ Diefe materielle Gefinnung ift nun nod verjtärkt worden, einmal durch die offizielle ſächſiſche Politik, welche in den he Sahrzehnten bor dem Weltkrieg nur in einem gefdidten Spportunismus beftand, fodann durch die wirtſchaftliche Entwidlung feit Ausbruch des Krieges, welche aud) dem fadfijden Bauer ungeahnte Gewinne in den Schoß warf.

ie ift gegenüber biefer atuten Gefahr des Aufgehens im Materiellen zu helfen? Wie ijt der geiltige Menjd) im Bauern zu weden? Nur dadurd, daß er einmal, und

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gwar im bildungsfähigen Alter, für eine Spanne Zeit aus feiner engen Welt heraus

eriffen, auf eine geijtige Warte gejtellt wird, von der aus er Hinausfegen lernt in die Weite. „Die jungen Leute brauchen einmal monatelang einen Geiftesregen (und nicht nur einzelne Regentropfen). Sie müffen einmal überfehüttet werden von der Kraft des Geiftes im Menfchenleben.” Der Ort, wo die jungen Leute ein halbes Jahr lang in Geilt getaucht werden, foll eben die Volkshochſchule nach däniſchem Mufter fein.

Dieſe Volkshochſchule iſt nötig um des Bauerntums ſelbſt willen, zu ſeiner Belebung mit Geiſt, ſie iſt aber auch nötig um des ſächſiſchen Volkes willen, denn nur ſo kann es (dieſer Geſichtspunkt ſpricht ja bei den Siebenbürger Sachſen überall mit) das geiſtige Uebergewicht, das es in der Vergangenheit über die Mitnationen hatte und das ſich in den legten Jahrzehnten ftart verringert hat, aufrecht erhalten.

„Was nun im einzelnen in der Volkshochſchule getrieben werden foll, entfpridt grund⸗ ken dem, was uns aus der dänischen Volfshodfdule bekannt ift. Die befonderen Verhaltniffe Siebenbürgens bringen aber einige Aenderungen mit fic.

Jm Mittelpunkt des Unterrichts foll ſelbſtverſtändlich Gedichte und Mutteriprade jtehen; denn der junge Bauer foll aus feinem engen Bauerntum, aus feinem ererbten Berl in das Voltgtum hineinwadfen und künftig feinen Beruf als Glied feines Volkes ausüben. :

Was aber bedeutet „Geſchichte“ für den jungen Siebenbürger Sadjen? °

Buerft bedeutet es die Gefdidte feines Heinen Voltsftammes. Er hat trog einer tleinen Zahl und feiner ungiinjtigen Abfplitterung vom Gefamtvolf doch Größes geleiftet für die Verbreitung und Erhaltung abendländifch-deutfcher Bildung in Siebenbürgen; das muß aud) dem Heranwadjenden Geſchlecht gezeigt werden, das üt der Boden, auf dem es ines fteht. Der ſächſiſche Volksſtamm ijt aber nur ein Ableger des großen deutſchen Volkes. So gehört alfo zur „Geſchichte“ auch und vor allem die Geſchichte des deutſchen Volkes, die fo reid ijt an großen Perjönlichkeiten und weltbewegenden Ereigniffen.

Als Deutjcher a a aber muß er aud) bie Gefdichte des eigenen Landes kennen. Die Gründung Ungarns durd die Magyaren, die die mittelalterlide Blütezeit des Königreichs, der Verfall, die Titrtennot, die Zeit des Großfürjtentums Siebenbürgen, die Verbindung mit Oefterreich, die ungarifche Revolution von 1848, das neue Ungarn von 1867 dürfen ihm nicht fremd bleiben. Dazu wird jest nad) dem Ueber gang Siebenbürgens an Rumänien nod ein Blid auf die Geſchichte Rumäniens, fein Hinuberfchielen nad den ungarländifhen Rumänen und fein Anwachſen zum jegigen Groß-Rumänien, nötig.

Vier Faden alfo, den fiebenbiirgijdh-fadfifden, den deutjden, den ungarijchen umd rumanifden, muß der GHiftorifer der ſiebenbürgiſch-ſächſiſchen Volkshochſchule Zunftvoll zufammenzuflechten verftehen.

Einfacher, aber doch nicht fo einfach mie bei und, ift die Literatur zu behandeln. Hauptgegenftand ift natürlich die große deutſche Literatur, vom Nibelungenlied über die Slaffiter bis auf unfere Zeit herab. Dancben ijt aber andy die heimiſche Stammes Literatur heranzuziehen: „Sie ijt nicht jo bedeutend, daß fie für die Voltshochjch ule aus reihenden Lefejtoff bote; unfere ſächſiſchen Schüler follen recht tief eintauchen iM den gewaltigen Strom deuticher Dichtung; dabei werden wir aber dod) nicht verſäumen, fie aud mit fählifhen Dichtungen befannt zu machen. Sie follen es doc willen: fo Hein unfer Völkchen ijt und fo bejcheiden feine Dafeinsbedingungen, eS nimmt dod) teil an der großen jhöpferifhen Arbeit des deutſchen Oeijtes.” . A

Bon den übrigen Fächern braucht hier mur nod der Sprachunterricht erro abit zu werden. Denn außer der deutſchen Sprache, bei der auf klares Sprechen, richtiges Leſen, einfaches Niederſchreiben eigener Gedanken und fachlicher Briefe oder Eingaben gut halten ware, muß in Siebenbürgen mod) die Sprache des herrſchenden Staatsvoltes beraa dh! werden. „Hier ließe fic) erweifen, was wohl das Gejeg (im ehemaligen Ungarn) dot in Volksſchule fordert, aber die Volksſchule unmöglich leiften fann, daß bie Schäle, N Spradjtunden, durd) Lefen von Büchern und Zeitungen und durd ſchriftliche Arbei wa o weit gefördert werden, daß fie ihre Gedanken ihrem Umpgangstreis und Beruf fail predend verjtändlid in magyarifher Sprade ausdrüden, dak fie geridtlides ae eine Vorladung und dergleichen leſen und verjtchen tónnen. Damit wäre für OTe nas jtándigteit und Unabhängigkeit des Bauern viel gewonnen.” An die Stelle der he arifhen würde jest die rumänifhe Sprade šu treten haben. Das Biel wate dm prattijd): den jungen Leuten größere Berwegungsfreiheit im perfónliden und pernil Leben zu —— fe in

Auf diefe Weife ctiva denkt fic) Brandi die Wirkfamfeit einer Volkshoch fH" bie Siebenbürgen. Die Verhaltniffe haben ihn bisher gehindert, feine Gedanfert if Wirklichkeit umzufegen. Jetzt aber ift (für den Herbft diefes Jahres) der erjte pu Berfuh in Ausjiht genommen. ' dete

Inzwiſchen ift außerdem, feit fih die VBerhältniffe Teidlich aefejtigt haben, trt s ihre Bewegung ins Leben getreten, welche die geiltigen Kräfte der Siebenbiirger hi Bahnen zieht: eine Univerjitäts-Ausdehnungs-Bewegung.

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Bereits hat im Herbjt vorigen Jabre3, vom 10.—24. Auguft 1920, der erjte Deutſche Ferienhochſchulkurs in Hermannjtadt ftattgefunden. Der Plan, derartige Hoch— ſchulkurſe ins Leben zu rufen, geht fchon auf die Beit vor dem Kriege zurüd; im Sabre 1914 waren bereits alle nötigen Schritte getan und die Mitwirkung reichsdeutſcher a gefihert. Da brad) der Krieg aus.

3 der Plan 1920 wieder aufgenommen und verwirklicht wurde, hatte er fic) nicht unbedeutend gewandelt. Es wirkten nur Deutſche rumänifher Staatsangehörigkeit mit, darunter vor allem Profefforen von der ehemals deutſchen Univerfitat Czernowib; und der Hochſchulkurs wandte fic) nicht blog an die Siebenbürger Sadjen, fondern an alle deutichen Volksgruppen Groß-Numäniens. Waren dod) die Siebenbürger Sadfen in- zwiſchen mit den Deutfchen der Bufowina, Beffarabiens, de3 Banats, der Dobrudiha und Alt-Rumäniens in einen Staat aufgenommen, gilt es dod nun, dieje recht verfdieden Gruppen allmählich zu einer Kultureinheit des deutſchen Volkes in

roß⸗Rumänien zufammenzuführen. Tatſächlich haben, wenn natürlich aud) die Sachſen am zahlreichſten vertreten waren, Deutſche aus all dieſen Siedlungsgebieten am Hod- ſchulkurs teigenommen. `

Die Männer der Ezernowiger Univerjität nun wirkten mit einheimifhen angefehenen Männern zufammen. liegt auf der Hand, wie fruchtbar eine folche Veranjtaltung fein fann, wie wertvoll es für die im praftifchen Leben Stehenden ift, wieder oder neu mit der Univerfitatswiffenfaaft in Siblung zu kommen, wie kräftig der geiftige Antrieb nad- wirken fann. Die Teilnehmer waren ihrem Berufsjtand nad überiviegend Lehrer und Lehrerinnen, Abiturienten, Hochſchüler, Mittelſchüler, alfo gerade diejenigen Streife, die itr foldje Vorträge aufnahmefähig find. Und wie hörten fie! „Die gejpanntefte Aufmert- amteit, die fid) untvillfiirlid) jedem Hörer übertrug, die Difziplin, mit der 500 bis 600

enfden die kleine Kirche (in welder der Hochfchulfurs abgehalten wurde) betraten und verließen, das Fluidum eines angeregten geijtigen Hodgefiihls, das unfihtbar vom Lehrer zum Yernenden und umgelehrt Dinitberilof all das bejtatigte die Anficht der Ver- anjtalter: es geht ein ftarfer Drang nach höherer Bildung durch unjer Volk, die jahre- Tange Abgefd) Allee hat diefen Drang mächtia verjtärkt.“

Der zweite Ferienhochſchulkurs hat (im Augujt diefes Jahres) bereits in erweiterten Mafjtab und unter Mitwirkung deutjch-fchtweizerifcher, deutſch-öſterreichiſcher und reichs— deutſcher Profefforen jtattgefunden. Dieje Ferienhochſchulkurſe find ein wirkfames Mittel, das ſächſiſche Volk auf der Höhe feiner deutjchen Kultur zu erhalten.

Die Hochſchulkurſe widerftreiten nicht im mindeften der von Brandſch geplanten länd— ligen Voltshohjehule. Beide Unternehmungen wenden fic an ganz verſchiedene Menfchen, beide fónnen jehr gut neben einander beftehen, und das Gedeihen der einen fihließt das Gedeihen der andern nicht aus. Wir können beide Bewegungen mit gleichem Intereſſe

"verfolgen. Gottfried Fittbogen.

Die Kammermufit im Dienjte der VBollsbildung. Sie mannigfaden Verfuche, dem deutfchen Volfe den Zugang zur Mufit zu eröffnen, wie fie etiva feit der Errichtung des „neuen deutfchen Reiches” an den verſchieden— ften Plágen unternommen wurden, franfen an einem doppelten Uebel: fic find uneinheit- lid in der geijtigen wie der verwaltungstehnifchen Organijation.

Wir verkünden triumphierend den Anbruch einer neuen, unmateriellen Bett und glauben doch bon dem aus der Wilhelminifchen Zeit überfommenen Mafjentrieb, dem mufitalifchen ,Mammutismus”, wie er einmal treffend gekennzeichnet worden ift, nicht log zu dürfen. Noch immer gilt das „Große Orcheſter“ als die Univerfalinftanz, um mufitalifche Genüſſe der Deffentlichkeit zu vermitteln. Beethovens Sinfonien werden, ebenfo wie Wagners, Lilzts Tondichtungen in einer Bebarrlichkeit abgehafpelt, die das Heft zum Alltag jtempelt, das Ohr abjtumpfen muß gegen alles, was nicht „mit Paufen und Trompeten” vom Stapel geht. Wir vergeffen dabei, bab cs dem Gefehmad, der Auf- faffungsgabe, der Vertiefung des Geijteslebens nie und nimmer zuträglid fein kann, wenn das breite Publifum immer nur auf mufifalifaes Hochland geführt wird. Es bildet fih dann nicht allein eine Art mujifalijher Snobismus heraus, cin Zuftand des Ab— ejtumpftfeins gegen alles, was nicht aud) „hochtönend“ einherjchreitet, jondern, mas hlimmer, eine Art von unerlaubter Bertraulichkeit allem dem gegenüber, was doch bon jeher dem Tages- und Mafjenbetrieb fern gerüdt bleiben follte. Gewiß bejtimmte Beethoven feine Schöpfungen für die in Schillerfcher Menſchenliebe umfchlungenen „Millionen“. Aber wo waren, wo find bie Diillionen, die das von ihm ertraumte ideale Publikum bilden würden? Sind es wirflih alle die Vielen, häufig Allzuvielen, die in träger Abonnentenjelbjtverjtändlichkeit die „großen Konzerte“, die zu gefährlicher Gewohnheit ge- wordenen ,Becthovenfejte” bevolfern? Sind diefe mufilaliihen Menü-Progenenicht aud die gleichen Leute, weldhe auf ihrem „Beethovenſchein“ beftehen und es nicht dulden wollen, dag neben den Großen nod) andere, wenn aud) Stleinere zu Worte fommen? Sollte ihr Berjtändnis ausgerechnet bei den Slajfitern Halt machen oder darf man nicht vielmehr annehmen, bab ihre Hartnädigteit mehr aus Borniertheit hervorgeht und Beethoven

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ihnen im Grunde eben fo Hetuba ift wie alle anderen, nur muß man „feinen Beethoven’ hören, während man den übrigen gegenüber leicht und gern den „Elaffiich Gebildeten und allem weniger Bedeutenden Abgeneigten” fpielen kann.

‚Diefem verbohrten und grundunmufifalifchen Diinteltum fann auf feine andere Weife Abbruch getan werden alg dadurch, bab man die „Große Muſik“ wieder zu dem Range erhebt, der ihr gebührt: Fefttunft, nicht Alltagstunft zu fein, daß man das Publikum aus den Riefenfálen, in denen es fid) gar fo gern zu einträchtigem Schwaß, zu gegen- a Stügung in punkto Urteil und Kritik, aw dem Zwecke endlich zufammenfindet, den

er römifhe @atirifer fo treffend kennzeichnet: „Sie Lommen um zu fehen (und zu hören)

angeblich, tatfählich jedoch, um felber fic) fehen (und hören) zu laffen”, hinausdrängt in Räume und zu einer mujilalifhen Betätigung, die einen innigeren Kontakt So iden Künjtler und Zuhörern zuläßt. Und ein folder Zufammenhang bon Ausführenden und Gentefenden tut feiner Zeit und feiner aha fo bitter not als der unferen, die fid ja nebenher als die Epode der Ausgleihung der fozialen Gegenfäge ausgibt und die fid A ah le Prunkſucht des faiferliden Zeitalters zu einer fernigen Einfachheit Din geführt zu haben. *

Die Kennzeihnung der Mufit als „gejellihaftsbildende Kunſt“ duch Paul Better findet vielleicht feine beffere Anwendung als auf das Sondergebiet der Sammermujit, die, aus der Volfstunft des Lautenfpicl3, der Gejellihaftstunft des Enfemblefpiels bervor- gegangen, auc) heute wieder ihre bindende Kraft fehr wohl entfalten würde, wenn man nur Mittel und Wege finden wollte, fie richtig anzuwenden. Möglichkeiten bieten fich da mehr als genug: Verfajfer hat in den Lefehallen der zwölf Volfsbibliothefen Kölns wöchent⸗ lie Streichquartettabende eingerichtet und die denkbar beften Erfahrungen damit ge macht: der Zulauf zu diefen Veranftaltungen fteigerte fic) von Woche zu Woche, die Räume, die nur für eine befdrantte Zahl von Bücherfreunden berechnet find, drohen zu eng zu werden, und zahlreiche Zufchriften zwangen uns, die Konzerte auch über den fonjt er fahrungsgemäß mufitunluftigen Sommer hinaus fortzujegen.

Was eine diefer Zufdriften mehr oder weniger ungefdidt und laienbaft, aber umlo ehrlicher und eindrudsvoller ausiprad, das bildet den Hauptgeſichtspunkt aller Be miibungen um die vermehrte Pflege der Kammermuſik im Dienfte der Voltsbildung: der Bug unferer Zeit nad) Steigerung der reingeiftigen Elemente innerhalb der tiinftlerifóen Betätigung, fet fie um fchaffender, nachſchaffender oder aber genießender Art, muß geraden- wegs auf das Gebiet der tammermujitalifen Schaffensweife führen. Die zeitgenöffilde Produktion hat diefen Weg bereits mit Entjchiedenheit eingefhlagen: es herrſcht fein Bweifel mehr darüber, dak die beiten aller neuerlich an die Oeffentlichkeit gelangten mufi- falifchen Werke diefem Sonderzweig der Muſik angehören: Sammerfinfonien entjteben, Sofeph Haas jchreibt abe gleihermaßen graziöfen wie urwüchfigen Divertimenti, Bläfer- vereinigungen organilieren fd, Preisausfchreiben (felbjt aus dem angeblid nod in Soliftenwahn befangenen Amerika) werben um rege Beteiligung, Kammermufiffefte gehen ohne Außerlichen Brunt, aber mit reihem inneren Gewinn vor fd an allen Enden des Reiches: in Köln-Brühl, Donauefhingen, Wiesbaden, neue Duartett- und Trivenfembles formieren fic. š

Nicht allein die Rüdjicht auf notwendig gewordene Sparfamteit, auf Befdhrantung ber inftrumentalen wie räumlihen Umstände it bier am Werke. Wie fi) in der darjtellenden, bildliden Sunft unferer neuen Zeit eine Abkehr bon dem Schwelgen in Farben, dem Prunten mit Virtungsmitteln zu vollziehen beginnt, ganz ebenfo ijt man (9. 5. natiirlid derjenige Heinere Teil des „Volkes“, der jederzeit und immer für die Entwidlung des Kulturlebens in Frage tommt und der ſich weder fozial, nod) ſonſtwie abgrenzen und be- zeichnen läßt) im mujitalifoyen Leben des materiell genießerifhen Spieleng mit Im— preffionen jet und ftrebt nach Bleibenderem. Mufikhiftorifer moderneren Stiles mie Ernft Kurth in Bern und Hans Yoadim Mofer haben die Bedeutung der alten linearen Schaffensweife für unfere nad gejunder Wiederaufnahme einjtiger entwidlungsfähiger Werte erkannt, geniale Schaffende wie May Reger haben bereits Lebensfábiges gegeben, der Stil felbjt der Oreheftermufif beginnt nad) der fammermufifalifhen Seite ih hinzu⸗ wenden, wie Richard Straußens Artadnepartitur, Schrekers und Schönbergs Kammer finfonien zeigen. Was allein nod) fehlt, ijt die Erziehung des Bublifums zu einer Aufe nabmeinftang des neuen Gefdaffenen und nod) zu Schaffenden. Schulen, Voltshodiduler, Konfervatorien und Volfstonzerte haben hier ein reiches Gebiet zu beadern. "Darüber wird nod) an anderer Stelle zu handeln fein. Hier foll nur das eine Widtigite herbot” gehoben werden: daß das Anhören, die Beichäftigung mit einer Mufil, die fern aller „tondichterifchen“ pfeudoliterarifhen Effekthaſcherei allein darauf ausgeht, den Sinn für die veinmufitalifche, melodifd-lineare Bewegung mit der ihr innewohnenden ſeeliſchen Spannung und Entjpannung, ihrer tieffumboliihen Bedeutung der Tonjehritte zu heben, eine Gefundung des deutſchen Volkes, ein Wiedereritarten der angeblich ,,untergebenden abendlandifden” Mujit im Gefolge haben muß und wird. Hermann Unget

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Bücher für Sale Kreis,

KR ‚das it ein Zeichen der Zeit: die edelften Geniiffe find verhältnismäßig am

billigjten geblieben. Sie find nicht in die Atmofphäre des Schiebertums eingegangen. Bor allem nicht das gute Bud. mar die Luzusdrude, insbefondere die pornographifden, geben in der Preisjteigerung dem Wein, den Importen und den Sluntern, die auf den Spedwänjten der Schieber und an den Fetthälfen ihrer Frauenzimmer baumeln, nichts nad). Aber das Bud, das geijtige Anfprüche ftellt, ift gu einer Angelegenheit der armen Leute geworden. Papterpreije und Drudfoften haben natiirlih jedes Bud) um ein mebrfades verteuert, aber wenn man die Bücherpreife mit den Preifen andrer Dinge vergleicht, fo bat man das Gefühl, in anjtandiger Gefellichaft zu fein. Darum werden wir armen Leute, wenn wir überhaupt nod) im Stande find, Gefdente zu faufen, zu Weihnachten vor allem Bücher faufen. Da unfre Lefer gi ria dem anftándigen Kreife der armen oder wenigſtens ärmeren Leute angehören, möchte ich fie jegt in der Vorweihnachtszeit auf einige Viider aufmerfjam madden, die id) nasa gern in ihren Händen fähe.

Das religiöfe Schrifttum unfrer Tage ift unüberfehbar angejdwollen. Darum tollen wir einige Schriften Hherausheben, die den Sudenden echte Exkenntniffe geben. Dem Züriher Pfarrer Hermann Kutter verdante ich Wefentliches. Seine bei Eugen Diederichs erfchienenen Bücher „Wir Pfarrer” (1907) und „Revolution des Chrijtentums“ 1908) find unveraltet. Auch jeine „Reden an die deutjche Nation”, die während des

tieges an ein ſiegreiches Deutſchland gefdricben wurden und worin er die zugleich ewige und irdiihe Aufgabe unfres Volkes in gliihenden Worten verkündet, enthalten un- verganglide Stellen und eine große Wahrheit für die Zukunft. Das letzte mir betannte Werf Stutters iſt das bei Kober E. T. Spittelers Nachfolger in Bafel 1917 erjchienene „Bilderbuch Gottes für Grok und Klein”, Betrachtungen, die lofe an die erjten vier Kapitel des Romerbriefes anjhliegen. (ES find alles eruptive Schriften, die immer nur eines behandeln‘ das Eine, das nottut. Intelleftuelle tommen bei Kutter nie recht auf ihre Sojten, fie fallen viel eher auf Ragaz hinein. Es ift ja aud fo harakteriftiih: Sutters quellend lebendiges Gemüt ergriff Partei für den geſchmähten Bode, während der grit- belnde und richtende Ragaz gegen uns den belehrenden und Zeigefinger erhob. Zweitens nennen mir antes Müller mit feinen „Reden Kefu“ und feiner „Bergpredigt verdeuticht und vergegenwärtigt”. Müllers legtes Bud) erfchien 1920: „Neue Wegweiſer Aufſätze und Reden.“ Dieſer Band iſt als Einführung in ſeine Welt be— kanns geeignet. Müllers Verleger ift E. $. Bed in Münden. Als dritten nennen tir

rtburBonus: „Religion als Schöpfung”, „Religion alg Wille“. Bonus zieht aud den intellettuell Anfpruchsvollen an, er ijt in gutem Sinne geiftreid. Nie aber verliert er den Inſtinkt für das wirklich Erlebte und Erlebbare. Zu Bonus gehört Friedrid Gogarten: ar als religiöfer Denker“, „Religion und Volkstum“, „Religion weite her”. Gogarten hat die Unbedingtheit der Religion, den tiefen Gegenfaß zu aller bloßen Kultur glanzend, wenn aud) oft nicht „Leicht“ dargejtellt. Gogarten jtellt ebenfo mie Bonus an den Lefer (wie alle ernſten Religionskündiger). Beider Verleger ift Eugen Diederichs. Zu wenig bekannt geworden iſt das dreibändige Werk des Hamburger Pfarrers Ludwig Heitmann: „Großſtadt und Religion”. (Verlag von C. Bopfen in Hamburg.) Der erjte Band jehildert „die religióje Situation der Grofftadt”. Der zweite handelt vom „Kampf um die Religion in der Großftadt“. Gm dritten, umfáng- lichſten und ſchwierigſten Bande gibt Heitmann feine Darjtellung der „religiöfen Wahrheit für die Großjtadt”. Wir empfehlen unjern Lefern, fic) wenigjtens mit dem zweiten Band gründlich zu befchäftigen, es lohnt fid. (Man fann die Bande einzeln kaufen.) Daran mote id) ein or entjchiedenes, qualerd) problematifdes und religiös flares Bud ans ſchließen: Reinhard Liebe, „Die Neugeburt des Chriftentums. Ein Bud bon der Schickſalsfrage des Geijtes der Gegenwart”. Das ift wieder einer, der etwas vom Weſen erfaßt hat! Und nun nenne id) etwas, was in Drud und Papier überbejceiden dahere fommt, aber in das Suden unfrer Zeit wie cin Blip hineinfchlägt: „Der Brief des Paulus an die Römer. Sein Gedantengebalt in neuer Sprache für unfere Beit’ bon dem Altonacr Bajtor Fr. het Ba (Burdhardthaus-Verlag, Berlin-Dahlem. 2.50 Mt.) Es iſt erftaunlid), was im Romerbrief ftedt, wenn es nur in der Sprade unfrer Beit aus- gefproden wird! Einmal fegt Engelte unter einer Kapitelüberfchrift Hinzu: „Wenn wir um Folgenden jtatt Juden: Chriften, ftatt Gefeg: Gottes Wort, jtatt Beichneidung: Taufe leſen, dann treffen die harten Worte des Paulus uns Ebriften genau fo hart.” Yn der Tat! Tolle, lege! Wer ein modernes Andachtsbuch wünjcht, aus dem er einzelne Bee tradtungen lefen oder vorlejen kann, dem empfehle ih Ricarda Huds „Sinn der Heiligen Schrift“. (Infel-Verlag, Leipzig 1919.) Es find einzelne Stüde darin, die mir, nicht zufagen, es wird zumeilen reichlich philofophiert. Aber fait auf jeder Seite finden fid) befretende Tiefblide, treffende Formulierungen für eine tiefere Wirklichkeit als die des Sages. Ein noch mannigfaltigeres Andachtsbuch ift Friedrid Lienbarda „Meilter ber Menjchheit” (bei Greiner und Pfeiffer in Stuttgart). Der erfte Band: Die Ab-

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paras aus dem Licht. Der zweite: Akropolis, Golgatha, Wartburg. Der dritte: eihsbejeelung. Eine reihe Fülle von Eigenem und Ausgewähltem, alles zur Einheit zufammengehend. (Es ift ein religiöfes und fittlides Schagkäftlein, deffen Inhalt mit Geſchmack für das Wefenhafte, das Myſtiſche gefammelt, gefaßt und von einem Meeifter aus Eigenem vermehrt ift. An diefe Auswahl möchten wir nod) anjchliegen ein Büd- Icin, das feheinbar ſozialpſychologiſch, im Grunde aber religiös gerichtet ijt: Heinz Man, „Proletariihes Verlangen“. (Eugen Diederihs. 10 Mt.) Es ift wichtig für alle, bie unter dem Problem leiden: muß in der Maffe nicht alle Innerlichkeit und alfo alle Religion im eigentlichen Sinn des Wortes zum Teufel gehn?

3.

