Beitichtift für Politik, Literatur und Kunft

Berausgegeben von Georg Cleinow 74. Dabrgang - Jähtlih 52 Nefte

Nr. 14

Die deutfche Induftrie im Kriege. Don Fritz Röl. . . .».. 1 Das Eindringen Englands in Aegypten. Don Prof. Dr. Gottlob . 9 JJ 24 Deitfhe Soldatenbriefe. Don Dr. Fritz Roepe . . . 2... 26

Ausgegeben am 7. April ı915

mn Berlin DW. I *

Lempelhofer Ufer 35a vierteljährlich

Aolizen

Der Leipziger Lehrerverein unterhaͤlt ſeit dem Mai 1906 ein Inſtitut für experimentelle Pädagogik und Pſychologie, dad unter der wiſſenſchaftlichen Zeitung de3 Leipziger Univerfitäteprofeflor® Dr. Mar Brahn Steht. Was das Inſtitut in den verflofjenen Jahren an wiſſenſchaftlichen Unterſuchungen geleiftet hat, erfieht man aus den vorliegenden Bänden feiner Beröffentlihungen. Es befteht wohl fein Zweifel, daß diefe Unterſuchungen, die nicht nur der feelifchen, fondern auch der koͤrperlichen Beſchaffenheit des Kindes, foweit fie für die Piychologie von Bedeutung fein fann, gelten, dem Erziehungswerk in hohem Maße zugute fommen werden. „Die vortrefflichen Arbeiten zeigen deutlich,” ichrieb Wilhelm Wundt an den Borftand de3 Inſtituts, „wie frucdhtbringend eine Arbeitsteilung fein fann, wenn fi der Praltifer ebenfojehrder Notwendigkeit einer foliden theoretiſchen Grundlage bewußt ift, wie der Theoretiker feinerfeits en Blid auf dad Ganze und auf den Zuſammen⸗

bang der Gebiete richten jollte.” Die pädagogiſch⸗

Hiodolo logiihen Arbeiten find fämtlih im Verlag il ed Hahn, neipäig, Johannisgaſſe 3, erjchienen. Die paffiven Mitglieder des Inſtituts, für die der —— Mitgliedsbeitrag mindeſtens 20 M. beträgt erhalten die Drudfahen durd den erſten Schri te führer des Inſtituts, Lehrer Paul Schlager, Leipzig, Eutritzſcherſir. 1911, umfonft und poftfrei zugeftellt.

al Fa —— Max: Das Problem des ah Friedens. erlin atı tıler u. Sobn. M. 1 Die im Reihe am Ende des ahres 1913. 10. Sonderheft zum eK —— erlin, Gall Berlag. Evers, Prof. Dr. Edwin: Hie guet Zo * 00 Jahre go zolern-Kegierung. Berlin-Lichterfelde, Edwin Runge. M. 0.50,

Anzeigen - Annahme durch Grunow & Co,

und durch den Ve Grenzboten, Berlin S

der

Büderliffe

S Bernhard von: Paul von Hindenburg. in * * von u. Loeffler, Berlin 1916. reis ge Ein —— —8 das uns einige Daten aus dem Leben Hindenburgd vermittelt. Wir bören von den Familien, denen er arte en iſt und lernen feinen Lebenegan fennen. Auch wird veiſucht, durch einige Briefproben = Schilberungen die Hauptzüge EN lenntlich Fr ma Hũbſche Bhotographien y den geiälligen Yin ganzen: eine ——* abe. In ſtolzer Freude ſie dem deutſchen B Illuſtrierte Gef des Re 1914/15. Allgemeine a en öchentlich 1 Heft zum Preiſe von 26 Bi. Union Deuiſche Berlagsgeielliaft in Stuttgart, Berlin, einzig, Wien.) Heit 21—26 liegen und vor. Kohl, Hort: Mit daheim und iR Berlins Kichtereibe Edwin —— M. 0.60, gar Endell, Eddy: Die Be des Fr in ı Preußen. Berlin, . Zrenfel. Stöhr, Ara "Dr. Adolf: Leitfaden der Logik in erender Darſtellung. Leipzig, gran eutide. M. 360. Liebe, Raul: Ein SFrauenwettitreit im ® (tertrieg, Angöbug Heiligenfeger u. EN, Buchdruderei. aaa erg Carl: Aus dem großen u e. Dromatifde zenen. Leipzig, Kurt Wolff, Verlag. M. neb. W.4,—. Tonzow, Dmpytro: Die ee Ehasielien KA der Krieg gegen Ru (and. Berlin, Carl Krol. M. 1— Siaoft, Die wi: Deutſche Eine Gabe urd ein ot großer Zeit. Jena, Eug Diederihd. M. 080. Effig, Hermann: Des Kaiſers Soldaten. Schauſpiel. Stutt- gart, I. ©. Eottafhe Buchhandlung. M. 2.50, geb. M. 3,50. a * —— Leipzig, B. G. Teubner. geb. anne .. Werte. 1. Band. Die Dichtungen. Minden i. ®,, Bruns Berlag. W.: Deutſchland, Polen und die ruffiihe Gefahr. H —— Fr * zt if d iht? Dsla ein elm riedensfaifer oder n öfar pi Berlag. M. 1.—, geb. M. 1.60. Kriegöffugbiatt, 16/16. Zwei Kriegslieber. 17/18. Bier Krieg: der. Bier Kriegslieder. Jena, Eug. Diederichs.

Muöfetier Teins (uft’ge Brüder. Alte liebe Solbatenlieber. ——— von Fritz Jöde. Jena, Eug. Diederichs. v.

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In 26 ig Beh 287 0 Dam.), 33 Seekad., 13 Kad,, 2712 Pr jährige, 201 1 Bereitet während des Krieges mit gutem Erfolge zu allen Notprüfungen vor, a Kriegsfreiwillige, die übertreten wollen.

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Die Grenzboten

24. Jahrgang. Zweites Dierteljahr

Die

Srenzboten

Heitjchrift für Dolitif, Kiteratur und Kunft

Berausgeber

Georg Lleinow

74. Jahrgang

Zweites Dierteliahr

Berlin Derlag der Grenzboten &.m. b. H. 1915

Inhaltsverzeichnis Jahrgang 1915. Zweites Vierteljahr

Heft Seite

Bolitit, Geſchichte, Kolonialweſen, Milttär

Agents provocateurs . . 2220. —ãe— ‚Das Englands i in —, von Amerita, die irn Staaten von und

Japan, von Dr. jur. Kurt &b. Imberg . Belgien, ae 3 —— um —, von Dr.

Be giend Berfafjung und Staatsleben, von Dr. rad Bornhal

Con

Bel * Rentralttät, Deutfchland "und die si ethiſcher Beleuhtung . - . 2... Belle Alliance, Zum undertfien Gedenttage am 18. Juni 1015, von Dr. ®. Gapele . . . ee ie Rachfolge —, don Maximilian von Dagen . » 2 2 2 or re. om en tfeier ber uni 1915, von Brof.

bert B ei 4, 886:

Deutiälend, und * —— Neutralität in Se ) Das Ein ——* ——

ro [ SEE Zr Br 6— Smperialismusß, 2 li A nor Dr. Ele Si Hub ? Ibebrandt. 'der uftafung Sei ober amd —? von Wilde Im May

—— von Dr. Eduard Wilhelm Mayer . Japan, Die Bereinigten Staaten von Amerila md —, ven Dr. jur. Ru d. berg . Kriegstagebud). ‚16, 91; 18, 157; 20, 221;

, 816:

Ropoleond Plan einer Invafion En —*X 1808—1806, von Prof. Dr. Willi Das und bie nafär: Hg, —— 8 Staates, von Dr. jur.

te Fr ber Weittrie, ‘von Dr. Ge zandt .

14, 9 . 15, 88 17, 115 . 3%, 898 2, 380 34, 827 19, 165

28, 289 &, 871 2, 860 14, 9 20, 198 2b, 868 22, 261 22, 257 16, 66

‚ib, 83

3, 412

. 18, 188

18, 129 20, 188 26, 886 . 17, 9

Heft Geite

Glanenbund von Nordeuropa, von Yuftizrat

Neburfgenfie t, vergleihe ben A Bur dert ier der D t —— ——

Bollsawirtſchaft, Berwaltung, Sozialweſen m enausfuhr, A der

und olgen, von Dr. Sennig Sambia ik, I —— ee Dr. Hugo

am &

—— Früchte bes —, Betrachtungen aus dem von Unteroffizier Dtto Dahmie . eh von Güterdireftor EORDER 5 0 0 ae Kriegägewinns, Die Beſtenerung bes Slewerungerschtigkeit, von Prof. Witt eo Krisgsge! ewinnfteuer, Für die —, von Yuftizrat AMDerBeE . . ou 0 0 ne —— von Dr. sc. pol. Ernſt Oberfobreen . 2 2 0 0 ae en Onpreuktnpiife, von Pror. Dr. Mar I. Wolff —— und ——— von Walther Claſſen Weltkrieg und Vollsz

Nechtsfragen, BR und Erziehung, Kirche

—— die Zukunft der —, I. Die lörper⸗ tigung ber Jugend und bie Er— ur Wehrtüchtigkeit, II. Die Einigung er erzieheriſchen Ju endpflege und daB Mittelamt für Jugendpflege” von Dr. ®. —8 ne see ne 28, er Schule, von Dr. R. Shadt . . Sale, an Age des —, en Conrad Bornhaf. . . . . Univerftätägefen, Ein ——— —, Prof. Dr. Eduard Hubrich... ..... Volkskindergartens, Die er Aufgabe de8 —, von Dr. phil. Anton Bollzlirche, Die und ihre ndi) Sendung, vo von Ardibiafonus Artur Braufe- » . . ® ® . ® .

316389

23, 294

. 28, 389

19, 171 15, 650 14, 1 4, 48 28, 298 17, 108 17, 113 19, 176 2, 406 18, 149 20, 206

8302, 26, 892 . 18, 1562

24, 321 21, 245 24, 851

16, 71

Heft Seite

Kulturgefhichtliches, Länber-, Böller- und Sprachenkunde

Altrömiichen Feldarztes, Tharakterbild eines —, von Dr. Wilhelm onad

Deutſchbaltiſchen Menſchen, Die Krifis des —, von Dr. Max Hildbebert Boehm . 4, 886:

Gobineau über Deutſche und vangofen, a Prof. Dr. Ludwig Schemann . .

Rultur, Bon deutſcher und beutfcher geiei von Prof. Dr. Erih Jung. .

SODNEROHLIE, Deutſche —, von Dr. Fig

oeple. . .

Spraden, Die europäife en und der Krieg, von Prof. Dr. Sütterlin-. . «2 202.

Suezkanal, ———— am —, von

Dr. Walther Jan

Verdeutſchungen, von” Earlomig- Hartigih .

Wokevre, Ein Blid in die - —, "daß Borland von Toul und Berdun, von Bıof. Dr. Reihlen

Literatur, Kuuſt, Philoſophie

——— und die belgiſche Neutralität in ethiſcher Beleuchtung.. 2 2 0.

Dramatiler, Sollen die Iamelden? von Dr. Julius Seitler . ——

Geibel, Vom unbefannten —, von Dr. R.

Scha

a Deuiſche heut unb vor hundert Jahren, von Dr. W. W

Zweck, Der in der Politil, von Dr. Paul Feldkellerr. 0 0 nn

Rovellen, Romane, Gedichte

Abſchied, von Roderich Ley . wen Der Gefangene . a

Mondnacht, von Roderich dey N Nach den Treubruch, von Mar Bittric) . a Reiters Morgenruf, von NRoberih Ley . . .

Bücerbeiprecgungen

Ein „B“ anftelle ber Geitenzahl bedeutet: Bügerlifte im Ungeigenteil bes betr. Heftes. Bauer, Karl:

Führer und Helden. Feder—⸗ zeihnungen .

Baum, Dr. Georg: 8 regsbüctein. für das deutihe Haus (Dr. Sontag) est senowie: Allgemeine Dienftpflicht

Sans, dere von: Bom Kriege (*) ; Denis, Emeit: La Guerre (Dr. Fris Roepfe) Fuͤcer, Adolf: Menſchen und Tiere in Süb- weit (Brof. Panl Matſchie) i A e Erid: em Öanstomöbien mit

Bunt, Dr. nation: Freie deutfche Blätter (Dr. Earl Jentih) .

Gobineau: a qui est arrive en ‘France en 1870. FH den Auffat: Bobineau über Deutihe und Yranzofen (Prof. Dr. Ludwig Ehemann) . . 58;

Gocbel, Otio: Der and von Sadalin und andere Geſchichten aus Sibirien (*)

Guſtav: Denkwürdigkeiten Br Alt:

jterreih (Heinz Amelung) . .

Hatſchek, Prof. Dr. Ludwig: Das Barlamentd- recht des Deutichen Neides (Brof.Dr. va Bornbaf) . . FRE

Hedin, Sven: Ein Bolt in Waffen

Hennig, Dr. Richard: Unſer Vetter Zartuffe oder Wie England feine Kolonien erwarb (Heinrich Reub) .

enburg, Bernhard von: Baul von Hinden-

se Ric

Sönig, Dr. Johannes: Ferdinand Gregotovius als Dichter (Dr. phil. 8.9. Rofe). . .

. 2%, 880 3, 871 16, 80 22, 264 14, 26 22, 272 21, 225 . 20, 214 17, 120

26, 860 23, 8308 . 21, 248

. 19, 179

. 20, 198

18, B

191 . 16, B 17, 126 14, B . 17, 127

Jentſch,

‚Bey, Roderich:

Heft Seite

le: * Reiche bes Geldes (Dr. Karl Labberton, Dr.: Die Verlegung. ber Beigifchen Neutralität . Poe, Edgar: Werte (Exrnit oͤndwig Sgellenberg Rinn und Jüngſt; ——— dee bud (Heinrich Reuß) . . ; ; Rupp, Julius: Geſammelte Bere . Sombatt, und Heiden (Dr. Garl Jent 1) Ve Er Steffen, Bultav : Krieg und Rultur. Ber gleige die Au fäge: 9 ehweden und ber elttrieg“ und „Der Imperialismus in engl! her Auffafſung“ (Dr. Elſe Hilde»

Phi h Holtder: Bismard . . . {

Mitarbeiter-Bergeichnis

Amelung, ty „Denlwürdigkeiten aus Alt- Dfterrei Peraußgegeben von Guſtav Gugitz en Suftigeat: : Bär bie euer . F

Stoatenbund von Nordeuropa Bittrih, Mar: dem Treu * Boehm, Dr. ildebert: Die Krifis bes dentichbaltilchen enihen . . Borbat, Prof. Dr. Conrad: BZeigiens Berfaffung und Staatsleben

„Dad Barlamentsreht bes Deutichen Reiches“, von Prof. Dr. Ludwig Hatſche Stellung des

21, 4

15, 60 17, 118 28, 29%

, 8, 41 24, 886; 3, 871

. 26, 898

. 19, 191

Die völterregtli Papfies 24, 821 Böttger, M. d. % Dr. Hugo: Unſere nächfte

Hanbelspolitit . . Braufewetter, Arhidiafonus Artur: Die Bolts: firhe und ihre vaterländiihe Sendung Capelle,Dr.®.: Belle Alliance, Zum hundertften Gedenktage am 18. Juni 1915 . Karlowig-Hartigfch, m von: Berdeutiungen Elaffen, Walther: Tu und Giedlung Clellan, Prof. George Der Preis für Stallend Neutralität Dahmte,Unteroffizier Dtio: rüdte bes Krieges, ans bem iselde . . . .. de Ionge, Dr. M.: Das itafienifche Barlament Gelee: Dr. Baul: Der Zwed ın der Bolitit ottlob, Prof. Dr.: Das Erben Englands in Ügypten . er ee u Bazimitian von: Die Radiolge 8 Ric d: Der Rüd »b enni r. Ridar er gang er eng- Liichen Rohlenausfuhr und ihre Folgen Hildebrandt, Dr. Elfe: 2 —— alismus in engliiher Auffafjung R Schweden und ber Welt tig» Hubrich, nah, Dr. Eduard: Kin neues lini- verfitäts ge! [3 Bu Br DE Bu RB HR NE Amberg, Dr. jur. Kurt eb; gie Vereinigten Staaten von Amerifa Japan . Sanell, Dr. Walther: Annie ar Anteil am Suezlanal . Dr. Earl: ‚Sreie deutſche Blätter“, herausgegeben von Dr. Philipp Funk „Händler und Helden“ von Werner Sombart „Im Reiche bed Geldes“ von Leo Jolles Jung, Prof. Ir. Erih: Von’ deutſcher Kultur“ und deuticher ieh on. . 21, 385; ſchied Ba al

15, 650 16,. 71 34, 827 X, 214 18, 149 22, 57 2A, 348 22, 81 20, 193 14, 9 19, 166

19, 171

. 0, 198

17, 9 21, 245 15, 83 . 21, 226 20, 219 15, 63 21, 354

22, 264 17, 126

Mondnadt . een ee AI

Reiterd Mor enzuf . :

Matichie, Prof. Paul: „Menigen und Tiere in Südweſt“ von Adolf Fi iicher

Mayer, Dr. Eduard Bilfelm: Dialieniſche oder flawifche Irredenta?.. .

Italiens Politik a dem Baltan und in der Levante . .

Müller, Prof. Dr. Bi: Napoleons Plan einer AInvafion Englands 1908—1806

abe iohten Dr. sc. pol. Ernſt: Rriendwirtfinits,

lehre Reihlen, Rrof. Dr.: Ein Blid in bie Woßore, das Borland von Toul und Berdun . .

. 17,

18, 166

(2

18, 176 7, 120

Heft Seite

9 ee von f. nn und Pfarrer lic. theol. ln m „Unfer Beiter Zartuffe oder Wie "England

Kolonien erwarb“ von Dr. Richard

Roepte, ne grip: Deutfche | Sotdatendriefe ; Frantreichs Werben um Bel Igien ; za Guerre“ von Erne Kal, Sri: Die deutiche ndaftre im Kriege Dale. phil. Anton ec: Die nationale Aufgabe des Volkskindergartens „Ferdinand ee als Dichter“ von Dr. ——— R. S. D „A gemeine Bienftpfit“ ı von u Zr a un e. —— eibel . ellenberg, Ernit Ludwig: Edgar Boe's Werke emann, Prof. Dr. Ludwig: über eutiche und 6, 58; Schonack, Dr. Bilhelm: Charatterbilt ne altrömifhen Feldarztes Kriegägetreibe-Bür-

- Schroeder, —— ſorge

19, 189

17, 126 14, 26 17, 116

. 28, 314

14, 1 . 24, Bbl . 17, 127 . 17, 128

. 18, 162 21

2, %37 16, 80 26, 880

. 23, 298

Heft Seite

Sontag, Dr.: —— für das deutſche Haus“ von Dr. Georg

Siymantl, BURN Dr. Paul: "Sur Hunbertjahr- feier der Deutihen Burſchenſchaft am 12. Juni 1015 .

Strahl, Dr. jur. R.: Das Rationalitätsprinzip und die natürliden Grenzen des Staates

Sätterlin, Prof. Dr. Ludwig: Die europätihen Spraden und ber Srieg .

Baritat, Dr. ®.: Die Zufunft der Jugenbpflege, l. Die törperliche Kräftigung der Jugend und die Erziehung zur Behrtüchtigfeit, U. Die Einigung der erzieheriichen yugenbpllige und

das „Mittelamt für Jugendpflege” 23, 802; Deutiche Kriegsdichtung Heut und vor hundert Jahren

Bittihemity, Prof.: Die Befteuerung des Kriegdgewinnd eine Steuerun erechtigkeit Wolff, Prof. Dr. Max J.: Oſtpreuf enhilfe Zeitler, Dr. Julius: Sollen bie I meigen? . leine Haustomöbien. mit. „Dr. Erich Fi „Vom Kriege“ Bon General von Eluufewig

Dramatiler

Muft“ von

22, 288

23, 239

. 18, 129

2, 212

26, 392 19, 179 17, 108

. 26, 406

23, 300

20, 220 17, 126

Die deutjche Induftrie im Kriege

Don Fritz RBll

ie &reigniffe der legten Wochen haben die einwandfreie und endgültige Beftätigung erbracht, daß der gegen Deutſchland unter- nommene Krieg nicht allein die Niederwerfung deuticher milttärifcher A Kraft bezweden fol, fondern aud) und vor allem die Zertrümmerung

= deutſcher Wirtfhaft und deutſchen Handels. Seit dem Eintritt des Deutichen Reiches in Welthandel und Weltpolitif hat England argmöhnifchen Auges die Entwidlung des deutſchen Wirtfchaftslebens und der deutfchen Induſtrie verfolgt, hat neiderfült den beifpiellofen Erfolg des deutſchen Außenhandels wahrgenommen und hat, ohnmädtig fih in würdiger Weife des Täftigen Konkurrenten zu erwehren, einen Weltbrand heraufbefhworen, um mit roher Gewalt alles zu zerftören, was deutfcher Fleiß und deutfche Ausdauer in jahre- langer, mühjeliger und heiliger Arbeit gefchaffen haben. In dem Zufammen- bruch unſerer militärifchen Kraft, unferes Wirtfchaftslebens und unferes Handels würden aber auch deutſche Kultur und deutjches Wefen zu Boden finfen, und wir wifjen nicht wie lange es dauern würde, ehe alles das, was heute Ieben$- und tatenfroh noch vor uns fteht, wieder zu bejcheidener Dafeinsbetätigung die nötige Kraft finden fönnte. Aber wir wiſſen heute ſchon, daß die Rechnung unferer Feinde Fehler aufmeift, und daß diefe Fehler den Mikerfolg mit uner- bittlider Notwendigleit herbeiführen müffen.

Die Tapferkeit unferer fiegreihen Truppen bat den Anſchlag auf unfere militärifhe Kraft zuſchanden gemadt, fie hat den Kampf in das Land unferer Feinde getragen und hat verhütet, daß bis auf einen Kleinen Zeil die deutjche Erde der Schauplat blutiger Schlachten und wüſter Zerftörungen wurde. Die erfte Kriegswoche zeigte uns die lückenlos volllommene militäriſche Kriegs— bereitjchaft, fie zeigte uns die gründlich durchdachte Bereitſchaft unferes Eifen-

Grenzboten M 1915 1

2 I Die deutfche Induftrie im Kriege

bahnweſens, fomweit e8 fi) um Angelegenheiten der Truppenbeförberung handelte, und fie zeigte ung die muftergültige Bereitichaft für die Heeresverpflegung.

Aber fie zeigte uns auch, daß unfere Induſtrie und das von ihr abhängige Wirtſchaftsleben nicht auf den Krieg vorbereitet waren. Die Yolge waren: Kopflofigkeit, Unentfchloffenheit, Maffenfündigungen und als ſchlimmſte drohende Arbeitslofigleit. Die deutſche Induſtrie ſchien ftill zu fteben.

Schon erhoben fih zürnend die Stimmen der Feinde Tapitaliftiiher Wirt- ſchaftsordnung. Sie prophezeiten die Niederlage Deutſchlands als notwendige Folge diefes Syſtems. Yon anderer Seite aber erſcholl der dringlidhe Ruf: „weiter arbeiten.” Denn das ward in jenen Tagen bie Überzeugung eines jeden: Deutſchland kann nur dann fiegreih aus dem aufgebrungenen Kampfe hervorgehen, wenn das zurücgebliebene Deutichland ſtark bleibt und mit feiner Kraft ftügend im Rüden der lämpfenden Armeen ſteht. Denn nit in ben Reihen der fiegreich vordringenden Truppen wird die Kriegesmübdigfeit lähmend ihr Haupt erheben, fie wird geboren im Inland, inmitten arbeitSlofer, zu Müpiggang und Notleiven verurteilter Menichenmafien.

So ſah fi die deutſche Induſtrie, die große Arbeit- und Brotgeberin

unferes Volles, vor eine große, faft übermenſchliche Aufgabe geitellt. Es galt fhnell und wirkungsvoll zu handeln und das, was an Kriegsvorſorge verfäumt worden war, durch Kriegsfürſorge wieder gut zu machen. 88 zeigte ſich indeſſen ſehr bald, daß an Arbeitsgelegenheit fein Mangel berrihen würde. Der Krieg felbft und mit ihm die Heeresleitung ftellten große Anforderungen an die Leiftungsfähigleit unferer Induſtrie. Der Bedarf an Gefhügen, an Munition, an Ausrüftungsgegenftänden für das lämpfende Heer, an Erzeugniffen, die fanitären Zwecken dienen, an Beförberungsmaterial uſw. ftieg in$ Ungemefjene. Aber die Aufträge wurden von den militärifchen Be— börden ohne genügende Prüfung, faft wahllos, vergeben, und das Fehlen einer Drgantfation, die die Gefhäftsbeziehungen zwiſchen Militärverwaltung und Induſtrie hätte regeln Tönnen, machte fi) unangenehm fühlbar. So kam es, daß die dem Sit der Verwaltungen benachbarten Werle mit Aufträgen überlaftet waren, während in entlegenen Gegenden Beſchäftigungsloſigkeit herrichte. Eine weitere Folge war das Auftreten eines Jäftigen, oft unlauteren Zmwifchen- handels, der nicht felten von Leuten betrieben wurde, die bisher in feiner Be⸗ ziehbung zu den arbeitenden Induſtrien ftanden. Hier regelnd zu wirlen, war bie erfte Anforderung, die der Krieg an die organifatorifche Kraft unferer Induſtrie ftelltee Sie wurde bei der Löfung diejer Aufgabe unterftäbt durch die beftehenden ftarfen Organiſationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer.

Bereits am 8. Auguft v. J. ſchloſſen ſich die beiden maßgebenden Verbände ber deutſchen Induſtrie, der „Bund der Induſtriellen“ und der „Zentralverband deutſcher Induſtrieller“ zufammen zur Bildung eines „Kriegsausſchuſſes der beutfchen Induſtrie“, und ftellten fomit ihre weitreihenden Drgantfationen in den Dienft des Vaterlandes. Diefer Kriegsausfhuß erfaßte die gefamten

Die deutfche Induſtrie im Kriege 3

geiftigen und materiellen Mittel, über welche die deutſche Induſtrie zurzeit gebot und ftellte außerdem dur Kommiſſare eine zwedmäßige Verbindung mit den Reichs⸗,, Staats- und Heeresverwaltungen ber. Die von diefen Stellen erteilten Aufträge konnten nun zwedmäßig über die in Trage kommenden Mmduftrien verteilt werden unter Ausſchluß jeglicher ftörenden fonftigen Ver⸗ mittlung. Die Aufgabe des Kriegsausfchufles war hiermit aber nicht erfchöpft. Seine weiteren Ziele waren: zmwedmäßige Verwendung der verfügbaren wirt- ſchaftlichen Kräfte, wirkſame Arbeitsteilung, Lieferungswefen, Materialbeihaffung und ArbeitSausgleich zwiſchen den einzelnen Induſtrien, befonder8 aber zwiſchen mduftrie und Landwirtſchaft. Das Iebtere war von großer Wichtigkeit, da bie Landwirtſchaft fih durch die Mobilmahung ihrer Arbeitsfräfte beraubt ſah, und diefe nur durch maſchinelle Einrichtungen zu erfegen waren. Es bildete fh die landwirtſchaftliche Zentralftelle für Induſtriebeſchäftigung, welche den landwirtſchaftlichen Bedarf an den Ausſchuß vermittelt und die Fachverbände der einzelnen Induſtriezweige durch forgfättige Auskünfte unterftügt. Vor allem aber wurden Kriegskreditbanken gegründet, bie, geſtützt auf Die Reichsbank, den vom Kriege betroffenen Unternehmungen Mittel zur Aufrechterhaltung ihrer Betriebe zur Verfügung ftellten.

Immerhin Tonnte durch die plößlic auftretenden Bedürfniffe nur ber Arbeitsbedarf gewiſſer Induftriezweige gededtt werden. Für die nicht beteiligten Induſtrien galt es nun, fi wirkungsvoll ben neuen, oft außergemöhnlichen Derhältniffen anzupafien.

Während in jenen Fabriken, die ihre Yabrilation ohne weiteres auf den Heeresbedarf und auf bie Herftellung der taufenderlei Dinge, die unfere im Feindesland ftehenden Truppen bedürfen, einftellen fonnten, eiftige Tätigkeit herrſchte, mußten andere Fabriken eine Änderung ihrer Tätigfeit vornehmen. So erzeugt die A. €. ©. in einem ihrer Betriebe an Stelle Dynamos Granaten, in einem anderen Metallinöpfe und andere militärtfche Utenfilten, die Siemens» Säudertwerle bauen Telegraphen- und Telephonanlagen für bie Heeresleitung, Eifengießereien und Mafchinenfabrifen ftellen Granaten, Nähmafchinenfabrifen Schrapnells her. Metallmarenfabrifen erzeugen Patronenhülfen. Eine Fabrik für photographiiche Artikel fabriziert Koppelichlöffer, eine andere für Gewächs⸗ hausbau befchäftigt ſich mit der Herftellung von Werkzeugfäften und Feldftühlen. So hat die Anpafjungsfähigfeit, die des Deutſchen hervorftechendes Merkmal ift, in kurzer Zeit Dinge zuwege gebradt, die früher als unmöglich gelten konnten.

Die fi) immer fteigernde Nachfrage nad) Induſtrieerzeugniſſen im Verein mit der Rückkehr normaler Kredit- und Zahlungsverhältnifie überwanden mit unvorhergefehener Schnelligkeit die Lähmung der erften Kriegswochen, und bie deutihe Induſtrie begann von neuem und kraftoll ihre Arbeit wieder auf- junehmen.

Aber noch blieben Aufgaben von meitgehender Bedeutung zu löſen: es mußte für einen ficher arbeitenden Arbeitsnachweis geforgt werden, um bie

*

4 | Die deutfhe Induftrie im Kriege

vorhandenen Arbeitsfräfte zwedimäßig zu verteilen; es mußte die SHerbei- fhaffung der Rohmaterialien ficher geftellt werden, und ſchließlich mußte die Eriftenz der Familienangehörigen der eingezogenen Induftrieangeftellten ge⸗ fihert werben.

Gleich zu Beginn des Srieges wurde die „Neichszentrale der Arbeitänad)- weife” ins Leben gerufen. Sie umfaßte alle bereits beftehenden Arbeitsnach⸗ weife, die der Arbeitgeber fowie die der Arbeitnehmer und arbeitet unter Bei⸗ bilfe beider Gruppen auf paritätifcher Grundlage. Es zeigte fi, daß dieſes fo heiß begehrte und fo ftark angefochtene Syitem für die vorliegenden Ber- haͤltniſſe das einzig zweckentſprechende tft, und die Hoffnung tft nicht unbegründet, daß die in diefen harten Zeiten gefammelten Erfahrungen auch hinauswirken, in Tommende Friedenszeiten. Dur das Zujammenarbeiten der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorgantifattionen aber bat filh zu unferer aller Überrafhung gezeigt, daß die Gründung und Feftigung biefer beiden Drganifationsgruppen, die fi in der Zeit des Friedens auf das heftigfte belämpften, tatſächlich die einzige, zwar unbewußt gefchaffene aber um fo großzügiger durchgeführte Kriegsporforge der deutfchen Induſtrie darftellte. Faſt alle beteiligten Perfonen, Verbände und Gruppen waren in diefen beiden Drganijationen zujammen- geſchloſſen, und es war nur noch nötig die durchgeführte Arbeitsgemeinſchaft herbeizuführen, die e8 der deutſchen Induſtrie ermöglichte, ſich jo jchnell den durdaus veränderten Berhältniffen anzupaſſen. Im Rahmen der einzelnen Induſtrien vereinigten fi) beide Verbände, um gemeinfam für Beihaffung von Arbeitögelegenheit und deren Verteilung: zu forgen, denn die Aufträge, bie durch den Krieg der Induſtrie zufloffen, genügten nicht, das Heer der deutſchen Arbeiter zu beichäftigen. Hier mußten Staat, Gemeinden und gemeinnüßige Berbände als Auftraggeber binzugezogen werben. Der Staat ließ Kranfen- häufer, wiſſenſchaftliche Inftitute, Waflerkraft- und Bahnanlagen bauen, die Gemeinden jorgten dur GStraßen-, Brüden- und Sanalifationsanlagen für Arbeit, und öffentliche Inftitute ſchloſſen fich diefen Beſtrebungen an. So ftellte zum Beiſpiel das Deutſche Mufeum in München mehrere Millionen zur Ver⸗ fügung, um dur den weiteren Ausbau feines Heimes Bauunternehmer, Tabrifen und Gewerbetreibende mit Aufträgen verfehen zu können. Diefen Beitrebungen ift es denn auch zu danken, daß der Belchäftigungsgrad in der deutſchen Induſtrie zurzeit ein erfreuliches Bild zeigt, und an Stelle der be— fürchteten Arbeitslofigfeit ſtellenweiſe eine höchfte Anfpannung der Induſtrie herrſcht.

Bor allem aber war nötig, die Beichaffung der NRohmaterialien fiher zu ſtellen. Dadurch, daß der Einfall der Feinde in die Imduftriegebiete des Rheinlandes und Schlefiens verhindert wurde, Tonnte die inländiſche Roheiſen⸗ und Koblenverforgung ohne erhebliche Unterbrehung aufrecht erhalten werben. Um aber auf den Anlauf und die Perteilung der nicht in Deutichland gewonnenen Robftoffe zu. organifieren, haben fi) Materialverforgungsgefellichaften gebildet, bei denen Erwerbszwede ſatzungsgemäß ausgeſchloſſen find. Die Wichtigkeit

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diefer Angelegenheit zeigt zum DBeifpiel die Nachfrage nad) Kupfer. In Deutihland werden im Jahr ungefähr 100000 Tonnen Kupfer allein für Kriegszwecke benötigt, eine Menge, von der nur der vierte Zeil im Lande felbft erzeugt wird. Da in den lebten fünf Jahren aber jährlich) ungefähr 200000 Tonnen Kupfer mehr eingeführt als ausgeführt wurden, hat ſich ein ſolch großer, allerdings meift verarbeiteter Kupfervorrat angefammelt, daß aus ihm der Kupferbedarf des Heeres für lange Zeit und ohne allaugroße Schwierigkeit gededt werben kann.

Auf ale Fälle war es nötig, von vornherein und entſchieden allen Preig- treibereien entgegenzumirfen. Daß diefe Preistreibereien hintangehalten wurden, ift außer den erwähnten Gefellichaften in erfter Linie dem Einwirken ver militärifhen Behörden zu danken, die ihre Kommandogemalt benugten, um bie Preife der Rohmaterialien feitzufegen.

War fomit für die ausreichende Beichäftigung der im Lande verbliebenen Arbeitsfräfte und für die einigermaßen befriedigende SHerbeifhaffung der nötigften Rohſtoffe geforgt, jo galt e8 noch jener zu gedenken, deren Ernährer im Dienfte der Induſtrie tätig und nun hinausgeeilt waren, um da3 Bater- land vor dreiftem Überfall zu bewahren. Hier zeigt fi uns ein Bild von erbebender Opferbereitfhaft und wirkungsvoller Hilfeleiſtung. Der Umitand, daß die deutfhen mduftrieunternehmer weiterarbeiten, zum größten Teil mit Mugen weiterarbeiten Tonnten, ſetzte ſie in die Lage, große Mittel für die Unterftügung der Familten ihrer MWerlSangehörigen bereitzuftelen. Die Allgemeine Elektrizität8-Gefelfchaft, die ungefähr 14000 ihrer Mitarbeiter gegen den Yeind gefchidt bat, verausgabt monatlid) 500000 M. für den erwähnten Zwed. Dieſem Borgehen fließen fih faft ausnahmslos die übrigen Werke würdig an. Sn diefer glänzend durchgeführten Unterftügung bringt die deutſche Induſtrie in erbebender Weile zum Ausdrud, daß fie fi vollauf bemußt ift, in welch außerordentlichem Maße fie ihre kraftvolle Entwidlung der Mitarbeit ihrer Angeftellten und Arbeiter zu danken bat, und fie widerlegt überzeugend jene Dogmen, die die Ausrottung der humanen Empfindungen durch die kapitaliſtiſche Wirtſchafts⸗ ordnung als drohende Gemwißheit hinſtellen. Vergegenwärtigt man fi nun noch einmal das kraftvolle und gefchidte Weiterarbeiten dieſer Tapitaliftifh orientierten, zurzeit vom Ausland faft vollitändig abgefchloffenen deutſchen Sinduftrie, dann wird es verftändlih, wenn ein früherer fozialdemokratifcher Abgeordneter, Anton Fendrich, in feiner Flugſchrift Über Krieg und Sozial⸗ Demolratie der kapitaliſtiſchen Wirtfchaftsordnung ausdrüdlih feine volle Bewunderung ausdrüdt.

In ihrer Unterftügungstätigleit treten die deutſchen Gewerkſchaften den Arbeitgebern und ihren DOrganifationen helfend zur Seite, indem fie ihre großen Mittel in den Dienft derjelben Sache ftelen. Um eine Vorftellung von der Tötigleit der Gewerkſchaften zu gewinnen, ftatteten bereit8 im November v. J. Bertreter der Reichsbehörde und zwei Minifter dem Berliner Gewerkſchaftshaus

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einen Befuh ab, und vor menigen Wochen lafen wir im Rerichsarbeits⸗ blatt:

- „Die Erfahrungen der erften Kriegsmonate haben gezeigt, daß die Arbeit- nehmerverbände den ganz außerordentlichen Anforderungen, die durch den Krieg namentlih an ihre materielle Leiftungsfähigleit geftellt werden, im wejentlihen vollauf gewachſen find, und daß ihr Beitand über die Kriegsdauer hinaus im ganzen als gefichert angefehen werben kann“ *).

Fürwahr, es ift ein verführeriſches, erhebendes Bild, diefe beiden großen, bislang feindlichen Drganifationsgruppen bei gemeinfamer Arbeit zu jehen, denn es läßt den Segen ahnen, der durch ihre dauernde Zufammenarbeit der Nation zufließen würde. Die Beendigung des Krieges wird vorausfichtlich die früheren Verhaͤltniſſe wieberbringen. Wenn aber die jebige, ſchwere Zeit in beiden Lagern wenigftens den Wunfch nach Verftändigung und Zufammenarbeit mweden und jtärfen würde, fo wäre dies ſchon als Gewinn zu preifen.

Der Kriegsbeginn traf die deutſche Induſtrie um fo heftiger und uner- mwarteter, als fie in erbeblihem Umfang mit der außerdeutſchen Kundſchaft befchäftigt war, und der wirtichaftliche Verkehr mit jenen Staaten, die mit uns Krieg führen, troß der politiſchen Spannung bis zuletzt fehr lebhaft war. Der Ausbruch des Krieges zerfchnitt diefe Beziehungen und unterband nahezu jegliden Außenhandel. 20 bis 25 Prozent der deutſchen Warenerzeugung fallen auf das Ausland, und ungefähr ein fechitel bis ein fünftel der deutſchen Arbeiterfehaft waren für den nunmehr ftillgelegten Außenhandel, der im Vorjahr 20 Milliarden betrug, tätig. Für die hierdurch betroffene Induſtrie galt es, das, was ihnen am Außenhandel verloren gegangen war, auf dem Inlands⸗ markt zu erobern. Glaubte England: die Zeit gelommen, um unferen Außen- bandel mühelos an fi reißen zu können, fo war für uns ber Augenblid günftig, den Inlandsmarlt von ausländifhen Erzeugniffen zu fäubern. Die deutf he Kohleninduftrie zum Beiſpiel tritt erfolgreih in die Lüde, die durch die nunmehr fehlende englifhe Kohleneinfuhr entitanden ift. Die ununterbrochene Förderung von Gteinlohlen aber ift in der gegenwärtigen Zeit von um fo größerer Wichtigkeit, als dadurch die ausreichende Erzeugung pharmazeutifcher und chemifcher Artikel, die Verforgung mit Leuchtgas mit dem für die Land- wirtihaft wichtigen fchwefelfauren Ammoniat und endlich die Herftelung der Farbſtoffe gefichert wird. England, das lediglich auf den Bezug deutſcher Tarbitoffe angewiefen ift, ſah ſich zur Stillegung eines großen Teiles feiner tertilinduftriellen Betriebe veranlaßt. Auch. die Vereinigten Staaten, die um die Jahreswende zwei Schiffe mit deutfchen chemifchen Erzeugniffen befrachteten und mit Englands Genehmigung unter amerilanifcher Flagge nad Amerifa führten, konnten Betriebgeinftellungen infolge Farbftoffmangels nicht verhindern.

*) Vgl den Aufiag „Die deutihen Gewerfihaftihaftsorganifationen und der Krieg” bon Heinrich Göhring in Heft 51, 1914.

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Ebenſo wie die Kohleninduſtrie treten die Induſtrien der Werkzeug⸗, land⸗ wirtſchaftlichen und Textilmaſchinen, der Kleineiſen- und Stahlwaren, des Schiff⸗ baues uſw. tatkräftig hervor, um ſich den ihnen längft gebührenden Anteil am Inlandemarkt für dauernde Zeiten zu fihern. Aber auch in der Beſchaffung jener Artilel, die bisher ungünftiger Bedingungen halber nicht im Inland ber- geitellt wurden, muß der Augenblid benugt werden, um die deutſche Induſtrie für immer von der Abhängigfeit vom Auslande zu befreien. Handelt es ſich um natürlihe Produlte, fo jollen fie durch fünftliche, gleichwertige erfebt werden. Die prinzipiell gelöfte Aufgabe der ſynthetiſchen Herftellung des Kautſchuls läßt erwarten, daß die mit 200 Millionen bewertete Einfuhr zum größten Teil durch inländifche Erzeugnifje erjebt werden fann. Der aus Yapan eingeführte natürlide Kampfer wird im Inlande in nahezu volllommener Weile auf fyn- thetiichem Wege erzeugt. Indeſſen müfjen jährlich noch große Mengen Kampfer eingeführt werden, da bei uns, im Gegenſatz zu England, für die Herftellung von Arzneien natürliher Kampfer vorgefchrieben tft. Grfolgreicher wird zum Beifpiel Jute bereitS heute durch Tertilofe, einer Verbindung von Papter- und Baummollfafer, erfeht.

Überbliden wir noch einmal das Bild, welches die deutfche Induſtrie im gegenwärtigen. Kriege zeigt, fo offenbart fi uns die überwältigende Kraft, die in dem deutſchen Wirtfchaftsleben enthalten ift, und die, nunmehr auf einen Punkt, auf die Sicherftelung unferer nationalen Zukunft gerichtet, unübermindlich eriheint. So aber mußte es auch fein, foll Deutichland flegreih aus dem gegenwärtigen Krieg hervorgehen, denn für uns ift die Leiftungsfähigfeit der heimiſchen Induſtrie von weitaus größerer Bedeutung als bet unferen Feinden. Während jene ihren Bedarf an Waffen, Munition und den fonftigen Bedarfs- artifeln im neutralen Ausland, befonders in den Vereinigten Staaten decken fönnen, find wir in der Verforgung diefer Dinge lediglich auf die eigene Induſtrie angemwiefen. Für unfere Induftrie iſt daher die Zahl der Feinde größer als für die Triegführende deutfhe Nation. Diefe bat es nur mit den erflätten Yeinden zu tun, jene aber hat außer den feindlichen Induſtrien auch alle an den Feind Tiefernden Induſtrien zu überwinden. Dies gilt vor allem im Hinblid auf das Verhalten der Vereinigten Staaten, von denen wir wiſſen, daß ein großer Teil der führenden Induſtrieleiter deutſcher Herkunft find. Das deutfche Voll aber hat die Pflicht, die Erinnerung an die amerilantfchen, unfere Feinde begünftigenden Munitionslieferungen für alle Zeiten wach zu erhalten.

Es ſoll zum Schluffe nochmals des deutſchen Außenhandels gedacht werben. Es ift wahr, er ruht zurzeit fait vollftändig. Aber verloren gebt er unferer Snduftrie nicht, denn nicht engherziger Krämergeift und das Befcheiden mit Selegenheitsgefhäften oder zufälligen Augenblidserfolgen haben Deutſchlands Anteil am Welthandel erobert, fondern rajtlofe Zätigleit, zielficheres fcharf durhdadtes Vorgehen, eijerner Fleiß und höchſte Muftergültigkeit der auf den Markt gebrachten Erzeugnifje, waren die Waffen, mit denen Deutfchlands

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Handel und Induſtrie am Weltmarkte auftraten. Was hiermit bereitS erreicht war, wird wieber erreicht und übertroffen werden. Mag England uns getroft unfere Patente ftehlen; was durch fie geſchützt tft: deutſche Denk- und Erfinder- arbeit kann es uns nicht entwenden. So berichtet die Statiftil des Kaiferlichen Patentamtes bereits für die Woche vom 9. bis 14. November von 389 Patent- anmeldungen, während für normale Zeiten die Zahl 300 als Durchſchnitt gelten kann. Mögen unfere Feinde immerhin bemüht fein, auf unlauteren Wegen in den Befib deutſcher Preisliften, Kataloge, Abbildungen und Zeichnungen von Maſchinen, ja Kundenverzeichnifie zu gelangen; es ift töricht zu glauben, daß in der Aufregung einiger SKriegsmonate der durch raftlofe Zätigleit gewonnene VBorfprung der deutſchen Induſtrie eingeholt werden kann. Im übrigen liegt in allen am Krieg beteiligten Staaten der Außenhandel ebenfalls derart darnieder, daß tatfächlicd die Vorberfage des „London Cconomift”, der Krieg werde für England ein ſchweres wirtfchaftliches Unglüd darftellen, ſich durchaus bewahrbeitet hat. Hält man die heutigen VBerhältniffe in Deutſchland dagegen, fo tft e8 gerechtfertigt, wenn das deutſche Volk feiner Induſtrie volle Bewunderung entgegenbringt und auch weitreichende Unterftügung für die von ihr übernommene große nationale Arbeit.

Ein jeder von uns kann hierbei mit helfen, wir brauchen nur den Weg zu befchreiten, den uns unfer nationaler Stolz vorfchreibt. Denn es tft unferer unwäürdig, wenn fi) unjere national begeijterten Männer mit engliſchen Stoffen Heiden, wenn unfere Frauen und Töchter, deren Gedanken beim lämpfenden Heere weilen, franzöfifhen Moden buldigen und franzöſiſche Toilettemittel ge- brauchen, es ift unferer unmwürdig, wenn unfere Brautpaare, außgerüftet mit in England oder Amerifa erzeugten Handſchuhen vor das Antlit des deutfchen Gottes treten, wenn die Ausftattungsgegenftände des deutſchen Heims mit englifden oder amerikaniſchen Werkzeugmafchinen bergeftellt werden; wenn die Scholle, die das deutſche Volk ernährt, mit bemfelben amerifanifhen Stahl bearbeitet wird, der die Söhne eben diefer Erde zu Boden ftredt; es ift endlich unferer unwürdig, wenn die engliſche Stablfeder deutiche8 Denken dem Papier anvertraut.

Ebenfo wie in ſprachlicher Hinfiht verlangt auch bier die Sauberfeit vaterländifhen Empfindens eine gründliche Reinigung des beutichen Weſens und deutſcher Gepflogenheiten. Die Zeit zu biefer Arbeit aber ift gelommen.

Das Eindringen Englands in Agypten

Don Prof. Dr. Gottlob

I.

RE er große Britenhaffer Napoleon der Erſte fol bei feiner erften Unterhaltung mit dem Gouverneur der Inſel St. Helena gejagt | gasen Agypten fei dag twichtigfte Land der Erbe. Man barf biefe

* Korſen betrachten, die auf die Demütigung Englands Binaus- fefen. Wenn fi Heute, ein ganzes Jahrhundert Später, unfere antienglifchen Gedanken und Wünfche wieder um das PBharaonenland drehen, fo find immerhin bemerfenswerte Unterjchiede vorhanden. Napoleon wollte Agypten als Zwifchen- ftation benugen, um von dort aus gegen die Engländer in Indien vorzugehen. Heute find die Briten die Herrn im Nillande felbft. Ihre Truppen find zwar nur zum Zeil Europäer, aber alle find europäifch geichult und europäiſch auß- gerüftel. Bon dem Maffenheer, das jett in Ägypten aufammengezogen ift, müffen die Türken alfo wohl ernften Widerftand erwarten, einen nachhaltigeren jedenfalls, al8 der war, den die Mameluden gegen Napoleon geleiftet Haben. Der Wert Ägyptens an fi ift gewachlen einmal durch den Suezkanal, fodann auch als Eingangstor zu dem mittlerweile englifch gewordenen inneren Afrika.

Das Unternehmen Napoleons ift durch die Seeſchlacht bei Abufir gefcheitert, dadurch, daß Nelfon die franzöfiiche Flotte vernichtete und ihm damit die Ber- bindung mit der Heimat, den Nachſchub an Truppen und Kriegämaterial verlegte. Man kann trogdem nicht fagen, daß die Erpedition von 1798 für Frankreich ganz nutzlos gewejen fei. Im Gegenteill Die franzöfiſche Kultur, franzöfiiche Dentart und Unternefmungsluft fanden feitdem in Agypten dankbare Aufnahme. Das Franzöſiſche ift fogar Heute noch im Nillande die beliebtefte Umgangsiprache der @ebildeten und fogar im Verkehr mit den Behörden zugelaflen; in Boft-, Eijen- bahn⸗, und Zollſachen fommt man mit Franzöſiſch am eheiten durch. Daß man von diefer Borzugsftellung des Franzöſiſchen, die iegt allerdingd nad) und nad die Konkurrenz des Engliſchen auszuhalten hat, in Frankreich auch wirtichaftliche Borteile Hatte, braucht faum erwähnt zu werden. Hätten die Franzoſen da8 urfprüngliche Übergewicht, das fie im Nillande befaßen, nur richtig ausgenutzt!

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Allerdings Haben ſchon in ben dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts frangöfifche Offiziere dem Schöpfer des neuen Ägyptens, dem Vizekönig Mehemed Ali (1811 bis 1848) geholfen, fein Heer auf einen neuzeitlihen Fuß zu bringen, und aud) einige Verwaltungsverbefjerungen find von Franzoſen eingeführt worden. Da8 wurde aber gar zu fehr in den Schatten geftellt einmal durch die große Menge von Schwindlern und Abenteurern, die aus Frankreich berüberfamen, um fih an den Ufern des Nild zu bereihern, fodann aud durch eine nie geſehene Verſchwendungsſucht ägyptiſcher Herricher, die fi) Franzoſen in die Hände gegeben und von diefen dann gründlich außgebeutet wurden.

Agypten ift flaatSrechtlich Heute noch ein Zributärftaat der Türkei. Bon ber jüngft ausgefprochenen Annerion dürfen wir ja wohl abjehen. Ob fie in Geltung bleibt, wird der gegenwärtige Krieg entſcheiden. Türkiſch geworden ift dag Nilland bereit8 im fechzehnten Iahrhundert. Sultan Selim der Erfte bat dag Land 1518 erobert und in eine osmaniſche Provinz vertwandelt; aber aud) als foldje erfreute es fih immer einer gewiflen Unabhängigkeit. Die Grundlage des gegenwärtigen Berbältnifies zur Pforte bilden Verträge Mehemed Ali mit dem Sultan von 1840 und ein darauf gegrünbeter German von 1841. Der Wortlaut diejeg Fermans tehrt feitdem in den Beitallungsurfunden der Vizekönige immer wieder; er wird gewöhnlih nur in den Sägen abgeändert, die dem Khedive eine erweiterte Be- fugni8 einräumen follen. Den Zitel „Khedive” führen die ägyptiſchen Herricher feit dem Jahre 1867; er heißt foviel wie „Herr“ oder „Fürſt“. Das SKhebivat ift in der Familie Mehemed Alis erblich nah dem Rechte der Erftgeburt. Die Abgaben werden im Namen de8 Sultans erhoben; es fteht diefem aber von ben Staatseinfünften nur ein jährlider Zribut von 17160000 Franken zu; die Zivil- Iifte de SKchedive und feiner Familie beträgt 7280000 Franken. Für das Heer, das der Vizekönig unterhält, ift die Höchſtgrenze in gewöhnlichen Zeiten 18000 Mann. Dem Sultan obliegt die Vertretung Agyptens nad) außen. Der Khedive Bat aber feit 1873 das Recht, felbftändig Handelöverträge zu ſchließen. Er fann ferner Zölle erheben und türkiihe Geldmünzen jchlagen; in feinem Namen wird Hecht geiprochen, und er befegt die militärifhen und Zivilftellen bis zum Grade des Bey oder Oberfi. Die Bejegung der höheren Stellen follte verfaffungsmäßig durch den Sultan geſchehen; tatfächlich Hat aber feit dem Jahre 1882 wenigftens in der Beſetzung der Militärpoften die englifche Regierung die Befugniſſe des Sultans an fi) genommen.

Der ägyptiſche RegierungSapparat hat die gewöhnliche europäiſche Einteilung. Die Regierungsweiſe ift grundfäglich felbftherrlih; man findet aber auch ſchon Anſätze zum Parlamentarismus. Der „Sefetgebende Rat“ und die „Sejeßgebende Berfammlung“, die ſich beide mit den allgemeinen Landesangelegenheiten befafien, lafien ſich als angehende parlamentarifche Körperfchaften bezeichnen. Beide haben indes nur ein beratende8 Votum; die Regierung ift an ihre Zuftimmung nicht gebunden. Es drängt fi) übrigens jedem leicht die Beobadtung auf, daß ſich ber Bildungsftand der Bevölkerung für parlamentarifche8 Leben noch wenig eignet. Das Land ift jabrhundertelang der alttürfiihen Paſchawirtſchaft unterworfen gewefen, deren Regierungsweisheit ſich befanntlich in der Dreiheit: &igentums- beraubung, Frohndienſt und Brügelitrafe erihöpfte. Durch die jahrhundertelange Mipwirtichaft, die übrigens ſchon lange vor der türfifhen Eroberung angefangen

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bat, ift da8 Boll in allem unluftig und gleichgültig geworden, und in den berrichenden SKlaffen ift vielfach fittliche Korruption eingerifien. Es fiebt leider auch nicht danach aus, als ob die jett eindringende europäifhe Kultur in dieſen Mißſtänden Mangel ſchaffen werde. Bon den im Orient fich aufhaltenden Fremden find ja die wenigften als Kulturträger tätig oder geeignet.

Man darf bei Erwähnung der Fremden in Agypten nicht bloß an bie europäifchen Reijenden denten, die bes milden Klimas wegen oder um die groß- artigen Biftoriihen Denkmäler au befuchen, jedes Jahr in Scharen dorthin ſtrömen; aud nicht in eriter Linie an diejenigen, die ihren privaten Erwerb im Pharaonenlande fuchen. Nein, feit den Reformen in der Verwaltung, die namentlid Mehemed Ali und Ismail Paſcha eingeführt Haben, find in allen Zweigen des öffentlihen Dienfte8 aud die europälfhen Beamten zahlreih. Ohne biefe europäiſche Hilfe hätten ſich die Beſſerungen gar nicht durchführen laflen. Welches Heer von Beamten bat allein ber Suezfanal mit einem Sclage nad) Ägypten geworfen!

Der Suezlanal ift 1858 bis 1869 gebaut worden. Der Gedanke einer Waſſerftraße vom Mittelländifhen zum Roten Meere, reicht, foviel wir feben fönnen, bis in da8 vierzehnte Jahrhundert vor Chriſtus zurüd. Diefer alte Plan betrifft die Ktanalverbindung vom öftlihen Nilarme durch das Wadi Tumyla zu der nordweftlihen Bucht des Noten Meered. An dieſem Waſſerwege fol nad den Forſchungen des Berliner Agyptologen Profeſſors Lepfius ſchon von König Ramſes dem Zweiten, dem Zeitgenofien des Mofes, gegraben worden fein. Ob er jemals vollendet und in Gebrauch geweſen ift, davon erfährt man nichts. ebenfalls ift er fpäter wieder verfandet. Der jekt ausgeführte Kanal läßt den Nil ganz unbenugt und gebt von dem innerften Winkel des Golfs von Suez faſt in gerader Linie nah Norden. Bon natürlihen Senfungen liegen nur die fogenannten Bitterfeen und der weiter nördlich gelegene Kleine Zimfab-See in der BVaflerftraße, der Menfale - See dagegen wird öftlih umgangen. An den Bor- arbeiten des Projelt3 find in den vierziger und fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Ingenieure verjchiedener Nationalität beteiligt geweſen; der eigentliche Schöpfer bdesfelben war ber Öfterreicher Negrelli, der aber 1858 vor Inangriff- nahme des Baues geftorben if. Seine Berechnungen, Pläne und Zeichnungen wurden dann von dem Franzoſen Ferdinand Leflepg erworben. Leſſeps wurde der Sroßunternehmer, der den Ruhm, Erbauer des Suezkanals zu fein, allein geerntet Hat. Zur Ausführung des Gedanken? wurde zunächſt eine große Aktiengejellihaft, die „Compagnie universelle du Canal maritime de Suez“ gebildet, die 1858 mit der Ausgabe ihrer Anteilfcheine zu je 500 Franken begann. Das Aktienkapital war anfangs auf 200 Deillionen Franken berechnet; e8 wurden aber tatfächlid mehr als 600 Millionen gebraudt. Mehr als die Hälfte der urfprünglid; außgegebenen 400000 Altien wurden in Frankreich untergebradt; nicht ganz fo viel, nämli rund 177000 Aktien, übernahm der Vizekönig Ismail Paſcha. Schon bei dem Altienverfauf zeigte fich die Mißgunft Englands gegenüber dem Unternehmen, einmal dadurd, daß ſich das engliihe Kapital der Aufnahme der Stüde enthiell, vor dem Anlauf der Aktien wurde amtlich gewarnt jodann auch dur Schwierigkeiten, die dem Berlauf der Aktien an den Börfen bereitet wurden. Dieje Enthaltfamkeit Englands bat big nach der Tertigftellung

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des Kanals angehalten, was um ſo empfindlicher war, als die Bauausführung mehrmals neue Anleihen nötig machte. So kam es, daß die Aktien zeitweilig ſogar unter der Hälfte des Nennwertes verkauft wurden. Ja, die Kanalgeſellſchaft war ſogar noch 1871, alſo bereits nach der Fertigſtellung des Kanals, in größter Geldklemme. Es Bing das freilich damals auch mit dem deutſch-franzöfſiſchen Kriege und mit dem großen Geldbedürfnis Frankreichs für unſere Kriegsentſchädigung gufammen. Später, als die Aktien durch den zunehmenden Schiffsverkehr ſchnell in die Höhe gingen, da bat England gekauft, und Beute erfreuen fi) die Befiger der Suezlanalaftien einer ungefähr achtfachen Rente.

Die engliſche Mißgunſt gegenüber der ägyptifhen Waſſerſtraße zeigte fidh übrigen? nicht bloß auf dem Geldmarkte, fondern fie Hat auch diplomatiich der Bauausführung Schwierigfeiten bereitet. Im Auftrage des Lord Palmerfton, der damals das Kabinett von St. James beherrichte, wurde zum Beiſpiel gleich zu Anfang der Sultan mit der Sorge erfüllt, Agypten möchte durch den Bau des Kanals in Abhängigkeit von Frankreich geraten. Die dadurch bewirkte abwehrende Haltung der Pforte konnte nur durch da8 Eingreifen Napoleons des Dritten mittel8 des Verſprechens, den Waflerweg zu neutralifieren, befeitigt werben. Ein fernere® Mal ftellten fi) die britiihen DMenfchenfreunde um die Freiheit der ägyptiihen Stanalarbeiter befümmert. Khedive und Sultan wurden zu verdrießlidhen Mapregeln veranlaßt, um von Fellachen, Armeniern, Negern ufw. jeden Zwang fernzuhalten. Nun, der Kanal ift trog al diefer Hindernifie doch in verhältnis- mäßig furger Zeit fertig geworden. Im Mai 1869 Hatte der Khedive Ismail die Genugtuung, die europäifchen Höfe befuchen zu dürfen, wobei er die Herricher auf den Herbſt zur Eröffnungsfeier einlud. Die offizielle Einweihung fand am 17. November unter großen Zeremonien ftatt. Die Kaiſerin Eugenie, der Kaiſer von OÖfterreih, der Kronprinz von Preußen und andere hohe Herrichaften waren zugegen.

Uber bie weltwirtichaftlihde Bedeutung bes Suezkanals braudt man fein Wort zu verlieren. Es genügt der Hinweis, daß es jekt der Hauptwaflerweg nad) Indien, China, Japan, Oftafrifa und Xuftralien if. Die Zahl der jährlich paffierenden Schiffe betrug im Jahre 1912 über 5300. Davon waren 3335 englifche, 698 deutfche, 221 franzöfiihe. Die Einnahme aus den Pafjagegebühren beträgt jest jährlih rund 136 Millionen Franken.

1.

Die Vollendung des Suezkanals war die größte, aber auch die legte große Tat de Sranzofentums in Agypten. Bon da ab geht es mit dem Einfluß Frankreichs abwärts. Man Hat das auch als Folge bes beutich - franzöſiſchen Krieges Hinftellen wollen, und tatſächlich hat die Regierung der Republif nach 1870 nit mehr den Mut gefunden, dem fi immer ftärker geltend machenden Wettbewerb der Engländer in Agypten energifch entgegenzutreten. Das war aber ihre eigene Schuld, ihre eigene Blindheit. Die Franzoſen braudten bloß ben von ihnen geihloffenen Frankfurter Frieden ehrlich anguerfennen, dann hätten fie von Deutſchland nichts zu fürchten gehabt. Der Beweis dafür liegt in ihrem un- geftörten Eindringen in Zuniß. |

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Die engliſche öffentliche Meinung gegenüber dem ägyptiichen Kanal hat ſich nach der Vollendung desſelben natürlich von der urſprünglichen Mißgunſt ſehr bald zu dem Verlangen bekehrt, ihn in den eigenen Beſitz zu bringen. Wir werden ſogleich ſehen, mit wie einfachen Mitteln dies erreicht wurde. Und nicht bloß der Suezkanal iſt tatſächlich in den engliſchen Machtbereich gekommen, ſondern auch das ganze Pharaonenland!

Eine erſte offizielle Handhabe, um in Agypten Einfluß zu gewinnen, wurde den Briten durd) die Geldverlegenheiten Ismail Paſchas geboten. Diefer Herrſcher Batte Leute, hauptſächlich Franzoſen, um fi), deren moralifche Eigenſchaften weder ihm jelbft, no dem Lande zum Guten gereichten. Lorb Cromer nennt den Ismail ſelbſt einen „oberflächlichen Zyniker“, der „jeine Handlungsweiſe ſyſtematiſch auf der Anſicht begründete, daß fein Menſch ehrlich ſei“'. Ismail Bat in den erften dreizehn Jahren feiner Regierung, in denen er noch frei über die Staat$- einkünfte verfügte, die ägyptiſche Schuld von rund 60 Millionen Franken auf rund zwei Milliarden vermehrt. Er verbraudte im Durchſchnitt jedes Jahr 140 Millionen. Als im Sabre 1875 von dem Engländer Mr. Cave eine Rechnungs⸗ überfiht über die Jahre 1864 bis 1875 gemacht wurbe, ergab fi) erftens, daß die Sefamteinnahme um rund 60 Millionen geringer war, als die berechtigten und unberedtigten Ausgaben; zweitens, daß der vorhandenen großen Berfchuldung außer dem Suezlanal feine neuen pofiven Werte gegenüberftanden. An dem Kanal war Agypten mit rund 83 Millionen Franken beteiligt; drittens ging aus der Rechnung bervor, daß dag ganze Ergebnig der ägyptiſchen Anleihen und der fhwebenden Schuld zur Zahlung der Zinſen und Amortifationen aufgebraucht wurde. Mit anderen Worten: Agypten ftand damals unmittelbar vor dem Staats- banterott. Der Khedive felbit juchte fich noch zu reiten, indem er plöglich feinen geſamten Beſitz an Suezaltien zum Berfauf ſtellte. Loyalerweiſe bot er fie zuerft Sranfreih zum Kauf an, dann aber, ald die Regierung der Republit noch zögerte zuzugreifen, England. Disraeli nahm fih nicht einmal die Zeit, erft ben Minifterrat zu befragen, fondern war fofort bereit und gab dem Londoner Bank⸗ baufe Rotbichild unverzüglid Anweifung, dem in Not befindlichen Ismail vier Millionen Pfund vorzuftreden. Die einzelne Altie, die jett über 4000 Franken foftet, wurde in dem Berlaufsgefhäft zu 568 Franken bewertet. Gegenüber der ungeheuren Schuldenlaft war der Erlös natürlih bei weiten nicht genügend, fondern der drohende Krach trat im Frühjahr 1876 ein, indem der Khedive die Einlöfung feiner Schatzamtsſcheine einftellte.

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Bon den Reformen, die in den Jahren 1876 big 1882, daß beißt bis zum Übergang des Landes in das vorläufige Patronat von England, in Agypten eingeführt wurden, will id) nur die Hauptfädhlichfien nennen. Das erfte war bie Einjegung einer Kontrolmiffion für die Verwaltung der öffentliden Schulden. Die Berordnung des Khedive darüber datiert vom 7. Mai 1876. Die Kommilion beftand in der Reihenfolge ihrer Ernennung aus einem Franzoſen, einem Oſter⸗ teiher, einem Italiener und einem Engländer. Der Engländer, Lord Cromer, wurbe erft zu Anfang 1877 ernannt, weil Lord Derby, der ehemalige Minifter des Auswärtigen, einen offiziellen Vorſchlag, wie er von den drei anderen

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Regierungen gefchehen, abgelehnt Hatte. Die Ernennung Eromerd geſchah nur auf privaten Vorſchlag Hin. Solange, als andere Regierungen noch mitredeten, hütete fi England vor jeder offiziellen Vertretung im Schoße der fhedivialen Regierung. Das Kabinett von St. James wollte freie Sand behalten und ver- handelte alfo mit Ägypten gleichfam nur von außen, nur durch Vermittlung des englifhen Generalfonfuls in Kairo; es wollte nicht durch eigene Mitwirkung am Zuftandefommen ägyptifher Beichlüfle diefen gegenüber gebunden fein. Dabei war es gewohnt, daß feine Konnationalen Ihon von felbft im Sinne ihrer beimifhen Regierung Banbelten, und England war zugleich willeng, jeden Beſchluß der ihm unbequem war, in ber Ausführung zu hindern. Auf dieſe Weiſe durften die Briten am ebeiten Hoffen, in allem ihren Willen durchzuſetzen. Jedenfalls gelang ihnen da8 gleich bei der Schuldenkontrollmiffion. Diefe hatte die geſamte Schuld Ägyptens auf 91 Millionen Pfund berechnet und biefelbe fogar ſchon dur) Berordnung be Khediven zu diefer Summe konſolidieren laffen. Damit war aber England unzufrieden. England wollte, daß gewiffe ältere Anleihen von der unifizierten Berechnung außgefchloffen und einem befonderen Zinfendienft vor- behalten würben. Nach langen Berbandlungen mußte die Kommiffion zufrieden fein, daß noch neben ihr ein Engländer und ein Franzoſe als Vertreter nicht der Regierungen, fondern ber Gläubiger, der Obligationeninhaber, ernannt wurden, und dieſe ftellten dann eine neue Berechnung auf, und fo wurde bie unifizierte Schuld auf 59 Millionen Pfund bHerabgefegt; der Staatshaushalt wurde aller- dings durch die abgetrennten Einfommenverwaltungen und Sinfendienfte wieder verwidelter und weniger überfihtlih. Dafür Hatte aber England ein Heilmittel, dad fowiefo, wenn die ägyptifhen Finanzen in Orbnung gebradt und in Ordnung gehalten werden follten, nicht zu umgehen war. Auf Vorſchlag des Lord Goſchen wurde nämlich kurz darauf ein oberfter Rechnungshof eingerichtet und natürlih ausſchließlich mit Engländern befegt. Das ägyptiſche Rechnungs- weſen ift feitdem immer in britifchen Händen geblieben. In der unfdeinbaren Maste einer bloßen Rechnungsbehörde erreichte England erftens, daß es allein den ganzen und vollen Einblid in die ägyptiſchen Sinanzen Halte, ſodann dehnte es damit indirekt ſchon 1876 feinen Einfluß auch auf die allgemeine Qandesver- waltung aus. Der Einfluß auf die allgemeine Landesverwaltung war überhaupt das Biel, da8 bie Engländer ſich fegten, nachdem die Schuldfontrolle eingerichtet war. Demjelben Ziele diente auch ber Vorfchlag einer Unterfuchung des gefamten ftaatlihen Einfünfte- und Ausgabewefend. Da Ismail PBafcha Hinter diefem Vorſchlage ſchon die fünftige Beichränfung feiner abfoluten Machtvollkommenheiten witterte, jo fträubte er fic) Tarıge dagegen. Die Engländer nahmen aber, um ihre Forde⸗ rung durchzuſetzen, die anderen Mächte zu Hilfe, und fo mußte der Sthedive nachgeben und im April 1878 die betreffenden Vollmachten erteilen. Um ben guten Schein zu wahren, wurben die vierSfommifiare bei ber Schuldenverwaltung zu Ditgliedern und außerdem Ferdinand Leſſeps zum Borfigenden und ein weiterer Franzoſe zum Sefretär der Unterſuchungskommiſfion ernannt. Leſſeps hat aber an den Verhandlungen gar nicht teilgenommen, fondern ber eigentliche Leiter derfelben war der Bizepräfibent Sir Rivers Wilſon, und als den tatfächlichen spiritus rector lernen wir Lord Cromer fennen. Die Zuftände, die durch die Unterfuchung aufgededt wurden, fann ih im einzelnen nicht fchildern. Das zufammenfaflende Ergebnis war,

Das Eindringen Englands in Aegypten 15

daß bie beftehende ägyptiſche Verwaltung fih um Geſetze und allgemeine Ber- ordnnungen nicht fümmerte. Die Beamten Tannten die Gefege ebenjowenig wie die Untertanen. Neue Steuern, alte Steuern wurden durdeinander erhoben und in ihren Beträgen vermehrt ober verändert, wie es höheren Ort8 gerade paßte. Der Dorficheif führte einfach die Befehle des Mudir aus, und der Mudir handelte, je nachdem der Befehl von oben lautete. Der „höhere Befehl”, der gewöhnlich gar nur mündlich erteilt wurde, bildete das einzige Geſetz, und fein Menſch wagte dagegen zu proteftieren. Und wie die die Methoden der Einziehung der Steuern ungeleglih waren, fo war auch die Verfchwendung in den Ausgaben an feine Regel gebunden. Aud Hier galt nur der „höhere Befehl”, und bie jchlimmiten, bie Eoftipieligften Befehle famen gewöhnlich vom Sthedive felbit, oder wenigftens aus feiner Umgebung. Ich kann leider auch hier auf Einzelheiten nicht eingehen, obihon oft recht ergögliche Bolten in der Staatsrechnung begegnen. Übrigens ift nicht einmal bei.allen Ausgaben der Zweck angegeben, fondern e8 fteht dann einfach Hinter dem betreffenden Poſten: „on n’a pas pu rendre compte.“

Die Lehren, die aus der Unterfuhung gezogen wurden, lafien fih in die brei Forderungen zufammenfaflen: Beſchränkung der Autorität des Sthedive, Auß- ſcheidung einer Zivillifte und Einführung der Minifterverantwortlichleit. Natürlich bat fi) Ismail Paſcha lange dagegen gefträubt; aber endlich Hat er doch nadj- gegeben. 9a, er war fogar zufrieden, daß feine Privatgüter in Die ftaatliche Kontrolle famen und daß ein Armenier, Nubar Paſcha, mit der Bildung eines verantwortlihen Miniſteriums betraut wurde. Der Engländer River Bilfon wurde zum Finanzminifter und ber Franzoſe de Bligniere8 zum Minifter der öffentlichen Arbeiten ernannt. Die Praxis des Fonftitutionellen Eyſtems gefiel dem Khedive natürlich gar nit. Infolgedefien begann er fchon bald gegen fein eigenes Deinifterium an intrigieren. Er bewirkte im Sabre 1879 eine Militär- revolte, jo daß da8 Minifterium Nubar Paſcha zurüdtreten mußte. Da der Khedive Ismail Paſcha nun zu dem alten abfolutiftiichen Regierungsſyſtem zurüd- fehren wollte, und er außerdem Miene machte, feine Armee auf 150000 Mann zu verftärfen, fo gelang e8 England verhältnismäßig leicht, die Großmächte von der Notwendigleit der Abfegung des Khedive zu überzeugen. Frankreich und Stalien gingen darin zwar nur miderwillig mit, da fie von ber Entfernung Ismails die Minderung ihres Einfluſſes fürdteten. Um aber da8 Wiederaufleben der türfifchen Obmadjtftellung in Agyten, die England ihnen androhte, gu ver- meiden, gaben fie endlich nah, wie auf ber anderen Seite auch der Sultan e8 borzog, daß der Regierungswechſel in Kairo wenigſtens fcheinbar von ihm, anftatt von England und Frankreich ausging. So wurde aljo Ismail am 26. Juni 1879 abgejegt, und fein englandfreundlider Sohn Tewfik beftieg den fhedivialen Thron. Die Bevöllerung von Kairo und Umgebung erbielt erft Kenntniß von der Ber- änderung, als die Kanonen der Zitadelle den neuen Herricher begrüßten. |

Tewfit Paſcha Hat von 1879 big 1892 regiert. Wie fehr er die Zufriedenheit Englands gefunden, erfieht man aus dem Berichte Lord Eromerd, der von ihm fagt, er Habe zwar feine rechtmäßigen Vorrechte behauptet, aber vermöge einer „natürlihen Neigung zum Konſtitutionalismus“ nur „dur und mit feinem Minifterrat regiert“. Im diefem Winifterrat Temwfil8 Batten die Europäer nur tonfultative Befugniffe. England und Frankreich wurden wieder zwei ®eneral-

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tontrolleure zugeftanden mit beratender Stimme im Minifterrat. Ihre Stellung war von der früheren unter Ismail Paſcha infofern verfchieden, als beide Beneral- fontrolleure offiziell von ihrer heimischen Regierung ernannt waren und aud), ohne Zuftimmung ihrer Regierungen, nit entlaffen werden fonnten. Ihre Sendung war alfo von jet an eine politifche, wobei jedoch zu bemerken ift, daß die ſpezifiſch politiſchen Geſchäfte, will fagen die Angelegenheiten, in die fidh Die auswärtigen Mächte mifchten, nach wie vor dur die Hände der Generaltonfuln gingen. Der britiihe Generalfonful wurde fogar jegt mehr noch als früher bie wichtigfte regierende Stelle de8 Landes. Die Unterfuhungstommiffion über Die Zanbesverwaltung wurde im Sabre 1880 zugleich als Liquidationstommilfion eingelegt mit der Vollmacht, die Finanzlage in Ordnung zu bringen. An ber Spike derfelben ftand Sir Rivers Wilſon; nebenbei bemerkt erhielt auch Deutich- land jett einen Bertreter in der Perſon eine Herrn von Tresdow. Die beiden ®eneralfontrolleure waren ber Franzoſe de Blignieres ſeitens Englands erft Lord Eromer, dann feit Juni 1880 Lord Eolpin.