Bon den Schriften, die politifhe und erzieherifhe Fragen mit Einftellung auf dos Bolt (in dem uns geläufigen Sinn des Wortes) behandeln, nennen wir ein Sammeltoert, das diefer Tage bei Pactel erfheint: „Die mene Front”, herausgegeben von Mar

ildebert Boehm und Frhr. von Gleidhen Rugwurm. Die politifden und wirtſchaftlichen

ragen werden hier aus einer neuen Gefinnung heraus behandelt, jenfeitg aller mancheiter- ten und fogialiftifden Lehrfäge. Den Abfchnitt über „Volt und Bolfstum” babe id felbft beigeftenert, und ich glaube, es ift nicht bloß eine Wiederholung defjen, was ich fon anderswo gefdrieben habe. Meine „Woltsbürgerlihe Erziehung” Ganſeatiſche Verlagsanjtalt, Hamburg) wünſche ich felbjtverjtändlich in bie Hände aller Lefer unjrer Zeitſchrift, das Buch it ja fozufagen das Programm des „Deutſchen Voltstums”. Oth— mar Spann in Wien fommt mit all feinen Büchern für uns in Betracht. Nod habe ich fie nicht felbjt lefen können, aber nad) allen Befpreungen und Berichten hat er uns fehr viel zu geben. Als Inappfte und flarjte Einführung in feine Gedanken wird uns empfohlen: „Vom Wejen des Voltstums”. (Böhmerland-Berlag, Eger.) Ein Bücherbrief wird im fommenden Frühjahr ausführlicher von Spann handeln. Ferner heben wir her aus Mar Wundts Bud , Vom Geift unfrer Beit“ (3. %. Lehmann, Münden), eines der wenigen kritiſchen und aga a ere Beitbücher, die auf die Dauer jtandhalten und wirklich Gefinnung bilden. Nicht vergeffen wollen wir das Vermächtnis des greifen ie Dietrid Schäfer: „Wie wurden wir ein Volt? Wie fonnen wir es bleiben?“ (gleichfalls bei Lehmann in Münden). Aud wer nit jedes Urteil unterjchreibt, wird das Büchlein nicht ohne Bewegung lejen; diefe Summe eines gedanten- reichen Lebens gibt in tlar und le uya formulierten Sägen, die wie reife Früchte im Laube hängen, gewichtige Erkenntnis. Cine lebendige, geijtvolle, dabei tnappe, man kann wohl jchlantweg jagen: die befte neuere Einführung in bie deutſche Geijtesart gibt Bruno (olja in der Schrift „Deutſche Kultur“, dem erften Heft der bei Voigtländer in Leipzig erfcheinenden Reihe „Deutiher Geift“. (Geb. 6, fart. 7 ME) Die Anwendung des volfifden Gedanten3 auf das Wirtimaftsleben gibt in fonfequenter, tiefgreifender Durchführung Paul Bröder in feinen ,Wertgutgedanfen” (Hanjfeatifde BVerlags- anjtalt, Hamburg) auch eines unfrer Denen, die ſich mit Er— beſchäftigen, empfehlen wir ilhelm Erbts „Deutſche Erziehung. Eine Geſchichte der Lebenswerte unſrer Volkes und ihrer Verwirklichung an ſeiner Jugend“ (Moritz Dieſterweg, Frankfurt a. We.) und die von Walther Hofjtaetter herausgegebene Deutitunde: „Won deutſcher Art und Kunft“ (Teubner, Leipzig, a 42 Wet.). erbt durdwandert die Geſchichte vow der Vorzeit Gegenwart, um ſie für die Erziehung fruchtbar zu machen; Hofſtaetter und ſeine Mitarbeiter bieten reichen Stoff für den Unterricht. Zum Schluß nennen wir ein Werk, auf das wir ſchon mehrfach hingewiefen haben: Walther Elafjens gewichtige Volksgeſchichte: „Das Werden des deutichen Volkes“, deren erfter ftarter Band nun gebunden vorliegt (Hanfeatifche Verlags anjtalt, geb. 56 Mt.). ¿

Bum Schluß jtellen wir einige Werke zufammen, die ung Freude am deutſchen Bolfstum vermitteln. Als erjtes fet das ,Romantif - Land” genannt, das Ludwig Benninghoff herausgegeben hat (Hanjeatiiche Berlagsanjtalt, geb. 24 Mt). Benninghoff, der ja unfern Lejern befannt ift, hat die Romantiter nicht nur gründlid) ftudiert, fondern er hat von Sugend auf mit ihnen gelebt. Darum ijt jeine Auswahl feine zufällige Zujammenjtelimig von allerlei Schönem, jondern ein funftvolles Geſchmeide aus den edjteften Steinen und dem deutjcheften Gold. ch bin exftaunt, was für Herrlich⸗ keiten ich aus dem Bude nod) fennen gelernt habe. Es bleibt in der Tat ſonderbar, bab eine Erzahlung wie Eichendorffs „Stüdstitter“ nicht zum eifernen Bejtand ber Jugendbemegung gehört. 16 Bilder von Meiftern wie Runge, Schwind, E. D. Friedrich, Rethel, zum Teil wenig befannte, find in dem Buch wiedergegeben und verjtärfen bie Stimmung. Sch felbjt bringe bet der Hanfeatifhen Berlagsanjtalt zu Weihnadten eme längjt geplante Bücherfammlung heraus: „Aus alten Bücherſchränken“ er Titel deutet für den Hellhörigen das Programm an. Die Bücher zeigen ein gutes Schrift: bild, fie werden anjtándig ausgejtattet, fie foften je nad) dem Umfang 10 bis 20 Mt. ALS erjtes erſcheint: „Deutiche Freibeitslicder”. Sie heben mit Goethe und Schiller an,

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begleiten die Beit der preußiſchen Niederlage, der Befreiungstriege, die Burfhenfchaftszeit und flingen mit den bitteren Zornesliedern des alten Arndt aus. Das Teftament einer deutiden Zeit! Ich habe die 80 dichterifch wertvolljten Lieder herausgefucht, befannte wie unbefannte. Da folde Gedichte Jegt aus den Lejebüchern und Singbüdern alg un- zeitgemäß entfernt werden, möchte ich fie dem Zeitgeijt zum Troß allen trogigen Seelen ms Herz fenten. Tod und Zeufel diefe Lieder follen nod) einmal jugendliche Herzen in Brand fegen! Ste haben ihren Dienft nod) lange nicht ausgetan. Sd) habe eine ause

hrliche Einleitung dazu gefdrieben. Der ¿iveite Band bringt ,Vergeffene Grimmfche

arden”. Sd) habe aus ‚ben miljenjchaftlihen Anmerkungen der Brüder Grimm 55 Marden die in fic) geſchloſſen ſind. Sn den berühmten zwei Märchen— bänden find fie nicht enthalten, nur der Märchenforſcher pflegte fie zu fennen. Aber es find entzückende Stüde darunter, beſonders auch humorvolle. Ich ſelbſt habe viele Freude an diejem vergejjenen Schatz gehabt. Die Freiheitslieder und die vergeffenen Märchen werden vor Weihnachten jicher fertig. Fertig werden foll außerdem die Hauptichrift des ——— aber ſehr echten und tiefen lutheriſchen Myſtikers Valentin Weigel aus dem ſechzehnten Jahrhundert: „Geſpräch vom wahrhaften Ehriftentum”“. Alfred Ebrentreid) hat die Ausgabe mit großer Treue beforgt und eine qute Einleitung dazu gefdrieben. Der vierte Band bringt Karl Simrods „Buppenfpiel bom Doktor Faujt”. Simrod hat nad jeinen Jugenderinnerungen das Puppenfpiel neu gedichtet, es tft ein wundervolles derb- volfhaftes und zugleich künftleriich-feines Stück geworden. Ich fand es zufällig in einem antiquarifhen Sammelband. Es it ganz befonders geeignet für Aufführungen. Jn R. Voigtländers Verlag erjheint ein feines Notenbud: ,Geiftlid Lied”, heraus- gegeben von Hans rae gebunden gu dem unglaublich billigen Preis von 7.50 ME. Es ijt ein Bud geijtlider Lieder für die Jugendbemegung, befonders aud) für Jugend- gottesdienjte. Diefes Buches follten fid) unfere Lefer befonders herzlich annehmen. Nod) etwas Feines fommt eben jest bei Voigtländer heraus: „Matthias Claudius, der Wandsbeder Bote. Jm Bilderfhmud Ludwig Richters”. Der Marburger Theologe Sarl Budde gibt es heraus. Cin köftlihes Bud auf holzfreiem Papier, gut und gerne jeine 30 ME. wert. Hierher gehört aud „Das Erbe. Ein Buch Gedanken, Bilder und Gejtalten”, herausgegeben von Tim Klein, mit 88 Bildern. (Piper & Co., Münden. Su Halbleinen 60, in Halbpergament auf bejtem Papier 80 ME.) Eine Sammlung aus unjern großen Gottestimbigern, Philofophen, Dichtern, Politikern ufw., dazu Blatter von Schongauer bis Marées und Cherlander. Ein anthologiſches Meifterwerk, das weit mehr als eine Anthologie tit.

Dieje Auswahl beanfprudt nicht bollftándig zu fein, fie will nur einiges wenige her- borheben, das der Beachtung wert it. Eine umfaſſendere ee an die bon unjerer Grundeinjteiiung aus eine größere Maſſe von Büchern jichtet, wollen wir zu Oftern herausbringen. St.

Michael Kohlhaas.

O Menſchen vergangener Zeiten hatten Bücher ein geheimnisvolles Leben. In ihnen „wohnte die Kraft, Vergangenes und Zufünftiges zu offenbaren. Tat, Ereignis, Heine Umſtände bedeuteten etwas, hatten einen verborgenen Sinn. Hörer und Lefer lebten das Bud. Sie ertajteten mit der Unmittelbarteit ihrer Seele, mit der Feinfühligkeit ihrer Sinne das legte Geheimnis von Dichtung, das Myſterium, daß einer in fich das Wunder des Seins, Leidens, Schiefal und Tat derer vor und nad ihm in Hd ftárter leben und aus fic) gejtalten muß. Er fchaut die fiebenfach verfiegelte WApotalypfe und muß feine Schau fiinden. Leben und Wiederleben der Jahrhunderte ijt in das Geheimnis feines Symoboles verjthlungen. Die Herzen der alten Zeit erfühlten diefes dunkle Wunder und fhufen aus diejem unbewupten Gefühl ihren Mythus von der Prophetie.

Hin und wieder fommt etivas von diefer Unmittelbarteit über uns, daß wir durch alle Schleier und Vorhänge der äjthetifchen, Literarifchen, wiſſenſchaftlichen Cinjtellung das Wunder des Wertes felbjt funteln fehen. ch denke an die Wirrniffe einer Herbjt- fturmmacht, wenn ber Wind fic) vom Gotteshimmel herabwirft und über die dunfle Erde fährt, wenn mit dem Braufen der Nacht unfere Not und unfer Schidjal und mit ihm bie wilden Triebe finnverwirrend aufftehen, Hak, Zweifel, Rachgier, aber die Licbe ift mitten inne und hält das mantende Herz, das den Winden gegeben ift wie draußen die jtöhnenden Bäume, die im Sturm ftehen wie Fontänen. In der Qual der Unficherheit, verdammt zu Untatigfeit im Sturm des Geſchehens, greift man ein Bud, in einem dumpfen Trieb, etwas wie eine Zanberformel zu Jinden, einen unerflarbaren Einblid in Zufünftiges, Klarheit über undurchdringliches Dunkel zu erzwingen. Da liegt einem der , Wichael Sobíyaas” Sleijts in der Hand. Der Name geijtert wie ein graufiger Spuf mit [chredhaft toller Somit. Wir heben an zu leſen, es fist einem auf dem Naden wie ein eiferner Griff, peitjcht einen hinein in den Graus, mie der Sturm, der die ſchwarzen Wolfen hinjagt.

Da ift das Wunder: Diefer fchlante, blonde Preuße Heinrich von Kleijt mit dem durch Geſchlechter gezüchteten Körper des Gardeoffiziers und dem jugendlichen Antlig, auf dem Leid, Entbehrung und das Damonium, ein Dichter fein zu miiffen, ihr Mal eingruben, ihm

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ward die Laft, das Pathos, das Leiden aller Zeiten feines Volkes in ſich zu tragen und zu offenbaren in der Tat feiner Didtung. Urtage find in ihm, jene Zeiten, als die Waller des Meeres empört gegen die Rippen nordifcher Küften brüllten, alg unterirdifche Feuer— fteróme durch Lavajchladen brachen in heißer Wut, aber auch alles ftume Leid der abr: pa bon den verborgenen Tränen einer Mutter bis zum ſchweigenden Weh des harten

tannes, der die Zähne zufammenbeißt und feinen Weg gehen muß trop Tod und Herze- leid. Die Geißel Gottes in Esel, der die Germanenftämme treibt, daß ihr Meer brandend über die zerjtörte Erde fíutet, lebt in Mleift, der Rachewille und die Maßlofigkeit einer aus den Nibelungen und die eiſige Qual eines Gekreuzigten von Grunewald.

Aber tst herzensſchwerer tft feine feiner Offenbarungen, trauriger in Bers Jtórung und Leid der Tat, uns Armen perjónlid) näher als „Michael Kohlhaas”.

Das Schidjal Gottes ift über uns, die Stunde, wo wir wiſſen, daß wir nicht mehr tragen und dulden dürfen, tie fte über Stohlhaas ijt, als er feinen Hof verkauft und der Welt zu ihrem Recht verhelfen muß, die Stunde, wo wir wiffen, daß diefer Kampf Tod und Vernichtung ift, wie Kohlhaas, der fchiweigend fein treues Weib mit dem Sleinften im Arm bitterlid) weinen fieht. Aber nun fehmiedet Kleiſt Hieb um Hieb dies Unbheilsfdidial, nun türmen jich bie Taten und Yeiden, die fommen müſſen, weil Gott es will und uns unjer Gewwifjen in die Bruft gab. Aus Leid und Trauer wächſt die fürchterliche Geftalt, der Wiirgeengel, der wie ein blutiger Komet am Sturmbimmel erſcheint.

Wir wollen der unerhörten Sunjt der Darftelluna nicht nachgehen, die im tleinften Nebenwort die Handlung fortführt, bammt, den Funken wieder anfadt wie eine ans geblajene Kohle, mit fic) ringt und weiter gloften muß, bis der Flammenjtoß weltver- zehrend brennt.

Wir wollen das eigenartig Deutſche diefer Rache fehen: Kohlhaas muß ſich Recht ere ftreiten, ob er will oder nicht, fonft fann die Welt nicht weiter gehen. Er ringt mit Gott um feine Sendung: laß diefen Kelch an mir vorübergehen und weint Tränen, wie nur ein Mann fie weinen fann. Seine Rache if feine Befreiung, fein wilder Rauſch, fondern herzerſchütterndes, kaltes Elend. ALS fie ihm fein Weib gemordet und er für die Tat außerlich frei ijt, wird er nicht hemmungslos, beginnt fein ſchweres Werk nicht in Wut, fondern in Grauen mit der tiefiten Erbarmungswürdigkeit eines pericia Herzens. Und als dem Würgeengel aud nur ein Schein auf Erfüllung feines Rechtes wird, gibt er die Gewalt aus der Sand und ist, ein elender Gcfangener, auf dem Stroh einer falten Herberge zwiſchen einem Tag, den er als transportierter Verbrecher zubringt, und der fiheren Ausfiht auf den Senterstod, und füttert mit Semmel und Mild fein zartes, trantes Sindlein.

Und nod eins, voll dunkler Schauer und doch heimlichen Trojtes, was diefe Kohl- haasgeſchichte, diefe Radelied jo erihütternd madt: Ein ganz Geheimnisvolles, fo bee eichnend Germanifches: die zweite Seele, die mit thm war und vor Beginn feiner Rade Mar, verläßt ihn nie. Nirgends in aller Literatur ift das alte Wiffew von den Folge- geiftern, der nordifchen Fylgia und dem deutſchen Schußengel, fo tief aus dem Unbetwuften geftaltet als hier.” Wir alle fühlen das dunkle Wunder, daß eine Seele, die mit uns ilt, uns begleitet in Tun und Denken in unerflarbaren Bufammenhängen. So bleibt die Frau, die mit Michael Kohlhaas lebte, fein treues Eheweib Lisbeth, über ihren Tod hin- aus um thn, fichtbar in der verworrenen Gefchichte mit der Stapfel, die das Zigeunerweib, das ihre ERAN trägt und das Kohlhaas Hund bei der legten Begegnung vor [einer Hinrid- tung anwedelt, dem Roßkamm übergibt. Das ift fo zart und dunfel angedeutet und be- laffen, wir jtehen vor einem Geheimnis, das der Dichter felbft nicht antajtend auflöft.

G8 ift fchade, daß der Begriff „Myſtik“ fajt etwas wie Mode angenommen hat. Rleifts Kohlhaas ift Moftit. Wir leben ins ung, was Gott in ung hineingelegt hat. Er ſchafft den Sturm und die Stille. Sein ift auch unfer Haß, aus dem das Feuer ausfährt in bie Welt und F verzehrt. Not der Nacht, Sturm iſt über der Welt. Gottes Zorn ſteht auf in feinen Geſchöpfen. Die furchtbaren Reiter donnern an den Toren: „... Und es ging heraus ein Pferd, das war rot, und dem, der darauf fag, ward gegeben, den Frieden zu nehmen von der Erde und daß fie fic) untereinander erwürgeten, und ihm ward cin groß Schwert gegeben.” Wir wollen jtille halten und aus uns herausleben, was Gott will. ¿romm als Deutſche, die fein Werkzeug find. Ludwig Benninghoff

Alois Kolb.

SS unit ift für jeden Sehenden und Fiihlenden etwas jo unmittelbar Wirtendes, dat man diejfen lebendigen Eindrud nicht durch allzuviel Theoretifieren in Frage jtellen follte. Gewiß: man fann über Weniges fo Hug reden wie über unit, und die Gegenwart madt von diefer Möglichkeit einen mehr als ausgiebigen Gebraud. Aber wag fommt am Ende dabei heraus? Nicht viel Gefweidtes, will einem oft fdeinen. Die Gegenfäte in den Anſchauungen verjbärfen fd immer mehr, und es ijt aon fajt wie beim babylonijden Turmbau: daß feiner mehr den andern umd jeder nur fic) felbft verjteht. Wer vernünftig ift, wird fich daher wenig oder nichts um diejes Gezänk fümmern, fondern die Kunjt jelbjt auf fic) wirken laffen. Dazu braucht es, im allgemeinen menigitens, feines gelebrten

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end Sie fpridt ihre eigene Sprache, die jeder, wenn auc) auf feine Weife, vers itehen fann.

Theoretifieren wollen wir alfo nicht. Aber das foll uns nicht hindern, eine Feſtſtellung zu machen, die für das Folgende von Wichtigkeit if. Nämlich: dak die Phantaftekunit aud) heute noch dasjelbe ift, was fie immer geweſen ift: die edelfte und, wenn mir fo jagen wollen, eigentlichjte Art von Kunft. (ES foll damit nichts gegen die Landfchafter, Still» leben-, Tier-, Bildnismaler uſw. gefagt fein. Der Wert ihrer Arbeit bleibt unangetaftet. Aber e3 muB doch jedem einleuchten, daß es mehr ift, aus fic) heraus etwas ganz Neues zu Ichaffen, das vorher weder in der Natur, nod) in der Menſchen da war, als Vorhandenes, und ſei es noch ſo meiſterlich, abzumalen. it andern Worten: der Künſtler als Neuſchöpfer, als Geſtalter der Geſichte ſeiner Phantaſie, ſteht uns am höchſten. Er iſt Künſtler im wahrſten und lebendigſten Sinne des Wortes. Denn er fügt den vorhandenen Welten eine neue hinzu und macht ung fo reicher, alg wir gemejen find, bevor wir ihn tennen gelernt haben.

Ein Künjtler diefer Art ift Alois Kolb. An feinen zahlreichen Arbeiten, die fajt aus- [queno Grapbhifen (Radierungen, Lithographien, Zeichnungen) find, dürfte dem Durd-

nittsbetradter freilich ¿und die große Naturtreue auffallen. Bor allem die menjd)- liche Geftalt, die wir bekleidet oder unbefleidet, wie es der Zweck gerade erfordert, auf fajt allen Blättern Kolb3 verwendet finden, meijtert er mit einem Können, das nicht jo haufig ijt, als daß es nicht gerühmt zu werden verdiente. Er ijt ein glänzenden Zeichner, der jeden Muskel fennt und feinen davon unterjchlägt. Und es ift ein hoher Genuß, feine Einzelatte, Gewandfiguren und feine Sombojitionen aus folhen auf diefe Dinge hin mit Muße angujehen. Ferner, wie beherricht Kolb das rein Technijche der original-graphijchen Verfahren (mit Ausnahme des Holsfdnitts, den er bis jegt noch nicht angewendet hat)! Wie famten find die ſchwarzen Tiefen feiner Steinzeihnungen und wie zauberhaft ijt die Wirkung des Lichtjtroms, der aus diefen Tiefen mit magifder Gewalt hervorbridt! Und dann vollends die Rabierungen, die einen Teil ihrer oft fajt unerflarliden Wirkung der feltenen Gejchidlichkeit Rolbs in der Verbindung und innigen Verſchmelzung der vere ſchiedenſten en Verfahren danten. Felbft der Fachmann ftebt hier manchmal vor einem Ratfel. Aber der Eindrud ijt da, tft unentrinnbar zwingend und ſtets außerordent- lich künftleriih. Und darauf allein fommt es ja am Ende an.

AN diefe Dinge werden, wenn wir Blatter von Kolb betradten, fic) zunächſt bemert- bar madden und den erjten Eindrud beftimmen. Es ware jedoch übel um feine Sunft bes pots wenn er uns darüber hinaus nichts zu fagen und zu geben hätte. Wir wären dann ehr bald mit ihm eo: Aber in Wahrheit ft gerade das Gegenteil der Fall. Diejer eríte Eindrud mag verblüffend, blendend, bezaubernd fein er wird yal von einem zweiten, tieferen, bleibenden und entfdeidenden verdrängt: die Seele diefer Sunftmerte bee ginnt zu reden. Gie erzählen uns bon Dingen, die jenjeitS der fihtbaren Erifeinungs- welt, der nur ſchönen Korperlichkeit liegen, die in der Phantafie des Künſtlers auf irgend eine geheimnisvolle Weife entftanden find und auf ebenfo wunderbare Art fid) dem a wer? mitgeteilt und in ihm dauerndes Leben gewonnen haben. Und fo ertennen wir bald, daß einem Künftler wie Kolb, der fein feelenlofer Realift ift, die menſchliche Geftalt und jegliches Ding der Natur, das er nahfhafft, nur Mittel zu einem höheren Zweck der ideal gerichteten Phantaſiekunſt fein kann. .

_ Kolb gehört, um es mit einem allgemein verſtändlichen Wort auszudrüden, zur Fa- milie der Malerdichter (oder Dichtergraphiker), die nirgends fo zahlreiche Mitglieder hat als in Deutfchland; man könnte fogar jagen, daß fie für deutfches Wefen und für deutfche Natur und Kunftanfhauung ganz befonders bezeichnend ift. Go ziemlich alles, was Kolb bis jebt cabal hat, ijt irgendivie Dichtung, ift ein Produkt hemmungslos ſchweifender Phantafie, die jich gerne in grauer Vorzeit, im farbigen, derben Mittelalter oder in den dämmerigen Gründen der Romantik ergeht. Bieles ift aus dem Geifte der Muſik geboren. Beethovens hehres Haupt gehört zu den früheiten und ftártiten Schöpfungen Kolbs, und eben wieder hat er einen Zyklus von 11 Radierungen vollendet, die das Thema Beethoven in gewaltigen en zu ergründen fucken. Harfen find auf vielen Blättern Solb3 zu finden. Aud) fonjt ijt es nicht fchwer, mit dem geiftigen Obr den Hingenden Strom zu er» lauſchen, der, wie der Wind die Acol8harfen, das Schaffen Kolbs durchzieht. Wie Infeln ragen aus diefer in Zeichen tónenden Flut Die großer Menſchheitsideen auf, die Kolb früher in Einzelblättern meiſt ungewöhnlich großen Formats, radierten Wand— bildern vergleichbar, verſucht hat, während er in den letzten Jahren faſt alles, was es ihn

u fagen drängte, auf den meijt tleinen Platten feiner Buchilluftrationen ausgefproden

bat Er war einer der allererften, der fon vor etwa zehn Jahren in einer monumentalen

usgabe der „SKronprätendenten“ Ibſens den Beweis erbradht hat, dak die Rabierung, aud in der Form bon Bierbudftaben und anderem Buchſchmuck, vortrefflicd zur Buche illuftration geeignet tft. Unterdefjen hat er nod mandes andere bedeutende Wert ber Weltliteratur 3. B. „Die Hochzeit des Mönchs“ von C. Y. Meyer, den „Sonnengefang des bl. Franzistus”, Wagners „Trijtan und Iſolde“, Schillers „Stapuzinerpredigt » leiſts „Michael Kohlhaas“ mit Radierungen und dazwiſchen Homers „Odyſſee“ und Kleiſts

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„Erdbeben in Chile” mit Lithographien gefdmiidt. Es ijt fade, dak all das Schöne und Große, das Kolb in diefen Büchern niedergelegt hat, nur wenigen zugänglich ift. Nicht alles, aber dod) vieles davon wäre durdaus geeignet, volfstiimlid) zu werden. Denn das derbe Kolbs, ſeine Freude am Grotesken und an ſtarker Bewegtheit, ſowie ſein Ginn für Kraft und Adel der Formen find Dinge, die auch einem größeren Publikum ver— ftandlid find. Und dann fühlt man aus allem, was Kolb madt, jeine ſchwärmeriſche Verehrung für die Natur, vor allem für die Wunder der Bergwelt, heraus. Und das [haft fofort Beziehungen. Man könnte vielleicht aud) fagen, dag Natur, Muſik und Liebe er erhabene Dreiflang ift, auf deffen ewigem Fundament fic) der königliche, ftolze Bau der Sunft Kolbs erhebt.

Dak Kolb ein Wiener ift, der aber fchon feit etwa zwanzig Jahren in Südbayern in Murnau anjaffig it und fett ungefähr einem Jahrzehnt an der Leipziger Akademie für Buchgewerbe feine Kunft zahlreihen Schülern lehrt: das alles ift wielleicht nicht uns wichtig. Aber es fann dem Bilde, das wir von Kolb in uns aufnehmen, wenn wir feine Kunſt auf uns wirken laffen, nits von Belang beifügen. Aus jeinen Werken fpridt bes

füdend fein ganzes Wefen. Er ift einer bon jenen, die uns freier maden und über uns fi erheben. Alles Kleine und Kleinliche berfintt in feiner Nähe. Und wir fühlen uns urd) ihn eins mit ben tiefjten Regungen und Offenbarungen der Natur und der Menidenfeele. : Rihard Braungart.

Der Bevbarhte

er armen deutfchen Flagge geht es wie dem deutjchen Volk: fie weiß nicht mehr, mer fie tit. Es frreciten le ¿wei Flaggen um die Geltung: jehwarz-weiß-rot und ſchwarz -rot- old. Wie folí man fic entideiden? Ganz objektiv Porliche für ſchwarz-cot-gold eritens, ag die fabrige Wirkung ſchöner, fatter, wärmer ift, zweitens, daß fie ein Symbol des groß- deutjchen Gedantens ijt. Ganz objektiv jpräche für ſchwarz-weiß-rot erjtens, daß fie auf weite Streden deutlicher erkennbar ift, zweitens, daß fie die Flagge des Deutſchen Reiches mar und daß ihre Abjchaffung auf fremde Volfer wie eine Verleugnung der eignen Ver gangenheit, aljo peinlich wirfen muß, drittens, daß eine Erjegung der alten Farben dur neue den Gegnern des Neuen ein leichtes Mittel zu ftándigem Ekentfichen rg in bie Hand gibt, wodurch der Zwijt im Volte immer neu erregt wird. Wir waren mit der Ein- führung der Farben ſchwarz-rot-gold einverjtanden geivejen, wenn man im Sturm der Revolution die von Deutſchland und Oeſterreich vollzogen Date: wenn aljo bie Revolution national in großdeutihem Sinne gemejen ware. Dann hätten wir einen neuen Staat, der die Farben ſchwarz-rot-gold mit Stolz führen dürfte. Da die geijtigen Lenfer der Revolution aber mehr wejteuropäifcd als Deut fühlten und dachten, it es nicht dazu getommen. Jetzt wollen mir bie jhwarz-rot-goldene Flagge dem künftigen großdeutichen Staat vorbehalten wiffen. Dadurch, daß man fie der gegenwärtigen , Dent: iden Republit” auf das Kumpengewand flidt, wird fie für die Zufunft nur entivertet. Br wollen wir in der Not aus Stolz die alte Flagge behalten; denn „Wohl dem, der [einer Väter gern gedentt.” Wenn die Juden aus Often nicht auf unfere deutſchen Väter ftolz Jas mögen, $ ift nichts dagegen zu Korn Wenn ein Deutſcher, ja ard, wenn ein alter deutjcher Ane es nicht mag, jo fehlt es ihm an Gefühl fürs Elternhaus oder fiir die Heimat, die ihn adoptierte. Dak man die Flagge des fleindeutichen Staates zu wechſeln verfucht, ijt nichts als ein Zeugnis für den Mtangel an Piychologie, durch den die republifanijde Regierung noch viel mehr auffällt als einft die faijerlide.

AN us dem Parteibetrieh mit dem Entrüftungsbruftton: Philipp Scheidemann fagte im : Reidstag: , yd empfinde es als die größte Dreiftigkeit, wenn fic) ein Menſch oder eine Partei hinftellt und jo tut, als hätte fie die Vaterlandsliebe in Erbpabt. Wir Sozialdemokraten laffen uns an Liebe zu unferem Vaterland von niemand übertreffen. Wir tragen die Vaterlandsliebe nicht auf der Bunge, fondern wir haben jie im Herzen und arbeiten dementjprechend am Wiederaufbau unjeres Voltes. Wir haben Verjtándnis für das Bedürfnis der Soldaten, irgendivie zufammenzufommen und thre Erlebniffe auszu- tauchen. Aber das Niedertradtige ijt, daß man jede derartige Gelegenheit zu partei- egoijtiihen Sonderzweden ausnützt und die Leute durch Redensarten betrunfen mad. Das Verleumbden und Ehrabjchneiden paa mit zu den Hervorragendften Traditionen der deutſchen Reattionáre.” Helfferich foll irgendwo gejagt haben: „Ich empfinde es als bie tößte Dreijtigteit, wenn fic) ein Menfd) oder eine Partei hinftellt und jo tut, als hätte fe die Arbeiterfreundlichkeit in Erbpadt. Wir Deutfchnationalen laffen uns an Liebe zur brie aad bon niemand übertreffen. Wir tragen die Arbeiterfreundlichkeit nidt auf der Zunge, jondern wir haben fie im Herzen und arbeiten dementfpredend am Wiederauf- bau unferer Volkswirtſchaft. Wir haben Verftindnis für das Bedürfnis der Arbeiter,

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irgendivo gujammengufommen und ihre Intereſſen zu vertreten. Aber das Niederträchtige ijt, daß man jede derartige Gelegenheit zu parteiegoiftifhen Sonderzweden ausnügt und die Leute durch Redensarten betrunten madt. Das Verleumden und Ehrabfchneiden ge- Hort mit zu den hervorragendften Errungenfhaften der Revolution.” Wir überlafjen es jedem, fic) das Seine bei diefer merkwürdigen formalen Uebereinftimmung zu denen, wohl wiljend, daß die meiften fid) gar nichts dabei denfen.