So ſchien alfo die Regierung Tewfiks aufs befte eingerichtet zu fein. Dap der neue Herrſcher aber nicht auf Rofen gebettet war, dafür forgte ſchon die gegen- feitige Eiferfucht der beiden Weſtmächte. Über die Abfiht Englands, fi im Killande feitzufegen, Hatte den Franzoſen wohl die Belegung der Inſel Cypern bereit3 im Sabre 1878, unmittelbar nach dem Berliner Kongreß, zuerft die Augen geöffnet. Dan hatte zwar damals verlauten lafien, durch dieſe Befegung jolle nur ein Drud auf Petersburg ausgeübt werden; die Okkupation fei nur borüber- gehend. Rußland follte gewiſſe Punkte im Kaukaſus, die e8 in dem foeben beendeten Kriege mit der Türkei in Befig genommen, an ben Sultan zurüd- fielen. Das war aber nur ein Borwand gemwefen, eine Ablenfung der Auf- merlfamfeit vom eigentlichen Ziele. Die Belegung der Infel galt in erfler Linie dem Suezlanal und den Nilmündungen, daneben vielleiht auch noch den Abfichten Rußlands auf Armenien. Cypern befindet fi) befanntlich Heute noch in englifchen Händen.

Keben Häleleien und Berftimmungen der Diplomaten machte fi) bald nad) der Thronbeiteigung Tewfiks auch unter den ägyptiſchen Notabeln und beſonders auch bei den Militärd wieder Unzufriedenheit geltend. Das lektere Bing, ab- geſehen von nationaliftiihen Beftrebungen, zum Teil mit rüdftändigen Sold⸗ zahlungen zufammen; in der Sauptfache aber Hatte die Enilafjung einiger taufend Offiziere viel böjes Blut gemacht. Auf den Rat Englands bin hatte der Khedive ſeine Zruppenzahl auf 4000 Mann berabgejegt. Die ägyptifche Streitmacht follte nad dem Willen der engliihen StaatSmänner bloß ben Zwed einer Polizeitruppe baben. Es gab nun bereit am 1. Februar 1881 wieder. eine Meuterei, die zur Entlaffung des Kriegsminiſters führte. Die Aufftandsbewegung wurde zwar ver- bältnismäßig leicht unterdrüdt; fie hatte aber auf der einen Seite die böfe Yolge, daß fie den Offizieren ihre Stärke zeigte; auf der andern legte fie den Gegenſatz zwiſchen England und Frankreich offen. Der franzöſiſche Generalfonful Baron de Ring batte nämlich die Unzufriedenheit geihürt, da ihm daran gelegen war, da8 ganze englandfreundlide Minifterium zu ſtürzen. Diefer Wunſch ift ihm freilich nit in Erfüllung gegangen. Im Gegenteill Das Winifterium blieb und de Ring felbft murde von Parig aus auf die Beichwerbe des Khedive Bin

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von feinem Poften entboben. &8 ließ fi) aber erwarten, daß da8 Einvernehmen ber beiden Weſtmächte überhaupt nicht mehr lange dauern werde.

i Die weitere Entwidiung ber Dinge in Agypien erhielt ihren mäcdhtigften Antrieb durch den Infanterieoberſten Achmed Arabi, einen‘ Eingeborenen des Landes von fellahifher Abftammung. Arabi Hatte fich ſchon bei der Militär- revolte vom Februar 1881 bervorgetan. Er war damals ohne befondere Strafe dapongelommen. Einen noch befleren Erfolg Hatte er bei einer zweiten Meuterei im September besfelben Jahres. Zwar fcheint die unmittelbare Beranlaffung dazu eine unpolitifche Angelegenheit gewejen zu fein, nämlich die Verlegung von Arabis Regiment von Kairo nad) Alerandrien. Da er und feine Offigiere aber dahinter Rachepläne des Khedive witterten, fo gelang es ihnen, der Sache eine größere Bedeutung zu verleihen und die nationaliftiih gefinnten Militärs dafür zu intereifieren. Die Meuterer verlangten nun vom Bizelönige unter anderem "die Anderung bes Minifteriums und die Bermehrung der Armee auf 18000 Mann. Die erfte Forderung wurde ihnen fofort bewilligt, die ameite nad einiger Zeit, und fo ergab fi) aus der ganzen Sadjlage, daß der eigentliche Herricher des Landes nicht ber Khedive war, fondern ber Oberft Arabi oder, wie ihn eine Lokalzeitung, das Organ der Nrabiitenpartei, ſchon damals nannte, „ber erlaudhte und edelmütige Emir, Seine Exzellenz Achmed Bey Arabi.“ Diejer benahm ſich auch in feinem öffentliden Auftreten und fogar in Anfpraden an das Volk als der Verfechter der Unabhängigkeit des Landes. _

Der Plan Arabis war, die Türkei zum Einfchreiten in Agypien zu veran- lofjien und mit ihrer Hilfe die Europäer zu vertreiben. Zu dem Ende wandte er ih zunächſt an die Pforte mit der Bitte, Kommiffare nad) Kairo zu ſchicken und im Intereſſe der öffentlihen Ordnung ihre Oberboheit geltend zu maden. Die beiden Weſtmächte gingen zwar gegerüber dem Gedanken einer türkiſchen Snter- vention in Agypten in ihren Anfihten auseinander: Syranfreih war dem Plane mit Rüdfiht auf Algier und Tunis ganz entgegen; England Hätte die Büttel- bienfte der Pforte gern benugt ; e8 traute ſich wohl zu, die Türken auf diplomatiſchem Wege in den von ihm gewünſchten Schranken zu halten. Ihm war die Haupt- fache, Frankreichs Anſprüche an Agypten nit mehr wachfen zu lafien; deshalb zeigte es fich einer gemeinfamen Zriegerifhen Aktion abgeneigt, Dagegen .follten die Diplomatifhen Bemühungen ber Sranzofen, auch wenn fie den Einmilchung$- gelüften ber Pforte entgegentraten, von England unterfügt werden. Als Zeichen der auf Grundlage diefer Verftändigung bergeftellten äußeren Einigkeit darf man die Entfendung von Kriegsſchiffen betrachten, die von beiden Mächten zum Yrüb- jahr 1882 berichtet wird, und der das diplomatifhe Mäntelhen umgehangen wurbe, man wolle den Khedive vor ungeredhtem Zwange ſchützen.

Unterbefien war der Einfluß Arabi-Bey8 in Kairo noch weiter gewachſen, „Da man e8 für befier hielt, daß er zur Regierung gehöre, als daß er außerhalb flänbe,“ wurde er Anfang Ianuar 1882 zum Unterftantsfefretär im Kriegsminifterium und bald darauf, bei einem Wechſel des Gejamtminifteriums, zum Kriegäminifter felöft ernannt. Er benugte diefe Stellung einmal dazu, die türkiſchen Sugeränitäts- rechte weiter zu beleben. und zu ftärken; fodann nahm er aud) den Engländern und Sranzofen wichtige StaatSpoften ab und ließ mande von ihnen fogar wegen LZandesverrat3 oder Untreue vor Gericht ſtellen.

Grenzösten II 1915 | | 2

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Lord Granville hatte in Konſtantinopel wiederholt erklären laſſen, England beabſichtige in Agypten nichts weiter, als die Hohheitsrechte der Türkei und bie Autorität des Khedive aufrecht zu erhalten. Als aber der Sultan auf den durch Arabis Vorgehen verurſachten Lärm hin ſeinerſeits Kriegsſchiffe nach Alexandrien ſchicken wollte, trat ihm auf Frankreichs Wunſch England entgegen und richtete die Aufforderung an die Pforte, fi) jeder Einmiſchung zu enthalten. Die ſchon unter Segel gegangene türkiihe Ylotte mußte unfreiwilligen Aufenthalt in Creta nehmen. Um fo mehr waren nun die ägyptiſchen Nationalen zum Wider- ftande entichloffen. Die Generalfonjule von England und Yranfreich Hatten am 25. Mai 1882 in Kairo das Verlangen geitellt, daß Arabi und zwei andere Minifter von der Negierung entfernt und auf unbeftimmte Zeit in da8 Innere des Landes verfhidt wurden. Der Khedive Hatte die Note angenommen. Da jedoch daraufhin ſämtliche Minifter ihre Entlaffung nahmen und die Armee ungzweibeutig zu erfennen gab, daß fie auf Arabi3 Seite ftand, fo mußte Tewfik biefen fofort zurüdrufen und ihm eine Art Diktatur übertragen. Arabi wollte den Spieß nun umfehren; er forderte offen die Abfekung des Khedive. Darob großes Entjeßen und „Iegitime” Entrüftung bei den Briten und ihren franzöfifchen Zrabanten. Um den „Einfluß der Zivilifation zu retten“, follte jegt fogar bie foeben noch lahm gelegte Zürfei gegen die Anhänger der Militärpartei vorgeben. Am 31. Mai trat auf Einladung der Weſtmächte eine Gefandtentonferenz in Konftantinopel zufammen. Mit Rüdfiht auf dieſe, das beißt, um fie möglichft bald wieder 108 zu werden, ließ fi der Sultan zur Entfendung eine neuen Kommiflard nah Kairo beitimmen. Sa, er fandte fogar zwei, den einen offen, den anderen heimlich, und beide Hatten entgegengejegte Inſtruktionen. Derwiſch Baia, dem der Befehl geworden war, ben Arabi-Bey und die widtigiten feiner Anhänger zu verbaften und nad Stonftantinopel zu fchiden, kam in Kairo am 7. Juni an. Pier Tage fpäter brach die Revolution in Xlerandrien aus, Ein halbes Hundert Europäer wurden ermordet, viele andere verwundet, unter ben letteren auch der engliſche und der griehifhe Konful. Das franzöfiidh- engliſche Geſchwader hätte das Maſſakre verhindern können und, man follte meinen, auch verhindern müflen. Da England aber darauf fann, die franzöfifhe Konkurrenz abzufchütteln, zauderte e8 vor einer gemeinfamen Handlung, Frank⸗ reih aber war gleichzeitig mit engliiher Erlaubnis, richtiger Ermunterung, auch in Tunis engagiert und batte dadurch ſchon Italien vor den Kopf geftoßen, Stalien, da8 foeben, am 20. Mai 1882, Mitglied des Dreibunds geworben war; deshalb wagte Frankreich nicht, allein vorzugehen.

Der franzöſiſche Minifterpräfident Batte zur Beruhigung der Abgeordneten noh am 1. Juni da8 Zufammengeden Frankreichs mit England gefeiert; dieſes Zufammenarbeiten werde große Folgen zeitigen. Gerade vierzehn Tage fpäter ertönte aber nun von 2ondon ber ein anderes Lied. England hielt e8 im Ber- trauen auf die Lähmung Frankreichs nicht mehr für nötig, feine wahre Gefinnung au verbergen. Bei Beiprechung der ägyptifhen Vorgänge im Unterhaufe wurbe die Untätigfeit der englifchen ‘Flotte getadelt und von Lord Salisbury die Freiheit zu bandeln gefordert. England müfje das Hecht haben, das Ziel feiner Politik allein zu erreihen. Lord Granville verficherte, daß diefe Freiheit beftehe; ber Admiral Seymour könne Bandeln, wann e8 ihm beliebe. Demgemäß verfuhr

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I.

denn auch ber Abmiral. Als er ſah, dab die Revolutionäre in Alerandrien mit Eifer rülteten und ringe um die Stadt Befeftigungen anlegten, forderte er am 9. Juli die Übergabe der Forts. Am 10. drohte er da8 Bombarbement an, das dann auch in den folgenden Tagen zur Ausführung fam. Die Ägypter antworteten, aber ihre Kanonen trugen nicht weit genug; u Geſchofſe erreichten nicht die feindlichen Schiffe.

Inmitten der Aufregung ließ ſich die neue engliihe Melodie von der Un- abbängigkeit de Handelns ſchon deutlicher vernehmen. Die Konferenz in Kon⸗ ftantinopel hatte am 15. Juli eine Note an den Sultan beichlofien mit der Auf- forderung, Agypten militärifch zu befegen und die Regierung des Khedive iwieder- berauftellen. Der Sultan war dazu bereit, verlangte aber vorher die Zurüdziehung der englifhen Streitkräfte. Die Antwort gab die öffiziöfe Times. Sie be- mängelte den Gedanken einer türkiſchen Intervention und brachte jegt zum erften Male die Idee des engliihen Proteftorat8 vor. Mittlerweile Batten auch die Seymourfhen Kanonen ſchon ihr Werk getan. Am 17. Zuli hißte Arabi auf den Feſtungswerken von Alerandrien die weiße Fahne und zog fi) mit 700 Mann zurüd. Vorher hatte er die Gefängniffe öffnen laflen und den Sträflingen die Freiheit gegeben. Die Stadt brannte, die Europäer wurden maflafriert, die Häufer der Befigenden geplündert. Alerandrien drohte ein einziger Trümmerhaufen zu werden. Mit Hilfe von gelandeten deutſchen (1) und amerikaniſchen Matrojen gelang e8 den angreifenden Engländern, in die brennenden Straßen einzudringen, den gefangenen Sthedive zu befreien und dem Brande und der Blünderung Einhalt zu: tun.

Auch das franzöſiſche Hofpital war zerftört, das franzöfifhe Konſulat ein- geäfchert worden. Wie verhielt ſich denn aber die franzöfiiche Flotte während der Ereignifie? Als da8 Unmelter fi zuſammenzog, die Verwicklung mit den Arabiften ernft zu werden drohte, Tagen die franzöfiſchen Schiffe gemäß Weifungen aus Paris in Port Said vor Anker. Am 10. Juli aber, als der englifche Admiral für den folgenden Zag das Bombardement von Alerandrien verkündigte, verließ der Admiral Konrad den ägyptifhen Schauplag, und damit bat Frankreich das Spiel definitiv verloren gegeben.

In bezug auf die trage, wie die Abftinenzpolitit Frankreichs entſtanden ift, will Lord Cromer feine Leſer glauben machen, es fei hauptſächlich das Mißtrauen gegen Deutſchland geweſen. Er zitiert alle möglichen liebenswürdigen Phraſen, die franzöfiſche Miniſter engliſchen Staatsmännern geſagt oder geſchrieben haben, um zu beweiſen, daß von Verſtimmung oder Mißtrauen gegen England keine Rede geweſen ſei; und England hat natürlich auch kein ſolches Mißtrauen ver⸗ dient! Aus den franzöſiſchen Parlamenisberichten jener Tage gebt unzweifel⸗ baft Bervor, daß dag Mißtrauen gegen England mindefteng gerade fo groß wie gegen Deutihland gewefen if. In der Debatte vom 19. Juli über den von Freycinet verlangten Flottenkredit fchieden fi die Anfchauungen nad) der allgemeinen Barteiftellung. Die Opportuniften mit Sambetta an ber Spige fpraden lädjerlicherweile auch da noch für das Zufammengehen mit England; &lemenceau, der Führer der Radikalen, ſprach für die Abſtinenzpolitik und be- gründete das mit chaupiniftifhen Verdächtigungen Deutichlande. Dem Mißtrauen gegen England Hat den bezeichnenditen Ausdrud ein Vertreter der orleaniftifchen

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Rechten im Senate gegeben. Der Herzog von Broglie erinnerte nämlich an einen Ausſpruch des Fürften Metternich, der jedes Bündnis mit England dem Bündnis zwiſchen Reiter und Pferd verglih: „Ein ſolches Bündnis ift eine ſchöne Sache; man muß nur forgen, daß man der Reiter und nicht dag Pferd ift.“ Ich denke, die tatfächlihe Entwidlung bat dem Herzog von Broglie recht gegeben, und fie gibt ihm noch jeden Zag recht; die Behauptung von den böfen NAbfichten Deutſchlands ift, abgefehen von Tunis, durch den jabrzebntelangen Frieden widerlegt, den Deutihland trotz täglih fich mebrender Provofationen ge- halten bat. |

Doch wir kehren auf den Schaupla& der ägyptiſchen Handlung zurüd. Nach der Einnahme von Wlerandrien verjuchte daß englifhe Meinifterium des Aus» wärtigen für die Eroberung des übrigen Landes zuerſt frembe Hilfe zu gewinnen. Die Briten batten den SItalienern oder Türken die Ehre zugedacht, für daß eng- liſche Intereſſe zu bluten. Da beide Regierungen dankend ablehnten, entſchloß man fi, einige 30000 Dann englifhe und indiſche Truppen nach Agypten zu werfen und vor allem den Kanal zu fihern. Oberfommanbierender wurde Sir Garnet Wolſeley. Bereits am 2. Auguft wurde Suez befekt. In der Nacht vom 19. auf den 20. Auguft landeten die Engländer in Bort Said, nahmen die Berwaltungsgebäude der franzöfiihen Kanalgeſellſchaft in Beichlag und Ichlofien zeitweilig den Durchgang für die fremde Schiffahrt.

Arabi-Bey Hatte ſich von Alerandrien aus nad) Often gewandt. Die vers folgenden Engländer gewannen Yühlung mit ihm am 25. Auguft bei dem Zrümmerfelde des alten Ramſes. Am 5. September erklärte ihn der Khebive nad den Willen Englands zum „Rebellen“. Am 13. wurde er bei Tell-el-Rebir von Wolſeley entſcheidend geſchlagen und eine Abteilung engliſcher Dragoner zog bereit8 am folgenden Tage, ohne den geringften Wiberftand zu finden, triumpbierend in Kairo ein.

Arabi und feine Truppenführer ftellten fi) als Gefangene. Sie wurden gemäß englifhen Weifungen von dem dafür eingefegten Kriegsgericht zum Tode verurteilt und im unmittelbaren Anſchluß daran zu ewiger Verbannung be- gnadigt. Als Aufenthaltsort wurde Arabi nachher Ceylon angewieſen; 20 Jahre fpäter erhielt er dann die Erlaubnis, nad) Ägypten zurückzukehren. Etwa anderthalb Hundert andere Berbannte wurden fon am 1. Januar 1883 begnadigt.

So war alfo dag britifhe Kommando tatfächlich Herr von Agypten, England im Befig des alten Pharaonenlandes. Ein übermwältigendes Ereignis! Ich denke dabei nicht fo ſehr an die große geſchichtliche Vergangenheit bes Nillandes, als vielmehr an feine Wichtigkeit für die Vollendung der britifchen Weltherrſchaft. England verdantte feinen Erfolg: erſtens der richtigen Einfchägung der von ihm zur Sründung feiner Herrfhaft angewandten Mittel in bezug auf Wirkſamkeit unb Genügen; zweitend dem ftändigen Zujammenarbeiten feiner Regierung und

Diplomaten mit den englifch-ägyptifchen Beamten, auch wenn biefe in feinem

offiziellen Verhältnis zur Heimat ftanden; drittens der Einheitlichfeit und Stand⸗ haftigkeit feiner Politit troß eventueller heimifcher Regierungswechſel.

Diefe Säge gelten aud für die weitere Entwidlung der Dinge im Nillande.

Das Eindringen Englands in Aegypten 21

II.

Es war ganz ſelbſtverſtändlich, daß England ſich auf längere Zeit in Agypten einridtete. Um dieſe bittere Pille anderen zu verfüßen und zumal die Sranzofen zu beſchwichtigen, wurbe nun von den englifchen StaatSmännern eine jahrzehnte- lang durchgeführte politiihe Heuchelei in Szene gelegt, die ohne Beifpiel in ber Weltgeſchichte ift und fo recht zeigt, was man von den Berfiherungen englifher Staat8- männer zu Balten bat. England follte an ber Beſetzung Agypiens, wenigftens an der Beſitznahme des Innern, ganz unintereffiert fein; e8 babe das Land, fo hieß e8, nur aus Sorge für das allgemeine Befte, aus Beforgtheit um die Europäer offupiert und e8 halte bie Befegung fernerhin nur aus Mitleid für die armen Fellachen aufredit, fein Wunfch fei aber, das Land möglichft bald wieder au verlafien. Sowiefo wollten die Briten in Agypten beileibe nicht die Herren, fondern nur politiſche Ratgeber fpielen. Schon in dem Rundfchreiben, das Lord Granville einige Monate nad) der Niederwerfung des Arabi - Aufftandes, am 3. Sanuar 1883, an die Mächte richtete, find alle dieſe Ausreden enthalten. „Obwohl gegenwärtig“ beißt e8 darin „eine Macht in Agypten bleibt, um die öffentliche Ruhe aufrecht zu erhalten, fo wünfcht Ihrer Majeftät Aegierung doch, fie zurüdgugieben, fobald der Zuftand des Landes und die Organifation geeigneter Mittel zur Aufrechterhaltung ber Autorität des Khedive es geftatten. In der Zwijchenzeit legt die Stellung, in der fi Ihrer Majeftät Regierung Seiner Hoheit (dem Khedive) gegenüber befindet, ihr die Verpflichtung auf, ihren Rat in Sinfiht darauf zu erteilen, daß die einzurichtende Ordnung der Dinge auch ficher einen azufriedenftellenden Charakter und bie Elemente der Beftändigkeit und bes Fortſchritts erhält.” In diefer und ähnlicher Sprade find alle diplomatischen Berlautbarungen Englands feit 1883 gehalten.

Ich will nod bemerken, daß aud) Lorb Eromer in feinem berüßmten, diplomatifch ſehr vorfichtig geichriebenen Werke, das 1908 erſchienen ift (e8 gibt auch eine beutfhe Überfegung davon von Kontreabmiral Plüddemann), ich fage, daß auch Lord Eromer 1908 noch ſich bemüht, jenen gleißnerifhen Tugendmantel feftzubalten.. Heute, nad) der Annerionderklärung, ift diefe Seuchelet nun über- flüffig geworden und nicht mehr gut möglich.

Was England nad) dem Erfolge feiner Waffen in Wirklichkeit und an erfter Stelle in Ägypten erftrebte, das war die volle Gewalt über daß Heer, über bie ägyptifhe Armee, und ferner die Alleinherrfhaft im Gebiete der Politik und Berwaltung. Die Berfügung über das Heer wurde ziemlich mühelos erreicht erften® durch eine ftarle Beſetzung des ägyptiſchen Striegsminifteriums mit engliidem Militär: von achtzehn Stellen wurden zwölf mit Engländern befekt; fodann durch eine alsbald in Angriff genommene Neuformation des ägyptifchen Zruppenfontingents, durch Nteuaufftellung der Rekrutierung ufw. Der Generalftab der ägyptiſchen Armee befteht feitdem aus Engländern und Agyptern. Sranzofen find bloß noch der Direltor der Militärſchule und der Direktor ber Arfenale. Der Chef des Generalftab8 ift natürlich ein Engländer; er führt den Titel Sirbar (Oberbefehlshaber. Engländer find ferner der Generaladjutant im Nange eine Brigabegenerals, ferner der erfte Grenzlommandant, der Gouverneur von Yualin, der Direltor des Mebdizinaldienftes und der Generalintendant, im

99 Das Eindringen Englands in Aegypten

ganzen fech8 oberfte Generale. Dazu kommen drei Oberften, ‚nämlich der Kommandant von Stairo, ber zweite Grenzkommandant und der erfte Schagmeifter ber Armee, ferner fünfzehn engliiche Oberftleutnants unter zweiundzwanzig. Unter den Grad eines Bimbaſchi ober Major können englifhe Offiziere überhaupt nicht Binabfleigen. Bon der Ägyptifchen Armee zu unterſcheiden war und ift daß britifche Otkupationskorps, das anfangs 35000 Mann betrug und nad) und nad bis auf 3000 Mann herabgefegt worden iſt. Dieſe 3000 Mann ftanden zulegt unter dem Befehl eines engliihen Generalmajord. Augenblidlih ift das Okkupations⸗ forp8 ja nun wohl nußerordentlid vermehrt worden. Man weiß aber nidt, wieviel englifhe, indifhe und auftraliihe Truppen am Suezkanal und im Nil- lande ftehen.

i Auf den Gebieten der Verwaltung, der Juſtiz ufw. fündigte England im Sabre 1883 umfaflende Reformen beziehungsweife Neformpläne an. Es Hatte aber anfangs nod einige Schwierigkeiten mit den Franzoſen. Den Hauptftein des Anftoßes bildete die franzöſiſche Teilhaberfhaft an ber Finanzkontrolle, ber aber bald genug ein Ende gemacht wurde. Sie hörte zunächſt nur tatſächlich da- durch auf, daß der franzöfiihe Bevollmächtigte zu den Sigungen ber verfügenden Behörden nicht mehr eingeladen wurde. Als er ſich darüber beſchwerte, forderte der Vorfitende des ägyptifhen Kabinetts, Scherif-PBalcha, die Regierungen ber beiden Weftmädte auf, die Kontrolle überhaupt aufzuheben, denn fie verftoße gegen das patriotiihe Ehrgefühl der Nationaliften und beeinträchtige das Anjehen des Khedive England tat, als ftehe es diefem Antrage fern, e8 war aber jelbit- verftändlih damit einverftanden. Als Erjag für den Verzicht auf die Yinanz- fontrole und auf den damit gegebenen politiiden Einfluß follte Frankreich den Borfig in ber SKommilfion für bie Verwaltung ber GStaatsichulben haben. Inzwiſchen war in Frankreich Freycinet wegen des biäberigen Fiasſskos feiner Agyptifhen Bolitit fon geftürtt und an feiner Stelle war der. vielleicht noch weniger bedeutende Duclerc Minifterpräfident: und Minifter des Außern geworben. Duclerc lehnte das englifch-ägyptiiche An- erbieten des Borfiteg in der Staatsichulden - Kommilfion entichieden ab. Nun unternahm die engliſche Regierung, die franzöfifche zu zwingen, indem fie drobte, England werde, wenn man ihm in Agypten nicht freie Sand laſſe, den Unternehmungen Frankreichs in Tonking, Madagaskar und am Kongo Hindernifie bereiten. Der Erfolg diefer Drohung war ber Abbruch der Berbandlungen. Lord Granville madte den europäifhen Kabinetten in eben jenem Zirkulare vom Anfang Ianuar 1883 davon Mitteilung. Die Verlegenheit der Briten dauerte indeß nur eine kleine Weile. Am 11. Januar beantragte plöglic Lord Colvin, der engliihe Bevollmächtigte zur ägyptifchen Finanzkontrolle, feine eigene Entlafiung. Die gemeinfame Kontrolle war aljo fernerhin überhaupt nicht mehr möglid. Und wieder eine Heine Weile, da veröffentlichte dag Negierungsorgan, der „Moniteur Egyptien“, am 5. Februar ein Dekret des Khedive, das denfelben Lord Colvin zum Rate bei der ägyptilchen Regierung ernannte mit dem Auftrage, ihr mit feinen Finanzkenntniſſen zur Seite zu ftehen und fie zu unterftügen. Damit hatte England was e8 wollte. Frankreich war auß der Finanzkontrolle entfernt; e3 bebielt nur noch feine Kommiffare bei der Verwaltung der Staatsſchulden, diefe aber in gleicher Linie mit den anderen Großmächten. Dennod bat bie

Das Eindringen Englands in Aegypten 93

Republit den Engländern in den folgenden Jahren gerade von bier auß nod manchen Berdruß bereitet. Sie konnte dag, weil die meiften Inhaber der ägyptiichen Schuldtitel eben Zranzofen waren; die republifanifche Regierung vertrat aljo einfach die Intereffen ihrer Untertanen.

Ein völkerrechtlich anerkanntes Eigenrecht hatte England in Agypten nicht, deshalb Eoftete ihm die Aufgabe, den gerechten Schein zu wahren, ſchon einige Deübe. Noch fchwieriger aber war die bereit charakterifierte Heuchelei durchzu⸗ führen in bezug auf die Zukunft des Nillandes. Die fich darüber entipinnenden Berbandlungen drehten ſich Hauptfählih um zwei Dinge, einmal um die trage, wie lange die englifhe Befagung in Ägypten bleiben follte, fodann um bie Neutralität des Suezkanals. In bezug auf die Beſatzung hatte die englilche Regierung ſchon Anfang 1884 verfprochen, vorausgefett, daß Friede und Ordnung im Lande gefichert feien, ihre Truppen big Tpäteftens 1888 zurüdgugiehen. Dieſes Beriprechen wurde auch in den folgenden Sahren bei verfchiedenen Gelegenheiten wiederholt, feine Erfüllung aber immer wieder unter allerhand Borwänden, zulegt in einem Rundfchreiben an die Mächte vom Jahre 18%, fogar auf unbeftimmte Zeit verfhoben. Zu dem Arger darüber, der bejonder8 in Frankreich lebendig war, kam 1895 noch eine Differenz der beiden Negierungen wegen ber Koften einer engliih-ägyptiihen Expedition in den Sudan. England hatte, ent- gegen dem Einſpruch de8 franzöfifhen und des ruſſiſchen Kommiſſars bei der Schuldenverwaltung, eine erhebliche Summe dazu rund zehn Millionen Dart dem Nefervefonds der ägyptiſchen Staatsfafle entnommen. Die Spannung erreichte ihren Höhepuntt 1898 zur Zeit der Faſchoda⸗Kriſis. Alle diefe Mißhelligkeiten wurben aber fchließlih durch die vom engliihen Standpunkte aus geichidten Operationen König Eduard8 des Siebenten in Pariß beigelegt. Frankreich ver- zihtete 1904 auf die Seftfegung eines Endterming für die britiide Okkupation es verſprach, den britiihen Maßnahmen in Ägypten fernerhin keine Hindernifie mebr zu bereiten, und erhielt dafür feitend Englands freie Hand in Marokko. Die Rechte der Türkei in Agypten wurben dabei mit Stillſchweigen über- gangen.

Die Neutralität des Suezkanals, die fhon Napoleon der Dritte, und zwar gerade auf Betreiben Englands, verbeißen Hatte, war von Lorb Wolſeley in den Kämpfen gegen Arabi-Bey offenbar verlegt worden. Um bie öffentliche Meinung Europas dieſerhalb gu beruhigen, verſprach Lord Granville bald nad . der Offupation in einem Zirkular an die Großmächte, England werde für Die „freie Schiffahrt” auf dem Kanal forgen. Der Terminus „freie Schiffahrt“ wurde abfichtlid gewählt, der Ausdrud „Neutralität“ vermieden, weil leßtere einjchließen würde, daß im Kriegsfalle auf dem Kanal keine feindlichen Akte ftattfinden dürften. Dafür wollte aber England keine Garantie übernehmen. Die Trage ruhte dann bi8 1885; da wurde fie auf Anregung Frankreichs Hin von einer Konferenz in Paris verhandelt. Lord Eromer fagt, man Habe damals mehr dahin geftrebt, den Kanal zu internationalifieren, als zu neutralifieren, und dem babe England widerjproden. Eine Berjtändigung darüber wurde nicht erzielt. Auch 1887 ver- Iprah die Britifche Regierung wieder die „freie Schiffahrt” in Verhandlungen mit der Türkei, die indeß nicht ratifiziert wurden. Die volle Neutralität wurde augeftanden in einer Konvention mit Frankreich vom 29. April 1888, dabei aber

94 Der Gefangene

borbebalten, biefelbe folle, folange bie britifhe Okkupation Ägyptens bauere, noch nicht in Kraft treten. Endlich 1904, in den Verhandlungen mit Eduard bem Siebenten, ift auch dieſe Klauſel gefallen und einfach die Neutralität des Kanals gewährt worden. Wie England fie Hält, das fehen wir im gegenwärtigen Kriege. Die Herrihaft über den Suezlanal ift bie Vorbebingung auch für bie Herrfchaft über Agypten. Gelingt e8 ben Türken, von Often, von ber Sinai- balbinfel aus, fid) des Kanals zu bemädhtigen, fo werden fie um fo leichter aud) am Nil Fuß fallen. Der von den Engländern neuerdings abgejegte Khedive Abbas Hilmt, der Sohn Tewflls, ift beim türkifchen Heere. Er ift ber Abgott der nationaliftifeh gefinnten Bevölkerung. So läßt ſich erwarten, baß bie Türken von diefer allen Vorſchub erfahren und mit offenen Armen aufgenommen werden. |

Der Gefangene

In hartem Zwang befchreitet dich mein Fuß! So grüß id, Land dic), weil ih muß!

Idh fehe deinen Berg und deinen Wald: Schön bift dul Doc mein Herz bleibt Falt.

Soweit mein ſuchend Auge fpäht, Erblid ich deines Winters Majeftät,

Der um die Stirn Iryftallnen Reif bir flichtl Wahrhaftig ſchön! Allein ich Lieb dich nicht!

Des einen Sinnes feften Schluß vernimm: Feind bin ich dir mit ganzen Herzens Grimm!

Nicht mein Afyl, nein! meines Kerlers Nacht! Der Freiheit Grab, trog deiner Fluren Pracht!

Und nicht der Heimat trauli Bild: Vom Himmel ſank der Abend mild,

Die weite Eb’ne dämmert ein, Der Nebel fteigt im Wiefenrain;

Der Gefangene 25 Ein Elflein fih im Zange wiegt, Ins grüne Bett der Wind ſich ſchmiegt;

Das Rehlein ſpricht fein Nachtgebet, Am Wald des Mondes Sichel ſteht,

Und einfam in der lauen Nacht Halt ich auf treuem Tier die Wacht!

Da trank id} einmal nod) den Duft Der lieben Heimat! Durch die Luft

Rauſcht al’ ihr Zauber! Ihrer Liebe Glut Schoß mir noch einmal in das Blut!

Sept führt mich nur ein gnäd’ger Traum Zurüd an jenen Waldesjaum,

Letztes Erinnern an die Heimat fpricht,

Wie fie fo ſchön, fo ftill, fo fehlicht!

Die Augen fchließ ich, fehnend nur,

Ich eilte über ihre Flur

Doch hart ftöht an den Stein mein Fuß So grüß ich, Land dich, weil ich muß!

Niſhni Udinſt Januar 1918

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Deutiche Soldatenbriefe Eine Charakteriſtik

Don Dr. Fritz Roepke

eber, der den Krieg als bewußtes Glied der deutſchen Gemeinſchaft empfindet und das ift bie Pflicht vor allem ber Gebildeten DA dem werden alle Äußerungen nationaler Stimmungen zu einem BY A lebendigen Erleben beutfchen Wefens und Charakters werden.

Steven und Lieder, Gedichte und Bilder, Scherz und Gedenken, Spiel und Bühne, fie alle klingen zu einer geiftigen Symphonie zufammen, die der Abſtraktion „das deutſche Voll“ Charakter und Farbe, Sinn und Dafein geben. Ste mag uns manchmal verworren, manchmal unrein klingen; erft eine fpätere Zeit wird fie deuten und rein genießen können. Aber ſchon heute tönt fo mandjes Inſtrument deutlih und Har an unfer Ohr und wedt in dem auf- merffam Hinhorchenden eine Ahnung von der Seele feines Volles.

Ein ſolches Inſtrument ftellen die Soldatenbriefe dar. Sehen wir von den Fachaufſätzen der militäriiden Sachverſtändigen, den künſtlichen oder fünftlerifehen Erzeugnifien der literariſch Gebildeten, den beftellten Schilderungen der Kriegsberichterftatter und den von vornherein zur Veröffentlichung beftimmten Briefen ab, fo bleibt noch die große Zahl von Briefen aus dem Felde, die Freunden und Belannten, Verwandten und Gebern Lebenszeichen geben wollen, in denen der Menſch zum Menſchen ſpricht und Gebärde, Tonfall und Yalten- wurf den deutſchen Charalter offenbaren.

Mer Material genug befigt, wird bald die Erfahrung maden, daß bie durch den Krieg bedingte Ausgleihung der fozialen Unterfhiede ſich im Heere am auffälligften vollzogen hat und daß die Bildung der Verfafler zu dem bereits empfangenen Bilde feinen neuen Zug binzutut. Ihre Briefe find oft fachlicher, aber in Stimmung und Stoff unterliegen fie einem alldeutfchen Geſetz.

Deutſche Soldatenbriefe 97

Am eheften entzieht ſich die einzelne Perſönlichkeit der gemeinfchaftlichen Sphäre noch bei der Wahl des mitzuteilenden Gegenftandes. Aber auch bier glaube ich drei immer wieberfehrende Typen zu erkennen, foweit das mir zur Berfügung ftehende Material einen fiheren Schluß zuläßt. Es lagen mir ungefähr fünfzig Briefe vor, daneben babe ich einige8 aus der Sammlung „Deutſche Feldpoftbriefe” (9. Tümmlers Verlag, Chemnit) und dem in Zeitungen Beröffentlichten benuben können ; bei der Auswahl der Belege habe ich Wert darauf gelegt, daß die Verfaſſer den verfchiedenften fozialen Schiehten angehören. ALS Urbild des erften Typus können die Drei Karten gelten, deren Verfaſſer nach den An⸗ gaben der Zeitungen ein ebenfo kurz angebundener wie volfstümlicher Feldherr fein fol: „Wo bleibt denn meine Wäſche?“ „Soll ich noch lange auf meine Wäfche warten?” „Ya, zum Donnerwetter, wird endlich meine Wäfche kommen oder nit?” Der Inhalt diefer Mitteilungen geht kaum über die perfönlicden Be⸗ bürfnifje des Schreiber hinaus. Dft könnte man aus foldden Karten gar nicht berauslefen, daß Krieg im Lande if. Ein Kriegsfreiwilliger fchreibt nach feinem Eintreffen auf dem Sriegsichauplag: „Meine Lieben! Geftern Iangten wir in 3. an und murden mit Kanonendonner empfangen. Wenn Ihr mir einen Gefallen tun wollt, dann könnt Ihr mir bitte Kalao, Zuder, Zeitungen ſchicken. Herzlide Grüße —.“ Der zweite Typus fchildert mehr oder weniger eingehend perfönliche Erlebniffe. Sie find meiftens durch den Drang fih aus- zufprechen veranlaßt, das wohlige Gefühl des Sicherleichterns, wenn das Geſchaute und Erlebte zu ſtark und ſchwer auf den einzelnen einwirkt. Selbſt Sremden gegenüber ift der Soldat oft zutraulicder und offener als zum Kameraden, ſobald der Brief nur in die Heimat gebt: „... und ebenfo freut man fi, wenn man eine Nachricht fenden Tann.“ Dieſe Briefe bieten natürlich nur einen Kleinen Ausfchnitt ans dem Kriege gemäß dem beichränkten Gefichts- freis, mit dem fich der Soldat im modernen Kriege begnügen muß. Sie malen uns den Schüigengraben, führen uns auf den Ausgud, in Scheunen und Schlöffer, laſſen uns an Siegesfreude teilnehmen, an Sturmangriffen und Trauer über den Berluft von Kameraden. Den dritten Typus endlid würden objeltive Berichte vertreten. Wir können fie nur von Offizieren oder von ſolchen Ein- fihtigen verlangen, die nad) Erfahren aller mwefentliden Einwirkungen imftande find, den Gang der Operationen unter Hintanfegung ihrer eigenen Perjönlichkeit wieder aufleben zu laffen. |

Um fo mehr können wir troß des fo verſchiedenen Bildungsgrades unferer Soldaten von einem einheitlichen Stil ſprechen. Ich meine nicht die größere oder geringere Gemwanbtheit, feine Gedanken zu klarer Geftaltung zu bringen, jondern die abſichtliche Anwendung ſyntaltiſcher Verbindungen, die Vorliebe für beftimmte Wortllafjen . ufm., kurz, die bewußte ſprachliche Darftelung. Der Inappe militärtfede Stil iſt merkwürdigerweiſe verhältnismäßig felten, zum Beifpiel: „Um 12 Uhr Mondichein, befferes Wetter, Granatendonner. Plögli Nachricht: unfere Bagage überfallen, eine Kompagnie zurüd, das Dorf niedergebrannt,

98 Deutfche Soldatenbriefe die Leute erſchoſſen, Franktireurſcheußlichleiten!“ Man findet ihn nie in den Briefen der gemeinen Soldaten. Er Tann aljo nicht als allgemeines formales Kennzeichen des deutichen Yeldpoftbriefes gelten. Dagegen zeigen viele Briefe der verj&hiedenften Urheber in der Yorm das gleiche Streben: den Hang zur Stilifierung, die Titerariffe Färbung der inftinktiven Äußerung. Ein Haupt» mann ſchreibt von Neuigkeiten, die fein Antlig verflärt haben; ein Ingenieur muß beim Kriegsbeginn wieder auf die Planken des Kriegsihiffs. Ein Milttärarzt läßt Gegenfäpliches hart aneinander ftoßen, die friedliche Ruhe der Natur und das Getöfe des Kampfes: „Die Natur in Saft und Brangen, die DObftbäume fhwer bebangen, Blumen überall und Bogelzwitichern. Frieden! Aus dem Dorf laden muntere Stimmen. Singen frober, glüdlicher Menſchen!“ Dazu Stellen aus Briefen ganz einfacher Leute: „Ein vom Schidfal verfolgter Ober⸗ matrofe”; „Lerne leiden ohne zu klagen!“, „Kampf mit Sturm und Wogen⸗ tanz“; „Wenn mein Pfeifchen dampft und glüht und der Rauch von Blättern durch die Lüfte zieht, taufch ich nicht mit Göttern!“ „und wir unfere ſchweren Torpedos felbigen in den gepanzerten Bauch jagen.” Der Franzofe . wird faft prezids der Franzmann genannt. Beſonders gern wird das Adjeltiv verwandt, das, bald malend, bald Flingend, gerade den einfadhen Leuten als das Charalteriftiihe des „Ichönen“ ſchriftſtelleriſchen Stils zu gelten fcheint: das vom Feinde viel ummorbene Kiel; gegen fchneidigen (jchneidenden) Wind und Kälte; die See fchlug heftig gegen die dem wöütenden Wafler troßende Bordwand (der Rhythmus eines Ungebildeten!); das eiftg jchneidende Waſſer; wortlos wälzten fi die unendlihen Züge Artillerie und Infanterie durch die kahlen, verlaffenen Gegenden. Das Torpedo heißt „heimtüdiih”, die Wander- mine „feindlih“. Es tft, als ob der Soldat das Bewußtein hätte: bein Brief wird zu Haufe vorgelefen, Freunden und Belannten gezeigt; da darfſt du did nicht blamieren, du mußt Eindrud machen! So ſchreibt er in einer gehobenen Sprade, die man aber weder ſchwülſtig noch papieren nennen fann; denn fie bleibt immer im Einklang mit dem großen Gegenftand, den fie uns mitteilt.

Am Mräftigften aber leuchtet der gemeinfame Bollscharalter aus der Stimmung der Feldpoftbriefe hervor. In der neugeidhaffenen Einheit orbnet fih der einzelne dem gemeinfamen Zwed unter, verſchwinden alle perjönlichen Münfche, Neigungen und Gewohnheiten. Dur) die gemeinfame Gefahr und das gemeinfame Erlebnis wird die Heeresmafje zu einem unteilbaren Weſen. In einem folden Maſſenweſen haben erfahrungsgemäß die Gefühlselemente durchaus das Übergewicht, die noch dazu durch die ungeheure Suggeftibilität ber Maſſe eine fchnelle Verbreitung erfahren. Die feineren, abgetönten Gefühle des einzelnen gehen natürlich verloren und nur Die großen, urfjprünglichen Leidenfchaften bleiben. Bier einfache Gefühle find es befonders, deren Echo der gegenwärtige Krieg wachgerufen hat und die den Grundton der Briefe aus dem Felde abgeben: vaterländifche Begeifterung, Luft am Kampf, Wille zum

Deutfhe Soldatenbriefe 29

Sieg; Ernſt und Mitleid beim Anblick der furchtbaren Wirkungen des Krieges; Sehnſucht nach Heimat und Familie, Sentimentalität; martialiſcher, jungen⸗ hafter, unerſchütterlicher Humor.

Den Ton ber hellen, jauchzenden Begeiſterung werden wir natürlich zu Beginn des Krieges am reinften und häufigften finden. „Ran an den Yeind“, fo Hingt e8 aus vielen Briefen heraus: „Unfer aller Wunſch (der Marine) tft es, jo bald als möglich auch zu zeigen, daß wir uns mit unferen Leiftungen ebenbürtig an die Seite der Schwefterwaffe ftellen dürfen.“ „ch werde tun, was in meinen Kräften ftebt, um Euch Lieben und das Vaterland zu ſchützen. Fallen wir, nun fo fterben wir den Heldentod fürs geliebte Vaterland. Mit Freuden ziehen wir gegen den Erbfeind.” In manden wacht die fröhliche Luſt am Kampf auf und dehnt die entwöhnten Glieder: „Das hat Spaß gemacht“. „Unfere Parole ift: vorwärts bis nad) Paris und noch viel weiter! Wir wollen Abenteuer erleben und Kugeln pfeifen hören!” Faft betäubend ift das Gefühl der eigenen überlegenen Kraft: „Es war herrlih! Ein obren- betäubender Lärm. BDraufgegangen find die Kerls wie blödfinnig.” „I babe kein anderes Gefühl, bloß eine unfagbar glüdfelige, wollüftige Aufregung, daß es gelungen ift, den Feind aus feinen Stellungen zu vertreiben. Bas Gefühl der Kraft, des GSelbftvertrauens erwacht in uns mit der ftärfiten Bucht.“

Es ift in umferen Tagen vom deutſchen Haß gefungen worden. Das Wort hat man fchon berichtigt; eg muß „Zorn“ heißen. Wir find unfähig zu haſſen. Wenn ich die Soldatenbriefe leſe, ſehe ich immer die guten Augen unferes Wilhelm Buſch, der fo deutich ift, daß er in dem Gewand einer fremden Sprade wie eine boshafte Karilatur ausfiedt; und id muß an die Worte Bullerftiebels im „Pater Filucius“ denfen: „Nu man to." Haß ift ein Gefühl moralifder Schwäche, und das kennen wir nit. Und wie unfere Preſſe fich rein hält von den wüften Worterzefien des feindlichen Auslands, fo offenbart auch die große Seltenheit von Schimpfmwörtern in den Feldpoftbriefen das reine Gewiſſen des deutichen Soldaten. „Das feige Voll”, „der feige Franzmann“, „Die Halunfen“, „die Krüppels, die Hampelmänner von Franzofen”; das iſt alles, was ich in fünfzig Briefen an verächtlichen Ausdrüden habe auftreiben können. Hin und wieder trifft man auf gutmätig fpottende Überlegenheit; dann heißen bie Franzofen Franzmänner und die Engländer Hafen: „Aber Angft haben die Burſchen und laufen können fie. Wenn fie uns fehen, wir müfjen immer laden; bie Hafen nennen wir jet immer Engländer.“ Meiſtens aber fpricht der deutſche Soldat von feinem Feinde gar nit. Denn in feiner geiftigen Überlegenheit biefe Erfahrung kann man auch daheim bei den fchlichteften Berwundeten maden fieht er ihn nur feine Pflicht erfüllen und macht allein die Regierung des fremden Landes verantwortlich). |

Diefelbe geiftige Reife und Größe der Auffafjung bekundet der deutſche Soldat aber in noch höherem Maße in den Wintertagen des fat endlos

30 Deutfche Soldatenbriefe

icheinenden Ansharrens. „Wenn das Weihnachtsfeit auch diefes Jahr nicht fo fröhlich gefetert wird, wie e8 in den 44 Jahren war,“ fchreibt ein Landwehrmann, „darum wollen wir doch in Gottvertrauen hier in Feindesland und in der lieben Heimat im Herzen berer gebenten, bie uns bis zum heiligen Weihnadhtsfeft geführt haben und noch länger führen werden; und auf der anderen Geite wollen wir fröhlich fein, weil unfere tapferen Deutſchen in Dit und Weſt ihren Mann ftehen bis auf den letzten Tropfen Blut, und follte es ung nicht vergönnt fein, ein Weihnachtsbäumchen zu ſchmücken im Schügengraben, dann werben wir den Franzmännern zeigen, daß wir zu Weihnachten aud auf dem Poften fein und nicht mit uns fpielen laſſen.“ „&ottvertrauen und froher Mut, denn der Krieg geht doch einmal um.” „Mit Gott für König und Baterland.“ „Der Deutſchen Wahlſpruch heißt immer vorwärts und nicht rückwärts!“ wie oft Tonnten wir jet ſolche Worte in dieſer ſchweren Zeit des nicht Durch große, wiederhallende Siege gelennzeichneten Ringens leſen. Denn unfere zielbemußten Soldaten willen, wofür fie fämpfen: „Das koſtet noch viel Opfer, aber das ſchadet nicht; die Hauptſache tft, daß diefes Blut nicht umfonft alles gefloffen ift, daß wir einen glorreihen und dauerhaften Frieden erringen.“ Dem Wohl und Wehe des Vaterlandes müflen eben alle perfönlicden Sorgen untergeorbnet werden: „Wir erhielten erft am . . . . Nachricht vom Tode unferes geliebten Vaters. Aber wir wollen nicht traurig fein und uns nicht entmutigen; wir wollen unjer alles einfegen für unſer heifgeliebtes Vaterland, da wir willen, was wir fonft zu erwarten haben.” Auch der Schmerz um gefallene Kameraden wird verdrängt durch den Gedanken an die fittlihe Größe dieſes Todes: „Ste haben übermenfchliches geleiftet, ..... doch über ihnen allen ftrahlt bie Krone des Ruhmes.“.

Aber no eins fteigert den Mut und die Freudigleit unferer Soldaten: „Wir wiflen, daß uns treue Herzen entgegenfchlagen.“ Sie wollen nie ver- jagen, weil wir fie nicht vergeflen. Und wenn ber deutſche Soldat an bie Heimat denkt, überlommt ihn ein weiches, fehnfüchtiges Gefühl. Er liebkoſt alles mit ungelenten Fingern: „Ferne Heimat, liebe Heimat.” „So mande Träne ift bei uns über die Wange gerollt, wenn man zurüddenft an feine liebe Frau und Kinder.“ Gefühlsfchwere Worte Iöfen fich, wenn fie ſich mitten in der todſchwangeren Luft des Krieges den heimatlichen Frieden ausmalen: fie ftehen im „fremden Lande“ auf „einfamer” Wacht. Und mwehmütig nehmen fie in mandem Augenblid der überwältigenden Rührung Abfchied auf immer: „Und follten wir uns nicht wiederfehen, dann denle öfters an deinen lieben Freund, der für Deutſchlands Ehre mit Freuden in das ‚Maffen‘grab ge⸗ gangen iſt.“

Ale Hat das Leben da draußen mächtig gepadt; aus ben Sünglingen bat e8 Männer, aus gleihmäßig Dahinlebenden Charaktere und aus den weichen Seelen Ziefernfte gemacht, denen das blutige Bild den Atem benahm. Und dieſe ernſten Augen bliden uns aus vielen Soldatenbriefen an: „Bei foldher

Deutſche Soldatenbriefe 31

Berftörung begreift man erft, was es beißt, den Krieg in Feindesland tragen.” „83 ift nur gut, daß ſich diefe Kämpfe nicht in unferem geliebten Vaterlande abfpielen; von 3. bis ©. finden Sie fein ganzes Haus mehr.“ „Die Leere der Landſchaft, verbunden mit dem fürchterlihen Krachen, wirkt beflemmend und macht zufammen mit dem granen Himmel einen troftlofen Eindruck.“ „zote in den Gräben vom Nachmittag ber, Franzofen und Deutſche, herren- lofe Zornifter, Helme, Seitengemwehre und Mäntel lagern auf den Felder zer- freut blutige Hemden, blutgetränfte Verbandsfegen. . . . Die armen Serle, die Arme oft zur Abmehr vorgeftredt oder auf bie Bruft gepreßt, um ben Schmerz zu ftillen. Pferbeladaver, überall Ausrüftungsgegenftände, die von Leid ſprechen.“

Aber nicht oft herrſcht diefe trübe Stimmung. „Müde, aber vergnügt.“ „Bir find noch fröhlih und guter Dinge.“ Und mander, der zu Haufe vielleicht ein verwöhnter Junge war oder eine viellöpfige Familie in der Heimat weiß, rafft fidh zu ein paar lachenden Worten auf, um in denen daheim nicht das Gefühl auflommen zu lafien, daß er in Gefahr ſchwebt: „ES ift das reinfte Manöverleben,“ fchreibt ein junger Freimilliger an feine Eltern. Ein anderer nedt jeine Braut: „ine zweite Braut babe ich auch ſchon! Bift Du da nicht eiferfüchtig? Ja, Du mußt nämlich mwifjen, dem Krieger feine zweite Braut ift fein Gewehr.“ Jeder von uns hat die lachenden Inſchriften bei ber Mobilmahung genofien: Expreß Berlin— Paris oder: Nikolaus, Nilolaus, wir fopfen dir die Hofen aus! Gie finden in den Briefen ihr ausgelafjenes Echo: „sh werde Dir fo ein Bieft (Engländer) mitbringen.” „In vierzehn Tagen mußt Du unbedingt nad) Paris fommen, zum Siegesball nad) Berfailles. Ein Hurra unferer fiegreihen Armee. 1000 SKanonenbuffel.” Mit mutwilligen Kofenamen wird die Munition belegt: „Liebesgaben für die Ruſſen“, „Zuderhüte”, „Eiferne Morgengrüße“. Übermütig, jungenhaft wirft der Soldat feinem Yeind Spottreden wie Schneebälle an den Kopf: „Wenn preußifche Truppen vorgeben, heißt das auf ruſſiſch: Kehrt! Mari, Marſch! ... . Ober fie bewaffnen fi mit ihrer Hauptwaffe: einem langen Baumaft mit geftohlenen Fenftergardinen.” „Die Franzoſen wollen durchaus durch; das tft verboten. Wir balten die Yranzofen im Schwung, damit fie nicht üppig werden und nicht durchbrechen, was die Franzmänner alle Tage verjuchen, wobei fie aber immer fefte auf den Schädel befommen. . .. Wir Deutihen hätten die Franzoſen fon lange aufgefreffen, gerade wie Dlfardinen!“ Ganz felten nur gibt ein häßlicher Ausdrud Kunde von einer durch monatelangen Erlebnifjen bedingten Abftumpfung: „Unfer Sport mit den Ruffen.” „Nachdem wir die Häufer durchſucht hatten, wobei noch mancher Franzoſe ins Jenſeits befördert wurde. . .” In den meiften Yällen bat der Scherz gutmütigen Charakter. Er nimmt leine Strapaze tragiſch und wird in fchweren Lagen zu einem drolligen Galgenhumor: „Hter in M. genoß man gratis ein Sonnenbad, indem man etwa vier Stunden lang zwiſchen Bahbngeleifen auf freier Strede lag." „Nachdem wir uns an

82 Deutfhe Soldatenbriefe

dem Duft von gelochtem Schweinefleih fatt gerochen hatten, mußten wir weiter.“

Das ift der deutſche Soldat. Er bleibt auch in der Uniform ber alte Michel. Gutmütig und gebuldig im Harren, unfähig zum verzehrenden, brutalen Haß, voll Begeifterung für edlen Kampf, von umerfchütterlicder Zuverſicht auf ben guten Ausgang der gerechten Sache, weich und fentimental, tiefernft im Empfinden und fröhlich in der Selbftverleugung.

Allen Mauuftripten it Porto hinzuzufügen, ba andernfalls bei Ubichunng eine Rädienbung nicht verbrgt werden Tann.

Nachbruck fümtliger Uuffäge nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Berlagd geſtattet. Verantwortlich: der Herausgeber Georg Eleinow in Berlin. Lichterfelde Weſt. nn und Briete werden erbeten unter der Abrefie:

Un den Herausgeber der Grenzboten in Berlin - Lichterfelde We, S Fernſprecher bes Herausgebers: Amt Lichterfelde 498, des Berlags und ber Schriftleitung: Amt 6810. Verlag: Berlag ber Srenzboten G. m. b. H. in Berlin SW 11, Tempelhofer Ufer Ba. Drud: „Der Reihsbote” ©. m. 5. H. in Berlin SW 11, Deflauer Straße 86/37.

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Die Dereinigten Staaten von Amerifa und Japan

Don Dr. jur. Kurt Ed. Jmberg a ns Eingreifen Japans in den Weltkrieg, die Eroberung Kiautſchaus \

& und die Beſetzung deutſcher Kolonien in der Südſee durch japaniſche Truppen haben die amerikaniſch⸗japaniſche Frage in ein neues EKGIFA Stadium gebradit.

Seit etwa ſechzehn Jahren taucht dieſes Problem: wie werden die Vereinigten Staaten und das Land der aufgehenden Sonne die zwijchen ihnen bejtehenden, bald mehr, bald weniger akut werdenden Streitfragen Iöfen, immer wieder auf, ohne jedoch bisher eine auch nur einigermaßen befriedigende Löjung gefunden zu haben.

Die Jahre 1898/99 Tann man wohl ald Wendepunkt in den bis dahin ſteis guten und freundfchaftlichen Beziehungen zwiſchen den Vereinigten Staaten und Japan anfehen. Die Angliederung von Hawai, auf das die Japaner zweifellos ihr Augenmer? gerichtet hatten, die mit der Befegung der Philippinen beginnende Gründung eines amerilanifhen Kolonialbefiges und Feltfebung in den afiatiihden Gewäſſern fonnten nicht ohne Einfluß auf die Haltung Japans den Bereinigten Staaten gegenüber bleiben.

Zur gleiden Zeit etwa vollzieht fi aber auch der Umſchwung im Reiche des Mifado; es ift die Zeit des EintrittS Japans in die Zahl der Weltmächte, die Anerkennung des japanifchen Staates als gleichberechtigtes Mitglied durch die europäiſchen Großmächte und die Vereinigten Staaten von Amerila, die Geburtsftunde des japanischen Imperialismus. Es ift die Zeit nach dem glücklich beendeten Kriege gegen das chinefifche Millionenreih, der den Japanern den Befig von Formofa gab, wodurch auch Japan den eriten Schritt zur Gründung eines Kolonialgebietes tat. Japan und die PVereinigten Staaten wurden Nachbarn im jüdchinefiichen Meere. Bald nad) dem Kriege von 1894/95 beginnt denn auch der wirtfchaftliche Aufſchwung des japanifchen Inſelreiches, die Ausdehnung feines Handels und das Erwachen feiner Induſtrie. Die

Grenzboten II 1915 8

34 Die Dereinigten Staaten von Amerika und Japan

unausbleibliche Folge diefes Aufihwunges ift die Entftehung von zahlreichen Reibungsflaͤchen japaniſcher und amerilanifcher Intereſſen auf dem chinefifchen Meltmarkte.

Wir wollen im folgenden nur die wefentlichiten Punkte der amerikaniſch⸗ japaniſchen Yrage kurz berühren, wohl wiffend, daß eine auch nur annähernd voll» ftändige Darftellung dieſes Problems weit über den Rahmen binausgeben würde, der uns bier geftedt if. Wir wollen uns darauf befchränten, die amerilanifhen Smterefien in China und die | Einwanderungsfrage etwas näher zu beleuchten, die die wichtigſten Faltoren jenes oft beftrittenen, aber zweifellos beitehenden Problems find: des Kampfes um die Herrſchaft im Stillen Ozean zwiſchen der weißen und der gelben Raſſe.

I.

„Ein geeinigtes China, fi ſtark entwidelnd, Herr in feinem eigenen Lande, weldes es dem Handel aller Nationen der Welt in gleihem Maße offen hält.” Mit diefen Worten Tennzeichnet der jebige Geſandte der Ver⸗ einigten Staaten von Amerika in Peling, Profeffor Reinſch“), einer der beften Kenner der amerilaniſchen Politik und diplomatiſchen Geſchichte der Union, die Politik, die die Vereinigten Staaten ftet3 dem Reiche der Mitte gegenüber beobadtet haben, die fie auch heute der jungen Republik China gegenüber vertreten.

Bereit kurze Zeit nad der Abtretung Kaliforniens an die Union im Frieden von Guadeloupe Htdalgo (1848) finden wir die erften Anzeichen für das Streben der Vereinigten Staaten, einen Einfluß in Auftralien zu erlangen und an der Erſchließung des dhinefiichen Reiches teilzunehmen. Schon damals erfannten die amerikaniſchen StaatSmänner, daß der Stille Dzean dereinft eine große Rolle auf dem Welttheater fpielen werde, und aus diefer Erkenntnis entfprang der Wunſch, daß aud die Vereinigten Staaten oftafiatiihe Politik treiben, daß auch fie fi auf den neuerſchloſſenen Gebieten des Weltmarktes im Fernen Dften betätigen follten.

So fiherten ſich die Vereinigten Staaten in ihrem Vertrage mit China 1844 durch die Einfügung der fogenannten Meiftbegünftigungsflaufel die Vor⸗ teile, die England und Frankreich kurz vorher durch den Opiumkrieg (1840 bis 1842) errungen hatten. Die Folge diejes Vertrages war ein rafches Aufblühen des amerilanifden Handels mit China und die Begründung zahlreicher amerifanifher Handelshäufer in den VBertragshäfen im Reiche der Mitte. Wenn auch der Handel zwiſchen der Union und China einigen nicht unbebeutenden Schwankungen ausgeſetzt war, die auf die politifhen Zuftände in ben beiden Ländern zurüdzuführen find, fo zeigt doch die Stala des amerilaniſch⸗chineſiſchen

*) Reinſch: „Die Vereinigten Staaten und ber Ferne Dften (in ber Zeitichrift für Politit, 1918) Seite 200.

Die Dereinigten Staaten von Amerifa und Japan 35

Warenaustauſches eine ftetS fteigende Tendenz. So betrug der amerilanifche Handel mit China: Ä im Jahre 1888 etwa 21000000 Dollar F— 1898 3000000,

1908 48000000, |

Nach den chineſiſchen Berichten, die bis jebt allein vorliegen, betrug ber Sefamthandel zwiſchen den Vereinigten Staaten und China im Jahre 1913 ewa 73 Millionen Zaels, das beißt etwa 37 Millionen Dollar, und zwar zeigt die Handelsbilanz in diefem Jahre zum erften Male feit 1902 wieder ein Übermwiegen ber chineſiſchen Einfuhr in die Union um etwa 1 Million Taels*). Es ift dies allerdings ein nicht unbeträchtliher Nüdgang gegen 1908; aber gegenüber den vorhergehenden “Jahren, die ein tiefes Sinten der Hanbelsbilang gebracht hatten, wieder eine, wenn auch nur Feine Steigerung bes Warenaustaufches.

Diefe immer wachſende Bedeutung der Chinefen als Kunden und Lieferanten der Vereinigten Staaten, die in Zufunft bei einer rationellen Ausbeutung ber reihen Bodenſchätze Chinas zweifellos noch zunehmen wird, zwang die Amerikaner, ein wachſames Auge auf die Entwidlung der Dinge im Fernen Dften zu haben und fi) befonders darüber Flar zu werden, welchen Einfluß eine etwaige Zer- ftüdelung des chinefiſchen Reiches auf die amerilanifch-chinefiihen Beziehungen ausüben mußte. Denn offenbar mußte eine allmähliche Aufteilung Chinas an die hieran intereffierten europäifhen Mächte und Japan eine ftarle Zurüd- drängung, wenn nicht gar die Vernichtung des amerilanifhen Handels mit China zur Folge haben. Aus biefem Gefihtspunfte erflärt fi) die ſtrikte Durchführung der Grundfäße der „Uffenen Tür” im Reich der Mitte und ber Integrität des dhinefifchen Gebietes, die fi wie ein roter Faden durch die oftaftatifhe Politik der Vereinigten Staaten zieht. Bon diefen beiden Grund⸗ fägen ift die Aufrechterhaltung der Integrität der chinefiihen Republik das zweifellos wichtigere Problem**’); denn es tft Mar, daß der Grundſatz der „Offenen Tür” nur in diefem Falle wirklich beftehen Tann, wie das Schickſal zahlreicher anderer Länder in der Weltgeſchichte lehrt, während er bei einer Aufteilung in Intereſſenſphären zur leeren Phraſe wird.

Die Gefchichte der oftafiatifchen Politik der Vereinigten Staaten in ben legten Jahrzehnten zeigt immer wieder deutlid das Eintreten der Union zu⸗ aunften Chinas, das Beſtreben, alles zu vermeiden, was zu einer Verlegung der territorialen Integrität diefes Landes führen könnte, in der Maren Erlenntnis, daß mit dem Einrüden der Union in die Stellung einer Macht am Stillen Diean bie Integrität Chinas für fie von größter Wichtigleit geworden ift”**).

) Trade Reports for 1913, Part I herauſsgegeben, von der chineſiſchen Negierung. ) Vergleiche Millard (bei Blafeslee a. a. ©.): The need of a distinctive American policy in China, Seite 84. ***) Bergleiche Foord: America’s Trade Relations with China (in Blakeslee: China and the Far Bast, 1910) ©. 111.

9”

86 Die Dereinigten Staaten von Amerika und Japan

Als Beweiſe für diefe Politik mögen bier nur das fogenannte Hay-Agreement vom Jahre 1899 erwähnt werden, eine internationale Vereinbarung, in ber die Grundſatze der Integrität Chinas und der „Offenen Tür“ in diefem Lande feftgelegt wurden, und ferner die Note des Stantsfelretär Hay vom 3. Juli 1900*) während des Boreraufftandes, in welcher die amerilanifche Regierung darauf binwies, daß für die Wirren in China eine Löfung gefunden werben müfle, „Die die territoriale und abminiftrative Einheit Chinas beachtet”, und bie „den Grundſatz eines gleichen und unparteiifhen Handels mit allen Teilen des chinefiſchen Neiches fhüst**)." Weiter fei auf das Eintreten ber Bereinigten Staaten für die Auferlegung einer nicht allzu hoben Striegsentihädigung im Sabre 1901 hingewiefen, da man mit Recht in Amerila eine aus einer hohen Kriegsentihädigung notwendigerweife folgende finanzielle Abhängigkeit des militäriſch ſchwachen Chinas als eine Gefahr für feine territoriale Integrität erfannte***), und jchließlid auf den an Rußland und China gerichteten amerikaniſchen Proteft gegen den heabfidtigten Kauf der Mandſchurei durch Rußland, bei welcher Gelegenheit die amerilanifhe Regierung erklärte, daß „jegliche Vereinbarung, dur die China einer Korporation oder Gefellichaft das ausſchließliche Recht oder ein Privileg zur Ausbeutung von Minen, zum Bau von Eifenbahnen oder zu irgendeiner fonftigen indujftriellen Unternehmung in der Mandfchurei verleiht, von der Regierung der Vereinigten Staaten höchſt ungern gefehen werden würde).“ Denn ein folddes Vorgehen Rußlands würde den anderen Mächten zu gleihen Schritten Veranlafiung geben, und die unausbleiblide Folge davon würde „der vollftändige Zuſammenbruch der Politik einer abjolut gleihen Behandlung aller Nationen bezüglich des Handels und der Schiffahrt” feinTT).

Bei der Durchführung des Grundjabes der territorialen Integrität Chinas fommen die Vereinigten Staaten von Amerila mit gewiffen anderen Mächten in Gegenjaß, die in einem allzu ftarfen China eine Bebrohung ihrer „Intereſſen“

*) Bergleiche hierzu Näheres bei Reini: a. a. O., Seite 186 ff.

**) Bergleihe Foord: a. a. D., Seite 118.

»**) Im Sabre 1909 zahlten die U. S. A. 13000000 Dollar, das heißt über die Hälfte ihre vertraggmäßigen Anſpruchs auf Schabenerfag an Ehina zurüd, „weil alle Koften und alle geredhtfertigten Anſprüche einzelner gededt worden waren und man es ein fa für recht und billig Hielt, China den Uberſchuß zurückzuerſtatten, fo wie es bon einem Bankier erwartet wird.” Vergleihe Reinſch: a. a. O., Seite 188. Ob dies wirkli der einzige Grund für die Nüdgahlung geweſen iſt? Es würde jedenfalls bon einer in der Bolitit feltenen Ehrlichkeit und Selbftlofigleit zeugen!

r) Vergleiche da8 Memorandum Hays vom 1. März 1801 und die Note an Rußland und China vom 1. Februar 1902.

) Man könnte als weitere Beifpiele für diefe Bolitit der Vereinigten Staaten auch noch erwähnen: die erfolgreichen Bemühungen der Regierung von Waſhington für die Begrenzung des Kriegdfchauplages im Jahre 1904 und dad Eintreten des Präfidenten Moofevelt im Frieden von Portmouth zugımften Chinas. Vergleihe Millard: a. a. O., Geite 88.

A

Die Dereinigten Staaten von Amerifa und Japan 97

fehen. inter biejen fteht neben Rußland in erfter Linie das erft kürzlich zur Weltmacht entwidelte Japan. Eine Zeitlang hatten die Vereinigten Staaten und Japan die "gleichen nterefien in China; beide Staaten waren an ber Integrität des Reiches interefflert. Dies änderte fi mit dem fiegreihen Kriege der Sjapaner,gegen Rußland, und Japans Berhalten China gegenüber erregt mit Net immer mehr Beforgnis in der Union vor dem weiteren Vorbringen der gelben Weltmadht”).

Die Erfolge des Heinen Inſelreiches im Kriege gegen den ruffiihen Koloß gaben dem japanifhen Imperialismus neuen Boden und die feit langem erfehnte Möglichkeit, die regfte Tätigkeit in China zu entfalten, bejeelt von dem Wunfche, ganz China dem japaniſchen Einfluffe zu unterwerfen. Die Urſache, um derentwillen man den Krieg gegen Rußland begonnen batte, ber Schuß der von Rußland bedrohten Integrität Koread und Chinas, hatte man nad der fiegreihen Beendigung des Krieges vergefien. Korea kam unter japanifden Schu, bald darauf unter japaniihe Verwaltung (1907) und wurde ſchließlich (1910) zur japanifhen Provinz erflärt. Somit fah Japan feinen im Laufe ber Jahrhunderte des öfteren vergeblich wiederholten Verſuch, fih auf dem aſiatiſchen Feftlande feitzufehen, endli gelungen. Es tft ber erite Schritt zur Gründung einer japantichen Tontinentalen Macht.

Sn den folgenden Jahren haben die Japaner ſyſtematiſch an der weiteren Ausarbeitung ihrer Feitlandsftellung gearbeitet, indem fie mit allen ihnen zur Verfügung ftehenden Mitteln eine Erftarfung des aus feinem jahrhunderte⸗ Iangen Schlafe erwachenden Chinas zu verhindern und die begonnene Reform- arbeit dur Anzettelung und Unterftühung von Revolutionen und Unruhen zu ftören ſuchten. Denn nur bei einem ſchwachen China können die japantichen Pläne Erfolg baben*”).

Diefen Plänen dient auch die Teilnahme Japans am Weltfriege gegen Deutihland und fein Raubzug gegen das deutſche Pachtgebiet Kiautichan. Allerdings hat Japan zu Beginn des Krieges erflärt, e8 wolle „eventuell“ Kiautſchau an China zurüdgeben, aber heute glaubt wohl niemand mehr an diefe „Eventualität”, im Gegenteil ift fogar anzunehmen, daß Japan ſich auch in der chineſiſchen Provinz Schantung, einer der reichiten und fchönften Provinzen der Republik, dauernd feſtſetzen wird. Wenigſtens läßt die angeblich „vorüber- gehende“ DBejegung der ZTfinanfu—Weifien - Bahn einen foldden Schluß als außerordentlich) nabeliegend ericheinen”**).

Damit wäre aber der Anfang einer Aufteilung des chineſiſchen Reiches gemadt und weitere Abbrödelungen wären unvermeidlih. Die Folge der

”) Bergleihe Eoolidge: „Die Vereinigten Staaten als Weltmacht,“ Seite 861 ff. Millard: a. a. O., Seite 89, ) Bergleiche Riegelsberger: „Japan und Deutihland, ihre kulturellen und politifchen Beziehungen und die japanifche Gefahr für China, Amerika und Europa, 1914, Seite 82 ff. "ee, Bergleiche hierzu von Brandt: Ehina und Japan, 1914, Seite 44.

38 Die Vereinigten Staaten von Amerifa und Japan

Aufteilung würde aber die allmählide Monopolifierung des Handels durch bie aufteilenden Mächte fein: auch der amerikaniſche Handel wird dann im Laufe ber Zeit vom chineſiſchen Marlte verdrängt werden. Die Vereinigten Staaten find deshalb ebenfo wie Deutihland an einer Erhaltung der territorialen Sintegrität Chinas und an feiner militärifden und nationalen Erftarkung lebhaft tntereffiert, und beide Staaten müfjen ein weiteres Vorbringen der Japaner auf dem afatifchen Feitlande auf Koften Chinas unbedingt verhindern, wollen fie nicht auf ihren oftaflatiiden Handel und auf ihre Mitwirkung bei der Regelung der oftafiatifchen Frage verzichten”).

Die neueften Greigniffe im Fernen Dften haben dies beftätigt. Die von Japan an Ehina in der Note vom 28. Januar 1915 geftellten Forderungen laſſen Mar und deutlich die Endziele der japanifchen imperialiſtiſchen Politik erfennen. Noch find die Verhandlungen nicht abgeichlofien, und es läßt fidh noch nicht überbliden, inwieweit Japan fi durch ben Einfluß anderer in Ehina interejfierter Mächte beitimmen läßt, feine für China unannehmbaren Forderungen zu mäßigen.

Berfuht Japan und wir zweifeln nicht, daß e8 biefen Berfuch malen wird weitere chineſiſche Länder feinem Gebiete einzuverleiben, fo wird e8 bald mit den Intereſſen der Vereinigten Staaten in Gegenſatz geraten, ber zunächſt mit ben Waffen des Handels auf dem aftatifchen Weltmarkte ausgefochten werben wird, der aber leicht zu einem politiichen Konflilte auswachſen kann und mie bie MWeltgeichichte bisher immer bewiefen auswachſen wird.

II.

Von weit größerer Bedeutung iſt das Problem der japaniſchen Einwanderung nach den Vereinigten Staaten von Amerika““). Durch beiderſeitiges Nachgeben und dur Verträge jcheint diefe Frage zwar für den Augenblid geregelt zu fein. Aber eben nur für den Augenblid. Bald wird fie von neuem auftauchen, und dann wahrfcheinlic mit größerer Heftigfeit und Schärfe.

Bon einer japaniihen Einwanderung nad) den Vereinigten Staaten in größerem Umfange Tann man eigentlid) erft ſeit dem Anfang des zwanzigften Sahrhunderts ſprechen. Waren auch Thon früher japanifche Arbeiter, befonders für die Obftplantagen, nad dem amerikaniſchen Kontinent gelommen, fo ging doch in den achtziger und neunziger Jahren der Hauptſtrom der japantichen Auswanderer nad) Hawai”**), wo fie anfangs als Gegengewicht gegen die wenig

*) Vergleiche Niegelöberger: a. a. D., Seite 35. *e) Vergleiche zu diefer Frage den Auffag von Dr. Friedrih A. Wynelen: „Die gelbe Gefahr in Kalifornien“ in den „Grenzboten“, 1913, Seite 809 ff.

”., Die eriten japanifhen Einwanderer famen 1868 nad) Hawai. Der größte Teil wanderte jedod wieder zurüd, fo daß 1882 nur no 15 Japaner auf Hawai waren. Bon da ab nimmt die japaniihe Einwanderung einen immer größeren, ſchließlich bis in die Yebntaufende fteigenden Umfang an, der erit infolge der amerilanifhen Einwanderungsgefeggebung im Jahre 1907 zum Steben gebracht wurde.

Die Dereinigten Staaten von Amerika und Japan 3

geſchätzten chineſiſchen Kulis fehr willlommen waren. Die raſch anwachſende Zahl der japaniſchen Bevöllerung auf Hamwai erregte bald bie Aufmerkſamleit der amerilanifchen StaatSmänner und zweifellos ift die Beſorgnis vor einer Sapanifierung dieſer Sinfelgruppe ein Grund gewefen, der bei der Annerion von Hawai dur die Vereinigten Staaten im Juli 1898 in bebeutendem Maße mitgeiprochen hat”).

Erft nad) der Annerion von Hamai beginnt die Zeit der Maffeneinwanderung von Japanern nad) dem amerifanifchen Feftlande, die ſich zunädit faft aus- ſchließlich nach Kalifornien wendete, wo die Japaner das kann wohl kaum geleugnet werden hervorragenden Anteil an der Entwidlung bes in der ganzen Welt befannten Talifornifchen Dbft- und Gemüfebaus gehabt haben.

Alsbald nahm diefe Cinwanderung einen ungeabnten, in den Weſtſtaaten der Union wenig erwünichten Umfang an. Die Einwanderungsftatiitil für die Jahre 1901 bis 1906 ergab eine Einwanderung von 79000 Japanern, bie teils direlt von den japanifchen Inſeln, größtenteild aber auf dem Umwege über Hawai nad) den Pereinigten Staaten kamen. Im Jahre 1906/07 ftieg die Zahl der japaniſchen Einwanderer fogar auf 30 824**).

Diefe immer ftärlere Einwanderung des japanifchen Elements und die fich ans ihr ergebenden fozialen und wirtichaftliden Folgen erregten immer mehr die Beforgnis der Weißen in Kalifornien vor einer Überffwemmung der Bazifil-Küfte durch die gelbe Raſſe. Am Jahre 1906 kam die Aftatenfrage ſchließlich ins Rollen. Mag auch dem bekannten Schulitreite in San Francisko von mander amerikaniſchen Seite jegliche Bedeutung abgeiprochen werben ***), er ift doch der erfte Ausbruch des immer ftärler werdenden Rafjegefühls im Weſten der Vereinigten Staaten und bamit des Gegenfabes gegen die gelben Eindringlinge. Zwar wurde der Schulftreit bald beigelegt; die Bereinigten Staaten gaben den Proteiten der japanifchen Regierung gegenüber Tlein bei, und Präfident Roofevelt erflärte in feiner Botſchaft vom 4. Dezember 1906 bie Haltung der kaliforniſchen Behörden in diefer Frage für den Verträgen zwiſchen der Union und Japan widerſprechend. Aber an eine endgültige Beilegung ber japanifhen Frage war nicht im entfernteiten zu denken.

Die geſetzgebenden Körperfchaften gaben dem Drängen ber Weftftaaten in Waſhington fhlieklih nad, und das Gefeh vom März 1907 brachte eine be- deutende Einſchränkung der Einwanderung gelber Arbeiter. Durch gleichzeitige

*) Bergleihe Eoolidge: a. a. O., Seite 838.

”*) Vergleihe Rathgen: „Die Japaner in der Weltwirtſchaft,“ Seite 126.

+0) Bergleiche zum Beifpiel Starr Sordan: „Relations of Japan and the United States“ (bei Blateslee, a. a. D.) Seite 6. Wenn Reini a. a. DO. Seite 191 meint, daß weder für die 1. S. U. noch für Japan eine Frage vorlag, deren Wichtigkeit einen Krieg möglich gemadt haben könnte, fo können wir ihm darin allerdings beiftimmen. Darum ift aber dieſe Frage nicht weniger bedeutfam und wichtig für die Beurteilung der ganzen amerikaniſch⸗ japaniſchen Frage.

40 Die Dereinigten Staaten von Amerifa und Japan

diplomatiſche Unterhandlungen zwiſchen Wafhington und Tokio wurde erreicht, daß die japanifhe Regierung wenn auch nur widermillig ſich bereit erflärte, das Ihrige zur Regelung der Aftatenfrage beizutragen und die Ab- wanderung japaniſcher Arbeiter nach den Vereinigten Staaten nad) Möglichkeit zu unterbinden. Die Folge dieſer Maßnahmen war ein ftarfes Sinken ber japanifhen Einwanderungsziffer in den folgenden Jahren. Im Sabre 1909 fant die Zahl der eingewanderten Japaner von 16418 im Vorjahre auf 3275. Seit 1911 ift aber wieder ein Iangfames Steigen der Einwanderungsziffer bemerfbar, und nad) den neueften vorliegenden offiziellen Berichten betrug bie Zahl der japanifhen Einwanderer im Jahre 1918 ſchon wieder 8302*).

Gleichzeitig wuchs aber auch die anti-japanifche Bewegung in Kalifornien, bie troß der friedlihen Bellegung des Konflilts im Jahre 1906 nicht ver- fhwunden war. Dies trat veutlih in dem mit feltener Einftimmigfeit von den gejeggebenden Körperſchaften Kaliforniens angenommenen Geſetz von 1913 zutage, weldhes allen Ausländern, bie nicht die amerikaniſche Staatsangehörigfeit erlangen lönnen, den Erwerb und die Übertragung von Grund und Boden im Staate Kalifornien verbietet”*”).

Zroß der perjönliden Bemühungen des Präfidenten Wilfon, biefen neuen Konfliktftoff zu befeitigen, ift eine Löfung diefer Landfrage noch nicht geglüdt. Daß dieſes Gejeb fih in erfter Linie gegen Japan richtet, geht aus feiner Faſſung deutlich hervor und ift auch von den Yapanern in diefem Sinne auf- gefaßt worden”). Wenn fi au nur ein Prozent von allem bebauten Boden von Kalifornien in japanifchen Händen befindet, fo läßt doch das Anwachſen des japaniſchen Befites in Kalifornien von etwa 14000 Acres im Jahre 1907

*) Vergleiche Hierzu die Tabelle der japanifhen Cinwanderung im „Immigration Bulletin for March 1914“ (U. S. Departement of Labor):

OT: mu ie Da ee a a a 80824 LOB" 3,00. 26: a a a ee ec 16418 LUD a u a a 8275 OD: 25, 10: car 2798 Ol 0a 08 28.0 ra 4575 JOD 5: 0 Sa 6172 BON: 5; ur 00. 8802

Hierbei find aber nur die mit Negierungspäfien verjehenen Einwanderer gezählt, während zweifellos zahlreiche Arbeiter ohne ben erforderlihen Pak über Kanada und Mexiko in die Union gelangen.

Ein gleihe® Anwachſen macht fi bei der chineſiſchen Einwanderung bemerkbar, die im Sabre 1907 bis auf 770 gefallen war. Im Jahre 1918 betrug die Einwanderung bereits wieder 2022 Chineſen.

**), Bekanntlich Tönnen nad ber Berfaflung der U. S. A. nur Weiße, Schwarze und Mote daB amerilanifhe Bürgerrecht eriverben.

»**) Vergleiche Iyenaga: „The relations of the United States with China and Japan“ (in „The Annals of the American Academy of Political and Social Science“, Juli 1914) Seite 267.

Die Dereinigten Staaten von Amerika und Japan 41

auf 26571 Acres im Jahre 1912*) auf ein rafches Steigen dieſes Prozent- fages fchließen, wenn dem weiteren Erwerb von Grund und Boden durch bie fparfamen und fleißigen Japaner nicht entgegengetreten wird.

Welches find nun die Gründe für diefe Abneigung der Amerilaner gegen bie japanifde Einwanderung? |

Zweifellos ſpricht auch bei diefer Abneigung gegen die Einwanderung ein wirtſchaftlicher Faktor mit**); er tft aber feineswegs der maßgebende wie in ber oben bebandelten Frage bezüglich der Integrität Chinas und ber „Offenen Tür” im Fernen Dften. Der Fleiß der japaniihen Cinwanderer, ihre Spar- famfeit und die Genügfamleit in ihren Lebensbedingungen, die hieraus fich ergebende Möglichkeit, für weit geringeren Lohn zu arbeiten, als dies der weiße Arbeiter zu tun imftande tft, alle diefe Yaltoren mögen zur Berftärlung und Bertiefung des Hafjes gegen die gelben Einwanderer beigetragen haben, ber Hauptgrund, der auch wirkſam bliebe, wenn alle fonitigen wirtſchaftlichen und ſozialen Gegenfäge fortfielen, ift die in den Norbamerilanern tief eingewurzelte Abneigung gegen die farbigen Naffen. Es wird wohl heute von niemandem mehr beftritten werben können, „daß es nicht ſowohl Vernunftsgrände find, die den Japanerhaß in Nordamerila erzeugt haben, als ein in den Tiefen des Sefühls veranterter, unbelehrbarer, ſchwer zähmbarer Raffenhaß“ **”).

Diefer Haß bat feinen Hauptgrund in der Affimilationsunfähigleit der gelben Raſſe. Während fi die Einwanderer aus Europa mehr oder weniger ' ſchnell affimilieren und im amerikaniſchen Volle aufgeben, fcheint eine Affimilation der Aftaten mit den Weißen in Nordamerila unmöglid. Der gelbe Einwanderer, und insbefondere der Japaner, wird ftet3 feinen Nationalcharakter und die ihm von Kindheit an eingeimpften Traditionen beibehalten, und er wird aus dieſem Stunde immer einen fremden Beftanbteil in ber Bevöllerung bilden.

GSelbftverftändlich ift diefer Haß dort am ftärkiten, mo man am meiften mit der gelben Raſſe zu tun bat, das beißt im Weften der Union, und von hier aus werden alle Hebel in Bewegung gejest, um die Bundesregierung zu einer endgültigen Regelung der Aftatenfrage zu veranlaffen, das heißt zu einem wirffamen und vollftändigen Ausfchluß der gelben Raſſe. Denn nur hiermit glaubt der Weftftantler fich zufrieden geben zu Tönnen, da in feinen Augen bie japaniiden Einwanderer „eine immer drohende Gefahr“ für die weiße Be völferung in den Weftftanten find, mögen fie nun in großen Maſſen binüber- kommen oder nur einzeln und in geringer Anzabl}). Für weniger drohend wirb

*) Bergleihe Schulge- Grokborftel: „Die Yapanerfrage in den Vereinigten Staaten bon Rordamerita.”.

"*) Rathgen, a. a. O. ſcheint dem wirtichaftlihen Faltor eine allzugroße Bedeutung bei⸗ zumeſſen, wenn er (Seite 125) die wiritſchaftlichen Gegenſätze als den „tatſächlichen Unter⸗ grund“ für die antijapanifhen Stimmungen in der pazifiihen Welthälfte bezeichnet.

0) Bergleihe Schulge-Broßborftell, a.a.D., Eoolidge, a. a. O., Seite 841.

: +) Vergleiche den Brief des Mitglieds für Kalifornien im Nepräfentantenhaufe E. A. Hayes im „Dutloof" vom 14. Yebruar 1914 (Seite 340).

493 Die Dereinigten Staaten von Amerifa und Japan

dieſe Frage in den Dftftaaten gehalten, wo man auſcheinend ber Anficht ift, fie auf diplomatifdem Wege durch gegenfeitige Zugeltändnifie aus der Welt ſchaffen zu können, und hofft, daß fie mit der Zeit an Schärfe verlieren wird.

Hiergegen fpricht jedoch, wie Profeffor Coolidge in einem im Yrühjahr 1914 gehaltenen Vortrage über „das Raffenproblem der Vereinigten Staaten“ hervor⸗ gehoben bat, die Erfahrung, daß fi, während auf religiöfen und ähnlichen Gebieten eine immer größere Duldfamleit eintritt, in allen Völlern die Ab- neigung gegen fremde Nafjen immer mehr feſtigt. An ein Abnehmen des Hafles gegen die Japaner ift demnad gar nicht zu denfen, vielmehr ſpricht alle Wahricheinlichkeit dafür, daß die Abneigung gegen die gelbe Raſſe immer tiefere Wurzeln jchlagen und immer allgemeiner werden wird, fo dab Raffen- fümpfe keineswegs fo außerhalb jeglicher Möglichkeit Itegen, wie manche Amerilaner zu wähnen fcheinen.

Denn darüber muß man fi doch Mar fein, daß fih die Japanerfrage nicht fo einfach enticheiden läßt, wie die Negerfrage, die, da aud fie auf der Abneigung gegen eine andersfarbige Raſſe beruht, im Grunde mit dem Problem der gelben Einwanderung viel Ähnlichkeit bat. Jeder, der die amerilanijchen Berbältniffe auch nur einigermaßen kennt, weiß, daß die Negerfrage noch feineswegs aus der Welt gefchafft ift, mögen die Neger auch nad dem Bud)» ftaben des Geſetzes den Weißen gleichgeftellt fein. Dies beweiſt am beften bie im Süden der Unton herrſchende Feindfeligleit der weißen Einwohner gegen ihre ſchwarzen „Mitbürger“, die ihren ſchärfſten Ausdrud findet in der zwar gefeßwidrigen, dennodd aber nolens, volens gebuldeten Lynch⸗ juſtiz.

Aber in einem ſehr weſentlichen Punkte liegt ein Unterſchied zwiſchen der ſchwarzen und gelben Stage. Während um die Behandlung der Neger in den Bereinigten Staaten niemand fi große Sorge macht, vielleicht nur dann und wann ein allzuzart befaiteter Menſchenfreund feine Stimme erhebt und gegen die Unmwürdigleit des Negerhafles für eine fo freiheitliebende Nation wie die Amerilaner predigt, fteht Hinter den japanifchen Einwanderern die nicht zu unterfhähende Kriegsmacht Japans. Nie und nimmer wird Japan dulden, daß feine Söhne in der Union ebenfo behandelt werden wie die Schwarzen, und es wird feine ganze Macht einjegen, um Sühne zu verlangen für jegliche Verlegung des hohen, vielleicht überipannten japanifhen Ehr⸗ und National- gefühls. Schon jet verlangt Japan die Gleichitellung feiner Landesfinder mit denen anderer Nationen und fordert, daß den Japanern unter den gleichen Bedingungen die Einwanderung gejtattet werde, wie den Angehörigen der weißen Raſſe. Ob die Regierung der Vereinigten Staaten biefen an fid) vielleicht berechtigten Forderungen nacdhlommen wird, iſt doch noch fehr zu bezweifeln. Ohne völlige Gleichſtellung mit der weißen Raſſe wird fich der Japaner aber niemals zufrieden geben. Aus politifhen NRüdfichten wird man vielleicht noch mandmal in Zolio nachgeben, aber dieſe Forderung wird immer wieder von

Die Dereinigten Staaten von Amerika und Japan 43

neuem geftellt und, wenn bie politifche und militärifche Konftellation einmal günftig ift, mit aller Energie durchgefeht werden.

Ebenfo wie in den Vereinigten Staaten wächſt allmählich auch die anti- japantide Stimmung in den englifchen Dominien von Auftralien und Kanada. Hierhin hatte fi der Strom der japaniihen Einwanderer gewandt, als ihnen die Bereinigten Staaten verichloffen wurden. Aber nad) anfänglicher Vegeifterung über die billigen Arbeitskräfte erfolgte auch bier der Umjhwung. Japan war alfo wiederum gezwungen, fih nad einem neuen Abjahgebiet für feine über- ſchũſſige Bevölterung umzuſehen; denn auf den japanifchen Inſeln ift die Volls⸗ jiffer an der Grenze ber Ernährungsmöglichkeit angelangt. Allerdings befinden ſich im Hollaido und auf Formoſa menfchenleere Gegenden, die an und für fich wohl geeignet wären, für einige Jahre die zur Abwanderung gezwungene Bevölkerung ber japanifchen Inſel aufzunehmen, aber die Tatfadhe, daß biefe Gebiete trotz jahrzehntelanger Kolonifationsarbeiten noch immer dünn bevöllert find, beweiſt am beiten, daß fie für die japaniſche Kolonifation im großen Umfange nicht geeignet find, da, wie Rathgen”) ausführt, einerjeits Klima und Broduftionsbedingungen ben Japanern nicht zufagen, und da anderſeits der landwirtſchaftliche und induftrielle Großbetrieb dort fehlt.

China ift dicht genug bevölkert und zeigt auch feinerfeitg einen immer ftärler werdenden Geburtenüberjchuß, fo daß hier eine Unterbringung der über- fhüffigen Bevölferung Japans ausgefchlofien iſt. Korea mag allerdings noch für einige Hunderttaufende japanifche Koloniften Plab haben; aber auch bier nimmt jebt die eingeborene Bevöllerung an Fruchtbarkeit wieder zu, jo daB es unwahrſcheinlich ift, daß diefes Land auf Jahre für eine Kolonifation in größerem Maßſtabe in Betracht kommt.

Neuerdings bat fi daher bie japaniſche Auswanderung nad) dem romaniſchen Amerifa gewandt, insbefondere nad) Peru, Chile und Brafilien**), wo bie japanifchen Arbeiter auf den großen Kaffeeplantagen bereit in großer Anzahl neben den Stalienern arbeiten. Die japanifche Regierung unterſtützt diefe Bewegung, indem den nad Südamerifa gehenden Dampferlinien und ben betreffenden Ausmwanderergefellichaften Prämien gezahlt werden. Daß dies alles nicht nur aus dem Grunde geichieht, den Wünfchen der Regierung in Waſhington entgegenzulommen und den Auswandererfttom von der Küſte der Bereinigten Staaten abzulenten, liegt Har auf der Hand.

Zweifellos wird Japan, wenn erjt die Einwanderung lange Zeit genug gedauert hat und die japantfchen „Intereſſen“ in Südamerifa groß und wichtig genug geworden find, mit feinen imperialiſtiſchen Plänen nicht länger hinter dem Berge halten und die Frage der Gründung eines „Shin Nihon“, eines „Reuen Japans“ auf amerllanifchem Boden aufmwerfen***). Denn die ſchwachen

*) Vergleiche Rathgen, a. a. D., Seite 128.

”®) Bergleihe Grünfeld, „Die japanifhe Auswanderung”, 1913, Seite 114 ff. ”*) Vergleiche Aubert: „Americains et Japonais“, 1908, Seite 279.

44 Die Dereinigten Staaten von Amerika und Japan

füdamerifanifhen Regierungen werben den japaniſchen Forderungen nicht die Macht entgegenfegen können wie die Vereinigten Staaten.

In der Maffeneinwanderung der Japaner nad) Sübamerila liegt nun auch eine nicht zu unterfchägende Gefahr für die Vereinigten Staaten. Wie die Union den Gebietserwerb durch eine europäiſche Macht in Südamerika ftets verhindert bat und jegliden Gelüften europäiſcher Staaten, fi eine der all- täglichen Revolutionen oder die chroniſche Geldverlegenheit gewiſſer Staaten zu- nuße zu machen und ſich auf fübamerilaniihem Boden feftzufeben, auf das entſchiedenſte entgegengetreten ift, ebenjo wird die Unton ihre feit beinahe einem Jahrhundert ftreng durchgeführte Politik, wie fie in der Monroe-Doltrin zum Ausdrud gelangt ift, auch Japan gegenüber verfolgen. Die Vereinigten Staaten werden und möüfjen verhindern, daß die Träume der japanifchen Imperialiften von einem „Shin Nihon“ fi in Südamerika verwirllichen, daß Japan fihd in Südamerika das für ihn notwendige Kolonifationsgebiet zur Unter⸗ bringung und Ernährung feines reichen Menſchenmaterials ſchafft, das ſchon heute einen jährlichen Zuwachs von 700000 Seelen zu verzeichnen hat und im Zukunft aller Wahrfcheinlichleit nach einen noch größeren jährlichen Zuwachs aufweifen wird. Auch hierin liegt aljo die nahe Möglichkeit eine Zufammen- ftoße8 zwiſchen den Vereinigten Staaten und Japan; denn derartige Fragen laſſen ſich nicht durch Verträge und ſchöne Worte regeln.

Wir wollen an dieſer Stelle nicht unterſuchen, ob die Gerüchte auf Wahrheit beruhen, die des öfteren die Luft durchſchwirrten, daß Japan den Anlauf einer Kohlenſtation an der merilanifhen Küſte beabſichtige, und daß Japan die indirelte Triebfeder zu den zahlreichen Bürgerkriegen Merilos in ben lebten Jahren gewefen ift, um beſſer und leichter im Trüben fiichen zu tönnen. Es ſcheint aber fo, als ob man in Wafhington felbft doch nicht fo recht an das völlige „Desinteressement“ Japans glaubt, und- aus diejem Grunde jet eine endgültige Regelung ber merifanifchen Frage herbeiführen will, nit nur etwa, um die großen amertlanifchen Handelsinterefien im ſüdlichen Nachbarſtaate zu ſchützen und zu fördern, fondern zweifellos auch, um dort eine Regierung einzufegen, die den wohlwmollenden Fingerzeigen des „großen Bruders” in Waſhington Folge leitet, und die imftande und gemillt ift, jeglichen Gelüften anderer Staaten auf mexikaniſches Gebiet mit aller Macht entgegenzutreten.

Erſt kürzlich erllärte der Senator von Illinois, Lewis, in Waſhington, daß wegen der merilanifchen Frage ein Krieg zwilchen ben Vereinigten Staaten und Japan vor der Zür ftehe und bei ber weiteren Verfolgung ber amerilaniſchen Politik Merilo gegenüber zum Ausbruch kommen müfle Wir glauben jedoch nicht, daß die merilanifhe Frage jest wenigſtens noch nicht der Funle fein wird, der das amerilanifdh-japanifche Pulverfaß zur Erplofion bringen wird. Die Äußerung des Senator8 beweift jedoch, daß man auch in den mehr öftliden Staaten der Union an einen „ewigen Frieden“ mit Japan nicht mehr fo recht glaubt.

Die Dereinigten Staaten von Amerifa und Japan 45

III.

Wir glauben gezeigt zu haben, daß die beiden oben behandelten Fragen von größter Bedeutung ſein werden für die künftige Geſtaltung der Beziehungen zwiſchen den Vereinigten Staaten und Japan. Aber dieſe beiden Fragen bilden nur gleichſam die Eckpfeiler des weit größeren Problems, das wir hier in aller Kürze ſtreifen wollen, nämlich der Frage: ſoll die weiße oder die gelbe Rafſe im Stillen Dzean die Vorherrſchaft haben?

Bedeutende amerilantihe Gelehrte, mie ‘Münfterberg*) und Coolidge**) baben dieſen Kampf um die Vorherrſchaft im Stillen Ozean als leere Nedensart bezeichnet, die eigentli gar nicht bedeute. Hierbei fcheint ung aber ber Wunſch ber Vater des Gedankens zu fein, denn man wird in Amerila kaum die Augen verfchliegen können vor den Tatſachen, die befonder in den legten Jahren eine allzudeutliche Sprache fpreden. Gibt doch Eoolidge***) jelbft zu, daß der Stille Ozean für die Vereinigten Staaten von außerordent- licher Wichtigfeit ift, und daß „iährlih . . . die dortigen Begebenheiten für das amerikaniſche Volt wichtiger” werben. Kurz darauf ftellt er dann feit: „Für Yapan bedeutet aber das Stille Meer Anfang und Ende feiner Politik.” Gewiß: „Raum für alle hat die Erde;“ aber glaubt denn Coolidge wirklich, daß ein friedliches Nebeneinanderarbeiten der beiden imperialiftifhe Tendenzen verfolgenden Weltmädhte im Stillen Ozean auf die Dauer möglich fein wird? Wohl faum; denn die neueſten Ereigniffe der Weltgeichichte Iehren wenn es die Vergangenheit nit ſchon zur Genüge bemiefen haben follte —, daß auch der friedliche Wettbewerb zweier Völker auf dem Yelde des MWeltmarltes feine fchlieglihe Löfung im Kampfe mit den Waffen findet. Denn, wie das Sprichwort jagt: „Wo der Bäder wohnt, Tann der Schneider nicht wohnen,” und wie im Leben des einzelnen, fo tft e8 auch im Leben der Völker. Einer von beiden muß fchließlih weichen. Seine emporjtrebende, Träftige Nation aber und als folde kann man doch beide, die Vereinigten Staaten fomohl wie Sapan, bezeichnen wird freiwillig den Kampfplatz verlaffen, mag fie auch noch fo friedliebend fein, wenn fie weiß, daß die Behauptung des Feldes für fie ein Lebensintereffe tft.

Der Kauf von Alasta (1868), die Annerion von Hawai (1898), der Erwerb der Philippinen und der Inſel Guam in den Mariannen (im Frieden von Paris 1898), die Erwerbung der Inſel Tutuila in der Samoa- Gruppe duch Vertrag mit Deutſchland und Großbritannien (1899), ſowie nicht zum wenigften das Rieſenwerk des PBanamalanals beweiſen zur Genüge das Intereſſe der Bereinigten Staaten im Stillen Dzean.

Schon der Staatsfelretär William H. Seward, dem auch das Hauptverdienft an ber Erwerbung Alasfas gebührt, hat in den fechziger Jahren darauf Bin-

*) Münfterberg: „Die Amerifaner,” 1912, Band I, Seite 345. »9) Coolidge: a. a. D., Seite 854. 95) Goolidge: a. a. D., Seite 328.

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gewieſen, daß der Stille Dzean mit feinen Küften und Inſeln der Schauplag fein wird, auf dem ſich die großen Ereigniffe des zwanzigften Jahrhunderts abfpielen werben; und wenn nicht alle Erfahrungen trügen, ſcheinen die Nord⸗ amerilaner auf diefem Schauplage der Weltgefhichte die Hauptrolle ſpielen zu wollen”).

Aber au Japan hat fein „maritimes und pazifiſches Programm”, das fein „Shin Nihon“ durch „den Zug nad) Süden”, das beißt nad) den Inſeln und Inſelchen des Stillen Dzeans zu finden fucht**). Der frühere japanifche Minister Baron Kanelo***) hat unummunden erflärt: „Wir befigen .... alle möglichen Eigenfhaften, um unfer Land zu einer großen Nation zu erheben und uns das kommerzielle Übergewicht auf dem Stillen Dgean und dem afiatiſchen Feftlande zu fihern.” In diefer Erflärung Tommen die Ziele bes japanifchen Imperialismus Har zum Ausdruck: es tft die wirtfchaftlicde Durch⸗ dringung die zur Genüge befannte „Penetration pacifique* Chinas und-des Stillen Dzean als Vorbereitung für die fpätere politifhe. Denn diefe ift, wie Chamberlain in den achtziger Jahren einmal hinfichtlich Kanadas Stellung zu den Vereinigten Staaten gejagt hat, die regelmäßige, früher oder ipäter eintretende Yolge der wirtſchaftlichen Durchdringung.

Hier im Stillen Ozean freuzen fi die fagen wir zunächit, wirtichaft- lichen Intereſſen der Vereinigten Staaten und Japans, bier Liegt der Punkt, wo bie imperialiftifhen QTendenzen der beiden Staaten zufammenftoßen müſſen, wenn feine von ihnen ihre transpazifiiden Träume aufgibt}).

Die Gefahr eines Kampfes um den Stillen Dzean läßt ſich alſo nicht binwegleugnen, mag man auch noch fo oft erklären, daß der Große Ozean genügend Raum biete für die wirtfchaftlihde Entwidlung aller Nationen und nicht einer einzigen Nation gehören fönnefr).

Wie wird fih nun dieſes Verhältnis zwifchen den Vereinigten Staaten und Japan nad) dem Weltfriege geftalten? Welche Wirkungen wird die Zeil. nahme der gelben Weltmadt an diefem Kriege auf die oben behandelten Tragen ausüben?

Auf eine Befferung der Beziehungen ift mohl kaum zu rechnen; viel eher werben die verjchievenen Gegenfähe zwiſchen den beiden Staaten noch ſtärker werden.

Wir haben bereits auf die Eroberung von Kiautſchau bingemwiefen, ſowie auf die vorausfihtli dauernde Feſtſetzung Japans in der Provinz Schantung. Wie fi) die Verhältnifie beim Friedensſchluß geftalten werden, weiß heute Tein

*) Bergleihe Daenell: Geſchichte der Vereinigten Staaten von Amerila, Seite 168. **) Vergleiche Kiellen: „Die Großmächte der Gegenwart”, 1914, Seite 196. »*) Sanelo: „DOrganifation eines Tonftitutionellen Staates” (in Stead: „Unfer Baterland Japan“, 1904), Seite 28. +) Vergleiche Aubert: a. a. O., Seite 288 vergleiche auch Kjellen: a. a. O., Seite 196. tr) Vergleihe Eoolidge: a. a. O., Seite 814.

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Menſch; nur foviel fann man wohl mit Beftimmtheit vorausfagen, daß auch Japan auf dem Friedenskongreſſe feine Rechnung präfentieren und feine Anſprüche zum Zeil wenigſtens auch durchſetzen wird. Zu diefen wird aber in erfter Linie die Abtretung von Kiautichau oder, falls dieſes wie wir hoffen an Deutſchland zurüdgegeben wird, bie Überlaffung irgendeineg anderen Stüdes von China gehören. Der hierdurch entitehenden Gefahren für China und ber notwenbigerweife aus der Belebung folgenden Gefährbung der amerilanifhen Intereſſen ift bereitS oben gedacht worden.

Daß die Einwanderungsfrage nah dem Kriege leichter zu löſen fein wird, läßt ih mit Fug und Recht bezweifeln. Dur den fchändlichen Berrat Englands an der weißen Raſſe und durch die dringenden Hilferufe um Japans Unterſtützung auf den europätichen Schlachtfeldern von feiten der Verbündeten wird das ſchon ohnehin ftarfe Selbftbewußtfein und Nationalgefühl der Japaner in bedeutendem Maße noch erhöht werden. Die Folgen der ErfenntniS von den Schwächen der weißen Raffe werden aber auch in der Haltung Japans in ber Einwandererfrage den Bereinigten Staaten gegenüber bald zutage treten.” Mit größerer Schärfe wird die japaniiche Regierung nad) dem Striege die Bleichftellung der japaniſchen Einwanderer mit denen anderer Länder fordern und nicht ruhen, bis dem durch die Zurückſetzung aufs tieffte verlegten japanijchen Stolze volle Genugtuung verſchafft tft.

Wie wollen die Amerikaner die Naflenfrage dann Iöfen? Weber ein internationale8 Schiedsgericht noch ein nationaler Gerichtshof trgendeines Landes ift imftande, eine derartige Frage zu löfen, wenn zwei große und mächtige Staaten als Vertreter der beiden Raſſen auftreten.

Bon ganz befonderer Bedeutung aber ift die Beſetzung ber deutſchen Sübdfeeinfeln Dur) die Japaner. Durch die Beſetzung der Mariannen, Karolinen- md Marſchall⸗Inſeln ift Japan Amerika bedeutend näher gerüdt, näber, als es den Amerilanern lieb fein Tann. Zugleich aber tft es die erfte Feſtſetzung ber gelben Weltmacht in der Südfee, die erfte Etappe auf dem Wege nad) dem amerikaniſchen Erbteil.

Die fich bieraus für die Vereinigten Staaten ergebenden Gefahren ſcheint man aud in Waſhington allmählich) einzufehen und richtiger einzufchägen, als bies bisher der Yall war.

Bis in die neuefte Zeit glaubte man fi vor Japan ziemlich fiher. Man wies auf die alte Yreundichaft ber beiden Länder hin, auf die engen Handel3- beziehungen und vor allem auf die Dankbarkeit, die die Japaner ihren Xebrern, den Amerilanern fchuldeten. Alljährlich kämen hunderte japaniſcher Studenten na den Bereinigten Staaten, um an den dortigen Univerfitäten und Schulen amerikaniſche Wiſſenſchaft und amerilanifchen Geiſt in fi) aufzunehmen. Auch erwähnt man mit Vorliebe die Feitreden großer japanifcher Perfönlichleiten auf Kongrefien und Banletten, die man in der Union ihnen zu Ehren veranitaltete. Dana ſcheint e8 allerdings, als ob es Heine befferen Freunde geben

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könne als die Vereinigten Staaten und Japan. Aber die Medaille hat auch eine Kehrſeite. | nn =

Mit der traditionellen Freundfchaft ift es nicht mehr fo weit her, al$ man fih gerne glauben machen möchte. Sie hat einen tiefen Riß erhalten, einen Nik, der nicht befeitigt werden fonnte, obwohl bereitS ein Jahrzehnt feitdem verfloffen if. Dies geihah durch die Haltung Amerilas bei den Friedens⸗ verhandlungen in Portsmouth im Jahre 1905. Mögen die japaniihen An- ſchuldigungen, daß die Vereinigten Staaten das japanifhe Voll um die mit Sicherheit erwartete ruſſiſche Kriegsentfhädigung gebracht haben, wahr jein ober nicht, jedenfalls ift e8 Tatfache, daß feit jenen Tagen in den amerilanifch-japanijchen Beziehungen eine ftarle Trübung berrfcht, Über die man ſich trob Banketten und Berbrüderungsfeften nicht hinwegtäuſchen Tann.

In diefem Punkte befteht eine gewiffe Ähnlichkeit mit dem Verhältnis Japans zu Rußland und Deutſchland. Auch in den freundfchaftlichen Beziehungen zu diefen Ländern hat ihr Eingreifen auf dem Friedensſchluſſe von Shimonofelfi 1895 eine Wendung zum fchlechten zur Folge gehabt: mit Rußland hat Japan 1904/05 abgerechnet, an Deutſchland hat es fi 1914/15 durch die Teilnahme, am Weltfriege gerät. Auch der Tag der Abrechnung mit den Bereintgten Staaten für ihre Intervention im Jahre 1905 wird kommen, vielleicht, um bie Feſtſtellung NiegelSbergers*) zu vervollitändigen, daß Japan - in der lebten Zeit alle zehn Jahre einen Krieg führt, im Jahre 1924/25.

Wie lange es noch gelingt, die endgültige Löſung binauszufchieben, ift natürlip nicht Tvorauszufagen; es können zehn, dreißig, fünfzig und mehr Fahre darüber ins Land geben, e8 kann aber ebenfogut bereit8 in der nächiten Zeit zur Entiheidung kommen. Vorausſichtlich aber wird ein wirtfchaftlicher Kampf zwiſchen den Vereinigten Staaten und Japan vorausgeben, der jchlieklich ähnlich dem deutſch⸗engliſchen Konkurrenzkampfe zum politiihen Konflikt ausreifen wird. Wenn die Zeit dann reif ift, werden fi genügend Gründe finden, die den Bruch herbeiführen; an Kriegsvormänden hat es in der Welt. geſchichte ja noch niemals gefehlt.

jedenfalls wird dieſer Krieg früher oder fpäter ausbredhen, denn die amerilanifh-japaniiche Frage bildet wie wir in kurzen Umrifjen gezeigt zu haben glauben gleichſam einen gordiſchen Sinoten, der nur durch das Schwert gelöft werden kann. Ob der „Alexander“, der diefen Knoten löſen wird, ein Amerilaner oder ein Japaner fein wird, ift natärli heute noch völlig ungewiß. Zweifellos find die Amerifaner ein ſehr friedliebendes Boll, und ihre DVerdienfte um da8 Werl der Haager Konferenzen find zur Genüge befannt. Aber „es Tann Fein Menſch im Frieden leben, wenn e8 dem böfen Nachbar nicht gefällt“. Die Wahrheit dieſes Sprich⸗ wortes werben aud bie Amerilaner bald erkennen, und fie werben Teinen

”) Riegelsberger: a. a. D., Seite 85.

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Augenblid zögern, wenn ein anderer Ausweg nicht mehr vorhanden ft, ihre Intereſſen mit dem Schwerte in der Hand aufs Außerfte zu verteidigen; denn noch iſt die Friedensliebe der Amerikaner nicht zur „Friedenskrankheit“ aus⸗ geartet, und fie wiflen wohl, daß es für ein Boll nichts Schlimmeres und Gefährlicheres gibt, als „peace-at-any-price-men“ zu fein, wie dies Roofevelt einmal ausgedrüdt hat, das heißt den Frieden zu erhalten, jelbft wenn das Land darüber zugrunde zu gehen droßt.

Die eifrigen Rüftungen zu Lande und zu Waſſer, die jebt ins Werl geſetzt werden, lafien erfennen, daß bie Vereinigten Staaten bereit find, ihre Intereſſen gegebenenfalls mit den Waffen zu verteidigen. Daß dieſe Vorberetiungen in eriter Linie gegen ben Nachbarn jenſeits des Stillen Dzeans gerichtet find, geht aus den Kommiffionsreden in den gejeßgebenden Körperichaften, ſowie aus den zahlreichen Zeitungs. und Zeitfchriftenartifeln hervorragender Männer über die Rüftungsfrage hervor. Sie alle ftimmen darin überein, daß der von Deutihland ſtets durchgeführte Grundſatz allein richtig fe:

„Si vis pacem, para bellum.“

Grenzbsten 11 1915 4

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Unſere nächſte Handelspolitik

‘Don Dr. Hugo Boͤttger, M. d. R.

wei Strömungen werben nach dem Kriege in den großen Handels⸗ ftaaten, die durchweg unmittelbar oder mittelbar ſtark an den Kriegsmwirren beteiligt find, gegeneinander kämpfen: die aus maßlofer Verbitterung geborene Boylottbewegung, der Verſuch fich von Erzeugniffen aus den bisher feindlichen Staaten unabhängig zu machen und das mindeftens ebenfo ftarke Bedürfnis der Großmaͤchte, ſich nach der finanziellen Blutabzapfung wieder zu erholen und Handel und Wandel mindeftens in denfelben Zuftand wie vor dem Kriege zurüdzubringen, wenn mögli noch das Gefchäft zu heben. Dazu gehört aber außer dem Wieder- aufbau des Binnenmarktes auch die Belebung des Abſatzes nad) fremden Ländern. Mag auch einige Zeit darüber hinweggehen, beide Strömungen werden fi) doch ausgleichen müffen, und die Nationen werden einfehen, daß auf die Dauer der Zorn ein ſehr mangelhafter Berater if. Was unfere Handels- und Wirtſchaftsverhältniſſe angeht, fo find bei ihrer Eigenart einer jeden gegen uns gerichteten Boylottbemegung enge Grenzen gezogen. Es iſt der Vorteil und der Nachteil unferer Ausfuhr, daß fie nad einer großen Zahl von Ländern geht und in viele Hunderte von Handelsartikel zerfällt. Da wird dem Boykott von vielen Seiten ſchon die Arbeit ſehr ſchwer gemadt. Wir dürfen alfo in diefer Hinſicht ziemlich unbeforgt in die Zukunft fehen.

Der große Weltkrieg fiel mitten in die Vorbereitungen zu den neuen Handelsverträgen binein. Mit Schluß dieſer Legislaturperiode mußte auch eigentlid die parlamentarifde Arbeit für diefen Gegenftand beginnen, da bie HandelSverträge im Sabre 1918 ablaufen follten. Inzwiſchen haben fie ja größtenteils ihre Wirkſamkeit verloren. Man wird fih der Verhandlungen im Neichstage im Januar vorigen Jahres entiinnen. Der Staatsfetretär- des Innern hatte erflärt, die verbündeten Regierungen wollten feinen Vertrag fündigen und fie hätten auch nicht die Abficht, eine Novelle zum Zolltarif von 1903 bherauszubringen. Das wurde von der maßgebenden Induſtrie nicht ohne Bewegung aufgenommen. Die mit uns lonlurrierenden Staaten hätten eine erheblich ſtärlere Stampffreudigleit an den Tag gelegt und es könnte

Unfere näcfte Handelspolitif 51

zweifelhaft erfcheinen, ob bei dem von der Regierung angebeuteten beſcheidenem Maß von Borbereitungen unfere Intereſſen wirklich ausreichend wahrgenommen werden Tönnten. Es müßte bejonderd beachtet werden, daß die Langfriftigkeit unferer Hanbelspolitif, die ein befonderes wertvolles Stück darftellte, in Gefahr gebracht werden würde, falls die Gegenparteien, wozu fie berechtigt fein würden, jeden Handelövertrag immer nur auf ein weiteres Jahr in Gültigkeit beftehen laſſen molten. Das würde zu bedenklihen Konjunkturſchwankungen und Unficher- beiten fonftiger Art führen. Um unferen handelspolififchen Htmmel nicht wolfenlos eriheinen zu laſſen, kam auch noch die ruffiihe Drohung hinzn, die unfer Einfuhrſcheinſyſtem mit der Sperrung der ruffiihen Wanderarbeiter beantworten wollte. Man bat aber diefer Drohung eine übermäßige Bedeutung nicht bei- gelegt, weil das geringe Duantum von Roggen, das mit Hilfe der Einfuhr- heine nad Rußland ausgeführt wird, in feinem Verhältnis zu der gewaltigen Maſſe von landwirtſchaftlichen Erzeugnifien fteht (über 900 Millionen Marf), melde wir aus Rußland jährlich bezogen haben. Auch das bandelspolitifche Berhältnis zu den Vereinigten Staaten war in hohem Maße verbefferungsbe- dürftig und fchliegli bot auch die Neuregelung der Handelsbeziehungen zu Ofterreih-Ungarn einige Schwierigfeiten, was diejenigen Leute bei uns nicht überfehen follten, welche ziemlich leichthin von der mitteleuropätichen Zollunton ſprechen. Durch alle diefe Vorarbeiten ift, wie gejagt, vorläufig ein Strich gemacht worden. Die Weltgefhichte hat id mit anderen großen Aufgaben befaßt.

immerhin ftehen wir auch gerade infolge des Kriege vorausfihtlih vor großen bandelspolitiiden Umgeftaltungen, ganz glei, ob Deutichland auf der ganzen Linie den Frieden diltieren fann oder zu weitgehenden Kompromiſſen feine Hilfe nehmen muß. Da werden zunächit bei Friedensſchluß unfere Handels⸗ beziehungen zu unferen Feinden gründlich erneuert werben. Es tft Doch gerade die Eigenart diefes Krieges, dat an ihm außer den Vereinigten Staaten und den Niederlanden alle großen Handelsmächte beteiligt find. Der Außenhandel der am Striege beteiligten Mächte umfaßt einen Gefamtwert von rund 80 Milliarden Marl, während auf alle übrigen Staaten rund 30 Milliarden fommen, wovon der Xömenanteil mit annähernd 18 Milliarden auf die Unton fält. Man fagt alfo nicht zu viel, wenn man diefen Weltfrieg als das große Ringen der Handelsmächte miteinander bezeichnet. Die treibende Kraft der Kriegswirren, Großbritannien, geht ja auch auf nichts anderes hinaus, als auf Bernihtung und Ausfchaltung des deutſchen Wettbewerbs. Demgemäß wird, wie die riedensverhandlungen überhaupt, die Neugeftaltung der Handels- polttit ein fehr fehwierige8 und langwierige Kapitel bilden. Und wenn wir daher nicht mit ſehr Haren und möglichſt einfachen Yorderungen auf den Plan treten, fo wird der Wunſch unjerer Feinde, die Friedensverhandlungen moͤglichſt in die Länge zu ziehen, leicht in Erfüllung geben können.

Die Zeit ift noch nicht gefommen, alle Einzelforderungen in ber Dffent- lichkeit zu beſprechen. Es muß dabei unferen großen Wirtihaftsorganifationen

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52 Unſere nachſte Handelspolitik

der Vortritt gelaſſen werden. Aber man darf es ausſprechen, daß im zukünf⸗ tigen Friedensvertrage ein engerer Zuſammenſchluß mit dem einen oder anderen uns befreundeten Staate nicht außer Betracht bleiben kann. Man wird im übrigen an den bewährten Grundſätzen der Meiſtbegünſtigung feſthalten, aber derart, daß wir befugt bleiben, unferen Bundesgenoſſen ſowie den im Kriege neutral gebliebenen europäiſchen Staaten Borzugsbedingungen einzuräumen. Es wird auch bereits in Betracht gezogen, einen Unterſchied der Zollſätze für die Waren, die auf der Land» oder Seefeite eingehen, einzuführen, und zwar die Landfeiten zu begünftigen, was zugleich einen Ausgleich der Unter- ſchiede der Zransportloften ermöglidden würde. Mit Frankreich, mit dem uns bisher die glatte Meiftbegünftigung verband, wird ein Zarifvertrag anzuftreben fein. Schließlich ift dafür Sorge zu tragen, daß im Eiſenbahnverkehr in unferen Nachbarſtaaten im Dften und Weiten keine Beftimmungen mehr Gültigkeit haben dürfen, welche geeignet find, die Zollabmachungen aufzuheben oder zu durch⸗ freugen. Die Unterfheidungen der Transportloften für die vertragsichließenden Nahbarftaaten müßten aljo wegfallen. Sehr erftrebenswert ift, daß die Politik ber offenen Tür für alle Solonialgebiete, namentlih auch für die engliſchen Kolonten, weiteftgehende Anwendung findet.

Wenn man fi und anderen in der deutſchen Lffentlichleit große Be— I&hränktungen bei der Erörterung der Kriegsziele auferlegte, fo geſchah es viel- fa unter der ſtillſchweigenden Vorausfehung, daß dur allzumeitgehende Forderungen nad) neuem Landbefi die Zukunft unferer Handelspolitik und damit da8 Gedeihen unferer Induſtrie und die Beichäftigung unferer Arbeiter in Frage geftellt werben könnte. Man kann aus anderen Gründen für Zu- rüdhaltung eintreten. Unfere zufünftige Handelspolitik ift gewiß nicht völlig unabhängig von der Neugeftaltung der Landgrenzen, aber fie ift auch Teines- wegs davon beberrfht. Was wäre wohl aus der Eroberungspolitif fo großer Handelsmädte wie Großbritannien und der Vereinigten Staaten geworben, wenn fie ihre Erpanfionsbeitrebungen von den NRüdfichten auf die weitere Ent- widlung ihres Handelsverlehrs abhängig gemacht hätten. Beide find rüdfichts- 108 vorangeſchritten und wir ſehen, daß auch eine Fleinere Handelsmadt, wie etwa Japan, ſich feine Schranken auferlegen läßt und frobgemut einer größeren Zukunft entgegengeht. Mag auch der deutſche Erport feine Eigenarten haben, was nie aus dem Auge gelaffen worden ift, im großen und ganzen ijt doch richtig, daß wir e8 ebenfo halten können wie die anderen Großmädite.

Gobineau über Deutfche und Sranzofen

Don Prof. Dr. £udwig Shemann iederholt während des jetigen Krieges gefragt, wie wohl Gobineau a 8 zu dieſem und zu uns ſich geſtellt haben würde, und von be- on freundeter Seite eindringlich aufgefordert, ihn, wie es mit andern

EAN Geiftesmäcdtigen wohl gefchehen, als Zeugen für uns heranzu- —— ziehen, habe ich ſolchen Anfragen und Aufforderungen gegenüber bisher, wenigſtens vor der Offentlichkeit, Zurückhaltung bewahren zu ſollen ge⸗ glaubt, hauptſächlich aus dem Grunde, weil ich der Meinung war, Gobineaus Verhältnis zu den Deutſchen und zum Deutſchtum in einer Reihe früherer, noch dazu in Buchform vorliegender Schriften ſo gründlich, allſeitig und unanfechtbar feſtgefſtellt und aus den Quellen belegt zu haben, daß alles weitere über ben Gegenftand fortan nur als Wiederholung erfcheinen lönnte*). Wenn ich dennoch zu diefem bier nochmals das Wort ergreife, jo gejchieht es, weil gerade neuefter- dings von Gobineau allernächſt ftehender Seite verfucht worden ift, die von mir begründete und in Deutſchland jetzt allgemein verbreitete Auffaffung anzu- fehten, ja in ihrem Kern zu erfchüttern. ch werde unter diefen Umftänden nit umhin Tönnen, das Weſentliche meiner früheren Darlegungen nochmals furz zufammenzufafien, habe mich aber nunmehr, der Zeit Rechnung tragend, entſchloſſen, jene durch ein bedeutfames Neues zu erweitern, das eigentlich feine Stelle erft im Schlußbande der Biographie hätte finden follen, im gegenwärtigen Augenblid aber duch die vielen intereflanten und fchlagenden Parallelen, die e8 an die Hand gibt, noch weit unmittelbarer wirken dürfte: nämlich durch Mitteilungen über Gobineaus Erlebniffe während des Krieges 1870/71 und vor allem durch die Analyje feiner bisher völlig unbelannten Schrift über biejen Srieg.

Ehe ich aber zu diefen Dingen übergebe, liegt e8 mir ob, den erwähnten Verſuch, der Stellung Gobineaus zu unjerem Vaterlande ein von Grund aus

) Ich vermweife bier in erfter Linie auf die ganz unferem Thema gewibmete Schrift „Sobineau und die deutihe Kultur”. Leipzig, Sr. Edardt, 1910. Demnächſt auf den eriten Band der Biographie „Sobineau”, Straßburg, Trübner, 1913, nebit dem Beiband „Quellen und Unterfuhungen zum Leben Gobineaus”, ebenda 1914. Auch in dem früher erfchienenen „Gobineaus NRafienwert, Attenftüde und Betrachtungen“, Stuttgart, Frommann, 1910, findet fi manches Beachtenswerte bierfür.

54 Gobineau über Deutſche und Sranzofen

anderes, ja umgelebrtes Anfehen zu geben, zurückzuweiſen. Schwer tft bies nicht, wenn auch zunächſt der Umftand, daß bie eigene Toter Gobineaus es ift, weldde ihren Vater von uns loszureißen unternimmt, deren Worten in den Augen Unbelehrter einen gewifien Nimbus verleihen dürfte.

Jahrelang habe ich mich bei meinen biographifchen und fonftigen Arbeiten über Gobineau der mwohlwollendften und nugbringendften Förderung durch bie Genannte, Frau Baronin von Guldencrone, zu erfreuen gehabt. Da kam der Krieg, der ihr, wie ben meiften nichtdeutſchen Zeitgenofien, nur in der uns allen ja befannten Beleuchtung bargeftellt wurbe, und unfere angeblich durch die „Zerftörung Löwens“ begangenen Bandalismen boten ihr den Anlaß, ſich von dem Geiſteswerke, das vor einundzwanzig Jahren ſich in der Gobinean- Bereinigung verlörpert und ſeitdem den Ruhm bes Schöpfers bes Verſuches über die Ungleichheit ber Menfchenraflen und ber Renaiffance weithin ausge» breitet bat, entrüftet zurüdzuziehen. Jetzt will fie in einem offenen Brief an den QTemps*) dartun, daß die enge Verkettung Gobineaus mit Deutſchland überhaupt zu Unrecht ftattgefunden habe, nur auf einem Mifverftehen berube; daß Gobineau eine fehr geringe Meinung von ben Deutſchen gehabt, und daß eine Bewunderung vielmehr England gegolten habe, „woraus ihm das heutige Frankreich Leinen Vorwurf werde machen können.“

Um letzteren Punkt beiläufig abzutun, fo iſt durchaus zuzugeben, daß Gobineau, im Banne feiner anthropologiiden germanifden Geſchichts⸗ auffaſſung, die Engländer ſehr hoch geſchätzt hat. Das viele Große, das die engliſche Geſchichte in jedem Falle einſchließt, hat ihm und wie vielen mit ihm! vielleicht etwas zu einſeitig, Eindruck gemacht. Wenn es aber in dem erwähnten Briefe heißt, er habe in den Angelſachſen „das Ideal der germaniſchen Raſſe, deren edeliten und beiterbaltenen Beftandteil“ gefehen, jo ift das ent- ſchieden unricätig. Den befterhaltenen, ja! den ebelften, nein! Band IV, Seite 201 des „Essai sur l'inegalit& des races humaines“ (Deutſche Ausgabe Band 4, Seite 199) fagt er gerade umgelehrtt: „Das britiihe Neich ſei weder das glänzendfte noch das menſchlichſte noch das edelfte der europäifchen Reiche ge- wefen“, und unmittelbar darauf jchränkt er fogar das Prädikat verhältnismäßig reinen Germanentums durch Aufzählung vieler entgermanifierender Momente, welche ſchon damals, vor ſechzig Jahren, wirlfam waren und feitvem ftetig zu⸗ genommen haben, zum mindejten ftark ein.

Wie wenig blind Gobineau im übrigen für die dunklen Seiten des Briten- tums war, Hang ſchon in den foeben zitierten Worten von ferne an. Deut⸗ licher erhellt e8 zum Beifpiel aus feiner ſcharfen Beurteilung der Irenpolitik Englands (im Wortlaut mitgeteilt „Duellen und Unterſuchungen“ ufw., Band I,

*) Dieſes franzöfiiche Blatt, das fräher wiederholt Gutes über Gobineau gebracht Hat, ift mir zurzeit auß begreifliden Gründen nicht zugänglid. So ift mir aud) der in Frage fiehende Brief nur in italienifher Mberfegung (im Marzocco vom 17. Januar), die aber einen durchaus zuverläffigen Eindrud macht, bekannt geworden.

Gobineau über Deutfche und Sranzofen 55

Seite 177 ff.). Und wie Har er ſich vollends über das Abnorme und für ganz Europa Berhängnisvolle eines englifhen Übergemwichtes gewefen ift, lehrt fein ſchon im September 1848 geprägtes Wort: „England Tann fi nur dann an der Spite der europäifchen Welt befinden, wenn dieſe aus ihren normalen Dafeins- bedingungen heraustritt” ein Wort, das er den europäiſchen Völlern von beute noch mehr als denen von damals ind Stammbuch geſchrieben zu haben ſcheint, und neben das feine Landsleute das andere, im gleichen Auffate fich findende, halten mögen, „man könne e8 al8 Grundfaß, als unmwiberleglidde Marime faflen, daß die Intereſſen Frankreichs und Englands nichts gemein hätten.”

Und follte er gleichwohl In fpäterer Zeit neben ſolchen Erkenntniſſen noch Illufionen über den inneren Wert des England feiner Tage gehegt haben, jo dürfte fie ihm ein Brief eines feiner näcdjiten Freunde, Lord Lyttons. (Sohnes des großen Romandichters Bulwer Lytton und fpäteren Vizekönigs von Indien), benommen baben, der ihm angefidhtS des furchtbaren moralifhen Zufammen- bruchs Franfreihs im November 1870 fchrieb, „daß England, wenn die Vor⸗ fehung ihm eine ähnliche Prüfung auferlegen follte, wie jebt Frankreich, fie ebenfo wenig beftehen würde, da auch bei ihm nur die Anarchie im Grunde, und Lüge und Feigheit auf der Dberfläche zu finden ſeien“ eine Weisfagung, die ſich heute vor unferen Augen in erfchredender Weife zu erfüllen beginnt.

Aber genug biervon, und nun zur Hauptfache, zu uns felbit!

Frau von Buldencrone will des öfteren von ihrem Bater gehört haben, daß er „die bdeutfhe Nation als ein heterogene® Gemiſch minderwertiger Elemente betraditet babe.“ Für uns fteht e8 natürlich feit, daß dergleichen mündlich bingeworfene Äußerungen, bei denen alles auf den Wortlaut anfommt, folange nicht die Spur einer Beweistraft haben, als fie nicht in den öffentlichen Kundgebungen des betreffenden Autors eine Stüße finden. Man braucht aber nur die Haupiftelle des Efjai über Deutichland (T. IV., 172 bis 175, deutſche Ausgabe, Band 4, Seite 176 bis 178) anzufehen, um zu erfennen, wie fehr bie obige Wendung, gelinde gejagt, an Übertreibung leidet. Als Gobineau diefe Stelle niederſchrieb es war in dem Frankfurt des Bundestages von 1854, alfo einem Milten, das ohnehin auf alles Deutſche unwillkürlich drüden mußte —, ftand er mehr als je wieder in feinem Leben unter dem Einfluß einer allbeherrſchenden Doctrin, welche für ihn in der Verherrlichung des Rein⸗ germanifchen gipfelte, jo daß er den Mifchgeftaltungen des germanifchen Blutes weniger gerecht zu werden vermochte. An dem genannten Drte nun führt er aus, daß wir nad) den Auswanderungen der germaniſchen und Einwanderungen der flawifchen Stämme eine jehr ftarle Schwächung des germanifchen @lementes erfahren bätten, welches geichloffen nur in Friesland, Weftfalen, Hannover und den Rheingegenden verblieben ſei, während die übrigen Landichaften Deutfchlands durch und durch gemiſcht, ſtark ſlawiſch und keltiſch durchſetzt in die eigentliche deutſche Geſchichte eingetreten ſeien. Da Gobineau die letztgenannten Stämme zweifellos binter die Germanen zurückſtellt, jo liegt in dieſer auf erakt-anthro-

56 Gobineau über Deutfhe und Sranzofen

pologiihem Wege inzwiſchen längſt beftätigten Diagnofe in gewiſſem Sinne allerdings für die oftdentfchen und ſüddeutſchen Gebtete eine Mindereinſchätzung gegenüber Völkern, die fich reiner germaniſch erhalten hätten, wie Standinapier und Briten, bei denen ihn vorwiegend das normänniſche Element anzog und blendete. Aber feiner Theorie zum Trotz hat er vorher wie nachher unferem wahren Blutswerte mehr als eine Huldigung dargebracht (wofür die vorer- mwähnten Quellenwerle reiche Belege bringen), vor allem aber durch die Praxis, dur andauernde verftändntsvolle Vertiefung in deutfches Weſen kundgetan, wie hoch er dieſes ftelle.

Man darf in Wahrheit jagen, daß Gobineau wie für die Deutichen präbdeftiniert war. Kraft eines angeborenen Inſtinkts wählte und fand er in jungen wie in alten Jahren feine nächſten und bebeutendften Freunde vor- wiegend in der deutſchen Welt: fein „Pylades“ Germann Bohn, Ary Scheffer, Übelbert Keller, Prokeih-Dften, Richard Wagner waren deutſchen Geblüts. Diefe enge perfönliche Verbindung ward ihm ſchon fehr früh ein Anlaß, unfere Entwidlung auf den verſchiedenſten Gebieten mit warmem Intereſſe zu verfolgen, die Perfpektiven unferer Zukunft aufzurollen. Um nur ein befonders fprechendes Beifpiel aus den zahlreichen Studien, die er uns unter dem Julikönigtume ge widmet bat, anzuführen: wie eigen mutet es heute an, zu fehen, wie ernitlich diefer junge Denker fi ſchon vor fiebzig Jahren unfere Lebensfragen von beute, die Auswanderungs- und Kolonialfragen, bat angelegen fein laffen, wie er unter anderem zur Beihämung wie vieler Deutſcher! der erften einer war, die Friedrich Lift die gebührende Beachtung ſchenkten!

Daß Gobineau in der poetifhen Literatur, in der Muſik der Deutichen nicht minder wie in der heimifchen zu Haufe war, bezeugen zahlreihe Stellen feiner Werke wie feiner Briefe. Wiſſenſchaftlich befannte er fih (in einem Briefe an einen franzöfifchen Landsmann) mit Stolz zu den ftrengen Grund» fähen der deutſchen Schule, und fein Hauptwerk, da8 Buch über die Menſchen⸗ raſſen, baut fi) zum weitaus überwiegenden Zeile auf den Forſchungsergebniſſen der bdeutihen Wiſſenſchaft auf. Als einen Dankesalt für das viele, das er biefer ſchulde, bezeichnet er felbft die Veröffentlichung einer philofophifchen Arbeit in einer deutſchen Zeitfchrift (1868), und gegen Ende feines Lebens hat er in dem Maße mehr und mehr an die Deutihen als das eigentliche Publikum feiner legten Arbeiten gedacht, als er ſich den eigenen Landsleuten mit feinen intimften Gedanken und Abfichten entfremdet ſah.

Gobineau betradytete alfo, wie ein berühmter englifcher Staatsmann unferer Tage, Deutfchland als feine geijtige Heimat. Aber er fchraf nicht, wie diefer, vor den Konfequenzen und Verpflichtungen, welche diefe feine Überzeugung mit fih bradjte, zurüd: er hatte den Mut, auch als nad) 1870 der deutfche Name in jeinem Baterlande den ſchlimmſten Klang angenommen hatte, der engften geiftigen Verbindung beider Länder das Wort zu reden und vorzuarbeiten und feine Landsleute zu ermahnen, daß fie bei dem Volfe, das noch vor kurzem ihr Feind

Gobineau über Deutfche und Franzoſen 57

gewejen, nad) möglichft vielen Seiten in die Schule gehen möchten. Er Bat fh dadurch viel Verlennung zugezogen, und bis heute vermag kein franzöfifcher Rationalift anders als mit tiefem Groll und in der abiprechenditen Weife über ihn zu reden: er gilt als ein Abtrünniger und bleibt als ſolcher verfemt, während er in Wahrheit nur die uns Deutſchen fo ganz anders geläufige Eigenſchaft des Univerfalismus, des Verſenkens in fremde Art bewährt, und die daraus wie von felbit entiprießende Tugend der Gerechtigkeit gelibt hat, fo daß dem wahren Gobineau derjenige, der ihm feine enge Zufammengehörigfeit mit Deutſchland abfprechen will, wie e8 feine Tochter getan, fchlimmer zu nahe tritt, al mer fie ihm vorwirft, wie e8 von im übrigen durchaus zu würdigenden Geſichtspunkten aus die franzöfifhen Patrioten tun.

Nein, es bleibt dabei: das Verſtändnis und die Xiebe, welche die Deutfchen ihm in jo reichem Maße entgegengebradht haben, hat Gobineau als eriter ihnen gewidmet. Diefer Endeseindrud Tann auch nicht gefchmälert, vielmehr eher noch verftärft werden, wenn wir uns nunmehr dem zweiten, für die Öffentlichkeit neuen Gegenftand unferer Betrachtung: „Gobineau während des Krieges 1870/71, und vor allem über diefen Krieg“, zuwenden.

Gobineau war einer von den wenigen in feinem Vaterlande, welche die damals eingetretenen Creigniffe vorausgefehen haben. In den Iangjährigen Berührungen mit den Regierenden war ihm das Bertrauen in diefe gründlich erjhüttert worden; auch im Volle hatte er Fäulnis⸗ und Entartungserfheinungen wahrgenommen, welche ihn für diefes "beim Zufammenftoße mit einem Gegner, defien vollen Wert gerade er kannte und würdigte, das ſchlimmſte ahnen ließen. So konnte er, als dies ſchlimmſte wirklich eingetroffen war, gegen einen franzöfifhen Freund fi äußern: „Sch glaube, daß ich der wenigſt erftaunte unter allen Franzoſen bin, da ich niemals an dem, was fich jetzt ereignet, ge- zweifelt habe, und mich auf noch befleres gefaßt halte,” und der ſchon erwähnte engliihe ihm während des Krieges jchreiben: „Wie tauſendfach Sie recht hatten, und wie Har Sie blidten! ... Sie find der einzige, der die Wahrheit nicht fürdtet, und ber fie jagt. Es ift herzzerreißend zu fehen, wie ein ganzes Bolt fi von Lügen nährt und mit Phrafen bezahlt macht usque ad nauseam.”

Während in der Tat die meiſten feiner Landsleute ihr Heil in der Lüge fuhten, ward fih Gobineau mit dem Fortichreiten des Unheil nur immer unerbittlider über die ganze Wahrheit Mar. „Willen Ste wohl,” fchreibt er an Profefh im Dezember 1870, „daß das Schlimmite für diefes unglüdliche Land nicht die Preußen, die Sacdfen, die Bayern und Württemberger find: da3 Mene Tekel Phares fteht an der Wand!” Und wieder und wieder weis- fagt er feinem Volke ein rettungslofes Verderben, wenn e3 nicht, anftatt alles auf die Führenden abzumälzen, in den eigenen Buſen greifen und feine moraliſche Berfaffung von Grund aus ummandeln wolle.

Was er im DVerlaufe des Strieges zu ſehen befam, Tieß fich freilich wenig genug hiernadh an. Auf Schritt und Tritt ftieß er da auf Kopflofigleiten und

58 Gobineau über Deutfhe und Sranzofen

Berwahrlofungen von feiten der Heeresleitung und -verwaltung, auf unmilitärifches und unpatriotifches Gebahren der Mobil- und Nationalgarden, auf das theatralifche Auftreten, die banditenhaften Ausfchreitungen und Zuchtlofigleiten der Franlk⸗ tireurs, auf die völlige Haltlofigfeit im Volke, die Auswüchſe der Spionagefurdht, die Anfäbe zum Anardismus.

Über nichts aber Tonnte er fi) fo empören, wie über die Lügengewebe, in die man während der ganzen Dauer des Krieges von oben herab ſich und das Boll verftridte, und bie namentlid unter Sambetta fi wahrhaft ins Ungeheuerlide verloren. Das gilt von den gegen die Deutſchen ausgeitreuten haarfträubenden Berleumdungen und Verdächtigungen reichlich jo ſehr, wie von ben Rodomontaden und Fälfhungen in betreff des eigenen Tuns. Gobineau bat eine Gelegenheit verfäumt, jenen Berleumbungen entgegenzutreten und feinen Freunden das mehr als korrekte, rückfichtsvolle Auftreten der beutichen Dffiziere und die gute Haltung ihrer Truppen zu rühmen. Einen derartigen Brief teilte Lord Lytton dem beutfchen Kronprinzen mit, der fi (mie Lyiton am 10. Mat 1871 an Gobtneau fchreibt) „angefichtS der in ganz Europa über die Deutfchen verbreiteten Lügenberichte über dieſes vereinzelte Zeugnis gerade eines fo hochſtehenden Mannes höchft dankbar geäußert und es beſonders tröftlich gefunden babe.“

Dem entfpredhend geftalteten ſich auch ausnahmslos bie perfönlidhen Beziehungen, in welche Gobineau während des Krieges zu den deutſchen Truppen zu treten batte. Er bat einem ber jungen Gardeulanenoffiziere, die fpäter wodenlang bei ihm im Schloffe gelegen haben, das Leben gerettet, indem er ihn bei einem Patrouillenritt vor einer ihm nädhtlicher Weile auflauernden Sranftireurbande warnte, wie er umgelehrt bei einer anderen Gelegenheit den Herzog von Chartres, der als einfadher Kapitän unter dem Namen Robert le Hort an dem Feldzuge in der Normandie teilnahm, von einem unbejonnenen Zuge nad) Trye abhielt, der ihm unbedingt hätte verhängnispoll werben müfjen. Ein jchönes Beilptel, wie er, ein Nachlomme Melacs, mit einem ber bei ihm einquartierten Dffiziere, der feinerfeit8 ein Nachkomme Tilys war, jehr im Gegenſatz zu diefen beiden Kriegswüterichen zur Aufrechterhaltung von Frieden und Ordnung harmoniſch zufammengemwirkt habe, erzählt er felbft Ipäter an Keller (Yunt 1872). In den jungen Edelleuten von der preußiichen Garde⸗ favallerie, die ihm, troß des Feindesrodes, den fie trugen, als echte Germanen- fproffen, die fie waren, im Innerſten ſympathiſch fein mußten, vermochte er es über ſich nicht ſowohl die Zmangsinfaffen als die wenn auch unwilllommenen Gäſte feines Haufes zu jehen und ihnen voll Würde und Unbefangenheit, immer friſch und anregend, mit der ganzen Feinheit feiner welt- wie ebelmännifchen Formen als Wirt gegenüberzutreten. Und jene wiederum haben damals dem Zauber bes großen Mannes jo wenig wie irgend jemand zu widerftehen vermodjt. Sie haben ihm dankbare Anbänglichkeit und Verehrung bis in fpäte Tage bewahrt, und ein- zelne von ihnen find in dauernder freundſchaftlicher Verbindung mit ihm geblieben.

Bobinean über Deutfche und Franzoſen 59

Es ift Mar, daß alle die hier aufgezählten Dinge, in benen wir rubig die Beweife einer nur bei einem Manne fo feltener Art denkbaren Großherzigkeit und Wabrbeitsliebe erbliden dürfen, feinem Volle in einem ganz anderen Lichte erſcheinen mußten, und in ber Tat wurde ſchon bald ber Vorwurf von verftänbnis- lofen Berfleinerern gegen ihn erhoben, er habe während des Krieges „zu gut deutſch geſprochen“, von wo bis zu dem eines Einverftändniffes mit den Preußen nur ein Meiner Schritt war. Schon bald nad) dem Kriege ſah fih fo Gobineau zu Öffentlichen Rechtfertigungen und Slarftellungen gezwungen, die fi} freilich nur auf fein äußeres, öffentliches Verhalten beziehen und die allzu offentundige Zatfache, daß er als Patriot feinen Dann geftanden, auch für den’ Blödeften außer Zweifel feßen konnten, bie inneren Seelenvorgänge dagegen, die immer entjchiebenere Hinwendung zum Deuiſchtum, deſſen wertvolle und vorbildliche Seiten ihm eben damals aus den friegerifchen, politiſchen und geiftigen LZeiftungen des deutſchen Volles und Heeres anſchaulich aufgingen und in deſſen Fahr⸗ wafjer er daher das eigene Boll am liebften gebracht hätte, ſowie die beginnende Ablehr von diefem lehteren, naturgemäß aus dem Spiele ließen.

Diefe Abkehr, der ganze Gegenſatz, in welchen Gobineau in feiner lebten Lebenszeit zu feinem Volke, richtiger: zu den Bahnen, die dieſes eingeſchlagen, geraten ift, fpiegelt fih dagegen nad allen Seiten und nad feinen tiefften Gründen in den Aufzeichnungen, welde er unmittelbar während des Srieges niedergefchrieben und uns handſchriftlich Hinterlaflen hat. Da fie einen reichlich fo widtigen Beitrag zur Pſychologie des Franzoſentums wie zu der Gobineaus darftellen, jo dürfte fidh eine eingehendere Analyfe derjelben hier unbedingt lohnen.

Da er nicht hoffen konnte, mit dieſer Schilderung des Franzofentums in feinem Riedergange in feinem Vaterlande durchzudringen und auch in Deutichland, an das er dachte, fi kaum Ausfiht auf Veröffentlichung zeigte, fo iſt dieſe Schrift, die er mit Recht felbit als eriten Ranges betrachtete, leider Fragment geblieben”).