Ein befondere Art von feelifher Tollwut ijt feit einiger Zeit in Deutjchland ausge- broden: die Abzeihenreizung. Sobald einer eine Fahne, eine Brofche, eme Schlipsnadel und dergleichen fieht, die feinem ,Parteiftandpuntt nicht entipricht”, fühlt er ji) „provoziert“ und gerät in Wut. Mit der Hatentreuz-Verfolgung3mut begann die Seuche, das Hafenfreuz wurde dadurd) raſch berühmt. Die ſchwarz-weiß-rote, die ſchwarz— tot-goldene der Sowjetſtern wurden gleichfalls Objekte dieſer Seuche. Statt ſich über Franzoſen und Poladen, über Schieber und Wucherer aufzuregen, verplempert man die Zeit mit Abzeichenbetfämpfung. Gn der Roten Fahne lefen wir: „Ein bürgerlicher Be- zirfsverordneter hatte die Frechheit, das Tragen des Hatenfreuzes mit dem Tragen eines Somjetjternes durch Kommunijten zu vergleichen. Diefer Mann fab gar nicht den Unter- fchied, der darin liegt, ob jemand durch ein äußerliches Zeichen fic) al3 Anhänger der Ar- beitermörder befennt, oder ob ein Arbeiter fein Solidaritätsgefühl mit den Arbeitern aller Länder durd Tragen des Somjetjternes zum Ausdrud bringt.” Cine deutjch- nationale Zeitung könnte mit gleihem Recht fchreiben: „Ein fommuniftifcher Bezirks— verordneter hatte die Frechheit, das Tragen des Somjetjternes mit dem Tragen eines Hakenkreuzes durch Antifemiten zu vergleihen. Diefer Mann jab gar nicht den Unter- ihied, der darin liegt, ob jemand durch ein Guferlides Zeichen fic) als Anhänger der Mörder dez Bürgertums befennt, oder ob ein Deutjcher fein Solidaritätsgefühl mit feinem deutiden Volte durch Tragen des Halenireuzes zum Ausdrud bringt.“ Ihr Schlau- berger, da ihr dod) eure verfchiedenen Gefinnungen ertragen müßt, fünnt ihr auch wohl eure verfdiedenen Abzeichen und Fahnen ertragen, ohne einen roten Putertopf zu kriegen.

n Breslau verteilte der Zentralverein deutfcher Staatsbürger jüdiihen Glaubens fol-

genden Aufruf: „Die Luft ift geladen mit Antifemitismus! Betrachtet die neidifchen Blide der armen Leute, die mit @ud in der eleftrifhen Straßenbahn fahren! Eure lauten Unterhaltungen ziehen ihre matten und franten Blide auf Euch! Cure auffallen- den Kleider fallen den Armen aufs Gemüt! Euer Schmud gilt ihnen als Zeichen von Steuerfludt! Eure Anfammilungen und Unterhaltungen auf den Straßen zu dreien bis zwölfen erregen Acrgernis, wirken herausfordernd! Beherrſcht End! Befinnt Euch! MagigtCud! Feder Deutiche follte drei Fahre hindurch Landestrauer an- legen und über den verivrenen Krieg, über das zertretene Vaterland, über unfere toten Vater, Söhne und Brüder trauern! Lejet jüdiſche Gefchichte! Der Jude war ftets das Opfer der Volksleidenſchaften. Lcidenfdaften gehen ftets Hand in Hand mit Leiden. Der Leidenstelh des deutihen Volkes ift voll zum Ueberfliegen. Höre Sfrael und lerne! Trauer ziemt uns und nicht Tanz, Fleiß und Beſcheidenheit und nit Progerei; Helfen, Lindern und Heilen tut not an den Wunden unferes armen deutfhen Volkes! Handelt danad, damit Ihr nicht vertilget werdet aus dem Lande, deffen treue Söhne Ihr maret, feid und, fo Ihr wollt, bleiben werdet!”

o ijt Freund Kerr? Freund Kerr hat uns fo lange gefehlt! Nehmen wir ung

Freund Kerr wieder einmal dor. Jn der Beiprehung von Tollers „Maſſe Mensch“ tommt er auf feinen Lieblingsgedanten zurüd, dak es „abjolut richtigere Ideen“ und abfolut faljhere been gebe. (Der Ausdrud ijt freilich logiſch unmöglich, denn „abjolut“ heißt „Losgeloft”, „Für fic) genommen“. Etwas, das [os gelojt von anderem betrachtet wird, fann nicht mit anderem verglichen merden, es verträgt aljo feinen Komparativ. Aber Kerrs logiſche Intelligenz it „abjolut geringer” als die feiner meiften Volfsgenoffen. Ueberjehen wir es aljo.) Serr findet, bab Toller in feinem Drama zu wenig Berjtändnis für berechtigte Gewalttaten zeigt. Unterdritdergemalt fet un- fittlich, Befreiergewalt aber fet herrlich. (Unterdriidung ijt alles, was Kerr nicht paßt. Befreiung ift alles, was Kerr angenehm it. Wie wird es fein, wenn er in Berlin die Diktatur der Caffirerjden Weltrepublit, Departement Deutfchland, begründet?) Kerr beweift: „Der Hund, der mid) beißt, hat feine „Schuld“; er Handelt vielleicht aus über- zeugten Hundemotiven aber id mad) ihn dod) unſchädlich: in drei Teufels Namen! Weil es ein abfolut richtigerer Gedanke ift, daß der Hund das Dafein eines Schriftjtellers nidt blutig jtórt, als daf der, in feinem Tun durchaus entfduldigte, Doggerich es trogdem tut... Mitleid hab id mit ihm. Ich will einen Kranz auf fein Grab legen dod ihn zuvor erſchlagen. Ya; ihn zubor mit Schmerz erſchlagen folange fein Serum entbedt it, jede Hundswut zu hindern. Doc) mittlerweile... Man lebt nur einmal. Hunde find nicht Menfchen 1d) weiß. Darum verzehnfacht fi der Schmerz. Kurz: für einen Pacififten ijt es nicht fo unangebradt, ſchlimmſtenfalls ein kriegeriſcher Pacifijt zu fein.

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Das find Standpunkte des Einzelnen. Mallungen des Geblüts. Jm Kern doch von durdgehender Geltung . . . Sogar das bißchen Umkramung in Deutfchland tam durch Soldatenrevolte. Ein gewiffer Schubs jheint nötig. Dumm, fehr dumm.“ Gagt’s und {chiebt fic) eine Zigarette zwiſchen die Lippen. Dank, Shylod, bab du mid) dies Wort ger lehrt! Wenden wir es an: „Der nt aed Literat, der einen deutſchen Meifter herunter reißt, hat feine „Schuld“; er handelt vielleicht aus —— Raſſeinſtinkten aber ich mac” ihn doch unſchädlich; in drei Teufels Namen! Weil es ein abſolut richtigerer Ge— danke iſt, daß der oſtjüdiſche Literat das Daſein eines deutſchen Künſtlers nicht ſtört, als daß der, in feinem Tun durchaus entſchuldigte, Jüderich es trotzdem tut... Mitleid hab id mit ihm. Jd will ihm freundlich-eine Zigarette reihen doch ihn zubor erfchlagen.

a; ihn zuvor mit Schmerz erfhlagen folange kein Serum entbedt ijt, jedem oft jüdischen Literaten Berftändnis für deutfche Art einzuimpfen. Das zu entdeden bleibt höchſtes Ziel. Dod) mittlerweile... Die deutjche Kunst gibt es nur einmal in der Ge- ſchichte. Hunde, welche tláffen, find nicht Menjchen ich weiß. Darum verzehnfacht fid mein Schmerz. Kurz: für cinen Verehrer deutjcher Kunft ift es nicht fo unangebradt, {hlimmitenfalls ein kriegeriſcher Gegner der Aare deutſcher Kunft zu fein. Das find Standpuntte des Einzelnen. Wallungen des Gebliits. Bm Kern doch bon durchgehender Geltung. Ein gewifjer Schubs ſcheint nötig. Dumm, jehr dumm.“

Sy timid bon Kleiſts Luftfpiel „Amphitryon“ läuft als eine „Meberjegung“ oder „Ume = arbeitung” des gleichnamigen Luftipiels von Moliere durch unfre Literaturgefdidten. Neu gefundene Briefe Kleifts, die $t. G. Herwig in verfdiedenen Zeitungen veröffentlicht eae ergeben nun, daß Kleiſt das Stüd Molteres bei der Abfafjung gar nicht gefannt at! Als Stoffquelle diente ihm ein Luftfpicl von Rotrou: „Die beiden Sofias”. Er bat zwar Teile aus Rotrou benußt, aber von ,Ueberfegung” und „Umarbeitung” tann im Wefentliden feine Rede fein. Die Kleiſtſche Geftaltung ift genial felbjtändig. Und mos her die Webereinftimmung mit Moliere? Der edle Moliere hat Rotrous Stück achtzehn Jahre nad deffen Tode abgefchrieben. Chenfo gut wie bon einer Ueberjegung Kleijts fonnte man davon reden, daß Goethe feine Iphigenie nad Euripides, Wolfram feinen Parzival nad) Chrejtien „überjegt” habe. Ich gönne den Literaturhiftorifern, die immer zuerjt nad RR: ftatt nad) der jelbjtändigen künftlerifchen Empfängnis und Ge- ang fuden, dieſen peinliden Reinfall von ganzem Herzen: Die Schadenfreude ver: öhnt mid mit einer Anzahl ftumpffinniger Sollegftunden, in denen jedes dritte Wort „Einfluß“ lautete.

obald ein Proletarier in die Hohe fommt, fobald es ihm wirtſchaftlich gut geht, wird er genau fo rückſichtslos, lieblog und habgierig, wie der Rapitalift. Dieje troftloje Tatſache richtet alle Hoffnungen auf einen fittliden Fortſchritt der Geſellſchaft zu Grunde.

$): Speer, den man dem wehrhaften Feinde bon born durch die Brujt rennen kann, das Schwert, mit dem man den Schädel des wehrhaften Feindes zerfpalten fann, die Kugel, die man dem mwehrhaften Feinde durchs Herz jagen fann, find drei Dinge, die Gott den Menjchen für die bitteren Nöte des Lebens mit auf den Weg gegeben hat. Darım foll man fie wert halten und mit redlichem Gewiffen brauchen. web dem, der fie ber achtet, und weh dem, der fie mißbraudt.

SZwiefprache

SY vorige Heft hätte nur vier Tage fpáter erfcheinen follen als gewöhnlich, infolge des Buchdruckerſtreils find ebenfovicle Wochen daraus geworden. Da fic) nach dem Streit die Arbeit fehr häuft, wird aud das Novemberheft verfpatet in die Hände der Lefer fommen, das Dezemberheft tommt dann wieder in der erften Woche des Monate. Vir erivägen den Gedanken, unfre Zeitfhrift zweimal monatlid erfdeinen zu laſſen. Damit fonnten wit mehr auf das Tagesfällige eingehen. Wir würden dann jtatt einmal zwei en im Monat, zweimal je anderthalb Bogen geben. Dadurd gewönnen wir monatlid den Raum eines Bogens (16 Drudfeiten) für leichtere Dinge neben all dem Schwierigen, das wir jegt auf gedrängtem Raum unfern Lefern zumuten. Die Sade hat nur einen Haken: der Preis würde nicht unerheblich teurer werden. Aber erhöhen müſſen wir den Preis angefichts des fintenden Geldwertes im nächſten Jahre dod. Mach den gani en Tarifen und Preifen tft unfere Zeitjchrift ja unverzeihlich billig. Wan be ente: ein Jahrgang von 432 großen Drudfeiten mit 48 Bilderbeilagen für 36 Mart! Das vergleiche man mit den üblichen Bücherpreijen. Was befommt man font heute für 36 Mart! Das geht auf die Dauer nit. Es ift die Frage, ob wir eine ftarte Preis— fteigerung wagen follen und dann die Hefte zweimal im Monat geben, oder ob wir eine

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geringere Preisfteigerung eintreten laffen und mit dem monatlichen Erfcheinen zufrieden fein follen. Wir bitten unjre Lefer um Meinungsäußerungen.

Einer unfrer liebjten Mitarbeiter ift im Auguft geftorben, der junge Alfred Pfarre in Hamburg. Gerade als er an einem Wendepunkt feines Lebens ftand und aus den Engen und Sorgen des Tages die Bahn frei befam zu größeren, nasa e Arbeiten. Seine

ugend verlebte er im Stadtteil Rothenburgsort, einer Arbeitervorjtadt Hamburgs. Als

tuffateur ging er auf Wanderjdaft. Die Sehnſucht trieb ihn über die Alpen durd

talien bis Neapel. In Rom befreundete er fic) mit Max Barthel, fie wanderten gu- ammen durd) die Eine ergreifende Wanderung voller Hunger, Krankheit und träumender Sehnſucht. Auch in der wuͤſteſten Umgebung hielt Alfred Pfarre Körper und Seele rein. Nac) der Rüdkehr wurde er Techniker und arbeitete im Kriege und nachher als Feinmedanifer. Wir erinnern unfre Lefer an feinen dauernd mertvollen Aufjag „Wanderfreiheit“ (1919, Seite 238) und an feine tleincren Aufjäge „Arbeiterjugend und Kirche” (1919) und „Das Kind ohne Bibel” (1921). Er hatte uns einen Biiderbrief über Arbeiterdichtung zugejagt, der nun ungejchrieben bleibt. EY jelbjt hat einige feine Lieder gejdrieben. Diefer Hohe, ſchlanke Niederjadhfe mit dem blonden, nachdenklichen Kopf und den aufleuchtenden Augen, von dem ein Hauch der Reinheit und Güte ausging, war bejter deutfcher Adel. Er gehört zu den unerjeglihen Menfden. Wir hören nie auf, unë nad) ihm zu fehnen. I

_ Bu dem Auffag von Karl Peter über Kultur-Senfationen möchten mir bemerken, daß er im Juli gejeprieben wurde, aber leider nicht früher Play finden konnte. Warum wir ut [tatt Lagore fdreiben, hat einmal der „Beobachter“ gejagt. Wir wollen den Inder fo jchreiben, wie er wirklich heißt, nicht wie er in der englifden Orthographie gejdrieben wird. Warum follen wir dem Kommando der verworrenen engliihen Falſchſchreibung gehorhen?

Da der Auffay über Gugendgottesdienft im borigen Heft geredtfertigte Beanjtan- dungen hervorgerufen hat, möchte ich hier nadbolen, was ich befjer gleich in der vorigen Biwiefprade gejagt hätte: Der Aufjag iſt nicht als fachlide oder kritiſche Darjtellung, jondern alg das fubjeftive Belenntnis Eines aus der «Jugendbemeguna zu nehmen. Gerade in dem ungefcheuten, fubjettiven, unliterarifhen Ausjprechen der Empfindungen und Wertungen Liegt für mich das Reizvolle des Auffabes. Nimmt man die Darjtellung anders, h muß fie ſtellenweife gewiß peinlich empfunden werden. Der Lefer molle, um den Auflag richtig zu lefen, die Berfonennamen ftreihen und dafür X und Y fegen. 36 hätte das wohl gleich felbjt tun follen.

Die Worte Alerander von Humboldts fand ich in feiner „Reife in die Aequinoktiale gegenten des neuen Kontinents”, im neunten Sapitel, two der Charakter der Chaymas-

prade fo glänzend dargejtellt wird. Es ift diefelbe Auffafjung vom Wejen der Sprache, die Fichte entwidelt hat und die aud) für unfre Arbeit maßgebend ijt.

Eben ſchreibt mir Edmund Neuendorff, daß er meinen zweiten Einwand nicht als Einwand gelten laffen kann: das fet auch durchaus feine eigene Meinung und dafür habe er in Nürnberg gefampft und fämpfe ex nod). Gut. Dann bejteht der Unterſchied immer- ih darin, bal Nenendorff Nürnberg alg Störung empfindet, ich als ne

iefleiht Stimmt beides? Meinen erften Einwand hält Neuendorf für falſch, weil die Detmolder Tagung ſtark einſeitig zuſammengeſetzt geweſen ſei.

In R. Voigtländers Verlag in Leipzig erſcheint als „erſte Jahresgabe der Fichte⸗Ge⸗ ſellſchaft“ eine Mappe „Deutſche Graphit”. Zehn Radterungen von Broel, b. Halm, Kätelhön, Kirchner, Leiber, Lung, Meyer-Bajel, Ubbelohde, Zeiſing. Aus— gabe A (Abzüge 1—60) a 475 Mk. Ausgabe B (Abzüge 61—210) 275, die weitern Ab- üge (Ausgabe E) je 90 Me. Einen Proívett über diefe billige Originalgraphit lajje man ie pon Voigtländer oder von der Fichte-Geſellſchaft fommen.

Den zweiten Band von „Kants Kritif der reinen Vernunft, ins Gemeindeutjche über- ett“ habe id im Sommer endlich fertig gemacht. Er erſcheint in diefen Woden vor Weihnadten. Inhalt: Die Kategorienlehre, aljo der ſchwierigſte Teil des ganzen Kant. Ich habe die tantifde reine allgemeine Logik, joweit das zum Verſtändnis nötig ijt, mit

ineingearbeitet. Gerade daran, daß man feine Vorjtellung von der Logit jener Zeit und insbefondere Kants hat, fheitert ja meift das Berjtandnis. Ich hoffe mit diejem les⸗ baren Kommentar eines der fchwierigiten Werke vielen einen Dienft getan zu haben.

Das ,Raabe-Gedentbud”, das wir im Septemberbeft anfündigten, liegt nun bor. (Berlagsanftalt Hermann Klemm, Berlin-Örunewald. 156 große Seiten. In Pappband 25, in Halbleinen 30 Mt.) Born eine farbige Wiedergabe von Fedners Raabebild. Jm Bud felbjt mandes intereffante Bildwerf, vor allem die Photographie Raabes und feiner Braut von 1862. Ein überrafchendes, herrliches Bild: diefer Kopf des jungen Naabe! Iſt das ein deutfches jugendliches Gejiht! Cin Brautgedidt Raabes ijt in feiner wunder- pollen Handfehrift wiedergegeben. Das Bud) bringt für den Raabefreund wertvolle Schäße. Was Paul Wafferfall an Neuem über die en Raabes und über das perfönliche intime Leben des Dichters in feinen legten Jahrzehnten bringt, madt allein {don das

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Bud zu einer dauernd wichtigen Quelle. Wir können hier nidt alles aufzählen; es ge— nügt zu fagen, daß wir diefes Sud in Ehren halten. ° Ein merfiwiirdiges Gedidtbud befamen wir von Willo Rall: „All-Liebe. Dichtungen von Willo und Lilli Rall”. Als Handfdrift Handihriftlich qedrudt mit einem Urholzſchnitt Ralls. Einfaher Preffedrud 10 ME, Ausgabe mit Handdrud und Handihmud 75 Mt, numeriert und gezeichnet auf gutem Papier und gebunden 150 Mt. Millo Rall wohnt in Runbeim bei Laufen am Kocher (Württemberg). Das Bud hat mich freudig überrajdt, denn ich fand darin echte, quellende Iyrifche Klange, nicht Papierpoefie. Schlieglih feien ein paar neue wertvolle Erjheinungen zur Jubdenfrage aufge- eichnet. Rudolf Hans Bartſch hat diefer Frage feinen neueften Roman gewidmet: „Seine ini’ (2. Staadmann, Leipzig. 256 Seiten). Die Gefchichte der Che eines Wiener encralftabsoffiziers und einer din. Das Bud ift mehr Erkenntnis und Belenntnis alg Roman. Biychologifch ift es fehr fein. Bartſch arbeitet nicht mit einem groben Schema wie etwa Dinter, er hat wirklich den Seelen nachgefpiirt. Wenn wir aud mandes ab- lehnen, was Bartſch in Bezug auf Jefus fagt bier ftebt fein Bud „ER“ im Hinter- grund jo begruͤßen wir dod) das Werf als Ganzes und empfehlen es dringend. (Es gibt länzend formulierte Wahrheiten darin. Für das deutihe Wort: „So, ja, ja, unfereins dámt fic) fonft immer, wenn er gefiegt hat“, verdient Bartjch einen Händedrud. Jm Auguſtheft von „Deitichlands Erneuerung“ finden wir einen feffelnden und wiſſenſchaftlich ut gegrimbeten Aufjag „Die Entjtehung des Antifemitismus“ von dem Hiftorifer Prof. Dr. Hugo Willi. (Sonderdrud 80 Big. J. Y. Lehmann, Münden.) Willrid geht dem Antijemitismus im alten Römerreih nad. “ym Oftoberbeft derfelben Zeitſchrift jchlägt Dr. Bernhard Friedrich in dem Auffag „Die Sprache der Juden“ ein wichtiges Thema an. (Sonderdrud 80 Big.) Er ftellt die Tbefe auf, daß viele, insbefondere politiihe Wörter mnfrer Sprache für den Juden einen bejtimmten Nebenfinn und Grundton haben, den jie ür den Deutſchen nicht haben. Beide reden in dexfelben Sprache und trogbem in ber- hiedenen Zungen. Der Gedanke enthält eine ernite Wahrheit und follte von einem i ſychologen einmal gründlich durchgearbeitet werden. Das würde viel zur Klarheit eitragen. lic, ift als ,Erftes Hamburger Liederblatt” ein Heftchen „Lieder der Landjer” berausgefommen. Rujammenaeftellt von Hans Harmjen, für 50 Big. zu beziehen durch das Jugendamt der Fichtegefellichaft. Es find 20 Texte von alten und neuen Landstnedts- liedern. Aus dem Vorwort: „Diefe harten Lieder der Landjterzer und Striegsleute um— faffen einen fo innerſten Teil unjeres Selbſt, daß wir feft mit ihnen verbunden find, daß mir baits mehr ablafjen fornen vom Wandern und der ewigen Sehnfucht nad) Sonne und Freiheit.” Ein Drudfehler im Ottoberbeft: Auf Seite 322 Mitte muß es Ofterleifen ftatt Ofter- leihen heißen. St.

Stimmen der Meijter,

Tenn cs heißt, ein Dane lerne leichter Deutſch, ein Spanier leichter Italieniſch

oder Lateinifd) als jede andere Sprache, fo meint man zunächſt, dies rühre daher, dak alle germanifhen Sprachen oder alle Sprachen des Tateinifhen Europas eine Menge Wurzeln miteinander gemein haben; man vergift, dak es neben diefer Aehnlichkeit der Laute eine andere gibt, die Volker von gemeinfamem Urfprung noch ungleich tiefer anregt. Die Sprade ift keineswegs ein Ergebnis willfürlicher Uebereintunft; der Mechanismus der Flerionen, die grammatifchen Formen, die Möglichkeit der Gnverfionen, alles ift Wus- fluß unferes Inneren, unferer eigentiimliden Organifation. Sm Menfden lebt ein uns bewußt tätiges und ordnendes Prinzip, das bei Volfern von verfdjiedener Raffe auc) ber- ſchieden angelegt ift. Das mehr oder weniger raube Klima, der Aufenthalt im Hochgebirge oder am Meeresufer, die ganze Lebensweife mögen die Laute umwandeln, die Gemeinjam- feit der Wurzeln unkenntlich machen und ibrer neue erzeugen; aber alle diefe Urjachen laffen den Bau und das innere Betriebe der Sprachen unberührt. Die Einflüffe des Klimas und aller äußeren Verhältniffe find ein verfhwindendes Moment dem gegen- über, was der Raſſencharakter wirkt, die Gefamtheit der dem Menfchen eigentitm- Tien, fi) vererbenden Anlagen. Alegander von Humboldt.

erausgeber: Dr. Wilhelm Stapel. (Sir den Inhalt verantwortlig). Shriftleiter: Dr. Lub- wig aninghoff. Ju tiften und Cinfenbungen find zu richten an bie Schriftleitung bes Dentihen Golfstums, soe 36, Holfteuplas 2. Sur unverlangte Ginjendungen wird feine Gerant- wottung übernommen. Berlag und Dru: Hanfeatiihe Derlagsanftalt Attiengefelifhaft, Hamburg

Bezugspreis: Bierteljahrlid 9 Mart, Einzelheft 5,75 Mlart., für das Ausland ber doppelte Betrag. —— Hamburg 15475.

ie ber Deitráge mit genauere Quellenangabe ift von der GSchriftleitung aus erlanbt, unbejgabet er hte bes Gerfaffers. .

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zu „Michael Kohlhaas“

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Aus dem ‚Deutſchen

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Deutfches Dolkstum

Monatsfchrift für das deutfche Geiftesleben Frerausgeber Wilhelm Stapel

Inhalt:

Dr. Wilhelm Stapel, Gottes und Marien Sohn esacacsacacsacoa Dr. Walter Colsman, Das Ewige eocoesesesesescacaer Dr. Alfred Ebrentreid], Die Myftik im Pietismug esesescaca Franz Freyden, Welche Märchenbücher follen wir lefen? eacaca Dr. Wilhelm Stapel, Neuere Bilderbücher caoesescacaeseser

Luthers Weihnacdts- und Morienliederescaescoaescoesesca

Kleine Beiträge: Dr. Wilhelm Stapel, Zum Derftindnis des Luther: fen Kinderliedes anf die Weihenadt / Dr. Ludwig Benninghoff, Meifter Frances Altarbilder esesescocacaracacacoesaces

Bilderbeilagen (Kupfertiefdrucke): Meifter Francke: Chrifti Geburt / Die Anbetung der Hirten / Der heilige Thomas / Die frauen

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Hranjentijche Derlagsanftalt, Hamburg Dezember 192]

Einzelheft 6.- Mark

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Das Werden des deutichenDolkes

von Walther Claffen

Lrfter Band:

Inbale: Raffen und Völker Von der Steinzeit bis zur Sermanne- ſchlacht Die Bermanen und das Chriftencum Wie der deutſche Often ent: ftanden ift Die deutfchen Dolfsfönige als Raifer Perfonen und Sachregifter.

Uber 560 Seiten, dauerhaft in Salbleinen gebunden Mark 56.—

sg" Tat bedeutet diefer erfte Band. Befceiden, nad und nad) in 5 Heften herausgebracht, zeigt die Vereinigung diefer Arbeiten, welch ungebeure Leiftung Claffen vollbradhe bat. Der erfte Grok des großen, herrlichen Bebäudes der deutfchen Befdridyte ift feft und fiber bingeftelle. Won einem Manne durdforfcht, innerlid verarbeitet und dann mit Serzenswarme ge: Ídrildert, der wohl feinen eignen Weg gebt, aber dabei ftets an das Banze denkt, in und mit ibm lebt, erftebt vor unferen Augen lebendig und über- zeugend das erfte Stuͤck deut ſcher Gefhidte. Wir erleben, wie aus dem Urzuftand fid Samilie, Stamm, Gemeinde, Vol? berausbilden

„Der Stil ift glänzend. Wenn erft folde Blder wieder Eingang fánden, wirde das deutiche Dol! eber wieder zur Befinnung Pommen.” (Ullgem. Bvang.-Luth. Rirbenzeitung, Dezember 1920).

„Überall binter den ſchlichten Worten merkt man den Renner der Quellen und Probleme.” (Dergangen beitund Gegenwart ) 99.

„Meifterlicb und pactend geſchaut und geftaltet. So muf „Geſchichte“ erzáblt werden.” (Monartsbl. f. d. evang. Religions-Unterrid rt, De3.20) es

„Sier begrüßen wir eine volfstimlide, dod auf guten Quellen berubende Darftellung, in der die Vorgänge richtiger als Wer? u. Wachstum des Volkeg,denn als Unternebmung der Súrften aufgefaBt und erzählt werden.” 99

(DPadagogifde Urbeitsgemeinfdhaft, Oktober 1920.)

„Un feinen farbenfroben, anfcdaulicen Bildern, die, obwohl dichterifc intuitiv erfafit, Doch von der gefcbicht- liben Wabrbeit taum je abweichen, Fann jeder feine belle Sreude baben.” (Literarifde Beilage der Wefer-3eitung, Juni 1921.)

Witte Dezember 192] gelangt zur Ausgabe:

Dns bürgerliche Mittelalter

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Aus dem Tnbalt: Der deutſche Staat 1254— 1439 Das Bürgertum

(Die Janfa, Städtifche Demokratie und die Sürften, Die Gothik) Der deutfche

Staat am Ausgang des hoben Mittelalters (Das neue Militärwefen; Miß— lungene Reihsreform; An den Öftgrenzen des Reiches).

Uber JOO Seiten, Preis 12.— Mark zuzügl. Teuerungszuſchl.

„In Claffen vereint fid der Aünftler mit dem Siftorifer, um ein böchit lebensvolles Gemälde der Gefcidte des deutſchen Dolkes zu geftalten. Left die Bücher und ſchenkt fie euren Söhnen !” (Sólefiíde Zeitung)

III

11]

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Kupfertiefdrack von Breschek & (a

Deutiches Volkstum

12.Seft sine Monatsſchrift 192)

Gottes und Darien Oohn. 1

KR" zweierlei Weife fucht der Menſch Verbindung mit Gott: entiveder durch das Denken oder mit der Seele. Entweder denft er Jd) Gott, etwa als erfte Urfache alles Geſchehens, als finnvollen Ordner der Welt, als „jittliches Prinzip“, und legt ihm danach bejtimmte Eigenschaften bei. Oder der Menſch fucht eine Vereinigung der Seele mit Gott. Das Denken fucht immer Gottes- erfenntnis, die Seele fucht immer Gottes befib. Das Denken müht fic) um die Gewißheit Gottes in der Erkenntnis, die Seele müht fic) um die Gemwißheit Gottes im Haben. Für das Denken ift Gott etwas, fet es auf ,,abfolute” fei es „nur auf menfdlide Weife”, Ertennbares. Für die Seele ift Gott das mit dem Verjftande nicht erfaßbare Geheimnis. Alles Denfen erzeugt Begriffe; Begriffe find umgrenzt und endlich, find rational. Alles Erleben und Sichhingeben umſchließt Wirklichkeit; Wirklichkeit ift immer fließend, unendlich, irrational. Das legtmögliche Ergebnis des Denkens ijt ein flarer Gottesbegriff. Das legtmbg- lide Ergebnis der feelijden Verjentung ijt die erlebte Gottes wirklichkeit. Die Gotteserfenninis wird ausgedriidt in Begriffen und Urteilen, der Gottesbefiz wird ausgedrüdt in Symbolen. Das Gottesdenfen führt zur Theologie, die feelifche Verjentung führt zur Myſtik. 2.

Nun ftellt das Chriftentum mitten ziwifchen Menfch und Gott die Gejtalt des „Mittlers”, der beides Gott und Menſch ift. Jeſus ift für den Chriften der Sohn des ewigen Gottes und der irdifhen Mutter. Er fagt von ub: „Sch bin ber Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mid.” Und: „Wer mich fieht, der fieht den Vater”.

Wenn der Menjch Gott erfennen will, fo fagt ihm das Chriftentum: Du fannft nicht aus Eigenem den wahren Gott denken, erft Chriftus muß ihn dich wahrhaft denken lehren.

Dem Denken wird dadurch feine Selbjtherrlidfeit genommen. Es fann die Wahrheit nicht allein aus fich felbft finden, fondern bedarf einer „Offenbarung“. Es muß fid) einer „geoffenbarten” Erkenntnis unterordnen. Darin liegt eine bejtimmte Abwertung des menjchlichen Denkens: Es ift eben nur menſchliches Denken, und das reicht nie zu Gott hin. Gott muß fd aus feiner Unertennbarteit berablaffen und die Menfchen in ihrer Mundart über fein Wefen und feine Ab- ſichten belehren. Diefe Belehrung ift die theologifde Offenbarung. Eine folhe hat Gott den Menfchen an einer ganz bejtimmten Stelle des Weltablaufs durch feine Erfcheinung in Jeju Menfchenleib zuteil werden laffen.

Wie aber foll der Menfch überzeugt werden, erftlich, daß feine eigene Vernunft nicht zureiche zur wahren Gotteserfenntnis, zweitens, daß gerade ber Menfch Kefus von Nazareth von fo überragender Bedeutung für alles Weltgefdehen fei?