Gie zerfällt in zwei Abteilungen (beide unvollendet), deren erfte die Vor⸗ geſchichte und die Urfachen, deren zweite die Ereignifie des Krieges in Gobineaus Beleuchtung und mit befonderer Berüdfiätigung des in feiner Nähe Borgefallenen behandelt.

(Schluß folgt)

*) Einen Titel hat fie im Manuftript nicht, diefer mußte daher unter Verwertung einer Wendung des Eingangsfages („Ce qui est arrivé à la France en 1870“) hergeftellt werden. Das Manuffript befindet fih in der Gobineauſammlung der SKaiferlihen Univerfitäte- und Zandesbibliothel zu Straßburg. Eine Veröffentlihung war, mit den übrigen nadgelafjenen hiftoriſchen und politifch » anthropologiſchen Schriften Gobineaus, für dieſes Jahr in Ausſicht genommen, mußte aber wegen des Krieges vertagt werden.

Maßgebliches und Unmaßgebliches

Memoiren

Briefe und Erinnerungen aus Alt-Wien. Wem fteigt bei foldem Namen nicht die „gute alte Zeit” in ihrer glüd- und leidüberwundenen Vergangenheit herauf, die uns alles zu be» figen fcheint, wa8 unferem überhegten Leben fehlt? Wir denken an gemütliches Geplauder am behaglidhen Kamin, an fleißige Hände, die mit feiner Stid- oder Hälelarbeit anmutig beihäftigt find, an Altwiener Salons, in denen fi Künſtler und Gelehrte zu geiltreichen Geſprächen im gaftfreien Haufe veritehender rauen zufammenfanden. Wie heimelt uns dad alle an; und fehnfühtig zurüdichauend fühlen wir, wie arm wir gegen unfere Ur⸗ großmütter geivorden find. In dem raftlojen Sagen nah „Kultur“ und „Ziviliſation“, und wie die Schlagworte alle heißen, waren wir nahe daran, das Befte, unfer Gemüt, zu ver⸗ lieren. Wir wollten un® „binaufpflanzen“ und merften es nidt, wie entivurgelt wir waren. Erft der Ausbruch dieſes ſchrecklichſten aller Kriege Hat unferen atemlofen Lauf ge» hemmt, und in der plögliden, unheimlichen Stille mußten wir uns geitehen, daß Wir Phantomen nachgejagt waren, die in unferer furdtbaren Not un? ſchnöde im Stich Ließen. Da wendet man fi troſtſuchend an die Ver- gangenheit, die fo reich war, daß aud) für uns noch etwas übrig blieb. Und gern greifen wir zu den unter der Zeitung von Guftav Gugitz erfheinenden Bänden, die unter dem Gefamttitel: „Denkwürdigkeiten aus Alt⸗ Dfterreih” vom Verlag Georg Müller in Münden vereinigt find. Die Ausſtattung der einzelnen Werke ift, wie ftet3 bei dieſem Verlage, glänzend; reicher Bilderihmud, zum

Teil nad bisher unbelannten oder ſchwer zu⸗ gänglihen Originalen oder feltenen Striden, vervollftändigt die Bände.

Da find zunächſt die „Dentwürdigleiten aus meinem Leben 1769 bi 1848” der Schriftſtellerin Caroline Bichler (heraußgegeben mit überreihliden Anmertungen von Emil Karl Blümml), die einft eine Berühmtheit war, und bie jeder, der Wien befucdte, ge⸗ fehen haben mußte, geradefo wieden Stephand« dom; der aber ſchaut auch heute noch in ftolger Hoheit auf da® neue Wien, während Die Pichler und ihr Ruhm längft dahin find. Maria Xherefiad ernite Augen haben nod auf der Kindheit der Dichterin gerubt, und viele perfönliche Züge weiß fie und aus dem Leben der großen Kaiferin gu berichten, bei der ihre Mutter, Charlotte von Greiner, Kammerfrau und Borleferin war. Wie viele der Großen, die uns unfterblih wurden, bat fie noch klein und unſcheinbar gefehen; nur jung, fo unwahrſcheinlich jung und lebensfroh waren fie, wie wir und einen Grillparzer, einen Bauernfeld, den ſchwermütigen Lenau und viele andere gar nicht recht voritellen fönnen. Friedrich Schlegel, Tied, Clemens Brentano leben wieder auf. Mit Dorothea Schlegel verband Caroline herzliche Freund⸗ ſchaft, und ſie ſpricht von der fo viel Geſchmähten in aufrichtiger Verehrung, die dieſe ſeltene Frau gewiß verdient hat. Auch Goethes fried⸗ loſe Schwiegertochter Ottilie fand einmal Raft in Pichlers glücklichem Hauſe. Viel hören wir in dieſen Denkwürdigkeiten von der Not der Zeit. Dreimal kamen die Franzoſen in das ſchöne Land, mit allen blutigen Schrecken, mit Cholera und Hungersnot, die ein Krieg im Gefolge Hat, bis ed 1818 den verbündeten

Maßgeblihes und Unmaßgebliches 61

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Bölfern endlich gelang, fi) von dem uner- trãglichen Yoch zu befreien. Aber was auch dad Leben diefer Frau an Schidfalen ge- bracht Bat, fie bat fie mutig ertragen und immer das Dafein geliebt. Selbft als ihr Kuhm ſchon zu ihren Lebzeiten verblich, ift fie nicht bitter geworden, fondern bat fih im Familienkreiſe der Tochter, bei den heran⸗ wachſenden Enkeln foviel Sonne geholt, wie fie für ihren Lebensabend bedurfte. Als die Dichterin 1848 die müden Augen für immer ſchloß, da folgten nur wenig @etreue ihrem Sarg. Die man aud) über den literarifchen Bert ihrer Bücher urteilen mag fie hinterließ dreiundfünfzig umfangreihe Bände —, ihre Dentwürdigfeiten werden immer das Intereſſe der Rachwelt Haben, denn fie hat es verftanden, mit ftarler Sand eine verfunfene Epoche wieder aufleben zu laſſen.

Faft auß derfelben Zeit ftammen die Auf- zeichnungen der Gräfin Lulu Thürheim „Mein Zeben. Erinnerungen aus Oſterreichs großer Belt” (beraußgegeben von Rene van Rhyn), und doch find fie etwas völlig anderes. Diefe rau, die durch ihre Geburt, ihre Beziehungen und die Anmut ihres Auftretens, Zutritt zu den höchſten Streifen Hatte, dazu einen unge» wöhnlichen Geift befaß, war wie leine andere in der Lage, uns in ihrem Tagebuch die Ereigniſſe bed zu Ende gehenden adtzehnten und der erften Hälfte des neungehnten Jahr⸗ hunderts gu fchildern. Und fie tut e8 in fo fefielnder, ja oft wigiger Weife, daß man die vier ftattlihen Bände von Anfang bis zu Ende mit nie erlahmendem Intereſſe lieſt. Die Berfafferin, die kurz dor der großen franzöfifhen Revolution geboren wurde, bat während ihres ganzen Lebens mit einem widrigen Schidfal zu ringen gehabt. Bunt und wecdjelnd läßt fie die Bilder ihrer Er⸗ lebniffje in ihrem QTagebud an und vorüber: ziehen; die ſchweren Jahre 1805, 1809, 1818, der fröhliche Kongreß, alles ift in leichtem Blauderton und doc mit hiftorifher Wahrheit erzählt. Da fie außerdem vorzüglich zeichnete, ergänzte fie ihr Tagebuch durch zahlreiche Efiggen. Gräfin Qulu war eine große Dame im beften Sinne des Wortes, und nie hat das hohle Gefellichaftetreiben fie ſelbſt verflachen laſſen. Seit dem Jahre 1819 im Hauſe ihres

Schwagers Raſumoffſty, des ruſſiſchen Ge” ſandten, lebend, „der in Wien am meiſten & la mode war“, deflen Auftreten und fabel- bafter Reichtum bewundert und befpöttelt wurde, bat fie mit diefem und der Schwefter große Reifen durch alle europäiihen Länder gemacht und fo ihren Geſichtskreis erweitert. Zulu von Thürbeim hat eigentlich alles befeflen, was ein Sterblicher fi wũnſchen kann: Glanz, Neihtum, Schönheit und Geilt, und war doch nicht glüdlih, weil ihr das Beſte, die Liebe, fehlte. Erſt an der Schwelle bes Alters vermählte fie ih in heimlicher Che mit dem Sekretär ihres Schwagers, einem jungen Abenteurer, der ihr ſchon nad) ſechs Monaten dur einen tragiihen Tod entriffen wurde. Aber die perfönliden Verhältniſſe find nit das Wichtigfte in dem feflelnden Bude. Alles, waß einen Namen Hatte, ift erwähnt und oft nur mit wenigen Worten treffend cdharalterifiert. Es ift ein Ausſchnitt aus Altwiend trüben und beiteren Tagen, fo warm und lebendig, wie ibn trodene Geſchichte niemals geben Tann.

Der Wiener Kongregl Er wird ſowohl bon Baroline Pichler als auch von Lulu Xhürbeim ausführlich erwähnt, aber der Fran⸗ zoſe de la Garde fchrieb über diefe Flut don Selten und Vergnügungen zwei dide Bände („Semälde des Wiener Kongreſſes“), und wenn auch fein Bericht dem ſtrengen Hiſtoriker feine reine Quelle bietet, aus der er unbeſorgt fhöpfen kann, fo ift derfelbe doch das er ihöpfendfte Werk, was es über diefe einzige Beranftaltung gibt, die die „Könige in Ferien“ fi) bereiteten. Welch eine federnde geiftige und körperliche Beweglichkeit müflen die Menfhen jener Tage bejeflen haben, daß fie

ſich nach dem furchtbaren Ringen der Freiheits⸗

friege, denen Jahre der entjeglichften Knecht⸗ ſchaft vorangegangen waren, in einen ſolchen Strudel des Vergnügen® und der Lebens⸗ freude ftürzen konnten! Der Franzoſe de la Garde verfteßt es, gerade diefe Seite bejonders in die Erjheinung treten zu laflen, und bunt und wechſelnd ziehen die Geſchehniſſe, wie die Bilder eines Kaleidoflops, an dem truntenen Auge vorüber.

Und nun zum Schluß noch ein vergeſſenes Bud von einem nocdhvergefienerenAltöfterreicher.

62 Maßgeblihes und Unmaßgebliches

(Friedrih Anton von Schönholz: Traditionen zur Eharakteriftit Öfterreiche.) Ein Abenteurer, wie de la Garde, erzählt hier bald ſcherzend, bald philoſophiſch von Wiens Bergangenbeit- Familien und Yrauen und der Politik Alt- Oſterreichs. Daß Ganze ift ein treffliches Spie- gelbild der franzisceifchen Zeit, dad gewiß für mandıen eine neue Quelle werden wird. Der Verfaſſer bat fein eigenes Leben in dichterifcher Freiheit mit in feine Aufzeichnungen verflodhten, und wenn au nit immer alles wahr ift, wa3 er fagt, fo iſt es doch intereffant und für feine Zeit charakteriſtiſch.

Man folte unfere deutihe Memoiren literatur wirklich mehr pflegen und nicht immer denfen, daß nur Frankreich das Land ber klaſſiſchen Memoirenliteratur if. Wir find auch in diefer Beziehung wieder einmal viel zu befheiden. Die wenigen Proben, die bis jegt vorliegen, zeigen, daß aud wir unfere Erlebdnifiein vollendeter Form niedergufchreiben vermögen. „Ein Land ohne Memoiren ift wie ein Haus ohne Spiegell”

Beinz Amelung

Dölkerpiychologie

Händler und Helden. Batrioiifhe Be⸗ finnungen von Werner Sombart. Berlag von Dunder u. Humblot in Münden und Zeipzig, 1915.

ft der Händlergeift Urſache oder Wirkung der wirtſchaftlichen Entwidlung Englands? Eine geiftvolle Franzöfin hat das zweite geglaubt. Als gegen Ende ded Jahres 1842 die Parifer Zeitungen fi) über die inhumane Habgier der Engländer entrüfteten, die im⸗ ftande feien, um Opium und Sattun einen Beltbrand zu entflammen, halt Delphine Say, die Gattin Emile de Girardin, die Kollegen ungeredt; Ia France könne leicht nobel handeln (wenn fie da3 nur wirklich auch tätel), denn fie fei une noble chätelaine, die dom reichen Ertrage ihres frudtbaren Landes ohne Sorgen lebe; das englifche Bolf dagegen lebe nit vom Ertrage feines Bodens, fondern auf Kredit; der englifche Staat fei ein Bankgeſchäft, kein Naturgewächs, fondern ein Kunftbau, den ein Nechenfebler ftürzen könne; die Engländer würden wahr.

fheinlih recht gern hochherzig und edel banbdeln, wenn fie koͤnnten und dürften, aber ein Banfier dürfe nun einmal nicht fentimental fen. Sombart dagegen fieht das englifche Händlertum aus dem englifhen Geifte her» vorgehen. Ich neige der Anſicht der Franzöſin zu aus zwei Gründen. Einmal, weil die Engländer (diefer Tatſache gedenkt aud Sombart flüchtig), trogdem ihr Land fie zur Seefahrt einlud, bis ins fünfzehnte Jahre Bundert ein Bolt kriegeriſcher Bauern geblieben find, da8 feine Finanzen von Stalienern ver» walten, feinen Handel von deulfhen Sanfeaten beforgen ließ, und als es fi endlid der Anduftrie zumandte, der niederländiſchen Lehr⸗ meifter bedurfte. (Den Handelsgeiſt der Ktaliener verbirgt den Augen der Nachwelt die aud Schönheit und Geift gewobene Aureole, die das mittelalterlide Stadtbürgertum Italiens umftrablt.) Der andere Grund ift die englifche Literatur. Abgefehen von Shake⸗ fpeare, Milton und Byron, atmen aud die Rovelliften deutfhen Geilt; nit bloß Die weltberühmten, fondern aud die Männer und Srauen zweiten und dritten Manged. Die älteren wenigſtens; die neueren kenne id nit. YZufällig Iefe ich gerade wieder einmal in den Rovellenbänden, die Samuel Warren unter dem Titel Diary of a late Physician herausgegeben bat (weld ein lächerlicher Geſchmack! würde ein Nüngfter naferümpfend außrufen, wenn er fich berabließe, in den alten Schmölern zu blättern), und finde darin wohl engliihe Zuſtände, aber Teine Spur von Krämerhaftigleit, vielmehr tiefes deutſches Gemüt und reine edle Gefinnund. Daß durchgreifende Induſtrialiſierung und Kommer- sialifierung den Vollscharakter verfchledhtert, ift einer der Beweggründe, die mid) beftimmen, den fehr maßgebenden Autoritäten gu oppo⸗ nieren, welche uns die englifhe Wirtfchafts- verfaffung als zu erftrebendes Ideal empfehlen oder wenigſtens bis zum Kriege empfohlen haben. Sombart ftügt feine Auffaffung bauptfählih auf Thomas Morus, und es tft ja wirklich überrafhend, wie getreu die Kriegdmoral und Kriegspraxis der litopier die fpätere englifhe Kriegführung und beſonders die heutige fpiegelt; doch ſchwächt Sombart feldft die Beweiskraft der Utopia

mit der Bemerkung ab, man wiſſe bei Morus nie, wo der Ernft aufhoͤre und der Spott anfange; das utopifche deal der Kriegführung Inne als Berhöhnung der Krämer gemeint fein, die der große Kanzler ſchon emporkommen und Einfluß erlangen ſah.

Sombart ift ein Meifter der Darftellung. Aber während fonft die Fünftleriihe Plaftif feiner Geftalten entzüdt, raufcht diegmal feine Rede ald ein Feuerftrom dahin, in weldem die Flammen des Zornes und der Begeifterung lodern, einer Xegeilterung, welche die der jungen Helden, denen die Schrift gewidmet if, aufd neue entzünden wird. Sombart fildert die Undifferenziertheit, Roheit, Platt» beit des geſamten englifchen Volles einfchließ- lih feiner Vornehmſten; feine oberflächliche, nur auf das Praktiſche gerichtete Wiſſenſchaft und Philoſophie; jene „hundsgemeine“ utilitariſch⸗ eudämoniftifhe Ethik; die unan⸗ fländigen Künfte, mit denen England fein Reich zufammengeraubt und gegaunert habe, die Riedertradt feiner heutigen Kriegsführung. Zur modernen @ejamtlultur babe es nur zwei Originalbeiträge geliefert, den Komfort und den Eport, und biefe beiden Erzeugnifle englifher Händlerkultur jeien wahrer Kultur im allerbödften Grade feind und ab» traͤglich.

Dieſem haßlichen Bilde gegenüber läßt er die reine und hehre Geſtalt des deutſchen Helden erſtrahlen: feine idealiſtiſche Philo- fophie und Dichtlunft (al Führer des Chors deutſcher Großgeifter fchreitei Friedrich Nietzſche voran, nur ſein „guter Europäer“ wird ab⸗ gelehnt); ſeine Vaterlandsliebe: die opfer⸗

bereite Hingabe and „Ganze, das über ung .

lebt, da8 da ift auch ohne und gegen unfern Willen” und bie nit zu tun babe „mit der gemütpollen Anhänglichleit an die Heimat und die Scholle”; feine objektiv - organische Staatsidee, das Gegenteil der rouffeauifchhen Bertragdidee und des engliihen Nachtwächter⸗ ſtaats; feinen Militarismus, das fichtbar gewordene Heldentum, in welchem er ſeine heldiſchen Grundſaͤtze verwirklicht; die Pflege der Xugenden de3 freien Mannes (im Gegen» fage zum engliiden Kult der bürgerlichen Zugenden); feine Liebe zum Kriege, ala dem Heiligften auf Erden.

Maßgebliches und Unmaßgebliches 63

Bor dem Kriege fei diefe Heldengefinnung berdunfelt geweſen; Berengländerung, Materi- alifierung, Kommerzialifierung, Berpöbelung, Berihwendung der Energie auf Nichtigleiten babe um fich gegriffen; dieſes Leben ohne Ideale fei nicht mehr Leben gewejen fondern ein Sterben, eine ekle, ftinlende Verweſung, Bergebend habe man ſich mit allerlei Rettungs« verfuhen abgemüht: mit Eibilierung der einzelnen, mit dem Suden nad) einer neuen Religion, mit fozialen Idealen daß der Sozialdemokratie jei immer mehr händleriſch geworden —, bis endlih der Krieg die Nettung gebracht Habe. „Eine Quelle uner- ſchöpflichen idealiſtiſchen Heldentums war wieder aufgebrochen; im Vaterlande war ein Ideal lebendig geworden, das in der Reich⸗ weite jedes Menſchen, auch des Armften im Geifte gelegen war.” Der Krieg nun lehre auch, was wir zu tun haben; er lege die Richt» Iinien unjerer Bolitit und Vollserziehung feft. Viele Nahlommen zeugen und fie zu Helden erziehen, fei die nächſte Aufgabe, ein ftahlgepanzerter mächtiger Staat und in jenem Schug ein freied tüchtiges Volk das au verwirflidende deal. Nachdem wir über das Biel und klar geworden find, dürften wir die Technik ihren Eroberungszug fort» fegen lafien, da ja unjere Mörſer, Flug⸗ apparate und Unterfeeboote den Sinn ber Technik offenbar gemacht hätten. Jeder Inter» nationalismus, fei es der ölonomifche, der inftitutionelle, der Rechts⸗ oder der Kultur» internationaligmus, fei abzuweiſen; wir genügen uns felbft und brauden uns um die andern, bie ja auch bon uns nichts willen wollen, nit zu fümmern.

In der Ablehnung des engliſchen Wirt⸗ ſchaftsſyſtems, des Mandeftertums, des Nacht⸗ wächterftaates, ded Darwinismus und in der Hochſchätzung de Griechentums weiß ich mich mit Sombart eind. Aber feine Weltan⸗ ſchauung ift nicht die meinige, und daraus ergeben fih im einzelnen viele Differenzen, die ohne ausführlihe Begründung aufzugählen feinen Zweck hätte. Seiner Forderung, daß wir auf Erpanfion und Solonifation ver» gichten follen, muß ich aus fozialen, Wirte Ihaftlihen und politifhen Gründen wider⸗ ſprechen. (Doch verbietet er Gebietder-

64 Maßgeblihes und Unmaßgebliches

weiterung nicht unbedingt.) Zu den Gebanten Sombarts, die meiner Auffafjung nahe kommen, die ich mir aber trogdem nicht unverändert angzueignen vermag, gehört der folgende. „Richt von Boll zu Volk gibt es einen Fort- Ihritt zu Höherem; wir find nicht weiter fortgefhritten al® die Griehen es waren, wenn wir nicht Fortihritt im Sinne des Ingenieurs meinen. Vielmehr wirkt fi) Gott

in den verſchiedenen Bollsindipidualitäten aus, deren jede für ſich fortichreitet, fi) ver» bolllommnet, ihrer dee fi) annähert. Die einzelnen Völler blühen und welfen wie Blumen im Garten Gottes.“ Daß kleine Bud atmet den Geift Treitfchles, und Männer dieſes Geiftes werden fi) daran erbauen.

Dr. Earl Jentfd

Allen Manuflripten ift Borto hinzuzufügen, da andernfalls? bei Ablehnung eine ———— nicht verbürgt werden kann.

Nahdrud fämtliher Auffäge nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags geftattet. Berantwortlih: der Herausgeber Georg Eleinomw in Berlin» Lichterfelde Weit. Manujtriptiendungen und Briere werben erbeten unter der Adreſſe:

An den Herausgeber der Grenzboten in Berlin» Lichterfelde Weſt, Sternſtraß

e 56.

Fernſprecher des Herausgebers: Amt Lichterfelde 498, bes Verlags und ber Schriftleitung: Amt Lügomw 6510. Berlag: Berlag ber Grenzboten ®. m. b. H. in Berlin SW 11, Tempelbofer Ufer 35a. Drud: „Der Reichsbote“ &. m. b. H. in Berlin SW 11, Deflauer Straße 86/37.

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Italiens Politif auf dem Balfan und in der Levante

Don Dr. Eduard Wilhelm Mayer

on den Fragen, die heute zur Löſung ftehen, dürfte die zulünftige Geftaltung des öftlihen Mittelmeers für Italien die wichtigite fein, vom Standpunft der großen Politik zweifellos wichtiger N noch) als die irredentiftifhe. Hier gilt es, den Ertrag einer Ballan- und Levantepolitit fich zu fichern, die Stalien in den legten neunzehn Jahren mit fteigendem Erfolg geführt hat. Das Jahr 1896 ift ein Wendepunkt in der Gefchichte feiner ausmärtigen Politik. Der Verſuch, am Roten Meer gegen Abeffinien ein großzügiges FToloniales Unternehmen durchzuführen, war nad) der Niederlage bei Adua als gefcheitert anzufehen. Über diefe Schlappe fiel Grispi, der Vertreter einer mweitausgreifenden Macht: politif mit antifranzöfifhen Tendenzen. Es begann die Wiederannäherung an Frankreich. Seitdem ließ Stalien feine Anfprüde im Weiten des Mittelmeers auf fih beruhen, und es gedenft, die Intereſſen, die hier noch weiter beitehen noch iſt die italienifche Einwanderung in Tunis unvermindert ſtark —, einit- weilen nicht zu verfolgen. Um fo größere Aufmerfjamfeit wurde nun dem Balfan und dem nahen Orient zugewandt. Hier ſuchte man ein Ventil für die politiſchen und wirtfchaftlichen Kräfte des jungen Staates, der mit Deutfchland das Schickſal teilt, zu ſpät'in die Reihe der Kolonialmächte eingetreten zu jein. Nach den trüben Erfahrungen war man um fo ängftlicher darauf bedacht, nicht aufs Neue ins Hintertteffen zu geraten. „‚stalien bat im Weſten bie geographifche Linie Marſeille Eorfica— Tunis und die politifcehe Linie, die mit dem englifch-franzöfiichen Vertrag gegeben ift; ftieße e8 auch im Dften auf eine neue Begrenzung, dann würde es eingefähloffen fein auf einen engen Streifen des Zerritorialmeers.” (Amadori BVirgilj 1908.) Grenzbsten 11 1915 6

66 Ytaliens Politif auf dem Balkan und in der £evante

Als das dringendite Interefje Italiens erichien es zunächſt, daß in Albanten feine fremde Macht fich feitfegte. Das Mißaeihid in Tunis mar nody in frifcher Erinnerung, und wenn der Sriegehafen von Bıferta die milıtärifhe Poſition Siziliens fehr verfchlehtert hat, fo wäre von einem feindlichen Valona, das vierzig Meilen von der Küfte Apulien entfernt ift, noch Schlimmeres zu fürchten. Der Beliger von Valona, fo murde geiagt, werde unumfchränfter Herrſcher in der Adria fein. Wenn das eine Übertreibung ift, fo ift doch Kar, daß der Befiter von Brindifi und Vulona den Kampf um die Vorherrichaft in der Adria zu feinen Gunften entichieden hat. Neben den geographifchen ver- binden auch alte gefchichtlihe Beziehungen Albanien mit Süditalien. Es gibt dort große Kolonien eingewanderter Albanier; einer ſolchen entitammt zum Beifpiel Erispi. Gerade von den Kreifen der Staliener albanischen Urfprungs tft die Propaganda für die albaniihe Politif ausgegangen.

Wären Italiens Intereſſen zur Zeit des Berliner Kongreſſes geſchickter vertreten worden, dann hätte es Albanien als Kompenjation für den öfter- reihifhen Erwerb in Bosnien gewinnen können. Als es dann feit 1896 feine Blicke auf Albanien richtete, mußte es ſich mit Vfterreich in den Einfluß teilen. Sn den Abmachungen von 1897 und 1900 verſprachen beide Mächte, das Land nicht als politifhes Erpanfionsgebiet zu betrachten. Im Sinne diefer Verein. barungen wurde verfahren, als nad) dem Zufammenbrud der Türkei Dfterreich und Stalien durchfeßten, daß ein unabhängiges Albanien geichaffen wurde. Unter der Ted. folder Schiedsorrtiäge ift aber die Nivalität der beiden ver- bündeten Staaten immer lebendig geblieben. Dabei ift Äſterreich aus ber günftigen Stebung, die es anfänalid, vor allem als katholifhe Vormacht, hatte, allmählich verdrängt worden; felbit in dem ihm zunächſt gelegenen Nordalbanien wurde der italienifhe Einfluß vorherrihend. Stellten fih doch fogar die von Oſterreich unterhaltenen Schulen in ven Dienft der Stalianifierung. Wenn Stalien jebt die Verlegenbeiten des Rivalen benugt, um ſich in Valona einzu. niften, zieht e8 nur das Fazit einer ihm günftigen Entwidlung, die es ber geſchickten Vertretung feiner Intereſſen zu verdanken bat.

Für die Durhdringung Nordalbaniens war es von größter Bedeutung, daß Montenegro dem Italienertum einen feiten Stüßpunlt bot. Seitdem 1896 die montenegrinifhe Prinzeſſin Eiena dem italienischen Thronfolger, dem heutigen König, angetraut wurde, verfnüpften feite Bunde beide Staaten. Wirtſchaftlich tft Montenegro eine italienifhe Kolonie: Staliener haben das Tabatmonopol tn der Hand und führen unter montenegriniicher Flagge die Schiffahrt auf dem Seutarifee, Italiener haben den Ausbau des Hafens von Antivari und den Bau einer Eifenbahn Antivari— Pirbazar unternommen. Der ttalienifhe Einfluß. ift fo ftarl, daß er zuweilen unter den Montenegrinern Unzufriedenheit er- regt bat.

Montenegro war auch das Bindeglied zwiſchen Italienern und Serben. Beide Nationalitäten liegen in itrien und in Dalmatien miteinander im Kampf.

Italiens Politit auf dem Balfan und in der Levante 67

Zrogdem bat Italien die ferbifchen Afpirationen begünftigt und den gemein- famen Gegenfat gegen das fpezififch deutfche Dfterreichertum betont. Ein ſerbiſch⸗ italieniſches Komitee entfaltete eine rege Tätigkeit.

Italien bat die Unabhängigkeitsbeftrebungen der Ballanvöller ſtets ge- fördert, und diefe Politi! war um fo populärer, als man dabei gern des eigenen Einheitsfampfes gedachte. Mafgebend war aber nur die fühle Er- wägung, daß Stalien eine Machtverſtärkung Rußlands oder Ogſterreichs abzu- wehren hätte. Für diefe beiden Mächte war es eine große Enttäufchung, daß die Ballanvölker ihre Schidfale in voller Unabhängigkeit geitalteten, weil das Syitem nationaler Staaten der eigenen Ausdehnung feinen Raum mehr läßt; gerade aus diefem Grunde mußte jener Vorgang für Italien ſehr erwünſcht fein. Der Gedanke eines Balfanbundes bat bei Feiner Großmadt jo früh Anklang gefunden wie bei Italien. Schon Mazzini hatte ihn verfündigt, und Erispi nahm ihn auf: „Die italieniſche Nationalpartei würde den Apfchluß eines Balfanbundes mit Konftantinopel als Hauptftadt gerne ſehen. Aber der Zar muß in feinen heutigen Befitungen bleiben, und der Sultan muß nad Aſien binübergehen.“ Im Jahre 1889, nad) der bulgarifchen Kriſis, machte Erispt einen Verſuch, jenen Bundesplan zu verwirklichen; er fchlug eine Militär- fonvention zwifchen Rumänien, Bulgarien und Serbien vor, mit dem Zweck, dem Einbrud Rußlands auf den Balkan einen Damm entgegenzumwerfen. Während des ferbifch-öjterreichifehen Konflikts 1908 bi 1909 Hat Tittoni ähnliche Pläne verfolgt, und zur Zeit des italieniſch⸗türkliſchen Krieges find fie Wirklichkeit geworden, offenbar mit Italiens Hilfe.

Ein Balfanbund ift, wie wir feben, für Italien ebenfomohl eine Waffe gegen Dfterreih wie gegen Rußland. ſterreichs Vormarſch gegen Saloniki, mochte er aud) nur auf wirtſchaftlichem Gebiete erftrebt werben, ftieß auf die Gegnerſchaft Italiens. Den Ährentalfhen Eifenbahnplänen gegenüber wurde das Projekt einer Dorau—Adriabahn unterftügt, das auch von Serbien be- vorzugt wurde. Daß Öfterreich bei der Annerion Bosniens auf den Sandihal Novibazar und auf die Einſchränkungen der Souveränität Montenegros, wie fie Artitel 29 des Berliner Vertrages bedingte, verzichtete, ift auf die Einwirkungen des Dreibundsgenoflen zurüdzuführen. An Macedonien fühlte fi Italien aus- geichaltet, folange Rußland und Dfterreich dort gemeinfam nad) dem Mürz fteger Programm verfuhren, und in dem Grünbuch, das die römifche Regierung 1906 über Dtacedonien veröffentlichte, tritt dee Unmut über diefe Zurückſetzung deutlich zutage.

Italiens Stellung . verbefierte ſich, als das erftartende Rußland auf dem Balkan wieder feine eigenen Wege ging. Das ruffilch-ttalienifche Einvernehmen von 1909 ift mit Yubel begrüßt worden: nun fei man erft ganz unabhängig von dem deutfchen Blod. Aber eine ruffifcde Übermacht auf dem Balkan wäre für Stalien nicht minder unerwünſcht als eine öſterreichiſche. Man hat Rußland zu gelegener Zeit gerne gegen Äſterreich ausgefpielt; aber „das legte Ziel des

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68 Italiens Politit auf dem Balkan und in der Kevante

Kalten und Rußland einigenden Kampfes birgt den Keim unentrinnbaren Gegenſatzes zwiſchen den Kämpfenden in fi. Die Verdrängung Oſterreichs von der Ballanbalbinfel würde den ruffifden und den italieniſchen Einfluß mit voller Gewalt aufeinander prallen laſſen“ (Robert Michels). Daß die Be herrſchung der Dardanellen durch Rußland für Italiens Mittelmeermadt einen ſchweren Schlag bedeuten müßte, das ift oft wiederholt worden, feibem Cavour mit diefem Sat den Eintritt in den Krimfrieg motivierte. Rußlands Vor⸗ berrfhaft auf dem Ballan wäre die gefährlichite „Begrenzung“, die Italien im Diten finden Tönnte.

Die Dinge find an einem Punkte angelangt, an dem ſchon die Konkurrenz der jungen Nationalftaaten des Balkans fih für Italien unliebfam bemerkbar macht. Seit dem Balkankrieg hat die offizielle italieniſche Politik vereint mit der dÖfterreichifchen die Anſprüche Serbiens auf Nordalbanien befämpft. Gie bat es in meifterhafter Gefchiclichleit verftanden, trogdem den Serben gut Yreund zu bleiben. Aber es ift deutlich, daß ein großferbiicher Staat an der Adria für das Regno ein um fo weniger angenehmer Hausgenofje wäre, als er von der Macht des Panflamismus getragen würde. Man liebt es augenblidlidh in Italiens Preffe, diefe Gefahr gering anzufchlagen, um von Sorgen ungetrübt bie feindlichen Empfindungen gegen Dfterreich frei walten Iaffen zu können. Daß die flawifhe Gefahr im Grunde au von italieniihden Politikern Tlar erfannt wird, ift aber daraus zu erjehen, daß vielfach geraten wird, die Gegner⸗ ichaft gegen Griechenland zurädtreten zu laſſen, um fih in ihm einen Der- bündeten gegen das Slawentum zu fichern.

Auch Griechenlands Auflommen bat Italien begünftigt. In der Frettichen Trage bat es ſchon in den neunziger Jahren die türfenfreundliche Haltung der anderen Dreibundftanten nicht unterjtübt. Das Großgrieddenland von heute droht aber ein nicht ungefährlicder Rivale im öftliden Beden des Mittelmeeres zu werden. Die Erpanfion beider Staaten ftößt in Epirus und in der Levante aufeinander. Im Ägäiſchen Meer bat Stalien während des Tripolistrieges den fogenannten Dodelanes, zwölf Infeln an der Tleinaftatifhen Küfte, darunter Kos und Rhodos, befegt. Im Friedenſchluß verjpra es, fie herauszugeben, fobald Lybien von den Türken geräumt fei. Bevor das geſchah, brach der Ballankrieg aus, und Griehenland würde ficherlich wie die anderen türfifchen Inſeln auch den Dodelanes bejebt haben, wenn dort nicht noch italieniſche Zruppen geftanden hätten. Deshalb verlangten die Griechen, daß die zwölf Inſeln an fie, nicht an die Türken herauszugeben wären, um fo mehr, als bie faft völlig griechiſche Inſelbevölkerung Kundgebungen in diefem Sinne unternahm. Die römiſche Regierung hat fi bisher mit Erfolg gemeigert, eine Entſcheidung in diefer Frage von anderen Großmächten, das heißt vor allem von England, anzunehmen; fie behält das Fauftpfand einftweilen in der Hand und Hat damit aud einen Stüßpuntt für jede weitere Altion. Da Frankreich Griechenlands Anſprüche unteritügte, fieht fie die Gefahr eines franzöſiſch⸗griechiſchen Bünd⸗

Italiens Politit auf dem Balfan und in der Levante 69

nifjes vor ih. Deswegen find Stimmen laut geworden, man müſſe Griechenland für fi gewinnen, und zwar unter einer antiflawiihen Parole. San Giuliano ſchrieb ſchon 1902: „Der Hellenismus iſt eine Kraft, die zu Verbündeten zu baben unter Umftänden ſehr nüslich fein Tann, und welche, wie die Freundfchaft der Rumänen, der Albanier und der Magyaren, uns einmal als Wehr gegen da3 auf die Ballanhalbinfel eindringende Slawentum dienen Tann.”

Man fieht: als der gefährlichite Feind gilt unbefangener Betrachtung eben doch der Panflawismus. Ihm gegenüber pflegt man auch die Verbindung mit Rumänien. Daß die vielberufene Stammesverwandtihaft Rumäniens weniger - eine ethniſche Tatſache als ein antiruffiiches politifches Programm bedeutet, da bat uns ein Italiener (Amadori Birgilj) gelehrt: „Das rumäntiche Boll, namentlich das Landvolk ift ſlawiſch geblieben. Die führenden Klafien fehen aber in dem Latinismus ein ganzes politifches Programm, die Behauptung einer glüdlihen Unabhängigfeit, nicht fowohl gegen die flawifchen als gegen die ruſſiſchen Mächte, die das Land umgeben; fie erllären fich deshalb für Xateiner, fie erwärmen fich bei ber Erinnerung an Rom, das das opportuniftifche Zeichen ihrer Unabhängigfeit ift.“

In der Zürlei hat Italien in den legten fünfzehn Jahren feinen Einfluß vor allem auf Koften Frankreichs auszudehnen verſucht. Die Tirchenfeindliche dritte Republit bat dem „Lirchenräuberifchen” Italien einen Teil feines Protektorats über die katholiſchen Chriften im Drient abgetreten. Darüber find im Auguft 1905 beftimmtere Abmadungen erfolgt, und Italien entfaltet dort feitdem eine lebhafte wirtfchaftliche und kulturelle Energie. Für die Unterſtützung religiöfer Werle in der Levante gibt der italieniſche Staat mehr als eine Million aus, und durch Schul- und Banlgründungen in Smyrna und Konftantinopel fucht er feinen Einfluß zu ftärlen. Der Patriarch von Serufalem ift ein Staliener. Das Beltreben, Preftige zu gewinnen, illuftriert der Heine Bug, daß bie Staliener in Kreta und in Kleinafien archäologiſche Ausgrabungen veranftalten, obwohl doch der heimifhe Boden der unbehobenen Schäge die Hülle und Fülle birgt. Der Sieg über die Türkei wurde dazu benutt, in Kleinafien wirtſchaftliche Vergünjtigungen zu gewinnen. Man verjuchte in den Vilajets Brufla und Aidin, alfo im Norden wie im Weiten, fi) Einfluß zu jchaffen. ‘m September 1913 wurde einem italientiden Konjortium die Konzeſſion für die Bahn Adalia—Burdur erteilt, die dem italienifhen Handel die Be» berrfäung des Vilajets Adana im alten Pamphylien ermöglichen fol. Wie man fieht, richtet ſich dieſe wirtſchaftliche Tätigkeit nicht auf ein beftimmtes Gebiet, fondern auf ganz Anatolien. Die bisherige italieniſche Drientpolitif war leineswegs auf eine Teilung der Türkei berechnet, wie es von der Rußlands und Englands gejagt werden kann. Geit dem Ballanfrieg beftand denn auch in Rom das aufrichtige Beitreben, die Stellung der Türkei zu Träftigen. Freilich bedeutete der Eintritt der Zürlei in den Weltkrieg für Italiens Keutralitätspolitit eine Kraftprobe; denn die Erflärung des heiligen Kriegs

70 Italiens Politif auf dem Balkan und in der Levante

bat eine gewiſſe Intereſſengemeinſchaft der über Länder des Islams gebietenden Staaten gefhaffen. Bon Anfang an wurde aud) in der italienifhen Kriegspreſſe der Gedanke vertreten, Italien müffe fih aus dem wahrjcheinlihen Zufammen- bruch der Türkei die Beute retten. Solange aber diejer Augenblid nicht offenfundig gelommen tft, wird Italien, allein aus diefem Grunde, wohl faum den Anftoß zu einer Ummwälzung geben, die die Befißverhältniffe im Mittelmeer in nicht abfehbarer Weife ändern müßte. Nach dem engliſch⸗ruſſiſchen Teilungs- plan fcheint für Ktalien ein Gebiet in Stleinafien beftimmt zu fein. Diefer Erwerb würde aber nicht im Verhältnis ftehen zu dem Anteil an der wirtichaft- lihen und Zulturellen Erſchließung des Drients, den Italien zu gewinnen im Begriff ftand. Wird SKonftantinopel und Kleinaflen ruffifh, die Ägäis ein griechifcher See, gerät Syrien und PBaläftina in franzöfiſche und englifche Hände, dann ſteht Ytalien, mag es auch feinen Anteil erhalten, im Dften vor der gleihen „Begrenzung“ wie im Weiten. Der Tonzentrifche Drud, den beute fhon die europäifhen Völker auf das Mittelmeer ausüben, wird erheblid gefteigert werden, und Stalien mag dann erfahren, was es heißt, ein „Reid der Mitte” zu fein, das nach Feiner Seite freie Hand hat. Sein bisheriges Verhalten weiſt e8, folange die Türkei ftanphält, auf eine Politit der offenen Zür, die es vermutlich ebenfo der Zripleentente wie den Zentralmächten gegenüber zur Geltung bringen würde. Den vollen Sieg wird Stalien. feinem der beiden fämpfenden Parteien wünſchen; an ihm mag Mar werden, was ein ſcharf denfender Schriftfteller (Ruedorffer) Turz vor Kriegsausbruch propbezeite: daß von einem modernen Kriege nicht die Sieger, fondern die Zufchauer den größten Gewinn haben würden.

Die Dolksfirhe und ihre vaterländifche Sendung

Don Artur Braufewetter, Ardıdialonus a, d. Ober» Pfarrfirche

zu St. Marien in Danzig

was der Kirche der Gegenwart entipridht, und was ihr not tut. u Die Seele des einzelnen tritt in den Mittelpunft allen Suchens, fie trägt zugleich ale Verantwortung. Jede Bevormundung hört auf; es ift Pflicht des einzelnen, feine Stellung zu Gott ein- zunehmen und zu behaupten. Und mie feine Pflicht, fo ift es auch fein Recht.

Damit ift Religion und Neligionsübung bewußt in die Sphäre des Geiſtes verjegt, der Unterfchied zwifchen: Klerus und Laien getilgt und jeder Stand vor Gott gleichgeitelt. Eine freiere und innerlichere Glaubengjtellung it angebahnt, einer deutfchen Einheit und bdeutfchen Kultur ein neuer Weg gewiejen.

Aber in diefer Kraft einer auf das Geiltige gebauten Kirche Liegt das bürfen wir nicht vergefien zugleich ihre Gefahr. So gut nämlich die Kirche der Gegenwart verfchiedene Meinungen tragen Tann und fol, fo fehr individuelle Eigenart ihr Farbe und Leben leihen, fo frhr ift die Mahnung am Plate: das Ganze nicht ber dem Individuellen, das Allgemeine nicht Über dem Perfönlichen zu vergefjen. Ein gar zu ausgeprägter Andividualismus, ein zu eng und zu empfindungsvoll gefaßter Perfönlichkeitsbegriff, das ift die Gefahr, von der ich ſpreche.

Die alte Dogmatil unterfcheidet geiſtvoll zwiſchen einer „fihtbaren” und einer „unfihtbaren” Kirche. „Sichtbar“, weil organifch geordnet und zahlen- mäßig und ſtatiſtiſch nachweisbar, ihre Mitglieder: alle auf den Namen Jeſu Ehrifti Getauften. Ihr jedoch mit ihren Fehlern und Gebrechen gegenüber. ftehend die unfichtbare, die Idealkirche, und ihre Glieder alle wahrhaft Släubigen, alle nicht mit dem Namen und dem Munde, fondern mit der Tat und dem Herzen Belennenden, gleichviel zu welcher der fichtbaren Gemeinde fie gehören. Gie ift die „Eine“, die „Allgemeine“, die „Gemeinde der

723 Die Volkskirche und ihre vaterländifche Sendung

Heiligen”, ein Gegenftand des Glaubens mehr, als des Schauens, bes Sehnens, als des Wiſſens. Die Aufgabe der fihtbaren Kirche aber im letzten Grunde: ihre Glieder zu ſolchen der unfichtbaren zu erziehen.

Wir veritehen dieſe jpelulativen Gedanken auch heute noch, wir fühlen, wie die Sehnfucht unferer Zeit auf jene Ideallirche gerichtet ift, die, der lebten Wahrheit nahe, alle Glieder zur Einmutigkeit in fich ſchließend, das große Wort Chrifti zur Wirklichkeit madt: Eine Herde und ein Hirt.

Für die ernfte Realität des Lebens der Gegenwart freilich liegt ein anderes Ziel näber: die Staatsficdhe, in der wir leben, zur Bollsfirche zu geitalten.

Man wollte e8 auf dem vielen erftrebenswerten Wege zu erreichen fuchen: Loslöfung der Kirche vom Staate.

Ich möchte vor diefem Wege warnen. Nicht in der Loslöfung vom Staate, im Gegenteil, nur in der Verbindung mit ihm kann die Kirche Volls⸗ fire werden. Denn nur fo ift ihr die Möglichkeit gegeben, von aller Soliertheit entfernt, das Volksleben religiös, ethiſch und kulturell zu durch⸗ dringen. Nur fo lann fie ihre Ordnungen rechtlich gefhübt fehen, und nur fo Schließlich ihrerſeits die ftantlich foziale Tätigkeit mit freien Lebensträften erfüllen. Zweifellos entiprang der Gedanke einer Loslöfung der Kirche vom Staate ideellen Motiven, feine Verwirklichung aber wäre, wenn überhaupt möglich, mit Bedenlen verbunden, die unter Umftänden die Eriftenz der Kirche gefährden Fönnten. Das ward in warm liebendem Eifer überfehen. Aber auch für den Staat wäre eine folde Trennung eine Gefahr. Denn die enge Der- bindung mit der Kirche bewahrt ihn davor, religionslos zu werden. Daß außerdem bei einer Loslöfung die theologiſche Ausbildung der Prediger auf ben Univerfitäten, die Anftellung der Profefioren heute gar nicht zu überſehenden Schwierigkeiten begegnen würde, fol nur nebenhin erwähnt werden. Wie es ja überhaupt nit in der Richtung und Abficht diefes Auffabes Iiegt, das Gebiet der Loslöfung der Kirche vom Staate eingehender zu erörtern. Nur geftreift ſollte es werden und denen, bie fi auch heute noch nicht von dem Wunſche einer ſolchen Trennung Iosfagen können, die Frage vorgelegt werden: ob fie wirklich meinen, daß die Kirche ftarf genug wäre, eine Tages ganz auf fi felbft geftellt zu fein? Ich glaube, fie braucht den Staat, wie ber Staat fie braudit.

Freilih mit der Staatskirche allein wäre es auch nicht getan. Das fahen die bald ein, denen die freie Entmwidlungsfähigleit der Kirche am Herzen lag. Darum trat an Stelle des Schlachtrufes: „Hie Staatliche”, „hie Freilirche!“ bei den Einfidtigen das Beſtreben zutage: anjtatt fih im zwei Lager zu zerfplittern, lieber alle Kräfte darauf zu richten, die Staatskirche zur Volkskirche umzuwandeln.

Aber nun zeigten ſich erft recht die Schwierigkeiten, die ſich einer Volls⸗ tümlichleit der Kirche entgegenftellten. Nicht die ſtark einfeßende und methodiſch

Die Volkskirche und ihre vaterländifhe Sendung 73

um fi) greifende Austrittsbewegung war bie größfte unter ihnen. Sie wurde weit überfhägt und Hatte für VBeftehen und Bedeutung der Kirche durchaus nicht den Wert, deu man ihr anfangs zumal.

Eine bei weiten größere war ber auffällige und unaufhaltfame Rüdgang des proteſtantiſchen Bevölferungsanteils, der ſich mit der Notwendigfeit eines natürlichen Creignifjeg vollzog. Er war weniger durch religtöfe als durch wirtfchaftlide und ethiſche Motive begründet. Und zwar buch den Rückgang der Geburten insbejondere in den germanifchen Ländern, die fämtlich einen viel ftärferen Rüdgang zeigten als die ſüdromaniſchen und flamifchen.

Ein weiterer Hinderungsgrund für die Vollstümlichlett ‘der Kirche war die religiöfe und kirchliche Gleichgültigfeit, der fie unter ihren eigenen Gliedern begegnete. Es gab wohl Gemeinden und Drte, in denen die Beliebtheit oder befondere Befähigung eines Geiftlichen einen ſtarken Kirchenbeſuch hervorrief, in denen gute Gewohnbeit fajt ausnahmslos Taufen und kirchliche Trauungen verlangte, und die Begräbniffe ftetS unter geiftliher Begleitung ftattfanden. Hieraus aber den Schluß der Voltstümlichkeit der Kirche als folcher zu ziehen, wäre gemagter Optimismus gewefen. Gerade in diefer regen Entfaltung firhlicder Gepflogenheit ftagnierte oft das Firchliche Leben, Tonnte von feinem Eindringen in das Boll Teine Rede fein. Jenen Streifen ftanden andere gegenüber, und oft waren e8 ernft und aufrichtig fuchende die ſich durch die für die große Menge berecjneten Leiftungen der Kirche, durch ihre Gottes- dienfte, in denen der Geiftlihe, wohl auch die Gemeinde als ſolche zu ihrem Rechte Tamen, aber nicht der einzelne mit feinem religiöfen Verlangen und feiner perfönlichen Anteilnahme, von der großen kirchlichen Organifation ab⸗ geftoßen fühlten. Das fchuf den zahllofen Selten den Boden, vor allem aud) den wadjjenden Gemeinſchaftsbewegungen, die bald eine größere Vollstümlichkeit befaßen als die Kirche.

Zu diefer Gleichgültigfeit und Abwendung uon der Kirche gefellte fich, insbeſondere in ſtark induftriellen Ländern oder Großftädten, etwas anderes: ausgeſprochene Feindſeligkeit. Mochte diefe nun fozialen oder politifchen Urfprungs fein, mochte fie in der wachſenden Kirchenfteuer oder in anderen wirtſchaftlichen Einrichtungen begründet fein, modten die Selten fie fchüren oder die Agitation der Konfeffionslofen, jedenfalls hinderte fie die Kirche vollstümlid) zu werden.

Die Kirche erfannte die ihr drohenden Schwierigleiten und war auf dem Plane. Gie teilte ihre Gemeinden, beſonders in den größeren Städten, zwecks ftärferer Durchbringung und intenfiverer Arbeit, in einzelne Seelforgerbegirke, fie ordnete, um dem Gemeinſchaftsbedürfnis erfolgreih entgegenzulommen, regelmäßige Bibelftunden im engeren Kreiſe an, fie förderte und fpornte bie Bereinstätigleit, fie veranftaltete Familien- und Clternabende und widmete den Kindergottesdieniten erhöhte Aufmerkſamkeit. Sie veranftaltete Vorträge apologe- tiſchen Charakters oder ließ Fragen ethiſchen und kulturellen Inhalts im Rahmen

174 Die Volkskirche und ihre vaterländifche Sendung

ihrer religiöfen Anſchauungen behandeln, fie beichäftigte fi mit dem Plane einer Neugeftaltung der Agende und bemühte ſich, weniger abgejtandene Doktor fragen in ihren Synoden zu behandeln.

Gewiß, das alles blieb nicht ohne Wirkung und Frucht. Aber die Bolls- kirche ſchuf es nicht. Das Volk als folches ftand der Kirche zu einem jehr großen Zeile immer noch abmwartend, ja ablehnend gegenüber, die matte Gleichgültigkeit war nicht gehoben.

Da kam ein Reformator. Der faßte zu mit ſtarker Hand, der ſchuf aus MWundern fein großes Werl. Schneller, als es irgendwer geabnt, ließ er das firhliche Leben, da8 an vielen Wunden blutete, genefen. Was vielen machtlos erſchien, jchuf er zur Macht, was fie alt und entkräftet wähnten, machte er zur Jugend und zur Kraft. Aus dem Zmiejpältigen fchmiedete er das Geeinte, aus den Parteiungen das Ganze. Diefer Neformator hieß der Strieg.

Vom eriten Mobilmahungstage an jchien eine neue Zeit für die Kirche gefommen. Sie bildete in Gottesdienften und Abendmahlsfeiern den Sammel- punft aller Kreife des deutſchen Volles. Die in langer, lauer FriedenSzeit manden ſchon als überflüjfig anmutende Kirche war zu einem Felſen in ber Brandung rings umber geworden. Gie hatte volkstümliche und nationale Bedeutung gewonnen, war aus ihrer mehr fepariftiichen Stellung erhoben und zu einem Allgemeingut des Volles geworden. Cine ecclesia militans, abet nit mehr in dem Sinne, daß fie gegen die Widerftände der Welt-Lämpft, fondern daß fie an den ernten Aufgaben des Vaterlands mit lämpfen, mit ihm eins fih fühlen konnte. Das fo viele Jahre hindurch mit heißer Sehnſucht erftrebte Ziel war Wirflichleit geworden: die Kirche nicht mehr einzelner Gläubigen und Frommen im Lande, fondern die Kirche des Volkes.

Ein wejentlider Umſtand erleichterte dies neue Werden: unter den gewaltigen Eindrüden der Ereigniffe fiel der fo lange herrſchende Hader ber Konfeffionen und der kleinliche Kampf der Parteien und Richtungen, der wie im ganzen Daterlande, fo leider auch in der Kirche feine unheilvolle Rolle geipielt, in fih zufammen. In einer Zeit, in der der Proteftant wie der Katholik in einer Front für eine Sache Leib und Leben gaben, reichten fich die getrennten Konfejfionen über des Vaterlandes heiliger Not die Hand, das aufge ſprochene Schutz⸗ und Trutzlied der evangelifchen Kirche, das fonft bei proteftantifchen Verfammlungen und an proteitantifchen Fejttagen gefungen wurde: „Eine feite Burg iſt unfer Gott“ wurde chriftliches Nattonallied, das da draußen wie daheim als Kampf: und Giegesgefang neben der „Wacht am Rhein“ und „Deutichland, Deutichland über alles“ vor dem Kaiſerſchloß in Berlin, bei dem Tale Antwerpens und in den Schühengräben erklang. Nur das GEinigende herrſchte; das Chriftlich-Deutfche.

Das zeigte fih am ftärkiten auf dem Felde der Caritas und materiellen Hilfeleiftung. Wer hieß evangelifh, wer fatholifh, wenn es darauf anlam, einem bebrängten Baterlande, notleidenden Brüdern oder Schweftern zu helfen?

Die Volkskirche und ihre vaterländifche Sendung 75

Wo gab es da noch eine Kudenfrage? Wo die früher bis zum Überbruß gehetzten Begriffe: liberal, konfervativ, fozial?

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Nun freilih gilt e8 die Hauptfadde: wird e8 der Kirche gelingen, ihre fo unverbofft gewonnene Stellung zu behaupten, eine Vollskirche zu werden und zu bleiben?

Damit ftehen wir vor den nationalen Aufgaben, die der Fire aus diefer ſchickſalsſchweren Zeit erwachſen. Sie fordern feine Ummandlung, fein Abweichen von richtig erkannten Bahnen; wohl aber ein Sichanpaſſen, mehr ein Hineinwachſen in die Zeit. |

Es liegt auf der Hand, daß die über alles Erwarten fchnell erreichte neue und gemaltige Bedeutung der Kirche eine ſchwere Verantwortung auferlegt. Denn mas fo rafd) geworden könnte unter glüdlicdy veränderten Verhältniſſen, die wir Doch alle erhoffen, wieder wie Spreu verfliegen. Mit der Not der Zeit Iönnte der Wert der Kirche für die weiten Kreife weichen und alles bald auf dem alten Standpunkte fein. Der Kirche aber müßte es darauf ankommen, fid ihre Stellung als Volkskirche unter allen Umſtänden, komme es in der politiſchen Lage unferes Vaterlandes wie e8 wolle, zu erhalten.

Jetzt ift die Zeit für fie gefommen. Jetzt oder nie. Was beute verfäumt wird, kann nie wieder gut gemacht werden. In den Tagen, die alle Kräfte anfpannen, Wert und Unmert nicht nur der einzelnen Perfönlichkeit, fondern zugleih aller Einrichtungen, der gefellichaftlichen, ſtaatlichen oder lirchlichen Drganifationen auf eine enticheidende Probe ftellen, hat die Kirche Gelegenheit, ihre Kraft und Notwendigkeit zu erweifen, was fie bewahren will, zu bewähren.

Und wie die Zeit find die Umftände ihr günftig. Der ſtarke Anſchluß an die Kirche iſt keineswegs, wie Schwarzfeher vorausfagten, eine vorübere gehende Folge der Erregung und des Ungemwohnten geworden, der fi) im Kaufe des Krieges abſchwächen würde. it er naturgemäß auch nicht ganz fo ftarf mehr wie in den eriten Tagen, fo hält er ſich jet noch, nad) faft neun Monaten, auf beträchtlicher Höhe. Menſchen, die früher feine befondere Neigung für eine gottesdienftlihe Betätigung zeigten, fühlen jest einen Zug zu ihr hin. Es ift fo viel der zehrenden Unruhe in ihnen und der bangen Ungebuld, fie fuden die Ruhe, „die noch vorhanden ift dem Bolfe Gottes”. Oder fie haben viel Schweres erfahren, ihre Philofophie verfagt, ihre Arbeit gibt ihnen nicht mehr die alte Kraft. Sie verfuhen es mit dem feiernden Gotteshaufe.

Ein anderer Prediger treibt in die Kirche: der Tod. Gemiß, er ift immer da gemwejen. Aber man hat nicht gerne an ihn gedacht, hat ihn ignoriert, folange es eben ging. Jetzt gebt es nicht mehr. Wir find von feiner Wirklichkeit umfangen. Der Tod ift in der Welt. Nicht nur auf dem Schlacht» felde, fondern auch bei uns daheim. Die Kreife um uns lichten fi), Die

76 Die Dolfstirche und ihre vaterländifhe Sendung

Häufer werben leer. Wir gehen, ein jeder auf feine Weiſe, den Gedanken bes Todes nach und vergraben uns in feine dunklen Geheimniſſe. Die einen fuchen die Löfung wieder in der Philofophie, die anderen in der Arbeit, viele aber treibt der Todesgedanle in die Kirche. Das tft von Anbeginn jo ge- wejen.

Auh von den Tapferen da draußen hören und lejen wir immer aufs neue, daß ihnen ein Gottesdienft oder eine Feldandacht viel der Kraft und Aufrichtung gibt. Das Verlangen nad) einer größeren Anzahl von Feld geiſtlichen wächſt.

Alſo das kirchliche Bedürfnis, das eine Reihe von Jahren geſchwiegen hatte oder latent geblieben war, iſt mit Nachdruck erwacht. Das iſt zweifellos. In ſeinen erhebenden wie niederdrückenden Ereigniſſen iſt der Krieg ein gewaltiges stimulans für das kirchliche Leben geworden, und es kommt lediglich darauf an, die ſäenden Kräfte fruchtbar zu machen.

Das gilt nun aber in allererſter Reihe von der Predigt, der in dieſer ernſten Zeit eine beſondere Bedeutung zukommt. Wir haben bereits geſehen: fie war nicht immer von der Kraft getragen, die ihr notwendig war. Sie erörterte dogmatiſche Fragen, die für unfere Zeit eigentlich leinen beſonderen Wert mehr befaßen. Da es eine große allgemeine Not nicht gab, fo drehte fie fih gar zu leiht um die einzelne Meine. Das raubte ihr den Zug ind Große und lieh ihr einen gemiflen fentimentalen Charakter, der nicht jedermanns Sache war.

Darin iſt jet Wandel geichaffen. Die Nöte unferer Zeit finden ihren Widerhall in jeder Seele, das Einzelleid ift weſenslos geworden, es gebt auf in dem allgemeinen für das Vaterland. Jene Art überperjönlidder Predigt, wie fie die lange, laue Friedenszett gezüchtet, ift heute einfach unmöglich. Die Chriften ftehen alle für einen, einer für alle. Die Perfönlichkeit Jeſu Chriftt, der man auch bereitS einen gewiſſen Zug ins Sentimentale gegeben, lebt jet auf in ihrer ehernen Größe. Nicht nur die weidhen Worte feiner Liebe, auch jenes andere erwacht zum Leben: „Ihr follt nicht mwähnen, daß ich gelommen fei, Frieden zu fenden auf Erden. ch bin nicht gelommen, Frieden zu fenden, fondern das Schwert.” Und mit der propbetiichen Wahrheit feines Wortes fommt feine große Tat unter den reigniffen diefer Zeit zu ganz neuer Bedeutung: die opfernde Hingabe feines Lebens für die Menjchbeit.

Und mit ihm erhebt fich neugeboren und neufporend eine andere Perfönlich- feit: Martin Luther. In einer Zeit, in der wir für die heiligen Güter deutfcher Kultur und Freiheit bis auf den legten Blutstropfen kämpfen, bat er uns naturgemäß viel zu fagen; denn auch bei ihm und feinem Kampfe handelte es fih um die höchſten Güter der Freiheit und Kultur. Uber wir Tennen Luther noch zu wenig. Gerade die Geiftesgebilbeten unferes Volles fehen in ihm zwar einen religiöfen Genius, find fich jedoch über den Umfang und die univerfale Kraft feiner Schöpfung zu wenig Mar. Als der eiferne Mann in

Die Volkskirche und ihre vaterländifche Sendung 77

eiferner Zeit fteht er heute vor uns, der als guter Chrift dennoch das Wort geiprodden: über den Krieg müfje man männlich denken.

Keiner Tennt die Schreden bes Kriege wie er, Teiner weiß zugleich fo Nar und nüchten über ihn zu reden. Der Krieg ift „ein furchtbares, graufiges Schrednis”", Teuerung und Peſtilenz find „wie Fuchsſchwänze, ja, nicht zu vergleihen mit dem Kriege. Wer ibn anfängt, der frevelt wider Gott und fol gefchlagen werden.” Aber biefer „Kriegsluft” fteht ein anderes gegenüber: der „Notkrieg“. „Der erſte ift des Teufels, dem gebe Gott fein Glüd, der andere ift ein menſchlich Unfall, dem Helfe Gott... . E8 wird die Zeit jelbit Ernft genug mit ſich bringen, daß den zornigen, trogigen, ſtolzen Eifenfreffern die Zähne follen fo ftumpf werben, daß fie nicht mal friſche Butter beißen fönnen.“

Auch die jeht oft fo müßig aufgemorfene und breitfpurig behandelte Frage: wenn e3 einen Gott gibt, jo müfje er der gerechten Sache den Sieg verleihen, wird von Luther treffend und kernig beantwortet: „Mann, Waffen, und alles, fo zum Streite gehört, fol man haben, fo es zu belommen tft, auf daß man Bott nicht verfuhe. Aber wenn mans hat, fol man nit darauf trogen, auf daß man Gott nicht vergefle oder verachte, denn es ſteht gejchrieben: aller Sieg kommt vom Himmel. ... Wahr ift es, rechte gute Urfache haft du, zu friegen und dich zu wehren, aber du haft darum noch nicht Siegel und Briefe von Gott, daß du gewinnen werdeſt.“

Aber anderfeitS verheißt er: „Wer mit gutem, woblberichtetem Gewiſſen ftreitet, der fann auch wohl ftreiten, fintemal es nicht fehlen fann, wo gutes Gewiſſen ift, da ift auch großer Mut und fedes Herz; wo aber das Herz led und der Mut groß fit, da tft die Fauft noch deſto mächtiger, und beide, Roß und Mann, frifder, und gelingen alle Dinge befler, und fchiden fi auch alle Fälle und Saden deito feiner zum Siege, welchen denn Gott auch gibt.“

Das ift der männlich deutfche Klang, in dem uns die Verfündigung des Wortes in diejer Zeit und aud in der kommenden geboten werden muß. Denn wer kann fih heute, Tann fi für eine fehr lange Zukunft eine Predigt voritellen, die nicht national gefärbt ift, in der das Deutſche und das Chriſtliche nicht in- einander übergeben? Wer will überhaupt noch etwas hören, das mit den gewaltigen Beitereigniffen nicht in irgendweldem Zuſammenhange fteht?

Aber ich gehe weiter. Die vaterländifhe Aufgabe der Kirche bat noch andere, ausgeſprochen praktiſche Ziele: ethiſche und wirtfchaftlide Aufklärung unſeres Volkes.

Es iſt fraglos und wird jeden Tag durch die Erfahrung aufs neue beſtätigt, daß trotz aller behördlichen Maßnahmen weiten Kreiſen der tiefe Ernſt unſerer wirtſchaftlichen Lage noch nicht aufgegangen iſt. Dies liegt ſehr oft weniger am böſen Willen als an mangelnder Aufklärung.

Und hier iſt meines Erachtens eine neue hochbedeutende vaterländiſche Aufgabe für die Kirche geſchaffen. Denn in ihr ſammeln ſich die Menſchen

18 Die Volkskirche und ihre vaterländifche Sendung

aller Kreife. Hier hat der Geiftliche den Arbeiter, das Dienſtmädchen wie den Gebildeten zu feinen Zuhörern. Hier tft zugleih die größte Cmpfänglichfeit und der Wille anzunehmen. Was der Pfarrer von der Sanzel jagt, wird anders aufgenommen, als was gejchrieben oder angeordnet wird. ine geeignetere Stelle zur ernften aufflärenden Mahnung iſt alfo nicht denkbar.

Dder wollte man einwenden: eine ſolche praftiihe Belehrung über wirt- Ihaftliche Dinge würde eine bedenkliche Annäherung an den flachen Nationalismus der Aufflärungszeit bedeuten ?

Das wäre falſch. Eine ethiiche Aufflärung zu unferes Vaterlandes Heil würde im Gegenteil einer Vertiefung religiöfen Lebens und Handelns glei fommen. Bon jeher haben die Kraft und Größe des Chriftentums in der Ber- fündigung eines Glaubens beftanden, der tätig ift in der Liebe, haben fie ſich in der Hinwendung zu den täglihen Aufgaben und Bebürfniffen des täglichen Lebens gezeigt. Aus ihnen erwuchſen die unvergleichlichen Neden und Gleich⸗ niffe, mit denen Chriftus fo gewaltig an den Nero des Volfslebens zu fallen wußte. Was uns heute not tut, das ift ein praftifhes Chriftentum, das nicht immer „kirchlich“ fein will, fi) vielmehr auch außerhalb der kirchlichen Formen fruchtbar an den rein humanitären Arbeiten freier oder ftädtifcher oder ftaat- liher Einrichtungen beteiligt. So allein bemährt es die Kraft des Sauerteiges, der die Welt durchdringen joll.

Es tit ſich bereit3 feiner vaterländifhen Aufgaben bewußt gemorden. Aus Pfarrhäufern, von Presbyterten und Gemeindevermwaltungen find zahlreich bie Liebesgaben und TFeldpoftpalete an unfere Srieger herausgegangen. In ben Lazaretten und anderen Einrichtungen des roten Kreuzes haben Geiftliche, ihre Frauen und Töchter hingebend gearbeitet. Die innere Miffton, der evangelijche Bund und fonftige kirchliche Einrichtungen haben die Sonderaufgaben, derent⸗ wegen fie ins Leben gerufen wurden, bintenangeftellt um lediglich vaterländifche Arbeit zu tun. Don der nationalen Bedeutung, die man der Kirche jetzt allgemein zuerlennt, zeugt aud der häufig gemachte, hier und da bereits in die Tat übergejegte Vorſchlag: man möchte die traurigen, mit der Auffchrift „tot“ oder „gefallen“ zurüdgefandten Briefe ebenſo wie offizielle Todesbenacdhrichtigungen an das zuftändige Pfarramt fchiden, damit der Geiftlihe hingehen und die Angehörigen in der rechten Weife vorbereiten könne. |

Bon wie vielen Pfarrern haben die Zeitungen berichtet, daß durch ihre Predigten und ihr Wirken Unfummen von ängfıli verſteckt gehaltenen Gold⸗ ftüden herausgegeben und der Reichsbank überwieſen wurden.

Aber auch ſchon in Friedenszeiten haben fich die Geiftlichen als Borfigende oder im verborgenen arbeitende Mitglieder der Krieger-, Dfimarlen-, Flotten- und anderer nicht „tirchliher” Vereine in den Dienft des Vaterlandes geitellt.

Wil die Kirche zur Volkskirche werden, fo muß auf diefer Linie erfolgreich begonnener patriotifcher Zätigleit unentwegt weitergearbeitet, muß auf fozialem wie vollSwirtfchaftlidem Gebiete vieles gefchaffen werden, was nicht „kirchlich“

Die Volkskirche und ihre vaterländifche Sendung 19

ift und dieſe Bezeichnung dennoch als die Liebesbetätigung einer religiös fittlichen Gefinnung verdient.

„Bebt jedes Goldſtück fofort in den Verkehr oder bringt es auf bie Reichsbank, tragt keinen Pub, bezähmt eure Vergnügungsſucht, meidet bie ſchalen Schauftellungen der Kinos, die widerwärtigen Operetten nad) franzöfiſchem Rezept, die elende Theater anitatt gejunder Soft felbft in dieſer bittererniten Zeit vorzufegen den Mut haben, fchraubt mit jedem Tage eure Anjprüce um ein weniges herab, feid genügfam und gebt von dem, was ihr jo ohne große Mühe erfpart, denen da draußen oder den Notleidenden!” das wäre eine Behandlung der vierten Bitte: „Unfer täglich Brot gib uns heute” in neuer nationaler Bedeutung. ine fehwere, aber heilig große Zeit voller Würde und Kroft auf fich zu nehmen, das iſt das Ziel, dem wir entgegenreifen, und an dem die Kirche in erfter Reihe mitzuarbeiten berufen iſt.

* *

Und wieder gehe ich einen Schritt weiter. Sol die Kirche ihre vater- laͤndiſche Aufgabe erfülen, fol fie ins Voll dringen und eine „Volklslirche“ werden, dann darf fie nicht mehr eine Kirche der Paftoren bleiben, wie fie es leider immer noch ift.

Das ift ja der ganze Widerſpruch und das Verhängnis, an dem insbefondere die evangelifche Kirche leidet: fie will eine Kirche des Volkes fein, fie proflamiert das Prieftertum aller Gläubigen, fie vermwirft die ängftlide Trennung von Klerus und Laien und fie bleibt doch die Kirche der Paftoren, bleibt doch von jeder wirfliden Mitarbeit der Volkskreiſe weit entfernt. Sie bat ihre Bemeindeorganifation, ihre Kirchenälteften, ihre Gemeindevertreter aus bürger- lichen Kreijen, beruft aus ihnen ihre Synoden: Kreis⸗, Provinzial-e und Generalfgnode. Aber die Nedenden und Handelnden find faft immer bie Geiſtlichen.

Sie hat ihre Gutes wollenden Vereine: Guſtav⸗Adolf⸗Verein, Evangeliſcher Bund, Innere und Äußere Miſſion. Aber die leitenden Perſönlichkeiten find Baftoren oder Mitglieder der Konfiftorien. Grundfalid. Das gerade ift es, was die Kirche hindert, ins Volk zu dringen. in mitten in der Arbeit des Tages, mitten im Strome bes Lebens ftehender Mann müßte in ihnen die Führung übernehmen, gleichviel, ob er den eriten oder den einfachen Geſellſchaftskreiſen angehört nur nicht der Geiftliche, von dem jedermann fofort die Über- jeugung bat, er müſſe ſolche Arbeit „von Berufs wegen“ leijten.

Jetzt ift wiederum die Zeit da, wo es einer von ihrer vaterländifchen Sendung erfüllten und diefe mit allem Eifer treibenden Kirche nicht fchwer fallen follte, ſolche Perfönlichleiten aus ben Streifen der „Laien“ zu finden und für ihre Aufgaben und Ziele warm zu madıen.

Zielbemußte Heranziehung der Vollskreiſe zur Mitarbeit, rechtes Verftändnis für nationale Wirkfamfeit, eine der großen Zeit angepaßte großzügige Predigt,

80 | Gobinean über Dentfhe und Franzoſen

Teilnahme an allen ethiſchen, aber auch fozialen und vollswirtſchaftlichen Auf⸗ gaben, die uns heute dringender als je am Herzen liegen, das find bie neuen Wege und Ziele, die fih für die Kirche auftun.

Aus diefem Grunde trete ih auch für das kirchliche Stimm⸗ und Wahl. recht der Frau ein, fowohl für das. altive wie daS paſſive. Denn in dem Streben, die Kirche ind Boll zu tragen, fällt ohne Zweifel ber Fran eine große Aufgabe zu.

Und erſt wenn alle Kraft darauf gerichtet ift, die Staatskirche zur Voll fire zu geitalten, ihre rein „kirchliche“ Sendung zu einer nationalen und vaterländifhen umzuändern, dann kann fie ihre Aufgabe erfüllen: Erzieherin des Volles, Teilnehmerin an feinen Erhebungen und Leiden und das Gewiſſen der Geſellſchaft zu ſein.

Gobineau über Deutſche und Franzoſen

Von Prof. Dr. £udwig Shemann Schluß)

Gobineau geht von der Tatſache aus, daß eine ähnliche Kataſtrophe wie die Frankreichs im Jahre 1870 kein anderes Land in alter und neuer Zeit je betroffen habe und begründet dies damit, daß es ſich bei jener Kataſtrophe nicht etwa nur um eine Reihe von Niederlagen, um die Beſetzung zahlreicher Provinzen, die Einnahme der Hauptſtadt und die ungeheure Schwächung der Finanzkraft, ſondern um das völlige Verſagen der Armee, der militäriſchen wie der Zivilverwaltung und um eine weitgehende Entwertung des Vollkes, des ländlichen, noch mehr des ftädtifhen, gehandelt habe, fo daß Frankreich am Ende nur noch das Bild eines moralifhen Trümmerhaufens geboten habe.