Die Unzulänglichkeit der Vernunft wird entweder durch die Pbhilofophie dar- getan, insbefondere durch die fantifd)e, oder durch das Erlebnis der Hilflofigteit unfres Denkens. Freilich auch die kantiſche Philofophie kann man über die Grenzen der Vernunft hinaus migbrauchen, und Kant felbft ift zumeilen in feinen Schriften über die praftifche Vernunft der Nationalität bedenklich erlegen. (Doch bleibt bei

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ihm das tiefe Erlebnis der Ehrfurcht vor dem Unbegreiflichen immer felt im Grunde alles Philojophierens bejtehen.) Der überzeugende Bewets aber von der Beichränttheit menjchliher Vernunft ift für jeden Menfchen immer das Erlebnis, daß er mit feinem Denken das Leben nicht meiftern kann. Entiveder hat man diejes Erlebnis intuitiv wie Kant oder man hat es als peinliche, nüchterne Erfahrung in den Nöten des lieben Lebens. Jmmer aber ift e8 zunächſt nicht Einficht, fondern Erlebnis, daraus die Einficht quillt. Wer niemals hilflos mit feinem Denken gewefen ijt vor allem die Jungen, tele die Schwung- federn nod) nicht hinreichend erprobt haben und daher glauben, fie tónnten dod bis zu dem glänzenden Gonnenball fliegen und mit ihrem Schnabel hineinbeißen wie in eine Frucht wer niemals die gähnende Grundlofigfeit unter fid) und die ungeheure Finsternis, die den Heinen Lichtfchein unfrer Vernunft drohend um— lagert, erblidt hat, der wird breift drauflos „denken“ und fein Begriffsgebäude für ba8 wahre Himmelreidh halten. Aber irgend einmal jcheitert er. Dann ergibt er fic), dumm und Evaftlos geworden, dem Relativismus oder er wird hellhörig für heimliche Stimmen in feinem Herzen, er wird „religiös“ und geht in den Dom, wo die dunfeln Glasfenfter glühn und der Crucifirus vom Altare blidt.

Warum aber foll Gott fid) nur durch diefen Gefreuzigten offenbaren? Warum fpridt er duch ihn zu uns, warum fpridt nicht Er felbft zu uns felbft? Um die Einzigartigkeit der Offenbarung durch Chriftus zu begründen, wird nun dem Weltgejchehen ein beftimmter Sinn untergelegt: ein tieffinniges Weltgedicht, das beginnt mit dem Siündenfall des erften Menſchen und endet mit dem jüngften Tage, da der Welterlöfer als Richter erfcheint ,,fibend zur Rechten Gottes, von dannen er fommen wird zu richten bie Lebendigen und die Toten.” Mitten zwiſchen CGiindenfall und Weltgericht ragt das Kreuz auf Golgatha, daran ein Gott in Menfeenqual hängt und Gott felbft blutet. Aber die fühle Vernunft, die fih nicht von den glühenden Glasfenfterfarben und der bannenden Auftürmung diejes gewaltigen Gemäldes trunten machen läßt, beharrt auf Iogifche Begreiflichkeit und Folgerichtigkeit, fie will begrifflihe Wahrheit. Sie fragt: Warum madt Gott fo jeltfame Umivege? Warum habe ich Vernunft, wenn ich damit nicht Gottes Weg und Biel begreifen fann? Warum gibt mir Gott Vernunft und verbirgt fih dann davor? An diefer fpöttifchen Frage vergeht das heilige Weltbild, wie der Regenbogen vergeht, wenn die düftere Wolfe fich auflöft, die ihn im Wider- fpiel mit dem Sonnenlicht erzeugte.

Auf folde Fragen weiß das Chriftentum feine andre Antwort al3 den Hin- weis auf das unerforfchliche Geheimnis und die Majeftät Gottes. Die kritiſch gereinigte „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ weiß von Gott immerhin viel mehr und Gefcheiteres alg das Chriftentum mit feinem „Geheimnis“ ‚und feinem hellduntlen Mythos. Darum: wer nichts weiter ala Gotteserfennt- nis will, der gritble fic) feinen Gott mit dem Gehirn zurecht wie der Holzichneider mit dem Meffer fein Gotteshild fchnigelt. Iſt er ſelbſtbewußt genug und ftößt ihm im Leben nichts Abfonderliches zu, fo fommt er mit feinem fritifeh gejäuberten Gottesbegriff jchließlich ganz brav durchs Leben.

3.

Einen andern Sinn befommt das Gottmenfhentum Chrifti, fobald es fich um die myHftifdhe Offenbarung der Gotteswirflihhleit und Gottesgegen- wart handelt. Der hriftliche Myſtiker fagt: Chriftus ift der ewige Gott, infofern er Menfch wird. Jede Seele, die Gott befist, beffer: die von Gott befeffen wird, ift Chriftus. Angelus Silefius hat das endgiltig ausgedrüdt: „Der wahre Gottes- fohn ijt Chriftus mur allein, dod) muß ein jeder Chrift derfelbe Chriftus fein.” Der Myſtiker geht nicht aus von dem gefchichtlihen Ereignis in Judáa, fondern bon feinem unmittelbaren Gotteserlebnis. Er felbft wird in diefem Augenblid Chriftus: Gott und Menſch zugleid). „Die Seele wird von ihm glei als das

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Eifen wird glutrot wie das Feuer aus der Vereinigung mit dem Feuer.“ (Luther, Bon der Freiheit eines Chriftenmenfchen.) Der Myſtiker hat von Gott ſelbſt die Erfah- rung der Gottmenjchheit. Und nun erft wird ihm die gejchichtlihe Erſcheinung Chrifti zum Sy mb of für das Gefchehen in der Seele. Auf die Unio myſtica, die Vereinigung der Seele mit Gott, tommt alles an. Die aber geht allein von Gott aus, wir brauchen dazu fein gefchichtliches Wilfen und feine theologifche Belehrung.

Die Unio mbjtica ift nicht etwas Gedanfliches, fondern es fließen da zwei Wirk- lichfeiten, die irdifche und die göttliche, die fichtbare und die unfidjtbare, die erfenn- bare und die geheimnisvolle, in einander. Das Kind der Menfchenmutter und der eivige Gott vereinigen fich, und der Menjch geht damit in den Zuftand ein, der „Chriſtus“ Heißt, in den Zuftand des Gejalbten, Geweihten, Geheiligten. Er bleibt wie Chrijtus der ivdifde Menfch mit all dem Menfchenelend des Körpers und der Seelen, mit all den Unzulänglichkeiten und Fehlern feiner trüben Menjchlichkeit. Uber das „Reich Gottes” üt in ihm, und wer ihn ,fiebt”, der „fieht den Vater”. Die Seele ift nun Gottes gewiß, da jie ihn hat. Sie braudt ihm nur gehorfam ftill zu Halten, fo gejtaltet er ihr Denken und gibt ihrem Handeln ftablharte Kraft und zarte Sanftheit. Sie braucht nicht in Büchern nach dem Wefen Gottes zu for- ſchen und jd Belehrung zu holen über das, was fie tun muß, um felig zu werden. Ste weiß e8 unmittelbar aus Gott.

4,

Aber es Handelt fich nicht bloß darum, dak diefer oder jener Menſch von der Gotteswirtlidfeit überfommen wird. „Was ift der Menfch, dak du fein gedenteft?” Er ift ein winziges Stüdchen Natur in dem unendlichen Weltganzen. Er ift gefügt unter die durchgehenden „ewigen, ehernen, großen Geſetze“ des Als. Wie er felbit, fo ſchmachtet fein Gefchlecht, fein Volk, die Menfchheit, ja die ganze Schöpfung nad) „Erlöſung“ von der Naturwirklichfeit zur Gotteswirklichkeit. Kann die Schöpfung als ganze nicht erlöft werden, fo fann der darin gebundene einzelne Menfch, der ja nur ein Teil des Ganzen ift, nicht erlöft werden. Sein Chriftenftand bliebe nur ein Aufbligen, ein Augenblid der Seligteit ohne Ausfiht auf Endgiltigteit und Emigfeit. Die Unio myftica muß wie im einzelnen Menfden fo auch im Kosmos als einem Ganzen fich vollziehen. Die Welt als Ganzes muß von Gott befefjen, vom Heiligen Geift durchglüht werden. Chriftus ift nicht nur Zuftand einer Seele, fondern Zu— Stand der Welt die legte, ungeheure, befreiende Synthefe swifden Pan und Theos, AT und Gott.

Diefe Erlöfung foll nicht nur ein Gedanke in meiner Borftellung fein. Nicht ein gedachter Kosmos, fondern die wirkliche, harte Welt; nicht ein Gottes- begriff, fondern der wirkliche, lebendige Gott; nicht eine begriffliche Synthefe, fondern eine twirkliche ineinanderfchmelzende Vereinigung wie Feuer und Eifen darum geht e3. Qrgendeinmal muß Gott in das All eintreten, irgendeinmal muß bie Unio myſtica ftattfinden, welche die Erlöfung der ganzen feufzenden Kreatur (Romer 8, 19 ff.) verbürgt. Irgendeinmal muf nicht nur ich, fondern die Welt Gottes fein, muß alle irdifche Welt Chrifti Reich fein. I

Jedes Weltbild, das den Sinn des Naturgefchehens deutet, jede Metaphyfierung der Phyſis entiteht fo, dak die Seele ihre eigene Erkenntnis oder die ihr zuteil qez mwordene Offenbarung mit ihren Denken als mit einem Scheinwerfer über das ganze Weltgefdehen Hinwirft. Diefer Schein aus der Seele fcheidet Licht und Schatten, verteilt Klarheit und Dunkel in der chaotifchen Welt. Wenn Fichte die Menfchheitsgefchichte als einen fittlichen Stufenweg deutet, fo tut er nichts andres, als daß er die fittlide Entwidlung feiner eigenen Seele in die Entwidlung der Menfchheit hineinlegt. Ebenfo legt der Myftifer fein eigenes Gotterlebnis dem ganzen Menfchheits-, ja Weltgefchehen alg Sinn zu Grunde. Da fällt dann der hellite Schein auf das Gottesfindlein in der Krippe und den fcheidenden Gott am Kreuze. In jener Nacht, da Gott alg Menſch geboren wird, bricht der Glanz der Himmel durd) bie Finfternis, die Hirten erfchauern, der Stern erfcheint im Morgenlande,

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und die Weifen folgen ihm nad. Siehe da geht das ewige Licht in die Welt und gibt ihr einen neuen Schein. Aber in jener Stunde der Geufzer, da Chrijtus aus feiner Menfchheit jcheidet, erbebt die Erde, es öffnen fich die Graber, und die Sonne berfinftert Rd. Siehe da ringt Gott mit dem Verhängnis der Welt, mit dem Grauen des Todes. „ES war ein wunderlich Krieg, da Tod und Leben rungen. Das Leben behielt den Sieg, es hat den Tod verſchlungen.“ (Luther.)

Der Moftiter geht nicht von gefchichtlichen Ereigniffen aus, er bereift aud nicht durch Begriffe, er gibt ung feine „Erkenntniſſe“. Er hat in fich die Gotteswirtlid- feit erlebt, und diefes Erlebnis ftrahlt er über die Menfchengefhichte aus. Be- ftimmte Ereigniffe in der Gejchichte werden ihm zum Symbol des eigentlichen Ginnes alles Gefdehens. Das Dogma zergeht vor dem Erfenntnis heijchenden Verftand. Das Symbol ift unumftöglich gegründet im Erlebnis der Gotteswirk- lichkeit.

Die finnenhafte, natürliche Wirklichkeit als Gegenwurf Gottes wird zu einem Wiederſchein Gottes. Wer diefe Gotteswirklichleit in feiner natürlichen Wirklich- feit erlebt hat, der ift nicht blog wirflich, fondern zugleih wefentlich. Darum vermag er in dem irdifchen Gefchehen das Wejenhafte von dem blog Wirkliden gu fondern. Er hat den Maßſtab aller Maßſtäbe. Und wie er glaubt, fo ijt es. (Selbftverftandlich, bab er damit feine falfhen Anfprüche erhebt und wiſſenſchaftliche Ertenninis erfegen oder gar aufheben will! Die bleibt in ihrer vollen Bedeutung bewahrt. Myſtik ift nicht Dummheit. Jene Schwärmer, die fich über ihr Menſch— fein, über ihren Beruf, über die Wifjenfchaft hinwegſetzen zu können bermeinen, find nicht Myſtiker, fondern arme Teufel.)

5.

Gott verwirklicht fic) in jedem Vol! und jedem Menfchen auf eigene Weife. Alles Fleiſchwerden Gottes ift ja Befonderung (Yndividuierung). Gott geht in die Wirklichkeit ein, das heißt: er geht in eine ganz beftimmte Seele ein, die ihre be- ſtimmten natürlichen Gefühle, Vorftellungen und Gedanken hat. Die Unio gefchieht, tie wenn plößlich ein Reiftallpuntt entjteht, um den fich der umberlagernde Stoff in gefegmäßiger Ordnung zu einer befonderen Form zufammenfchließt. Wie Berg- triftalle und Granaten, Amethyften und Diamanten in ihrer Art und Gefegmäßig- keit verfchieden find, fo find die Gottesverwirklichungen in den einzelnen Volfern verſchieden, aber fie alle find doch Kriftall. Durch die Unio erhält die innere Welt Ordnung und Durchſichtigkeit. Yn diefen Eriftallenen Seelen fpiegelt fid) das göttliche Licht und wirft feinen farbigen Schein über die Welt. Cin Dogma fann niemals diefe bon Seele zu Seele fic) wandelnde Veränderung in fic) ſchließen; denn es ift begrifflich und Begriffe meinen immer „dasfelbe”, das fie eben meinen. Beim Symbol aber ift die Vielfórmigleit und Buntfarbigteit, der wechfelnde Shimmer des Perfönlichen und Völkiſchen nicht nur felbitverftändlich, fondern not= wendig. Am Dogma trennen fich Menfchen und Völker, im Symbol finden fie Hó. Das Dogma unterdrüdt das Leben, das Symbol entbindet das Leben. O der armen Zeiten, die das chriftliche Symbolum zu einem Dogma machten! Diefe Zeiten mußten nichts mehr von der Wirklichkeit Gottes, He Hatten nur noch Gottes- begriffe. Sie lebten nicht mehr, fie dachten nur noch. Sie eriviirgten die Frömmigkeit des Herzens mit ihrer grübelnden Theologie und Theofophie.

Da aber in der Gottesverdundenheit der Begriff wenig, die Wirklichkeit alles it, fo ift Gott im Deutfchen auf deutfche Weile. Darum hat der Dichter des Heliand recht, wenn er Chriſtus zum Herzog und die Apoftel zu feinen Mannen mabt. Darum hat Wolfram von Efchenbach recht, wenn er Chriftus als den Ritter Parzival ge- ftaltet. Darum hat Dürer recht, wenn er Chrijtus nach feiner eigenen Seele malt und die Apoftel wie die Biirger feiner Stadt. Darum hat Rembrandt vecht, wenn er in der Ehriftusgeftalt feine eigene heimlich glimmende Heiligkeit auf dem dunfeln Grund feines Schmerzes und feiner Tragit zeichnet. Darum haben mir Deutfche 380

das Recht, Chriftus aus unferer deutfchen Gefühls- und Vorjtellungswelt als Deut- iden zu gejtalten. Wir fönnen es gar nicht anders; wir lügen, wo wir es anders tun. Der Kiünftler, der Chrijtus „Hiftorifch” malt, gehört zum Tempel hinaus- getrieben. Er vergreift ſich an einem Stoff, zu dem er nicht berufen ijt, er will vor- täuschen, was er nicht zu geben vermag. Er gibt uns nur die Larven feiner Gott- loſigkeit.

Wir ſymboliſieren unſer Gefühl von der Welt, die Gottes harrt, in der Jungfrau Maria. Das blonde Haar, der unſchuldige, ſelbſtvergeſſene Blick, in dem dod) un- ergründliche Tiefe iſt, die Zartheit des ſich neigenden Hauptes, die Zierlichkeit der geſpreizten Hände, das Goetheſche Gretchen das ijt die Seele, in die Gott hinab— ſteigt. Das Knäblein armer Eltern in der Krippe, deſſen Leib mit derben Tüchern vor der Kälte der dunkeln nordiſchen Schneenacht vermummt wird; das Oechslein und das Eſelein, die doch auch Seelen haben und die Heiligkeit Gottes ahnen; der wackere Joſeph, der das Müslein für Mutter und Kind kocht und es mit dem Holzlöffel bor der näſchigen State behütet wahrhaftig, das iſt die arme, liebe Welt, der Gott ſich eint. Das iſt unfre Menſchlichkeit, die Er heiligt. ES ijt ganz deutſch, wenn die Herren der Welt mit dem Rate der Schriftgelehrten das Gottes— ſeelchen umbringen wollen, das gar nicht in ihre Rechnungen und Wünſche paßt. Es iſt ganz deutſch, wenn einfältige, demütige Hirten das Wunder glauben und vor dem neugeborenen Kindlein knien. Es iſt ganz deutſch, wenn einſame ferne Weiſe und Könige im Reiche des Sinnens und Träumens den Stern erſchauen und ahnungsvoll durch Länder und Meere zu dem Kindlein nachtwandeln.

Aus der dunkeln Nacht, in der die Lichtſeele geboren wird, ſteigt ein deutſches Heldenleben empor. Chriſtus weiß ſeinen ſchweren Weg, aber er bleibt nicht zögernd ſtehn, ſondern betritt tatbereit die Bahn. Schlicht und arm, tröſtlich und ſtark geht er durch die drohende Welt. Da ift Heldentum der Seele und Tragik des Schickſals. Und endlich fommt, was durch das göttliche Wefen des Helden borbeftimmt ift: die Gottesdammerung auf der Schädelftätte. Aber darnad) muß für die Seinen die neue Erde und der neue Himmel fommen; denn der Held ift fich tren geblieben und hat fein Schidfal vollbracht. „Gott ift die Treue” fagt Wolfram.

So ift Gottes und Marien Sohn auch Fleifd von unferm Fleifeh, Seele bon unfrer Seele, ein Symbol auch unferer Erlofung. St.

Das Ewige.

Sor Stage, wir miiffen uns aller Wirrnis der Zeit zum Troß nur um fo ernjter und tiefgriindiger mit uns felbft und mit den uns umgebenden Geijtesmadten auseinanderfegen, wie ein Schiff um fo fefterer Segel, um fo ziel- fidereren Steuerruders bedarf, je wütender der Orfan und je dunkler die Nacht, durch die es feinen Weg fuchen muß. Ja, man fann das Gefchehen diefer furdt- baren Zeit in dem tiefften und ernfteften Sinn faffen, daß e8 durchaus nichts als der große Erreger und Durchforſcher abgründigfter Seelentiefen fein foll und mill, an dem tir uns felbft zu erproben, unfere Echtheit, Ganzheit und Reinheit zu meffen und zu ftählen haben. Und wohl uns, wenn mir in foldem Geifte und Sinne aufrecht und Klaren Auges unferen Weg gehen können und dürfen... .

Welche Weltanfchauung aber dient uns dazu am beiten?

Gervig nicht der öde und twurzellofe Materialismus, der gleichwohl heute feine Orgien feiert und ein niedriges Gefchlecht hinwegtaufdt oder doch hinwegzutäufchen fic) anheifchig macht über feine innere Leere und Erbärntlichkeit und die der Beit.

Nicht jene vielgepriefene unvölfifch-übervölfifhe Allerweltsgeiſtigkeit, jene bimmelblaue „Menfchlichkeit“, die, Gefege vertennend, Grenzen verwifdend, in ber: Hangnisvoller Weife der Zerfegung und Verwirrung dient, anftatt dem Aufbau und der in fich ruhenden lauteren und wurzelechten Gangheit.

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Eher fon ein „deutfches Chriftentum“, das, feheinbar ein innerer Widerfprud in anbetracht der chriftlicden übervölfifchen Grundlegung und Jielfegung, doch eine Wirklichkeit und einen Wert darftellt und nicht wenige in diefen Fahren geftügt und befruchtet Hat; man dente nur an Hindenburg und Männer feiner Art, an den » Wanderer zwiſchen beiden Welten”, an manche aufrechte und edle chriftlich-deutiche Frau.

Und mit dem Chrijtentume alg der tiefgründigften und ernftejten Seelenmadt gilt e3 deshalb vor allem fic) auseinanderzufegen, aud) wenn unfere innere Stimme und der Kompaß unferes Herzens uns fagen, dak es ung, troß feiner großen Werte und Möglichkeiten, allein maßgebende Richtſchnur und Ziel nicht mehr zu fein ver- mag. Wenn wir vielleicht gar erfannten, daß wir zu ihm mie zu einer Geraden jtehen, die unjere eigene Gerade einmal freuzte, um nun in alle Fernen fic) von ihr zu trennen. Doc auch, wenn fid das Verhältnis ganz anders darjtellen follte, und wir befennen müffen, daß fic) dort Werte finden, die wir nicht entbehren können und wollen, und die uns immer neue Nahrung und Zielweifung geben werden nichts Aeußerliches darf unferen Entjcheid bejtimmen, und die lautere Stimme des Herzens allein muß ung unferen Weg teilen.

Nun ijt es ja zweifellos, und aud) der überzeugtefte Gegner des Chriftentums muß es ftaunend befennen, weld) ungeheure Lebenskraft in ihm verborgen liegt; nahezu zwei Jabrtaufende wirkt es jebt, zeitiweife in gewaltigem Vorftoge Raum und Geltung gewinnend, dann wieder ziemlich mühjfelig und kümmerlich fid) Hin- fchleppend. Und immer wieder emporleuchtend, die Seelen befchäftigend, bald fie beglüdend und befruchtend, bald fie beunrubigend und abftogend. Wo liegen die Gründe?

Gewiß find diefe vielfach recht äufßerlicder Natur. Das Chrijtentum ift mit Feuer und Schwert den Germanen aufgeswungen; dann war es Staatsreligion, und fich zu ihm zu befennen war felbfiverftandlide Vorausfegung vieler Stellungen und Möglichkeiten, ihm fic) zu verfagen oder gar es zu befämpfen, die Quelle großer Nachteile, ja Gefahren. Entfcheidender wirkten in der gleichen Richtung vielleicht noch die „inneren Aeußerlichkeiten“ des Chriftentums, wenn ich gewiffe feiner ur- {priinglichen Grundbeftandteile fo bezeichnen darf. Jeſus felbft hat ja, falls die Neberlieferung richtig fein follte, feinen Zweifel darüber gelaffen, bab er fich, jeine Perfon und Lehre, als fchlechthin entjcheidend betrachte für das ewige Wohl des Menschen, man vergl. etiva Matth. 10, VB. 37—39, Job. 3, V. 18, 5, V. 22—24 uſw. Und es gehört ſchon für den Tiefen und Ernften (weniger freilich für den Leicht- fertigen und Oberflächlichen) ein beträchtliche Mag fittlifen Mutes und innerer Klarheit dazu, der Drohung ewiger Verdammnis und Pein zum Troß, ſolchem Glauben fich entgegenzuftellen, und unbeeinflußt, ehrlih und rein der lauteren Stimme des Herzens zu folgen, die anderes fagt und andere Wege tweift . . .

Wo aber liegt denn, wenn auch nicht Hier, legten Endes die Leben3- und Werbenstraft des Chriftentums? Mir [deint auch nicht einmal in den hohen, dod nicht urfprünglich allein chriftlichen Werten der Gottes- und Nächiten-, oder gar ın dem Gebot der Feindesliebe, der Selbftverleugnung und -erniedrigung; fondern in einem unvergleichlihen Werte, der, wenn auch nicht durchaus neu, doch die ganze Zielrichtung des Chriftentums bejtimmt und ihm den Stempel aufdrüdt: im Glauben an eine perfonlide Unfterblichkeit und damit verbunden in der tiefen Er- fenntnis und forgenden Pflege des Ervigen.

Wollen wir uns alfo entfcheidend mit dem CEbrijtentume auseinanderfegen, fo müffen wir bier vor allem das Senkblei niedergehen laffen. . Denn das Ewige ijt doch das, was die Menſchen immer wieder in feinen Bann zieht, worüber fie, als das aud für jeden Einzelnen Entfcheidende, Klarheit wollen und zu dem des

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halb eine jede Religion, die Anfpruc auf Beachtung machen will, Stellung nehmen, ja mehr nod), die fie neufchöpferifch beantiworten muß.*)

Wie fieht eS nun in diejer Beziehung mit der neueften, mit der deutfchereligiöfen Bewegung?

Sm Sceidingheft 1919, S. 60 des „Neuen Lebens” jchreibt der Herausgeber und Leiter der „Deutjchgläubigen Gemeinschaft” Dr. Ernft Suntel: „Wenn alle, die „Glanz aus der Höhe” in ihrem armen Leben brauchen, willtommen find (in der zu gründenden Bolfstirde), dann fommt dod) niemals eine deutfde Volt3- fire oder deutjchreligiöfe Volt8gemeinibaft, fondern eben eine neue Univerjal- fire im allvölkiſchen Sinn zuftande, oder vielmehr, e3 tommt überhaupt nichts gujtande, da ja jede verbindende Bejonderheit fehlt. ES gibt nur zwei Möglichkeiten: entiveder Gemeinfchaft des Glaubens im Sinne des Fiirwahrhaltens mie in den Hriftlihen Kirchen; oder Wejengsgemeinfchaft aus gemeinfamer Lebenswurzel, aus gemeinfamer Abftammung aus dem Gottesgrunde, wie in der deutfdglaubigen Gemeinſchaft. Ein Drittes gibt e3 nicht. Enticheiden wir uns aber fir die religiöfe Stammes-, Wejens- und Volfsgemeinfdaft, dann ijt es veligidfe Pflicht gegen den Urgrund unferes Lebens, den Stamm und die religidfe Stammesgemeinfchaft, weil fie eine Ausitrablung und bejondere Lebensform des Ewigen ijt, fo rein und unber- falfoyt von fremden Zutaten und Beimifchungen zu Halten, twie dies in dem Beit- punkt unferer Gefchichte, in dem wir leben, überhaupt noch möglich ijt.”

Ich habe bd, muß ich geftehen, fehr ernfte Bedenten gegen die Schlüffigkeit oder vielmehr gegen die Volljtändigkeit diefer Ausführungen, die vielleicht den Verſtand, ficherlid aber nicht das Herz voll befriedigen. Gewiß it der Urgrund unferes Wefens ewig nad) unferem Fühlen und Glauben (auch das ift freilich ein Fürmwahrhalten). Aber damit ift doch die Frage nad) dem Ewigen in feiner ganzen Ausdehnung und feiner entfheidenden Bedeutung durchaus nicht beantiwortet. Und wenn mich jemand, Troft heifchend, nad) dem Ewigen fragt, und ich antivorte ihm: der Urgrund deines, unferes Voltes ift ewig, fo möchte er vielleicht antivorten: Schon recht, doch was hilft mir das in meiner fehnenden Not. Denn mein Volf wird ja doch vergehen, früher oder fpäter, mag es fi) rein erhalten oder nicht, foie jedes Erdenweſen einmal vergeht. Und meine Gedanken gehen weiter hinaus, in die heiligen Fernen, wenn diefe Erde erftarb oder erglühend in der Sonne ber- fant. Sage, was ift es in diefem Sinne um Zukunft und Ewigkeit? Und der Deutfchgläubige, der nur von der Ewigkeit des Urgrundes unferer Wefens- und VBolt3gemeinioyaft wüßte, müßte verftummen ...

So bleibt die ernfte Frage, wie fteht es für die, die fühlen und glauben, dah ihr perfönliches Schidfal mit dem Tode durchaus noch nicht abgefchloffen fein wird und fich forgen um ihr eiviges Heil, und die doch, gehorfam der lauteren Stimme des Herzens, nicht mehr glauben fonnen und mögen an Rirdenlehren und -befennt- nis tie ftebt es für fie um das Emige, um das Ewige, Unverganglide in ihnen und die unausdenfbaren Zeiten und Weiten vor ihnen?

Und da meine ich, es gibt nicht nur jene beiden Möglichkeiten, von denen Dr. Huntel oben fchreibt, fondern noch eine dritte, bie man vielleicht beffer noch bezeichnet als einen Meiterbau der zweiten, und fie gerade fcheint mir die entfcheidende und erichöpfende: Volksgemeinſchaft nicht fowobhl oder nicht nur als Ausftrahlung und befondere Lebensform aus dem ewigen Urgrunde, fondern vor allem aud Aus- ftrahlung und befondere Lebensform zu einem befonder3 Heiligen Ziele: Pflege des Ewigen in einem jeden Mitgliede, b. D. Pflege des Tiefften und Lauterften in

*) as des Eigen ift hier zunächſt (jedoch gewiß nicht ausſchließlich) im Sinne der iden Dauer zu verſtehen, nicht im Sinne der Kant'ſchen Philoſophie als etwas unjerer Vorjtellungsmöglichkeit, da raum- und zeitlos, Entzogenes. Wie ih an anderer Stelle dargutun verfudt habe, find Raum und Zeit und mithin aud) das Ewige in diefem Sinne unmittelbare Wirklichleiten und Ausdrudsformen des Abfoluten, wie ja aud) der riftlichen ,ewigen Seligteit” eine gleiche Auffafjung zugrunde liegt.

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ung, Pflege deffen, das noch dauern und ungeminderten Wert haben wird, wenn deutſches Land und Volt längjt verſchwanden und vergingen.

Damit aber ändert fi) unfer Blidpuntt bedeutend. Denn alles Vergänglice, Raffe und Volfstum, Gemeinfdaft, Gefellfchaft und Staat, ift uns dann nicht mehr Selbitzived, Wert an fic) und alfo auch nur fehr bedingt heilig, fondern ift ung nur Grundbau und Erdreich, Wurzel und Stamm. Iſt uns nur ein Mittel edelfter und vollfommenfter Geiftes- und Seelenentfaltung, auf weld) legtere allein es ent- foheidend ankommt, und die für andere unter anderen Verhältniffen lebende Einzel- menſchen und Völker auc) durchaus auf andere Weife möglich und zu erreichen it. Denn was ift Volfs- und Wefensgemeinfchaft 3.8. für den auf eine einfame Inſel Verjhlagenen? Was Raffe im Sinne der Raffenveinheit für ein in feiner Art edles und fruchtbares Mifchvolf, dem durch ein glüdliches Schickſal Harmonifch und traft- voll fid) ergänzende Bejtandteile verfchiedener Raffen einverleibt werden? Und was fciert alles folches Wurzelwerk legten Endes die Heiligkeit Gottes, der nur reine, große, liebejtrahlende Seelen will, und ficherlich nicht darum jemand geringer an- fehen wird, weil er al3 armes verftofenes Baftardlein feine flüchtigen Erdenjahre verbrachte. Nicht darauf fommt es an, fondern einzig und allein darauf, tas der Menfch aus dem, fo ihm in die Wiege gelegt wurde, machte. Und mir find nur darım Anhänger einer völfifchen Religion, weil wir erfannt zu haben vermeinen, daß fie den göttlichen Lebens- und Werdegefegen, einſchließlich der gejchichtlichen, am beiten entjpricht und daß fie regelmäßig die vollendetite und alljeitigite Körper-, aber auch Geiftes- und Seelenentfaltung ihrer Gläubigen ermöglicht und bedingt, falls diefe nur nicht verfäumen, ihren Anter in die heiligen Tiefen der Emigfeit auszumerfen.