Eine ſolche allgemeine Auflöfung muß ihre tieferen Gründe haben, ihre Urſachen müfjen weit zurüdgehen. Um ihnen auf den Grund zu lommen, hat man fi vor allem von dem SKarbinalmahn ber modernen Franzofen frei» zumachen, als fet das berühmte Jahr 1789 ein Erneuerungsjahr gewefen, als babe die Revolution der Welt eine Normalordnung befchert. In Wahrheit hat dieſe vielmehr ledigli der Zentralifation und dem Staatsabfolutismus, welche durch die großen Minifter und die großen Monarchen des ancien r&gime ſchon auf die denkbar höchſte Stufe gebracht waren, den lebten Abſchluß gegeben. „Die Revolution hat durch eine ungeheure Mine in die Luft fprengen zu

Gobinean über Deutfche und Franzoſen 81

möflen geglaubt, was mit ein paar Axtſchlägen umzuwerfen war.” Die not wendigen Ummälzungen, die fie herbeigeführt bat, wären, fo gut wie in ben übrigen europäifden Staaten, auf geſetzlichem Wege zu bewerfitelligen geweſen. Sie bat nidht einen neuen ernften Gedanken zutage gefördert, fondern nur alles Alte potenziert. Sie bat, wiewohl immerfort Recht und Freiheit im Munde führend, welche fie übrigens nur auf die ſchrankenloſe Herrichaft der Majoritäten zu begründen wußte, in Wahrheit vielmehr jene mit Füßen getreten, alle nod übrigen Freiheiten der Provinzen, der Gemeinden wie der Individuen nnterdbrüdt und in ihrem Berlauf zu Ausfchreitungen der Staatsomnipotenz geführt, weldhe alles Frühere weit hinter ſich und die vielberufenen „Prinzipien von 89" als eine reine Ylufton, ja als eine Myſtifilation erfcheinen laſſen. Hand in Hand mit diefem ging ein anderes Übel, das ebenfall$ um jene Zeit bejonders ſtark ausgebildet erfcheint und das für die Unglüdsfälle von 1870 mit in eriter Linie verantwortlich zu maden fein dürfte: die National« eitelfeit. In früheren Jahrhunderten hatten ſich die Yranzofen offene Sinne und Augen für die Vorzüge des Auslandes bewahrt; und dem entfprad) ihre rege Betätigung daſelbft. Man fand Franzofen in Hülle und Fülle in ganz Europa, ja in der ganzen Welt. Erft unter Ludwig dem Vierzehnten begann, nad dem verhängnisvollen Vorbilde diefes Monarchen, jene Selbftvergötterung, welche ein entſprechendes Sicherheben über und Sichzurüdziehen von den anderen Böllern im Gefolge hatte. Das übrige Europa hat allerdings nicht wenig Dazu beigetragen, durch feinen Kultus alles Franzöſiſchen dieſen bedenklichen Zug nod zu fteigern. Und doch Hätte gerade im achtzehnten Jahrhundert jo manches hiervor warnen follen, da es damals fo ziemlid auf allen Gebieten mit Frankreich bergab ging. Statt deſſen ifolierte man fi nur immer mehr und glaubte ſich vollends durch die Revolution (deren gefunde Keime und Beftrebungen allen Hauptoölfern Europas gemeinfam waren) zu einem einzigartigen Weltheiland, zum höchſten Heilbringer der Völfer, zum bevorzugten Kulturträger, zum oberiten Hüter von Vernunft, Freiheit und Necht berufen. Der Wahn der Unbefleg- barfeit, Hand in Hand mit dem einer geiftigen Überlegenheit (gloire esprit), fette fi dermaßen in der franzöfifhen Vollsſeele feit, daß felbft die furcht- baren Schläge, unter denen das Kaiſertum niedergemworfen wurde, ihn kaum zu erſchüttern vermochten. Immerhin brachten Reftanration und Julilönigtum einigen Rückſchlag wenigftens infofern, als in der geiftigen Welt einzelne Strömungen, wie vor allem die Romantik, dem Auslande wieder ernftlichere Beachtung und der Nationaleitelleit entſprechende Abzüge zuteil werden ließen und in ber politifhen die Regierungen jener beiden Epochen fi den übrigen eutopäifchen gegenüber. zur Anerfennung und Borausfegung einer Gleich⸗ berechtigung bequemten. Die Nation freilich ließ ſich durch die Damit gegebenen Beifpiele in keiner Weife, es fei denn gegneriſch, beeinfluffen, jo daß fie in das zweite Kaiferreich vielmehr in einer Verfafjung und mit einer Anſchauung Grenzbsten Il 1915 6

82 Gobineau über Deutſche und Sranzofen

von fi) felbft und ihrem Allerweltsſchiedsrichterberuf eintrat, die mit der von ben übrigen Völlern gegen fie gebegten Geſinnung mehrfach ſcharf Tontraftierte. Satte doch die beftändige Unruhe, welche Frankreich feit achtzig Jahren dazu trieb, von einer Revolution in die andere zu taumeln, eine Regierung nad) der anderen zu ftürzen, e8 am Ende nicht nur bei denjenigen Ländern, welche für ihr eigenes Staatsleben der Ruhe bedurften, in Mißkredit gebracht.

Nach diejen Feitftellungen der politiſchen Unbeftändigleit, der fchranten- Iofen Eitelfeit und der daraus erwachſenden Iſolierung kommt Gobineau wieder auf die Zentralifation zurüd, für welche man fälfchlich öfter den Adel babe verantwortlich machen wollen, während fie in Wahrbeit viel eher auf bie Bourgeoifie zurüdguführen fet, die weit früher, als man gewöhnlich annehme, in Frankreich eine Rolle geipielt und zu deren engen und Furzfichtigen Gefichts- punkten das bequeme deal einer allfeitigen und allgewaltigen Verwaltungs maſchinerie vortrefflid gepaßt habe. Gobineau tft Übrigens weit entfernt, an dieſem Schaufpiel nur die ſchlimmen Seiten zu fehen: er erfennt ausdrücklich an, daß ihm die Größe nicht fehle und daß e8 „die volle Schönheit aller Fonfequenten und notwendigen Werke“ beſitze. Ein politifcher Gedanke Tann großartig fein, ohne darum abfolut wahr und unbeftreitbar nützlich zu fein. In jedem Falle tft die franzöflfche Zentralverwaltung dem eigenften Weſen des Franzoſen entſprechend, dem innerften Geiſte feiner Raſſe entwachſen. Bon Abt Suger bis auf Louvois, von Louvois bis auf Robespierre, von Robespierre bis auf die Heutigen bat ein Geiſt alle leitenden Franzoſen beſeelt. Wo immerfort nur einem Pole zugeſtrebt wird, kann man faſt von einem ethniſchen Verhängnis (fatalitéé ethnique) reden, dem ein Staat am Ende unterliegen muß, in welchem alles, felbft die Religion, abminiftrativ geworden: tft.

Das überwuchernde Beamtentum, das einen folden Staat vornehmlid charalterifiert und vertritt, iſt zugleich alles und nichts, eine anonyme, unver antwortliche Kraft ohne eigenes Dafein, abwechſelnd königlich, kaiſerlich, national, obne innere Beziehung zur jedesmaligen Regierung. Diefe tft vorübergehend, die Verwaltung bleibt, fie tft der Staat.

Nach einem unerbittliden Naturgeſetz verfällt eine jede Macht ber Welt von dem Augenblide an der Entwertung, da fie feinen Widerftand mehr findet. So tft e8 auch ber franzöfifden Verwaltung ergangen. Nachdem fie in ihren guten Zeiten Außerordentliche geletitet (mas Gobineau für die verfchiedenften materiellen wie geiftigen Gebiete nochmals ausdrücklich anerkennt, wenn er auf binfihtlich deffen, was von den Lobrednern ald Krönung des Gebäudes gefeiert wird, nämlich Parts, feine befannten Vorbehalte macht), ſchlug ihr bie Stunde in dem Augenblide, da fie in die Hände der Unfäbigfeit und des Leichtfinns geriet, da die reine Routine an die Stelle einer intelligenten Leitung trat.

Es folgt ein vernidhtendes Urteil über die Beamtenfchaft des zweiten Kaiſerreichs, unter welchem Leichtfertigleit, volllommene Ignoranz, joviale Phrafenmacherei die Hauptmerfmale der franzöfifden Verwaltung nach innen

Gobineau Aber Deutfche und Sranzofen 83

wie nad) außen geweſen find. Alle diefe Menfchen, denen die höchſten Sintereffen des Landes anvertraut waren, haben ſich tänzelnd, ein graziöfes Lächeln auf den Lippen, dem Untergange zubewegt und leider Frankreich hinter ſich herge⸗ zogen. Denn mit den Hebeln ihres Emporlommens, Unwiſſenheit und geringer Moralität, Haben fie nur zu fehr Schule gemacht; ja, fie find im Grumde nur ein Ausſchnitt aus einer Gefellfchaft, in der die drei genannten Gigenfchaften ſich feit langem krebsartig feſtgeſetzt haben.

Bon unten nad oben auffteigend, unterzieht Gobineau barauf bie einzelnen Schichten diefer Geſellſchaft einer tiefernften Prüfung. An die Stelle des Bauern von ehedem, der noch religiöfen Sinn Tannte und feinem Geiſtlichen mannigfache Unterweifung dankte, ift ber moderne Hkonom“ (cultivateur) getreten, ber jeinem Vorgänger an Unwifjenheit weit voraus, an feeliicher und lörperlicher Gefundheit weit nachſtehend erſcheint. Das dunkle Kapitel bes Alloholismus, des gejundheitlichen Niederganges® und des Geburtenrüdgangs erfährt ſchon hier eine fhonungsloje Beleuchtung. Seine politifhe Weisheit bezieht der Bauer von beute mit wachfender Borliebe von dem Arbeiter, mit dem er in der Schenfe zufammentrifft; und da fie in der Hauptſache auf die befannten Schlagworte von der Gleichheit und auf die Lehre hinausläuft, daß das Bolt (morunter ein jeder vor allem ſich jelbft verfteht) alles und das übrige nichts ſei, fo tft das Ergebnis einer ſolchen Belehrung, daß der früher ſchon ſtark entwidelte Egoismus des Bauern in die volllommenfte Gleichgültigkeit gegenüber den Gefchiden bes Baterlandes ausartet. Er kennt für gewöhnlich nur noch das eine Sinnen und Sorgen, fi den Pflichten gegen lebteres auf jede Weife zu entziehen, er ift „ein Lafttier, da8 von feiner wahren Beftimmung abgelentt iſt“, und kann der elenden Geſellſchaft, die ihn nicht mehr an feinem Plage feftzubalten weiß, nur noch zum Schaden gereichen.

Immerhin kann man fagen, daß er nur nichts Gutes mehr zu ftiften vermag; der Arbeiter aber vermag geradezu Böfes zu ftiften. Die mandherlei Bildungsverſuche, die man mit den Arbeitern angeftellt bat, haben für bie Maſſe derfelben nur dahin geführt, daß fie ſich mit Phrafen vollgefogen haben. Sie handhaben diefe mit einer felbftbemußten Sicherheit, al8 wären es ſibylliniſche Orakel, und in den Tagen der Unruhen Fönnen fie daher im Munde kalter Fanatiler zu den verbängnisvollften Lofungsworten werden. Die Regierung bat die Arbeiterfchaft fett Iangem mit berechtigtem Mißtrauen betrachtet, fie hätte e8 gerne gefehen, wenn bie Kirche ihre Bemühungen, diefen Stand in unſchädlichen Bahnen zu erhalten, gefördert hätte. Aber der Arbeiter. will von Religion nichts wiffen, er wirft ſich Lieber den Genüffen, den Ausichweifungen in bie Arme.

Ras zweite Staiferreih, das fein Emporlommen der wahllofen Benubung der allerverfchiebenften Elemente verbantte und ſich genötigt fab, fie fih alle mwarmzubalten, verfiel der Arbeiterflaffe gegenüber auf den Gedanken, ihr durch eine Unternehmung allergrößten Maßftabes zugleich Arbeit und Berbienit- und

84 Gobinean über Deutſche und Sranzofen

Genußmöglichleiten zu verſchaffen, wie fie fie bisher nicht gefannt. Napoleon der Dritte ordnete den Umbau von Baris an. Die Hauptitadt Frankreichs follte die Hauptftadt Europas werden. Mit allen erdenkbaren Mitteln ſuchte man alle Welt dahin zu loden, und nur zu viele Parifer bekamen diefem großartigen Aufſchwung den entſprechenden ihrer eigenen materiellen Lebenslage zu danken. Diejenigen freilih, auf die es im erfter Linie abgefehen war, vermodite man - dennoch nicht zufriedenzuſtellen: mit der Aufbeflerung ihres Looſes wuchs zugleich die Begehrlichleit der Arbeiterfhaft, und Dank und Liebe, wo wären die von feiten eines Volles je zu finden, es fei denn als Ausflug jahrhundertelanger Tradition, innigen Zufammenmwadfens von Regierungen und Negierten, wovon in Frankreich feit langem Teine Rede mehr fein Tann.

Und doc ift die Bedeutung des Arbeiters gerade in dieſem Lande eine ganz außergewöhnliche, ja man kann es in gewiflem Sinne als ein Land von Arbeitern bezeichnen. Handwerk, Kunſthandwerk, Induſtriekunſt find im modernen Frankreich in der Zat auf vorbilblide Höhe gebracht worden. Freilich ein magerer Triumph, über welchem noch dazu die höheren Anliegen eines Volles völlig außer acht gelafien wurden. Die Befriedigung des beſcheidenen Ehr- geizes, Kapitalien nad) Paris zu ziehen, das Land zu bereichern, das Leben darin immer bequemer und eleganter zu geftalten, bat in keiner Weile dazu beigetragen, diejem letteren num auch Ruhe und Frieden einzuflößen, es weiler einzurichten, oder gar zu veredeln. Solange aber der Mann des Handwerks bier im weiteften Sinne genommen nicht wieder dem Beiſpiele feiner Bäter folgt und fih auf die Arbeit zurüdzieht, wird Teine Sicherheit, feine Würde für ein Volk denkbar fein, das beider fo dringend bebürfte.

Der allgewaltigen franzöfifden Verwaltung ift es alfo nicht gelungen, ihre Bauern aufzullären, ihre Arbeiter zu bilden, die Intelligenz ihrer Werkzeuge, der Beamten, zu entwideln. Sie bat Iediglich das materielle Dafein biejer brei Klaſſen verbefjert, fie von allerlei Verantwortungen entlaftet, ihre gemeinen und groben Inſtinkte gepflegt, jeberlei moraliſche Einwirkung, jeberlei höhere Ideen aber ihnen fo ſyſtematiſch ferngehalten, daß irgenbwelde Kundgebung folden Geiftes aus diejen Streifen wie eine romantifhe Anmwandlung erjcheinen fönnte, welde den, von welchem fie ausginge, um dem Ruf des gefunden Menfchenveritandes und praltiſchen Sinnes bringen müßte. Dabei ift e8 dieſem Syſtem nicht einmal gelungen, mittel des ibm beigemifchten weidhlichen Zuges bie gehäffigen Leidenfchaften abzudämpfen, die alte Wildheit auszugleichen, bie vielmehr in den Tiefen der Volksſeele unvermindert fortwuchert.

In der Mufterung der einzelnen Volkskreife fortfahrend, lommt Gobineau fodann auf bie eigentliden oberen Klaffen zu fprechen, die nicht weniger als bie unteren dem Kultus der Materie verfallen, ohne Wärme, ohne Begeifterung, ihre Pflicht nicht mehr Tennen und das Recht und die Fähigkeit verwirkt haben, dem Volle als Leiter und Führer zu dienen. Und doch ift ein Hochhalten eines Volles und Staates einzig von diefen von der Natur gegebenen Sphären

Sobineau über Deutfhe und Sranzofen 85

der Autorität aus denkbar: nur von oben herab Tann es durch die rechte Fürforge für die Niederen bewirkt werben, daß auch unter dieſen genügend viele tächtige Individuen fich entwideln und auf der fozialen Leiter emporfteigen, während das in Frankreich geübte Verhätſcheln und Umfchmeicheln der Maflen diefe nur durch einen falſchen Enthuflasmus entnerut und entfittlicht.

Was aber haben die oberen Klaffen feit zwanzig Jahren getan, um ihrer doppelten Aufgabe als Inhaber der ſtaatlichen und geſellſchaftlichen Autorität und als Vorbilder des Volles gerecht zu werden? Furchtbar lautet die Antwort, die Schilderung der Fäulnis, die ſich in diefen Schichten feftgefegt bat, in biefer Parifer Gefellfhaft zumal, die, genährt, bereichert, ergößt von dem Alerweltsfamneval, den fie nad) ihrer Stadt zu ziehen vermocht hat, nun fein anderes Ziel in der Welt mehr kennt, als diefen Karneval immer mehr zu vervolllommnen und auszudehnen, und die in der Literatur, die fie fidh geihaffen, ein ihrer würdiges Spiegelbild findet, ihren tieferen Grund wohl aber ſchon in der Erziehung haben muß. Ein unendlich) trauriger Ausblid in bie Zulunft, wie ihn Gobineau das Bild der Parifer Schuljugend eingibt, beihließt diefen erften Teil: „Die franzöflfhe Jugend verläßt die Schule, ohne Jugend des Herzens, ohne Friſche der Ideen, geiftig abgenust, fleptiih und tief unwifjend. Man braudt nur Scharen diefer Schliler die Straßen von Paris durchziehen zu fehen, um fi von den traurigften und wiberwärtigften Eindrüden erfaßt zu fühlen. Diefe unglüdlichen Kinder, meift vereinzelt gehend, ohne Haltung, ohne Anftand, auf ihren fahlen, bleifarbenen, ungefunden oder fkanfhaften Gefichtern den Ausdruck herausforderndfter Frechheit, verheißen nichts Butes für ihre Zukunft.” Diefe Jugend der Bürgerklafien kennt nur ein Ziel, einen Gedanken: reich zu fein oder vielmehr zu werden. Zu genießen, nichts zu tun erjcheint ihr das einzige Glück, die einzige Ehre in der modernen Welt.

Hier bricht, Ieider mitten im Thema, das Manuffript des erften Teiles ab. Gewiſſe Gedankengänge, die für diefen zweifellos noch vorgeſehen waren, baben nad) Jahren in der Schrift über die dritte Nepublil*) (die überhaupt als eine Fortſetzung derjenigen über den Krieg betrachtet werden kann) ihre teilweiſe Ausführung gefunden, doch bieten fie dort Leinen vollgültigen Erfah für das uns bier Entgangene, da zwiſchen beiden Arbeiten ein merflicher Ahftand in Ton und Gehalt befteht und Gobineau die Höhe, auf die ihn die Außerordentlichleit der Lage von 1870 erhoben Hatte, unter den abgejhmwächten Berhältnifen von 1877 nicht wohl wieder erreichen konnte.

Der zweite, den Striegsereigniffen gewidmete Teil fhildert zunächſt in grellen Farben den Gegenſatz zwiſchen den Borfpiegelungen und Selbſttäuſchungen, den Stimmungen und Abfichten der Berantwortlidden und deren Leiftungen und Vorkehrungen in der Wirflichleit. Nur eine beifpiellofe Verblendung konnte

„La troisiöme R&publique frangaise et ce qu’elle vaut.“ Neröffentlicht bei Trübner in Straßburg, 1907. |

86 Gobinean über Deutfde und Sranzofen

für einen biplomatif und militäriſch fo fchlecht vorbereiteten Feldzug das archipr&t eingeben. Die Behauptung, dab das Boll den Krieg gewollt habe, wird gründlich widerlegt, das fo ſcham⸗ wie würbelofe Treiben der Prefie in jenen Tagen gebührend gebrandmarlt. Wenn nun aber auch zuzugeben ift, daß die Zuftände in Armee und Heerführung die denkbar unmöglichiten waren, daß überall Verwirrung herrſchte oder doch die rechte Organiſation mangelte, wenn die Kriegsſcheu großer Kreife des Volles, namentlich des Ländlichen, von Haufe aus die Ihlimmften Ausfichten eröffnete, fo tft es darum doch unbillig, bie Berantwortung für dies alles mit der vollen Wucht eines einzelnen Anlafies auf das Katjertum zu ſchieben, defien frühere Kriege um fein Haar breit weniger abenteuerlih und unfolide, fondern nur zum guten Teile von mehr Slüd begleitet waren. War es damals gut gegangen, warum follte es nicht diesmal wieder gut gehen? So fchritt man, bie Taten dem Gegner überlafiend, zu dem miferablen Theatercoup von Saarbrüden, für den Gobineau nur die allerichärfiten Worte der Verdammung findet. Wörth war bie Antwort, bie jedem, auch dem lebten Yranzofen wie ein betäubender Schred ins Mark fuhr. Und als fi nun gar zeigte, daß felbft dies unerhörte Ereignis nur ein Glied einer Kette war, da wurde zugleich Mar, dab das nicht mit rechten Dingen zugeben könne. Es erſchollen die in Frankreich feit Jahrhunderten üblichen Berräterrufe, es erfolgten Ausbrüde der Niedrigkeit in der Bevöllerung, der Andisziplin im Heere. Eine angftoolle Verwirrung bemädhtigt fi) der &emüter. . Der arme Kaiſer finkt wie von felbft von feinem Kommandofige herab. Die Verwaltung gebt aus den Fugen und das durch fie nachgerade zum Automaten gewordene franzöfiihe Voll verfinkt damit in völlige Regungsloſigkeit. Es regnet Dekrete, aber es geſchieht nichts Praltiihes. Der fo überaus frag- würdigen Einrichtungen der Nationale und Mobilgarden, des ſchlechten Zuftandes ber Kriegsfreiwilligen wurde bereit8 oben Erwähnung getan aus Anlaß der eigenen Erfahrungen, die Gobineau mit ihnen madte. Dieſe kommen bier eingehend zur Sprade, wie denn überhaupt die Mitteilungen dieſes zweiten Zeiles ſehr vielfah einen befonderen Charakter von Authentizität von bem boppelten amtlichen Hintergrunde Gobineau war Generaltat feines Kantons und Maire von Trye her erhalten, dem fie entwachſen find. Den Glanz punft dieſes ganzen Abſchnitts bildet die Haffiide Schilderung und Beurteilung des Franktireurtums und feiner Vorgänger und Geitenftüde aus anderen Ländern. Es verfteht fi von felbit, daß Gobineau, wenn er auch nicht blind tft für das „poetifche Ideal“, für die romanbafte Seite dieſes Zreibens, wenn er bementiprechend gegen bie harmloferen und mehr phantaſtiſchen Vertreter Des FScanktireurtums, Schriftfteller, Yournaliften, Ärzte, Studenten, mildere Saiten aufzieht, im ganzen doch über dieſe „autorifierten Übeltäter“, die das in Frankreich fo beliebte Ordnung⸗ durch Unordnung-Stiften auf die Spitze treiben, erbarmungslos den Stab bricht und zu bem Schluffe fommt, daß dies einem auf den Geift der Ordnung begründeten Körper eingefügte unorganifche

Gobinean Aber Deutfche und Sranzofen 87

Element der franzöfifhen Heer- und Kriegsführung unermeßlichen Schaden zugefügt babe.

Ein paar Worte bitteren Spottes fallen noch ab für die Spionenjchnüffelet, welde damals einen wahrhaft ungeheuerlihen Umfang und die burlesteften Hormen annahm”). Dann faßt Gobineau das innere Leben Frankreichs während der letten Zeiten des verendenden Kaiſertums zujfammen als „unfruchtbare Aufregungen und Bemühungen ohne Tragweite, verunglüdte Berfuche, böfer Wille, wuchernd wie das Unkraut, lächerlide Einfälle, die ſchließlich in die verrüdteften Tollheiten ausarteten.“

Sedan bringt den äußerſten Tiefitand der franzöſiſchen Geſchichte und hätte, nad) Gobinean, den Frieden bringen müflen. Aber das Frankreich, das das Katfertum geftürzt und fi eine neue Negierungsform mit der Leichtigleit gefchaffen hatte, mit der ungefunde Frauen ihre Kinder in die Welt ſetzen, wollte es anders. Die Nepublif glaubte dem falſchen Nimbus, den fie fi) nach dem Borbilde ihrer erften Borgängerin begrifflich Tonftruierte, die Fortführung des Krieges zu ſchulden. Man bat diefe Fortſetzung zu einem Vollskriege ftempeln wollen. Sie war e8 nit. Ein großes heroifches Aufraffen des ganzen Bolfes bat es im zweiten Kriege fo wenig wie im erften gegeben. Die Mittel, welche die Regierenden anmwandten, um jenes aufzuftacheln, waren bie denkbar verwerflichften: Verleumdungen des Feindes und falſche Siegesberichte. Bei diefem Lügentreiben bedienten fie fi mit Vorliebe jener dunklen Ehrenmänner, der Unruhlöpfe von Profeffion, deren Weizen in Zeiten der Revolution zu blühen pflegt. Diefe trieben es zeitweile jo arg (Gobineau gibt einige Proben des damals Iosgelafienen Schwindelfeuerwertes), daß die Regierung felbft dagegen einfchreiten zu müfjen glaubte. Aber die franzöfifhe Volksſeele blieb vergiftet, und alles Lärmen fchredte doch ſchließlich nur, fo daß Die Herzen Immer mehr erftarrten und ſich zufammenzogen. Dabei verliert alle Welt den Kopf, die unfinnigften Anordnungen werben getroffen, wie die Maffenverwüftungen und +»zerftörungen im weiteften Umkreiſe von Paris, eine halb theatralifche Maßregel, bei der wiederum, wie bei der Yranktireurserhebung die Volls⸗ aufftände der Spanier und Ealabrefen, fo diesmal das ruſſiſche Beifpiel von 1812 die Lofung gegeben zu haben fein. Ein allgemeines Flüchten, namentlich der Landbevöllerung, beginnt, von der Regierung gar nicht ungern gefeben, da es die verhaßten Deutſchen in das von ihr gewünfchte Licht zu rüden fcheint, während Gobineau and) hier wieder feine Gelegenheit verfäumt, ihnen Ehrenerflärungen ausguftellen.

Die lebten Blätter der Schrift find den Iofalen Vorgängen in Sobineaus engerem Baterlande, dem Beauvaifis, gewidmet. Die Belegung von Beauvais durch die Sachſen ſchließt das Ganze, ſehr unvermittelt und proviforifh, ab,

*) Einmal brachte man Gobineau ſogar ein paar Taubſtumme als Spione und ließ ſich auch ſpäter nicht davon abbringen, daß er von dieſen armen Teufeln getäufcht worden fei.

88 Gobinean über Dentfhhe und Sranzofen

fo daß das gewaltige durdans tragiſch anmutende Gefchichtsbilb in feiner nunmehrigen fragmentariihen Faflung in eine Halb idylliſche, Halb ironiſche Schilderung, wie fie den Heldentaten dieſer Krähwinkler entfpricht, ausflingt.

Es muß dahingeftellt bleiben, ob nur äußere Gründe die Fortfegung und Vollendung diefer Denkwürdigleiten verhindert oder ob auch innere Stimmungen dazu mitgewirkt haben, daß fie Tiegen geblieben find. Unwahrſcheinlich ift legteres nicht. Gobineau macht in der Schrift felbft durchaus fein Hehl daraus, daß nad) feiner Anfiht ſchon nach den erften Niederlagen, zum mindeften aber nad) Sedan, hätte Frieden geichloffen werden follen. Diefe Anfiht mag manchem parador erſcheinen, hatte bei ihm aber jedenfalls einen tiefen Widermwillen gegen den ganzen fpäteren Teil des Krieges im Gefolge, den er durchaus für Mache, nicht für einen Ausflug der Bollsftimmung, für eine Regung und Leiftung der Bolksträfte hielt. Und noch größer war fein Widermwille gegen den Mann, der die Seele diefer Kämpfe war, weil er an defien Bollsliebe und Patriotismus nicht glaubte, ihn als durch fein echtes Band mit Frankreich verbunden anerkennen mochte. .

Wie dem auch fei, wir haben uns damit abzufinden, daß er eine feiner bedeutfamften Schriften denn das bleibt fie auch als Torfo nicht ab» geſchloſſen hat. Was deren in vieler Beziehung einzigartige Bedeutung ausmacht tft dies, daB, wiewohl jedes Wort darin mit dem ehernen Griffel des unerbittlichen Nichters niedergefchrieben fcheint, dennoch gerade dieſe Umerbittlichleit zugleich die Gewähr allerhöchfter Wahrhaftigkeit in ſich trägt, einer Wahrhaftigkeit, bie dabei in foldem Grade mit einer vielfach an Urkundlichkeit grenzenden Sachlichkeit gepaart ift, daß man auch ihre objeltiven Erträgniſſe als Iautere Wahrheit wird anfprechen dürfen, bei der allenfalls nur einmal ein dem Grade nad) zu ftarles Auftragen, nie aber ein Vergreifen im Weſenhaften denkbar bliebe. Gobinean hätte diefe Dinge nie fchreiben können, wenn er ſich nicht in jedem Augenblide bewußt gewefen wäre, daß bier nichts Perfönliches mitſpreche, daß einzig ein Höberes, daß bie Geſchichte ſelbſt die geichichtlihe Wahrheit aus ihm rede. Diefer höheren Authentizität tut e8 auch Leinen Abbruch, daß manche Partien der Schrift mit bitterem Hohn durchfegt find: tragen die betreffenden Zatfachen ſolchen nicht vielmehr in fi, wie zum Beiſpiel die Ausgeburten, zu denen die preußifchen Ulanen in der franzöflihen Vollsphantafle geworben find? Auch find die Regungen des Schmerzes, ja des Ingrimms durchweg bemundernswert unterbrüdt; das „Werde hart!” ift hier an einer lekten, größten Probe dermaßen durchgeführt, daß man die blutigen Tränen kaum mehr ahnt, die dieſer Mann dennod) geweint haben muß, ehe er fte beitand. Gewiß tft; daß fein menfchliches Zeil nur fehr leife bier und da aus feinem düftern Bilde mit hervorlugt, am eriten noch etwa da, wo er wiederholt es beflagt, daß feinem Volle alle GSeelenbande nach oben verloren gegangen feien oder in den wie ein Aufichrei (anläßlid Saarbrüdens) fi ihm entringenden Worten, daß Ehre und Edel⸗

Gobinean über Deutfche und Sranzofen 89

fin in dieſem Kriege auf franzöfifcher Seite eine gar fo geringe Rolle gefpielt haben.

Wenn Ion Zeit- und Landesgenofien, welche von biefen Denkwürdigkeiten noch feine Kenntnis haben Ionnten, Bezeichnungen wie „Alceste du patriotisme“ (von dem Helden des Moliereſchen Miſanthrope hergenommen) oder „Connetable des lettres“ (nad) dem unter anderm von ihm felbft in der Renaiffance ver- ewigten Eonnetable von Bourbon) auf Gobineau anwandten, fo wird doch erft, wer die Betrachtungen jener faft allgulange der Welt vorenthaltenen Blätter in ihrem vollen Umfange und Zufammenhange in fi aufgenommen hat, den Sinn und die Berechtigung derartiger Bezeichnungen ganz ermeflen und fi} die Leiden ausmalen können, weldhe ein foldher Patriotismus des Wahrheit⸗ und Wahr- beitenfagens feinem Träger einbringen mußte.

Aber ein vollftändiges Bild des Gobineau von 1870 würden darum biefe Kriegsbetradjtungen noch lange nicht ergeben. Sie enthalten nur erft die eine, gewifiermaßen die negative Seite. Die pofitive gehört aber unbebingt hinzu, wenn man dem Manne gerecht werben will, biefem Manne, der im gleichen Atem, da er (beim Ausbruch des Krieges) die berbiten Urteile über fein Bolt zu äußern fi) gebrungen fühlt, mit den Worten „aber jebt it feine Zeit zum Anklagen, fondern zum Handeln“ ſich aufrafft, ſich beſinnt, daß er Hier nicht mehr Geiſtesmenſch, fondern ganz Wirklichleitsmenih zu fein babe und num, in amtlicher wie reinmenſchlicher Eigenfchaft, für die Beruhigung und richtige Anleitung feiner Umgebung, für. die Drganifierung der Verteidigung, die Ver⸗ pflegung der Truppen, insbefondere auch die Pflege dee Berwundeten, für den amtlichen Verkehr mit dem Feinde und für die Milderung der feinem Departement von diefem auferlegten Bedingungen unter fortwährenden eigenen Kämpfen und Gefahren er hat einmal fogar eine Einfperrung durch den falfchen Übereifer eines deutſchen PBräfelten erlitten fo außerordentliche leiftet, Daß wenigflens in diefem Falle einmal die maßgebenden Wortführer feines Bolfes rüdhaltlos anerfannt haben, es jet dies wahrhaft vorbildlich geweien und über das Maß befien binausgegangen, was man felbit von einem Edelmann feiner Art an Batriotismus gewohnt geweien fei. Mit Recht konnte denn auch Lord Lytton damals ihm fagen: „Hätte Frankreich mehr Männer wie Ste, würde es diefen unfinnigen Krieg nicht angefangen, einmal angefangen aber nicht fo verloren, einmal verloren aber fi ganz anders wieder davon erhoben haben.“

In jenen Tagen baben denn auch feine Landsleute einmal Berftändnis für ihn bewiefen, ja er war eine Zeitlang wirklich populär, und man hoffte feine Dienfte dem Baterlande in ähnlicher Weile, mie während des Krieges, auch fernerbin erhalten zu können. Aber Gobineau bat von diefer Popularität feinen Gebrauch gemacht, Senats- und Deputiertenlandidaturen abgelehnt, womit von felbft auch die Hoffnung einzelner Freunde, daß er etwa die Yührung ber Konfervativen in Franfrei in die Hand nehmen könne, wozu er vor anderen berufen ſchien, hinfiel. Er glaubte wohl im Innerſten nicht mehr an eine rechte

90 Gobineau über Deutfche und Franzoſen

Zuhmft feines Landes, mindeftens nicht auf dem Wege über Paris und das dortige Parlamentsreden und »treiben, fondern nur allenfall$ auf dem Wege über die Provinz, durch Neubelebung aller der Einzelherde des ſtädtiſchen und departementalen Gefüges, von der er fich eine ähnlich regenerierende Rüd- wirtung auf das Ganze veriprady, wie einft Preußen in feiner ſchlimmſten Zeit eine Wiedergeburt auf diefer Grundlage erlebt hatte, Seinem Wirken in des Provinz iſt er denn auch noch einige Jahre treu geblieben, bis es ſich mit feiner Gefandtentätigfeit nicht mehr vereinigen ließ.

Die Entwidlung der jungen NRepublil vollzog fi) fchnell genug und mit großer Entichiedenheit in Bahnen, melde von den Gobineau vorſchwebenden Richtlinien denfbar weiteft abführten. ALS er nad Jahren über diefe Dinge wieder das Wort ergriff (in der vorerwähnten Schrift über die dritte NepubHf), nahm dies wie von felbft wiederum die Yorm eines fchärfiten Proteftes an. Zwar fein zum Schluß nochmals mit der ganzen Energie bes wahren Bater- Iandsfreundes ausgeftoßener Ruf nad) den Provinzen iſt fpäter vielfach auf gegriffen worden, und der „Negionalismus“ zählt im heutigen Frankreich eine große Dienge Anhänger. Aber berrichend blieb doch das Pariſer Syſtem, bie Allmacht des Parlaments, das Drauflospolitifieren aller, die Ausbeutung einer blind und mwahllos ausgebildeten Demokratie dur im letzten Grunde rein pintofratiide Cliquen was alles Frankreich dahin geführt hat, wo wir es heute feben.

Nah alledem wird die eingangs wiebergegebene Frage, wie Gobineau fi zum Kriege geftellt haben würde, fehr leicht zu beantworten fein. Kaum gejagt zu werden braudt e8, daß die abermalige blutige Auseinanderfegung mit Deutihland ihm, inſoweit er überhaupt noch als Franzofe zu empfinden ver- möchte, den ſchwerſten Stoß ins Herz gegeben haben würde. Yür ihn war es von Anfang an Har, daß Frankreich ſich durch fortgefegten Antagonismus gegen. das ihm als das zulunftsreichere erfchtenene Land um feine lehten großen biftortfhen Möglichkeiten bringen und ein gutes Stüd weiter dem Abgrunde zurollen müſſe. Auch über die verhängnisvolle Rolle, die feine Bundesgenofjen dabei gefpielt, würde er ſich feinen Augenblid getäuſcht haben. Bielleicht hätte e3 ihm eine traurige Genugtuung gewährt, zu fehen, wie bie Logik der Tat⸗ ſachen im lebten kritiſchen Augenblid die Logik der Dolteinen zuſchanden macht und erfegt; bat doch Frankreich gerade 1914/15 wieder gezeigt, daß, wenn es noch über Erwarten viel zu leiften vermochte, e8 dies hauptjächlich dem Zurück⸗ greifen auf feine alten Kräfte, auf bie nicht-⸗parlamentariſch⸗demokratiſchen Grundfäge und Methoden verdankt. Man denke unter anderem an SYoffres diltatorifhe Maßnahmen, wie fein Aufräumen mit den politiſchen Generalen. Auh die alte berühmte ftraffe Bureaukratie hat fid diesmal offenbar befier bewährt als 1870.

Aber alles in allem würde Gobineau die heutigen Ereigniffe wohl mit eher noch größerem Kummer und Abfcheu betrachten, als die damaligen. Stein

Kriegstagebuc 9:

Wort der Verachtung wäre ihn zu ſtark geweſen angeſichts des Raſſenverrates der Weitmädhte, angeſichts bes Winfelns und Buhlens feiner Landsleute um bie japaniſche Hilfe”). Wir wiffen ja, daß die Ideale und Pflichten ber weißen Kaffe, die heute einzig noch von Deutichland und feinen führenden Männern hochgehalten werben, von feinem anderen Denker mannbafter und großartiges verfochten worden find, als von Gobinean.

Es würde über den Rahmen diefer Arbeit hinausgehen, zu zeigen, wie diefer in feinem Abſchiedswerke, der Heldendichtung „Amadis”, die welt geſchichtlichen Auseinanderfegungen unferer Tage gerade unter dem Raſſen⸗ geſichtspunkt in einer gewaltigen Allegorie prophetiſch vorausgefchaut hat. Das aber möge bier wenigftens noch angeführt werben, was faft noch merkwürdiger erſcheinen dürfte, daß Gobineau (in einem Briefe an einen englifchen Freund, Bilfrid Blunt) kurz vor feinem Tode fogar das gemweisfagt hat, daß Germanen es fein würden, welche einft den Gelben verräteriih über das Abendland bereinführen würden.

So weilt heute Gobineaus Geift mitten unter uns: im Amabis bat ex bie idealen Werte der Menichheit („Ehre, Freiheit, Liebe”), für die das deutſche Bolt jebt in den Kampf gezogen tft, und die unter der Weltberrichaft Englands ut Füßen getreten worden find, verherrlit. Er wird uns mit jedem Schritte näberlommen, den wir, wenn uns erft die Führung der Völler anheimgefallen, in der Bahn germaniſchen Heldengeiftes, wie er ihn bejeelte, vorwärts tun werben.

*) Ein eigentümlicher Zufall will e8, daß der Sauptverlörperer ſolcher tiefften nationalen Demätigung, Pichon, in feinen Anfängen Gobinenu in Rio noch begegnet ift und ihm damals offenbar die größte Abneigung eingeflößt hat.

Nrkegstagebuch

18./19. Xanuar 1915. In GOftafrila wird der Feind in zwei⸗ tägigen Kämpfen bei Jaſſini gefhlagen. Die Engländer verlieren etwa 200 Gefallene, 4 Kompagnien an Gefangenen, 850 Gewehre, ein Maſchinengewehr und 80000 Patronen. Gefamtverluft des Gegner an Mannſchaften etwa 700. Unſere Berlufte 18 Europäer tot, 87 verwundet.

21. März 1915. Abgeſchlagene franzöfifhe Angriffe auf die hoͤhe, in der Champagne und am Reichsackerkopf.

21. März 1915. Die Ruſſen aus Memel verjagt, zuructeſchlagene zuffifche Angriffe bei Mariampol, bei Jadnorozek, bei Prafanyiz und bei Ciechanow.

22. März 1915. Feindliche Flieger bewerfen die offene Stadt Freiburg 1. Br. mit Bomben; das Flugzeug gum Landen gezivungen, bie Inſaſſen gefangen genommen.

92

Kriegstagebuc

22. März 1915. Die Feſtung Praemysl dur Nahrungsmittel mangel nad) viereinhalbmonatlicher Belagerung dur die Auflen zur fiber gabe gezwungen. Die HÖfterreicher zerftörten vorher alle militäriichen Anlagen, Brüden, Munition ufiw.

22. März 1915. Franzoͤſiſche Angriffe bei Arras, in ber Eham- pagne, bei Combres, Apremont, Flirey und Badonviller abgeiwiefen.

22. März 1915. Nuffiih-Krottingen genommen, dabei 3000 aus Oſtpreußen verfchleppte deutihe Einwohner befreit.

22. März 1915. In den Karpatben 4000 Ruſſen gefangen.

22. März 1915. Engliide Schlappe in Deutid - Südwelt - Afrika zwiſchen Swalopmund und Windhuklk.

28. März 1915. Rördlich Memel 500 Ruſſen gefangen, drei Ge füge, drei Maſchinengewehre erbeutet; ruffiihe Angriffe bei Laugezargen unter ſchweren Berluften der Ruſſen zurückgeſchlagen, ebenfo bei Mariampol und öftlih Bloc. Bei Oftrolenta über 2500 Ruflen gefangen genommen, fünf Maſchinengewehre erbeutet.

24. März 1915. Ruſſiſche Angriffe bei Auguſtow und bei Jadnorozek aurüdgeichlagen.

24. März 1915. In ben Karpatien am Usgfoter Paſſe ſchwere ruſſiſche Angriffe abgeſchlagen, 1500 Gefangene.

24. März 1915. Das Moratorium in Ungarn bis 81. Juli dere längert. 25. März 1915. Südlich Zaleſzezyki elf Stützpunkte der Ruſſen erobert, 500 Gefangene gemadit.

25. März 1915. Türkiſche Erfolge bei Madam am Suezlanal und

‚bei Baflora.

26. März 1915. In den Bogeſen befegen die Franzoſen bie Kuppe des Hartmannsweilerlopfes. Bapaume und Straßburg von fran⸗ zoͤſiſchen Fliegern mit Bomben beivorfen, wir belegten Calais mit einigen Bomben.

26. März 1915. Die Ruſſen bei Laugszargen unter ftarfen Ver⸗ Iuften geſchlagen und über die Jeziorupa hinter dem Juraabſchnitt zurüde geworfen.

26. März 1915. An der Bulowina werfen die Oſterreicher bie Nufien bis an die Neichdgrenze zurüd, fie machen über 1000 Gefangene und erbeuten zwei Geſchũtze. Schwere Kämpfe an ber Sarpatdenfront.

27.. März 1915. Heftige Kämpfe auf den Maashöhen bei Combres und im Wokðvre, die fämtli zu unferen Bunften entſchieden wurden.

27. März 1915. Ruſſiſche Vorftöße im Auguftower Walde, zwiſchen Biffel und Omulew und bei Wad, wo 800 Ruſſen gefangen wurden, zurück⸗ geihlagen.

27. März 1915. Im Ordopa- und Laborcezatale ruffifhe Angriffe blutig abgeiwiefen. An der ganzen Karpathenfront heftige Kämpfe; 1280 Nuflen gefangen, in der nördliden Bulowina weitere 200.

28. März 1915. Tauroggen im Sturm iedergenommen, 1000 Gefangene gemadt. Bei Bilwilzli und bei Ciechanow ruffiihe Angriffe unter ſchwerſten Zerluften zurüdgelichlagen, bei Krasnopol über 8500 Ge⸗ fangene gemacht, fieben Maſchinengewehre, ein Gefchüg erbeutet.

28. März 1915. Heftige Karpathenlämpfe, nördlih des Uzſoker Paſſes und weſtlich Banyavoelgy.

Kriegstagebud

98

28. März 1915. Der engliihe Dampfer „Fallaba” von einem deutichen Unterſeeboot verſenkt.

29. März 1915. An der Szlkwa bei Klimki 800 Ruſſen gefangen, Angriffe bei Olfzyny abgewiefen.

80. März 1915. Weſtlich Pont⸗à⸗-Mouſſon franzöfiihe Angriffe aurüdgeichlagen.

80. März 1915. In den Karpathen nördlih Ciſna, nordöſtlich Kalnica, nördlih des Uzſoler Paſſes ruffiihe Angriffe abgeidhlagen, 1900 Auffen gefangen. Im März wurden indgefamt rund 40 000 Ruſſen gefangen, 68 Mafchinengewehre erbeutet.

80. März 1915. Die engliiden Dampfer „Flamenian” und „Crown of Eaftile” durch Unterfeeboote verfentt.

81. März 1915. Bei Dirmuiden ein Klofterhoelgehöft genommen, 45 Belgier gefangen.

81. März 1915. Ruſſiſche Angriffe an der Rawka und bei Opocno zurüdgefhlagen. Das deutſche Oſtheer nahm im März im ganzen 55800 Ruſſen gefangen und erbeutete neun Geihüge, 61 Mafchinen- gewehre.

1. April 1915. Heftige Kämpfe zwiſchen Maas und Moſel.

1. April 1915. Zwiſchen Pruth und Dujeſtr ftarke ruffiihe An⸗ griffe abgeſchlagen, ebenfo an der unteren Rida.

1. April 1915. Feindliche Flieger beiwerfen die offenen Städte Mäullheim i. B. und Neuenburg a. Rh. mit Bomben.

2. April 1915. Im Priefterwald und bei Niederaspach mißlungene franzöfifhe Angriffe.

8. April 1915. Den von Belgtern befekten Ort Drie Graditen genommen.

8. April 1915. In den Kämpfen im Laborczatal und öſtlich Virava 2020 Ruſſen gefangen.

8. April 1915. Erfolgreicher Vorſtoß der türkiſchen Flotte nad Ddefla, der Kreuzer „Medjedie" auf eine Mine gelaufen und gefunten.

8. April 1915. Warmbad in Deutih-Südwelt-Afrifa ohne Kampf bon den Engländern bejegt.

4. April 1915. Starke franzöfifhe Angriffe weſtlich Boureuilles und weitlih Pont-A-Moufion abgewiefen.

4. April 1915. Ruſſiſche Angriffe auf Mariampol abgeichlagen.

4. April 1915. Am Dnjeftr, öſtlich Zaleszezyki im beftigem Kampf 1400 Ruſſen gefangen, fieben Mafchinengewehre erbeutet.

5. April 1915. Heftige franzöfifhe Angriffe zwiſchen Maas und Mofel, bei Berdun, Ally, Apremont, Frlirey und PBont-d-Mouffon, ſämtlich obne Erfolg für den Angreifer.

5. April 1915. Rußland beruft den Jahrgang 1916 ein.

5. April 1915. In den Karpathen im Laborczatal und anfchliegenden Abſchnitt eroberten deutihe und öfterreihifhe Truppen ftarte ruffiihe Stellungen im Sturm und madten 7500 Gefangene; zwei Geſchütze, fieben Maſchinengewehre erbeutet.

6. April 1915. Bei Andrzejewo, 30 Kilometer füdöftlih Memel, bernichtete unſere Kavallerie ein ruffiihes Bataillon, getötet und ſchwer ver» wundet wurden 120 und 150 Mann, gefangen 865. Unſere Verlufte ſechs Tote. Abgeichlagene ruſſiſche Angriffe bei Kalwarja und öftlih Auguftow.

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Kriegstagebud

6. April 1915. Schwere Angriffe der Franzoſen öftlih und füd- oͤſtlich Verdun unter außergewoͤhnlich ſchweren Berluften zurüdgeichlagen. An der Eombres-Höbe zwei franzöfifhe Bataillone aufgerieben, bei Ailly ein erfolgreiher Gegenangriff unſerſeits. Geſcheiterte franzöfifche Angriffe bei Apremont und Flirey.

6. April 1915. Die Beſchießung der offenen Stadt Orfova dur die Serben wird durch kurzes Bombarbement Belgrads beantivortet.

6. April 1915. Der Hilfsfreuger „Bring Eitel Friedrich“ in Rein» portnews interniert.

7. April 1915. „U. 29” wird mit der gefamten Befagung verloren gegeben.

7. April 1915. Bis Anfang März wurden durch unfer Weſt⸗ und Oſtheer im ganzen 5510 Geichüge erbeutet.

7. April 1915. Grbitterte Kämpfe zwiſchen Maas und Mofel, wo⸗ bei die Sranzofen an allen Stellen geivaltige Berlufte erleiden.

8. April 1915. Bei MWiedereroberung von Drie Grachten 127 Belgier gefangen, fünf Maſchinengewehre erbeutet. Rördlih Beau Séjour mehrere franzöfiihe Gräben genommen, zwei Raſchinengewehre erbeutet. Bei einem mißglüdten Angriff in den Argonnen berivenden die Srangofen Bomben mit betäubender Gaſswirkung. Die Kämpfe zwiſchen Maas und Mofel dauern mit gefteigerter Heftigfeit an.

8. April 1915. Ein Attentatsverſuch gegen den neuen ägyptiſchen Sultan feiten® eine® Agypters.

8. April 1915. 1600 Ruſſen bei den aarpathentampfen gefangen.

9. April 1915. Schwere Niederlage der Franzoſen zwiſchen Orne und den Maashöhen. Bei Bezange la Erande eine franzöfiihe Kompagnie gängli aufgerieben, 108 Gefangene gemadit.

9. April 1915. In den Karpatben erobern deutfhe Truppen nördlih Tucholka eine ruffiihe Höhenftellung, über 1000 Mann gefangen, 15 Maſchinengewehre erbeutet. Weitere 1150 Ruſſen an anderen Karpathen- punkten gefangen.

10. April 1915. Südlich Drie Grachten einige Gehöfte genommen, 40 Belgier gefangen. Im Priefterwald vier franzöflihe Maſchinengewehre erbeutet; bei ben Kämpfen zwiſchen Mans und Moſel 815 Franzoſen gefangen, fieben Mafchinengewehre genommen.

10. April 1915. Abgeſchlagene ruffiide Angriffe bei Mariampol, Kalwarja und bei Klimfi an der Szkwa, bei Bromierz 80 Ruſſen gefangen, drei Maſchinengewehre erbeutet.

11. April 1915. Nancy in Erwiderung des Bombardements der offenen Stadt Müllheim ausgiebig mit Spreng⸗ und Brandbomben belegt.

11. April 1915. Bei einem Vorſtoß aus Mariampol 1859 Ruſſen gefangen, vier Mafchinengeivehre erbeutet. Die Ruſſen verwenden bei Zomza Bomben mit erftidenden Gafen.

12. April 1915. MIS Vergeltung gegen bie Behandlung deutſcher gefangener Unterſeebootmannſchaften als Strafgefangene ſeitens der Engländer werden 89 engliihe Offiziere in das Gefängnis überführt.

12. April 1915. Der britifhe 9600 Tonnen große Dampfer Wayfarer“ bei den Scillyinfeln torpediert.

12. April 1915. Die von den Engländern belegten Orte Poperinghe, Hazebrouk und Caſſel ausgiebig mit Bomben beiworfen. Weitere ſchwere Kämpfe zwiſchen Maas und Mofel.

Kriegstagebud 95

18. April 1915. Schwere Kämpfe an der Linie Maizerey— Warcheville, im Aillywalde, an der Straße Eſſey —Flirey und am Schnepfen« riethlopf; überall wurden die Franzoſen zurüdgeworfen.

18. April 1915. Nördlich des Ugfolerpafie® eine von den Rufſſen bejegte Höhe durch ein ungariſches Regiment erobert.

14. April 1915. Unter ſchweren Berluften gefcheiterte franzöfiiche Angriffe bei Marcheville, Efiey—Flirey, nordöftlid von Manonpiller und füdlih de Hartmannsweilerkopfes.

14. April 1915. Ein Zeppelin bombardiert Ortfhaften an ber englifhen Ofttüfte in Nortfumberland.

14. April 1915. Bei Wyſockowz am Stry nahmen die Öfterreicher eine wichtige Höhe, wobei 865 Ruſſen gefangen wurden.

14. April 1915. In Mailand finden ernfte Arbeiterfrawalle ftatt.

15. April 1915. Bei Kalwarja 1040 Ruſſen gefangen, fieben Maſchinengewehre erbeutet.

15. April 1915. Der Holländifhe Dampfer Katwyl“ bei Noord⸗ hinder angeblich von einem Unterſeeboot torpediert, die Beſatzung gerettet. 15. April 1915. Deutſche Marinelufifchiffe bewerfen mehrere ver» teidigten Pläge an der englifhen Südküfte erfolgreich mit Bomben.

15. April 1915. Als erfte Rate auf die Kriegsanleihe find über 6 Milliarden Mark, das beißt faſt 2°/, Milliarden mehr eingezahlt, als fällig waren.

16. April 1915. Straßburg i. E. dur ein feindliches Luftſchiff mit Bomben beivorfen.

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96 Kriegstagebucd;

16. April 1915. Bei Perthes in der Champagne eine franzoͤſiſche Befeftigungsgruppe im Sturm genommen, ebenfo aud eine feindliche Stellung bei Urbeis.

16. April 1915. In den Waldlkarpathen 1290 Auflen gefangen.

16. April 1915. Bei erneutem Angriff auf die Dardanellen ver Ioren die Engländer das Unterfeebot „BE 15” und zwei WBaflerflugzeuge; das Panzerſchiff „Lord Reljon” fowie das Linienfhiff „Majeftic" wurden beſchaͤdigt.

17. April 1915. Südöſtlich Ypern heftige Kämpfe mit Engländern um unfere Höhenftellung, der Feind im Gegenangriff geivorfen. In den Bogelen bei Stoßweier eine frangöfiide Stellung genommen.

17. April 1915. In den Waldlarpaiben 14823 Ruſſen gefangen.

Uhen Manuſtripten ift Porto hinzuzufügen, da anberufalis bei Ubichuung eine Nüdfenbung nicht verbürgt werben kaum.

Nachdruck Tämtlider Unffäge nur mit ausdrücklicher Erlaubnis bed Berlagd geſtattet. Berantwortlih: der Herausgeber Georg Eleinom in Berlin Lichterfelde Weil. Banuitriptfendungen und Briete werden erbeten unter ber Adreſſe:

Un den Herausgeber ber Grenzboten in Berlin - Lidhterfelde Wet, Steruftrahe 56. bes Rn: Amt Vichterfelde 498, des Verlags und der Schriftleitung: Amt Bägomw 6510.

g: Verlag ber Grenzboten ©. m. b. H. in Berlin SW 11, Tempelhofer Ufer 85a. a „Der Reihsbote" &. m. 5. 9. in Berlin SW 11, Deflauer Straße 88/37.

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Schweden und der Weltkrieg

Don Dr. Elfe Hildebrandt

Jie große Maſſe des deutſchen Volkes erwartete nad) Beginn bes Krieges ein Heraustreten Schwedens aus feiner Neutralität.

u Häufig hörte man die Anſicht, daß das nordiſche Reich eine aktive Politik treiben müſſe, um ſich das in dem unglücklichen Kriege mit Rußland 1809 verlorene Finnland wiederzugewinnen. Gerade dieſe Anſicht zeigt, wie wenig genau man im allgemeinen in Deutich- land die Stimmung in Schweden fennt. Finnlands Schidfal ging Schweden ohne Zweifel recht nahe, die demokratiſche Grundlage ſeiner Verfaſſung und der meiſten ſeiner Einrichtungen ließ es doppelt ſchwer die Vergewaltigung des Landes empfinden, mit dem es durch die jahrhundertlange Gemeinſamkeit des Schickſals ſo eng verknüpft iſt. Aber das Schwert für die Wiedergewinnung des Nachbarlandes zu ziehen, daran hat in den letzten Jahrzehnten weder im Volle noch in offiziellen Kreiſen irgendjemand gedacht. Iſt doch auch die Stammverwandtſchaft nicht jo groß, wie man im allgemeinen meint: Finnland befißt heute neben 86 Prozent Finnen nur 13 Prozent Schweden.

Schweden bat in dem Weltkrieg verjtanden, im Forreften Sinne feine Neutralität zu bewahren. Diefe Tatſache hindert jedoch nicht, daß das Bolt und die einzelnen Parteien eine mehr oder weniger freundliche Stellung zu den einzelnen friegführenden Staaten einnehmen. Die ſchwediſche Bollsvertretung wird von nur drei Parteien gebildet: den Rechten, die wohl unjeren National- liberalen am nächſten ftehen SKonfervative im deutjchen Sinne gibt es in Schweden nit —, den Freifinnigen und den Sozialdemokraten. Seit den legten beiden Wahlen haben die Liberalen einen großen Teil ihrer Mandate

Grenzbsten II 1915 7

98 Schweden und der Weltkrieg

verloren, bie faft in gleichem Berhältnis der rvechtftehenden Partei und ben Sozialdemofraten zugute gelommen find, fo daß heute die Rechte 86, die frei- finnige Partei nur 57 und die Sozialdemokratie 87 Site innehat. Im all- gemeinen fann man aus noch im einzelnen darzulegenden Gründen fagen, daß die Rechten wir fagen die Konfervativen durchweg deutſchfreundlich gefinnt find, die Sozialdemofraten und die Linfsliberalen aber im allgemeinen Deutihland nicht ſympathiſch gegenüberftehen.

Trotz dieſer deutichfeindliden Strömungen Tann man jedod ohne Übertreibung behaupten, da die alademiſch gebildeten Kreiſe Schwedens eng mit Deutfchland verfnüpft find. Die Raſſenverwandtſchaft als Be ‚gründung anzuführen genügt nicht. Neben den politifden Berhältnifien bat in erfter Linie deutſche Wiffenfchaft die beiden Bölfer aneinander geknüpft. Auf den Univerfitäten Lund und Upfala werden zum Studium wohl mehr deutfche als ſchwediſche Werke benupt. Die ſchwediſchen Studenten bringen häufig ein oder mehrere Semefter an deutichen Univerfitäten, unter denen beſonders Sena bevorzugt wird, zu. Diele ſchwediſche Wiſſenſchaftler find eifrige Mit- arbeiter an unferen wiſſenſchaftlichen Zeitſchriften. Schwediſche Profefioren gehörten wiederholt in den Ießten Jahren deutſchen Dozentenkollegien an. Ich erinnere nur an den Religionshiftoriler Söderblom in Leipzig, der im lebten Jahre Biſchof von Upfala geworden tft und zu Beginn des Krieges mit fo warmem Enthufiasmus flammende Worte der Anklage an den Erzbiſchof von Canterbury geritet Hat. Auf allen Gebtelen, tnsbefondere auf dem pädagogiſchen und ſozialpolitiſchen, verfolgt man alle deutſchen Einrichtungen mit eifrigem Intereſſe und fucht aus ihnen zu lernen.

Bielleiht Tann man in Schweden von einer befonderen politifden Färbung einzelner Landſtriche ſprechen. So tit ohne Zweifel Göteborg auch in Friedens- zeiten mehr england- als deutſchfreundlich. Und diefe Stimmung hat fi in Kriegszeiten zu einer gewiffen Deutfchfeindlichleit ausgewachien. Die Urfachen find wohl tn erfter Linie in wirtichaftlicden Verhältnifien zu ſuchen. Göteborgs Handel tft feit langem vorwiegend nad England gerichtet, fo daß die Inter⸗ efien der Böteborger Kaufleute eng mit dem Schickſal Englands verknüpft find. Schweden bat überhaupt eine weitaus ftärlere Ausfuhr nach England als nad) Deutihland, denn während fie nad) Deutfchland 1911 nur 134 Millionen Kronen betrug, belief fich die ſchwediſche Ausfuhr nach England auf 196 Millionen Kronen. Aus diefen Gründen erfcheinen der „Söteborg Poſt“ die wirtichaftlichen Ausfiten für Schweden bei einem Stege Deutichlands in nicht allzu rofigem Lichte. Man beginnt mit englifhen Augen zu fehen und Deutſchland als feinen wirtſchaftlichen Nebenbuhler zu betrachten. So glaubt man, daß ein fiegendes Deutſchland Schweden auf dem ruffifhen Marlte, wo es fi im legten Jahrzehnt einzelne Gebiete erobert bat, vertreiben könnte. Deutichland werde monopolartig den ruffiihen Markt beherrſchen und dadurch die ſchwediſche Unternehmungsluft zum Berfiegen bringen. Deutſchland werde ſich audh des

Schweden und der Weltkrieg 99

Tranfithandels von Dften nad) Weiten bemächtigen, von dem Schweden und befonder8 Göteborg fo viel erhofft hatte. Wie zur Zeit der Hanfa, fo meint die „Böteborg Boft“, wird fih der Handel in beutichen Händen konzentrieren. Au „Social-Demokraten” glaubt, daß es ſchwediſchem Fleiße gelingen müffe, deutiche Fertigfabrifate insbefondere Iandwirtichaftlihe Maſchinen durch eigene Erzeugniffe auf dem ruſſiſchen Markte zu verbrängen.

Die rechtsitehende Partei ift es, die ihrem Baterlande immer wieber feine ſchwachen militäriſchen Machtmittel vorwirft. Was bedeutet auch für die Ver⸗ teidigung eines Landes, das faft die Größe Deutichlands befikt, ein Heer von einer halben Million Kriegsitärle? Die Löfung der Wehrfrage bildete feit Yahren das wichtigfte innerpolitifche Problem Schwedens. Die Rechte hielt in der Hauptfadde die Übungszeit für zu gering und verlangte den Bau moderner Panzerſchiffe, während die Sozialdemokratie für eine Verminderung der Militär- laſten agitierte. Eine Kommiffton, die ſchon feit 1907 tagte, brachte weder unter dem fonfervativen noch fpäter unter dem liberalen Miniftertum die end⸗ gültige Löfung der Frage. Der Bau eined modernen Linienfhiffs von 7000 Tonnen wurde, nachdem er ſchon befchloffen war, wieder ſiſtiert. Dieſe Tatſache führte zu einer ungeheuren Opferwilligleit innerhalb der ſchwediſchen Bevöllerung: während eines Vierteljahr wurden im VBorfommer1912 18 Millionen Kronen geipendet, um durch dieſe freiwillige Gaben den Bau des Schiffes zu ermöglichen. Der Bau der „Sverige“ wurde auf den Götawerlen in Stodholm im Februar 1913 begonnen”). Es mag bier erwähnt werden, daß mit zwei Ausnahmen alle Kriegsichiffe auf ſchwediſchen Werften gebaut werden, was für die Entwidlung der ſchwediſchen Vollswirtſchaft Tennzeichnend ift.

Man erinnert fih noch, wie im vorigen Frühjahr die Militärfrage zur Krifis führte, in der das liberale Minifterium Staaff geftürzt wurde. Die Rechte hat ihm vorgeworfen, das Wehrproblem nicht ſchnell und energiſch genug gelöft zu haben. Die Bauern griffen durch eine Kundgebung in die Lage ein, indem fie anfangs Februar, 32000 an der Zahl, aus allen Landesteilen Schwedens vor das Schloß des Königs zogen und ihn um eine fofortige

*) Ihre Beftüdung beträgt vier Schnellfeuerfanonen von 28 Zentimeter, fünf von 15 Bentimeter und ſechs von 7,6 Zentimeter Kaliber. Sie Hat zwei Ausſtoßrohre unter Bafler für 53 -Bentimeter- Torpedo. Die Panzerung beträgt für die Wwidtigften Zeile 2300 Zentimeter, die indizierten Pferdefräfte 20 000. Die übrigen Beftandteile der alten ſchwediſchen Flotte find bedeutend Tleiner und viel ſchwächer armiert. Der einzige Panzere treuzer „Fylgia” hat nur eine Wafjerverdrängung von 4800 Tonnen und die zwölf Küften- panzerſchiffe faflen alle zufammen nur 35400 Tonnen. Dazu kommen neben einigen Panzer⸗ booten zweiter und dritter Klaſſe vier jehr alte Kanonenboote von 400 bis 600 Tonnen und acht Torpebobootzerftörer von etiva 450 Tonnen, fünf von etwa 800 Tonnen, die eriten mit etwa 80 Knoten Schnelligkeit und zwei Dedlanonen für 45. Bentimeter-Torpedos, die letzt⸗ genannten mit etwa 20 Knoten und ein Unterwafferausftoßrohr für 88-Bentimeter-Torpedoß. Bon einer nennenswerten Flotte Tonnte daher bis jegt Teine Rede fein. Allerdings befigt Schweden 81 Torpeboboote erfter und 14 zweiter Klaſſe und etwa jechd Unterſeeboote.

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100 Schweden und der Weltkrieg

Löſung der Wehrfrage baten. Diefe Handlungsweiſe ift für dem, der die ſchwediſche Geſchichte Tennt, nicht fo wunderlich: feit Jahrhunderten beftand ver- faflungsgemäß neben den drei üblichen Ständen der meiften europätfchen Sroßftaaten in Schweden der vierte Stand, der ſchon im Mittelalter Sig und Stimme im Reichstag hatte, der Bauernftand. Beim Empfang ber Bauerndeputation ergriff der König felbft Partei in der Wehrfrage, indem er ihre baldige Löfung verfprad. Diefer Eingriff des Lonftitutionellen Königs erregte bei den Sozial⸗ bemofraten und einem Teil der Liberalen einen großen Sturm der Entrüftung. Staaff mußte fein Amt niederlegen. Der wichtigſte Punkt des MWehrprogramms des neu einberufenen Miniſterums, das unter dem Borfi von Hammarſljöld gebildet wurde, war die Verlängerung der Übungszeit für alle Waffengattungen auf ein Jahr big jet hatte nur die Kavallerie eine jo lange Dienitzeit und der Bau größerer Panzerſchiffe. Die neue zweite Kammer, die nad Auflöfung der alten im April gewählt wurde, brachte eine ftarle Verminderung des Freifinns (von 101 auf 71 Mandate) er hatte überall an Vertrauen verloren und eine bedeutende Zunahme der Site der Rechten (von 65 auf 86) und der Sozialdemokratie (von 64 auf 73). An die Sozialdemofratie hatten fich alle diejenigen angeſchloſſen, denen die beftehende Dienjtzeit noch zu hoch war und die für eine Verminderung des MilitärbudgetS eintraten. Das Budget für Heer und Marine, das 1912 bei einem Gefamtetat von 263 Millionen Kronen 88 Millionen betragen hatte, follte nad ihren Wünſchen in Zukunft 70 Millionen nicht überfteigen. Kaum jemals ift wohl in Schweden der Wahl- fampf von allen Seiten mit folcher Erbitterung und Leidenfchaft ausgefochten worden. |

Nah Ausbruch des Krieges febte ſelbſtverſtändlich die Agitation für eine erhöhte Dienstzeit im verftärkten Maße ein, und im September wurde nun aud endlich die Übungszeit für die Infanterie im erften Jahre auf 280 Tage herauf gefegt noch weitere Übungen folgen und auch die Forderungen für den Landfturm murden erhöht. Noch 1914 wurde auch die Verftärfung der Flotte vom Reichstag beſchloſſen. In einer fünfjährigen Periode, von 1915 bis 1919, jollen neben der „Sperige” zwei weitere Linienjchiffe von demfelben Typus und berfelben Beſtückung gebaut werden, ferner vier Torpedobootzerftörer verbefferten Typs mit 460 Tonnen Wafjerverdrängung, 30 Knoten Schnelligkeit, vier Schnellfeuerkanonen von 7,5 Zentimeter und ſechs Ausftoßrohren von A5«Zentie meter-Zorpedos und endlich eine Anzahl Unterfeeboote.

Immer wieder hatte die Rechte zur Agitation für die Erweiterung des Verteidigungsweſens die rufftiihe Gefahr für Schweden hervorgehoben. Wie befannt, haben ſich beſonders Sven Hedin und Bontus Fahlbed in mehreren Flug- ſchriften für eine Vermehrung der Flotte eingejebt. Auch die Ruffifizierung Finnlands fol nad) der Meinung der Ronfervativen für die Zukunft Schwedens nicht unterfchäßt werben, bat doch feit der Ara Bobriloff Schweden Finnland als Bufferftant verloren.

Schweden und der Weltkrieg a ee 101

Die ausführliche Darlegung der Stellung der einzelnen ſchwediſchen Parteien zur Wehrfrage zeigt gleichzeitig auch das Verhalten des Volles gegenüber Deutſch⸗ land, allerdings nur infomeit, als die Zufammenfegung der Volfsvertretung bie Bollsftimmung wiedergibt. Den ſchwediſchen Sozialdemokraten tft Deutſchland wie auch einem Teil der Liberalen das Land des Milttarismus. Von dem deutfhen „Militarismus” bat man in diefen Streifen fo faliche Vorftellungen wie überall da, wo man diefen Begriff benugt, um Stellung gegen ung zu nehmen oder andere Völfer gegen uns aufzubegen. Für. den Militartsmus haben fie auch das ſchöne Wort „Preußeriet” geprägt; denn Preußen tft es ja, das vom Milttarismus durchſeucht ift und jebt auch die anderen. Bundesftaaten angeftedt hat. Auch die ſchwediſche Sozialdemokratie verfennt fo völlig die Bollsftimmung in Deutſchland, daß fie ſich einbildet, das deutſche Boll vom Milttarismus befreien zu müſſen, ohne fi darüber Mar zu werben, daß zu einer Befreiung auch die Geneigtheit des Volles, um das es ſich bei dem Befreiungswerk handelt, gehört. |

Auch Ellen Key glaubt im „Forum“, einer linksſtehenden Beitfchrift, ihre Stimme gegen das „verpreußte” Deutſchland erheben zu müſſen. Bei ihr hätte man wohl eine befjere Kenntnis unſeres Baterlandes vermuten und Auslafjungen erwarten dürfen, die mehr Originalität verraten. Anftatt deffen gibt fie nur Shawſche Gedanfen wieder, wenn fie ſehnſüchtig das von ihr bewunderte Deutfhland Kants und Goethes zurückwünſcht, und wenn fie erklärt, daß für den, der den germanifchen Geift Tiebt, nicht DMosfau oder. London Deutichlands größter Feind ift, jondern Potsdam. Die Ziele der augenblidlichen ſchwediſchen Bolitit fieht fie in einem. Verteidigungsbündnis der flandinavifhen Staaten. „Die jegigen Schweden, deren Väter fo warm für die Gemeinſamkeit Skandi⸗ naviens eintraten, haben” nad) ihrer Anfiht „nicht das Recht, Nord- ſchleswigs Schickſal zu vergeffen“. In voller Übereinftimmung mit ihrer Auf- fafjung von Deutſchland gibt „Social-Demofraten“ einen Teil ihrer Ausführungen wieder und bringt zum Schluß die Auslaffung eines dänifchen Parteifreundes, der als warmer Deutfchenfreund (!) wünſcht, daß das „jebige verpreußte Deutich- land im Weltkriege unterliege”.

Diefelbe Färbung wie das führende Stodholmer Parteiorgan zeigt auch die Zeitihrift „Ziden”, die ebenfalls von dem Führer der Sozialdemokratie, Hjalmar Branting, geleitet wird. Branting bat feinem Lebensgange gemäß enge Beziehungen zu Frankreich, deſſen Kultur er durch den Weltkrieg gefährdet fieht. Er haßt deshalb Deutichland, ohne zu bedenfen, daß deren Untergang wohl jeder gebildete Deutfhe mit gleihem Schmerze beflagen würde. Die Provinzpreſſe meicht niemals ohne wichtige Gründe von der Anficht ihres . Führers ab, und fo nimmt fie im ganzen bdiefelbe Haltung ein wie das führende Parteiorgan. | GSelbitverftändlich verfucht auch bie ſozialdemokratiſche Preſſe nachzuweiſen, daß Deutſchland den Krieg gewollt hat. Deutſchland, ſo legt ein Verfaſſer

2 109' ee Schweden und der Weltkrieg

eines Artikels im Auguſtheft von, Tiden“ dar, habe „feine Stunde richtig gewählt“, und feine „Beredänungen würden vielleicht binnen kurzer Zeit ſich verwirklichen und Deutichland der Herr der Welt fein“. In derſelben Rummer verftattet man aber noch einmal auch einem Verteidiger Deutichlands das Wort, der die unberechtigten Anlagen gegen unfer Land abweiſt. Er zeigt Deutichlands Berfuche, den Frieden zu bewahren und legt bar, daß es einen gerechten Krieg führt, weil es durch eine große Übermacht gezwungen wurde, die Waffen zu ergreifen; num kampft es für bie Aufrehterhaltung feiner Exiſtenz.

Stelt man fi einmal auf den Standpımit, daß Deutſchland den Krieg gewollt bat, fo wird man ihm gegenüber eine um fo feindlichere Stellung einnehmen, je mehr das eigene Land unter dem Sriege zu leiden hat. Die Wirkungen der jebigen Lage find aber für Schweden ſehr bedeutend geweſen; insbejondere haben die breiten Schichten des Bolles, die Arbeitermaffen, bie ungünftige Lage des Arbeitsmarktes und die Berteuerung ber Lebensmittel ſehr geipürt. Die Arbeitslofenziffern waren im Degember in Schweden höher als in Deutihland. Während fie dort im lebten Vierteljahr des Jahres 1913 2,2 Prozent, 2,6 Prozent und 4,4 Prozent betrugen, zeigen fie 1914 mit 7,7 Prozent, 8,1 Prozent und 10,3 Prozent die eingetretene Krifis. Sekbft- verftändlich find es befonders die Arbeiter der Exrportinduftrien, bie durch dem Krieg ſtark betroffen werben. Groß war die Arbeitslofigfeit in der Stein- und Toninduftrie, die 1911 von den 805000 ſchwediſchen Induſtriearbeitern rund 31000 beidäftigte. Der Wert der Steinausfuhr betrug 1911 rund 141/, Millionen Kronen, das Hauptabfagland tft Deutſchland. Auch das Bau- gewerbe hatte noch unter einer ftärleren Arbeitslofigleit zu leiden wie tn gewöhnlichen Wintern. Die Preiſe einiger Lebensmittel insbejondere Fleiſch find in Schweden fehr ſtark geitiegen.