Denn „Blut“ bedeutet ja durchaus nod) nicht „Seele“, und mit dem Raffifchen ift die Frage des Geijtigen in feiner Weife gelöft. Aber edle Reinraffigteit oder eine allfeitig gute und fruchtbare Blutmifhung find doch eine wichtige Voraus— fegung, das Wurzelwerf gleihfam und der Stamm, die einmal das Volfsleben fihern und aus denen andererfeit3 Seele und Geift in voller Schönheit fic ent: falten und erblühen wollen. Aber freilich, großer Liebe und vieler Sorgfalt bedürfen fie und nicht weniger der Selbftzucht und immer neuen Vertiefung, um ihre Möglih- feiten und legten Schönheiten zu erreichen und erfüllen.

Selbitverjtändlich ift es darum, da mir die raffiihe Hebung und Pflege des Volfes al3 wichtigen Grundjtein eines echteren und beffer gefügten Wiederaufbaues fordern und fördern müffen; denn ohne eine folche ift das deutfche Volt offenbar enb- gültig verloren und der Knechtſchaft verpfändet, mie ja auch die vaffifch-geiftige Mindertvertigteit, Unbemwußtheit und Serfegung breitefter Schichten, nicht zulegt bedingt durch jüdifches Blut und jüdischen Geift, fold) namenlofe Schmach, Ent- ehrung und Erbärmlichkeit, wie fie ung in den Krallen haben, allein möglich machten.

Was Volt38berelendung und -verfiimmerung in ihren legten Auswirkungen aber bedeuten, das wird einem erft graufig flar, wenn man fieht, wie fie auch Seele und Geift mit ing Verderben reifen. Und mir feheint, es tft wahrlich an der Zeit, aufzuräumen mit der landläufigen Auffaffung e3 ift das eine der verhängnis- vollſten Erbichaften des kirchlichen Chriftentums —, daß Gott der Menjchen Schidfal lente und er ſchon forgen werde für feine Kinder, mie er forge für die Blumen auf dem Felde und die Vögel unter dem Himmel. Man lefe den fchauerlichen Bericht über die ,berhungernden Kinder” im Erzgebirge, wie er unlängft dburd bie Zei- tungen ging, und lerne Ehrfurcht vor der furchtbaren Unerbittlichteit und der hem- mungslofen Gefegmäßigfeit des Schidfals; und lerne Gott größer und reiner zu Schauen und zu ehren, alg das in einer jüdifchschriftlich-kirchlichen Vermenſchlichung üblich und vielleicht auch möglich.

Und da die körperliche Verelendung und Entnervung aud) die geiftig-feelifchen Werte befonders bei den Herantwadhfenden fümmern und verfommen läßt, fo find auch um der eigen Werte willen die Volkstumswerte, und nicht zulegt die raffi- 384

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ſchen, fo überaus wichtig, ja heilig, da eben fie allein jtaatliche Kraft, Gefundheit und Unabhängigkeit und dadurch Arbeit und Wohlitand, innere Freiheit, Feftigteit und Freude, aufrechte Ganzheit, Wärme und Schönheit in Hinreichendem Mage šu verbürgen vermögen. Und fo ftehen wir gleichweit von einer allvölfifchen Uni» verfalfirche wie von einer wurzelhaft bedingten NursLebensgemeinfchaft, wollen fein im Verdande edlen und freien Volfstums Hier [don Kinder und Diener des Ewigen und Zufünftigen in Gangheit, Reinheit und Weisheit.

Finden und erfüllen wir aber in diefem weiteſten und tiefiten Sinne unfere Glaubigfeit, fo löfen und befriedigen wir damit nicht nur das lebte Fragen und Ewigfeitsfehnen der Seele, fondern geben auch für diefes Leben allen Brüdern den Werkftoff, Vollmenſchen zu fein, mit allen Sinnen diefer Erde zu gehören, ihrem Volke und feiner Entfaltung dienend und doch eben zugleich fehon hier Menfchen eines unfichtbaren Geiftesreichs zu fein und in der Zugehörigkeit zu diefem Geifte3- reich ihre einzigite wahrhaft ewige Beitimmung zu erkennen und empfinden. Dann allein aud find wir würdig der Großen, die bor uns deutfcher Glaubigteit Weg und Biel fuchten, wandeln, Vollftreder ihres Fühlens, Wollens und Ahrens, in ihren geheiligten Bahnen, und dürfen etwa mit Goethe befennen:

„Der Menſch, wie jehr ihn aud) die Erde anzieht mit ihren taufend und abertaujend Erjcheinungen, hebt doch den Blid fehnend zum Himmel auf, der fid) in unermeßlichen Räumen über ihn wolbt, weil er tief und far in fich fühlt, dak er ein Bürger jenes geiftigen Neiches fei, woran wir den Glauben nicht abzulehnen oder aufzugeben vermögen.”

Oder mit Fichte: „Ganz gewiß zwar liegt die Seligteit auch jenjeits des Grabes für denjenigen, für welchen jie [don diesfeits begonnen hat, und in feiner anderen Weife und Art, alg fie diesfeits in jedem Wugenblic beginnen kann; durch das bloße Sichbegrabenlaffen aber fommt man nicht in die Seligfeit; und fie (die Menfchen) werden im künftigen Leben und in der unendlichen Reibe aller fiinftigen Leben die Seligfeit ebenfo vergeblich juchen, als fie diefelbe in etwas anderem fuchen, als in dem, tas fie ſchon hier jo nahe umgibt, daß es denfelben in der ganzen Un- endlichkeit nie näher gebracht werden tann, in dem Ewigen.“

Oder mit Lagarde vor allem, diefem Lehr: und Baumeifter einer reineren Zukunft:

„Fühlt euch als ewig und ihr werdet fiegreich durch jede Zeitlichkeit fchreiten.”

Auch mögen aus deffen Gedicht „Nach dem Tode”, einem feiner wunderbollften und diel zu wenig gefannten, hier die folgenden Verje wenigfiens noch Raum finden, die zeigen, in welch außerordentlichem Mage fon auf diefer Erde Lagarde in den Sphären des Ewigen anjchauend atmete und lebie:

Des Kerfers Türe brad; die Haft if aus.

Was jtebft du, Seele, zügernd an der Schwelle?

Verlag für grünen Wald das graue Haus,

die Finsternis verlaß, und ſchwing dich auf ins Helle:

jest fteht zum Simmel fret der ungehemmte Zug.

Doch zaudert fie noch auf der alten Stelle:

fie faut fih an und hat nicht Mut genug,

die Fittige, bie niemals nod) entfaltet,

emporzubreiten zum erfehnten lug.

Lidtlofe Unnacht ift’3, die um fie waltet.

Sie fieht nicht, ift nicht blind, nicht taub, und höret nicht, und alles vor ihr deucht fie nichtgeftaltet.

Doch Horch, ein fchivellender Akkord, der durch die Dumpfheit fpricht: doch fchau, ein Licht will durch die Nebel dringen:

o fühle den warmen Saud, der durch die Fernen bricht. Da regen leife ſich die fchlaffen Schwingen,

und rudern fchüchtern in des Aethera Wogen:

ein jeder Schlag bringt froheres Gelingen. Nun zieht fie, wie die Wandervögel zogen, die einst fie neidete, alg fie in reiche Ferne durch Herbit zum Lenz hinitberflogen. Milchſtraßenſchein, in Duft zerflofjne Sterne: und unten atmet dunkelgrün das Meer. Schon fieht fie lar des Landes Küſte ragen, und einer unfichtbaren Sonne Strahlen, wie nie fie leuchtete in Erdentagen, den Strand, die Höhen, fühne Gipfel malen. Hier find die Fernen, die den Hauch gefendet, dak Ahnung einft fie rif aus ihren Qualen: bier Der erflang der Ton, von Gott gefpendet, der Schlußakkord für ihre Melodien, dem nach fie fid) zu diefem Biel gewendet. Und dann nod) der Schluß: Mein Herze brennt, dich endlich anzubeten in Geift und Wahrheit, frei von allen Banden. 3d will vor dir nicht Enten, nicht ftehn, vor dich nicht treten: Bor dir verſchwindend will ich im Verſchwinden leben. Sei du des Zirkel! Schluß und Fuk und Hand, im fteten Umfhwung um dich will deine Kreif' ich weben. Sei Sonne du, ich twill dein Leuchten fein, und bon dir ungefdieden in die Weiten fchweben.

Sind wir aber mit jenem unferem Glauben und Belennen nod) oder wieder Chrijten? Ich meine wohl vor Gottes Auge in dem Sinne, bab fein Gottes Wille, fo rein und hoch wir ihn nur immer erfaffen und verftehen können, und das Leben in Gott uns Erjtes und Lewtes ijt, wie fie es für Fefus waren; gewiß aber nicht in dem alltaglid-firdliden Sinne, daß wir durch Jeſu, des eingeborenen Gottesfohnes, Blut von Gottes Zorn erlöft feien und nur durch ihn ewiges Leben haben; denn nach Gottes heiligem Plane gibt es täufche ich mich nicht feine „ewige Verdammnis”, ift (vielleicht mit vereinzelten Ausnahmen) jede Seele unzer- ftorbar und wird fortfchreiten, wenn aud) möglicheriveife durch viele Jahre, ja Yahrhunderte der Dunkelheit und des Seelenleidens hindurch, falls fie nicht {don auf Erden ihre Beftimmung erfannte und ihr gemäß lebte —, fortfchreiten zum Ölanze und zur Freude liebeftrahlender Geligteit. Nod in dem Sinne, daf Syelu Gebot der Weltveradtung, der Armut, der Selbftverleugnung, ja der Selbit- erniedrigung, des Nicht-Sorgens, des Nichtwiderftehens dent Uebel, der Feindes- liebe ufim., uns unbedingt legte Wahrheit wäre; denn Jeſus fprad nad feinen eigenen Worten als Jude zu Yuden und glaubte zudem offenbar an den nahe bevor- ftehenden Weltuntergang und feine alsbaldige Miedertunft zum Gericht. Wir aber find weder Juden noc) Weltuntergangsgläubige und erlebten und er- fannten Kraft und Pflicht des aufftrebenden Lebens und den bauenden, fegnen- den Wert von Kampf, von Ehre, Arbeit und Wohlftand, bon Freunde und Freiheit, von Sippe und Freundfchaft, von Volfstum und Gemeinfdaft, von Willen, Wiffenfdaft und Kunft, die voll unendliher Gnaden find, falls mir fie nur nicht als Selbſtzweck überfhägen und uns an fie verlieren. Noch endlid) in dem Sinne einer einfachen Herübernahme des menfchlich-perfön- lichen Gottesbegriffs Jefu, der uns zu forgen und an den morgigen Tag zu denfen verbietet, da Gott, der Vater wiſſe, weffen wir bedürfen und ſchon für uns forgen werde, viel beffer nod) wie für Vogel und Blumen; fondern un 8 ift Gott der Quell und Urbrunn des tiefen lauteren Werde- gejegesinuns,daßunsarbeitenundtämpfen,forgen,lieben und leiden heißt, um legte Gottesplane zu erfüllen, foweit

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fie auf unfere fhwaden Kräfte angewiefen find; und Gott ift unsandererfeitsdasunfaßlih große fegnende Meer, das alle Ströme mit machtvollen Armen liebend an fi zieht und in fid trinkt, die Sonne, die uns überftrahlt, umfángt, beglüdt und zugleich tief in uns felber lebt. Wohl aber jtehen wir neben oder Hinter Jeſus in dem Sinne, daß wir den Blid unverrüdt auf das Ewige lenfen und in Ehr- furdt, in Seelenfchönheit und -größe ihm uns weihen wollen. Denn im Ewigen rubende Gottes- und Menfchenliebe, voll Heiliger Inbrunft und felbitlofer Güte Dienend des Lebens unverbrüchlichen und tiefiten Gefegen, glaubig, wirfensfreudig und opferbereit, das ift doch der Schlüffel und Duell alles feligen Seil3. Und wunderbar, je mehr mir alfo erfennen und tun, um fo wichtiger und ehrfurdt- gebietender werden uns die Menjden als unvergängliche Gottesteime und wird uns aud) die Welt der Erfcheinung felbjt mit ihren Segnungen und Möglichkeiten, als dem Wurzelgrunde aud) tiefiter geiftiger Werte. Aufrecht, jelbftlos und treu gilt e3 daher, unfere Erdenpflidten zu erfüllen; fie find unfere nächſte und erfte Aufgabe. Das zukünftige Leben wird die feinigen haben. In CEbrfurdt und Ihauender Weisheit aber ihnen entgegenreifen und =fchreiten, das ift köſtlichſtes Wollen und Vollbringen.

Go fei diefes mun erftes und letztes Gebot: Leben in volf3verivurzelter Ganz- heit und freudig-[Haffender Seelenfhönheit und Weisheit.

Weisheit aber ift die Krone; denn fie ift in Freiheit ge- leiteter ®ille,ifttiefegeläuterte Liebe, ift hid ftes Denfen, Erkennen und gottdurchleuchtetes Shauen.*)

Walter Colsman.

Die Myſtik im Pietismus.

A“ haben alle foliden Phyfifanten Wichtigeres und Gründlicheres zu tun. Da muß der Kot der vorflutigen Tiere wohl betrachtet und berochen werden; da follen die Arten des Schimmels gefondert, die Spulwürmer im Leibe des Frofches fortiert werden; alle Elemente, die der Moder in fich befchließt, rufen laut und wollen alle gewußt und auswendig behalten fein. Das ift alles gut und löblich an feiner Stelle; aber da meinen die Bornierten, der forfdende Geift, unausgefegt niederblidend, werde zulegt der Erde eigenhörig; jeder Aufblid zur Höhe falle ihm erft ſchwer, fei dann verdriehlich, dann verhaßt, zulegt unmöglich, und nachdem er fic) ganz entfremdet, was ihm das Nächſte fein follte, dünfe er fih nod) wunder wie groß in feinem Betteljtolze.” Görres fchrieb es 1836 in der Vorrede zu feinen meitfchweifenden Bänden über die chrijtlihe Mojtit. Was er feiner Zeit, in der Naturphilofophie und ſchließlich Naturwiffenfchaft ſich zu mäch— tigem Aufſchwunge rüfteten, hiermit über die Scheu der Wiffenfchaft vor der Myſtik fagte, hätte etwa zivei Jahrhunderte früher auch der fich leife vorbereitende Pieti3- mus der trodnen orthodoxen Beitgelehrfamfeit entgegenmahnen tónnen. Als mit Spener (1635—1705) diefe herzensechte Auflehnung gegen Tutherifche Steifgläubig- feit und den Formalfult in Heinen Gemeinfchaften einfegt, als die Bewegung bei Grande (1663—1727) und dem gütigen Zinzendorf (1700—1760) ihre höchſte Wir- fung augsftrablt, da fcheint eine religiofe Wiedergeburt dem Lande zu gefchehen. Grade wie um die gleiche Zeit Frankreich im Schoße der fatholifden Kirche feinen Janſenismus und feinen Quietismus erfuhr. Wieder bereitet fic) der Geift des pierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts, der Geift der Myſtiker und der Gottes- freunde oder der gottinnige und ftreitfrohe Geift der reformatorifhen Schwärmer und Seber, über das Volt zu fommen, fo abfeitig und fcheu fic) die Gewandelten

*) Näheres über die hier angeführten Fragen gab ich in meinem eben -bet Erich Wiatthes, Leipzig und Hartenjtein, erfceinenden Buche „Wege zur Wahrheit”.

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aud hielten. Wie Heinrich Jung Hd „Stilling“ nannte, fo wollten fie alle Stille um Lande fein, mochten felbjt viele Efjtatifer und Verzüdte unter ihnen ihren Mund auftun.

Wir verbinden mit dem Namen Pietismus zunächſt allzu iweltfremde Vor— itelungen. Mit der Abfonderung und der neuen Gefühlswandlung war es nicht getan. Der Pietismus wollte prattifd) fein, hat fich handelnd ausgelebt, aller- dings damit einen inneren, nahezu tragifchen Brwiefpalt in fic) gefebt, dem er ichließlich nicht gewachfen war. Stilling rat in feiner Lebensgejhichte: „Wer ein wahrer Knecht Gottes fein will, der fondere fich nicht von den Menſchen ab, ſon— dern bloß von der Sünde; er fchliege ſich nicht an eine befondere Befellichaft an, die fich3 zum Zweck gemacht hat, Gott beffer zu dienen alg andere; denn in dem Bemwußtfein diejes Befferdieneng wird fie allmählich ftolz, betommt einen gemeinen Geift, der fich auszeichnet, Heuchler zu fein fcheint und aud) manchmal Seubler, und alfo dem reinen und heiligen Gott ein Greuel ift.” So fdieden fid) ſchon in diefem Puntte die Geifter. Die einen wurden verfdjloffene, in fich gefehrte Separa- tiften, die anderen verfuchten den Dienft an der Welt aufzunehmen. Aber nicht um der Welt willen, fordern um der Chriftlichfeit willen. Der Pietismus leijtete 3.3. auf pädagogiſchem Gebiete nicht Unbebeutendes. Die. Keime der Realſchule, des naturwifjenfchaftlichen Arbeitens, des Wert- und Handfertigteitsunterridts find da zu finden. Die Bereicherung des Realwiffens ftand neben der ausgiebigen Pflege der Sittlichkeit. Und alle diefe neuen Lebenstráfte, die am wirkfamften fic) in Frandes Inftituten zu Halle zufammenfchloffen, gewinnen Raum felbft in der Regierungstheorie. Friedrih Wilhelm der Erfte will alg Pietift fein Branden- burg-Preußen erziehen, er fucht den gerühmten Erziehungsmeifter in Halle perfönlich auf und veröffentlicht einen Bericht über die neuen Gründungen: ,,Oeffentlides Zeugnis der fegensvollen Fußtapfen des nod) lebenden und tualtenden, liebreiden und getreuen Gottes.”

Aber nicht die Wiffenfchaftlichkeit führte Hier die Zügel, eher litt allmählich die wiffenjchaftliche Unbeirrtheit unter der zunehmenden und fdeinheiligen Erjtarrung aud) des Pietismus, nein, die Ehre Gottes mar das hichfte Gefeg, das uner— miidlide und fniefallige Gebet die rechte cultura animi und Tugendlehre, die tránen= reiche Zerknirſchung, die rirdfichtslofe Breung des Eigeniillens der Jugend die gottgewollte Methode. Katechismus und Bibel, Bibel und Katechismus lautete die Parole trog aller Abfage an die Orthodorie. Die Schule follte die Aufgabe der Kirche in fih auffaugen daher das Hochma der Religionsftunden neben den Realien. Die Schule wurde vor eine Aufgabe geftellt, die fie nie und eben auch damals nicht Tofen fonnte. Das Spiel war verboten, jugendlicher Frobfinn wurde mit der Rute zur Gottergebenheit geleitet. Man lefe das nur nad) in den vielen Selbiibefchreibungen der Pietiften, *) die zugleich Zeugnis für ftartes Erlebnis des Selbjt ablegen. Bei Frande famen auf den Tag acht, zuerft fogar zehn Unterridts- fiunden und vier Eramina im Jahre. Biegler hat in feiner Pädagogik durchaus recht mit dem Gage: „Das Chriftlihe trat wieder wie im Mittelalter an die Stelle des Menjchlichen.”

Diefer traurige Brwiefpalt im pietiftifden Dafein fcheint zivar an einer Stelle etwas gemildert, bei den böhmifchen Brüdern und Herrenhutern Zinzendorfs. Eine fröhliche Grundjtimmung läßt bei ihnen auch in der Kindererziehung Spiel und

+) Bgl. die Eigenbiographie des Gelehrten Octinger (+ 1702): „Inzwiſchen verlor ich

diefe —— unter der harten Behandlung meines Vaters, meines Informators und meines Präzeptors .... mit Hauen, Schlagen und unvernünftigen Strafen, um zwei oder drei Worte, die ich nicht auswendig konnte. Dies machte mir mein Leben fo bitter, und der Zorn und Grimm machten mich fo bös, daß ich fluchen lernte wie ein hamburgiſcher Schiffer, und daraus folgte fodann ein von Gott abtrünniges Leben und viele Sünden der Jugend, dod) immer mit viel Zaum und Bewwahrung. Unterdefjen mußte id) auf meines Vaters Scheiß alle Predigten des Herrn .... nadfdreiben, aud) mit meinem Vater viel auf den Knien beten, bejonders am Sonntag... .“

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Herzensfreude wieder feimen, aber wir willen aus Schleiermahers Jugendzeit, wie weit auch da die angftliche Abgefchloffenheit muderte.

Mie ifts nun mit dec Myſtik? Wir lefen bei Werner Mahrholz:**) „Der Pietismus ijt, geiftesgejchichtlich betrachtet, das Wiedererwachen der myſtiſchen Roltsbeivegung des dreizehnten Jahrhunderts in den Formen der Iutherifchen Kirde, tft der erneute BVerjuch, gegen eine erftartte Dogmatif und feelenlog gewordene Hierarchie den Geift eines lebendigen, myſtiſchen Chriftentums durchzuſetzen.“ Und es wird darauf hingeriejen, daß weder Sant nod) Fichte, weder Goethe nod) Schiller oder Schleiermacher ohne den Pietismus denkbar wären. Aber da ftellt jich nun doch die Frage ein: Nennen wir Goethe, Fichte und Schleiermacher etwa Pietiften, weil fie pietijtijo) aufgervadjfen, oder hat der Pietismus entjcheidend daran teil, daß fie fic) feblieBlich in die Höhen der echten Myſtik emporgefliigelt? Gewif nicht! Sie entwuchjen dem Pietismus wie der Schuljunge aus feinem blaffen oder nachemp- fundenen Konfirmandenglauben in feine Lebensglaubenstraft hineinwächſt. Die Pietiften find überzarte Seelen, die erzittern unter dem Atem der bodenjtarfen Myſtik. Edehart liegt ihnen ferne, fie lefen nur hier und da im Ruysbroed, in Valentin Weigel und Jakob Böhme und übernehmen ihre Bibelfpruchüppigfeit, ihre Lehre vom Kampf zwifchen Gott und Satan, um fie unter Furcht und Beben zu qualvollen Vifionen aufzubauen. Sie lefen in der Myſtik, aber fie verftehen ihren Geift nicht mehr. Johann Arnd (* 1555) fteht der echten Mojtit noch am nächſten, obwohl wir bereits den abweichenden Slang herausjpüren: „Der Menfch jollte nicht Gott felbjt fein, fondern Gottes Bild, Gleichnis, Konterfait und Aus- drud, in welchem allein ſich Gott wollte jehen laffen; aljo daß nichts anderes in dem Menfchen follte leben, leuchten, wirken, wollen, lieben, gedenten, reden, freuen denn Gott felbjt.” Aber [hon J. 99. Peterjen (# 1649) fchredt vor der Anklage, „ih ware fo gejinnet wie Valentinus Meigelin3 auch gewefen, der gefaget, es fónnte der äußere Menfch wohl vor dem Priefter fnien und beichten, aber der innere Menfch follte nicht beichten und mas der Dinge mehr waren. Id) befchrwerte mich höchlich über diefe Harte und erfchredliche Auflagen, wovor bei mir nod ein Grauen tft...” Spangenberg (* 1704), ein Zinzendorfjünger, fchreibt: „Ich fiel hernach auf myſtiſche Bücher und fuchte darin Erbauung. Dadurch aber fam ich ab von dem einfältigen Wege, auf den mich der Heiland bis daher geführt Hatte... Sh habe gefehen, daß die echten myſtiſchen Schriften zu ihrer Zeit und an diejen und jenen Orten nicht vergeblich getvefen find. Jm Papfttum, wo den armen Menſchen die Bibel nicht in den Händen ift, fommen ihnen folche Schriften ¿u- ftatten. Wer aber die Bibel hat und brauchen kann, der hat doch was Befferes.”

Geht durch die unbedingte, göttliche Unbeirrbarteit des Myftifers der große Sat der Gemwißheit: „Ich und der Vater find eins”, fo brechen ſich im pietiftifchen Herzen die Diffonanzen und Zweifelsakkorde der Verlorenheit und des fiindigen Berwußtfeins. Jn dem tragifiben Lebenslauf aller Pietiften fteht als Kernſtück die feelifche Erfhütterung, die Ueberrafchung der Belehrung, wenn auch die Vibrationen der Ungewißheit bis in das ebenfo typifche Schlußftüd des gottesfürchtigen Sterbens hineinſchwingen. „Das Dichten des menfchlichen Herzens ift böfe von Jugend auf“, dies alttejtamentarifche Wort ijt der Weisheitstern des Pietismus, den die Gnade Gottes nicht reftlos zu zerjtören vermag. Wie anders die Gotterhebung und Selbit- heiligung des Miyjtifers, der aus dent Geifte des Johannes lebt. Der Pietift ift der Gnade nahe, wenn er fich felbjt verachtet, wenn ihm die Welt entgegenftintt, tenn Gott ihn heimfucht, wenn er in des Teufels Krallen fchluchzend um die Grade Chriftt ringt. Die Geftandniffe diefer Art Merkzeichen eines getrübten, unreinen Onftinftes find Legion. „Wenn Gott uns heimfuchet, fo denkt er an uns. Ja, alg wir eine Zeitlang ohne Qual waren, welches fd felten zutrug, dachte id:

**) Sm Vorwort zu feiner feinjinnig ausgewählten Quellenfammlung „Der dentiche Pietismus” (Furdhe-Verlag, Berlin, 1921). Die wortlichen Anführungen diefes Beitrags find meift eben diefem Werke entnommen.

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Unjer lieber Here muß uns nicht liebhaben, weil er uns nicht züchtiget!” (Semme Hayen * 1633). „Der Zuftand meines Gemüts, da id) von Hamburg fam, mar febr fchlecht und mit Liebe der Welt durch und durch befledet” (U. $. Frande). Und nach feiner Belehrung jubelt er auf: „Die Ströme des lebendigen Waffers waren mir nun allzu lieb geworden, daß ich leicht vergefjen fonnte der ftintenden Miltpfügen der Welt. O wie angenehm war mir dieje erfte Mil, damit Gott feine ſchwachen Kinder fpeifet!” Albrecht von Haller, der Dichter, jammert: „denn die Welt liebe ich, Hochmut und infonderheit Unreinigteit herrjchet in meinen Gedanken. Ich habe Urfache zu zweifeln, ob etwas Gutes an mir fei.” Spangen- berg: „Ich weiß in der ganzen Briiderunitat feinen größeren Sünder als mid.“ ` Zu einem wahren Fieber wird das für Schubart, a[8 er in der Gefängnisöde des Hohenafperg fich durchmartert: „Mein Weib Hatte die Getwohnheit, Sprüche der Bibel auf tleine Bettelchen zu fchreiben und fie an Derter zu legen, wo id fie finden mußte. Yeh fchien fie zu verachten, behielt fie aber alle im Herzen, und im Sterter fielen fie mir wie Feuerfloden auf die Seele. Schlug ich die Bibel auf, fo fprachen Donner daraus. Schlief ich, fo ſchwangen ſchreckliche Traume die Schlangen- peitiche. Bald fah ich meinen Vater, der mir fein gejchivollenes Bein auf3 Herz legte, daß ich feuchend unter feiner wachjenden Schwere mit einem Jammergeſchrei erivachte; bald Feuerfiguren, die zu erinnern fdienen: dein Religionsfpott Hat uns vergiftet; wir fündigten ftarben! weh über did)!!”

Der Myſtiker hat die Gottgewifheit, er ift der Weife, der Menſch des Starken Friedens, der Meifter des Lebens. Der Pietift, der fic) in jedem Augenblide aufs neue Gott entriffen fürchtet, fann das Leben nicht bemeijtern. Er ift ihm haltlos und voller Qualen ausgeliefert. Am riihrendften ſchwingt das in den Mühjelig- feiten des Schulmeifters, Arztes und Gelehrten JungStilling, er ift bei feiner fanften Gottergebenbeit der Typus des Melancholiters geworden: „Diefen ganzen Sommer war Stillings Schiwermut auf den höchften Grad geftiegen ... Hypochondrie war e3 nicht, wenigſtens nicht die gewöhnliche, fondern e8 war eigentlich Freuden- Icerheit, auf welche auch der reinjte finnliche Genuß feinen Eindrud machte; die ganze Welt wurde ihm fremd, fo, als ob fie ihn nicht? anging; alles, was anderen, aud guten Menfchen, Vergnügen machte, war ihm ganz gleichgültig; nichts ganz und gar nichts! als fein großer Gefichtspuntt, der ihn aber teil3 dunkel, teil8 ganz unerreichbar erfdjien, füllte feine ganze Seele aus, auf den ftarrte er Hin, fonft auf nichts. Seine ganze Seele, Herz und Verjtand hingen mit der ganzen Fülle der Liebe an Ehrifto, aber nicht anders als mit einer wehmütigen Empfindung.” Solche feinen, nervenzarten Belenntniffe bezeugen immer tvieder, wie den Menfchen die feften Lebenszügel entglitten find. Cie leben dem Tode ent- gegen nad) dem dunklen Spruche: Schaffet, dak ihr felig werdet, mit Furcht und Zittern! Lavaters fentimentale Selbftoffenbarungen und rührfeligen Tagebuch- zeichen fprechen dafür. Aus diefem düfteren Urgrund müffen fich ſchließlich athe- rifche Gebilde der Sehnfucht gen Himmel und Jenſeits wiegen. Als Stilling einft lieben Befuch empfangen, jubelt er: „So wird es uns dereinft fein, wenn wir über- ivunden haben und in den Lichtgefilden des Neiches Gottes anlangen. Die Seligen der Vorzeit, unfere lieben Voraufgegangenen und alle die großen Heiligen, die wir hinieden fo fehr wünfchten gefannt zu haben, werden zu unferer Umarmung berbei- eilen, und dann den Herren felbft mit feinen ftrahlenden Wunden zu fehen ! die Feder entfällt mir!”

Gott in der Seele, Gott das Licht und Fünklein im Menfchen, das war Myſtik, das bleibt die Sonne der Myſtik. Der Pietismus fucht den Gott außer uns. Da- gegen Edehart unvergehliches Wort: „Warum geht ihr nur aus? br tragt doch alle Wirklicgfeit dem Wefen nach in euch!” Mir Klingt es, alg müßte diefe Melodie in Moll gefegt fein. Jn Moll gefegt if die trauje Vielftimmigteit des Pietismus, in Moll tönt unfer Mitgefühl auch bei den bejahendften Weifen der Brüderfrömmig- feit, auch in Goethes verflärenden „Befenntniffen einer ſchönen Seele“. Spangen-

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berg gebe uns noch einmal das Geleit: „Nicht nur die Verheifungen, fondern aud die Gebote Gottes wurden mir füher wie Zuder und Honig und föftlicher als Gold und Silber. Das alles war weder mein Verdienft noch Wiirdigfeit, fondern pure Gnade und Gabe Gottes.” Und Hamann, der „Magus des Nordens”, befchliege den Reigen: „Meine Gefundheit und mein Leben, ich wiederhole es, ift ein Wunder und ein Zeichen zugleich, daß Gott nicht an meiner Befferung, nod) an meiner künftigen Braudbarteit zu feinem Dienft verzweifelt hat. Mein Sohn, gib mir dein Herz! da ift e3, mein Gott! Du haft es verlangt, fo blind, hart, felfig, verkehrt, verſtockt eS war. Reinige es, {caffe es neu und lafje es die Werkſtatt Deines guten Oeifte3 jein. (Es hat mid) fo oft getäufcht, als es in meiner Hand mar, daß ich felbiges nicht mehr für meines erfennen will. (ES ift ein Leviathan, den du allein zähmen kannſt, durch Deine Einwohnung wird es Ruhe, Troft und Seligfeit genießen.”

Es ift der Ausgang des Pietismus und wieder mifcht fic) wie bei Arnd in der Vorbereitung ein Farbenton der Myſtik ein. Ga, wie oft waren myſtiſche und ekſtatiſche Weuferlichfeiten aud) in der Blüte der pietiftifchen Lehre in einzelnen Gemeinden aufgetreten. Aber ftellen wir nod) einmal die Frage: Wie ifts mit der Myſtik im Pietismus? Cs ift ein andrer Geijt in beiden. Die Mbjtit blieb wohl ftet3 im Fluffe, fie lebt fort in den großen Schöpfern jener Zeit, in Goethe, Fichte, Schleiermadher, fie ftaut fic) vor dem Pietismus. Deffen Bett war ihrem großen Strom zu enge. Die Myſtik ijt eine göttliche Symphonie, der Pietismus ein Choral, auf einem Spinett gefpielt. Der Pietismus glimmt wie ein mattes Ver- gigmeinnicht neben dem farbigen, wurzeltiefen und wuchsfeſten Blumenftauden gottesglühender Mojtit.

Es wird gefagt, wie die Myftif habe auch der Pietismus fortgelebt bis heute. Gewiß. Und er nimmt einen froheren Schein über ſich. Wir fehen im Geifte den beimeligen deutfchen Maler Ludwig Richter, der in Rom feinen Jung Stilling lieft und feine Vaterunfer-Holzfchnitte zeichnet. Wir hören auch von Bingendorf ber freudigere Stimmen, die fic) heute in einer weltoffenen Chriftusbetennerfchar fammeln. Ich gebe die Namen: Furche, Gottfried Arnold, Schlüchtern und „Neu— Werk”. Vielleicht foll es ihnen gelingen, den Pietismus ganz zur Bejahung, Feftig- feit und Lebensmeifterung, ganz zum Werk zu führen. Jm Hinblid auf die Ahnen heiße es: beftigia terrent! Alfred Ehrentreid

Bürherbriefe

Welche Märchenbücher follen wir (efen?

SD das Märchen vor aller Literatur da war und von Mund zu Mund erzählt durch Jahrtauſende meitergetragen wurde, ift allgemein bekannt. Ebenfo jelbjtverjtändlich aber erfcheint es uns, dak mir das Marden heute nur nod) aus dem Buche jchöpfen. An die Stelle des lebendigen Märchenftromes ift Heute eine ausgedehnte Märchenliteratur getreten, in der man fic) ſchwer ohne Wegweiſer zurechtfindet. Um fic) über Wefen und Wert der einzelnen Märchen— bücher flar zu werden, muß man vor allem zwiſchen Volksmärchen und Sunft märchen, zwifchen dem durch den Volt8mund überlieferten und dem bon Dichtern unferer Zeit frei erfundenen Märchen unterfcheiden.

Das Buch, mit dem unfer Vollsmärhen in die Literatur eintrat, und das in ihr Schaghalter und Segensquelle des deutfchen Volfsmardens feit mehr als hundert Jahren war und für alle Zufunft bleiben wird, ift die Grimmſche Märhenfammlung Dag die „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm, diefe erfte deutfche Volfsmardenfammlung, unter der langen Reihe der im Laufe eines Jahrhunderts ihr folgenden, nicht nur als unerreichtes Vorbild,

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jondern fo ganz einzig und unvergleichlid) dajtebt, will uns immer wieder fait wie ein Wunder erfdeinen. Und wie ein jchier wunderbares Zufammentreffen von glüdlichen Umitánden mutet uns das Mit- und Gegeneinanderwirten der Kräfte an, denen wir diefes Werk verdanken. ¿Jn einer Zeit, in der man nad) den volfstrennenden und volfsfremden Jahrhunderten des Humanismus und der Auf- Härung in Kunft und Dichtung fehnfüchtig die Verbindung mit den verborgenen Tiefen der eigenen Volfsjecle jucht, beginnt ein den edelften Sträften des deutſchen Volfsiums und zugleich den fchaffenden Künftlern und Dichtern der Zeit innig verbundenes Brüderpaar jene feit langem neben und unter der volfsfremden Bil- dung fortfließenden Quellen wahrer Voltsdichtung zu erfchliegen. Angeregt durch Brentano und Arnim und in ftetigem geijtigen Austaufch mit ihnen gefördert, wifjen die Brüder Grimm ihre Marden doc einem zu weit gehenden Einfluß diefer romantifchen Dichter, die immer geneigt waren, die Märchenmotive als Stoff für freifchaffende Dichtung zu betrachten, zu entziehen, und es „rein und treu” aufzufaffen und weiterzugeben. Dabei ergänzten fic) die beiden Brüder aufs Glüdlihjte. Während Jakob ftreng zwiſchen Volt8- und Kunftdichtung {died und jedes bewußte Hineindichten in diefe naiven Volt3erzablungen mit Entjchieden- beit abwebrte, hätte vielleicht Wilhelms nicht gleich ftrenge Auffaffung und feine weidjere Natur jenem Einfluß zu fehr nachgegeben, wenn nicht Jakob gerade in der erjten Ausgabe der Sammlung feiner Auffaffung entjcheidende Geltung zu verſchaffen gewußt hätte.

Und doch ijt [don in diefer Urausgabe von 1812 (1. Band) und 1814 (2. Band), die uns Friedrich Panzer durch feinen Neudrud zur Hundertjahrfeier der Grimm- fhen Märchen 1912 wieder zugänglich gemacht hat (€. $. Bed, Münden), Wil = helm Grimm der eigentlihe Märchenerzähler. Nach der ſchönen Einleitung Hermann Grimms zur Originalausgabe der Kinder- und Hausmarden, find von Jakob für den erften Band von 1812, der doc) am deutlicdften feinen Einfluß zeigt, wahrſcheinlich nur zwei, hochftens vier Märchen erzählt, während in den meijten andern Wilhelms ſchöne Gabe, das Volksmärchen im warmbergig-findliden Ton zu erzählen, nicht zu verfennen ift. Doch erft in den fpäteren Auflagen der Sammlung (1819—1856) konnte fid Wilhelm Grimms Erzähl- und Gejtaltung3- talent ganz entfalten. Jakob, durch andere Arbeiten gebunden, überließ Wilhelm die Sorge für die Märchen fait ganz, und es gibt einen lehr- und genußreichen Einblid in die Werkftatt diefes unfers Märchenerzählers, wenn man die einzelnen Märchen in der Faffung der Urausgabe mit der endgiltigen, der fiebenten Auflage, die nod) bon Wilhelm Grimm 1856 beforgt und dann in allen fpäteren Ausgaben nachgedrudt wurde, vergleicht.

Diefer Vergleich zeigt, wie Wilhelm Grimm einer großen Reihe der ſchönſten und befannteften Märchen erft in der fpáteren Darftellung die vollendete Geftalt gab, in der wir fie heute bewundern. Die ihm vor allem ans Herz gemachfenen und mit befonderer Liebe betreuten Märchen vereinigte er dann 1825 zu ber fleinen Ausgabe der „fünfzig Märchen“, die, jest in unzähligen Exemplaren ver- breitet, das eigentliche deutfche Kindermärchenbuch geworden ift. Zugleich aber umfaßt der fleine Band die meijten der Stüde, die von Wilhelm Grimms und feiner Vorbilder erlefener Erzähltunft zeugen. In diefe Auswahl nahm Wilhelm auch das erfte naiv und künſtleriſch vollfommen geftaltete Volksmärchen der deut- {hen Literatur „orinde und Joringel” aus Jung Stillings Lebensgefchichte (1779) und die von den Brüdern Grimm alg Mufter märchenhafter Gejtaltung bezeich- neten plattdeutichen Marden „Von dem Madandelboom” und „Bon dem Siber un fyner Fru” von Philipp Otto Runge auf. Und Stüde wie Stillings , Jorinde und Yoringel”, Runges ,Machandelboom” und die fchönjten Märchen Wilhelm Grimms: Sneewittchen, Ajchenputtel, Dornröschen u. a., werden ftets unbergáng- liche Muſter einer unerreichten Erzähltunft bleiben. Aufs Ganze der Sammlung gejehen muß man diefe Auswahl der fünfzig allerdings einfeitig nennen, weil in ihr 392 n

der männliche Märchentyp faft ganz fehlt. Vorwiegend ftehen Kinder- und jene jungjraulicen Märchengeftalten im Wittelpuntt diefer Marden, da Wilhelm Grimms Art, findli-innig und zart und farbig zu geftalten, ihrem Wefen vor allem entíprad).

Den vollen Eindrud von dem Reichtum und der Bielgeftaltigteit unſers Volks- mardens vermag erft die Gejamtausgabe der ziweihundert Grimmiden Marden zu geben, die in feinem deutfchen Haufe fehlen follte. Hier ift auch jener männliche Mardentyp in vielen Stüden vertreten; und konnte fic) an ihm Wilhelm Grimms farbig ausmalende Gejtaltung3tunft auch nicht gleich ftart bewähren, fo wußte er doch aud) hier den naiv einfältigen Erzählton durchaus zu treffen, und feine Mardhenfprade zeichnet fic) in fait allen Stüden durch ein feines Gefühl für lebendige Erzähl- und kindlich-volfstümliche Redeweife aus. Auch den nicht une mittelbar aus dem Volksmunde, fondern aus literarifchen Quellen ftammenden Märchen (7. B. „Schneeweiiichen und Rofenrot” und „Einäuglein, Ziweiäuglein und Dreiauglein”) wußte Wilhem Grimm den Stempel feiner Erzählfunft aufzu- drüden. Nur in einem einzigen, einem alten Roman entnommenen Stüde (Der gläferne Sarg) hat er die unmadrdenhafte und undichterifche Sprache nicht in feine eigene Erzählfprache umzudichten gewagt. (Es fei das hier nur erwähnt, um dem Lejer ein lehrreiches Gegenbeifpiel zu nennen.) 2

Daß die Gabe, das Volksmärchen in der hochdeutfchen Sprache zu erzählen, durchaus nicht felbftverftandlich ift, beweift die ungezählte Menge der Márden- fammlungen nah Grimm. Sn feiner von ihnen ift das Volfsmarden fo feinem Wefen entjprechend und in einem gleichwertigen Erzählftil dargeftellt. Seinem diefer vielen Nacherzähler ift es gelungen, das Märchen aus der Volfsmundart, in der allein es im Volte erzählt wird, in lebendige, teilnehmende Wärme ver- tatende hochdeutfche Erzählfprache zu übertragen. Auh die Auswahl Paul Zaunerts aus diefen Märchenfammlungen feit Grimm (in den Diederichfchen „Märchen der Weltliteratur”) begrüßen wir nur, weil fe rein ftofflich eine glüd- lide Ergänzung der Grimmfden Sammlung ift.

Mit dem Ausspruch, mehr zu geben als eine Stoffergänzung, trat unter den Sammlern nah Grimm vor allem Ludwig Bechftein auf, und von den hod- deutfhen Sammlungen haben neben den Grimmſchen allein die Bechfteinfchen Märchen fid) einen Namen gemacht. Das ift Bechitein u. E. nur dadurch gelungen, daß er fic) mit fremden Federn fchmiidte, und feinen Anftoß nahm, die von Wilhelin Grimm fo vollendet geftalteten Lieblinge unferer Kinderwelt (Dornrös- chen, Sneewittchen, Ajchenputtel, Rotkäppchen u. a.) in fein „Deutfches Märchen buch” zu übernehmen. Seinen nichtsfagenden Quellenangaben: „Mündlich”, „aus Thüringen” ufro. (in der. erften Ausgabe diefes Buches) trauen mir nicht, nad)- dem wir uns durch eingehende Tertvergleichung überzeugt haben, dak mande diefer Märchen faft Sat für Sak aus der ſchönen Sprahe Wilhelm Grimms in ſchlimmes „Bechfteindeutfch” umgefchrieben find. Mie fehr die Märchen dadurd entítellt wurden, davon follte fich jeder Lefer, der noch ein Bechſteinſches Märchen- buch, das er ala Kind unfritifch gelefen, zur Hand bat, felbft überzeugen. Und wer dann Bechfteins „Neues deutfches Märchenbuch” noch Tefen mag, der wird einfehen, daß Bedhftein fic) hier nicht weniger am Geift des deutſchen Volt3- märchens verfiindigte, al8 dort an der Grimmfden Darftellung. Nur den ſchwank— haften Ton weiß VBechftein in einigen Stüden zu treffen, am beften allerdings in folchen, too er fich auf eine gute literarifche Vorlage ftügen konnte, wie in dem Sdhwankmarden „Vom Schwaben, der das Leberlein gefreffen” (Grimm, „Bruder Lujftig”) und dem „Vom tapfern Schneiderlein”. Die finden wir aber aud) bei Grimm felbftandiger auf Grund miündlicher Ueberlieferung und darum einfacher und weniger altertiimelnd erzählt. Bechjteins Märchen haben feine Dafeinsbe- rechtigung und verdienen ihren guten Ruf nicht; man follte fie ferner nicht mehr feinen Stindern fdhenfen. Schade um die hübſchen Bilder Ludwig Richters, die

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die Wigandiche Ausgabe des deutjchen Märchenbuchs zieren und zu feiner Ver- breitung beigetragen haben.

Eine höchſt wertvolle Bereicherung unferer Boltsmärchenliteratur find da- gegen die oftholjteinifchen Voltsmärhen Wilhelm Wiffers Während aud unfere Märchenforfcher faum noch mehr als fpärlihe Nachlefen zu den vielen deutfchen Sammlungen erwarteten, überrafchte Wiffer nicht nur durch die Fülle feines Schages, den er in dem engen Gebiet feiner ojtholfteinifchen Heimat uns mittelbar aus dem Munde von mehr als 250 Erzählern und Erzählerinnen ſchöpfte, fondern er wußte auch die Märchen fo unverfehrt ins Bud) hinüberzuretten, daß wir aus ihm feine Erzähler felbft zu uns jprechen hören. Go wurde uns Hundert Sabre nad) dem erften Erjcheinen der Grimmfchen Sammlung unfer Volfsmarden nod) einmal: neu gefchentt in der ganzen Urfprünglichfeit und Unberührtheit der lebendigen Erzählweife des Volt8mundes. Wie Wilhelm Grimm, der die meiften feiner Märchen weder fo unmittelbar aus dem Munde des Voltes fchopfte, noch in der Lage war, fie in der Volksmundart zu erzählen, fie nur durch Umdichtung in in feinen perſönlichen Erzählftil lebendig gejtalten fonnte, jo fonnte Wifjer feine Aufgabe umgekehrt nur darin fehen, die unnahahmliche Urfprünglichkeit und Leb- baftigfeit der mündlichen Erzählweife auch im gedrudten Wort zu erhalten. Die bollfommene Beherrfhung feiner plattdeutfchen Mutterſprache und fein eigenes Erzählertalent ermöglichen es Wiffer, felbft da, wo die Erzählgabe feiner Gewährs- leute mehr oder weniger verfagte, Rhythmus und Ton der lebendigen Erzählung wieder herzuftellen, und fo die Märchen in feltener Gangheit und Frifche zu bewah— ven. Und wenn diefe Märchen der oftholfteinifchen Tagelöhner und Kleinhandwer— fer auch die Enge und Armut der Welt ihrer Erzähler nicht verleugnen fonnen und wollen, fo gewinnen fie doch gerade dadurch ihre unbefiimmerte Naturbaftigteit und die Reinheit und Gefchloffenheit ihrers Erzählitils.

Sehen wir nun vom Volksmärchen zur Betrachtung des Kunftmärchens über, fo miiffen wir uns zunächft die Tatfache tlar vor Augen halten, daß all die wunder— baren Geftalten und Gejchehniffe, die das Volksmärchen fdon rein äußerlich betrach- tet für ung zum Märchen machen, der Wirklichkeit und dem Glauben einer Urzeit entjtammen. Und ift fic) die Märchenforſchung über den Urſprung des Volksmär— chens und ſeine Geſchichte auch noch nicht in allen Stücken klar und einig, ſo ſteht doch feſt, daß für den urſprünglichen Märchendichter all das, was uns heute als wunderbar und märchenhaft erſcheint, durchaus ernſte Wirklichkeit war. Und die Dichtung, die auf dem Boden dieſer Wirklichkeit emporwuchs, war Wirklichkeitsdichtung im ernſteſten Sinne, war für den Naturmenſchen voll» gültiger Ausdruck all deſſen, was ſeine Seele bewegte, ſeines Glaubens, ſeiner Sehnſucht und ſeiner Wünſche. Das was wir heute Märchen nennen, war einſt Inbegriff aller Dichtung, war Dichtung in einem ernſteren und umfaſſenderen Sinne, als wir dies Wort heute verſtehen. Erſt wenn wir uns deſſen bewußt bleiben, daß das Volksmärchen nie als ſolches „gedichtet“ wurde, ſondern erſt zum Marden geworden ift, feit die geiſtigen Vorausſetzungen, auf denen feine Welt aufgebaut ift, nicht mehr ernft genommen werden konnten, werden wir eine Hare und eindeutige Stellung zum Kunſtmärchen unferer Beit finden. Wir werden ein- fehen, daß die wunderbare Einheit sivifden Form und Gehalt des Volfsmardens, die Bildhaftigteit und Kraft feiner Ausdrudsmittel, nur darum fo bewundernswert find, weil feine Dichter mit ganzer ungeteilter Seele aus den geiftigen und ftofflihen Wirklichfeiten ihrer Zeit heraus gejchaffen haben. Unter diefen ewig gültigen Bedingungen wird auch in unferer Zeit allein echte und große Dichtung entitehen fonnen, und wir werden darum unferm Kunftmärchen gegenüber den Vorbehalt machen müfjen, dak es [dom aus diefem Grunde nicht im Ernſt Volldidtung fein fann. Daf diefer Vorbehalt feine borgefafte Meinung ift, fondern durch die fich über mehr als ein Jahrzehnt erftredende Literatur unfers Kunſtmärchens bejtatigt wird, mag der folgende Ueberbli€ zeigen.

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Will der Kunftmärchendichter nicht jenes naive Verhältnis zur Marchenwirklid- feit bortäufchen, das allein der Menjc jener vergangenen Zeiten haben konnte, fo wird er auf irgend eine Weife durchbliden laſſen miiffen, bab feine Erzählung nicht im vollen Sinne ernft genommen fein will. Damit begibt er fic) allerdings der tiefften Wirkung aller ernten Dichtung, aber nur fo fann er fic) die Wahrhaftigkeit und Freiheit dem für ihn eben nicht ernft zu nehmenden Märchenftoff gegenüber wahren. Darum erzählte [don der alte Muſäus feine ,Volfsmarden der Deut- ſchen“ im Tone jenes „ironifchen Helldunfels“, den er fo vorzüglich zu treffen ver- fand. Durd) SYronie und Zeitfatyre wußte er den Abftand gegenüber feinen fagen- und märchenhaften Stoffen zu wahren, und wirkte gerade darum, wenn aud) nicht tief, fo doch wahr und perfönlih. Darum wird man feine Marden aud) heute nod) gerne lefen. Die zweibändige Ausgabe bei Diederich8 mit der launigen Einleitung Paul Zaunerts über den alten Mufäus und deffen eigenen „Vorbericht“ hat feinen anderen Fehler, al3 ihre Einordnung neben den Grimmfchen, Wifferfchen und den Volt8márden fremder Völker in die Folge der „Märchen der Weltliteratur”. Volt3- märchen find das nicht trop ihres Titels, der nur verzeihlich ift, weil Muſäus feine Märchen dreigig Jahre vor Erfdeinen der Grimmſchen Sammlung taufte.

Eine Betrachtung für fich verdiente die Märchendichtung der Romantiter, wenn wir jedem der fehr verschieden gearteten und begabten Dichter gerecht werden woll— ten. Diefelbe Sehnfucht nach der ungebrodenen Einheit zwiſchen Volt8feele und Dichtung, die zur Entdedung und Geftaltung unferes Volfsmardens führte, trieb fie zur Schöpfung ihrer Märchen. Doch fonnte diefe Sehnfucht mit rüdgewandtem Geſicht nicht zugleich die Kraft zur Erfüllung geben. Hatten fie urfpriinglide Schöpferfraft genug befeffen, jo würden fie feine Märchen, fondern Wirklichkeitsdich- tungen etwa im Sinne des Fauft oder des Prinzen von Homburg gefdaffen haben, die freilich wegen ihrer feelifchen Kraft und Tiefe auch den Rahmen der Wirklichkeit fprengen. Aber man wird fie desivegen nie alg Märchen bezeichnen wollen, wäh— rend die Märchendichter der Romantik doch legten Endes and im Kunftmärchen jteden blieben. Das mag denn aud) Brentano empfunden haben, den jene Sehn- fucht ins Kinderland am tiefften gepadt und zur Geftaltung in wunderbar zarten und innigen Slängen und Bildungen getrieben hatte: Von feinen Marden, in denen diefe Koftbarkeiten bruchitüdartig verftreut liegen, gab er nur „Godel, Hinkel und Gadeleia” an die Deffentlichfeit, während die übrigen erft nach feinem Tode durch Görres herausgegeben wurden. Dak man aber nicht Brentano Marden, fhon wegen jener dichterifchen Köftlichfeiten, oder die Märchen anderer wirklicher Dichter unter den Romantifern vor allem gelefen Dat und eft, während man fich immer Iwieder an Fouques Undine, diefem fehwächlichen und flachen „romantifchen Kunftmardhen” bergnitgt, fpricht nicht für den Gefchmad der Lefer.

Weitejte Verbreitung haben die Marden von Hauff und Anderfen ge funden, wohl vor allem, weil fie auch Kindern zugänglich find. Mit ihnen beginnt die Zeit des Kunfttindermardens, dem gegenüber unfer Miftrauen vielleiht am meiften gerechtfertigt ift. Die Herablaffung zum Rinde, die für den Dichter an ſich ſchon eine Schwäche ift, verleitet den Märchendichter leicht, die Naivitat des Volfs- mardens vortäufchen zu wollen. Hauff fowohl mie auch Anderfen haben biefe Klippe wohl gefehen und find ihr, jeder in feiner Weife, ausgewichen. Hauff, indem ex fih die weniger naiven orientalischen Märchen zum Mufter nahm, die er nicht nur in den Darjtellungen morgenländifcher Stoffe in Aufbau und Erzählmweife nach— zuahmen fuchte. Hauff ijt ein gewandter Erzähler; feine geringen dichterifchen Qualitäten aber verraten fic) ſchon in feiner wenig originellen Sprache. Seine Wirkung auf die Jugend ift vein ftoffliher Natur. Anderfen geht vom Volf3- märchen aus und hat ein paar dänifche Volksmärchen (Der große Klaus und der Heine Klaus, Das Feuerzeug, Der Reifefamerad, Die wilden Schwäne) nicht übel erzählt, wenn er auch in der fhildernden Ausmalung, befonder3 im letztgenannten Märchen, zu weit geht. Die von Anderjen frei erfundenen Märchen behalten mun

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diejen findlidjen Ton möglichjt bei; hinter ihm aber verbirgt fd) der nur dem Er- wachfenen faßbare Sinn, die „dee“, um derentwillen das ganze Märchen erzählt wird. Man wird leicht einfehen, daß folder Dichtung etwas Gedantenbaftes und Ziviefpältiges anhaften muß. Und wenn Anderjen felbit fagt, dak die „Staffage” mehr fürs Kind, der tiefere Sinn für den Erwadhfenen fei, fo gibt er damit jene Mängel, die im Wefen feiner Märchen Liegen, zu. Nun ift es zwar feiner bemer- fensiwerten Darftellungstunft gelungen, den gedantenhaften Kern mit anfchaulichjter Handlung und Schilderung zu umbleiden, jenen Ziwiejpalt durch nato flingende Sprache und Erzähllunft jo gefchiet zu verhüllen, dak er ahnungslofen kindlichen Hörern nicht zum Bewußtſein fommt. Anderjen jteht darin in einem eigentüm— lichen Gegenſatz zu Mufäus, der einfache volf3- und findertümliche Stoffe in einem pon Wik und Satyre fehillernden Gewande darftellt, fo dak fie Kindern ſchlechthin ungenießbar terden. Wenn man darum von ihm febr hübfch gefagt hat, daß er „mit dem Herzen ein Gläubiger, mit dem Munde ein Spotter” zwifchen alter und neuer Zeit ftebt, fo tann man dies Wort in feiner Umkehrung auf viele Märchen Anderfens beziehen. Wir können nicht verhehlen, dak der alte Mufäus in diefer Beziehung unferem Herzen näherfteht, wenn auch feine Märchen grobförniger und weniger tief empfunden fein mögen als die beiten Anderfens. Der naive Ernft großer Dichtung aber wurde fowoh! durch die naive Bewußtheit Mufäus’ als durch die bewußte Naivitat Anderfens, bei beiden aber durch den unnaiven Geiſt des RKunftmarchens zerftort.

Bon den Märchendichtern nad) Anderen fann man faft fagen, ihre Bedeutung für unfere Dichtung ftehe im umgefehrten Verhältnis zu der Zahl der Märchen, die fic gefchrieben haben. ES fpricht nicht für das Sunftmárden, dak unfere großen Erzähler, die zugleich Dichter waren, Storm, Keller, Mörike, nur felten und gele- gentlih Märchen gefdrieben haben. Man bedente auch, wie fchief einem Wilhelm Raabe das Kunftmärchen zu Gefichte geftanden haben müßte. Jedenfall3 ragen die wenigen Märchen diefer Dichter, die feine Mardendidter fein wollten, weit über die Erzeugniffe der Schriftfteller hinaus, die fic) mit ganzen Mardenbiidern als Spezialiften diefer Gattung präfentieren. Von den drei genannten Dichtern bat Storm am meiften Gewicht auf feine Märchen gelegt, und man darf fagen, daß fih feine ,,Gefchichten aus ber Tonne” (Regentrude, Bulemanns Haus und Spiegel des Cyprianu3) auf der Höhe feiner novelliftifchen Erzählkunft halten. Sie find aber auch weniger Kunftmarchen ala Märchennovellen, und das dem Kunftmärden- top mehr entfprechende Marden ,,Hinzelmeier” fteht dichterifch (auch nad Storms eigenem Urteil) weit unter ihnen. Naiv wie das Volfsmarden will Storm in feinem diefer Märchen fein. Und auch in dem föftlichen Kindermarden „Der Heine Hawelmann” täufcht Storm diefe Naivität nicht vor. Der launige Ton, in dem e3 erzählt ift, und die drollige Komik der Situationen laffen auch den findlichen Hörer feinen Augenblid zweifeln, dak e8 nicht ernft gemeint ift; es [oft darum and nicht ernftes Staunen, wie die meiften Volksmärchen, fondern nur frohes Lachen aus. Mörike wollte die Marden als „Nürnberger Mar” nicht zu ftreng be- urteilt wiffen, und auch fein „Stuttgarter Hußelmännlein” bedarf alg Ganzes diefer Nachſicht. Eine unvergängliche Perle goldenen Humors aber ift die darin enthal- tene „Hiftorie von der ſchönen Lau”. Sie und Gottfried Kellers unvergleichliches „Spiegel, das Kästchen” find Mufterbeifpiele dafür, mie fich auch noch heute über- tragende Erzähl- und Fabulierkunft im Marden offenbaren fann, wenn der Dichter die heute einzig mögliche Haltung zum Märchenftoff einnimmt, indem er fic) mit freiem Humor darüberftellt. Sellers unbeirrbares epifches Stilgefühl liek ihn in diefer Stellung auch feinen Angenblid ſchwanken, wie er das auch durch feine über alle ,Runftmarden” weit erhabenen „Sieben Legenden” beweiſt. Morile dagegen berfuchte in bem Märchen „Der Bauer und fein Sohn“ den naiven Ton anzufdlagen oder ein ernftes Sindermárden zu geben, und es wurde nicht viel mehr als eine moralifche Gefhichte daraus. Unvergeffen aber und jedem, ders nod) nicht fennt,

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angelegentlichft zur Lektüre empfohlen, jet Mörifes „Märchen vom fideren Mann”. Hier waltet wieder echter Dicjterhumor frei über dem márdenbaften Stoff, und die gebundene Form fichert und bekräftigt die freie dichterifche Haltung.

Ueber die Märchenbücher der vielen Märchenfpezialiften, die mit dem einen Auge meiften3 nad) dem Volksmärchen, mit dem andern immer nad) dem untritifojen Kinderpublifum fchielen, möchte man am liebften ganz ſchweigen. Dod) muß gefagt werden, daf wir aud) Volfmann-Leander mit feinen auch bei großen Leuten beliebten ,Tráumercien an franzöfifhen Kaminen“ zu diefen Spezialiften zählen. Wenn Voltmann oft in ein und demfelben Märchen fic bald an Anderfen anlehnt, bald die Naivität des Volksmärchens vortäufcht, bald fid) wieder im Scherz über den Stoff zu erheben fucht, fo zeugt diefer unerfreulihe „Mifchtypus“ von wenig Selbftändigfeit und Stilgefühl. In feiner Sprache verrät faum ein Gab den Dich- ter, den mir dod) bei Anderfen auch in der Ueberfegung immer wieder deutlich fpüren. Volkmanns Sprache ift ohne Rhythmus und Seele, die Darftellung nicht frei von unglaublichen Plattheiten, feine Perfonen find Figuren, feine Geftalten mit Blut und Leben.