Als die deutſche Regierung am 23. November bearbeitete und un- bearbeitete ſchwediſche Hölzer als relative Kriegskonterbande erflärte, da verfäumte man in fozialdemofratifchen Seifen nicht, die Handlungsweiſe Deutſchlands zu brandmarken. Nur die rechtsftehende Preſſe wies energiſch auf den Handelskrieg Englands Hin, der die Intereſſen der ſtandinaviſchen Staaten tödlich verlegt. Gerade für Schweden hatte die Erklärung der relativen Konter⸗ bande zur abjoluten die fchwerften Folgen. Allerdings ift der Holzerport für die ſchwediſche Vollswirtſchaft Lebensbedingung. 52 Prozent des Landes finb mit Wald bededt und die zahlreihen Flußläufe und Seen ermöglichen einen billigen Transport der Hölzer. 1911 betrug die Ausfuhr unbearbeiteter, behauener und gefägter Hölzer ſechs Millionen Kubikmeter. Bon beionderer Bedeutung war die Verordnung vom 23. November dadurch, daß mehr wie der dritte Zeil der ſchwediſchen Holzausfuhr nad Großbritannien gerichtet ift. Eine Krifis in der Sägemühleninduftrie muß ſchon deshalb von fchweren Folgen begleitet fein, weil allein rund 40000 Arbeiter dort beichäftigt find. Aber die Erflärung vom 23. Rovember bat trogdem nicht jo einſchneidend

Schweden und der Weltkrieg 108

gewirkt, wie man nach der Bedeutung bes Holzexports für die ſchwediſche Bollswirtihaft annehmen ſollte. Denn während der Wintermonate tft der Transport über die Ditfee die Weſtküfte kommt Taum in Betracht wegen bes Eifes doch nicht möglich. Übrigens fcheint man jetzt die Beftimmung, die durch das eingetretene Taumwetter von großem Belang würde, verändern zu wollen.

Hat die ſozialdemokratiſche Prefie nicht verfäumt, Kapital aus der deutſchen Konterbandeerklärung zu ziehen, fo ift fie nur allzu maßvol in der Kritil des ungerechifertigten Anhaltens ſchwediſcher Dampfer von feiten Englands, während wir diefe Berhältnifie in der übrigen Prefie mit großer Ausführlichleit dar⸗ gelegt finden. Nahezu ımerträglich wird für die ſchwediſche Geſchäftswelt jetzt die engliſche Zelegrammzenjur.

Intereſſante Aufllärungen über die Stellungnahme der einzelnen Zeitungen werden uns, wenn wir ihre *2eltüre etwas mehr philologiſch behandeln: in fett gebrudter Überfchrift finden wir in „Social - Demokraten“ die Worte „bie deutſchen Seekriegsmethoden“. Darunter did gebrudt: „Der Berftörer der ‚Zalaba‘ ging unter engliſcher Flagge,“ dahinter fteht ein Punkt. Der Leier empört fi) über Dentichland. Ganz unten im Text fcheint aber der Redaktion des „Soctal- Demokraten” das Gewiſſen geichlagen zu haben, und fie verfieht die Hein gedrudten Worte „Die deutfchen Unterſeeboote unter engliſcher Flagge” mit einem Fragezeichen.

Um gegen die Steigerung des Berteidigungsweiens auftreten zu Lönnen, muß die liberale und fozialdemofratiiche Preſſe der Annahme einer ruſſiſchen Gefahr entgegentreten, deren ftarle Hervorhebung von feiten der Rechten bie Zinle vor dem Kriege für übertrieben bingeftellt hat. Man leugnet, daß Rußland beftrebt ift, fich in den Bells von Narvik und dadurch eines Hafens am atlantiidhen Dzean zu ſetzen“). Es braucht nicht an die norwegiſche Küfte vorzubringen, wenn e8 Konftantinopel erobert hat, jo argumentiert man. Die Yolge diefer Auffaffung if, daß man Rußland ein fiegreihes Bordringen in den Dardanellen wunſcht. Sollte dies unmöglich fein, fo bleibt dem öftlichen Nachbar immer noch die Möglichkeit, einen Kriegshafen an der Murmantküfte anzulegen, der die Befignahme Narvils unnötig macht. Es genügt aber ber Iinfsftehenden Prefje nicht, mit diefer Beweisführung die ruſſiſche Gefahr zu befeitigen, fie verfucht fogar, wie wir gefehen haben, eine Gefahr, die von Deutſchland beranzieht, zu Lonftatieren.

Wie ein ſchlechter Spaß mutet e8 uns jedoch an, wenn „Social-Demoftaten“ und „Dagens Nyheter“ feit ein paar Tagen eine ruſſiſch⸗ſchwediſche Konferenz von ruſſiſchen Dumamitgliedern und ſchwediſchen Reichsſtagsabgeordneten befür- worten **). Auffifcherjeits ſoll man ſchon die Grundlagen einer ſolchen Konferenz

®) Bergleihe Die Grengboten vom 20. Xanuar 1915. Seite 74.

““, Auf den Entrũſtungsſturm, der auf diefen Vorſchlag in der rechtsſtehenden Preſſe folgte, erflärte „Dagen® Nyheter“, die zuerſt den Gedanken verfolgte, „daß die Konferenz leineswegs eile”.

104 Schweden und der Weltfrieg

erwogen haben und die Behörden follen großes Intereſſe für den Plan be- tunden. Was fol in aller Welt, fo wird man Lopffchüttelnd fragen, das Thema einer ſolchen Zuſammenkunft bilden? Nichts Geringeres als die Zukunft Yinn- lands. In „Social⸗Demokraten“ felbft hat man eine Artifeljerie veröffentlicht, in der dargelegt wird, daß das finnifche Volt felbft Leine Hoffnung mehr bat, bei Aufrechterhaltung der Zarenmacht feine Selbftändigleit und Freiheit zu be- wahren. Trotzdem hält man in der ſchwediſchen Sozialdemokratie die Zeit für gelommen, die Hinderniffe, die „einer vertrauensvollen und freundfchaftlidden Verbindung der beiden Völker im Wege ftehen, wegzuräumen”. Merkwürdiger Meile zittert „Social⸗Demokraten“ bier nicht die Stelle aus Ellen Keys oben- genannten Aufſatz, „daß jeder Blutstropfen in einem fchwedifchen Herzen den Gedanken, die Hand über das niedergetretene Finnland unſerm öftlichen Nachbar zu reichen, abmeifen ſollte“. (Allerdings Iehnt fie in dieſem Zuſammenhange auch jede Waffenbrüderfhaft mit dem ſüdlichen Nachbar über das niedergetretene Nordſchleswig ab). Wir lönnen uns nur wie ein rechtsftehendes ſchwediſches Blatt wundern „überdas Zuſammenwirken des ruſſiſchen Abfolutismus und der ſchwediſchen Sozialdemokratie”. Ob Finnlands Ausſichten durch eine ſolche Konferenz wachſen werden? „Svenska Dagbladet” erinnert mit Recht an den Beſuch ruffifcher QDumamitglieder in England und macht darauf daß die Furſprecher Finnlands in England ſeitdem verftummt find.

Mit diefen Ausführungen fol nun feloftverftänbtid nicht nachgewieſen werden, daß jeder Sozialdemofrat der Meinung des Stodholmer Parteiorgans wäre. Für die Sache Deutihlands bat der befannte ſchwediſche Revifionift und Sozialdemokrat Guſtav %. Steffen in ſchwediſchen umd deutſchen Zeitungen Partei ergriffen. Wegen feiner Stellungnahme zur Verlegung der belgifchen Neutralität in der „Voſſiſchen Zeitung“ mußte er aus dem Bertrauensrat ber ſchwediſchen Sozialdemokratie ausſcheiden. Er hat in feinem Buche „Krieg und Kultur” (Erſter Band, deutfch, bei Eugen Diederichs, Jena, 1915), von dem foeben au der zweite Zeil im ſchwediſcher Sprade erſchienen ift, ſich mit den deutſchfeindlichen Außerungen der Engländer und Ruſſen ausein- andergefegt und wichtige Dokumente für die Denkungsart unferer Feinde bei- gebracht. Befonderen Wert erhält feine Beurteilung durch Die tiefgehende Kenntnis, die er von der Kultur, insbefondere von der Vollswirtihaft Groß- britanniens befigt; er bat mehr wie ein Jahrzehnt in England "gelebt. Mit fetner Ironie behandelt er die Art, mit der die Engländer verſuchen, ihr Bündnis mit Rußland zu rechtfertigen, den ruſſiſch-engliſchen Kampf für „Demokratie und Freiheit” zu erflären. Allerdings balten es die meiften Engländer für befler, über das Zufammenmwirlen beider Reiche fein Wort zu verlieren, nur einige ſprechen fich offen, fogar in Privatbriefen an Steffen aus: man will mit Hilfe Rußlands den größten Konkurrenten, Deutjchland, niederzwingen, um nachher dem Koloß feine Friedensbedingungen zu biltieren. Mit gutem Verjtändnis weiſt Steffen die englifchen Anflagen gegen den deutſchen

Schweden und der Weltkrieg 105

„Militarismus“ zurüd. Im zweiten Teile legt er unter anderem zahlenmäßig dar, daß Englands und Franfreihs Ausgaben für Heer und Marine pro Kopf der Bevöllerung bedeutender find als die Deutſchlands. Für die unglaublichen Kriegsberichte englifher Sournaliften weiß Steffen nur eine Erflärung: fo wie England zum größten Teile aus Jagdgründen befteht, fo fieht der Engländer auch die ganze übrige Welt als fein Jagdrevier an; denn ber Sport und be- ſonders die Jagd erfcheinen ihm ja als notwendiger Ausgleich der Schäden bes modernen Induſtrialismus. So tft ihm die Vorliebe geblieben für Kriegs- ſchilderungen, die ſich nicht von ben alten Indianergeſchichten unterfcheiben. Die krafſen Urteile gebildeter Engländer über Deutſchland erflärt Steffen mit der Beichränftheit der engliſchen Infularität. Aus jeder Zeile Steffens ſpricht Hochachtung für das deutſche Volt und feine Kultur. Befonders für felne Kraft der Organifation die er ſowohl in dem deutſchen Militarismus wie in ber deutichen Sozialdemokratie findet hat er volle8 Verftänbnis und Worte hoͤchſter Anerkennung. |

Die rechtsſtehende Partei Schwedens geht weiter wie Steffen. Sie tft feit Kriegsausbruch mit der offiziellen Politik unzufrieden und wünſcht ein ‚aktives Eingreifen zugunften Deutſchlands. Mit fcharfen Worten hält fie immer wieber dem Volle die ruffifche Gefahr vor Augen, die jegt nad Ausbruch des Krieges die lintsſtehende Preſſe wegzubisputieren fucht*). Sollte Rußland auch die Befig- nahme Konftantinopel® gelingen, fo wird es beshalb nicht aufhören, alle Mittel in Bewegung zu feben, um fi} in den Belt eines Hafens am atlantiſchen Dzean zu ſetzen. Kann doch ein Hafen am mittelländtichen Meer, in deſſen Beherrſchung fi vier Großmächte teilen, nicht den fo erfehnten am Weltmeer erfegen, gar nicht zu reden von NAlerandrowf? an der Murmanlüfte, daS bei weiten nicht diefelben günftigen Bedingungen eines Kriegshafens aufweiſt wie Narvik.

Aufſehen erregende Artikel erſchienen in der Zeitſchrift „Det nya Sverige,“ deren Herausgeber der Leiter des Nationalvereins gegen die Auswanderung, Adrian Molin, iſt. Belanntlich war ja eines der Hauptprobleme der ſchwediſchen Bolkswirtſchaft in den letzten Jahrzehnten die Verhütung der Auswanderung. Hat doch das Land von 1850 bis 1910 mehr eine Million Menſchen verloren, faft ein Fünftel feiner jebigen Bevölkerung. Der Verein verſucht durch Anfteblung von Bauern die Leute in der Heimat zu halten und Rück— wanderer von neuem an bie Heimat zu feſſeln. Schon aus der Tätigfeit des Bereins, deren Direltor wie gejagt der Herausgeber der Zeitichrift „Det nya Sverige” ift, Täßt fich ihre Tendenz erfennen: Erneuerung der ſchwediſchen Rultur auf nationaler Grundlage. Molin will in feinen Artileln „Starte und ſchwache Neutralität“, „Schwedifche Neutralität”, „Narvik oder die Dardanellen”

*) Zur Achtſamkeit auf ruffiihe Eroberungspolitit riet auch die immerwährende uner- börte Spionage von feiten Rußlands in Schweden.

106 Schweden und der Weltkrieg

beweifen, daß im Unterfchied von Italien Schweden durch feine Reutralität nur verlieren Tann. SYtalien läßt in jedem Yalle die Großmächte den Kampf auch für fi ausfehten. Es wird am Tage des Friedens feinen Nuten aus dem Weltkrieg ziehen, weil beide friegführenden Parteien dank jeiner kräftigen Machtmittel ihm jederzeit eine altive Politik zutrauen, fie berbei- wünfchen oder fürchten, Schweden aber wegen feiner geringen Machtmittel nicht ernſt genommen wird.

Deutihland fo fährt Molin fort ift der einzige Staat, ber Schweden Stüße gewähren kann. Man wird es ihm aber beim Yrieden nicht verübeln lönnen, wenn ihm die Türkei, die aktiv eingriff, naͤherſteht als der ſtandinaviſche Stammesgenofie._ Es wird niemand wundern können, wenn es für bie Sarantierung ber Integrität ber Türkei Rußland nichts mehr in den Weg legt, fih den fo notwendigen Hafen an der Küfte Norwegens zu ſuchen. Sicher muß man Molin recht geben, wenn er behauptet, daß eine Beſchluß⸗ faffung nichts bedeutet, wenn man nicht bie Möglichkeit befikt, jederzeit für ihre Nichtachtung das Schwert zu ziehen. Doppelt Har wurbe uns biefe Erienntnis durch das felbftherrliche Verhalten Englands gegenüber den neutralen Staaten. Ob wir trotz diefer Umftänbe aber fo ſcharf in unjerer Beurteilung fein dürfen und der Malmözuſammenkunft feine andere Bedeutung zufprechen können als bie einer Demonftration, fcheint mir fraglih. Wirb es doch fiher Ion von erheblicher Wirkung fein, wenn fi) die ſtandinaviſchen Staaten einig geworden find, auf jeden Fall den finniſch ⸗ſchwediſchen Bahnanſchluß zu verhindern und bie Neutralität ftreng zu bewahren.

Großes Auffehen erregte in Schweden Molins Widerlegung der Anfichten jener Männer, die die Ubermacht eines fiegenden Deutſchland fürchten. Wir wollen die Worte Molins bier ohne Kommentar wiedergeben: „Würde uns wirflih Gefahr von feiten eines Deutſchland drohen, das feine Feinde mit Glüd befämpft hat, fo wäre e8 für Schweden an der Zeit, ernftlich zu über- legen, welches Schidfal e8 vorzöge: Bayerns oder Finnlands.“

Diefe Äußerung könnte glauben machen, daß es den Schweden an Rational- gefühl gebriht. Das Gegenteil beweift ſchon die Tendenz ber erwähnten Beit- fohrift. Eher könnte man die Strömung, die jebt in Schweden in ben ver ſchiedenſten Kreifen, Liberalen und Konfervativen, ſcharf zutage tritt, mit den Worten bezeichnen: Schweden für die Schweden. Selbit Sozialdemokraten äußerten fi mir gegenüber empört, daß fo viele Unternehmungen fidh in ben Händen von Ausländern befänden. BDiefe Stellungnahme tft allerdings nicht fo verwunderlich, da die ſchwediſche Sozialdemokratie ja ſchon vor dem Kriege bedeutend nationaler gerichtet war, als bdiefelbe Partei in anderen Ländern. Heute würde man es in vielen Kreifen mit Freude begrüßen, wenn man getreu dem Prinzip „Schweden für die Schweden“ den Erwerb von Grundbefit für Ausländer erſchwerte. Diefe Auffaffungen find um fo fhwerer zu verftehen, als Schweden, das nur fünfeinhalb Millionen Einwohner befigt, in erfter Linie

Schweden und der Weltkrieg 107

für eine Träftige Entwidlung feiner Vollswirtſchaft Menſchen fehlen. Menſchen fehlen ihm ſowohl für die Urbarmachung feiner Moore, die einen großen Teil des Bodens, befonders in ben nörbliden Brovinzen, bebeden, als auch für den weiteren Ausbau feiner Induſtrien.

Bir haben leider die Anſchauung, daß Schweden fchlechthin und durchweg deutſchfreundlich gefinnt ift, ſtark einfchränten müflen. Aber wir dürfen uns im ganzen ohne leichtfertig zu fein der Anficht eines bekannten Sozial- demofraten anfchließen, der mir diefer Tage fchrieb: „Denutichland hat im Mwebiichen Volle mehr Freunde als Feinde.” Bor allem aber fteht bie Intelligenz im allgemeinen auf unferer Seite. Daher kommt es aud), daß diefenigen, die in Schweden ftubienhalber reifen, den Eindrud gewinnen, gleich gefinnte Stammesbrüder zu finden.

Die Befteuerung des Hriegsgewinns eine Steuerungerechtigfeit Don Prof. Wittfhemffy RE ie großen geichäftlichen Vorteile, die einer Minderheit unjerer

erwachſen, haben den Gedanken auffprießen laſſen, die erzielten Geſchäftsgewinne mit einer befonderen Steuer zu belegen. Warum

—— das geſchehen ſoll, iſt nicht ohne weiteres klar erkennbar. Gewiß,

zum Kriegführen gehört Geld, ſehr viel Geld, und wenn der Staat in argen Geldſchwierigkeiten ſteckt, ſo langt er nach den Geldmitteln, die ihm am leichteſten zugänglich erſcheinen. Die Vermögensbeſteuerung wäre, falls das Steuerſchiff nebſt den anderen Geldſchiffen in ſchwerem Kriegsſturm auf einer Sandbank feſtſäße, eine Angelegenheit, über die ſich reden ließe. Aber, wie angedeutet, nur die äußerſte Notwendigkeit könnte eine Maßregel rechtfertigen, durch Die von den Kapitaliſten ein außerordentlicher Kriegstribut eingefordert wird, ohne nachdenklichen ſteuerpolitiſchen Erwägungen ſich hinzugeben. Dieſer Fall liegt jedoch im Deutſchen Reich offenbar nicht vor. Über die Stärke unſerer finanziellen Kriegsrüſtung wiſſen wir nach dem Ergebnis der beiden Kriegsanleihen genügend Beſcheid. Und werden die zur Verfügung ſtehenden Milliarden auf gebraudit fein, fo daß die vom Reichstag bemilligten weiteren Krebite in Anfprud) genommen werden müfjen, fo dürfte eine etwa aufzuerlegende „Sriegsfteuer" auch nicht die rohe Form eines einfachen Nüdgriffs auf den privaten Ver mögensbefib annehmen. DBeiläufig fei hierzu eingefchaltet, daß der in ber bureaufratifhen Tretmũhle noch jugendfrifhe neue Reichsſchatzſekretär den Gedanken einer Reichsiteuer vorläufig überhaupt abgelehnt hat. Die Einführung einer Kriegsgemwinnfteuer ift demnach durch fiskaliſche Erforderniffe keineswegs bedingt. Andere Gründe müſſen alfo für das Wohlwollen maßgebend fein, mit dem ein folder Steuerplan von der öffentlichen Meinung aufgenommen und auch in den Parlamenten bewilllommnet worden ift.

In den Grenzboten (Nr. 13) tft eine Steuer auf Kriegsgewinn unter dem Titel einer „Einkommenvermehrungsfteuer” aus Gründen des Billigkeits⸗ empfindens empfohlen worden. Etwas ausführlider hat kürzlich Juſtizrat Bamberger in der Tägliden Rundfchau (Nr. 118, 135, 178) denfelben Gedanken

erne

Die Beftenerung des Kriegsgewinns eine Steuerungeredhtigfeit 109

vertreten, nachdem er vorgängig die gewichtigen Bedenken gegen bieje Steuer felbft hervorgehoben hat. Die praltiihen Einwände zerfließen ihm aber gegen- über dem pfychologifhen Moment, daß ein weit verbreiteter Unmillen beſteht über die Art, wie der furchtbare Krieg ähnlich einer beliebig anderen geichäft- lien Konjunktur zur materiellen Bereicherung einer Pleinen Minderheit aus⸗ genugt wird. Diefes Gefühl, meint AYuftizrat Bamberger, fol man ſich nicht verwirren laffen. Und er weift auf die Duelle des Mikmuts bin, wenn er ſchreibt: „Das allein ift nicht entſcheidend, daß der Nuben in einem Mißver⸗ bältnis zu der aufgewendeten Arbeit ſteht, auch nicht, daß innerhalb der kurzen Zeit von wenigen Monaten Vermögen erworben werden, die fonft faum bie Frucht der Tätigkeit von vielen Jahren bilden, fondern entſcheidend ift bie Zatjache, daß der Krieg es ift, der eine fo außerordentliche Bereicherung her⸗ vorruft.” Es fet nicht mehr als recht umd billig, daß die Begünftigten einen Heinen Zeil des erlangten Nubens in Form einer Steuer der Gefamtheit überlafjen.

Nach der bier verlautbarten Auffaffung ſoll alſo nicht jo fehr die Tatſache bes Gewinns an fi, aud nicht die ungewöhnliche Höhe der Gewinne für die Beitenerung maßgebend fein, fondern vor allem wird die finanzielle Rubbar- machung der Sriegszeit für privatwirtſchaftliche Erwerbszwecke als anſtößig erachtet. Dem Kriegsgewinn wird damit der Stempel unmoraliſchen Verdienſtes aufgeprägt. Andernfalls wäre die Entrüſtung nicht recht zu verſtehen, die über dieſe Gewinnmöglichkeiten beſteht und auch vom Juſtizrat Bamberger als voll⸗ auf begreiflich anerkannt wird, ohne Nüdfiht darauf, ob die wucheriſche Ausbeutung von kriegswirtſchaftlichen Ausnahmeverhaltniſſen wirklich nachweisbar ift oder nit. Nun aber follte gerade in der Steuerpolitit das moraltiche Moment niemals fi von felbft verftehen. Seine Einhaltung in die Grund⸗ ſätze der Stenergerechtigleit müßte den Steuerpraftiler auf gefährliche Irrwege führen, indem fhließli die moraliihe Sefinnung der Steuerpflichtigen bei der Steuerumlegung in Betraht zu ziehen wäre. Wenigſtens fehlt ohne bie moraliihde Bewertung die Begründung, warum an Sriegslieferungen nicht ver- dient werden darf und warum biefe Gewinne nicht entiprechend höher fich jtellen dürfen als zu normalen Zeiten. Daß diefe höheren Gewinne in die Kriegszeit fallen oder gar dur) die Bedürfniſſe der Kriegführung überhaupt erft erzielt worden find, Darf unſeres Erachtens als unſchicklich nur dann gelten, wenn Kriegsgewinne unter allen Umftänden mit Bebenklichleiten behaftet find. Das wird aber ſchwerlich behauptet werden, denn ſonſt würde das auch für die Heeresleitung ungemein wichtige Geſchaͤftsintereſſe erlahmen. Kriegsgewinne find aljo grundfäglich nicht verwerflich, können aber zu Quellen des Unmuts werben, wenn fie durch ihre Höhe den Eindrud einer wucheriſchen Machenſchaft hervorrufen. Man follte fih hüten, geſchäftliche Einkünfte beträchtlichen. Umfangs, denen bäßliche fpefulative Umtriebe nicht zugrunde liegen, deshalb zu verurteilen, weil fie aus der Kriegsbafis emporgeitiegen find. Wenn das

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110 Die Befteuerung des Kriegsgewinns eine Stenerungerectigfeit

in der oͤffentlichen Meinung vielfach geichieht, fo fpielt eine große Gedanken⸗ loſigkeit hierbei die Hauptrolle, die den inneren Zufammenbang tn biefen weit- ſchichtigen geſchaͤftlichen Transaktionen nicht überfieht oder nicht erkennen will. Unmoralif find lediglih Wuchergewinne, die als ſolche zweifellos feitgeftellt find, denen man aber in anderer Weife als mit der Stenerrute entgegenzutreten hätte, denn die Aute würde mit den Ungerechten auch viele Gerechte treffen.

Die Schwächen der fteuertheoretifchen Begründung einer Gemwinnfteuer, die ihre Spige nur auf die „Kriegsgeichäfte” richtet, find ber Ausfluß einer das deutſche Bolt gegenwärtig beberrichenden Gefühlspolitit, die mehr von vater ländifhen Empfindungen al8 von ftrenger Sachlichleit ſich leiten läßt. Im Hinblid auf die gewaltigen Opfer an Gut und Blut, die der Srieg allen Bollsfreifen auferlegt, regt ſich Iebhafter Unmut über diejenigen, die anjcheinenb ein Defizit an opferwilliger Gefinnung befunden, indem fie die ihrem Geichäfts- geift günftigen Kriegskonjunkturen zu flotter Mebrung ihres Einlommens trefflich zu verwerten befliffen find. Heldenhaftes Fühlen lehnt ſich gegen den Hänbdler- geift auf. Die opferwilligen Laftenträger verurteilen die geichäftstüchtigen Gewinnjäger. Eine Unterſcheidung von Fall zu Fall ift nicht angängig, inwie⸗ weit die Vorwürfe wegen fpelulativer Ausnugung der verworrenen Marktlage näberer Prüfung ftandhalten. Der Ruf nad dem Stenererheber lommt einer Berurteilung in Baufh und Bogen gleih. Mit folden Gefühlsäußerungen, deren löblicher Untergrund nicht unterfhäst werden foll, tft aber das Syſtem eines gerecht veranlagten Steueraufbaues nicht wohl vereinbar. Gewiß joll die Einfommenvermehrung oder bie Vergrößerung des Bermögensbefites dem fteuer- fistalifden Arme nicht entzogen werden, die Sonderfteuer verjtößt aber gegen die Steuergerechtigkeit, wenn fie fi) auf die Gefühlsmomente deuticher Patrioten beruft. Die Ausfonderung der „Kriegsgewinne” aus dem Rahmen der durch Reichs⸗ und Staatsfteuern zu erfaflenden Einkünfte läßt faft vermuten, daß Die Gewinner für ihren Erfolg abgeftraft werden follen. Bon manden Freunden dieſer Beftenerung, beifpielsweife au von Herrn Juſtizrat Bamberger, wird das mittelbar zugegeben, wenn fie Kriegszeit und Geſchaͤftsgewinn miteinander verbinden und hieraus ihre Steuerforderung berleiten. Da die von der Börlen- ſpekulation eingeftrihenen, unter Umftänden riefenbaften Gewinne von ſolchen Steuerattacken unbehelligt bleiben, fo kommen wir nicht darüber hinweg, daß für den Krieg eine bejondere Geſchäftsmoral gelten und durch die Steuer auf den Zabelftuhl gefebt werden fol. Das wäre, wie bereitS bemerft, ein fteuer- politifher Fehltritt. Auch der Kriegsgewinn tft ein legitimer Kapitalertrag, dürfte daher nicht unter ein Sonderrecht gebradgt werden. Wenn zum Beifpiel die Altien der Waffenfabrilen fprunghaft in die Höhe gehen ober die großen Mahlmühlen eine dreifach höhere Dividende zu zahlen in der Lage find, fo erwaͤchſt den glüdlichen Beſitzern der betreffenden Wertpapiere eine Bergrößerung ihres Nentenlapitals, zu einer Belrittelung dieſes Kriegsgewinns“ liegt aber nicht die mindefte Veranlaffung vor. j

Die Beftenerung des Kriegsgewinns eine Stenerungeredtigteit 111

Die Kriegsgewinnfteuer wird noch von einer anderen Seite ber empfohlen, wobei das moraliſche Element unberüdfichtigt bleibt umd lediglich die einfache Tatſache als entſcheidend ins Feld geführt wird, daß inmitten des Rückganges in ben allgemeinen Einlommensverhältnifien eine Tleine Gruppe gewandter Geſchäftsleute und begünftigter Induftrieller durch Beteiligung an der Herftellung und Lieferung von Kriegsbedarf jeglicher Art eines ungewöhnlich hohen Geſchäfts⸗ profits ſich zu erfreuen vermag. Die Steuergerecdhtigleit wird als Motiv für die prozentuale Schröpfung dieſes Profit8 angerufen. In Wirklichkeit würde mit einer ſolchen Befteuerung eine arge Steuerungerechtigkeit begangen werden. Bom Beigeorbneten Rohde ift in den „Grenzboten“ dargelegt worden, wieviel günftiger die Finanzlage der gewinnenden Minderheit ift im Vergleich zu der großen Mehrheit, die durch den Krieg einen beträchtlichen Zeil ihrer Jahres⸗ einnahmen einbüßt. Hieran anknüpfend wird der unferes Erachtens fehr bedenkliche Grundſatz aufgeftellt, daß in Notftandszeiten von den Glüdsgüter Ermwerbenden ein befonderer Steuertribut erhoben werden dürfe. Bon Not⸗ ftänden in der einen oder anderen Form werden wir häufiger heimgefucht, und der Gegenſatz zwiſchen wenigen großen Gewinnen und vielen fchweren Ber- Iuften ift eine faft alltägliche Erſcheinung. Wollten wir die dadurch verurfachten finanziellen Ungleichheiten durch die Anwendung der Steuerfchraube ebnen, fo geraten wir in ein Fahrwaſſer fogialiftifcher Ideen. Dur) die progreifive Befteuerung findet ein gewiſſer Ausgleich zwiſchen großen und Heinen Ein- Iommen obnehin ftatt und werben auch die Kriegägewinne erfaßt, jo daß eine zeitlich begrenzte neue Stenerauflage auf eine mehr oder weniger willfürlidh fonftruierte Gruppe von Steuerpflichtigen den geltenden Grundfägen unferes Steuerwejens widerfpreden würde. Was zugunften eine außerordentlichen Zuſchlags zur Einfommenfteuer unter Berufung auf den Krieg angeführt wird, fönnte zu erwägen fein, falls aller Kapitalbefits und alle größeren Einkommen mit einer Kriegsabgabe belegt werden müßten, ſchafft aber ein gehäffiges Aus- nahmerecht, wenn nur beftimmte Geſchaͤftsgewinne bejchnitten werben follen. Die Gewinnempfänger werden es ftetS als eine unverbiente Kränlung empfinden, daß man fie mit einer Ertranuflage bebentt, weil fie während des Srieges mebr als ihre Nebenmenſchen verdient haben. Zwar wird uns vorgehalten, daß der Steuerpflichtige, der fein Einlommen vermehrt, aus Freude bierüber gern einen befonderen Zufhlag zahlt. Für dieſe Anfiht würden fi aber nicht viele Zeugen beibringen lafien. Zum mindeften wird jedoch der Befteuerte verlangen, daß bei feiner Steuereinſchätzung nit das einzelne Erntejahr bes Krieges als Einfommensmaßftab zugrunde gelegt wird, fondern feine finanziellen Berbältniffe aus mehreren Jahren zufammengehalten werden. Denn entiprädhe es etwa der Billigkeit, daß gefchäftliche Unternehmungen, die in den Jahren vor dem Kriege vielleicht mit ftarfer Unterbilanzg gearbeitet haben, nun aber durch günftige Umftände vorübergehend einen günftigen Aufihwung nehmen, ftenerlich fo herangenommen werden, al$ wenn fie in bauernder Üppigkeit ſich

112 Die Befteuerung des Kriegsgewinns eine Stenerungerecdtigkeit

befunden hätten? In Wirklichkeit kommen fie ſchlechter Davon wie fonft ertrag- reihe Unternehmungen, bie aber infolge der Kriegswirkungen tm Jahre 1914/15 einen einmaligen Ausfall erleiden. Eine derart ungleihmäßige Bewertung der Einfommensgrößen ift mit der Steuergeredtigleit ſchwer vereinbar. Mag ber Krieg mauche finanzwirtſchaftliche Grundſätze zeitweilig durchbrechen, ſofern die Kriegsnot hierzu verpflichtet, er ſollte aber nicht ohne erſichtliche Dringlichkeit zu einer Steuerpolitik ab irato verführen.

Mit der Möglichkeit, daß die Steuerſchraube in Bewegung geſetzt wird, don um die fünfhundert Millionen zur Berzinfung von zehn Milliarden Kriegs- anleihe zu beichaffen, tft immerhin zu rechnen. Naheliegend ift auch der Plan, einen Hanptteil der Steuerlajt auf das Einlommen und Vermögen zu legen. Dagegen ift mwejentliches nicht einzuwenden. Die Einlommenseinfhägung und die Vermögenszumachsiteuer find auch das natürliche Fundament, auf dem die Beitenerung der Kriegsgeminne fih würde aufbauen müſſen. Zu vermeiden ift hingegen eine bejondere Steuer, die die während des Krieges und im Zu fammenhang mit ihm entftandenen Mehreinlünfte als ein neues Steuerobjelt zu erfaffen ſucht. Hierzu liegt aus den angeführten Gründen feine Veranlaflung vor. Der Einwand, dab das Reichsbeſitzſteuergeſetz ſchleunigſt „kriegsbrauchbar“ gemacht werden müßte, weil die gewonnenen Stapitalien bis zur Erhebung vom 1. April 1917 gar leicht wieder zerronnen fein könnten, ift in unjeren Augen nicht ftihhaltig. Der Kriegsgewinn, jelbft wenn er noch fo hoch ift, läßt fich jteuertechnifh nicht mit einiger Sicherheit erfaſſen. Wer für die Lieferung beftimmter Bedarfsartifel der Heeresverwaltung, nehmen wir an, eine Million mehr ausgezahlt erhält als nad den marktgängigen Preifen vor dem Kriege erforderlich, hat deshalb noch lange nicht eine Million verdient. Die ganze Neihe der Hintermänner, Agenten und Lieferanten beifht aus biejem Berdienft feinen Anteil und bewirkt, daß der Einheitsprofit in eine unabjehbare Menge von Kanälen auseinanderfließt. Anderſeits vergegenwärtige man fi die ungebeuren Umſätze in Nahrungsmitteln zu bohen und höchſten Preifen, bei denen den Produzenten oder Zwiſchenhändlern Millionen al8 Diehrerträge gegen früher zugefloffen find. Auch hier handelt es fi um Konjunkturgewinne, die der vielgerühmten, aber zumeift unhandlichen Steuergeredhtigleit zuliebe, jteuerlichd gemaßregelt werden müßten. Wie aber das geſchehen foll, wenn man den feiten Boden der beitehenden Steuerorbnungen nicht preisgeben will, könnte das Thema einer Preisaufgabe bilden. In jedem Falle würde bie Steuer ungerechtigleit grell hervortreten.

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Für die Kriegsgewinnſteuer

Don Juſtizrat Bamberger

Tu ie Sinwendungen, die Profeſſor Wittſchewſty gegen die Kriegs⸗ gemwinnfteuer erhebt, haben Feine überzeugende Kraft. Es ift nicht verftändlih, weswegen nur die äußerfte Notwendigkeit es rechtfertigen fol, eine SKriegsftener von den Sapitaliften zu er⸗ erheben. Bon mittellojen Arbeitern und Handwerkern kann man fie gewiß nicht einfordern. Übrigens handelt es ſich bei der Steuer, für bie auffteigende Säbe von 5 bi8 20 Prozent empfohlen find, nicht nur um Sapitaliften, fondern um alle diejenigen, die in den Striegsjahren mehr verdienen, als im Durchſchnitt der drei vorhergehenden Nechnungsjahre. Liegen diefe Voraus⸗ fegungen vor, fo wären auch Landwirte und Rentner in Höhe des Über- ichuffes zu der Steuer heranzuziehen, die lehteren beilpielsweife, wenn ihre Befi an Aktien, etwa von Waffenfabrifen, ihnen ein höheres Einkommen ge- währen follte, als in Friedenszeilen. In allen diefen Fällen ift Kriegsgewinn vorhanden. Doch muß dem Gteuerpflidätigen für den einzelnen Fall der Gegenbemweis offen jtehen. Im allgemeinen fann man davon ausgeben, daß jeder nad) der finanziellen Seite bin zufrieden ift, wenn er in biefer Zeit bes Krieges annähernd fo geftellt ift, wie vordem, und wer zufegen muß, ift zu- frieden, wenn er etwas zuzujeben bat. Wer hingegen infolge des Krieges ein höheres Einkommen hat, als vorher, der ift fo begünftigt, daß man ihm nicht zu nahe tritt, wenn man ihn zu einer Abgabe vom Überfhuß an die Gefamtheit beranzieht.. Das ift das gute Recht der Gefamtheit, weil aus ihren Mitteln dem einzelnen fein Gewinn zugeflofien iſt. Es beiteht doch ein jchroffer Gegenfag zwiſchen der Lage der großen Mehrheit der Bevöllkerung, die für den Unterhalt ihres Lebens jebt auf beſcheidene Unterjtügungen angewieſen tft, und ‚ber Lage einer Minderheit, die in derſelben Zeit und aus demfelben Anlaß Gewinne bis in die Hunderttaufende und Millionen einftreiht. Der Wider- ſpruch verlangt nad) einem Ausgleid. Wenn Wittſchewſty die Erſchließung diefer Einfommenquelle für das Neid als überflüſſig erachtet, indem er auf das günftige Ergebnis der beiden Kriegsanleihen binmeift, jo feheint er zu überjehen, daß der Krieg noch nicht beendet ift und daß das Neid im Wege der Anleihen doch nur Schulden gemacht bat, 14000 Millionen Dart Schulden, Grenzbsten II 1915 8

114 für die Kriegsgemwinnfteuer

die jährlid 700 Millionen Mark Zinfen erfordern neben den 180 Millionen Zinſen, die auf die bisherige Schuld der fünf Milliarden aufzubringen find. So ganz überflüflig iſt es alfo wohl nicht, allmählich an die Dedung der Schulden oder doch der Zinfen zu denken, wenn es nicht geboten fein follte, den Ertrag der Kriegsgewinnſteuer als Grundftod für die Verforgung der Kriegsinvaliden, der Witwen und Waifen der Gefallenen beifeite zu ftelen. Daß die Kriegsgewinne nicht verwerflih und nur ausnahmsmeife auf eine unerlaubte Ausbeutung von Ausnahmeverhältniffen zurüdzuführen find, ift gern einzu- räumen. Meinerfeit3 habe ich nie etwas andere behauptet, fondern wieder- holt betont, außergewöhnlich hohe Aufträge müßten einen außergewöhnlich hoben Nutzen abwerfen und es fei nicht zuläflig, deswegen von ſchamlos hohen Ge- mwinnen zu ſprechen. Gleichwohl erſcheint mir eine befondere Beiteuerung dieſer Gewinne, die der Natur der Sache nad über das Maß des Gewöhnlichen hinausgehen, wohl gereäötfertigt, weil fie nur durch die fchweren Opfer er- möglidht werden, die die Allgemeinheit für den Schub des Vaterlandes dar⸗ bringt. Niemals läßt fich die Berechtigung einer Abgabe mathematifch bemeifen. Es geht aber gegen die allgemeine Empfindung, wenn man bört, daß eine einzelne Sprengftoffabrit möchentlih 200000 Mark durch Kriegslieferungen ver- dient; man Tann fi) dabei des Gedankens nicht erwehren, von diefem außer- ordentlichen Gewinn könne fie mehr abgeben, ald von ihrem regelmäßigen Ver⸗ dienst in Friedenszeiten. Wenn Wittſchewſky glaubt, daS moralifhe, das Gefühlsmoment aus der Steuerpolitil ausfchalten zu jollen, fo kann ich ihm darin nichtfolgen. „Die gerechte Beiteuerung muß derTheorie und Praxis das hohe, heilige Ziel bleiben,“ fo fagt mit Recht einer der herporragendften Lehrer der Finanz wiſſenſchaft). Was aber gerecht ift, darüber entfcheidet in erfter Linie das Gefühl. In den Urteilen der Gerichte find es auch nicht die Gründe, die uns überzeugen, mögen fie noch fo viel Scharfiinn und Geſetzeskenntnis verraten, fondern die Entſcheidung felbft ift es, wenn fie unferem Rechtsgefühl entipricht, dem Rechte, das mit uns geboren ti. Ganz dasfelbe gilt auf dem Gebiete der Befteuerung. Je länger, je mehr kommt in der Finanzmwiflenfchaft die Lehre von der ausgleichenden Gerechtigkeit zur Geltung. Diefem hohen Grund» fab im Siege, wie im Frieden zum Giege zu verhelfen, das ift das Ziel, welches die Anhänger der Sriegsgemwinnfteuer verfolgen. Sie find weit davon entfernt, plitterrichtend die Auferlegung einer Strafe zu betreiben, fie laſſen fih auch nicht von einem Gefühl der Entrüftung leiten, für welches die Be- gründung in der Regel fehlt, fondern fie ftreben nach einem gerechten Ausgleich eine8 aus natürliden Gründen entftandenen Gegenſatzes und fie find Tühn genug, zu glauben, daß eine Löfung, wie die vorgeichlagene, vielen der Beteiligten felbft ein mwilllommenes Mittel fein wird, einen begreiflicden inneren

*) Franz Meifel im Jahrbuch für Gefeggebung, Verwaltung und Volkswirtſchaft von

Guſtav Schmoller. Jahrgang 85, Heft 1, Seite 868. Vergleiche auch meine Schrift: „Finanzvorſchläge.“ Carl Heymanns Verlag, Berlin. 1915.

$tanfreihs Werben um Belgien 115.

Zwiefpalt der AIntereffen zu einem für alle Teile befriedigenden Abſchluß zu Bringen. Im Auslande madt man fih weniger Schwierigkeiten mit ber Regelung folder Fragen. Der aus fünf Paragraphen beftehende däniſche Gefegentwurf über die Beſteuerung der Kriegsgemwinne, der am 24. Yebruar 1915 dem Folleting vorgelegt ift, enthält in feinen turzen „Bemerkungen zum Entwurf“ als Begründung nur die folgenden beiden Sätze:

„Es wird beabfichtigt, zur Vermehrung der Staatseinnahmen von ben- jenigen Bürgern eine befondere Steuer zu erheben, die infolge des Weltkrieges erhöhte Einnahmen erlangt haben. Man wird e8 nicht unbillig finden, in einer Zeit, in der fo viele unter ſchwerem und fteigendem wirtfdhaftliden Druck zu leiden haben, diejenigen, die unerwartet zu einer Erhöhung ihres Einkommens gelangt find, ftärker zu den Steuern heranzuziehen, damit der Staat imftande bleibt, feinen großen Verpflichtungen nachzulommen.“

Sranfreichs Werben um Belgien

Don Dr. Srig Roepke

Fie Überrennung des belgiſchen Spießgefellen bildete und bildet m noch den Mittelpunft der feindlichen Hehe in neutralen Rändern. Die Fabel von dem unſchuldigen belgiſchen Lamm, das von dem brutalen, beutegierigen deutſchen Wolf zerriffen wird, war die vergiftete Waffe des Dreiverbandes, mit der man uns moralifc toımaden wollte. Daß diefe beuchlerifhen Verleumdungen Erfolg hatten, ver- danfen die Verbündeten zum Teil dem befonderen GSeelenzuftande mancher Reutralen; dann aber auch ihrer frechen Geſchicklichkeit, mit der fie es verftehen, die Dinge auf den Kopf zu ftellen und den Leuten weiszumadhen, Das wäre der richtige Standpunkt.

Die enge diplomatifhe und militärifhe Fühlung Belgiens mit England und Frankreich ift durch die amtliche Veröffentlichung der geheimen Schriftftüde deuticherjeit8 einwandfrei feftgeftellt worden. Die beiden Mächte hatten Belgien vollftändig in ihrer Gewalt, als der Krieg ausbrach. Das franzöſiſche Volk ift auch manchmal aufridhtig genug, den belgiſchen Widerftand als ein Opfer zu feinen Gunften anzufehen. Das belgifhe Volt war das Bollwerk, an dem die deutfhen Angriffe gegen Frankreich und England zerbrechen follten.

Es wird unferen Feinden Geld und Arbeit genug gekoſtet haben, um eine Derartig ftarfe und einflußreiche deutfchfeindliche Partei in dem neutralen Belgien zu ſchaffen. Die bisher veröffentlichten Schriftftüde geben uns nicht viel mehr gr

116 Stanfreihs Werben um Belgien

als die bereit vollzogenen Tatſachen. Über die Mittel und das Verfahren der geheimen biplomatifhen und agitatorifchen Tätigkeit wird uns Hoffentlich die Zulunft noch aufllären. Sie wurde aber noch von einer halboffiziellen und fichtbaren unterjtüßt, die unter dem Schube der belgiihen Neutralität den Raffenftreit zwiſchen Wallonen und Flamen für ihre Zwede ausnubte. Frankreich fand dabei eine ausgezeichnete Hilfe in einem Mittel, das der deutſchen Beeinfluffung fo gut wie ganz entgehen mußte, in der gemeinfamen Sprade, die noch dazu eine der wichtigften und gangbarften Weltſprachen ift.

Seitdem Frankreich im Jahre 1815 Flandern und Brabant verloren hatte, hörte e8 nicht auf, Belgien als politiſches oder geiftiges Stolonifationsgebiet zu betrachten. Die Erinnerung an das ruhmreiche Kaijertum war noch zu ftark in ihm lebendig. Anderſeits war e8 aud) hier in feiner völfifchen Überhebung von der alleinfeligmadhenden Sendung überzeugt, die das Franzoſentum in der Melt zu erfüllen habe. In feiner naiven Unkenntnis und Mißachtung fremder Eigenheiten und Bebürfniffe bat es immer verfudt, fein deal den anderen aufzuhalfen. Zuerft unbewußt und ohne praktiſche Nebenabſichten, nur getrieben von dem geiftigen Hochmutsgefühl der nach Belgien geflücdhteten Franzofen, ftellte fich diefe Ausbreitung franzöfifchen Geiftes allmählich in den Dienft der politiiden Propaganda, bis fie in den letzten Jahren der dritten Republit als balboffizielle Stimmungsmade mit der ftillen diplomatiſchen Arbeit Hand in Hand ging.

Bot das Königreich der Niederlande noch wenig geeigneten Boden für eine franzöfifche Erpanfion, fo war das im Jahre 1830 gegründete Königreich Belgien infolge des Ausſcheidens wichtiger und tätiger germaniſcher Beitandteile dem Bordringen des Romanentums weit günftiger. Die Entftehung der erften geifiig bedeutenden und einflußreichen franzöfifchen Kolonie im neuen Königreich wurde durch den Staatsftreih vom Jahre 1851 veranlaßt, als die führenden Anhänger der Nepublif den Boden Frankreichs verlafien mußten. Die meiften gingen nad) Belgien: Victor Hugo, Deschanel, Challemel-Lacour, Montjau, Bancel, Alerander Dumas. Ihre Haupttätigleit verlegten fie nach Brüffel und Antwerpen; dort bielten fie entweder im engen Kreiſe, wie im Cercle artistique, oder in breiter Dffentlichfeit hauptſächlich Vorleſungen über franzöſiſche Literaturgeſchichte oder freigeiſtige Philoſophie. Ihr Einfluß war trotz des ziemlich geringen literariſchen Intereſſes der Belgier fo groß, daß Baudelaire ſpäter das Urteil fällte: „Gott⸗ lofigfeit und Neligionsfpötterei ftehen hoch in Ehren, dank der Lehre der franzöfiihen Emigranten” (Sn „La Belgique Vraie“).

Die bewußte Propaganda mit politifhem Hintergrund entjteht ungefähr um das Jahr 1900. Sie hat eine ganze Reihe von Sprad- und Rultur- vereinen hervorgerufen, Reden, Aufführungen, Zeitfchriften, Kongreſſe, Banlette, Ausftelungen (fo 3. B. in Roubair 1911 und Valenciennes, beide dicht an der belgijhen Grenze), Verbrüderungsfejte ufw. veranlagt und fi) langſam in das Gehirn der Belgier hineingebohrt, bis nichts anderes mehr Platz batte.

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In diefen legten vierzehn Jahren find unter anderen folgende bedeutendere Vereine zum Zwecke der Verbreitung franzöſiſcher Sprade und franzöfiichen Einflufjes gegründet worden:

Alliance Frangaise, in mehreren Städten. Das Mutterinititut in Paris hält Prüfungen ab und verleiht Zeugniffe, ift alfo eine ſtaatlich anerfannte Anftalt. 1. Kongreß 1905 in Lüttih; 2. Kongreß 1909 in Arel; 3. Kongreß 1913 in Gent.

Amities Frangaises, gegründet 1907 in Lũttich, Sit ebenfalls in mehreren Städten. Rah den Sabungen wollen fie „in einer mächtigen und tätigen (agissante) Geſellſchaft alle diejenigen vereinigen, welcher Partei oder welchem Lande fie auch angehören, bie in der franzöfiichen Kultur eine gemeinfame Lebens⸗ form fehen“ (Marches de l’Est 1910/11, Seite 75). Die ftändige Geſchäftsftelle befindet fi in Paris und wird von drei Franzoſen geleitet.

Cercles des Annales. Die Parifer Annales, die Zeitfchrift des jentimentalen Chauvinismus, gründete an mehreren Drten geſchloſſene Klubs; fie hatten mit den vornehmeren SKreifen Fühlung.

Federation internationale pour l’extension et la culture de la langue frangaise, gegründet 1905 in Lüttih. Jährlich ein Kongreß. Der fiebente fand 1913 in Gent ftatt. Chrenpräfident ift der franzöſiſche Alademiler Henri de Regnier.

Les Amis de la langue frangaise. Sig Löwen.

Diefe Vereine vermittelten allen Städten Belgiens, in denen auch nur ein geringer Bruchteil der Bevölkerung franzöfifeh ſpricht, wie zum Beifpiel in Gent und Arel, alle Regungen des Parifer Geiſtes. Daß diefe Vereinigungen faft fämtli einen deutſchfeindlichen Charakter trugen, ift bei den Zielen ber ganzen gegen den germaniſchen Einfluß gerichteten Beitrebung jelbftverftändlich. Sehr gern wird deshalb über Eljah-Lothringen geiprodhen; jo von Georges Ducrocq, dem Herausgeber der treibenden Pariſer Zeitfchrift „Les Marches de I’Est“, und von Ruyſſen, Profeffor an der Univerfität Bordeaux. Gie bezweden damit, auch den Belgiern die franzöfiihen Scheuflappen anzulegen und ihnen die Anſchauung beizubringen, daß es eine elfaß-lothringiihe Frage gibt, die mit internationaler Hilfe gelöft werben muß.

In Brüffel hatten fi im Jahre 1913 die Vereine [don derartig vermehrt, daß Willmotte fie gar nicht mehr aufzählen kann. Derſelbe Lütticher Hochſchul⸗ lehrer gibt auch einen offenberzigen Bericht über die Tätigkeit und Ziele der Bereine (Revue de Belgique, 1913, Seite 1044): Eine einzige Vereinigung bat innerhalb fieben Jahre fechzig franzöſiſche Redner eingeladen. Es handelt fi) meiftens um ftreng gefchloffene Gejellihaften (jalousement fermees). Die Zaienprebigten der franzöfifhden Redner feien nicht ohne Einfluß auf bie Gefinnung der Bevölkerung geblieben. Das Publitum babe ſich gewöhnt, von den „Propagandiften Überzeugungen zu verlangen“. Die Tätigleit der einen fei bewußt und programmmäßig feitgelegt; die anderen wirkten auf Ummwegen und

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faft unfreiwillig. Aber alle verherrlichten täglih die franzöfſiſche Kultur Selbft folche Vereine, deren Zwed die Beichäftigung mit der belgiſchen National- literatur wäre, hätten dabei ihre feſt umgrenzte Aufgabe. Sie feien bie Verlörperung einer furdhtbaren bee. Sie hätten ihre Yahne und “Parole, und morgen Fönnten fie in den Kampf ziehen. „Ihr Ziel tft fein anderes als den DVertrag von 1830 zu zerreißen, das nationale Xeben zu fpalten, das Parlament machtlos zu maden und den König zu zwingen, zwiſchen feinen Untertanen zu wählen.” Alſo der König zwiſchen zwei Stühlen. Das beißt, er dürfte fi nur auf ben feen, der ihm angeboten würde. Und die Wallonen, die das Entitehen der Republik miterlebt und ihre Ideen mitempfunden hatten, die feit fechzig Jahren von freigeiftigen und radilalen Franzoſen bearbeitet werden, deren Sauptorgan, die Independance beige, einen ausgefprocdhen antiflerifalen Charakter trägt, follten fi dann nicht zu Frankreich neigen? Deutlicher Tann man das politiſche Ziel der Alliance Francaise und ihrer Genoſſen nicht zum Ausdrud bringen.

Die franzöfiiden Behörden haben oft genug gezeigt, welche amtliche Teil- nahme fie für die Beitrebungen der Vereine empfanden. Den franzöfifchen Geſandtſchaften und Konfulaten wurde Geld zugeftellt für alle, die im franzöfifchen Anterefie arbeiteten. An Drden und Auszeichnungen wurde nicht geſpart. So berichtet das flämifche Blatt „Unze Stam“: So maden die Französler alles zugunften Frankreichs, feiner Sprade, Ideen, Kultur und Sitte. Frankreich ernennt fie, um fie für diefe Zwecke zu belohnen, zu officiers d’Acad&mie oder officiers d’instruction publique.. Im Sonderzuge wurden die Mit- glieder der Amities Frangaises nad Balenciennes gefahren, wo fie der Unter- präfelt, alfo ein Staatsbeamter, feitlid empfing, bemirtete und beweihräucherte (Marches de I’Est, 1912/13, Seite 775). Auf den Kongreſſen der Alliance Frangaise bat der franzöfiide Gefandte Gerard mehrmals die erfte Rolle geipielt.. Zum Weihnachtsfeſt derjelben Bereinigung in Luxemburg erſchien fogar General d’Amade, der befannte Befieger Maroflos, damals Befehlshaber des 6. Armeelorps, nahdem man einige Tage vorher mit franzöfifchen Luſt⸗ ipielen und franzöfifder Muſik Stimmung gemadt hatte. „Wie gewöhnlich verſchönten zahlreiche Dffiziere den Ball, die aus den benachbarten Grenzgarnifonen herbeigefommen waren“ (Marches de I’Est, 1912/13, Seite 651). Ja, ber Bürgermeifter von Lyon, Herriot, trieb die Dreijtigkeit foweit, auf einer Tagung der erwähnten Fédération internationale öffentlich für den franzöfifchen Charakter der Univerfität Gent einzutreten, die von den Flamen beanfprudt wurde. Wenn der Bürgermeifter ber drittgrößten Stadt Frankreichs es wagt, in einer fo wichfigen innerpolitiihen Frage das belgifche Volt zu beeinfluffen, dann handelt es fidh natürlich nicht um eine Kathederrede von rein ſprachlicher oder Fultureller Be- deutung, jondern um die offenbare Ausnugung der belgifchen Neutralität zu politiihen Zmeden. Wenn dann der tölpifhe Belgier allzu Iaut erfennen läßt, daß er die franzöfifhen Abfichten verjtanden bat, und die Forderung

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aufftelt, die Alliance Frangaise folle in die belgifhen Wahlen eingreifen, Frankreich folle alle franzöfifchen Blätter in zweiſprachigen Ländern fubventionieren (Alldeutihe Blätter, 1909, Seite 13), fo ſpricht er nur offen aus, was der feinere und diplomatifch gefchichtere Franzoſe gedacht und im ftillen getan bat.

Die ſchönſte Gelegenheit, das franzöfifhe Banner zu entfalten, boten die beiden belgifhen Weltausjtellungen von Lüttih und Gent. Hier wurde die Auf- forderung zum allgemeinen friedlichen Wettbewerb von der franzöfilhen Regierung. und allen Kampforganifationen ausgiebig benugt, um Frankreich zu verherrlichen die belgiſche Bevölferung zu blenden und zu überreden. Alle Vereine bielten während der Ausitellung Kongrefje ab und veranftalteten Vorträge. In Lüttich trieb e8 die Alliance Frangaise fo arg, daß die belgiiche Negierung ſich bei ihrer Tagung nicht vertreten ließ. Die Mitglieder fangen die Marſeillaiſe auf den Straßen und in den Kneipen und liefen mit einer Trifolorelofarde herum (Ald. Bl. 1909, ©. 13.) Auf der Genter Weltausftelung überragte die Be- teiligung Frankreichs die der anderen fremden Staaten fo ftarl, daß feine Gebäude für fih allein einen größeren Flächenraum bededten als die der anderen auswärtigen Länder zufammengenommen. Die Beteiligung Frankreichs war auch im Gegenfaß zu der der übrigen Staaten eine offizielle. Willmotte beridhtet (Revue de Belgique, a. a. O.), daß „Frankreich Hundert Redner herũbergeſchickt hatte, die alle die Wunder der franzöſiſchen Austellung unter fämtlihen Geſichtspunkten erläuterten”. Daneben überftürzten ſich faft die Kongreffe der verjchiedenen Dereine, die fi zu dieſem Zwecke wieder in Geltionen geteilt hatten und in deren Mitte Männer wie Doumic, Ribot, Nichepin, Donnay, Capus, Victor Margueritte den geiftigen Anfchluß Belgiens an Frankreich beforgen follten. Zum Yebruar wurden die Genter Stabtver- ordneten von der Stadt Paris eingeladen. Die Gegeneinladung erfolgte im April. In diefem Monat wurde die Ausftellung eröffnet, was franzöfifchen Miniftern und anderen Vertretern der Republik eine willlommene Gelegenheit bot, nah Gent zu fahren und die Belgier der franzöfiihen Freundſchaft zu verfidern. Beim Gröffnungsbanlett, am 26. April, ergriff außer belgifchen Miniftern, Bürgermeiftern ufw. von ausländifchen Vertretern nur der franzöfifche Generalkommiſſar Marraud das Wort. Bald darauf befuchte der franzöfifche Unterftaatsfelretär der ſchönen Künfte, Leon Berard, offiziell die Kunftaus- ftellung. Bei Eröffnung der franzöfifchen Abteilung fand ein offizielles Bankett mit belgifden Gäſten unter Vorfitz des Generallommiffars ſtatt. ALS Die franzöſiſche Kolonialausſtellung eröffnet wurde, feterte man ein neues Felt, an welchem der franzöſiſche Kolonialminiſter und franzöfiihe Abgeordnete teil nahmen. Wer fi) die Mühe nimmt, die Independance beige aus jener Zeit burchzublättern, der kann fi von dem Umfang der franzöfifhen Werbearbeit einen Begriff mahen. Daß es ihr nicht nur um die Gewinnung der idealen Anhänglichleit Belgiens zu:’tun war, hat Willmotte offen zugegeben. Er bat auch angedeutet, daß fie ein ganz konkretes politifches Ziel erreihen mollte:

120 Ein Blid in die Wo&vre, das Porland von Coul und Derdun

die Spaltung Belgiens und die friedliche Decupierung des franzöſiſch Iprechenden Teils durch die Republik. Die Durchdringung mit franzöſiſchem Geiſte wurde um fo energifcher und eindringlicher ins Werk gefegt, je deutlicher es in ben legten Jahren wurde, daß Deutichland eine wirtſchaftliche Notwendigleit für Belgien war. Man wollte, daß die Wallonen den Blid ſtarr auf Frankreich hefteten und in ihm dem unentbehrlichen, ftarfen Freund ſahen. Die gemeinfame Sprade bildete dabei, wie gejagt, ein wichtiges Mittel zur Schaffung bes nötigen Gemeinfamleitsgefühls; fie erleichterte und verbedte auch die ſtarke Mitwirkung ber franzöfifhen Regierung. Und wie der, Spradenitreit ſchließlich in einen politiihen Kampf ausartete, jo war die ganze Vereinstätigfeit nur die Vorbereitung und Verfchleierung des politiſchen Einverjtändnifjes, das ür die Franzoſen befonders wichtig war, weil Belgien nad) der vollitändigen Durchführung der Heeresreform eine Militärmacht von nicht zu unterfdägender Bedeutung hätte werden können.

Daß diefes Bündnis uns nicht zu gefährlicd wurde, dafür haben Heer und Führer geforgt. Aber wir werden genug zu tun baben, um all das wieder zu vernichten, was die Franzofen unter Mißbrauch der Neutralität an Deutſchenhaß und Verblendung in Belgien gefät haben, und um die germanijch- romaniſche Kulturgrenze aus der gefährlihen Nähe wieder nad Weiten bin zu rüden.

Ein Bli in die Woepre, das Dorland von Toul und Derdun

Don Prof. Dr. Reihlen

enn beutzutage von Toul und Verdun bie Rede ift, jo find untrennbar damit verbunden die Namen Argonnen und Moore. So geläufig bei uns feit jeher der Name des Argonnerwalbes RN iſt vielfach allerdings nur der Name —, fo fremd war wohl a pisher für die meiſten Deutfchen nad) Name wie Lage bie Woëvre, da8 Borland von Toul und Verdun, oder genauer das Borland der Côte Lorraine, Hinter deren Abdadhungen die großen Maasfeſtungen Tiegen. Und doch haben viele deutfche Touriften die Woevre gejehen, all die zahl⸗ reihen Befucher der „Schlachtfelder“ bet Metz haben ihren Rand betreten. Wer bei fichtigem Wetter von dem Fleinen Hügel bei Mars-la-tour, der das befannte franzöfifde Schlachtendenkmal trägt, hinausgeſchaut bat, ber bat den größten Teil der Korn- und Schlachtenebene der Woëvre überblidt. Schaut man von jenem Denkmal nad) Norden, fo fließt die breite Ebene erft mit

Ein Blick in die Wo&ore, das Dorland von Toul und Derdun 121

dem Horizont ab, im Süden verliert fie fi unbeftimmt in dem hügeligen Gelände zwiſchen Toul und Nancy. Scharf abgegrenzt dagegen ift die Wodore nah Weiten, gegen Berdun— Paris zu. Da ftarrt wie eine Mauer bie Eöte Lorraine, ein natürlicher Riefenwall für die Sperrfortskette Toul Verdun. Gegen Deutfchland bildet die Grenze der Woëvre die Hügelfette, welche der Mofel vorgelagert if. Wenn man die etwa 60 Kilometer lange und 15 bis 25 Kilometer breite, faft topfebene Senle zwiſchen den beiden Höhen- zügen ins Auge faßt, fo wird man dem Geographen Frankreichs, Joanne, bei⸗ pflidten, wenn er die Woeëvre als eine eine natürliche Provinz bezeichnet, wie wir etwa die Wetterau. Was ihren, für unfer Ohr fo feltfam Flingenden Namen anbelangt, fo gibt Joanne nur an, daß er in der Meromwinger Zeit al3 pagus Vabrensis auftritt; eine Ableitung oder Erllärung des Wortes verſucht er nicht; vorausfichtlich ift e8 uralt und keltiſchen Urſprungs.

Folgt man der Hauptverfehrsader der Landichaft, ver Straße und Eifen- bahn, die von Meb ausgehend über Ehambley, Mars⸗la⸗tour nad dem großen Knotenpunkt Bonflans— Jarny und weiterhin nad) Eteint zieht, jo bat man immer dasjelbe Bild vor fi, eine Ebene, in der man kaum da und dort einen Waflerlauf leicht eingefchnitten fieht und deren Eintönigleit nur durch die Steinhaufen ihrer Dörfer unterbrochen if. Wenn ich fage „Steinbaufen”, fo ſoll das nicht etwa beißen, daß die ziemlich fpärlihen Dörfer alle zu- ſammengeſchoſſen wären obgleich einzelne ziemlich gelitten haben —, fondern id mödte nur den Eindrud wiedergeben, den diefe aus Brudjfteinen aus—⸗ geführten Häufer machen, wenn fie nicht verpußt find oder wenn der Verpuß, wie e3 meiftens der Fall iſt, den ſchmutzigen Lolalton angenommen hat. Einen braud)- baren Hauftein Liefert die WoEore nirgends. Die meiften Häufer haben an ber Straßenfeite einen kunſtvoll regelmäßig gezogenen Spalierobjtbaum, aber bie Dbftwälder, die ſuddeutſche Dörfer fo freundlich einhüllen, find nur andeutungs- weife vorhanden; dadurch wird der kahle Eindrud noch geiteigert. Die Dörfer find Straßendörfer, die in der Hauptſache nur aus einer Häuferzeile längs der durchziehenden Landitraße beftehen. Manche ſehr große Scheunen laſſen auf Wohlhabenheit einzelner Bauern fchließen, im ganzen maden die Dörfer aber einen ziemlich ärmlichen Eindrud. Die Kirchen, deren Bau und Ausftattung immer einen gewiſſen Gradmeſſer für den Wohlftand einer Gegend abgeben, betätigen das Geſagte. Die Einwohnerzahl der Woẽevre ift auch ſchon lange im Rüdgang. Etwas wohlhabender fehen die an der Bahn liegenden Drt- haften aus, zum Beiſpiel Mars-Ia-Zour, das aber im mefentliden auch nur aus einer fehr breiten, fchlecht gebaltenen Straße beſteht. Die Häufer find obne Zwiſchenräume aneinander gebaut, ſehr gleichartig und ihre ziemlich fladen, vielfady gleihhohen Dächer, veritärken noch das Gleihmäßig-Langweilige in dem Bild dieſes balbitädtifchen Dorfes. Immerhin haben die alten Teile ber an der großen Straße liegenden Ortſchaften da und dort etwas Eigenartiges und mandmal macht ein altes Herrenhaus mit mauerumfchloffenem Park oder

122 Ein Bid in die Wokvre, das Dorland von Toul und Derdun

eine Kirche das Ganze etwas anſehnlicher. Eine irgendwie baulich bervor- tragende Kirche habe ich indeflen nirgends geſehen, es fei denn bie beinahe als franzöfifhe Ruhmeshalle ausgeftattete, neue Kirche in Mars - la» Tour. Hin und wieder erzählt ein vermwittertes Haus mit ftattlichem Hoftor und gepflaftertem Hof von befjeren Seiten, ober ein mit hoher Steinmauer eingefriedigter Garten mit gefchnittenen Lauben und buchsbaumeingefaßten Beeten erinnert an franzöfiide Gartenkunſt. Aber auch da, wo ein Haus etwa8 weniger Tahl ausfieht und Mohnlichkeit ahnen läßt, glänzen Die „Tanitären Einrichtungen“ durch Abweſenheit ober äußerft rubimentäre Be⸗ ſchaffenheit. Ich habe mich deshalb nicht enthalten können, die von unferen Truppen errichteten diesbezüglichen Einrichtungen, die fich in ihrer Ausgeftaltung nad militäriſchen Rangſtufen unterfeheiden, als Kulturdenkmäler auf die Platte zu bannen. Ein weiteres Zeichen der Anweſenheit deutfcher Truppen find aud) riefige, wohlgepflegte Dungjftätten und —. Auf jenen tummeln fi) gadernde Hühnervölfer, ein Beweis, daß nicht alles Eßbare den plündernden Barbaren zum Opfer gefallen ift.

Biel malerifcher als die Dörfer find die „Fermes“. Es find dies, wie ber Name fagt, geichloffene, oft recht anfehnliche Höfe, für deren Anlage mit Borliebe eine Kleine Bodenmwelle gewählt tft; fie ähneln mit ihren faft fenfter- Iofen Außenwänden den alten Räuberneftern in den Gebirgen Italiens, bergen im Innern aber manchmal ftattliche Räume und guten Hausrat.

Die Eintönigleit der Woevre⸗Landſchaft ift bedingt durch die Gleich- mäßigfeit der geologifchen Unterlage. Sie befteht aus tonig-falligen Ausbildungen bes braunen Jura, die wenig wafjerdurdjläffig find und eine ſchwer zu bearbeitende Aderfrume entftehen laſſen. Wo nicht für genügende Entwäflerung gejorgt ift oder geforgt werden kann und dies ift auf ziemlich großen Flächen der Fall findet man naffe Wiefen, die in wirklich fumpfiges Gelände übergeben können. Da und dort find auch Heine Waldſtückchen, die aber in der eigentlichen Moore zu Hein find, um das Landfchaftsbild zu beeinfluffen. Im Frühling und Sommer mag das gemaltige Korn: und Wiefenmeer der Woëvre mit dem weiten Himmelsdom darüber etwas Herrliches, Großartiges haben, aber fo wie ih die Gegend angetroffen habe, in einem lauen, regnerifchen Dezember, der den Boden allenthalben mit Waffer durchtränkt batte, jahen die abgemauften Telder, in denen Roß und Mann beinahe fteden blieben, die ſchnurgeraden Straßen mit ihrem unregelmäßigen Beſatz ſchlecht gewachſener oder veritümmelter Maldbäume und die Meinen Waldftüde recht trübfelig aus. Diefe Waldfetzen erinnern ganz an die VBeichreibung der Argonnen: alles voll Unterholz und darunter viel Dorngeiträpp, Arten, die auch bei uns für Hände und Stleider nicht harmlos find, die dort aber eine ganz ungeahnte Bösartigleit, jo etwas Verbiſſenes, Franktireurartiges entwidelt haben.

Wenn man über die Woëẽvre binmwegfchaut, fo findet man, wie nad) dem Gefchilderten nicht anders möglich, nirgends eine rechte Landmarle, auf der

Ein Blick in die Wo&ore, das Dorland von Conl und Derdun 123

da8 Auge ausruhen und ſich einftellen könnte. Um fo ficherer zieht es ben Blid immer wieder hinauf zu dem gleichmäßigen Kamm des mächtigen Berg- walls der Côte Lorraine, der das Bild abſchließt. Wir müſſen immer wieder hinũberſchauen, aud wenn uns nicht ein Flieger, der hoch über den Bergen kreift, oder die Schrapnellmölfchen, die ihm folgen, in ihren Bann ziehen.

Das Fehlen von Landmarken verhindert in auffälliger Weiſe ein richtiges ESchätzen der Entfernungen, und man ift erftaunt, wenn man ſich dem Fuß der von weitem jo ſtattlichen DBerglette nähert, daß dieſe immer niebriger wird und auf eine Erhebung von 200 Metern über die Ebene zufammenfchrumpft, deren Meereshöhe felbft ebenfalls 200 Meter beträgt. Dafür fieht man dann, daß die Cöte nicht jo ungegliedert ift, wie es von weitem fcheint; man erfennt da und bort eine Bergnafe und findet die vielen Runſen heraus, durch die die zahlreichen Bächlein berunterriefeln, welche bei „Sonflans“ zufammenfommen, um mit der Drne der Mofel zuguftrömen.

Während wir den Oſtabhang der Cöte betrachten, ſchweifen unfere Ge- danken unmwillfürlich hinüber über die Höhe nah Gt. Mihiel und Camp des Romains, wo die tapferen Bayern ftehen und meiter nad Verdun. Ein franzöfifcher Kriegsichriftfteller ſchrieb, offenbar unter dem frifchen Eindruck von Mars-la-tour und St. Privat, daß die Moore der Schauplatz ſchrecklicher fünftiger Zufammenftöße fein werde. Diefer Traum von großen Feldſchlachten mit Reiterlämpfen in ber allerdings dazu wie geſchaffenen Ebene ift bis jet nicht in Erfüllung gegangen und wird auch ſchwerlich in Erfüllung geben; dagegen ift die Woẽëvre mit ihrer Hauptitraße Met, MarS-lastour, Conflans, Etaint widtig geworden als Etappengebiet, und vielleiht wird man nach dem Feldzug von ihr hören.