Auch die plattdeutfchen Kunſtmärchenbücher „De mwunnerbore Regenfchirm” von Ortlepp (Quidborn-Verlag) und Poeds ,Poggentónig un Diitvelsprin- zeffin” (Glogau) erheben fid) nicht über ihre Gattung. E3 zeigt fich auch in ber plattdeutfchen Literatur, dak einem Dichter wohl gelegentlich ein Märchen gelingt, wie Brinkmann fein hübſches Tiermarden „Voh un Sivinágel” und Fehrs die ftimmungsvolle Märchenffizze „De Spinnfru”, bab aber die Abficht, Märchen er- finden und Märchenbücher fchreiben zu wollen, beftenfalla „Leichte Mare” erzeugt.

Für die Märchen fremder Völker, über die wir uns fein abfchliekendes Urteil erlauben, vermweifen wir auf die fdon genannten „Märchen der Weltliteratur” (Diederich3). Bei ihrer Lektüre follte man fid) aber ftets bewußt bleiben, dak man Ueberfegungen Tieft. Dasfelbe gilt von „1001 Nacht”. Will man diefe in einer möglichft guten Uebertragung lefen, fo meide man die meift arg entftellten Ausgaben für die Jugend und halte fic) an die vollftändige Ausgabe von Felix Baul Grewe (Infelberlag); aus ihr ftellte Paul Ernft eine Auswahl der fchönften Märchen in vier Banden zufammen. Franz Heyden.

Geſamtausgaben der Grimmfhen Marden bet Heffe, Hendel, Reclam; die Heffefche mit einer fehr guten Einleitung von Heinrich Wolgaft. Neue teurere Ausaaben im Turmberlag (mit Bildern von Ubbelobde), Ynfelverlag und bet Georg Müller in München.

Wiffers Marden: 1. PVlattdeutfche Märchen (für Ermachfene); 2. Mat Grotmoder vertellt (3 Bändchen für Kinder). Eugen Diederichs, Jena.

(Nachſchrift des Heransgeberd: Nod) vor Weihnachten erfcheinen in der Hanfeatifchen Berlaasanftalt: „55 veraefjene Grimmfhe Märchen”. Sie find aus den wenig bekannten wiſſenſchaftlichen Anmerkungen der Grimms au ihren beiden Märchenbänden ausgelefen. Wenn fie auch nicht die zarte, liebevolle Hand Wilhelm Grimms auftveifen hier und da ſcheint es freilich doch der Fall ſo ſteckt doch in ihnen manch wertvoller Stoff, viel entzückender Humor und mande forahlich alückliche Faſſung. Der Band koſtet auf holz- freiem Papier in Bappband etwa 16 Mart.)

Neuere Bilderbücher.

DITA haben uns, um einen ungefähren Ueberblid über das zu befommen, was unfern Kleinen heutzutage an Bildern geboten wird, einen großen Stoß neuere Bilderbücher zufammengeholt. Das Auffallendfte ift: fie find alle ohne Ausnahme bunt. Nichts von den derben, die Phantafie anregenden Holz- ſchnitten der alten Zeit; nichts von den gemütvollen, zart ausgeführten Holzfchnitten der Richter, Spedter und Pocci; nichts von den Schattenfchnitten eines Fröhlich. Es muß heut alles recht deutlich, leicht eingánglid) und darum farbig fein. Wenn

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uns die ármer werdende Beit doc) wieder Künſtler brächte, die mit Stift und Schnitzmeſſer eine Welt aufs Papier zauberten, die nicht bloß fiebenmal gejiebten und ausgefodten Kunſtſchriftſtellern zugänglich ijt! Wenn die Künftler das könnten, dann jühen unfre Kinder die nötigen Farben [don von felbft hinein, und nod viel fehönere, alg fie mit Vierfarbendrud und Offfetverfahren bewerkitelligt werden fónnen.

Zweitens fällt auf: die Maler und Dichter Laffen fic) meift zu den Kindern herab, fie [pielen nur mit ihnen. Die Bilder find ihnen felbjt nicht Heiliger Ernft. Die Kiinjtler find nicht findhaft, fondern padagogijd). Sie tun mit dem Kinde bloß eine Weile fo, als ob... Wer nicht ganz ernjtlihd Sind fein fann, fol jich lieber alg Erwachfener geben. Ehrliches Lehren ift beffer als gemimtes Kinderfpiel.

Drittens fällt auf: wir find alle verflucht äfthetifch getvorden. Das hat feine guten Folgen: der Durchſchnitt der Bilderbücher von heute jteht turmbod über dem, was bor zwei bid drei Jahrzehnten gang und gäbe war. Aber es hat auch fchlechte Folgen: es läßt die Unbefangenbeit nicht auftommen. Die Dichter und Maler treten immer alg „Künftler” auf und wollen dafür gelten. Es fóiebt fic) damit eine anſpruchsvolle Künftlichkeit ziwifchen Kind und Meifter. Unmittelbare Einfalt ijt felten. Mir ift der alte Strummelpeter-Hoffmanı lieber alg all die Leute, die über das Kind hinweg auf uns bliden: wir fonnen etiva3!

Immerhin bleibt viel Lobensiwertes. Die ,Blumenmarden” und der „Fitze— buge”, der „Buntſcheck“ und die Freyholdihen Bücher haben doch aufrüttelnd ge- wirt. Wir wollen die Bücher in drei Gruppen einteilen.

Zunächſt die meifterhaften, vor denen die Kritik fchweigt. Ernft Kreidolfs Bilderbücher bleiben unvergänglid. Hier if findhafter Crnft, ernfthafte Kindlich- feit. Eins der fchönften Kreidolfihen Werke: Die Wiefenzwerge (Schaffitein in Köln. 25 ME) ift neu da, um zwei Schwarz-weiß-Zeichnungen vermehrt. Diefe Blátter find Vifionen von ftarffter Cindrudstraft für Alt und Jung. Sie werden einem bei jedem Durchfehn lieber. Go etivas gibt eS zum zweiten Male nicht in all unfrer Kunft. Man foll auch die ehrlichen Kreidolfſchen Texte nicht gering- imágen. K. Y. b. Freyhold ift bei weitem nicht fo elementar wie Kreidolf. Bei ihm geht einiges [don ins blog Geſchmackvolle. Aber feine Phantajie ift doch fo wunderhaft, ar und findlich, bab das Meifte die ernjthafte Probe befteht. Es find nod) zu haben die beiden Bände „Tiere” und „Sport und Spiel“. (Schaff- ftein, Köln. Je 32 ME). Ganz ausgezeichnet ift Drud und Papier diefer Bücher. Aud) der Erwachfene hat feine Freude an Freyhold. Etwas ganz andres, aber aud ein Gipfelwerk ift das Buch „Vom dicen fetten Pfannetuchen” des Litbeder Malers Linde-Walther (Molling & Co., Hannover. 16 Mk.). Der kurze Tert, den Linde-Walther zugrunde legt, ift prachtvoll, plattdeutfch auch da, wo er hochdeutſch fcheint. Aber erft die Bilder das ift meifterhafter Ausdrud niederdeutichen Geiftes. An Kunft ift das Werk nicht geringer als bejter Wilhelm Bufch, aber der Humor ift gütiger, ohne Menfchenfeindfchaft. Das Werk ift ganz ernithaft für Große gemacht, aber auch jedes Kind, insbefondere jedes niederdeutfche, wird es mit ftrablender Seele aufnehmen. Liegt bei Kreidolf der eigentliche Wert im Traum- haften, fo bei Linde-Walther in der überwältigenden Nealiftit. Mit diejer Realiftif bringt er es fertig, daß wir das Sich-Aufrichten des Pfannefudhens in der Pfanne für völlig felbftverftändfich anfehn. Qn die Meiftergruppe gehört ferner Hans bon Boltmanng „Strabangerhen” (Schaffitein, Köln. 42 ME). Die bon Volfmann felbft gefepmiedeten Verfe lafjen fich jebr wohl hören, fie tommen aus echter Kinderfreude. Die Bilder find nicht Herablaffend, der Künſtler hat feine volle Kraft eingefebt, fodak die Bilder aus Feld und Wald, Straße, Hof und Garten bon anfpruchsbollen Erivachfenen mit derfelben Achtung befehn werden fonnen, mit der die finder fie bejehn. Endlich muß hier das Bilderbuch aufgeführt werden, das Fofua Leander Gampp zu Verfen von Chriftian Morgenitern

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gezeichnet hat: ,Slein-Jumaen” (Bruno Cajfirer, Berlin. 35,— ME.) Gampps Art fennen unjere Lefer aus dem Meaiheft. Diefe Wafferfarbenzeichnungen, in der Wiedergabe vortrefflich geraten, find von entzüdender Zartheit, Lauterfeit, Kind- baftigteit. Bor ihnen wird aud) ein fiindengrauer Greis wieder zum Kinde.

Sn der zweiten Gruppe ftellen wir folche Bilderbücher gujammen, denen man jogleid) anmertt, daß fie abjichtlih für Kinder gemacht find, die fid aber doch durch Sunft und Gefchmad über den befferen Durchfchnitt erheben. Da fallen eine Reihe von „Nürnberger Bilderbüchern” aus dem Stallingfchen Verlag auf, die fid durch guten Offfet-Druc auszeichnen. Aber bei forgfaltiger Prüfung möchten wir zunächit nur zwei hervorheben. Nämlich: „Des Wiefenmännchens Brautfahrt” von Karl Großmann, mit Verjen von Will Vefper. (Stalling, Oldenburg. 20 MP). Man merkt bei Großmann eine gewiffe Einwirkung Kreidolfs. ES fehlt aber deffen Gemüt. Deshalb wirken feine Blätter mehr geſchmacklich als feeliih. Mit diefem Vorbehalt empfehlen wir das phantajtifde, ſchöne, auch farbig febr reizvolle Buch mit Vejper3 flotten, hübſch vorzulefenden Verjen. Zweitens „Das Buch vom lieben Weihnachtsmann” mit Bildern von Elfe Birkenſtock und Verjen von Will Vefper (Stalling, Oldenburg. 20 ME). Ein Buch bon nordijd-flarer Farben- pracht. Großmutter erzählt, wie der Weihnachtsmann all die ſchönen Sachen macht und bringt. Jm Bilde jehen wir das Erzählte. Die Blätter geben der Findlichen Phantafie einen Schwung ins Fröhliche und Helle. Wer ein Bilderbuch mit den alten, ewig jungen Kinderreimen unjres Volfes fucht, der greife zu Arpad Schmidhammers „Bade bate Suben” (Scholz, Mainz. 18 ME). Die Zeich- nungen des jüngjt verjtorbenen Stiinftler3, der vielen aus der „Jugend“ befannt ift, find nicht nur flott, einzelne (wie die ,Engelbedienung”) find fo gut, daß man verfucht ift, um ihretwillen das Buch mit in die erfte Gruppe zu ftellen. Nun zwei Bücher, denen man die Erziehung durch Kreidolf anmertt: Sophie Kath az rina Brauer Von fröhlichen Kindern” (Verfe von Blüthgen, Holft und Frieda Schanz. Voigtländer, Leipzig. 18 ME. Ausgabe in fleinem Format 3 ME.) er- innert außerdem an Karl Larffon. Es ift aber eine ordentliche Leiftung, die mit ihrer heiteren, Haren Stimmung Freude macht. Zum andern: Elfa Bestom, „Hänschen im Blaubeereniwald” (Verfe von Karten Brandt. Loewes Verlag Ferdi- nand Carl, Stuttgart. 18 ME. Volfsausgabe 9 ME). Ein, man möchte fagen: wohl erzogenes Buch. Hübſch gezeichnet, fein und zart in den Farben. Freilich ohne alles Elementare. Doch haben Kinder erprobtermaßen diefe frohen Bilder gern. Derber, zugreifender ift Stewart Orrs phantaftifches Bud „Zwei luftige Seeleute” mit Verfen bon Guftav Falke (Schaffitein, Köln. 42 ME). Das Bud) tft befonders für Jungens. Die Drude find ausgezeichnet. Die flotte, trefffichere Art Orrs ift recht anziehend. (Nur follte er nicht auf jedes Blatt feinen Namen groß binjegen.) Nun abermals alte Kinderreime: „Schweinen Schlachten, Würftchen machen, quief, quief, quiet!” Bilder von Elfe Wenz-VBietor. (Stalling, Oldenburg. 20 9). Das Buch fann noch jüngeren Kindern gefchenft werden als das Schmidthammterfche, es ift zudem fultivierter, gefcehmadlicher. Sehr zart und vornehm in Darjtellung und Farbe ift Angela Sträter: „Wie die Englein über den Wolfen leben”, Verfe von Elifabeth Morgenstern. (J. Y. Schreiber, Eß— lingen, 14 Mt.). ES mögen zwei Weihnachtsmanngefchichten folgen: Elfriede Musmann, „Auf des Weihnachtsmanns Spuren im Walde”. Die fchlichte Berserzählung, wie der Weihnahtsmann durch den verfchneiten Wald geht und wie aus feinem Sad allerlei fiir die Tiere herausfallt, ijt von Paul Käftner (Quelle und Meyer, Leipzig) Es find heitere, reizvolle Schnee- und Tierbilder. Zum andern: Ernft Kuper und Adolf Holft, „Der Weihnachtsſtern“. (Alfred Hahn, Leipzig. 22 ME). Eine Versgefchichte, die zum Waffermann und zu den Wichteln, in den Himmel und in den verfchneiten Wald führt. Hübfche Bilder um- rahmen den Tert. Endlich ein höchft merfwiirdiges Buch, das fon mehr Spiel- zeug als Buch ift: ,Miirnberger Puppenftubenfpielbuch” von Elfe WenzPietor

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(Stalling, Oldenburg. 70 Mk.). ES ijt ein Bilderbuch, das alle Innenráume eines Haujes und den Garten auf didem Karton zeigt. Die Farben find von prádtiger Klarheit, eine Augenfreude, es ift Saft und Kraft darin. Nun aber: die Türen fann man aufmachen. Hier und da entdedt man Rigen im Bild. Dahinein fann man Figuren ufw. fteden, die in einer Mappe beigegeben find. Das ift ficherlich ein Mordsvergnügen für Kinder. Aber die fluge Mama wird diefes Puppen- ftubenbud) nur folden Rindern anvertrauen, die gefdictte Finger Haben, troß der ftarfen Pappe. Etwas für bettlägerige Kinder!

Zum Schluß als dritte Gruppe eine Anzahl Bücher mit Marden und Erzäh- lungen, bet denen Text und Bild fid) die Wage halten. Sie kommen alfo fon mehr für Schulkinder in Betrabht. Das Marden von „Wolf und den fieben Geif- lcin” Hat Prof. Linde-Walther gemalt. (Molling u. Co., Hannover. 16 Mf.). Gute, kräftige Bilder, wenn aud) nicht bon jener auferordentliden Schlagfraft wie die Pfannefuchen-Bilder. Sieben der befannteften Märchen hat Gertrud Caspari vereinigt: „Mein Mardenbuch” (Alfred Hahn, Leipzig. 18 91). Ihre Bilder dazu find kräftig und findertiimlich. Die Märchenbilderbücher, die bei Scholz in Mainz erjchienen find, fennt jeder. Wir führen fie nicht erft befonders auf. Bortrefflihe Bilder zum „Rattenfänger von Hameln” hat uns Eugen Oßwald befdert (Molling u. Co., Hannover. 16 Mt.) Die Verserzählung dazu von Albert Sergel left fic) jehr gut. Eine freie Erzählung ,Sonntagstind”, Tert und Bilder von M. b. Mind wig (Loewes Verlag Ferdinand Carl, Stuttgart. 24 ME.) ber- dient mit genannt zu werden. Jn den Bildern zeigt fic) befonders Kreidolfs Einfluß. G8 ift viel Liebenswürdiges, Neines in dem Buch. (Es will Freude an Blüten und Tieren weden. Für die, welde Bilder zur biblifchen Geſchichte juchen, fet genannt: Hans Schroedter, Unfer Heiland. 16 farbige Vollbilder und 12 Tertzeihnungen. (Schoß, Mainz. 18 ME. oder in zwei Einzelbänden zu je 9,50 Mart. Der erfte Teil enthält Jeſu Jugend, Gleichniffe u. a., der ziveite bejonders die Paffion.) Hans Schroedter kennen unfre Lefer aus dem Junibeft diefes Yahr- gangs.

Es mag fein, dak wir mandes Gute nicht erreicht haben, Volljtändigkeit ijt bei der Fülle der Erfcheinungen faum möglich. Aber wir haben aus einem hohen Berg Bücher das Befte herausgefucht und viel Durhfchnittliches und Unzulängliches bei Seite gelegt. St.

Suthers MWeihnachts- und Marienlieder

Ein deutſch Hymnus oder Lobgejang. elobet feift du, Jeſu Chrift, Das ewig Licht gehet da Herein,

Dak du Menſch geboren bift Bon einer Jungfrau, das ift wahr. Des freuet fich der Engel Schar. Kyrioleis.

Des ewigen Vaters einig Kind Itz man in der Krippen find’. In unfer armes Fleifd und Blut Verkleidet fid) das ewig Gut.

Kyrioleis.

Den aller Welt Kreis nie bejchloß, Der liegt in Marien Schoß.

Er ift ein Sindlein worden fein, Der alle Ding erhält allein. Kyrioleis.

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Gibt der Welt ein neuen Schein.

Es leucht’ wohl mitten in der Nacht

Und uns des Lichtes Kinder Macht. Kyrioleis.

Der Sohn des Vaters, Gott von Art,

Ein Gaft in der Welt ward

Und führt ung aus dem Jammertal,

Er mabt uns Erben in feim Saal. Kyrioleis.

Er ift auf Erden fommen arm,

Daß er unfer fid) erbarm

Und in dem Himmel madet reich

Und feinen lieben Engeln gleich. Kyrioleis.

Das hat er alles uns getan, Sein groß Lieb zu zeigen an. Des freu fich all Chriftenheit Und dank ihm des in Ewigfeit.

Kyrioleis.

Der Hymnus A folis ortus.

Sen wir follen loben fchon, Der reinen Magd Marien Sohn. So weit die liebe Sonne leucht’

Und an aller Welt Ende reicht.

Der felig Schepfer aller Ding 309 an eins Snechtes Leib gering, Dah er das Fleifch durch Fleifch erivorb Und fein Gejchepf nicht als‘) verdorb.

Die göttlich Gnad von Himmel groß Sid) in die feufhe Mutter gof.

Ein Meblin* trug ein heimlich Pfand, Das der Natur war unbetannt.’)

Das züchtig Haus des Herzen zart Gar bald ein Tempel Gotti3 ward. Die fein Mann rühret‘) nod) erfannt’, Von Gott3 Wort fie man ſchwanger fand.

Die edle Mutter hat geborn, Den Gabriel verhieß zuvorn, Den Sankt Johanns mit Springen zeigt, Da er noch lag in Mutter Leib.

Er lag im Heu mit Armut groß. Die Krippen hart ihn nicht verdroß. Es ward ein fleine Milch fein Speis, Der nie fein Voglin hungern ließ.

Des Himmels Chor’ ſich freuen drob Und die Engel fingen Gott Lob.

Dew armen Hirten wird bermeld’ Der Hirt und Schepfer aller Welt.

Lob, Ehr und Dank fei dir gejagt, Ehrift, geborn von reiner Magd,

Mit Vater und dem heiligen Geift Von nu an bis in Ewigfeit.

*) ganz. *) Mägdlein. *) Das nicht von natürlicher, menſchlicher Art war. 9 berühtte. Ein ander Chriftlied.

on Himmel fam der Engel Schar, Erſchein den Hirten offenbar. Sie fagten ihn’: Ein Kindlein zart, Das liegt dort in der Krippen hart, ` Zu Bethlehem in Davids Stadt, Wie Micha das verfiindet Dat. Es ift der Herve Jefu Chrift, Der euer aller Heiland ift.

Des follt ihr billig Fröhlich fein, Dak Gott mit euch ift worden ein. Er ift geborn euer Fleifh und Blut, Eur Bruder ift das ewig Gut.

Was fann euch tun die Sünd und Tod! Ihr habt mit euch den wahren Gott. Laft zürnen Teufel und die Hell! Gotta Sohn ift worden eur Gefell.

Er will und fann euch laffen nicht, Sept ihr auf ihn eur Buverfidt.

Es mögen euch viel fechten an Dem fei Trop, der’s nicht laffen kann!

Zulegt müßt ihr doch haben recht. Shr feid nu worden Gotta Gefchledht. Des danfet Gott in Ewigkeit Gedüldig, fröhlich allezeit. Amen.

Der Hymnus Hojtis Herodes,

TRE fürchſt du, Feind Herodes, fehr, Dak uns geborn fommt Chrijt der HERR? Er fucht fein fterblid Königreich, Der zu uns bringt fein Simmelreid. Dem Stern die Weifen folgen nad). Sold) Licht zum rechten Licht fie bracht”. Sie zeigen mit den Gaben drei: Dies Kind Gott, Menfch und König fei.

Die Tauf im Jordan an ſich nahm Das Himmelifche Gotteslamm, Dadurch, der nie fein Siinde tat, Bon Sünden uns getwafden Dat.

Ein Wunderwert da neu gejchadh: Sechs fteinern Krüge man da fach Bol Waffers, das verlor fein Art: Roter Wein durch fein Wort draus ward.

Lob, Ehr und Dank fei dir gejagt, Chrift, geborn von der reinen Magd, Mit Vater und dem heiligen Geift

Von nu an bis in Ewigfeit.

Anten. 401

Ein Lied von der Heiligen Chrijtlidien Kirchen, aus dem 12. Capitel Apocalyptis.

Sr ift mir lieb, die werde Magd, Und fann ihr nicht vergefíen. Lob, Ehr und Zucht man von ihr jagt, Sie hat mein Herz befeffen. Sch bin ihr hold, Und wenn id) follt Groß Unglüd han, Da liegt nicht an, Sie will mid des ergegen Mit ihrer Liebe und Treu an mir, Die fie zu mir will fegen Und tun all mein Begier.‘)

Sie trägt von Gold fo rein ein Kron, Da leuchten in zwelf Sterne. Shr Kleid ift wie die Sonne fchon, Das glänzet bell und ferne. Und auf dem Mon?) Thr Füße ftohn.

*) Begehr.

Sie it die Braut,

Dem Herrn vertraut.

Ihr ijt weh und muß gebären Ein jchönes Kind, den edlen Sohn Und aller Welt ein Herren,

Dem fie ift unterton.

Das tut dem alten Traden Zorn Und will das Kind verjchlingen. Sein Toben if doch ganz verlorn. Es fann ihm nicht gelingen.

Das Kind ift dod

Gen Himmel hod

Genommen bin

Und läffet ihn

Auf Erden fait?) fehr*) müten. Die Mutter muß gar fein allein, Doch will fie Gott behüten

Und der recht Bater fein.

2) Mond. *) febr. *) falimm, übel.

Ein Kinderlicd auf die Weihenadt Chrijti.

Der Engel: om Himmel hoch, da fomm’ ich her, Yeh bring euch der guten neuen Mar, Der guten Mär bring ich foviel, Davon ich fingen und faqen will.

Eud ijt ein Kindlein heut geporn,

Von einer Jungfrau ausertorn, Ein Kindelein fo zart und fein, Das foll euer Freud und Wonne fein.

ES ift der Herr Chrift, unfer Gott. Der will euch führen aus aller Not.

Er will euer Heiland felber fein, Von allen Sünden maden rein,

Er bringt euch alle Seligfeit, Die Gott der Vater hat bereit’,

Dak ihr mit uns im Himmelreich Sollt leben nu und ewiglid).

Go merfet nu das Zeichen recht: Die Krippen, Windelein fo fchlecht.') Do findet ihr das Kind gelegt,

Das alle Welt erhält und trägt. Die Kinder:

Des laßt uns alle fröhlich fein

Und mit den Hirten gehn hinein, Bu fehn, was Gott uns hat befchert, Mit feinem lieben Sohn verebrt.”) Das tleinfte Kind: Mert auf, mein Herz, und fiehe dort bin. Was liegt dod in dem Krippelein?

402

Wes ijt das [done Kindelein? Es ift das liebe Jefulein! Das zweite Kind:

Bis?) willefomm, du edler Gaft!

Den Sünder nicht verjchmähet haft

Und kommſt ins Elend her zu mir

Wie fol ich immer danfen dir? Das dritte Kind:

Ad Herr, du Schöpfer aller Ding, Wie bift du worden fo gering,

Dag du da liegft auf dürrem Gras, Davon ein Rind und Cfel af! Das vierte Kind:

Und war die Welt vielmal fo weit,

Von Edeljtein und Gold bereit, So war fie doch dir viel zu Wein, Zu fein ein enges Wiegelein.

Das fünfte Kind:

Der Sammet und die Seiden dein, Das it grob Heu und Windelein, Darauf du König fo grok und reich Herprangjt, alg war's dein Himmelreid.

Dasältefte Kind:

Das hat alfo gefallen dir, Die Wahrheit anzuzeigen mir,

Wie aller Welt Macht, Ehr und Gut Für dir nichts gilt, nichts Hilft noch tut. Alle ſechs Kinder:

Ad mein herzliebes Sefulein,

Mad dir ein rein fanft Bettelein,

Zu rugen*) in meins Herzen Schrein, Alle Anwefenden:

Daf id nimmer vergejje dein. Lob, Ehr fet Gott im höchften Thron, Savon ich allzeit fröhlich ei, Der uns fchentt feinen einigen Sohn.

Ju fpringen, fingen immer fret Des freuen fich der Engel Schar

Das rechte Sufaninne‘) [don Und fingen uns fold) neues Jahr.

Mit Herzenluft, den fiigen Ton.

2) feblicht, einfach. *) gejchenft. °) Sei. *) ruben. °) Wiegenliedchen, nad) dem Kehr— reim Sufant.

SLeine Beiträge

Zum BVerftändnis des Lutherfchen Kinderliedes auf die Weihenadt. Sis Gedicht ,Vom Himmel hoch“ gilt in der Regel alg cin Gemeindelicd und wird als foldes gefungen. Es ut aber in Wirklichkeit fein Lied, fondern ein Spiel. Es if aber auch nicht, wie man vielfach meint, ein Wechfelgefang zwijchen dem Engel und der Semeinde, fondern die einzelnen Verfe find fo individuell im Ausdrud, daß fie nur bon einzelnen gefungen fein können. Ich vermute geradezu, daß Luther fie einzelnen Stin- dern „auf den Leib geichrieben” hat, Kindern, die in der Familie verkehrten.

Die „Szene“ ift diefe: Jn der Stube ift eine Krippe aufgebaut. (Zu Luthers Zeiten tar der Weihnachtsbaum nod nicht Braud.) Berjammelt find die Kinder und hinter ihnen die Erwachfenen. Von der Krippe her wendet fich (mit einem Licht in der Hand) der Engel zu den Verfammelten und fingt die exften fünf Strophen.

Dem modernen Chr will darin der „falſche“ Reim „Himmelreich ewiglich“ nicht eingehen. Aber die Affonanz Himmelreid und etviglich ftatt eines Neimes ift wundervoll. Sest man „Rich“ oder fest man an den Schluß den gewichtigen Klang „eich“, fo ift der Ybtlang „nu und ewiglich” zerftört, der das Ende des Gedantenganges der erjten vier Strophen markiert und nad) dem ein nenes Anheben nötig wird: „So mertet nu —“.

ie Kinder antworten im Chor mit der fecdften Strophe. Und nun treten fie im Kreis zur Strippe herzu, die Alten (Hirten) hinter ihnen. Das Allerkleinfte jagt oder fingt guerjt fein Sprüdlein: Merk’ auf, mein Herz, und fieh dort hin!

Was liegt dod) in dem Krippelein? Wes tft das ſchöne Kindelein? Es ift das liebe Yefulein! ;

Das ift ganz tindhaftes Geplauder: Kripplein, Kindelein, Jefulein! Die Reim- ordnung (bin Srippelcin! Luther hatte auch Srippelin jagen können, tut'ë aber nicht) wird einfach über den Haufen geworfen. Hansdhen plappert, wie ihm der Schnabel gewacdjen ift. (Es weiß auch nod) nichts weiter bon der „Sache“, als daß das Kind da eben das „liebe Syefulein” ift. Das zweite Kind, das ſchon in die Schule geht, weiß, daß Jefulein aus dem Himmel zu den „Sündern” gefommen ift:

Bis tilletomm, du edler Gaft!

Den Sünder nicht verfehmähet haft!

Und fommit ins Elend (b. i. Fremde) her zu mir

Wie foll id) immer danken dir? —*

Das herzliche, volksmäßige „Bis willekomm“ ſollte nicht, wie in manchen Geſang— büchern, „moderniſiert“ werden in „Sei mir willkommen, edler Gajt”. Man braucht nur beides nacheinander zu ſprechen, um das Kindhafte des Luthertextes zu fühlen. Wie ſüß flingt bier der ſinnſchwere Reim „mir“ und „dir“, das „dir“ gehoben durch das ftab- reimende und helltlinaende „danken dir”! Das dritte Kind weiß [don wieder etivas mehr: daß es der Weltfchöpfer felbft ift, ber da in der Krippe liegt. Damit ift die tiefe Weihnadtsmy ftif gegeben, bei der dann auch die nächſten Verfe verweilen.

Ad, Herr, du Schöpfer aller Ding! Mie bift du worden fo gering, Dak du da lieajt auf ditrrem Gras, Davon ein Rind und Gel af!

Wie tounderlicblich naiv die legte Zeile! Welch eine Kenntnis der Sinderfecle hatte der Dichter fold) eines entziidenden Verfes! Das Bedauern, das fic) in das andadtige Staunen mijcht! Und wie felbjtverftändlich, dak das Kind Ods und Efel fogleid) in feine Zeilnahme einbezieht die Tiere intereffieren es natürlich befonders! ES folgt nun ein Vers von ſchwärmeriſcher Innigteit, mit dem Stabreim „wär“ „welt“ „weit“:

Und war die Welt vielmal fo weit,

Von Ebelftein und Gold bereit’,

Go war fie doch dir viel zu Klein,

Bu fein ein enges Wiegelein. ne

Man ftelle verfuhsweife die dritte Zeile um in „So wär fie dir doch diel zu tlein”, dann ware der Rhythmus mit der Betonung des „dir” fauber und „glatt“, aber die Seele wäre verſchwunden. Es ijt gerade das Meifterhafte, dak die beiden Tonwörter „dir“ und „viel“ unmittelbar (ohne eine Senkung dazwijchen) zufammenftoßen. Der Ton verbreitet lich gleichfam über beide Silben (ein SKunftgriff, den Luther befonders ſchön in dem Liede „Nu bitten wir” anivendet), das doppelte t wird klanglich wirffam, und das b in den beiten Silben „doch dir” hat einen eigentümlichen Reiz. Das fünfte Kind verweilt bei dem angefchlagenen Gedanken von der Größe im Unfcheinbaren, von dem Gott im Kinde:

Der Sammet und die Seide dein,

Das ift grob Heu und Windelein,

Darauf du König fo groß und reid

. Herprangft, als war's dein Simmelreid.