Es ift nicht allgemein belannt, daß im Frankfurter Frieden bei der Ab⸗ grenzung bes „Glacis von Met“ nicht bloß militäriſche Geſichtspunkte maß⸗ gebend waren, fondern auch wirtichaftlihe. Auf den Nat eines Geologen war beſchloſſen, auch die der Feftung in weiterer Entfernung vorgelagerten Erzlager- ftätten in deutſchen Beſitz zu bringen, obgleich deren Wert damals noch nicht voll geſchätzt werden konnte. Das lothringiſche Eifenerz, die „Minette“, ein bis zu 49 Prozent elfenhaltiges Geftein, enthält auch viel Phojphor, und das „Zhomasverfahren“, welches die Verwertung diefer mit Phoſphor „verunreinigten“ Erze erft recht ermöglicht, lag damals no in den Windeln. Mittlerweile bat fi berausgeftellt, daß das Gebiet der Minette, des juraffiihen Eifen- fandfteins, unterirdifh weit in das damals bei Franfreich belafjene Lothringen binübergreift. In der Gegend von Conflans ift 3. B. bei Droitaumont ein praͤchtiges Minettewerk, da8 der Firma Schneider in Ereuzot gehört. Port fördert ſchon lange ein preußifcher Ingenieur mit den vorgefundenen ein- beimifhen Arbeitern und einem franzöfifhen Ingenieur das Erz zu Tage, das für franzöfiihe Kanonen und Panzerplatten beftimmt war. Auch deutſche Sroßinduftrielle haben dort Belt. Diefe großartigen Werle mit ihren hoben

124 Ein Blid in die Woëvre, das Dorland von Toul und Derdun Sördertürmen und mächtigen Waflertürmen und mit den großen Arbeiter⸗ anfiedlungen haben in den lebten Jahrzehnten einen ganz neuen Zug in das Bild der aderbauenden Woeore gebracht, und auch in das der Bevölkerung. Die einheimifche Bevölkerung ift von Mittelgröße oder auch etwas darunter. Die ziemlich Träftig ausgebildeten Dber- und Unterkieferknochen, altgallifche Merkmale nad) Joanne, verleihen den Gefichtern etwas Hartes, das namentlich bei der Weiblichkeit, wenn fie nicht mehr ganz jugendlich ift, unangenehm auffält. Da diefe offenbar feit Urzeiten hier angefeffene Raſſe wenig kinderreich it und dazu den fargen Boden der Heimat in Scharen den Rüden gewandt bat, find es jebt vielfach taliener, die in den mit, Zirkel und Lineal her⸗ geftellten Arbeiter- Kolonien haufen. Die italienifchen Arbeiter felbft waren natürlich während des Krieges nicht mehr anzutreffen, aber ihre „Cafes“, die von italieniſchen Fabrikgegenden ber befannten Lotterfallen mit den verlodenden Namen zeugen von dem neuen Bevöllerungsbeitandteil der Woſsvre. Das Etappenkommando bat ſich Übrigens veranlaßt gejehen, dieſe Wirtichaften zu fließen. Das große Schneider'ſche Wert bei Gonflans dient indeflen dem Reich gegenwärtig nicht bloß durch feine eigentliche Beitimmung, fondern aud) durch feine wirklich gediegene große Braufebadanlage: das Werk heikt in der Umgebung bes großen Etappenortes Conflans nur „das Bad” und immer wieder kann man Zügen von Soldaten begegnen, die aus ber ganzen Gegend mit ihren Handtüdern unter dem Arm der gaftlicden Stätte zuftreben. Um die Gunjt der Verhältniffe ganz auszunüten, bat fi das Wert auch noch als Klinik für wegemüde Automobile aufgetan.

Was aber im Winter 1914/15 der fonft fo Stillen, weltabgelegenen Wo&vre ein befonderes Gepräge aufgebrückt bat, ift der Riefenverlehr auf ihren Landftraßen, die dem guten Ruf der franzöfifden Landftraße Ehre machen. Ber cdhauflierte mittlere Zeil der „Straßen erfter Ordnung“ ift in einer für zwei Wagen reichlid genügenden Breite troß der großen Inanſpruchnahme im Dezember noch in gutem Stand gewefen; zu beiden Seiten aber befand fi in Breite von etwa einem Meter, offenbar an Stelle des früheren Gehmeges, eine Schlammgaffe, in der ausweichende Fuhrwerle tief einſanken. Unausgeſetzt be- gegnen fi auf diefen Verkehrsadern lange Wagenreihen mit Nahrungsmitteln, Stroh, Schügengrabenöfen, Feldpoft, Munition und andern nötigen und an⸗ genehmen Dingen. Zwiſchen den mühſam ausweichenden Kolonnen raſen Automobile hindurch, die in einem Augenblid den Wanderer in die Lokalfarbe der Wodore Heiden, wenn er e8 wagt, ſich zwiſchen all dem Fuhrwerk durchzu⸗ arbeiten, um da und dort einen Blid zu erhaſchen, wie ihn eben nur der Fußwanderer auffangen kann.

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Abichied (Im Bollston)

Morgen geht's hinaus ins Feld! Mußt dic) drob nicht grämen! Mußt, wie ich, als tapf’rer Held Deinen Schmerz bezähmen!

Bit du nicht von deutfchem Blut, Deutfher Art und deutfhem Mut? Halt dich gut,

Mädel! Sollft dich fchämen!

Slaubit, ich könnte, dummes Ding, Jemals dein vergefien?

Nie bat jo der gold’ne Ring

Feſt wie heut gefefjen !

Do bat alles feine Reih':

Eh’ wir Hochzeit machen, fet Deuiſchland frei!

Merk's und freu’ dich deifen!

Fürchteft du der Feinde Droh'n, Die uns rings umlauern?

Hab’ Vertrau’n, ihr Haß und Hohn Kann nit ewig dauern.

Schlagen deutiche Fäufte zu, Tindeft Frieden, findeft Ruh'

Bald au du!

Braudft darum nicht trauern!

Und wenn mich Gevatter Hain MWirfli will verderben, Soll mein letzter Seufzer Dein Denken no im Sterben! Burfchen gibt es mehr mie mid! Alles and’re findet fich! Tröfte dich! Sollſt das Ringlein erben!

Roderich Ley

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Dolitit

Unfer Better Tartuffe oder Wie England feine Kolonien erwarb. Bon Dr. Richard Hennig. Herausgegeben von Weltverkehr und WVeltwirtfchaft, Berlin, Hermann Baetel, Verlag, &.m.5.9., 1914. Preis M. 1.20. 47 Seiten.

Diefes Bud ift eine fehr intereffante Er⸗ fheinung. In unferer Jugend hat man unter dein Drud der Zeit die deutſche Geſchichte in der Schule dargeftellt als nur beeinflußt von der politifhden Haltung Frankreichs gegen Deutichland. Darüber ift England ftiefmütter- ih vergefien worden, und infolgedefjen ift auch unter den fogenannten Gebildeten Deutſch⸗ lands vielfach unbekannt, welche weltgeſchicht⸗ Iihe Bedeutung die Gründung der oftindifchen Kompagnie am 22. September 1599 batte. Bon ihr datiert Hennig mit Recht die Ente ftehung des britifhen Weltreiches, an deſſen Schaffung und Mehrung jeder engliiche Staats mann mit fehr viel Klugheit, aber mit noch größerer Geiwiffenlofigfeit gearbeitet hat. Mit Geſchiclichkeit und objektiver Wiſſenſchaftlichkeit ftellt Qerfaffer dar, wie England feine koloni⸗ fierenden Nebenbuhler, Spanien, Portugal, Sranfreih, Holland ſtrupellos niedergerungen bat. Bon dem Augenblid ab, in dem Bismard deutſche Kolonien erivarb, war ed jedem Eng⸗ länder ar, daß der Zufammenftoß der ger« manifchen und englifhen Welt unvermeidlich wurde. Hennigs Schrift beiveift, daß die Borfehung uns einem Feinde gegenüber ger ftellt hat, dem der Krieg feine fittlidhen Ber ſchwerden madt, der den Willen zur Macht für weniger Loftipielig hält, als die juriſtiſch⸗ diplomatifhe Gewähr und ihr Gefolge, die Schwäde. Eine große Menge wiſſenswerter Einzelheiten ift aufgehäuft, die und nötigen,

umgulernen und zugulernen, bedeutfame Augen⸗ blide ber Kolontalpolitit aller Länder dem Gedächtnis einzuprägen. Als ein Motto neben anderen bat der Verfaſſer da® Belenntnis einer fhönen Seele, des Lord Derby, gewählt, der ſchon im Sabre 1857 fagte: „Unfer ganzes Verfahren gegen andere Nationen ifl ſchamlos in hohem Grade Gereihen die Megeln des Völkerrecht? zu unferen Gunften, fo dringen wir auf Vollzug, find fie es nicht, fo laſſen wir fie ungeftraft übertretien. Die Geſchichte des Seerechts, des Seeunrechts, ſteht da als unvertilgbares Zeugnis der grenzenloſen Selbſt- und Habſucht des eng⸗ liſchen Volkes und feiner Regierung.“ Heinrich Neuß

Heeresweſen

Als vor zwei Jahren die kriegeriſchen Ereigniſſe auf dem Balkan über ganz Europa Wellen der Erregung ſandten, brachten die Grenzboten einen nachdenklichen Aufiag*), dem ein Werk zugrunde lag, das trotz ſeines ehrwürdigen Alters heute noch mehr als da⸗ mals wahrhaft zeitgemäß iſt. Auch wenn nicht das Erſcheinen einer neuen, verbeſſerten Auflage (jetzt im Verlag von B. Behr [Friedrich Fedderfen], Berlin⸗Steglitz. Preis gebeftet 7 M., in Halbleinen 8,50 M., in Halbleder 10 M) den befonderen Anlaß böte, wieder auf das Bud „Vom Kriege” des Generals von Clanſewitz hinzuweiſen, müßte inmitten unfere® großen Kampfes daran er» innert werden, baß mir in dieſer Riederfchrift von Gedanken, die vor beinahe Hundert Jahren Clauſewitz' machtvollen Geift bewegten,

*, Vom Kriege? Von Janus. Grenz⸗ boten 1913, Heft 16.

Maßgeblihes und Unmaßgebliches

einen Schatz befifen, um den uns jede Ration beneiden muß. Lffenbar ift e8 der Umftand, daß bier ein General „vom Kriege” bandelt, der die weiteren Sreife leider zu oft dapon zurüdhält, diefen Schatz zu heben. Seder aber, der e8 wagt, erfennt fehr bald, daß es ſich hier um Betrachtungen handelt, die weit über das rein Militäriiche hinaus greifen. „Der Krieg ift eine bloße Fort⸗ jegung der Bolitit mit anderen Mitteln,” fagt Clauſewitz, und wir ziehen daraus bie Holgerung, daB in ihm diefelben Momente wirfiam find, die das Wechſelſpiel des Lebens beherrihen, dad in der Politik Fryftallifiert eriheint. Da der Krieg, nad Clauſewitz, eine moralifhe Größe ift und es „eine arms felige Philofophie ift, wenn man nad alter Art feine Regeln und Grundſätze diesfeits aller moraliihen Größen abichließt”, findet Clauſewitz auf Schritt und Tritt Gelegenheit zu feinen pſychologiſchen Beobachtungen, die and die Analyſe des Krieges zu einer Bhilofophie des Lebens werden lafien. Diele aber ift da® Wert einer Trafıvollen Perſön⸗ lihfeit, die mit Bismarckſcher Treffjiherbeit und ausgeprägtem Schönheitögefühl den rechten Außdrud für jeden Gedanken zu finden weiß. Wer niht Muße findet, den Verfafier durh das umfangreihe Wert zu begleiten, wird ſchon durch die Lektüre einzelner Ab⸗ ſchnitte reihlih Genuß und Belehrung finden. Bir möchten überdied wiederholen, was bor zwei Jahren an diefer Stelle gejagt wurde: „Das Bud gehört in die Volksbibliotheken und in die Öyninafien, dorthin, wo fich der Geift fehnt nad Hilfe und Klarheit in dem betörenden Wirrwarr der Innen» und Um⸗ welt.” Heute, da uns das Leben vor feine größten Rätſel ftellt, ift aber diefed Sehnen mebr denn je lebendig.

Die Benugung des Werled wird dur das für die vorliegende neue, neunte Auflage vielfah vermehrte Sad» und Namenver⸗ zeichnis mefentlih gefördert. Möge dem Wunſch feines Verfafferd, des Oberftleutnants a. D. Paul Ereuginger, daß e8 da3 Studium der Lehre unſeres großen Sriegsphilofophen erleihtern, frudtbar maden und zu ihrer Zortentwidiung beitragen fol, Erfüllung

werden. er "

Schöne Kiteratur

Ferdinand Gregorovius als Dichter von Dr. Johannes Hönig; der Breslauer Beiträge zur Literaturgefchichte in neuer folge Band 39. 3. 8. Metzlerſche Buchhandl., Stuttgart 1914.

Durd die Vorgänge in Oftpreußen ift der in weiteren Streifen etwas in Vergeſſenheit ge⸗ ratene Hiſtoriker⸗Poet Ferdinand Gregoropius fogufagen wieder altuell geworden. In Lite» rariihen Kreiſen erregte die Nachricht von der durch die Ruſſen erfolgten Zerjtörung des Gregoroviusfhen Geburtshaufes und Rad lafje® in Neidenburg lebhaften Unwillen. Letzterem bat zwar der rufjifche Vandalismus nit viel anhaben können. Die handſchrift⸗ liche Hinterlaſſenſchaft befindet fid in den Händen von Privatperfonen, die Bücherei in der Münchener Kgl. Bibliotdel. Nur das bon Schumader gemalte Bild von Grego« rovius dürfte verloren gegangen fein. Ange fiht3 unfere8 gegenwärtigen Verhältniſſes zu Rußland ift es gewiß recht intereffant, ſich eine® Urteil® Sregoroviuß über Rußland zu erinnern. Er ſchrieb:

Nom, 10. Juni 1858.

„Sie (die Ruſſen) haben fühne Ideen und Balten Rußland noch für jung. Ihre Pros jette gehen auf SKonftantinopel, Prag und Zemberg, kurz, auf die Herſtellung des oftrömiichen Reiches durch den Banflawismus. Aber Rußland ift ein halb mongoliſches Wefen, ohne Genie und Tatkraft. Der Deutihenhaß dort fließt aus dem Bewußtjein der geiftigen Abhängigkeit vom Germanentum, vielleicht auß der inftinktiven Ahnung eines bevor» ftehenden Zuſammenſtoßes mit Deutichland, wenn diejed ein einige® Reich geworden fein wird...

Wenn auch der Roman von Gregorovius „Werdomar und Wladislaw“ (1845) oder fein Zejedrama „Der Tod des Tiberius” oder dad Epos „Euphorion“ (1856) gegenwärtig kaum auf Intereſſe rechnen können, fo ift doh die „Gelchichte der Stadt Nom” auch in unferer Zeit noch wertvoll, nicht zuletzt um ihres poetifhen Gehalts willen, den die ſtrenge Fachkritik allerding® als Mangel an diefer geſchichtswiſſenſchaftlichen Großtat emp⸗ findet. Hönig, dem auch umfaſſende hiſtoriſche

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Kenniniffe zur Verfügung ftehen, fucht Hier Licht und Schatten gerecht zu verteilen: „Ver⸗ ſucht man aus der Verſchiedenheit der Anfichten Gregorovius unbefangen eingufchägen, fo wird man zu dem Ergebni® kommen, daß bei ihm eine das Durchſchnittsmaß wiſſenſchaftlicher Forſcher bedeutend überſteigende dichteriſche Begabung Form und Stil feiner Werke ge⸗ boden und dem Ganzen den Stempel eines hervorragenden Geiſtes aufgedrüdt bat. Gegenüber einer nicht zu beftreitenden Unzu⸗ länglichteit, die indes nicht fo bedeutend fein fann, daß fie feinen Schriften auch ald Fach⸗ fhriften den Wert nähme, ergibt fi) das unleugbare Berdienft einer großen fchrifte ftellerifden Tat.” Diefe vorfihtig wägende Objektivität ift neben der genauen, Sad) fenntni® und der fehr fleißigen Sammlung des Materiald ein bejonderer Vorzug der Hönigihen Monographie. Nicht nur die rein« dichterifchen Werke werden einzeln abgehandelt, fondern au die Hiftorifhen erfahren eine erihöpfende Würdigung ihres poetiſchen Mite gehaltes, desgleihen die Reiſeſchilderungen und Geſchichtswerke. Die Beziehungen zwiſchen Leben und Schaffen find nad Möglichkeit aufgebellt, ſoweit fih da8 bei dem Mangel an Briefmaterial eben tun läßt. Gregor» rovius Hat befanntlih feine Freunde ger beten, alle Briefe, die fie von ihm erhielten, zu vernichten, welche Bitte ihm zumeiſt erfüllt worden ilt. Der Literarhiſtoriker muß ſich daher in der Hauptiadhe auf die autobiographifchen Bublifationen don Gregorovius, auf Mit teilungen feiner Freunde und da3 geringe brieflide Material ftügen, da® man bisher vorfand. König hat daraus ein abgerundetes Lebensbild gu entiverfen verftanden. Dr. phil. 4. 8. Rofe

Sozialwefen

Allgemeine Dienftpflidt. Angeſichts der ſcharfen Rekrutierung in Frankreich empfinden

Maßgeblies und Unmaßgebliches

wir Deutfhen mit ftolger Genugtuung, daß wir e8 unß leiften Tönnen, nur die un⸗ bedingt Tauglichen ind Heer einzuftellen. Anderfeits ift e8 befannt, daß vor dem Kriege nicht einmal Mittel vorhanden waren, alle Tauglichen militärifch auszubilden, noch 1914 mußten mindeften® 40000 Mann zurüdgeftellt werden. Da erhebt fich die Frage, wie fangen wir es an, diefe Nichtausgebildeten dennoch dem Staate unmittelbar nugbar zu machen, die Ungerechtigfeit gegen die ein oder "zwei Sabre verlierenden Außgebildeten auszu⸗ gleihen und auch den nicht gang Tauglichen Gelegenheit zu bieten, ihre Kraft dem Vater⸗ lande zu widmen, oder furg: wie fönnen wir die Arbeitöfraft der militärifh nidt Aus⸗ gebildeten zugunften des Staat organifieren? Dies Problem erörtert eine jüngft im Berlag bon Karl Eurtiuß, Berlin, erjhienene Bro⸗ fhüre von Ludwig Bordardt: Allgemeine Dienftpfiiht, die natürlide Folge der allgemeinen Wehrpflicht. Ber Verfafler tritt dafür ein, daB jeder vom Militärdienft Be⸗ freite ſchon in riedendzeiten zu einer feinem Bivilberuf möglichſt nabeliegenden Arbeitsfraft auszubilden ift, die in die durch die Mobilmahung in Staatd-, Induſtrie⸗ und landwirſchaftlichen Betrieben, Schulen ufw. entitandenen, bei den gegenwärtigen Verhält⸗ niffen oft ſchwierig audzufüllenden Lüden eintreten fann. Auf dieſe Weife Tann jedem. Arbeitermangel nad) Kriegsausbruch abge⸗ bolfen, Tönnen viele fonft reflamierte Kräfte für da8 Heer frei gemadt, kann die Arbeits⸗ Iofenfürforge um ein Bedeutendes entlaftet, endlid die in der Qualität anfangs oft recht minderwertige reiwilligenarbeit auf das Maß des Erforderliden gehoben werden. Daß der Vorſchlag auch vollswirtichaftlich- ohne große Koften durchführbar ift, wird klar und bündig nachgewieſen. Allen Vaterlands⸗ freunden fei die ausgezeichnet gejchriebene kleine Schrift daher warm empfohlen. Dr. R.S.

Allen Manuſtripten ift Borto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Nädfenbung. nicht verbürgt werden kann.

Nachdruck ſaämtlicher Aufſaätze nur mit ausdrücklicher Erlaubnis bed Berlags geftattet. Berantwortli: der Herausgeber Georg Cleinow in Berlin- Lichterfelde Weit. Wanuftriptiendungen und. Briete werden erbeten unter der Abreile:

An den Serausgeber der Grenzboten in Berlin - Lichterfelde We, Steruftraße 56.

Fernſprecher bed Herausgebers: Anıt Lichterfelde 498, bed Berlagd und der Schriftleitung: Amt Lügow 6510. Verlag: Berlag der Grenzboten &. m. b. 9. in Berlin SW 11, Tempelbofer Ufer 85a.

Dıud: „Der Reichsbote“

®. m. 5. 9. in Berlin SW 11, Defiauer Straße 36/37.

Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Örenzen des Staates

Don Dr. jur. R. Strahl

rennender als je tritt heute die Frage nach der Bedeutung des Nationalitätsprinzips und feiner Tragweite für den Aufbau der Staaten an uns beran. | Baufteine der Geſchichte, Schadhfiguren im Spiele der Welt-

politif find die Staaten. Die Staaten ſelbſt find veränderliche Größen. Werden und Vergehen, Wechjel der Kräfte, der ewige Wandel des Irdiſchen ergreift auch fie. Sie laſſen fich Iebenden Organismen vergleichen: Anziehen und Abftoßen, Bereinigung und Trennung, Entftehen, Wachſen und Verfall find Erjcheinungen im Staatenleben, denen fie in ähnlicher Weife wie alle Lebeweſen unterworfen find.

Die beiden großen Grundlagen für die äußere Geftaltung des Staates

find Staatsgebiet und Staatsvoll.

Man hat fi) zu allen Zeiten mehr oder weniger bewußt bemüht, aus diefen beiden Faktoren Normen für den natürlichen Umfang, für die vernunft- gemäße Einheit der Staaten zu gewinnen: beide Begriffe in ein regelrechtes, zwedentjprechendes Verhältnis zueinander zu bringen. Lange Zeit hindurch jah man das Staatögebiet als das grundlegende Prinzip an, dem fi die Bildung des Staatsvolfes anzupaſſen und anzubequemen hatte. Erjt im neunzehnten Jahrhundert brach fi die Anſchauung mehr und mehr Bahn, daß umgefehrt völfiihe Eigenart für Umfang und Begrenzung des Staatsgebietes maßgebend fein jollte. Seinen Ausdrud findet diefer Gedanke in dem Nationalitäts- prinzip: die Nation, die fih aus Blutsgemeinfchaft berleitende Sprach- und Kultureinheit, follte danach die natürlihe Grundlage auch für die territoriale

Grenzboten II 1915 9

130 Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats

Begrenzung der Staaten bilden. Die Begriffe Nation und Volt in dem Sinne der Befamtheit der Angehörigen eines Staates, Staatsvol! follten fi) demgemäß deden. Eine Theorie, die ungeheuere praftifche Bedeutung tn Geſchichte und Politik gewonnen bat. Und zwar praftiihe Bedeutung in zweierlei Hinficht: einerfeitS als politifdes Programm der Staaten als folder als öffentlich proflamieries Ziel der Regierungen in der internationalen Politik; und anderfeitS als Wunſch und Hoffnung in dem Streben der Völtfer.

Das Nationalitärsprinzip fegt, um wirflide Kraft zu erhalten, bei feinen Anhängern und Verfechtern einen gemwiffen Grad politiiher Bildung und Auf. Härung voraus. Daher erllärt es fich, daß es Bedeutung erft in einer Zeit gewonnen hat, in der der politiſche Blid größerer Kreife durch weitere Ver⸗ breitung diefer Grundlagen gefhärft war: eben im neunzehnten Jahrhundert. Es iſt ein feinem Wefen nad) demofratifher Gedanke. Das Streben nad) nationaler Zufammenfaffung ift bedingt durch eine gewiſſe Bollstümlichkeit. Erft wenn politifche Anteilnahme in breiteren Schichten erwacht und fich mit ber durch Erleichterung des Verkehrs und der durch Schule und Preſſe vermittelten Kenntnis der Zuftände außerhalb der eigenen Grenzpfähle verbindet, tft der Boden des Prinzips vorbereitet und gefchaffen. Solange diefe Borausfegungen fehlen, und die Polıtit mehr oder weniger der Beruf einzelner oder eng um⸗ grenzter herrſchender Klaſſen bleibt. mag es wohl gelegentlid ein meift an beitimmte Zmede gebundener Gedanke befonderd Aufgellärter geweſen fein, aber es fehlt ihm die eigentlihe Unterlage. Gegenſtand gewinnt es erit dadurch, daß es die Willensrichtung aller oder doch der Mehrzahl derer wird, die e8 angeht: der Nation in ihrer Gemeinſchaft. Erſt nachdem die Bluts- und Spradgenofjen ſich eine8 Zufammenhanges gemeinfamer Ideen und Ziele, auch gemeinfamer Gegenfäge bemußt geworden find, fchlägt die eigentliche Geburtsftunde des Nationalıtätsprinzips als realpolitiihen Programms.

Ganz verfcieden find die Äußerungen des Prinzips, die tatfächlichen Solgerungen und Forderungen, die fih aus ihm herleiten. Sie werden beftimmt dur das Verhältnis, in dem fich die Verteilung der Nationen in den be ftehenden politifhen Stautegebilden befindet.

Da, wo es dem Sinne nad erfült ift, wo Staat und Nation gemiffer- maßen eins find und denſelben Begriff bilden wie beijpielsweife in Frankreich und England für Franzofen und Engländer wo alfo kein be fonderer Sraftaufmand nah außen bin notwendig ift, zur Wahrung ber nationalen Eigenart, fehlt ihm das eigentlidhe aktive und offenfive Ziel. Hier fann es allenfalls innerpolitifh und kulturell in abgeleiteter, veränderter Form in Betracht kommen, verliert aber feinen eigentlihen Charalter.

Anders da, wo national zufammengehörige Bevölferungen ſtaatlich geteilt und zerriffen find, oder wo nationale Minderheiten, die ihre Eigenart zu er- halten beftrebt find, in einen Gegenfag geraten zu der Mehrzahl der Be- völferung eines Staates, in den fie eingefchloffen find. Hier beginnt die

Das Hationalitätsprinzip und die natürlihen Grenzen des Staats 131

eigentliche aktive Rolle des Prinzips, denn es ift in erfter Linie eine Oppoſitions⸗ und Kampfparole. Neben dem idealen Ziele der Erhaltung alter Über lieferungen jegen unter Umftänden auch realere und materiellere Zwecke dabei als Triebfedern ein. Außer dem Wunfche, Sprade und Gefchichte zu bewahren, zeigt fich in Zeiten, in denen Anteilnahme des Volles an Regierung und Ber- waltung, Mitbeftimmungsrecht des Volles bei der Entfchlteßung über die ftaat« lichen Schidfale allgemein anerkannte Grundfäge geworden find, der Wille ber fh auf diefen Gebieten zurüdgefegt Glaubenden, gerade als nationaler Faktor Berüdfihtigung zu finden.

Zugrunde liegt dem Streben nad) praltifder Durchſetzung des Nationalitäts- prinzip ſtets der Wille nad Herrſchaft. Daher iſt fein Urfprung oft der perfönliche Ehrgeiz einzelner. Da es fi aber um die Durchführung einer allgemeinen völkiſchen bee handelt, jo gewinnt es erft wahre Bedeutung, wenn die Mafje der Volksgenoſſen der MWillensrichtung einen breiteren Boden verleiht. Es entfteht daher um fo eher und wirkt um fo ftärfer, je mehr Nationalteile in der beftehenden Staatenordnung ſich unterdrüdt und von der Mitbeftimmung ausgefchloffen fühlen. Dabei tft zu beachten, daß das Rationalitätsprinzip Tebtlich über die Forderung nad innerer nationaler Gleichberechtigung im Staate hinausgeht im Verlangen der Verlörperung der Nation in einem politifchen felbftändigen Staatswejen. Es iſt alfo ftetS auf Abtrennung gerichtet. Und zwar je nad) der Berteilung der Blutsgenoſſen in einem oder mehreren Staats- wefen auf Neugrändung und Schaffung eines bisher nicht beftehenden Staates oder Anſchluß an einen folchen, in dem die anderwärts unterdrüdte Nationalität die berrichende ift. |

Da in der Regel der Staat, in dem fih folde Strömungen geltend machen, fih nicht widerftandslos den AbfonderungSbeftrebungen fügen wird, weil er durch diefe und eine aus ihnen hervorgehende drohende Gebietsver- änderung und Bevölferungsminderung Machteinbuße zu befürchten bat, fo kann damit ein Konflilt auf Leben und Tod entitehen. Dazu kommt, daß meift aud) die äußeren Gegner des betroffenen Staates derartige Gegenſätze nicht unbenupt laffen, um durch offene oder heimliche Unterftühung der Unzufriebenen eine Shwähung des Yeindes herbeizuführen. Ya, oft wird die Gegnerfchaft gerade aus ſolchen Anſchlußbewegungen heraus geboren, oder durch ihr Hinzu- treten verfchärft werden. Ein Ende fann der fo entftandene Kampf nur mit dem Siege der einen oder der anderen Partei finden: entweder Loslöfung der widerftrebenden Bollsteile oder Unterdrüdung und Aufgabe der nationalen Bewegung.

In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ift mit dem Nationalitäts- prinzip noch eine andere Theorie in enge Beziehungen geſetzt worden, die ſich auf verwandte Gedanlengänge gründet, gemwifjermaßen eine Ergänzung diejes Prinzips bildend: die Forderung des nationalen Selbftbeftimmungsrehts. Wie den Untertanen im Staate ein Net zur Anteilnahme bei der Verwaltung

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132 Das Nattonalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats

und, noch bierüber hinausgehend, bei der Entſcheidung über die äußeren Schid- fale des Staates zuftehen fol, fo fol ihnen in ähnlicher Weife, der inneren Freiheit entſprechend, als blutsverwandten Gliedern einer Nation das Recht der Beftimmung der äußeren, in der Staatsform fi Tundgebenden Selbſt⸗ ftändigfeit zugebören. „National felbftändig gewordene Bölfer haben das natürlide Beitreben, das errungene Gelbitbeitimmungsret auch darin zum Ausdrud zu bringen, daß fie fi den übrigen Nationen gegenüber ftaatlich als eine Einheit darftellen und ihre nationale Eigenart zum einheitlichen ftaat- Iihen Ausdrud bringen.“

Für alle diefe verjchiedenen Momente in der Entwidlung des Nationalitäts- prinzip8 mangelt e8 nicht an Beifpielen in der Geſchichte. Nationale Einheits- beftrebungen finden wir in deutſchen, italieniſchen, polnifchen, griechifchen, rumänifden und zahlreiden anderen Freiheits- und Cinheitsbewegungen. Sonderbarermeife wird das Prinzip vielfach mit der Perſon Napoleons des Dritten verknüpft. Diefer ift allerdings, wenn auch nicht der Schöpfer der dee, fo doch einer ihrer eifrigften Borlämpfer gemweien, und bat au das Selbſtbeſtimmungsrecht grundfäglich anerlannt, zum Beifptel durch die Vornahme von BollSabftimmungen bei der Angliederung neuer Gebietsteile, wie von Nizza und Savoyen an Frankreich im Jahre 1860.

Dazu tft zu bemerken, daß es ſich hier allerdings meniger um ein Selbft- beſtimmungsrecht in nationalem Sinne handelt, als vielmehr um ein Recht der Einwohner beitimmter ftaatlicher Gebietsteile, beruhend lediglich auf der Grund- lage territorialen Zufammenleben®.

Überhaupt ftößt man in den Fällen, in denen die genannten Prinzipien in die Praris überfegt worden find, häufig auf gewiſſe innere Widerſprüche. Sind doch aud die eifrigften Verfechter des Nationalitätsprinzips zum Beifpiel in Polen und im Elfaß vielfach folche, die ihrer Abftammung nad) feineswegs zum Blute der Nation gehören, deren angebliche Rechte fie fo leivenfchaftlich vertreten.

Theoretiſch ift man nun nicht beim Nationalitätsprinzip ftehen geblieben. Ye nachdem man den Geſichtspunkt der Raſſengemeinſchaft als der Blutsverwandt⸗ ſchaft im weiteſten Sinne in den Vordergrund ſchob (Panſlawismus), oder Sprachzuſammenhänge umfaſſendſter Art damit verband (Panlatinismus), oder Kultur- und Religionsbande beſonders betonte (Panislamismus), iſt eine Fortbildung und Erweiterung des Nationalitätsprinzips erfolgt. Endlich dat Ah in Oppoſition zu dieſen Prinzipien das Streben nad) großen internationalen ntereffengemeinihaften zur Wahrung mirtihaftlider und politifher Ziele und Anfhauungen hauptfählih innerhalb der Arbeiterfhaft (internationale Sozialdemokratie) geltend gemacht.

Schon hieraus ergibt fi, daß das Nationalitätsprinzip fein allgemein an- erfanntes ift.

Und gerade in diefen Fortbildungen zeigt fi mehr noch als dies ſchon bei der früheren praftiihen Anmendung des Nationalitätsprinzips ber Fall war,

Das Hationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats 133

daB es fi für viele nicht um die Verwirklidung allgemeiner Menfchenrechte, fondern um politifche Macht- und Intereſſenfragen handelt. Aufgeworfen und verfochten oft von foldhen, die in der Heranziehfung und Dereinigung mit ab- getrennten und veriprengten Vollsteilen ein Mittel zur Stärkung, eigenen Gewichts⸗ und Einflußzuwachs erftrebten. Auh da, wo es fi um Unab- bängigfeitSbeftrebungen angeblich unterjocdhter Völler bandelt, iſt der leitende Gedanke bei den Führern der Bewegung oft perjönlicher Ehrgeiz und Eigennup, anderfeits oft auch in Fällen, in denen an der Lauterfeit der Motive nicht zu zweifeln ift, kritikloſer Idealismus geweſen, der eher Fulturfeindlich als Kultur- fördernd zu wirken imftande war.

Gerade die Politik Napoleons des Dritten, des meiltgenannten Verfechters des Nationalitätsprinzips, ift eher geeignet den Glauben an die Durchführbarkeit des Prinzips zu erjchüttern als ihn zu ftüben. Pier mag eine furze und treffende Wertung angeführt fein, die ein Engländer, W. Morton Fullerton, mit echt engliihdem Sinne für realpolitiihe Geſchichtsauffaſſung in dieſer Hinficht über Napoleon den Dritten fällt: „Napoleon der Dritte war ein Idealiſt; fein leidenjchaftliches Verlangen für den modus vivendi der Verträge von 1813 einen wiſſenſchaftlicheren und logiſcheren Zuftand der internationalen Beziehungen zu ſchaffen, mit einem Wort die Landlarte von Europa durch Gruppierung der Völler nad) Raſſe und ſprachlicher Verwandtſchaft zu revidieren, war eine der doltrinärſten Begriffsverwirrungen, die je ein flares franzöfifches Hirn um- nebelte. Es war eine ihrem Wejen nach ebenfo unfranzöfifche, als von fran- zöfifchem Intereſſenſtandpunkt aus antinationale Politik. Die Grundlage diefer Politik war metaphyſiſche Einbildung und nicht der greifbare Stoff von Tatſachen und Umſtänden. Und bei dieſer fanatiihen Hingabe an das Nationalprinziff war der Erfolg feiner Politik die Ironie, daß er Frankreich jelbft vergaß. Er war fo 'ausjchlieglih mit den Leiden der Polen, taliener, Ungarn beſchäftigt, daß er darüber die wirklichen Intereſſen Frankreich überſah.“

Diefe berbe, aber zutreffende Kritik des Engländer gibt ein richtiges Urteil des praltiſch denkenden Politiler8 über die falſche Anwendung anfecht- barer Prinzipien. Sie zeigt den Wert oder vielmehr den Unmert den eine Theorie bei ihrer grundfäglichen Verwendung durch einen maßgebenden Staatsmann gewinnen Tann, der den Blid für die Tatſachen verliert und fie über die objeltive Abwägung deſſen jtellt, was feinem Lande von Vorteil oder Nachteil ift.

Gewiß ift, daß die Einheit des Blutes und der Sprache einen der ſtärkſten Taltoren für die innere Geſchloſſenheit und Kraft eines Staatsweſens darftellt. Ebenfo gewiß kann aber fein, daß fie nicht der einzige und unter allen Um⸗ ftänden allein gültige ift.

Das, was den inneren Zufammenhalt eines Staates vor allem ausmadjt, ift das Staatsbewußtfein, der Wille der einzelnen fi) als Glieder des ſtaat⸗

134 Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Brenzen des Staats

lihen Ganzen zu betrachten, ihr Zugehörigfeitsgefühl und ihre Hingabe an bie dee des Staates. Zu Zeiten, in denen bie politifhe Anteilnahme und die politiſchen Rechte der Untertanen gering waren, wirkte in diefer Beziehung bie Macht derer, in deren Hand die ftaatlihen Entſcheidungen verkörpert waren, allein maßgebend und ausreichend. Heute, wo alle zivilifierten Staaten tat fählih auf mehr oder weniger demokratiſcher Grundlage ruhen, iſt es der geichloffene Wille der Staatsangehörigen, der das Gewicht, die Wucht ftaat- lihen Handelns bildet.

Diefer Wille überwindet auch die nationale Verſchiedenheit der Angehörigen. Es gibt tatfächlich eine ganze Reihe von Staaten, in denen die Träger unter- ſchiedlicher Nationalitäten nicht nur als geringere, wenig in Betracht kommende Zufäte beigemifcht find, fondern die geradezu auf der Gleichordnung verſchiedener Nationalitäten beruhen. Das befte Beifpiel hierfür ift die Schweiz.

Die Begrenzung der Staaten ift, wie diefe felbft und ihre Einrichtungen, etwas hiſtoriſch Gewordenes. Wenn fi Regeln, große leitende been über die Begrenzung der Staaten überhaupt aufitellen laſſen, wenn es gewifjer- maßen natürliche Begrenzungen der Staaten abgejehen etwa von geographiſchen Notwendigkeiten gibt, jo find die Grundfäge bierfür in erfter Linie aus den Aufgaben und Zweden der Staaten berzuleiten.

Staaten find Zwedverbände.

- hr grundlegendftes Ziel muß fih mit dem Wunſche ihrer Angehörigen deden: Schuß gewifjer Rechte und Freiheiten nach innen und außen. Sicherung von Eigentum und perjönlicher Freiheit, fpäter Mitbeftimmungsrecht der Unter- tanen bei den ftaatliden Entſchließungen, Aufrechterhaltung bes verfafjungs- mäßig gefiherten Nechtszuftandes find die legten Interefien der Untertanen und damit Pflichten des Staates. Zu ihrer Durchführung bedarf der Staat der Dauerhaftigkeii. Damit wird die ftaatlidhe Selbſterhaltung auch Selbitzwed.

Dabei ift nicht zu überfehen, daß alles ftaatlihe Handeln legten Grundes auf Mehrheitsentſchließungen und Machtfaltoren beruft. So lann es geſchehen, daß die einfache militäriihe Sicherung eines Staates die Innehabung von Gebieten erfordert, deren Bewohner fi) in gewiſſen Gegenfägen zu der über. wiegenden Mehrheit der anderen befinden.

Aber die Entwidlung ijt über dieſe urjprüngliditen Ziele der Staat$- erhaltung binausgefchritten. Man ift fih heute darüber einig, daß der Staat höhere, idealere Aufgaben hat. |

Jellinek bat den Staat als den „durch planmäßige, zentralifierende, mit äußeren Mitteln arbeitende Tätigleit die individuellen, nationalen und menfche beitlicden Solidarinterefien in der Richtung fortfchreitender Gefamtentwidlung befriedigenden . . . Verband eines Volles“ definiert. (Allgemeine Staatslehre, 3. Auflage, Seite 264.)

Darin ift die heute allgemein anerlannte Anficht ausgeſprochen, daß der Staat au der Träger großer Kulturaufgaben fein fol.

Das Nationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats 135

Nun ift nicht zu verfennen, daß gerade die Nationalität zumal fomweit fie in gemeinfamer Sprade und Literatur zutage tritt eine der wirkſamſten Grundlagen für eine gemeinfame verbindende Kultur ift.

Do bereits wenn man die europäifchen Sulturfreife, wie das vielfach üblich ift, in einen germanifchen, anglo fachfonifchen, lateiniſchen und ſlawiſchen einteilt, jo ergibt fi daraus ohne weiteres, daß diefe mit ftaatlicher Begrenzung nichts Ummittelbares zu tun haben. Wenn man ferner als Kultur die Arbeit und deren Ergebnis anfteht, die dazu dienen, den geiltigen und materiellen Fortſchritt der Menfchheit zu fördern und die allgemeinen Grundlagen für Weiterarbeit im Sinne wachſender Aufflärung und fi fteigernder Nubbar- machung der Materie für die menſchlichen Bedürfniffe zu fchaffen, jo wird man zu dem Ergebnis gelangen, daß die Borausjegungen hierfür ebenfo fehr und vielleicht in nod höherem Maße als dur die nationalen Überlieferungen durch ſtaatliche Einrichtungen gebildet werden. Zumal heute, wo Erziehung und geiftige Förderung der Untertanen von jedem modernen Staate in fein Wirkungs- und ZätigleitSbereich einbezogen find. Gemeinſame Erziehung, ge- meinfame ftaatlide und foziale Einrichtungen, gemeinfame wirtidhaftlihe In⸗ terefjen, gemeinfame Geſchichte, Religion, gemeinfamer Haß und Liebe gegenüber gemeinfamen Feinden und Freunden, wie fie.vielfach durch die ftaatliche Zufammen- gehörigkeit vermittelt werden, find oft zuſammenſchmiedende Bande, die ver- ſchiedenartige Nationalität überwinden und deren DBertreter dauernd ver- einen.

Der Staat als Kultureinheit, als Kulturförderer fteht nicht nur neben, fondern in vieler Hinficht über der Nationalität.

Dabei ift nicht zu überfehen, daß Borbedingungen für Kulturfortichritt wirtſchaftliche Verhältniffe und foziale Einrichtungen find. Dieſe aber fallen heute fait gänzlich in daS Bereich der ſtaatlichen Betätigung.

Mehr denn je haben wir in unferer Geſchichtsepoche die Wahrheit des alten Sabes einfehen gelernt, daß der Kampf der Vater aller Dinge ift. Früher in dem Sinne friedlichen Wettjtreites der Völker, heute in des Wortes eigenfter Bedeutung. Er ift auch der Befruchter der Kultur. Auch die Kultur bedarf zu ihrem Fortfchreiten des Anſporns werbender Aufgaben, des Aus- dehnungStriebe3.

Eulen fpriht von dem Gegenüberftehen von franzöfiiher Formlultur, engliſcher Nützlichkeitskultur und deutſcher Ganzheitskultur.

Deutſchland hat das Übergewicht der allen überlegenen ſittlichen Stärke. Und es bat das Zeug dazu, auch auf den beiden anderen Gebieten die Gegner zu überflügeln. Vielfach hat im deutſchen Wejen die etwas trodene, fachliche Nüchternheit und Gründlichleit, die gerade auf die kritikloſe geiftige Mittel- mäßigfeit ihre Wirkung oft verfehlt, und die ftraffe Zucht ben werbenden Einfluß für ſolche, die mehr auf die Form wie auf die Sade fehen, abgeſchwächt. Hier wird Erkenntnis Wandel bringen, ſoweit da8 Not tut.

136 Das Hationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats

Aus alledem geht hervor, daß heute nicht die Nationalität für die äußere Begrenzung der Staaten ausſchließlich maßgebend ift. Die Beifpiele, in denen bie gemeinfamen wirtſchaftlichen und fozialen Intereſſen, aber auch die rein geiftige Kultur größere Angleihungsfähigleit bejeflen haben, als gemeinfames Blut und Raffe, laſſen fi aus der Gefchichte erbringen. Für den lebten Punkt ift vor allem die jahrhundertelange, ftarfe Hinneigung von Elfaß - Lothringen an Frankreich fennzeichnend, aber auch die frühere Vereinigung der Schleswig. Holfteinfhen Herzogtümer mit Dänemarl. Oder der Anſchluß rein italienifcher Gebietsteile in Nizza und Savoyen an Frankreich ohne nennenswertes inneres Widerftreben. In mancher Beziehung auch das jetzt jo heiß umitrittene Belgien, wo Einwohner verſchiedener Raſſe und Sprade durch ftaatlihe Einrichtungen verbunden ein lebensfähiges Staatsweſen gebildet haben.

Früher haben bei der Frage der natürlihen Begrenzung der Staaten vielfach geographifche Geſichtspunkte eine ausfchlaggebende Rolle geipielt. Ihre Bedeutung bat gegenüber den ungeheuren Fortichritten der modernen Technik, der Verfehrsmöglichkeiten, an Bedeutung verloren, wenngleich fie militärifch ein nicht zu unterſchätzender Faltor bleiben.

Damit kommt man zu dem Ergebnis, daß der äußere Umfang der Staaten lediglich durch ihre innere Kraft beſtimmt wird. Die Begrenzung ift Machtfrage. Aber nicht in dem brutalen Sinne, daß ein Staat fi) alle Gebiete einverleiben kann, zu deren Niederhaltung ihm die militärifhen Zwangsmittel zur Verfügung ftehen. Sondern in dem Sinne, daß für ein Eulturell hochitehendes Staatsweſen nationale Gegenfäge nicht abjchredend wirken dürfen, wenn andere Gründe für eine Gebietserweiterung fprechen, folange es fih die innere Kraft zutrauen kann, über furz oder lang auch den Willen der feiner Gemeinſchaft einverleibten neuen Untertanen zu gewinnen. Den Willen, auf dem allein die Einheit und Macht des Staates beruht. Das ift eine hohe Kulturaufgabe und e8 erfordert eingehende und gemwifienhafte Prüfung im einzelnen alle, ob man rich ihr gewachſen glauben darf. Ob man hoffen darf, ausreichende wirtfchaftliche, foziale oder geiltige Bande anfnüpfen zu fönnen, um den Einwohnern eines durch die Gewalt der Waffen einverleibten Gebietes im Laufe der Zeiten und Diele Zeiten müfjen und dürfen nad) Nahrzehnten reinen die neue AZugehörigfeit auch ſelbſt wünſchenswert erfcheinen zu Laffen.

Wenn man die Staaten als die Träger der Kultur anfieht, auS deren innerem Streben und äußerem Wettjtreit aller menſchliche Fortichritt erwächſt, jo bedarf es zu deren Erhaltung ftarfer gefunder Staatsweſen, die nicht geſchwächt werden durch innerpolitiſche Gärungen und die nicht gezwungen find, ihre bejte Kraft zu roher, gewaltfamer Niederhaltung Widerftrebender zu opfern. Es beißt den freien Willen der neuen Staatsgenofjen gewinnen, und das fann nur der, der auch etwas Geminnendes zu bieten und zu geben hat: eine überlegene Kultur.

Glaubt man fi) bierzu imftande, fo braucht man ſich beim Aufbau ber , Staaten dur Nationalitätsfragen nicht ſchrecken zu laſſen.

Das Hationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats 137 —t —— nern ———

Auch nicht durch das ſogenannte Selbſtbeſtimmungsrecht der Nationalitäten. Beides find Theorien, aufgeſtellt, um ohnmächtiger Oppoſition einen wiſſenſchaft⸗ lichen Mantel umzuhängen. Der Staat, der an die Entſcheidung der Waffen appelliert, einerlei in welder Form das gefhehen mag hat damit feine Seldftbeitimmung ihrem Spruche ausgeliefert. Dem einzelnen, den es betrifft, verichafft die Freizügigkeit die Möglichkeit, fich ftaatlicher Neuordnung zu entziehen. Materielle Gefichtspuntte können dabei gegenüber ber Tatfache, daß ieder Krieg jo viele wirtichaftlihe Werte und Eriftenzen vernichtet, nicht in Betracht kommen. Außerdem ift der Einfag im Kriege nicht das Schickſal ber einzelnen, fondern die Staatshoheit, die Territorialgewalt. Die Menſchenrechte der einzelnen, foweit man in diefem Zuſammenhange überhaupt von folchen reden Tann, werden durch den Übergang der Landeshoheit nicht berührt, bie heute allgemein anerkannten Perjönlichfeitsrechte dürfen felbftverftändlich nicht angetajtet werden.

„Gerade die neueren Staaten find viel weniger als die alten an bie Rationalität gebunden und auf fie beſchränkt, fie haben an derfelben wohl ihre natürlide Grundlage, aber die Miſchung der Stämme in den heutigen Kultur ländern, die außerordentlihe Steigerung und Erleichterung des Verkehrs, der Univerjalismus unferer Religion, der Kosmopolitismus unferer Bildung haben die Ausfchließlichleit der alten Nationalftaaten gefprengt und die Möglichkeit geihaffen, daß Angehörige verfehiedener Stämme und Sprachgebiete gleichberechtigt in einem Staate zufammenmohnen und als Bürger diefes Staates fi) mohl fühlen,“ fchreibt Zeller im Jahre 1870. Das gilt heute noch genau fo gut, vielleicht mehr fogar wie damals.

Der Krieg ift heute noch nicht ein Durch fortfchreitende Gefittung in dem alten Europa überwundener bhiftorifcher Begriff geworden. Er wird wohl faum aus der Welt verfchwinden; einftweilen ift er ficherlich riefenhafter, blutiger und allgemeiner geworden denn je zuvor. Die rüdfichtslofe Ausnutzung aller ſtaat⸗ liher Machtmittel und der Volkskraft bis auf den legten Mann ift fein Zeichen. Es ftehen fich zwei Völfergruppen gegenüber, von denen die eine fich raftlos bemüht, auch die nicht unmittelbar Beteiligten mehr und mehr als ausjchlag- gebenden Kraftzuwachs an ſich heranzuziehen und dabei auch mit theoretifchen Werbe⸗ und Schlagworten nicht geizt. Später bei der auf den Krieg folgenden Neugruppierung wie fie auch fei, werden fid) bald wieder neue Intereſſen gegenüberftehen. Umnvereinbare Gegenfäge werden über kurz oder lang ſtets wieder entftehen und durch das Gefchehene belehrt, werden ihre Vertreter eine ungeheure Werbetätigfeit entfalten, um fid) fünftige Siege zu fihern. Schon jest fehen wir die Erfcheinung, daß gemeinfame Ziele Völker verjchiedeniter Abſtammung wenigſtens zeitweije geeint haben. Es ift nicht aufgefchloffen, daß dies in Zulunft noch mehr der Fall fein wird; daß dann große gemeinjame Seen und Zmwede den Gefihtspunft der Nationalität noch mehr überwinden oder doch zurüctreien laffen werden. Militärifch-politiide Gründe erfordern

138 Das Hationalitätsprinzip und die natürlichen Grenzen des Staats

heute ſchon vielfah den Zuſammenſchluß von Völfern über die enge Grenze der - Rationalität hinaus, wenn anders der Staatszwed des Schußes gegen äußere Übergriffe mächtiger Gegner erfüllt werben fol. Was Bündniffe und völfer- rechtliche Abmachungen bedeuten können, daß fie häufig nicht das Papier wert find, auf dem fie gejchrieben ftehen, hat uns die Gegenwart gelehrt. Dagegen fann nur ftaatlide Bereinigung helfen. Hier find natürliche Grenzen gefeht in der Macht der Intereſſen, die geeignet find, nationale Verſchiedenheit zu überbräden und dauernd zufammenzufhmieden, und in dem Einfluß, den innerer Gehalt, Wert und Werbefähigleit der bedrohten Kulturgüter vereinigend auszuüben vermögen. Selbitverftändlid dürfen fih dieſe Kräfte nicht in geiftlofer AusrottungSarbeit von nationalen, ſprachlichen und gefchichtlichen Überlieferungen erſchöpfen, fondern e8 gilt foldhe zu erhalten, foweit fie ihrerfeits Kulturwerte darftelen und nur den Willen ihrer Angehörigen eben durch Schub und Pflege gemeinjamer Ziele zu gewinnen und zu fefleln. Das find große Aufgaben für das Staatsrecht und für politiihe Fähigkeiten und Tall.

Aber es mögen curae posteriores fein. Was das Nationalitätsprinzip anbelangt, fo können wir heute jagen, daß es feine Allgemeingültigleit bean- ſpruchen Tann, daß es eine Theorie ift, die politiſchen Machtgelüften eine wiſſenſchaftliche Form verleihen fol. Was von ihm zu halten ift, hat Meinede in dem Sag zufammengefaßt: „Das geſchichtliche Leben ift viel zu reich, um in die monotone Formel irredentifhen Nationalismus gepreßt werben zu können.“

Napoleons Plan einer Invafion Englands 1803-1805 Don Profef[ior Dr. Willi Mäller

ah dem Frieden von Luneville, der den zweiten Koalitions- 4 SS !rieg 1801 beendete, ftand nur noch England in „splendid mAh isolation‘“ gegen die franzöfifche Republit im Felde, und als | William Pitt zugunften Addingtons von der Leitung der Gefchäfte zurücdgetreten war, einigte auch Diefes fi 1802 im Pertrage von Amiens mit dem Eriten Konful. Der Tempel de8 Janus war bamit geihloffen, aber der neu begründete Zuftand ſchuf nur eine kurze Rubepauje in dem Kampfe der Böller.

Bei allen Schiffahrt treibenden Nationen herrſchte feit langem heftiger Groll gegen das übermütige England, das feine Überlegenheit zur See rüdfichtslos ausbeutete. Mit Admiral Homwards Siege über die fpanifhe Armada war der Grund zu diefer Superiorität gelegt worden, und fühne Piraten wie Drafe und Frobiſher, die, weitfehauend, in dem Waſſer das Element erfannten, auf das ihres Baterlandes Größe gegründet werden könnte, hatten als Pioniere britiſcher Machtentfaltung gewirkt. Infolge der Navigationsalte ri England dann den größten Teil des Welthandels an fi, e8 ward die Gebieterin der Meere, legalifierte im SKriegsfalle den Seeraub und legte den Begriff ber Konterbande nad Willfür aus. Mit Necht Hagte daher Schiller im „Antritt des neuen Jahrhunderts“:

„Seine Handelaflotten ftredt der Brite

Gierig wie Bolypenarme aus,

Und das Reich der freien Amppitrite

Bill er fchließen wie fein eigned Haus.“ Dem gegenüber ging auch Bonaparte in der Ausbreitung feiner Macht ſkrupellos vor, und feine Übergriffe wurden von dem eiferfüchtigen Mitbewerber um bie Weltherrſchaft bald als unerträgliche Anmaßungen empfunden; immer deutlicher itellte fi) heraus, daß zwiſchen Frankreich und England fo wenig ein gutes Einvernehmen herrſchen könne wie einjt zwifhen Nom und SKarthago, und im Mai 1803 erfolgte eine neue Kriegserflärung Britanniens an die Republik jenjeit des Kanals.

Sie weckte in dem unternehmungsluftigen Lenler des franzöſiſchen Stactes den Gedanken einer Invafion bes Sinfelreihes. Der Verlauf der Geſchichte

140 Wapoleons Plan einer Invaſion Englands 1803—1805

zeigte, daß die Ausführung eines foldhen Planes keineswegs zu den Unmöglichleiten gehöre. Wie einft Julius Cäſars Legionäre den Briten die Üüberlegenheit römiſcher Kriegskunft vor Augen geführt hatten, jo machten ſich fpäter die Angelſachſen, als Hilfspölfer gerufen, zu Herren des Landes, und wenn die Dänen, die nad ihnen den Schreden ihres Namens auf der ganzen Inſel verbreiteten, ihre Herrihaft den ftammverwandten Normannen zu binterlafjen vermocdhten, fo wieſen dieſe jelbit ihre Erbberechtigung 1066 bei Battle-Abbey mit dem Schwerte in der Hand fo intenfiv nad, daß Herzog Wilhelm der Eroberer fi) bereit3 am Weihnachtsfeſte desfelben Jahres in Weltminfter zum König krönen laſſen konnte. Freilich, die britiichen Kelten der cäfartanijchen Zage und die fpäteren Bewohner Englands bis ins zweite Jahrtauſend nad) Ehrifti Geburt hinein, waren noch nicht das an ftolzer Kraft den kontinentalen Nachbarn völlig ebenbürtige Volk, das Napoleon den Fehdehandſchuh hinwarf; gegen diefes neuzeitliche Britenreih, das ſich im Vereine mit dem ſchützenden Elemente feiner Feinde jehr mohl zu erwehren wußte, tollfühn vorzugehen, warnte dringli genug die Umfchrift der befannten Denkmünze: „Afflavit Deus, et dissipati sunt.‘“

Aber der Konful der ftärkiten Feſtlandsmacht traute fi die Kraft zu, fein Ceterum censeo in die Tat umzufegen; nur das war die Frage, wie man es fertig bringen würde, den trennenden Graben zu nehmen. Ein Linien- Ihiff faßte für ein paar Tage 600 bis 700 Dann, eine Fregatte vielleicht die Hälfte. Mean hätte alſo neben den 40 Linienſchiffen, über die man an Drt und Stelle verfügte, noch etwa 200 Fregatten nötig gehabt, um eine Armee von nur 100000 Dann überzujegen; eine Anzahl Fahrzeuge, die zu ftellen völlig unmöglid war, ganz abgejehen davon, daß fi an der ganzen SKüfte von Dftende bis Le Havre nicht ein einziger Hafen fand, der imjtande geweſen mwäre, fie aufzunehmen. Man dachte unter diefen Umftänden zunächſt an ſchwimmende Batterien, wie fie 1781 bei der Belagerung Gibraltars verwendet worden waren, fam davon aber bald zurüd und verfiel darauf, flache Boote zu bauen, die der franzöfiichen Häfen wegen nur einen geringen Tiefgang haben durften und das Stranden zur Ebbezeit vertragen konnten; folder Fahrzeuge wurden von Juli 1803 an drei Arten bergeitelt.e. ES waren erftens große, folide konſtruierte „Kanonenſchaluppen“ (chaloupes cannonietres, ſcherzhaft auch „coquilles de noix“ genannt); dieſe trugen je vier Geſchütze groben Kalibers, zwei vorn und zwei hinten, waren aufgetafelt wie Briggs, das heißt mit zwei Majten verfehen, wurden bedient durch vierundzwanzig Matrofen und fonnten eine Kompagnie Infanterie (100 Mann) mit allem Zubehör faflen. Die Fahrzeuge der zweiten Art, die man „Stanonenboote“ (bateaux cannoniers) nannte, waren weniger ſtark bewaffnet und weniger handlich; fie beförderten außer einer Kompagnie Infanterie auch Feldartillerie. Bon den zwei Kanonen, mit denen man fie verjah, war die eine ein Feldgeſchütz, daS auf einer Lafette ruhte. Beigegebene Artileriemunition wie zwei in einem Stalle untergebrachte

Napoleons Plan einer Invaſion Englands 1805— 1805 141

Pferde ermöglichten, e8 fofort nach der Landung auf feindlidem Gebiete in Taͤtigleit zu bringen. Die Bedienung jedes diefer Boote erforderte nur ſechs Matrojen; weitere Munition und der Net der Beipannung mußte auf Zransportihiffen folgen. Die dritte Art Fahrzeuge, leichter und mobiler, mit nur zwei Fuß Tiefgang, beftand aus großen, fchmalen, fechzig Fuß langen Kähnen oder „KRriegsbooten” (peniches); fie hatten ſechzig Ruder, Leichtes Segelwerk und fuhren ziemlich fchnell. Diefe trugen etwa ſechzig Soldaten, bie auch als Ruderer ausgebildet waren, und nur zwei oder drei Seeleute; Angriffe abzumehren, ftand eine Heine Haubite zur Verfügung. Da insgefamt mehr al8 150000 Mann, daneben 400 Geſchütze und 10000 Pferde übergeſetzt werden follten, berechnete man die Kriegsflotte auf rund 1200 und die Zahl ber Transportiäiffe auf etwa 1000 Boote. Das ganze Geſchwader umfaßte alfo ungefähr 2200 Fahrzeuge. Man mußte in die Zeiten des Kerres zurüdgeben, um Ähnliches zu finden.

In den Seehäfen allein konnte diefer enorme Bebarf nicht bergeftellt werden, da es dort an binreichenden Werften wie an Holz und Arbeitsträften mangelte; daher bededten ſich die Ufer der größeren franzöftihen Flüſſe mit impropvifterten Anlagen für Schiffsbau. Tauſende von Arbeitern holzten bie nahen Wälder ab, überall wurde gezimmert und gehämmert (in Paris allein lagen gegen hundert Kanonenfchaluppen auf Stapel), und nad) verhältnismäßig furzer Zeit fuhren die flachen Boote ohne Schwierigkeit die Ylüffe abwärts dem Meere zu. Für die ZTransportflotte, die den SKriegsfahrzeugen Lebensmittel, Waffen, Pferde, einen Belagerungspart und mandjes andere nachführen follte, wurden auch Filcherfähne, die man am Meeresufer zu Genüge befommen konnte, angelaufl. Manche Departements mie auch die größeren Stäbte ftellten der Regierung nad) Maßgabe ihrer Mittel Flachboote zur Verfügung; ja es griff eine allgemeine Begeijterung Plab, und die in Paris zirkulierenden Subffriptions- liften bededten fi bald mit einer Menge Unterfchriften. Dazu wurden ganz Frankreichs Gießereien ftark in Anſpruch genommen durch die Herftellung von Schiffskanonen; das Departement Cote d’or allein Lieferte Hundert in Creufot verfertigte derartige Gejhüte.. Mit Hilfe der Binnenſchiffahrt wurde dann Mehl zur Herftelung von Zwieback beſchafft, ferner Neis, Hafer, Pölelfleiſch, Wein und Branntwein, aus Holland auch große Mengen Käſe. Und nun kam, September 1808, der Augenblid, wo alle diefe Schiffe, die weit zerftreut in den Flußmündungen lagen und durch die Engländer ſcharf beobadtet wurden, in Boulogne und einigen Tleinen Nachbarhäfen konzentriert werden mußten. Die Aufgabe fchien nicht Teicht zu löfen, aber Napoleon wußte Rat. Er befahl, dicht am Ufer hinzufahren und die Boote auf den Strand laufen zu laffen, fals fie von englifhen Kreuzern bedrängt würden; allzufehr durften dieſe der Sanbbänfe wegen fi dem Geftade nicht nähern, und die Boote machte das nächſte Hochwaſſer wieder flott. Dazu verteilte er über die ganze Stüfte bin SKavallerieabteilungen, denen leichte Artillerie beigegeben wurde; zur

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Ebbezeit konnte diefe fogar im Wattenmeere operieren und gewährte im Verein mit zahlreichen Strandbatterten den franzöfifhen Schiffen genügenden Schub.

Bor allen Dingen bedurfte der Erfte Konful zu einer Invafion Britanniens natürlich aber eines Heeres, das an Zahl und Drganifation nichts zu wünſchen übrig ließ, und fo wurde die „Armee von England“, wie er fie nannte, verfammelt; bei Boulogne lagen bald 100000 Dann zur Einjchiffung bereit, Heinere Abteilungen in der Nachbarſchaft. Die Soldaten fampierten in Baraden, die aus den Reiten niedergelegter Wälder bergejtellt waren, und die Pferde brachte man in Bretterftälen unter. Das ganze Lager, von langen Straßen durchzogen und in Quartiere eingeteilt, gli einer Kriegerftadt. Seit dem Herbite 1803 übte man die Leute im Befteigen und Berlaffen der Schiffe, das auf Signale erfolgte; die Pferde aber, die ein die untere Leibpartie umfafjendes Geſchirr trugen, brachte man mit Hilfe von Gegelftangen, melde als Krane verwendet wurden, in die Boote. Seit Dftober fegelte das ganze Gefchwaber, wie Thier8 e8 in feiner Histoire du Consulat et de l'Empire anſchaulich ſchildert, fleißig zu jeder Tageszeit aus dem Hafen hinaus und übte am nahen Meeresgeftade das Ausihffen. Soldaten wie Matrojen, die im beiten Einvernehmen lebten, machten diefe Übungen ganz gern, und um fie bei dem beſchwerlichen Dienfte in guter Laune zu erhalten, wurde ihnen höherer Lohn als gewöhnlich gezahlt.

Als Zeitpunft der Überfahrt faßte Napoleon zunächſt das Ende bes Herbfte8 1803 ins Auge, dann den Anfang und fpäter die Mitte des folgenden Winters; aber immer neue Vorkehrungen ſchienen erforderlich und nötigten den Termin binauszufdhieben. Dazu begann der Konful nad) den bisher gemachten Erfahrungen doch allmählich zu zweifeln, ob er in feinen flachen, ganz auf ſich felbft geftellten Booten das richtige Beförderungsmitlel für eine Inpafionsarmee geſchaffen habe. Es fehlte ihnen, wie fih mehr und mehr berausitellte, das Allerweſentlichſte: Beweglichkeit und Kampffähigkeit. Infolge davon wurde der bisherige Plan, der dem Haupte der franzöfiihen Republik den nicht fonderlic) ſchmeichelhaften Beinamen eines „Don Quixote de la Manche“ eingetragen hatte, endgültig aufgegeben und ein anderer an feine Stelle geſetzt. Napoleons fahmännifhe Berater verlangten nunmehr die Unterftüäßung der Ylachboote Durch eine ftarke, aus Kriegsichiffen beitehende Begleitflotte. Bet der Verteilung der franzöfifhen Marine über ale Meere und ihrer dadurch erſchwerten Konzentration mußte dann aber die Ausführung des Projektes noch weiter binausgefyoben werden; dazu fam die Inanſpruchnahme Bonapartes durch die Änderung der Verfaffung, die aus dem Konful einen Kaiſer machte. Alles das drängte die Unternehmung gegen England längere Zeit in den Hintergrund. Kaum aber hatte Napoleon die Hände frei, als er fie mit dem alten Eifer und friiher Begeifterung wieder in Angriff nahm. In diefer Zeit foll der Amerilaner Zulton ihm fein neu erfundenes Dampfboot zum Transporte der franzöfiichen Soldaten angeboten haben, aber abgewieſen worden fein, da die auf der Seine

Hapoleons Plan einer Invafion Englands 1805—1805 143

gemachten Verſuche den Anforderungen, die man an das Beförberungsmittel ftellte, nicht entfprodhen hatten. „Der Herkules des neunzehnten Jahrhunderts“ der Dampf lag eben no in der Wiege. Auch ein von demfelben Erfinder konſtruiertes Unterfeebot mit Torpeboladung erwies fich als unzulänglich für den Kampf gegen engliſche Schiffe, die der angreifenden Flotte etwa den Veg verlegen könnten. in wenig fpäter ermog man, Truppen durch riefige Luftballons, von Gay-Luffac -verbefjerte Montgolfieren, hinüberfchaffen zu laffen. Doch auch diefer Plan wurde bald wieder aufgegeben.

So kam der Hodfommer 1804 mit feinen kurzen, hellen Nächten heran, in denen eine heimliche Überfahrt, wie fie der Winter begünftigte, nicht gut denfbar war; man mußte auf Kampf und Abmehr gefaßt fein, und dazu eben bedurfte man einer Kriegsflotte. Auf Grund folder Erwägungen beftimmte en da8 Datum des 2. Yuli tragender Plan Napoleons, der in Toulon tommandierende Admiral Latouche⸗Treville folle das ihn beobachtende feindliche Geſchwader zu durchbrechen fuchen und mit feinen zehn Linienfchiffen und vier Fregatten in See ftehen, ein in Cadiz liegendes franzöfifches Kriegsihiff an fih ziehen, die in Rochefort von Collingwood blodierten fünf Linienfhiffe und vier Fregatten befreien und dann dem Stanale zuftreben, um die in den dortigen Häfen liegende Flottille nad) England zu geleiten von den vielen, ſtets wechſelnden Projekten vielleiht das verſtaͤndigſte. Da traf den Kaiſer ein barter Schlag. Mitte Auguft rief der Tod Latouche-Trevile ab, den kühnſten und vielleicht bedeutendften der damaligen franzöfifhen Seeoffiziere. Der bald ernannte Nachfolger, Billeneuve, mußte fi) erft einleben, konnte vor Dftober nicht ausfegeln und vor November nicht im Kanal fein. So ruhten einjtweilen notgebrungen die Vorbereitungen zu dem Übergange nad) England, nicht aber der raftlofe Geift des Kaiſers, der einen neuen Plan entwarf. Demzufolge folten drei Expeditionen nad) verfchiedenen Richtungen bin auslaufen und in der Verwirrung, die dieſe vorausfichtlih britiide Kolonien bedrohenden Maßnahmen, wie man meinte, in den leitenden Londoner Kreiſen hervorrufen dürften, franzöfifde Truppen nah Irland geworfen werden, wo dann ein Aufftand gegen die englifhe Herrfchaft mit Sicherheit zu erwarten war. Diefem Zwecke zu dienen, wurde die unter Ganteaume ftehende Flotte von Breit beftimmt, die fi) allerdings erft dem fie blodierenden Cornwallis entziehen mußte. Sie follte 18000 Dann auf die eine franzöfifhe Invafton fehnfüchtig erwartende Inſel hinüberführen und dann zurüdkehren, um daS Boulogner Geſchwader bei feiner Fahrt über die Meerenge zu estortieren. Aber auch auf die Nealifierung diefes Septemberplane® mußte verzichtet werden, weil es Santenume nicht glücte, fid den Händen des ihn belagernden Feindes zu entwinden. Kür den Reit des Jahres 1804 nahmen dann andere Ereigniffe, zumal die Vorbereitungen zur Krönungsfeier, den Kaifer fo ſehr in Anfpruch, daß er von der englifhen Unternehmung abgelenkt wurde; doch fiel in dieſe Zeit ein ihn hoch willlommenes Ereignis. Spanien hatte fi) zur Zahlung

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von Hilfsgeldern an Frankreich verpflichtet, daher griffen engliſche Schiffe am 5. Dftober eine ſpaniſche Silberflotte, die aus Amerila fam, an; ein Yabrzeug flog in die Luft, drei andere wurden nad England gebradit. infolge dieſes Vorganges erflärte die Madrider Negierung den Briten den Krieg und ſchloß mit Frankreich einen Vertrag, nad) dem fih ihre Flotte unter Admiral Gravina bei Fortfall der früher feitgefegten Subſidienzahlungen der franzöſiſchen anſchloß.

Doch war der Kaiſer trotz dieſer Verſtärkung feiner Kriegsmacht infolge der Aufgabe oder des Scheiterns aller engliſchen Projekte in leiner beneidens⸗ werten Lage. Nach den gewaltigen ſich nun ſchon über einen Zeitraum vom anderthalb Jahren binziehenden Rüftungen verlangte die Eitelleit der Franzoſen nad) einer Tat. Wo aber fand ſich die Gelegenheit dazu? Es gab nur einen Ausweg aus der Klemme: einen Kontinentalfrieg. Und da ſchien das Glück feinem Günftling allerdings weiter entgegenlommen zu wollen als bei jeiner maritimen Unternehmung; ja wunderbares Spiel des Schickſals! aus der mißlihen Lage am Kanal half ihm gerade fein bitterfter Hafjer heraus. Im Mai 1804 Tehrte, nachdem der ſchwache Addington verzichtet hatte, durch die drohende Gefahr der Invaſion gerufen, William Pitt in das Miniſterium zurüd, und fofort begannen nun Unterhandlungen mit den Yeltlandsitanten und DVerfuche, eine neue Vereinigung gegen Napoleon zuftande zu bringen, bie das Schwergewicht feiner Macht von dem Inſelreiche ablenten foltee Und dem energifchen und gewandten Vertreter der britifchen Intereſſen blieb die Gegen- liebe nicht verfagt. Die Mahnungen Pitts fanden zunächft in Petersburg und bald auch in Wien Gehör: die dritte Koalition begann Tatſache zu werden. Nun hatte England den Feltlandsfrieg in Ausfidt, der ihm feine drüdendfte Sorge abnehmen follte, und konnte der Genialität feines großen StaatSmannes mit den Worten feines großen Dichter Huldigen:

„Die Klugheit will ich fegnen,

Wenn Frankreichs fih und Oſterreichs Schuß begegnen!“ „Britifher Haß und britifches Gold“ waren, wie Napoleon ſpäter bei Ausbruch des Krieges feinem Heere zurief, Stifter des Bundes der Kontinentalftaaten geworden. England konnte alfo mit dem Verlauf der Dinge zufrieden fein, nicht minder aber Napoleon; denn erwies fi der Eintritt in die Welt auf der andern Seite des Kanals au) 1805 als unausführbar, durfte er ficher fein, auf dem Feftlande Erfolge zu erzielen: feine Boulogner Armee war allen Eventualitäten gewachſen.

Zunächſt freilich dachte er immer nod, vor dem Ausbruch des Kampfes auf dem Kontinente mit dem Inſelſtaate fertig zu werden; fobald dann bie britifhen Hilfsgelder ausblieben, meinte er wohl nicht mit Unrecht, würden die Bündniffe fich von ſelbſt auflöfen. Er faßte das Landungsprojelt im Jahre 1805 aljo wieder feit ins Auge, erkannte aber immer deutlicher, daß er nicht imftande fein werde, den Kanal zu paffieren, bevor feine Kriegsſchiffe

Napoleons Plan einer Invaflon Englands 1805— 1805 145

ihm den Übergang frei gemacht hätten. So wurde denn befchlofien zu ver- juchen, ob man nicht infolge einer geſchickten, durch die franzöftiche Flotte aus⸗ zuführenden Täufhung auf Turze Zeit die Herrfhaft über die Meerenge zu gewinnen vermödte; eine Berlettung glüdlicher Umftände Tonnte ben Plan gelingen laſſen. Dieſer lief im einzelnen darauf hinaus, den Hauptteil der britifden Geſchwader durch einen Scheinangriff auf außereuropätfche Beflgungen Englands aus der Nähe des Mutterlandes wegzuloden, dann ſchnell eine ftarfe franzöftfche Flotte im Kanal zu ſammeln und, durch diefe gedeckt, die Flachboote mit den Landungstruppen an Bord binüberzuführen. Am 2. März gab ber Kaifer die bezüglichen Befehle. Ihnen zufolge follte der, wie oben bemerft, in Breit kommandierende Ganteaume fich beim erften Aquinoftialfturme, ber bie Engländer die gefährliche Kanalküfte zu meiden zwingen würde, der feindlichen Blodade entwinden, nad) Ferrol jegeln, die vor dem Hafen liegenden engliſchen Schiffe vertreiben und, verftärkt durch alle dort ftationierten franzöſiſchen und ſpaniſchen Fahrzeuge, nad) Weftindien fegeln. Gleichzeitig wurde das Boulogner Geſchwader unter Billeneuve beordert, nach Cadiz aufzubredhen, die daſelbſt anfernden Schiffe an fi) zu ziehen und dann ebenfalls feinen Kurs nach dem Antillenmeere zu nehmen. Bon dort follte dann die gefamte Streitmadht fo fchnell wie möglich nad) Boulogne zurückkehren, um die Überfahrt der Landungs- flotille zu deden. Man hoffte, der Admiral Nelfon würbe mit einem bedeutenden Teile der britifchen Schiffe der verbündeten Flotte folgen, diefe ſich ihm aber in dem Labyrinthe des weftindiichen Inſelmeeres entziehen und vor ihm nad Europa heimlehren Fönnen.