_ Hier wieder die Tonverteilung auf zwei Silben: „Herprangit“ wie arofartia das Flingt! Die beiden Hauptvorftellungen „herprangen“ und „Himmelreich“ find durch Stab- rerm berbunden (mie in der erften Zeile ,Gammet” und ,Seide”). Man beadte, daß in den beiden legten Strophen durchgehends breit flingende, weiche Reime mit dem Doppel- faut ei verwendet find. Das fedfte Sind endlich ijt offenbar das áltefte. (ES wird abjtraft, e8 zieht die Moral aus der Gefdidte, aud ift der Klang der Verſe eigentitm- lid) ftelzig und nüchtern verftändig:

Das bat alfo gefallen bir,

Die Wahrheit anzuzeigen mir,

Wie aller Welt Macht, Ehr’ und Gut

Für bir nicht gilt, nichts hilft, noch tut.

Die beiden folgenden Verfe find dagegen wieder ganz herzinnig. Man kann zweifeln, ob fie auch noch bon einzelnen Kindern aefungen wurden oder wieder von allen zufammen. Daz „ich“ dürfte nicht ausfchlannebend fein, es kann folleftive Bedeutung haben. Da die Nltersreihe bon der Strophe „Merk' auf” bis „Das hat alfo“ wundervoll aefchloffen ift, neige ich dazu, dak die beiden nun folgenden Strophen, die ſachlich und Hanglih ein Ge- bilde und ſchwer voneinander zu trennen find, den gemeinfamen Schlußgejang der Kinder bilden: Ach, mein berzliebes Sefulein,

Mad dir ein rein, fanft Bettelein,

Bu rugen (ruben) in meins Herzen Schrein, Dak ich nimmer beracife dein!

Davon ich allzeit fröhlich fet,

Au fingen, Springen immer frei

Das rechte Sufaninne fon,

Mit SerzenInft den fühen Ton!

Ym Reim erft das weiche „ein” viermal, dann das helle, Elingende „ei” und endlich dunkel und ſüß abflingend das lange o. Genial ift die Umkehrung des Rhythmus in „daß id nimmer vergeffe dein!” Der Hauptton lieat auf „nimmer“. Der Vers befommt ba= durch etwas Ueberſchwängliches. Herrlih auch das dreifahe i in „fingen, fpringen, immer“, jedesmal mit einem folgenden Nafallaut. Sufaninne bedeutet Wiegenlted, Schlaf- lied (das Sufani-Lied!). Es wird als Kehrreim in Wiegenliedern haufia getvefen fein. (Es ijt ein Berftoß gegen die Kindlichkeit diefer Dichtung, wenn in Kirchengeſangbüchern ftatt Sufaninne „Wiegenliedchen“ gefegt wird. „Schon“ it „ſchön“. Der Umlaut ijt zu Luthers Beit, wie aus mandem hervoraeht, nob nicht felt qewefen. (Die Behauptung. dak die teilmeife Nichtbezeichnuna des Umlauts in den Schriften jener Zeit lediglich auf der Orthographie beruhe, halte ich für irrig.)

Und nun ſetzt jubelnd der Schlußgeſang aller Verſammelten ein, des Engels. der Kinder, der Alten (Hirten). Klang und Rhythmus verlieren mit einmal die kindliche Färbung und werden Homnifd. Die klangliche Form der Schlußſtrophe gleicht dem Lutherſchen Lobgeſang „Herr Gott, dich loben wir“. (Welcher nicht bloß eine „Ueber— ſetzung“ des Tedeums üt, ſondern eins der genialſten Klanggebilde deutſcher Sprache.) Die crite Zeile beginnt ſchwebend: Lob, Ehr —. Tin der zweiten Zeile betone man wuchtig die Wörter der, fchenkt, einigen, Sohn. ubelnd bie beiden hellen, frendigen Schluß— reime: Schar und abr.

Während fonft die Lieder Luthers meift ein inmiges, betendes Abflingen haben ee ift ein befonderer Meifter der Schlußkadenz —, endigt hier die Szene mit einem Fortiffimo.

Und fold ein über alle Maken köftliches Werkfein, in dem Edelftein an Edelftein ge- reiht ift, tonnte das deutiche Volt nicht berjtehen oder mißperftehen! Viele Anthologien, die doch die fentimental nachempfundene Lorelei nicht entbehren mochten, haben dieje Verfe nist! (Die „Ernte“ von Will Vesper macht eine rühmliche Nusnahme,) Die Heine Dichtung ift zum ,,Gefanqbudlied” gervorden. Freilich, die deutfche evangeliſche Kirchen— tonferenz in Eifenah nahm 1853 das Lied nicht mit unter die 150 SKernlieder ihres „Deutfhen Evangelifhen Kirchen-Geſangbuches“ auf. Vielleicht empfand man dort die befondere Art diefer Verfe? Leider kürzen oder ,,verbeffern” die Kirchengefangbücder

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mande Berje. Statt „Was liegt doc) in dem Krippelein?” wird um des „ordenlichen” Reims willen im fächfifchen Gefangbud gedichtet: „Was Liegt dod in der Krippen drin?“ Drin! Auf den Vers mit dem anfdetnend anjtögigen Sujaninne hat man lieber ganz verzichtet. Wie fonnte ein Theologieprofeffor und Reformator fo närriſch fein, die „Altersmundart” zu verwenden fo etwas zu fingen fann man dod) feinem bärtigen, brummbajfigen Kirchenvorftandsmitglied zumuten!

Zuerjt veröffentlicht ijt das Spiel in der Sammlung ,,Geijtlide Lieder“, die 1528 oder 1529 erjdjienen fein foll. Es ijt noch heute frifh wie am erften Tag. Möchte es wieder in vielen Haujern nicht nur gefungen, fondern aud) aufgeführt werden! St.

Meijter Frandes Altarbilder.

as Licht fceinet in der Finfternis”: das ijt das Wunder der heiligen Nat. Die * weite Erde liegt dunkel erſtarrt in Kälte, im Eiſe klirrt der Strom. Da geht durch endloſe Erdennächte das himmliſch Licht und findet ſein Kämmerlein. Die Liebe glüht auf als ein Baum mit flammenden Kerzen im engen Haus und alle Welt erwärmt ſich an dem Licht und leuchtet in ihm wieder: die ſchweigenden Fichten fern auf verſchneitem Bergrüden und die einfame Eiche tief im finjtern Forft. Wie die hölzernen Tierlein der Arde Noah Iujtig jtehen im freudigen Glanz der Weihnadtstanne, umfaßt die Liebe alle Kreatur: die Rehe im ſchweigenden Winterwald und Ochs und Efelein im dunfelen Stall.

Weit und verloren im nädtlihen AM von Zeit und Raum ijt das Liebeslicht der Seele. Borüber wandern dunkel Gahrhunderte in Kampf und Arbeit, in Freude und Leid. Voriiber ziehn unter dem Raum des Himmels die Ebenen der Erde, die weiten Ebenen des deutihen Landes, in denen Eichen raufhen um einfame Bauernhaufer, und Wogen jchlagen an bange Denfchenbergungen am Strande des Nordmecres. Aber in- mitten liegt eine Stadt. Aus der Ebene der Erde und den Haufern der Irdiſchen hebt ein Dom die Sehnfudt der Menfchenkinder empor in den Gotteshimmel. Mitten in fteinernen Dammerungen, in Duntelheiten um Pfeiler und Säulen gliiht das Myfterium des Altars: „Das Licht ſcheint in der Finjternis.” Es funtelt und leuchtet aus Verborgenbeiten: alles Leben ift eingehegt in diefes Wunder der Liebe, ge ade allan in ihr Herz Nun ftrahlt fie es wieder aus in rätfelhafter Wandlung und Neufhöpfung, als Zeichen, als Bilder, die die Welt mit allem, was darinnen ijt, nod einmal wiederleben, gedichtet, in ein Symbol alles verſchlungen, in göttlicher Liebe leuchtend aus Duntelheiten, wie das himmliſch Licht, das von der Tanne und den Gaben der Weihnachtsfeier ausgeht.

So find die alten Bilder, die golden funfelnden, mit dem Rot der Liebe und der Bie ten des herzlich geliebten Lebens. Ach, dak fie in tablen Kunjtfalen hängen miiffen! Wie fpraden fie vertraulih und erzählten ihre frommen Gefdidten herzlich mitten im weibevollen Raum, daß die Bauern beinah ihre Grobheit vergaßen und die Bürger ihren Stolz ablegten und fühlten das göttlihe Wunder. Die Bilder leben weiter über Raum und Beit ihr eheimnisvoll tief aufleuchtendes Leben, in dem das Weihnadtswunder vom Licht in der per glüht. Verloren taudt aus den Jahrhunderten der Name ihres Schöpfers auf, ein Name, der nichts jagt, Name eines Mtenfchen, von deffen Schidfalen wir nidts ak La ein Meifter aus dem Hamburg der erſten Hälfte des fünf— zehnten Jahrhunderts. Sein Vergängliches ift vergeffen, aber die Offenbarung des himmliſchen Lichtes, deſſen Werkzeug ſeine treuen Hände waren, leuchtet fort und die Spuren feines Wirkens find allenthalben auf niederdeutfher Erde.

Die Altarbilder, die unter dem Namen Meijter Frandes befannt find, die uns, wie o mandes andere tiefite Kunftgut, Lichtwark wieder erjdloffen hat, vereinen ihr myſtiſch unfelndes Geheimnis mit einer Erdgebundenheit und Störperhaftigkeit, die Zeichen nieder- deutfcher Art find. Sie verflüchtigen fic) nicht in reine Form und jteinern Hd) nicht zu eindeutigem Pathos in Linie und Farbe, jondern geben jedem Cingelding fein Recht, haben die Sinnenfreudigteit, die aus einem Ding mehr als eben ein Ding mad: Bie ihm Eigenleben gibt und Stüd für Stüd aus der Liebe, die fie den fogenannten „toten“ Dingen wie der Kreatur und den Menſchen angedeihen läßt, ein neues Ganges baut, das bon einem Alleben erfüllt wird.

Wer die Torheiten über das „asfetifhe”, meltabgewandte Mittelalter nachſchwatzt, der erlebe diefe tiefe farbige Lebensfrendigteit. Nur eins: dies Leben ijt fromm und feine ftarte Freudigkeit mündet in der Gottfeligteit, anftatt fic) nach der beliebten Lehre von der Berechtigung, fic) „auszuleben“, in die ödefte freudlofe Verncinung des Nichts zu berirren. (Es fet nicht verhehlt: eine Vorahnung einer anderen Zeit ift fdon in manchem der Bilder, hie und da tritt zu der reinen Künderfreude der Hang, malerifches Können und Komponieren zu zeigen, das Beftreben, aus der Bildflähe die Gllujion des Rämlichen zu wecken und formale Schönheiten zu bieten.

Ganz Hingabe und reine Herzlichkeit iſt das Bild mit dem Wunder der heiligen Nacht. Marie, die reine Magd, die in ihrer blonden Unberührtheit in weißem Unſchuldskleid kniet, die Hände hebt und ſie ganz zart anbetend zueinanderlegt. Ihr Herz liegt offen wie das freudig flatternde Spruchband ihres Gebetes. Das Chriſtkindlein iſt nicht an der Erde, iſt nicht im Himmel, ſein Raum iſt allenthalben, aber die funkelnden Strahlen der

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Liebe gehen aus von ihm und beglüden unten die dunkle Erde und fommen bon droben, meltdurhiwandernd, bon Gottvaters Güte, und eilen durch alle Welt. Goldene Sterne funteln auf dem Grunde roter Liebe. Aber Ochs und Ejel, Stein, Berg und Wald dürfen teilhaftig werden der Seligteit, und zu dem Herden und Hirten ſchwingt fid) jaudgend der Engel mit der Botjchaft des Heiles.

Erd» und ftoffgebundener ijt Schon die Anbetung der heiligen drei Könige. Haus und Hergang jtehen als eine Art Szene bor dem rotgoldenen Himmel. Aber hier leben dafür die Dinge befonders herzlich mit. Der Giebel des niederfächliichen Bauernhaufes, das Kijfen, das goldene Käſtchen, das der eine König dem Heilandstinde Iniend beut. Das Kindlein greift zu, hat irdifhe Freude an dem gleißenden Gefchent. Gn dem Bild ijt ein befonders Stöftliches der leife, feine Humor, der das Gefchehen des Gottliden nicht entfleidet, aber e8 uns liebensmürdig nahe bringt. Das haben die großen deutjchen Meifter alle, vom Dichter des Nibelungenliedes bis zu Goethe, Wilhelm Raabe und Gottfried Seller, diefen herzlichen Humor. Die Mutter Marie ift hier nicht das Mägpdelein, fie ijt die pool die thre Würde kennt und fic) Haltung gibt, wenn Könige Hd vor ihr und ihrem Rinde neigen, aber eine Madonna wird fie drum body nicht. Und der gute Joſeph bezeigt auch fein Recht an dem Sind, wenn aud) nur babnrd, dak er ein Füßlein ürjorglich fejthält. Die Einzelheiten aber ſchwingen mit im großen Rhythmus: aa te der Sternenhimmel der Ewigfeit auf dem Chriftgeburtbild hinab in das Erdenduntel, fo iteht er bier wieder untandelbar über dem Fliegen der Bewegung auf Erden. Der Strom der Linien teilt fic): die Linien der eftalten, der Gewänder beugen fic) dem Menſch gewordenen ewigen Licht und wieder fie heben fid) anbetend empor gegen den funtelnden Liebesjtern der Ewigkeit.

Weihnachtliche Mardhen- und Legendenfreudigkeit erzählt das Bild, wie Gott an dem heiligen Thomas, von deffen Altar die drei erwähnten Bilder ftammen, fein Wunder tut. Pradtig die drei ritterliden Geftalten gu Rok, zumal Thomas auf weißem Weihnachts» pferd mit goldenem —— Go ſehen die Kinder am Niederrhein im Geijt ihren St. Martin, der in grauen Novemberabenden, wenn die erfte Vorweihnachtsſehnſucht aufdänmert, durd das dunkle Nebelland reitet. Und die Tölpel, die den Heiligen an- fallen, find derbe niederdeutihe Bauernlümmel, man go den Pinjel, der die groben Geſichter edig und faftig hinjegt, aus dem Blut wird fpäter ein Breughel und Teniers.

Dann aber die reine, REN: Schönheit der Crates am Fuß des Kreuzes. Wie weit war die Spannfraft der Stünftlerfeele, die die Bilder des Thomasaltares ſchuf und drefe tönende Melodie erdadte! Dunkel ift hier der Bildraum er ift fdon Raum, ' nicht mehr Fläche wie auf den vorigen Bildern. Auf der Dunkelheit, die wie ein dumpfer

Klang lange aushalt als Grundaccord, das Gold der Heiligenfcheine und die gore der Gefidter, Hacre und Gemänder. Alles gehalten, wie fordinierte Geigentöne, das Blau des Kleides Maria, das Rot der Frau neben ihr, das Blond der Haare, die lang her- riederrollen wie Tränen. Die Sprade der Gefichter und vor allem der wunderfamen Hände! Dak Hände weinen können, dak Hände eine zarte Klage find, die jchmalen, [lante Singer, ihre weiden Beugungen und holden Figuren, erleben wir bier. Wie ie fih alfe einen und derfdlingen auf dem Herzen Maria, der Schwergeprüften. Eine ftumme Sprade und doch fo rührend wie holdejtes Getön ergreifenditer Melodien. Alle Falten der Gewänder tlingen mit und die Blumen und Grajer der Erde.

Das Bild ift Schönheit, leife leuchtende Schönheit der Trauer; nicht das Pathos, die Myſtik Grünewaldſchen Schmerzes, fondern wehe, leidvoll ſüße Feier der Klage. I

Menſchlich göttliches Symbol, funtelndes Licht ber Seele aus Dunkelheit, ein Weih- nachtswunder, find uns die Bilder. Sie wollen nicht Form, fie geben nicht kühl und fider den Augeneindrud der Erſcheinungen der Dinge wieder: fie lieben alle Dinge und fpiegeln die? Wunder der Liebe, indem fie getreulich fdaffen, wie die Seele in fid die Dinge und Wefen diefer Welt befdloffen und gehegt hat. 4 : ;

Damit find fie ftille Mahner und ernfte Zeugen: Nur aus Harem, reinem Kriſtall ſcheint die edle Farbe koͤſtlichen Weins: nur ein herzensreiner, gütiger Menſch ijt berufen, Irdiſches zu verklären in das göttliche Symbol der Kunſt, die geläutertes, gejteigertes Leben ift. 2 h A

Die mittelalterliche Sunjt fann, was fie will. Sie fann es, weil das mittelalterliche Leben die Geſchloſſenheit hat, fid) im großen Rhythmus, des Allebens zu fühlen. Zwijchen Lebenskraft, Lebensfreude und Selbſtherrlichkeit flafft eine große Stluft. Vor der legteren ift das Mittelalter bewahrt durd die innere Gewißheit, als Gemeinjamfeit in Gott zu leben. Daher ijt es durch die göttliche Gnade des Wunders der Kunjt gewürdigt, die ent- äußerte Offenbarung ijt, die rein und lauter nur unmittelbar erlebt wird. Wir find diejer göttlichen Gnade verlujtig gegangen, weil wir von uns felbft wußten und pon Gott wiflen wollten. Wir find in unferer Selbjtheit befangen. Aber wir ringen aus ihr heraus: mir fühlen die Kerfermauern, in die das Schidjal Gottes gewaltige Brei en ges rifjen hat, daß Jen ewiger Himmel hereinjieht. Aber die Mauern umlajten uns nod. Die

öttliche Offenbarung fann nicht rein in uns hinein und lauter aus uns heraus. Wir find wie Jacob, der mit dem Engel des Herrn ringt. Diefes Ringen, die Verframpfung

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des Kampfes ijt das Merkmal defjen, was fid aus uns als Kunjt herausqualt: Haß bor uns felbjt, Flucht aus uns felbjt, Abjcheu, Schrei, Entjegen vor der on und der Not, in der wir befangen find. Aber die Selbjtgenügjamfeit ijt vorbei, das heißt uns hoffen. Wir fühlen das Ringen und wer fd) von ihm abwendet, ftedt felbjtgenügfam pharijäifch in ber alten Zeit. Oder er fühlt die Zeit überhaupt nicht und lebt nur HO. $u mit gejunden machen wollen, ijt eine Torheit. Wir können nur unfer Leben gejund maden wollen. Dazu aber muß uns die göttliche Gnade verhelfen.

_ Das Cinfaltigite und Wunderbarfte muß über uns fommen: „Werdet mie bie Kinder ....” Die Neugeburt des Gottmenjhen in uns muß fich vollziehen. Dann find wir im Stande der Gnade. Dann find mir reine Schale, aus der Gottes Wunder die Selbjtheit genommen hat, die er ganz erfüllen kann, bab fein Gnadenlicht aus ihr jcheint. Dann werden wir or geftalten konnen, von der Form und Art wir jest noch nicht Nicht ein kämpfendes Erobern, ſondern ein hingebendes Mitteilen. Das Chriſt— geburtswunder des Gottmenfden in uns ift uns die Hoffnung aus der Nacht dieſer Zeit an den Morgen der Zulünftigen. Sein ewiges Licht leuchte uns allen!

Ludwig Benninghoff. Swiefprarhe

as vorige Weihnadtsfeft ftand unter dem Gedanten „Helden und Kinder”, das heurige

ijt religiöfen Fragen gewidmet. Daß jeder der drei Auffäge vorn bon einer febr rerfdicdenen Einftellung ausgeht, wird den felbjtändigen Lefer nidt ftóren. (Es muß ater vielen inımer wieder gejagt werden, dak nicht alles, was wir bringen, meine per: fenlige Anfdouung ift. 3d höre gern andrer Lente Meinung, manchmal lieber als meine eigene. Meine eigene höre ich nur dann gern, wenn ich fie mir beim Ausſprechen ſelbſt exft flar madhen muß. Das Ganze gibt, fo wie cs ift, Doch einen Zufammentlang, gerade aud) mit den Diffonangen.. Das Lied am Ende des Heftes faBt alles in einen großen Strom zufammen.

Diejes Lied fand ich in „des Knaben Wunderhorn”. Jm lebten Bande haben Arnim und Brentano ein altes Geſangbuch mit abgedrudt: „Anmuthiger Blumenfrang aus dem Garten der Gemeinde Gottes, ang Licht gegeben im Jahre 1712.” Es find fpr merl- würdige Lieder darin, das si aber ift diefes. Man lefe es kühnlich laut, mit einem inbrünftigen, aber verhaltenen Pathos. Befonders die beiden legten Strophen von „Made neu die alte Erde” an, haben eine ftarte a lach Die Form des Liedes ift, entiprechend der Entjtehungszeit, dürftig und nüchtern. Aber wie pulft und drängt es bon innen her gegen die ¿form an und fprengt fie für den Hellhörigen! Es ift ein feltenes Beifpiel, wie

lühende Innerlichkeit mit fprödefter Form zufammenbeftehn fann. Welche vergefjenen Keen gibt es dody immer nod im deutſchen Schrifttum! Die Ueberfdrift des Gedichtes lautet: ,Belenntnis”.

Im vorigen Weihnadtsheft haben wir einen Strauß Krippen- und Marienlieder ebradt. Und wir meinten, die fónnte auch der Proteftant ohne Anftog lefen. Heuer eben, wir die Sammlung fort, und gwar mit Lutherliedern. Wir meinen, die fann and ein Satholit ohne Anftoß lefen. Cr Draudt ja nur das Wort Luther auszuftreichen. Das Lied auf die Kirche ijt recht eigentlich ein Marienlied. Luther hat die irdifde Gottes- mutter alg Symbol der Kirche, der Gemeinfchaft der heiligen Seelen, gefaßt.

Viele Lejer werden Schwierigkeit haben, die Lieder zu lefen und innerlich zu hören. Sie fommen ihnen veraltet und nicht recht gekonnt vor. Aber diefe Verfe find fprad- und gefühlsgewaltige Meiftermerte. Man muß nur die heutige deutfde Metrik, wie fie una von Goethe und Schiller her in den Ohren liegt, bei Seite laffen. Die mittelalterliche deutfche Dichtung hatte andre und viel feinere Gefege. Dieje ermöglichten einen febr mannigfaltigen feelifchen Ausdrud. Luther tann nod, wo es die Sade fordert, drei ftatt bier ER EN. Er gibt in genialer Sicherheit an bejtimmten Stellen Affonanzen ftatt Reime. an muß nur nicht immer gleich denken: der Mann war zu ungelent und fonnte noch nicht fo fauber arbeiten wie wir heut. Ja, wir arbeiten „Jauber“ und „exakt“. Von Exaktheit findet fic) nits in alten Bauten, Bildern, Buceinbanden, Gedichten! Aber fie haben Seele! Das Grundgejes aller mittelalterlihen deutien Metrif ift der feclifeye Gehalt. Wir reden einmal fpáter in einem größern Aufjag davon. Gebt enc nur diefen Liedern bin, left fie laut, laßt euch hin und her probierend bon den Klängen und Rhythmen leiten, fo wird euch nad und nad das Wunder diefer alten Dichtkunft aufgehn. Zur Nachhilfe drude ich die Analyje des Kinderweihnachtsliedes ab, die ich voriges Jahr in der Weihnadtsbeilage der Tagliden Rundidau veröffentlicht

abe. Wer ein feines Gehör hat, findet aud) heraus, telde von den Liedern aus Luthers päterer, herberer Zeit find. i

Unter den „Büchern i unfern Kreis” im vorigen Heft haben wir wie das fo geht einige ältere vergefjen, die aber doch von Wichtigkeit find. Zu unjern Programm-

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büchern a Sobann Wilhelm Mannhardts Heft „Schügengrabenmenfhen” Sanfeatit e Berlagsanftalt, Hamburg. 3 Mt). Eine febr ernfthafte Sarit, bie eine ebenseinjtellung und gugleid damit eine politifche Einftellung gibt. Sie verdient aufe merffam gelefen zu werden. Unter die Bücher, die Freude am Deutiftum bringen, gehören noch zwei: „Brüderchen und Schwefterhen, 12 Zeichnungen von Otto Spedter”, mit dem Text des Grimmiden Mardens, herausgegeben von Dr. Benninghoff (Hanfeatifche Berlagsanftalt. 15 Mt), und Dr. Bruno SE „Ludwig Richter. Der Mann und fein Werk". Mit 75 Abbildungen (Voigtlanders Verlag, Leipzig. Früher 25 MP), Ein zugleich gediegenes und anfprechendes Werk.

Eben heut erfahre ih, daß infolge der Geld-Entwertung und der Preisfteigerun en Verlag das Gefangbud ,Geiftlid Lied” bon Hans Harmfen nunmehr au tok t. hinaufjegt, das ſchöne Claudius-Ridter-Bud von Prof. Budde fol! 40 ftatt 30 Mt. ‘often. š

Bon Emil Engelhardt find eine Anzahl Andachten, die er auf Schloß Elgersburg ge-

alten hat, unter dem Titel „Geift der Freiheit“ bei Gulius Zwißler in Wolfenbüttel er- dienen. (52 Seiten.) ES ijt cine Fülle von Anregungen und Gedanken in diefen furzen

redigten..— Die Bilder Meijter Frandes in diejem Heft find nad) photographijden Auf— nahmen nad den Originalen in der Hamburger Munjthalle von Franz Rompel in Hamburg bergejtellt.

Der Reigen - Prozeß ift erledigt, die Gade aber ift nicht erledigt. Wir werden im Februarheft ausführlih auf die Dinge eingehn, und gwar in weiteren Zufammen- hängen. Wir werden uns dabei auc mit Herrn Wolfgang Heine befhäftigen müfjen, dem Berliner Rechtsanwalt, der als Sozialdemofrat die Finanzen der Kreife um das Berliner Tageblatt und als Kunftbefdiiber das Gefchäft mit Sexualien verteidigt. Wir halten ihn ir eine der triibften Zeiterfcheinungen. Herr Heine ruft hinter Herrn Profeffor Karl

tunner Der: „Haltet den Dieb!" Wir wollen aber einmal den Rufer halten und betradten. Wir haben keineswegs die Abficht, uns mit Herrn Brunner zu identifizieren, aber wir meinen: die Gefahr liegt heut auf der andern Seite.

Und nun fchließe ich den dritten von mir herausgegebenen Jahrgang diefer Zeitjhrift. Einen Ueberblid über das Geleiftete gibt das beiliegende Snhaltsverzeichnis. Die kurzen Titel enthalten ein Stüd Arbeit, das ung befriedigt und fortzufahren reizt. Es it nod mandes in der Seele unterwegs, das nad) Wort und Form fudt. Ohne Schladen wird’s fell nie abgehn. Wir danken unfern Lefern für die Geduld, mit der fie manden leinen Aerger hintangefegt haben. C8 ift ihnen, glaub’ ich, nicht zum Schaden gemejen. Unſre ift im Laufe des Jahres ſtetig gewachſen. Aber die Geldentwertung macht

leichwohl eine Preiserhöhung, vielleicht auf zwölf Mark vierteljährlich, notwendig. Ein Berlng fann nicht dauernd wirtſchaften wie die Deutſche Republit: mit imaginären

Werten. Id hoffe, wir treffen uns tropdem im neuen Jabre alle wieder. St. Stimmen der Meifter, 2 (uióisbares Ginfaltwefen! ‚Ei, fo mad) mid dann aufrichtig, Perle, die ich mir erlefen, Einen Leib, der ganz durdhfidtig Vielheit in mir ganz vernidt, Licht fei, {chaff und ruf in mir Und mein Aug auf dich nur richt. Aus der Finjternis berfitr. Mad mid los vom Doppeltjehen! Made neu die alte Erde, Lak auf eins den Sinn nur geben, Daß fie tO y werde, In recht unverrückter Treu Und das Meer la Js nicht mehr, Und von allen Tüden frei. Außer nur dein gläjern Meer.

Diefes lah mit Feuergüſſen Aug dir in mich überfließen, Komm, o ftart erhabne Flut, Reig mid hin ins BE RE

——— Dr. Wilhelm Stapel. (Fir den Tuhalt verantwortlig). Dr. Lub- wig mi: . un ciften und Einfenbungen find an = ee Dent Toit e mbn: » J < langte Sinfenbungen feine

o cn De “las unb Deut t Banjeatifcge Derlagsanftalt Altieugejelifhaft, Hamburg Dezugspreis: Bierteljãhrlich 9 Mart, Einzelheft 6,— Mart., für das Auslaub der doppelte Betrag. Pofíórttonto: Hamburg 15475.

Nadbrud bec Beiträge mit genauer Quellenangabe ift von ber Schriftleitung aus srlaubt, unbejhabet

te des Derfafjere.

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gegründet am 14. Juni 1913, bezweckt bei voller Anerfennung der völkifchen Vorzlige der Übrigen deutfchen Staaten die Erbaltung der preußifcben lEigenart und der Eigenſchaften, durd die Preußen groß geworden ift. Er bekennt fic zur Monardie und erftrebt deren Wiederberftellung

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fowie die Erhaltung eines ftarfen ungeteilren Preußen, obne weldes Deutf&land niemals feine alte Machtſtellung wiedergewinnen fann. Der Preußen-Bund befämpft den Unitarismus und arbeiter für die FódDerative Grundlage des Keiches unter der Zofung: „Suum cuique” und „Autori- tàt“, nicht „Mlajorität”.

Lbrenvorfigender: Staatsfefrerär und Ober- práfident a. D. Srbr. v. Maltzapn-Gtilg.

Vorfirender: Beneralleutnant 3. D. Rogge: Wernigerode.

Windeftbeirrag: 3 ME. Die Mitglieder er- balten das monatliche Bundeeblatt, das alle wichtigen preufifben Sragen be. bandelt, unentgeltlich.

Sauptgefbäftsitelle und Schriftleitung: Wernigerode, Sorceftr. J.

Dructfachen werden auf Unfordern verfandt. Alle Preußen und YTidtpreufien, Männer und Srauen, die von dem alten Sobenzollernftaat das Zeil Deutſchlands erwarten, werden sum

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In zweiter, neubearbeiteter Auflage ift foeben erfdjienen:

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öffnet es uns auf die verfunfene madtige Olaubenswelt unferer Dáter, deren Himmelsglaube aud uns Nachfahren in unferem tiefften Elend neuen Oegen, neue Kraft und Hoffnung zu bringen vermag.

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