Die Ausführung des etwas fomplizierten Operationsplanes ließ fih anfangs günftig an: es glüdte Villeneuve, die Wachſamkeit Nelſons, der bei Barcelona freuzte, zu täuſchen, am 80. März aus Zoulon zu entlommen, ſich in Gabiz mit Gravina zu vereinigen und das gejamte Geſchwader nad) Martinique zu führen, der Stätte, wo er mit Ganteaume zufammentreffen ſollte. Doch am 4. Juni befam er die Nachricht, daß biefer nicht habe auslaufen können; das Agquinoftium war feit Menfchengedenken zum erften Male ohne die üblichen, die ganze Natur revolutionterenden Erſcheinungen vorübergegangen. Nelion aber hatte mittlerweile erfannt, wohin die Fahrt PVilleneuves gegangen war, und ebenfalls die Antillen aufgeſucht, infolge deſſen trat der Yranzofe am 10. Juni die Heimreife an. Er gedachte, den Vorfprung an Zeit, der ihm blieb, dazu zu verwenden, Ferrol, Rochefort und Breft zu deblodieren und ſich mit den in diefen Häfen ftationterten Geſchwadern zu vereinigen; dann vermochte er, mit der enormen Zahl von 56 Schiffen im Kanal aufzutreten. Blieb die Heimfehr Billeneuves verborgen, lonnte der Plan in der Tat glüden, denn England batte im Augenblid ſchwerlich eine Seemacht zur Stelle, die ſtark genug war, der franzöfifch- ſpaniſchen Flotte mit Erfolg zu begegnen. Aber Nelfon, der bald von dem Verſchwinden feines Feindes hörte und deffen Abficht, Napoleon die Überfahrt nad) England zu ermöglichen, abnte, fchidte feiner nun ebenfalls die europäifchen

Grenzösten II 1915 10

146 Napoleons Plan einer Invaſion Englands 1805— 1805

Gewäſſer aufſuchenden Streitmadt eine fchnellfegelnde Brigg voraus, um bie englifhe Admiralität zu warnen. ‘Man vermutete in London fehr richtig, daß die Fahrt Villeneuves auf Yerrol gehe, und fand Zeit, ihm fünfzehn unter Admiral Calder ftehende Linienfhiffe entgegenzumerfen, denen er ſich plößlich gegenüberfah, als fein Geſchwader am 22. Juli bei Kap Finisterre in bie Nähe der ſpaniſchen Küfte gelangte. Es kam bier zu einer Schladt, die ument« Ichieden blieb. Wielleicht hätte der franzöfiihe Admiral nun immer noch den alten Plan ausführen und die ihn ſehnſüchtig erwartende Landungsarmee konvoyieren lönnen; aber er mußte natürlih, da feine urſprüngliche Abficht augenjcheinlih vom Gegner erraten war, gewärtig fein, bei einer Yahrt nad Norden eine ftärlere feindliche Streitmadt, eventuell Nelfon und Calder ver- eint, fi gegenüber zu finden, und mit einer foldhen bei der zweifellojen Überlegenheit der gegnerifhen Schiffe und Mannfchaften den Kampf aufzunehmen, war in ber Tot ein fehr gewagtes Beginnen. So verzichtete er darauf, nad) dem Kanal zu fegeln, und begab ſich Mitte Auguft in den woblbefeftigten Hafen von Cadiz.

Napoleon, deffen Vorbereitungen ſoweit gediehen waren, daß er ficher glaubte, die Überfahrt im Augujt unternehmen zu können, erfuhr am 20. Juli in Paris aus engliiden Zeitungen, Billeneuve fei auf der Heimkehr von Amerika begriffen, und begab fi, das Herz von Hoffnung geſchwellt und um fo mehr, als er Neljon noch in Weftindien wähnte Anfang Auguft nad) Boulogne; jeden Augenblid, meinte er, würden feine Schiffe vor dem Hafen erfheinen. Dan kann fid) die Unruhe vorjtellen, mit der der Hoffnung?» freudige wartete, was die nädjite Zukunft bringen würde; von einem erhöhten Punkte des Geftades fchaute er ab und zu nach der britiſchen Küfte hinüber, wie einft Mofes’ Auge vom Berge Nebo aus das Land feines Sehnens fuchte, das er nie betreten ſollte, und täglich fchritt er die Klippen ab oder ritt rube, 108 den Strand entlang, den Blid, der die Armada erjpähen follte, geipannt auf das Meer gerichtet. Aber die Segel PVilleneuves wollten fih nicht am Horizonte zeigen. Nach drei Wochen vergeblihen Harrens erkannte der Saifer ſchweren Herzens, daß er auf feine Flotte nicht mehr rechnen dürfe; nun mußte die antifranzöfifde Koalition nicht an der Themfe, fondern an der Donau gefprengt werden. Über Villeneuve aber goß Napoleon die volle Schale feines Zornes aus und legte ihm das Scheitern des ganzen Planes, eines ber bedeutendften feines Lebens, zur Laft. Doch ift es ihm damit ſchwerlich Ernſt geweſen; war er von der Berechtigung feiner Vorwürfe wirklich überzeugt warum fette er den unfähigen Admiral nit ab? Deſſen Rückzug lieferle dem Raifer, der die Schwierigkeit der Erpedition gegen England mit jedem Jahre deutlicher erfannte, vielmehr einen höchſt willlommenen Vorwand, davon abzu- fteben, ohne daß er jelbit fi in den Augen der Welt blamierte, für die _ Villeneuve der Sündenbod blieb. Man Tann kaum zweifeln: der Eontinentale Feldzug, in dem der Kriegsfürft bei feiner eigenen Genialität und der Befchaffen-

Uapoleons Plan einer Invaſion Englands 1803— 1805 147 beit feines Heeres feinen Mikerfolg zu fürchten hatte, erſchien ihm als ein erwünſchter Ausweg, ſich von dem verfehlten Unternehmen loszumachen; er war der zweite Pfeil, den der Verfchlagene im Köcher trug. | Es bleibt noch die viel erörterte Frage zu beantworten: bat Napoleon im Ernſt den Übergang nad) England geplant. oder wollte er feine Feinde aur in fteter Angjt vor einer Invaſion halten? Für beide Auffaffungen laſſen fi in feinen eigenen Äußerungen Stützen finden, und die Anſichten wohlunter⸗ rihteter Zeitgenofjen des großen Mannes gingen darüber fo gut auseinander, wie heute noch die Meinungen fompetenter Beurtetler. Aber follten alle die gewaltigen Vorkehrungen wirklih nur ein Gaufelfpiel und der ganze mächtige Apparat nichts als ein Popanz zur Irritation englifher Narren. geweſen fein? Sollte der Kaifer die enormen Koften, die die Seerüftung verurfadhte fie beliefen fi auf viele Millionen bewußtermaßen für nichts und wieder nichts aufgewendet und das ganze Lager von Boulogne von vornherein nur errichtet haben, um eine feftländifche Operation zu maslieren? Iſt es denkbar, daß die umfangreichen Aftenftüde, die wir in dem. mit wahrem Bienenfleike julammengetragenen, Ddidleibige Bände umfafienden Merle Desbrieres (Projets et tentatives de debarquement aux iles britanniques) gefammelt finden, nur eines Phantasmas megen gefchrieben und die unausgefehten Änderungen und vermeintlichen Verbefferungen des Landungsplanes vorgenommen fein allein einer Spiegelfedhterei zuliebe? Nein, das Projekt war ficherlich feine inte; es handelt ſich vielmehr um ein fehr ernfthaft ins Auge gefaßtes urd jahrelang mit wahrer Leidenſchaft verfolgtes Beginnen; äußerte der hart⸗ nädige Imperator doch, als er feinen Plan aufgeben mußte, Taleyrand gegen- über: „Habe ich den Kontinent zur Ruhe gebradt, werde ih an den Dean zurüdlehren, um auf3 neue an dem Frieden zur See zu arbeiten]”

Und auch die Engländer haben die Drohung des ruhmgefrönten, an ber Spige von anderthalbmal Hunderttaufend Mann ftehenden Feldherrn ernft genug genommen; das bemweifen ihre Vorkehrungen zur Abwehr. 20000 Seeleute und Filcher bielten die Küſtenwacht hinter der vorgefchobenen Linie der Brigas, Korvetten und Fregatten, die von der Scelde bis zur Somme, Schiff bei Schiff, Ausſchau hielten und fid) fogar nachts durch Signale verftändigten. Aber obgleih die Briten mit Recht in erfter Linie Wind und Wellen für die Schusgötter ihrer Heimat anfahen und fid, wie einft die Bürger Athens auf die „hölzernen Mauern“ verließen zur Sicherheit wurden doch auch im Innern wohlerwogene Vorbereitungen getroffen; es ftanden” die Franzofen zu empfangen, 100000 Dann Reguläre bereit, dazu 80000 Milizen und angeblich 400000 Freimillige diefe freilihd ohne genügende Ausbildung und unter mittelmäßigen Dffizieren. Die britifhe Nation, gewohnt, Kriege zwar mit eigenem Golde, aber mit fremdem Blute zu führen, ſah fi nun plößlich gezwungen, felbft die Waffen zu ergreifen. Doh man improvifiert feine Soldaten und noch weniger Männer, die fie zu führen verjtehen.

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148 Xapoleons Plan einer Invafion Englands 18053— 1805

Endlich muß man fragen: Tonnte der Plan einer Invaſion Englands überhaupt gelingen? Und da darf man allerdings von vornherein zugeftehen: das ganze Projelt hatte etwas Phantaftifches; es war ein Abentener, freilich ein gigantifches, etwa wie fpäter der Zug nad) Rußland. Aber damit ift nicht gefagt, daß es geradezu als Schimäre anzufehen fei; im Gegenteil, e8 ließ fich fo gewiß verwirklichen, wie es forgfältig vorbereitet war; nur etwas mehr Glüd mußte der Kaiſer haben. Ohne Zweifel konnte der neue Pharao in den Fluten verfinten, ehe er Britannien erreichte; war er aber einmal gelandet, wer wollte ihm widerftehen? Die engliſche Armee war bei der Länge ber von ihr zu ſchützenden Küfte arg zeriplittert und aud wohl den Truppen nicht gleichwertig, die bald bei Aufterlig und bei “Jena bie tüchtigften Heere Europas zu Boden warfen.

„Ringsum den Erdball ftedft du in Brand, um zu plündern im Wirriwarr,

Ahnlich dem gierigen Hai ftreichft du dahin durch die See“, - jo ſchildert der belannte ſchwediſche Dichter Eſaias Tegner die maritime Taãtigleit Englands, aber er propbezeit auch:

„Do an dem Strande einmal fteigt dir der Räder empor”,

und es fehlte nicht viel, fo übernahm Napoleon diefe Rolle eines Erekutivbeamten der feefahrenden Menſchheit. Denkbar ift ja allerdings, daß Nelfon nad) des Kaiſers Übergang möglichft viele englifche Schiffe fammelte, fi) mit dieſen in den Kanal legte und fo die Franzoſen von ihrer Heimat abſchnitt; dann wäre Rapoleon in dem von ihm eroberten nfelreiche gewiffermaßen gefangen gewejen. Aber einer fiegreihen Armee gegenüber, die auf britiidem Boden ftand, würden bie Engländer aud dann wahrſcheinlich zum Frieden geneigt geweſen fein.

Dod das wogenumgürtete Land, das fie bedrohten, haben bie franzöftfchen Krieger nie gejehen; Nelfons Steg bei Trafalgar, faum hoch genug zu bewerten, befreite e8 definitiv von der Beforgnis vor napoleonifhen Landungsplänen: der Dreizad blieb den Briten, und der Union Jack beherrfchte nach wie vor fraglos die Meere.

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Wehrkraft und Siedlung

Don Walther Elaffen

in recht falſches Bild machen fi) die meiften von den Zuftänden in Berlin Dft, indem fie fih einbilden, daß ein guter Zeil ber Männer im Kriege ift. Leider trifft das für Berlin durchaus

nicht zu. Nicht einmal ein Drittel der jungen Männer wirb bei I der Mufterung militärtauglich befunden. Natürlich ift bier ein ziemlich bober Prozentiag von Gebildeten und Kaufleuten zu zählen. Aber gerade auch bei den ungelernten Arbeitern ift der Prozentfab der Untauglichen fehr groß. Die Statiftil ergibt, daß eine in die Großftadt verpflanzte Arbeiter- familie durchſchnittlich in der vierten Generation ausftirbt. Diejenigen, die der Arbeitslofigleit ober der Vergnügungsfucht zum Opfer fallen, find bald zufunftslos. Unter diefen Umftänden fällt im Dften Berlins beinahe noch mehr als im Weiten und im Zentrum die Zahl der Männer auf. Zatfählih ift da kaum ein Unterſchied gegenüber Friedenszeiten feftzuftellen, ganz anders als auf dem Lande und in den Heinen Städten, mo zumeilen 70, ja 80 Prozent der jungen Männer im Felde ftehen.“

Diefen Sägen aus einem Bericht der Sozialen Arbeitsgemeinfchaft in Dft-Berlin muß man gegenüberftellen, daß in Hamburg, auch in einem fo un- gefunden Stadtteil wie in Hammerbroof, die Milttärtauglichleit eine viel größere it. Schon im Auguft madte fi) das Fehlen der Männer bemerkbar, und foweit meine Beobachtungen reichen, waren die Nefrutenjahrgänge der lebten jahre weit beffer als vor etwa zwölf Jahren.

Was mag der Grund fo abweichender Erſcheinungen fein? Zunädft ift Berlin noch viel größer. Daher find eben noch viel größere Maſſen ſchon an- gefränlelter Menſchen vorhanden, und ſchieben fi in gewiſſen Stadtteilen zufammen. Hamburg aber hat gewifje Vorzüge. Im ganzen aber bin id) auch der Meinung, daß der jehige Zuftand des großſtädtiſchen Lebens rettungslos zum Untergange führt. Was find die Gründe, daß im Augenblid trogbem Hamburg außerordentlich viel militärfähige Männer geftel!t hat? Erſtlich: die Hafenarbeit und der Handel überhaupt mit feinen vielen Kutfchern und dem bewegten Leben auf der Straße hält viele Männer gefund. Zweitens: Hamburg hat einen größeren Kern homogener Bevölferung als Berlin. Die Niederfachien aus Holftein, Medlenburg und Hannover herrſchen vor, und aus den breiten,

150 Wehrfraft und Siedlung

bäuerlichen Gebieten bringen fie eine fehr wieberftandsfähige Yamilienfitte mit. Im bäuerlichen Gebiet ift auch die Arbeiterfamilie im Befl einer ganz er- beblihen alten Kultur. Es ift Zucht in diefen Yamilien, und damit fommen wir zu zwei Gefichtspunften, welche bisher bei den Erörterungen über die Wehrfähigkeit der Jugend viel zu wenig beachtet worden find.

Eins der ſchwierigſten Probleme bei den Jugendkompagnien ift die Disziplin. Wirkliche Zuverläfftgleit und fittliche Willenskraft find ohne Disziplin gar nicht berauszubilden. Hier muß man fi) aber Har werden, daß man unmöglid in einer Gruppe Menfhen Zucht erzeugen kann, wenn die Umwelt durdaus zudtlos if. Wil man die Jugend militärifch ertüchtigen, fo muß man von vornherein dorthin feinen Blick richten, wo im bürgerliden und Familienleben die Gefahr am größten if. Das ift aber unmittelbar nad) der Schulentlafjung. Wir werden gut tun, nad) einem Zeitalter allzugroßer Weichheit auch in dem Schulen die Zügel wieder ftraffer anzuziehen, doch nübt das nichts, wenn man hernach die Jugend völlig ihren Launen und Leidenfhaften überläft. Die freimillige SJugenppflege ift heute an den Grenzen des Möglichen angelangt. Auch ftaatliche Unterftügung hilft ihr nicht weiter. Wo die Kinder nad) den Schuljahren ins Scidfal der jugendlichen Lohnarbeiterſchaft bineingeftoßen werben, da ift feine Hoffnung für Selbftzudt und Selbfterziehung der Jugend unter freiwilligen Führern. Die freiwillige Jugendpflege aller Richtungen greift über die an Zahl lleiner werdenden Kreife der gelernten Berufe faum hinaus, bat viele Landgebiete faum erreiht. Je mehr wir aber Kinder ſchon uner- zogener Eltern befommen, um fo fchwieriger wird die Lage. Darum muß die ſchulentlaſſene Jugend unter die Disziplin des Staates geftellt werden. Der Drt für diefe Arbeit ift die Fortbildungs und höhere Schule. Denn neben biefen beiden noch eine die ganze Jugend umfafjende Drganifation zu fchaffen, ift unmöglih. Woher follte für die Jugend die Zeit, für den Staat Geld und Erzieherftand fommen? Die Fortbildungsſchule allein kann uns diefe Disziplin bringen. Die Ausbildung des Lehrerſtandes ift eine der mwichtigften Aufgaben für. die Zulunft, auch für die Wehrhaftigfeit unferer Nation. Ein Zeil diefer Lehrer wird die förperliche Ausbildung diefer “Jugend übernehmen.

Anderjeits foll der Sonntag geſetzlich von allen Schulpflichten befreit werden. Das ift eine foztale Forderung. Aber auch wichtig für die Wehr- fraft, denn auch für jene Gebiete, aus welcher die legten fittliden Kräfte des Volles ftammen, muß Raum fein, nämli für daS Leben der Familie und au für jene freiwilligen Vereine, melde die für das fpätere Familienleben wertvollen Kräfte de8 Gemüt pflegen. Weltanfhauung, Religion, Poefie, Kunſt, Wanderluft gedeihen nur im Bereich der Freiheit. Nimmt die Fort- bildungsjchule die Jugend in Zucht, fo werden erft die Früchte der freiwilligen Arbeit unter der Jugend recht eigentlich reifen.

Bor allen Dingen aber wird das Alter zwifchen ftebzehn und zwanzig Jahren, welches wirtſchaftlich felbititändig wird, für die Arbeit in Turnvereinen, Jugende

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Wehrkraft und Siedlung oe 151

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kompanien oder religiöſen Vereinen eine ganz andere Tüchtigkeit mitbringen. Der Reichtum deutſchen Weſens und deutſcher Begabung bedarf auch einmal der Entfaltung in mannigfacher freier Weiſe. Man kann nicht den Weg vom vierzehnten bis zum einundzwanzigſten Jahre bis in alle Einzelheiten vorzeichnen.

Und damit kommen wir zu dem bis jetzt in der öffentlichen Erörterung völlig unberührten Geſichtspunkt: die Wehrfähigkeit eines Volles hängt non ſeiner Zucht ab, und die Zucht letzten Grundes von den Müttern. Die außerordentliche körperliche Tüchtigkeit und ſittliche Energie vieler großſtädtiſcher Rekruten danken wir den Turnvereinen und vielen Jugendvereinen. Aber dieſer Erfolg-war nur möglich, weil wir noch die Söhne tüchtiger Mütter hatten. Ein feiner Beobachter ſah ſchon die Abnahme der Erfolge voraus, je mehr Kinder ſchon unerzogener Mütter heranwachſen.

Darum muß die förperlihe wie hausmwirtfchaftliche Erziehung eingeführt werden für die gefamte weibliche Jugend. Um aber die rechten Wege zu finden bei den verfchiedenen gewerblichen und örtlichen Vorbedingungen, muß jeßt ohne Säumen und umfaffend noch viel gründliche Vorarbeit geleiftet werben.

Für eine erfolgreiche Erziehung der Mädchen muß jedenfalls in manchen gewerblichen Betrieben die weibliche Arbeitszeit verfürzt werden.

Aber niemand glaube, daß diefe Erziehung der Mädchen in der Fort- bildungsfchule einfach ebenfo gut und volllommen geleijtet werden könne wie die der ungen. Bei diefen ergänzt die Schule die Erziehung durch die berufliche Arbeit. Und felbft, wo diefe Arbeit einförmig in kaufmänniſchen und induftriellen Betrieben geichieht, wird doch in der Kameradſchaft der Arbeit der Junge anders gehoben und geftählt als das Mädchen. Zu viele der neueren Berufe genügen nicht, um die natürlichen Kräfte und Fähigkeiten des Mädchens zu entwideln. So bleibt es babet, daß mit der Auflöfung der Familie als Arbeits» gemeinfchaft, Müttern und Töchtern das natürliche Feld zu geiftigem und fitt- lichem Wachstum, und damit auch zur vollen Blüte der Gefundheit genommen ift.

Kiefe Beengung des weiblichen Lebens bebroht die Volls- und Wehrkraft induftriel arbeitender Nationen. Nur eines hilft: Verbreiterung für das Leben der Familie. Zu eng ift die ftädtifhe Etagenwohnung, wenn aud) hygieniſch und künſtleriſch freundlich geftaltet, für eine geſunde Lebensgemein- ſchaft. Dieſe braudt mehr Raum und mehr einander dienende und tragende Perſönlichkeiten. Darum muß ein Teil der ftädtifchen und induftriellen Be— völferung mit Garten und Gemüfeland angefiedelt und die Zahl der wirtſchaft⸗ lich jelbftändigen Heinen und mittleren Stellen muß vermehrt werden. Nur aus dieſem Arbeitsgrunde können Töchter und Mütter in rechter Kraft der Nation erwachfen, und alsdann auch wirflich wertvollen neuen weiblichen Be— rufen ſeeliſch und leiblich tüchtig und felbftändig fild zumenden. Und erit dann wird großer Segen über der weibliden Fortbildungsſchule fein.

Alle unfere Beitrebungen für Yugend und Wehrkraft find alſo noch nicht auf dem rechten Boden angelommen, folange wir nicht den Boden unter Die

152 Krieg und Schule fleißige Hand der felbitändigen Familie geben. England tft uns an geiftigen und fittlihen Kräften unterlegen, weil es den Urquell germanticher Vollskraft zeritört bat: das Dorf, fo gründlich, daß es im Englifhen für Dorf gar kein richtiges Wort mehr gibt.

Aus dem Dorf iſt die Urform unferer Familie erwachſen, die Familie muß wieder breitern Raum haben, dann werden uns auch wieder rechte Mütter erzogen. Jeder aus dem Felde heimlehrende Mann fol ein heiliges Gelübde tun, für des deutſchen Volkes Zukunft zu fämpfen, indem er hilft, den beutfchen Familien den Boden wieder zu erobern.

Hrieg und Schule

Don Dr. R. Shadt

I er Krieg bat auf allen Gebieten des öffentlihen wie privaten eLebens fo mannigfache Ummälzungen gebracht, daß es wunber- ARE I nehmen müßte, wenn er nicht auch in dem großen Bereich der APädagogil nachhaltig eingegriffen hätte. Es war aljo ein nicht x = freudig genug zu begrüßender Gedanke, das neu geſchaffene und proviforiih an der Potsdamer Straße eingerichtete Zentralinftitut für Erziehung und Unterricht, defien Zwede und Ziele die Tagespreſſe hinreichend auseinander- geſetzt hat, außer mit einer ausgezeichneten und fehr fehenswerten Ausitellung „Biologiſche Schularbeit" mit einer Sonderausftelung „Schule und Krieg“ zu eröffnen. Diefe Ausftelung will nad den Worten des Führers „an ausgewählten anfchaulichen Beifpielen zeigen, welde Wirkung der Krieg auf die Arbeit der Schule und darüber hinaus auf die Erziehung, Bildung umd Betätigung der Jugend überhaupt ausgeübt hat und vorausfichtlich weiter ausüben wird.” Sie gibt alfo im mwefentlichen auf folgende Fragen Antwort: Welches Bild maden fih die Kinder vom Krieg? Wie kann ihre Teilnahme erhalten und vertieft werden? Inwiefern kann die Schule Kriegsarbeit leilten? und endlich: wie fann der Krieg erzieberifchen Zwecken dienftbar gemacht werben?

Für den auf Piychologie gerichteten Sinn ift namentlih das die erite Trage beantwortende Material von allergrößtem Intereſſe. Alle Alter und Klaſſen find vertreten: von den Kleinften, die nur erjt mit ängftliden Augen zu ftammeln wiſſen: „Der Krieg ift ſehr groß”, „wir beten, daß der Krieg nicht zu uns kommt“, oder am Schluffe ihres Heinen, wenige Zeilen langen Geſchreibſels noch in fchönfter Ehrlichkeit verfihern: „Ich mag nicht in den Krieg“; den etwas größeren, die fi an ſtark bervortretende zugleich

Krieg und Schule 153

laͤcherlich und fchaudernd empfundene Einzelheiten hängen wie: „Die Rufen haben Leif“ (Läufe), „Die Franzofen und die Nuffen effen zum Bier das Bierfilzl auch dazu und die Ruſſen die Schmierfeife auf das Brot“ (aus der Umgegend eines füddeutihen Gefangenenlagers), wie eine Zehnjährige ernfthaft belehren: „Und wenn ein Mann bei der Infanterie ift, hat er nichts zu laden, denn da pfeift gar oft eine Kugel dur das Regiment“, und tapfere neunjährige Jungen, die im Lapidarftil die offenbar höchſt perfönlich empfundene Verficherung abgeben: „Der Hindenburg ift ein Mann (nehmt alles nur in allem!), er bat fon viele taufend Feinde gefangen“, oder folgenden beldenhaften Traum erzählen: „Ich habe auch in den Krieg gemüßt. Da habe id vom bin gemüßt. Dann habe ich zwei Negimentern den Kopf berunter- geihlagen, dann habe ich das Eiferne Kreuz gekriegt“ (adhteinhalb Jahre); bis zu den größten, die ſchon zufammenhängende Erlebniffe und Beobachtungen niederjchreiben und mit allerliebften Zeichnungen zu illuftrieren wiſſen, ben Primanern und Selundanern, die, was fie über die neueften Waffen ober das Flugweſen gelernt haben, wiedergeben oder, freilich meift allzu fchematifch, die Urſachen des Krieges erörtern und in an den Vater gerichteten Brief- auffägen verfiddern, daß keinerlei Abenteuerluft fie treibt, ſich freiwillig zu melden. Lehrreicher noch als dieſe mit zunehmendem Alter faft durchweg unperjönlicher und farblofer werdenden Auffäge find unvermutet angeordnete, beitimmte Fragen beantwortende Niederfchriften, die am beften zeigen, was den Kindern vom Krieg gegenwärtig ift, welche Einrichtungen, Heerführer, Waffentaten den meiften Eindrud auf fie gemacht haben. Bor allem aber die freiwillig geführten Zagebücher Hamburger und Berliner Gemeindefchüler und -Schülerinnen. Hier ift den Kindern volle Freiheit gelaffen, ſich auszufprechen, viel oder wenig ein- zutragen, gelegentlich nach freier Wahl in der Schule daraus vorzulefen. Das Refultat ift geradezu glänzend, man merlt den Kindern förmlid die Freude an der Schilderung an. Kleine Familienbilder von zartem Reiz oder unfreimilliger Komik, Straßenerlebniffe, Petroleumnot und Kriegsbrot, Lebensmittelpanif, Eintreffen der Siegesnachrichten und im Tialelt geführte Geſpräche find mit naiver Kunft in al ihrer typiſchen Lebendigkeit feitgehalten und wenn es geihehen könnte, daß die Schreiber nicht8 von einer Veröffentlihdung erführen, jo wäre e8 dringend erwünſcht, eine Auswahl des Gelungenjten zur großen Freude des Pſychologen, Erziehers und Hiftorifers zufammenzuftellen und durch den Drud allgemein zugänglid zu maden. Sehr aufihlußreih find auch mandje der Tleinen Gedichte. Allerdings ift auch ſchon mander angelejene Schwulft darunter und viel Phrafe, hier und da aber doch auch ein rührender oder die Seele warm durchleuchtender unmittelbar ergreifender Naturlaut. So wenn ein Duintaner einen „Abend in Dftpreußen“ ſchildert: „Es ſchläft ſchon das Kindlein

Dort hinten in der Hütte Die Mutter bat, daß Gott den Frieden ausſchütte.“ (1)

154 Krieg und Schule

Oder das ſchlichte Bild von einem zebnjährigen Mädchen: (2. Strophe) „Und wenn fie abends fchlafen gehn, Bleibt die Mutter vor der Haußtür ftehn. Liebe Mutter, auf wen warteſt du? Ah liebes Kind, Ah weiß nicht, ob uns Vater wiederfind’t.”

Anderfeits fehlen auch burſchikoſe Verfe nicht, wie das Gedicht einer elf- jährigen Heinen Berlinerin auf Hindenburg beweilt, defjen dritte Strophe lautet „Er belam da8 Kreuz der eriten Klaflen

Und ſprach: ich Tann nidt laflen, Ich muß die Ruſſen hauen, Sonft werden fie und alles klauen.“

Dder ein fchlagender Klapperreim wie der folgende:

„Hindenburg der feine Macht ganz Oſtpreußen reine.”

Mehr erreichen ſchließlich die meisten Erwachſenen auch nicht, und meilt bleiben fie dahinter zurüd, weil die angewandte Mühe dem Effekt nicht ent- ſpricht. Zu warnen ift entjchieden vor allen Veröffentlihdungen von Kinder gebichten, die auf die Kinderpſyche einen geradezu verheerenden Einfluß aus- zuüben pflegen.

Überaus lehrreich ift ferner die große Maffe von Kinderzeihnungen mit friegerifhen Vorwürfen. Am beliebteften feheinen bombenmerfende Zeppeline und Stürme auf Schügengräben zu fein, aber auch behaglich oder ſchalkhaft er- zäblende Blätter von der Ankunft der Liebesgabenautos und ähnliches fehlen nicht. Beſonders intereffant ift es dabei, die mit größerem Alter allmählich) bewußt oder unbemwußt auftretende Einwirkung bildliher Vorlagen zu ftudieren, die übrigens meiltens ſehr frei benußt oder Doch zum mindeſten durch befonders bervorgehobene oder ergänzte Einzelheiten ſtark belebt werden. Nur Vereinzelte haben den Drang, wirflih Bilder zu malen, der Mehrzahl ift es nur um die ſtets Start empfundene Sache zu tun, was natürlich, vor allem bei den ſo⸗ genannten Wapierbildern (aus aufgellebten bunten Papierfilhouetten) ſtarle de- forative Wirkung nicht ausschließt. Wer fich im einzelnen mit der Piychologie der Kinderzeichnung beichäftigt, findet bier reichliches, durch die ftoffliche Ein- beitlichfeit und die verhältnismäßig leicht Tontrollierbaren Vorſtellungen des Dargeftellten befonders wertvolle8 Material. Auch interefjante plaftifche Dar- ftelungen, wie die Heldentat von „U 9“ find bier zu feben.

Wie die Empfindung und das Intereſſe für den Strieg und das Wiſſen von ihm vertieft werden können, dafür gibt die Ausftellung Beifpiele in Hülle und Fülle. Die Hauptſache iſt Selbjtbetätigung: man ftellt ganz einfach ganze Zweige der Schultätigleit in den Dienft des Krieges, fo wie e die “Jugend wehrbewegung, die ebenfall® vertreten ift, mit den ſonſt auf Sport gerichteten Kräften tut. Dahin gehören Elternabende zugunften des Noten Kreuzes mit Dellamation und Meinen Vorführungen, Lazarettbefuche mit Chorgefängen, Liebes-

Krieg und Schule | 155

gabenverfand, Goldſammlung, Stridarbeiten, Selbftanfertigung von illuftrierten Boftlarten, Ausſchnitiſammlungen für VBermundete, Anfertigung von Spielſachen (aus Zigarrenkiſtenholz au&gefägte, felbitbemalte Tiere ufm.) für unbemittelte Kinder; al das ift lehrreich und, wenn es gründlicd gemacht wird, vertiefend zugleich.

Endlich ift der Krieg, wie für die Erwachlenen, fo au für die Jugend ein Erzieher geworden. Alle Dinge, alle Wiſſenſchaften, alle geübten Fäbig- feiten belommen mit einem Male eine ganz andere Wichtigkeit, einen ganz neuen, unmittelbaren Wert. Welche Beziehungen zum Leben gemwinnen jeßt unter der Hand eines nur einigermaßen geſchickten Lehrers Geſchichte und Geographie, Mathematil, Phyſik und Chemie, wel anderes Echo ermweden jegt die Nibelungen, und fogar der ſonſt mühſelig präparierte Cäſar kann ein bobes Anfehen gewinnen. Wie kann das Unbedeutende wichtig gemacht werden, wie bedeutfiam wird Nealientunde. Db man in einer Rechenftunde die Ge- fangenen zufammenzählen läßt oder unter Anwendung der Prozentredinung die Brotverforgung erörtert, ob man im Franzöſiſchen oder Engliſchen fremdſprach⸗ liche Zeitungen: vorlieft, ob man Flugbahnen der Geſchoſſe oder die Geſchwindigkeit von Eifenbahnen und Automobilen berechnen läßt, ob man elementare Nahrungs» mittelchdemie treibt oder die ſchlechte Wärmeleitung von Papier demonftriert für all dies findet man eine Fülle von Beilpielen in der Austellung überall trägt die Schulftunde doppelte Früchte: das Willen vom Krieg, von unfrer Stellung in der Welt und unſrer Leijtungsfähigfeit wird erweitert, und die geleiftete Arbeit wird als notwendig und gewinnbringend erwieſen. Ver⸗ ttefung .und Belebung auf allen Gebieten der Schule, daS hat der Krieg, der Zerftörende, der Pädagogik gebracht und fih damit wiederum erwieſen als

„Ein Teil don jener Kraft, | Die ftetd das Böſe will und ſtets das Gute ſchafft.“

Wer immer die Ausftellung beſucht, wird fie reih an nützlichen Ein-

drüden verlaffen.

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Reiters Morgenruf

Brauner, wach' auf!

Schon gleißt von Oſten gelb und fahl

Der gold'nen Sonne erſter Strahl.

Schon regt's fi rings in Buſch und Strauch. Schon weht vom Berg mit fühlen Hauch Der Morgenwind das Tal herauf.

Brauner, wach' auf!

Brauner, wach' auf!

Haft lang genug im Stall geträumt! Jetzt beißt e8 handeln ungejäumt! Der Würfel rollt, e8 reift die Saat. Jetzt gilt das Eifen, gilt die Tat, Kanonenrohr und Flintenlauf! Brauner, wach' auf!

Brauner, wach' auf!

Den Sattel ber, und Gurt und Zaum! Schon blitzt's am fernen Waldesfaum, Schon bebt der Grund vom Roßgeftampf, Schon raucht das Land im Pulverdampf, Schon liegt die Fauft am Degentnauf! Brauner, wach' auf!

Brauner, wach' auf! Zum Himmel gellt Trompetentuf. Nun brauch’, mein Braver, Herz und Huf, Bis Lanzenftoß und Pallaſchhieb Die Feinde auseinander trieb. Attadel Vorwärts! Spring’ und lauf’! Galopp und draufl! Brauner, Brauner, wa auf!! Roderich Key

Uriegstagebuch

17. April 1915. Ein britiſches Unterſeeboot in der Nordſee verſenkt.

18. April 1915. Abgewieſene engliiche Angriffe läng® der Bahn Hpern—Somines, franzöfiihe Angriffe in den Bogefen zurüdgeichlagen.

18. April 1915. Feldmarſchall v. d. Golg wird zum Ober tommandierenden der 1. türkiſchen Armee ernannt.

18. April 1915. Rumänien verlängert da® Moratorium um vier Monate.

18. April 1915. Das engliihde Transportſchiff „Manitou“ von einem türliihen Zorpedoboot an der Tleinafiatiihen Küfte torpebdiert.

19. April 1915. Abgeſchlagene franzöfiihe Angriffe in den Ars gonnen, bei Flirey und auf den Sillader Höhen in den Bogefen. Erfolg» reihe Angriffe unferfeit® am Croix des Carmes, wo wir in die feindliche Sauptftellung eindringen, weftlid) Avricourt, wo das Dorf Embermenil im Sturm genommen wird und am Hartmannsweilerkopf.

20. April 1915. Offene Städte im füdlichen Baden von feindlichen Zliegern bombarbdiert.

20. April 1915. Franzöſiſche Angriffe bei Ze Your de Paris, bei Megeral und Sondernach abgewieſen.

20. April 1915. Bialyſtok in Vergeltung für ruffiihe Flieger⸗ angriffe auf Anfterburg und Gumbinnen mit 150 Bomben belegt.

20. April 1915. In den Waldlarpathen im obern Ezirofatal beftige ruffifhe Angriffe unter fchiveren Verluften für den Feind zurüd- geihlagen, über 38000 Gefangene gemadit.

20. April 1915. Für die Türken erfolgreiches Gefecht gegen die Engländer bei Ahvaz.

21. April 1915. Abgeſchlagene franzöfiihe Angriffe im Prieſter⸗ wald und am Hartmannsweilerfopf.

21. April 1915. Bei abgewiejenen ruffiiden Angriffen am Uzſoker Paß in den Karpatben 1200 Mann gefangen.

22. April 1915. Bei Ypern die Orte Langemard, GSteenftraate, Set Sa und Pilkem im Sturm genommen, den Übergang über den Yern⸗ fanal erzwungen, 1600 ranzofen und Engländer gefangen, 30 Geſchütze, darunter vier ſchwere engliihe, erobert. Zwiſchen Milly und Apremont Infanterienahkämpfe.

22. April 1915. Die deutſche Nordſeeflotte unternimmt Kreuz⸗ fahrten in der Rordſee bis in die engliſchen Gewäſſer und ſtellt feſt, daß die Nordſee frei von feindlichen Schiffen iſt.

28. April 1915. Franzöſiſche und engliſche Angriffe nördlich und nordöftlih bon Ypern unter ſchweren Berluften zurüdgewiejen, Lizerne

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Kriegstagebud;

weitlih de Kanals erftürmt. Die Zahl der Gefangenen bat fih auf 2400 Franzoſen, Engländer und Belgier erhöht, der Geſchütze auf 35, eine große Anzahl Mafchinengewehre, viele Gewehre und fonftige® Material erbeutet. Bei Beau Sejour einen feindlihen Schüßengraben gejprengt. Am Aillywalde für und erfolgreider Bajonettlampf.

24. April 1915. Bei Hpern die Orte St. Julien und Kerfielaere geftürmt, 1000 Engländer gefangen, mehrere Maſchinengewehre erbeutet. Ein engliiher Gegenangriff weftlih St. Julien unter ſchwerſten Verluften geicheitert. Auf den Maashöhen füdweftlihd Combres mehrere hinter⸗ einanderliegende franzöfiiche Linien im Sturm durchbrochen, 1600 Franzoſen gefangen, 17 Geſchütze erbeutet.

24. April 1915. Schwaͤchliche ruſſiſche Angriffe weſtlich Ciechanow abgewieſen. Bialyſtok in Vergeltung gegen einen ruſſiſchen Fliegerangriff auf Neidenburg mit 20 Bomben belegt.

24. April 1915. Im Orawatal in den Karpathen die Ruſſen im Sturm von der Höhe Oftry geworfen, 662 Mann gefangen. |

24. April 1915. Frankreich verlängert das Moratorium auf Wechſel ufw. bis 28. Juli.

25. April 1915. Nordweſtlich Zonnebeke 1000 Kanadier gefangen, die Geſamtzahl der Gefangenen bei Ypern erhöht ſich danach auf 5000 Senegalneger, Engländer, Turkos, Inder, Franzoſen, Kanadier, Zuaven, Algerier —, die Zahl der genommenen Geſchütze auf 45. Auf den Maashöhen mehrere Bergrüden weitlih Led Eparges im Sturm ge nommen und mehrere bundert Gefangene gemadt, in den Bogefen den Sartmanndweilerfopf wiedergenommen und hierbei 7860 Frangofen ge» fangen, ſechs Minenwerfer, vier Majchinengewehre erbeutet.

25. April 1915. Heftige Kämpfe in den Sarpathen, öſtlich des Usfoler Paſſes. Ruſſiſche Angriffe zur Wiedereroberung der Höhe Oſtry unter ſchwerſten Berluften der Angreifer zurüdgeichlagen, in der Verfolgung 26 ruſſiſche Schüßengräben genommen. Bei Koziowa einen neuen Stütz⸗ punlt des Feindes genommen, über 1000 Dann gefangen.

26. April 1915. Starle Angriffe auf unfere eroberten Stellungen bei Ypern unter außergewöhnlich ſchweren Verluſten abgewieſen; bisher bei Ypern 50 Maſchinengewehre erbeutet. Franzöſiſche Angriffe in den Argonnen, auf den Maashöhen und am Hartmannsweilerkopf gefceitert.

26. April 1915. Allgemeiner Angriff der englifhen Flotte und Armee gegen die Dardanellen, die engliihen Landungstruppen dur bie Türken geihlagen, ein Xorpedoboot verjentt, mehrere andere Schiffe be» ſchädigt.

26. April 1915. Der deutſche Hilfskreuzer „Kronprinz Wilhelm“ wird in Newport New3 interniert.

26. April 1915. Der franzöfiihe Panzerfreuger „Leon Gambetta“ beim Kap Santa Maria di Leuca an der Straße von Otranto durch ein öfterreichifche® Unterfeeboot verfentt.

27. April 1915. Heftige Angriffe der Engländer bei Ypern, einen franzöfiihen Angriff im Priefterwald zurüdgeichlagen, &efangene gemacht, vier Maſchinengewehre, 18 Minenwerfer erbeutet.

27. April 1915. Rordöftlich und öſtlich von Suwalki auf 20 Kilometer Breite ruſſiſche Stellungen genommen, nördlich Praſzuyſz 470 Ruſſen gefangen, drei Maſchinengewehre erbeutet. |

Kriegstagebudh 159

—— ——— —— ——— —— —— —— —— re

28. April 1915. Schwere feindliche Angriffe auf unſere neuen Stellungen bei Ypern unter jehr ftarfen Berluften für die Feinde abgewieſen, bieber in den Pperntämpfen 63 Gefhüge erobert. Franzöſiſche Angriffe bei 2a Baſſée Bethune und nördlih von Le Mesnil abgeichlagen.

28. April 1915. Einen ruſſiſchen Stügpunlt bei Dachowo ſüdlich Sodarzew erobert, dad Dorf Kowale bei Kalwarja und die Höhe jüdlich davon genommen. Sn den Slarpatden im Oportal einen ruſſiſchen Angriff abgeichlagen.

29. April 1915. Deutihe Luftihiffe bombardieren die englifche Dftküfte. 29. April 1915. Abgeſchlagene feindliche Angriffe: bei Ypern, bei Ze Meznil, auf den Maathöhen. Bei den Kämpfen auf den Maashöhen bom 24. bis 28. April über 4000 Franzoſen gefangen.

29. April 1915. Im nordwelitliden Rußland erreichten unfere Vortruppen in breiter Front die Eijenbahnlinie Dünaburg—Libau. Bei Kalwarja größere ruffiihe Angriffe abgewiefen, 5600 Mann gefangen. .

80. April 1915. Dünlirchen dur deutihe Artillerie erfolgreich bombardiert. Rerluftreiche abgeichlagene feindliche Angriffe bei Ypern.

80. April 1915. Ein ruſſiſcher Dampfer an der Beftlüfte Irlands durch ein deutiches Unterſeeboot verfentt.

80. April 1915. Die Türlen jchlagen die Engländer bei Kaba Zepe und nehmen mehrere Maſchinengewehre. Ein englifch » auftralifches Unterfeeboot „Ae Il“ in den Dardanellen zum Sinten gebradt.

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160 Kriegstagebud

80. April 1915. Szawle von ben Ruſſen in Brand geftedi, fie ziehen fi auf Mitau zurüd; etwa 1000 Ruſſen gefangen, gehn Mafchinen- gewwehre, große Mengen von Bagagen, Munitionswagen und bejonders viel Munition erbeutet. Bei Kalwarja ruffiihe Angriffe abgefhlagen, 850 Ger fangene gemadt. Südweitlih von Auguſtow eine unferer Borpoften- kompagnien durch nädtlihen Überfall ſchwer gefchädigt.

80. April 1915. Ruſſiſche Angriffe auf die Höhen zwiſchen Orawa und Oportal abgewiejen, 500 Gefangene gemacht.

80. April 1915. Hftlih Trebinje montenegriniide Kräfte durch die Öfterreichifhe Artillerie zerftreut.

1. Mai 1915. Engliſche und frangöfiihe Angriffe bei Ypern ab⸗ gewieſen, drei Mafchinengewehre erbeutet. In den Argonnen nördlid Your de Parid mehrere franzöfiihe Gräben erobert, 156 Gefangene gemadt, im Brieftertvalde 90 Franzoſen gefangen.

1. Mai 1915. Bei Szawle weitere 400 Ruſſen gefangen, deutiche Bortruppen ſüdweſtlich Mitau angelangt, bei Kalwarja 800 Gefangene gemacht.

1. Mai 1915. Einen ſtarken ruſſiſchen Stüßpuntt auf einer Hohe bei Oftry in den Karpathen erobert, mehrere hundert Ruſſen gefangen.

2. Mai 1915. An den Karpatben auf einer Front von 50 Kilo» metern die Auffen vollftändig geſchlagen, 40000 Mann gefangen.

Allen Manuſkripten ift Borto hinzuzufügen, ba andernfalls bei Ablehnung eine Rückſendung nicht verbärgt werden kann.

Nachbdruck fämtlidder Uuffäge nur mit ausbrücklicher Erlaubnis Des Berlags geſtattet. rtlich: ber Serausgeber Beorg Cleinow in Berlin Lichterfelde Wei. Manuſtriptſendungen und Briete werden erbeten unter der Abrefle: Un den Gerandgcher der Greuzboten in Berlin - Lichterfelde Welt, Sternſtraſe 56. Bernipredder bes Herausgebers: Amt Lichterfelde 498, des Verlags und der Schriftieitung: Amt Lüyomw 6610 Berlag: Berlag der Srenzboten G. m. b. H. in Berlin SW 11, Xempelhofer Ufer 85a. Druck: „Der Reihäbote" G. m. 5. 9. in Berlin SW 11, Deflauer Straße 86/37.

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Agents provocateurs

5 einer Einrichtung nicht vorübergehen, die eine große, für den | AWeſteuropäer unheimliche Rolle fpielt: dem Syftem der Agents —M provocateurs. Die Dohrana, die ruffiihe Geheimpolizei, deren | = ſchrankenloſe Willkür in Rußland von jeher das Korrelat des Abjolutismus war, bedient ſich diefer Einrichtung in einem Umfange und mit einer Gemifjenlofigfeit, wie wir fie jonft in der Geſchichte nur in orientalifchen Satrapenjtaaten fehen, wo Menfchenleben wertlos find. Die Dchrana fpielt dabei um hohen Einſatz. Sie ſchützt den Zaren, jhüßt die hohen Würdenträger des Reiches, die ausführenden Organe der abjoluten Madt. Ihr find die Pläne der Terroriſten befannt, die gegen Zar und Minifter im Werke find, aber die Ochrana ift auch unter Umftänden durch ihre Agenten ſelbſt und das ift das Unheimliche an ihrer Wirkfamleit Miturheberin diefer Pläne. Sie läßt die Attentate reifen, wenn es ihr gefällt, oder fie läßt die Sache gehen und ... fommt zu fpät. Manchmal aber wird das Werkzeug, deſſen fie fi bedient, ſtärler als der Meifter. Sie hat die Kontrolle über den agent provocateur verloren, der als Leiter des Attentats feinen revolutionären Freunden gegenüber vielleicht gerade im gegebenen Falle ein Intereſſe daran bat, das Attentat zu Ende zu führen.

Der vollendetfte Typ der „provolagia“, wie der Ruſſe das ganze Syitem nennt, war fiherlich Aſeff. Er hat beinahe feit feiner Kindheit im Dienfte der Ochrana geftanden, jechzehn Jahre hindurch hielten ihn die Revolutionäre für einen der ihren. Erſt Burtzeff, der befannte jetzt nad Sibirien verbannte Herausgeber der ruffifchen revolutionären Zeitfchrift Byloje, fonnte ihn entlarven. Was für eine Rolle Ajeff bei den Attentaten der jüngften ruſſiſchen Vergangenheit gefpielt Hat, fieht man aus einer Zufammenftellung, die Frau Jarintzoff in ihrem lejenswerten Buche über Rußland gibt. Cr bat mitgeholfen an der

Grengbsten M 1915 11

( N AD enn man das ruffifhe Leben bejchreiben will, fo darf man an a

162 Agents provocateurs |

Drganifation der Attentate gegen ben Dberften Min, gegen ben Petersburger Stadthauptman von der Launitz, gegen den belannten Staatsanwalt Pawloff, ber vom Petersburger Publikum der „Henker“ genannt wurde. Die Revolutionäre vertrauten ihm blind. Wie follten fie auch einem Manne feinen Kredit geben, der die Pläne zur Ermordung von Plehwe und vom Großfürften Sergjei entworfen battel Dazu kam feine Teilnahme an den Attentaten gegen Trepoff, Kleigels, Unterberger, Durbafloff, Durnowo und andere, von denen jeder feinen reichlichen Anteil an der Errichtung der mehr als fiebentaufend Schafotte gehabt batte, die Rußland während der Regierung Nikolaus des Zweiten gejehen bat. Aſeff hatte fih alfo an der Nahe der Revolutionäre an der Regierung wirlfam beteiligt. Aber er hatte anderfeitS Hunderte von Nevolutionären in die Hand der Dohrana geliefert, „die Partei Hatte durch ihm ihre Arbeiter verloren, wie ein Wald im Herbit feine Blätter verliert.” Wir kennen den fchließlihden Ausgang von Afeffs Gefchichte; er wurde im Dezember 1908 in Paris vor ein Tribunal feiner einftigen revolutionären Freunde geftellt und entlarvt. „Man beichloß, ihn durch fchweigende Verachtung zu ftrafen.“

Auch Gapon war ein Provolateur. Zuerft vielleicht fledenlos, hatte er ſchließlich den verlodenden Anerbietungen der Dchrana nicht widerftehen können.

Der Geſchichte wird es überlaffen bleiben, darüber zu urteilen, ob er bereits ein Berräter war, als er an jenem denkwürbigen 9. Januar Taufende von wehrlojen Arbeitern den Flintenläufen der Soldatesfa des Zaren entgegentrieb. Die Arbeiter jedenfalls find es fpäter geweſen, die ihn verurteilt und hingerichtet haben. „Das Tribunal der Arbeiter fo heißt es in feinem Todesurteil Hat untrügliche Beweiſe folgender Tatſachen gefunden: Georg Gapon ftand in heimlicher Berbindung mit dem Chef des Polizetvepartements Ratichlomfli und mit dem Chef der politiiden Geheimpolizei Geraffimoff. Sie haben ihm die Wiedereröffnung der elf Gruppen bes Arbeiterverbandes verfprocdhen, wenn er ihnen alles berichte, was er über die Revolution wiffe. Er bat dies getan... Gapon erhielt den Speztalauftrag von Ratſchkowſki, einen gewiſſen Revolutionär für den Dienft der Gebeimpolizei zu gewinnen. Bei dem Verſuche, diefen Auftrag auszuführen, fagte Gapon: ‚Man bietet Dir fünfundzwanzigtaufend Nubel nur für ein Kleines Gefhäft und wenn Du vier zuftande bringft, verdienft Du bHunderttaufend Rubel eine nette Summe Geldes‘ Das Arbeitertribunal hat entſchieden: Georg Gapon verdient ben Tod als ein verräterifher Provolateur, der die Ehre und das Andenlen des 9. Januar befledt hat. Der Urteilsſpruch ift ausgeführt worden.”

Wir kennen Stolypins tragifhen Untergang an jenem 1. September im Theater in Kiew, als er bei der Galavoritellung gegen die Baluftrade gelehnt auf das feitliche Parkett herunterblidte und ſich plötzlich dem im Abend» anzug feftlich gefleidveten Bogroff gegenüberfah, der ruhig unter den Augen des ganzen Theaters und des Zaren die todbringenden Revolverſchüſſe auf das verhaßte Haupt der Reaktion abfeuerte. „Es gibt einen Augenblid tm

Agents provocateurs 163

Leben eines jeden Menfchen, um befientwillen e8 ſich lohnt, gelebt zu haben,“ fo hatte Bogroff no ein paar Zage vor dem Attentate gefagt und als er jeinen Plan ausführte, war er ein aufrichtiger Revoluttonär. Aber, wenn aud) die Alten über den Prozeß Bogroffs nie veröffentlicht worden find, fo wiſſen wir doch, daß er die Eintrittsfarte zu dem Theater von dem Chef der Ochrana in Kiew, dem Oberften Kuljablo, erbalten hatte. Auch er bat im Dienfte der Dchrana geftanden, und die Ochrana ift e8 geweſen, deren unbeilvollem Birken Stolypin, ihr Begünftiger und Befchüger, im Grunde zum Opfer ge- fallen ift.

Die Tragik diefer Stunde fommt uns nadträgli bei der Lekiüre eines hochintereſſanten Briefwechſels zwiſchen Witte und Stolypin, der in der März- nummer der Rußkaja Mysl veröffentlicht worden ift, noch Harer zum Bewußtſein. Der Anlaß diejes Briefmechjels waren die Attentate auf Witte, die im Februar und Juni 1907 von. Alerander Kafanzeff, Waſſili Fiodoroff und Alexei Etepanoff unternommen wurden, ohne ihr Ziel, die Ermordung des Grafen, zu erreihen. Das erite Mal wurde die Höllenmafchine in dem Rauchabzug des Wittefhen Hauſes noch rechtzeitig entdedt, das andere Mal konnte der Bombenanfhlag auf das Automobil des Grafen deshalb nicht zur Ausführung fommen, weil diefer einen anderen Weg zum Reichsrat einſchlug und teilweife zu Fuß ging Die Briefe, die Witte an Stolypin drei Jahre nad) dem Attentate fchrieb, find aber nicht wegen dieſes taıfächlichen Materials intereffant, fondern wegen der Motive der Mordanfchläge, und der dabei im Dunteln wirlenden Kräfte. Auch bier treffen wir wieder auf die Dchrana und auf den agent provocateur. Safanzeff, der die zum Morde des Grafen auserfrhenen beiden Leuten geleitet und beauftragt bat, war bezahlter Agent der Kchrana. Er war von einem Beamten der Mosfauer Dchrana, dem Grafen Buxhöpden, in Sold genommen, um hohe Würdenträger gegen Attentate zu ſchützen; oder hatte er vieleiht den Auftrag, diefe hohen Beamten zu töten, weil es das Intereſſe des Staates gebieterifch verlangte? Graf Witte, der drei Jahre nad dem Tage des Aitentats die Unterfuchhungsalten mit dem Einftellungs- defchluß vorgelegt erhält, neigt diefer Anficht zu, und jeder, der unbefangen Wittes Ankllagebrief und Stolypins ſchwächliche Antwort darauf lieft, wird ihm darin beiftimmen, daß die ganze Art der Ausführung des Verbrechens dieſen Schluß zuläßt. SKafanzeff begnügte fih, wie Graf Witte wörtlich fagt, nicht mit der Rolle eines Provofateurs, er ging weiter. Ihm war e8 nicht darum .zu tun, den oder jenen Marimaliften abzufangen er benupte ihre Dienſte, um ein wirkliches Verbrechen zu begehen. Ver Graf weiſt an ber Hand ber Unterfuchungsalten nad, wie im einzelnen das Verhalten von Kafanzeff, das Berhalten der Polizei, der Verlauf der Unterfuhung darauf hindeutet, daß man feinen Mord unter allen Umftänden wollte, und als er nicht gelang, die Tat- fadyen verfjchleierte, die die Wahrheit Hätten ans Licht bringen können. Die Bolizei ift „bewußt untätig geweſen“, die Unterſuchung ift „Ihüchtern geführt“

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164 j Agents provocateurs

worden, weil die Aufflärung der Sache „vielleicht ſchlechte Folgen für die Karriere des betreffenden Beamten hätte haben können.“

Weshalb aber wollten gerade Kafanzeff, Stepanoff und Petroff den Grafen Witte töten? Kafanzeff war eifriges Mitglied des „Verbandes der Ruſſiſchen Leute”, deilen dunkle Wirkfamleit zugunften der Reaktion allgemein befannt ift. Die von dem Verband organifierten Attentate auf Herzenftein und Jollos fallen ungefähr in diefelbe Zeit wie die Anſchläge auf Witte SKafanzeff war der Mörder des Abgeordneten Jollos. Er ftand mit dem den äußerften rechten Parteien angebörigen Buxthöpden in nahen Beziehungen, empfing von ihm Geld und einen falfhen Paß. ALS Kafanzeff nah dem mißglüdten Attentat auf Graf Witte fi) das Leben genommen hatte, ſchickte Burhönden einen Ver- trauten unter falſchem Namen nad) Petersburg, um die Sachen des Kafanzeff holen zu laffen. Wenn aud, wie der Unterfuhungsrichter feftftellte, alle dieſe Tatjachen nicht ausreichen, um den Grafen Burhönden als an dem Morde des Abgeordneten Jollos beteiligt erfcheinen zu laſſen, jo geben fie doch Anbalts- punkte dafür, von welden Milieus aus die Tätigleit des SKafanzeff bei dem Morde des Jollos und bei dem Attentat auf Witte beeinflußt geweſen fein kann. Daß Kafanzeff für die letzte Tat den Petroff ausmwählte, war jehr ge- ſchickt. Petroff war ein Mitglied desjelben Arbeiterrats, gegen den Witte als PVremierminifter im Jahre 1905 vorgegangen war, fein Attentat mußte alſo nad außen bin als Rache der Arbeiter erjcheinen. Auf ihn mußte die ganze Schwere der Tat fallen, denn Stepanoff war ein Mann, ber für ein paar Groſchen auf jede beliebige Perfon eine Bombe geworfen hätte, und Kafanzeff felbft mußte als Mitglied der Dchrana (er hatte eine von deren Chef Geraffimoff felbft ausgeftellte Legitimation in der Taſche) jedem Verdachte bei der Mordtat beteiligt zu fein entgehen. Witte kommt deshalb zu dem Schluffe, daß in Wahrheit der Mordanſchlag gegen ihn ummittelbar vor der Auf- löfung der zweiten Duma und der Ausgabe des neuen Wahlgejegeg von den rechten Parteien infpiriert war. Sein ausfchließliddes Ziel war, nad Wittes Anficht, die äffentlicde Meinung des Landes gegen die linfen Parteien aufzureizen, Die als Urheber des Mordes gelten mußten, und Nepreffalien der Regierung nad) dem Herzen der Reaktion bervorzurufen. Außerdem war die Zat natürlich ein politifher Radealt gegen Witte und, was die Hauptfadhe war, der fo vielen unbeqgueme Staatsmann, „der Feind des Vaterlandes“ wäre durch fie für immer aus dem Wege geräumt worden.

Die Briefe, die Witte an Stolypin gefchrieben bat, um ihn mit dieſen Tatſachen befannt zu machen, atmen tiefe Empörung, beftigiten Unmwillen. Ich wünſche nicht für einen Dummlopf gehalten zu werden, mir mangelt e8 nidt an Mut, offen darauf binzumweifen, wo diejenigen Leute fihen, die meinen Tod wollten, die aber ftraflo8 geblieben find, nicht etwa, weil man fie nicht hat finden können, fondern . . ., den Schluß dieſes Satzes zu ergänzen, überläßt der Graf feinem Nachfolger, den er zugleich dringend bittet, Maßregeln zu

Die Nachfolge Bismards 165

ergreifen, um der terroriftifchen und provolatoriichen Tätigkeit jener heimlichen Drganifationen ein Ende zu machen, die zugleih der Regierung und den politifden Parteien dienen, an deren Spite Leute ftehen, die ih Im Staats dienfte. befinden und die über dunkle Gelder verfügen. „Bewahren Sie dadurch“, fo ruft er Stolypin zu, „auch andere Staatsmänner vor ber gleichen ſchweren Lage, in der ich mich befunden habe.“ Stolypin hat e8 vorgezogen, auf die Briefe des Grafen Witte Hin nichts zu tun. Er braudte wohl die Leute nod), deren Befeitigung fein Vorgänger bier verlangte. Nicht Lange danach iſt er dem graufigen Schidfal, das Witte zugedacht war, felbit anheim gefallen. Das Syftem aber, das Witte fo tapfer und energifch befämpft bat, befteht noch biS heute.

Die Nachfolge Bismards

Don Maximilian von Hagen

en 08 Schidjal hat es gefügt, daß wir den Tag der Reichſsgründung —— G und ven hundertiten Geburtstag ihres Vollbringers, Dtto von RL | Bismard, nicht als Tage nationaler Aufrättelung zu feiern

Po brauchten, daß wir fie vielmehr begehen durften als Qage ber —_ = Grmutigung und der Erinnerung an ähnlich ſchwere Zeiten, aus denen wir zu herrlichen Zielen binausgeführt wurden. Denn der große Krieg, der eine angemefjene Feier diefer Gedenktage verbot, hat felbjt die Fühnften Hoffnungen übertroffen, die der Baumeiſter unferes Staates in die Lebens- fähigkeit feines Werkes zu ſetzen wagte. Wie ein Mann bat fi) Deutichland erhoben, um das Erbe feines größten Staatsmannes zu ſchützen und in feinem Geifte weiterzuführen. Ohnegleichen ift die Einigkeit, die wir folange entbehren mußten und bie auch Bismard oft fo bitter vermißte, nachdem er mit der Neihsgründung feine eigentliche Lebensaufgabe erfüllt hatte. Der Geiſt der Freibeitsfriege und ihres Vollenders lebt wieder in unferem ganzen Bolt, das dem Rufe zu den Fahnen mit nie erhörter Hingabe gefolgt iſt und in allen Schichten und Generationen an Opferwilligkeit feine Grenzen kennt. Nirgends ift Raum für Furt und Sorgen, allgemein nur das Ahnen einer jchöneren Zukunft. Vergeſſen find darum die Tage, da wir in Bitterleit über Partet- hader und Yeindesbosheit der Vergangenheit gedachten, da wir uns an den Taten unferer Vorfahren aufrichteten, wenn der Yriede faul zu werden drohte. Nachdem wir uns aber würdig gezeigt ihrer raftlofen Arbeit am Werke der deutſchen Zukunft, durften wir auch Markfteine unferer Geſchichte, wie es ber

166 Die Nachfolge Bismards

hundertite Geburtstag des größten beutichen Kanzlers war, nicht ungenubt Iaffen: nicht zu einer finnlofen Vergötterung feiner unfterblichen Berdienfte, die nur ablenfen könnte von den großen Zielen, auf die unfer Blid jetzt allein gerichtet fein muß; wohl aber zur Selbftbefinnung über eine wahre, produltive Nachfolge, wie fie ſolchen Herven allein geziemt und wie fie au) uns Epigonen allein förderlich tft.

Und ba tft es fein Zweifel, daß wir auch hier umzulernen haben, wenn wir nit Sklaven der Vergangenheit bleiben wollen. Schon Fürſt Bülow Hagte einmal in einer ebenfo bedeutfamen wie unbeachteten Reichstagsrede Über die dogmatifierende Kanonifierung eines mißverftandenen Bismard, durch Die der große Kanzler in echt deutfcher Ideologie je nach der Parteirihtung in ein Syſtem oder ein Schema gebradt würde, an dem man dann die Gegenwart zu meſſen ſuche. Daß eine ſolche Nachfolge Bismards unhiſtoriſch ift, wird fih durch ein paar methodiſche Gedanken mit Leichtigfeit erweifen laffen.

Es ift Mar, daß man Bismard nad einer foldden Praxis an der Hand feiner Hinterlaffenfchaften oder gar mit Hilfe von Nachſchlagewerken, bie dieſe nach beftimmten Gefihhtspunften „ausgezogen” und ihres Zuſammenhanges beraubt haben, ebenfofehr als Kriegsmann mit Küraß und Pallaſch, wie als Friedenspolitifer und ehrlichen Makler mit Palme und Wage darjtellen könnte; ebenfo auch als überzeugten Imperialiſten wie als „rüditändigen“ Sontinental- politifer, als Sozialiften oder als Realtionär, als Gegner Roms und als Kanoflagänger, als Freund der Stonfervativen, Nationalliberalen und des Zentrums und fo fort. Und doch mürde man mit allem, ſelbſt für den be- fchränfteften Zeitraum feiner Amtszeit, niemals das richtige treffen, da Bismard fih in feinem ftändigen Kampf mit Parteien und Prinzipien nie anders als im Rahmen der Entwidlung erfaffen läßt.

Trogdem kann eine willenfchaftliche, das ganze Material kritiſch⸗vor⸗ ausfegungslo8 verarbeitende, von Haß und Liebe freie, gefhichtliche Darftellung eines politiiden Problems, unter dem Sefichtöpunfte feiner Beziehungen zu Bismard betrachtet, auch der Politik manch brauchbare Anregung geben, wenn man dabei niemals bie conditio mutatis mutandis et cum grano salis außer acht läßt. Immer aber wird eine Darftellung, die Bismards Politik zugunften einer Parteidoltrin vergewaltigt, wegen diefer Tendenz von vornherein abzu- lehnen jein, weil fie von dem ſowohl wifjenfhaftli wie fünftlerif allein be- rechtigten “deal hiſtoriſcher Objektivität weit entfernt ift, einem “deal, das einer geſchichtspolitiſchen Unterfuchung allein Wert verleihen fann. Dahingegen verlodt jede finngemäße Übertragung hiſtoriſcher Ausfprüche ſowohl taltiſch wie fattifch immer zur Verallgemeinerung, felbjt wenn diefe vom Berfaffer nicht einmal beabfichtigt wird. Denn das ODdium aller Zitate, fofern fie nicht genau lofaltfiert werben, bringt e8 mit fi, daß felbft die, welche ſich der kritiſchen Schwierigkeiten ihrer Benugung bewußt find, ihrem Zwange vielfach verfallen. Die Worte der Bibel find auf dieſe Weife mißbraucht worden zu allen Zeiten. Das Fragen

Die Nachfolge Bismards 167

nad Bismard, das Belegen mit Bismard aber bat zu einer Ähnlichen Gefahr geführt. Wird nämlich diefes fcheinbar Hiftorifche Bedürfnis unferer öffentlichen Meinung zum „praftifch » agitatorifchen Werbrehungsmittel”, fo beginnt biefe „Kalamität” (um Fürft Bülows Worte zu wiederholen) unerträglich zu werden, gerade weil alle, die e8 anwenden, fi) mit einem naiven Hinweis auf bie biftorifhen Belege ihrer Anficht immer zu rechtfertigen verfuchen werden. Wenn e8 aber ſchon mißlich ift, aus Bismards Politik, die fi unter ganz anderen al3 den heutigen Verhältniſſen entwidelte, feine Stellung in ber jevesmaligen gegenwärtigen Situation erraten zu wollen, fo tft es noch viel bedenflicher, aus den Ergebniſſen folder Rätfellöfungen die wahre Politik der Gegenwart zu fonftruieren. Nun will zwar Tein Bismardpolitifer bismard- orthodor beißen, weil er als denfender Menſch unmöglich wünjchen könnte, daß die Lehren und Mittel der Vergangenheit als Normalloder für alle künftigen Situationen aufgeftellt und befolgt werben follten; er müßte denn den Ent- willungsgedanfen ftreihen wollen, den doch Bismard bei allem PVerftändnis für die Tradition niemals außer acht gelaffen wiffen wollte, denn „Rom warb nit an einem Tage erbaut und fehen auch nicht alle Häufer gleich darin aus, jo wenig wie die Einwohner, die dennod alle Römer find”. Auch dürfte er es politifh oft recht unpraltiſch finden, die Bahn foldyer Bismardromantit fonjequent zu verfolgen. Dennoch) bleibt er dem Gößendienft verfallen, ſo⸗ lange er feine Augen „zurüd zu Bismarck“ wendet, um bier die allein gültige Antwort auf ein Problem der Gegenwart zu erhalten. Greift er nämlich in folder Abficht zu Bismard, fo nimmt e8 bei dem Mangel an organijchem Sehvermögen, das bis zu einem gewiflen Grade alle Theoretiker auszeichnet, auch nicht wunder, wenn ſich unter feinen Bismardbelegen, die die jedesmalige Lage grell beleuchten follen, tendenziös gewählte Worte aus Bismardd langer Kanzlerſchaft in trautem Vereine neben Ausſprüchen des Alten vom Sachſen⸗ walde einfinden, mit dem Erfolge, duß fie fchiefe Vorftelungen ermeden von einer Einheit des politifchen Denkens des amtlichen und nachamtlichen Bismarck. Und doch läßt fih nicht leugnen, daß die Zeit feiner inoffiziöfen Politik in den Hamburger Nachrichten abhängig war von ber jedesmaligen Stimmung des grollenden Achill von Friedrichsruh und feinen jedesmaligen Beziehungen zum Berliner Hofe; fie darf darum nit als gleichwertiger Mapftab für feine politifde Gefinnung genommen werden, die die Bismardpolitifer freilich als unver- änderlich empfinden, wird vielmehr ftet3, auch vom Hiftorifer, nur mit Vorficht, ja mit Mißtrauen zu Rate zu ziehen fein. Im Grunde tft fie nur für den Biographen pſychologiſch intereffant, für den Politiler aber bleibt fie eine ge- fährliche, weil gefchichtlich nicht einwandfreie Duelle. Yreilih hat man gerade von feiten der Bismardpolititer die Annahme mit fittlicder Enträftung zurück⸗ gewiefen, als ob die Prinzipien ihres politifchen Heiligen jemals ernſtlich zu trüben geweſen wären. Allein gerade bei Bismard, aus deſſen dämoniſchem Bilde wohl niemand Zorn und Haß bejeitigen könnte oder möchte, war die

168 Die Nachfolge Bismarcks

Oppoſition gegen die Politik des „neuen Kurſes“ nur allzu begreiflich, weil „allzu menſchlich“. Wer daher feine Außerungen aus jener Zeit mit unbe- fangenem Auge lieft, wird fie für einfeitiger halten müffen, als die früheren. Daß Bismard in der Politif die Kunft des Möglichen ſah und darum ſchon frübzeitig dem Prinzip der Prinziplofigleit huldigte, indem er an Grundfägen nur feitzubalten wünfchte, „Tolange fie nicht auf die Probe geftellt werden" ſchon diefe Tatſache allein Tennzeichnet hinlänglich die Yährniffe einer gedanken⸗ Iofen Nachfolge des großen Kanzlers.

Gegen eine ſolche hat fi denn aud niemand mehr al8 Bismard ſelbſt

gewandt. Denn er wußte, daß e8 niemals zwei ganz gleiche Lagen gibt, und daß „nichts In der Welt dauernd tft“, daß man fih daher nicht einmal felbit fopteren follte. Jeder, der die „Gedanken und Erinnerungen” zu lejen verfteht, weiß, wie fehr er bei dem fortwährenden MWechfel der Situationen und ragen, mit denen er fih zu beſchäftigen hatte, von der Vergänglichleit politiſcher Marime überzeugt war und wie weit er davon entfernt blieb, mit feinen Memoiren ein Dogma für Deutfchlands künftige Politik feitlegen zu wollen. Vielmehr war feine damit befolgte Abſicht feine andere, als durch das „Ver⸗ ftändnis der Vergangenheit” die Wege für die Zufunftspolitit eriennen zu lehren. Denn er fah in der Geſchichte in ihrer Totalität ein Mittel zur Be⸗ fämpfung einer allzu boftrinären Betraddtung der Politik, die an Schlagwörter gebunden tft. Über diefe aber war er alle Zeit erhaben und darum warnte er immer davor, feine Worte zu verallgemeinern und als Evangelium oder nur als feine feitftehende Meinung auf den Schild zu beben oder gar aus gelegentlichen Außerungen Schlüffe auf eine vermutetete Gefamtanfhauung zu ziehen. Das Crfcheinen von Buſchs Tagebuchblättern veranlaßte ihn gegen jede derartige temdenziöfe Zitatenausbeute einzufchreiten und feitbem bat er fi offenbar auch mit dem biographiſchen Problem erft intenfiver befaßt. Aus der Fülle derartiger Gedanken mag eine Anzahl dharalteriftifcher Beifpiele aus feinen Briefen und Geſprächen zur Illuſtration des Gefagten dienen. Denn fie haben zum Zeil die Schlagfraft von Aphorismen und find aud darum intereffant, weil fie den Willensheros als bewußten Geiſtes⸗ menjchen erſcheinen laſſen.

Schon die Braut machte Bismarck des öfteren aufmerkſam, daß die augenblickliche Stimmung, die einem Worte die charakteriſtiſche Färbung und damit die befte Prägung der Wahrheit gibt, für die Auslegung entſcheidend fein muß, und daß dabei vor allem die Grundmelodie zu beachten ift, bie „nicht immer deutlih durch die Variationen ber Oberfläche Klingt“; daß das geſchriebene Wort dagegen etwas Schwerfälliges und Ungzerftörbares an ſich hat, weil ihm der erflärende Ton fehlt, und daß e8 darum wieder leicht zu viel fagt, weiter gedeutet ober mißverftanden werden kann; daß ihm endlich nicht anzufeben tft, „ob die Tinte, als fie naß war, ein nedendes Auge oder die Halten befümmerten Ernftes gefpiegelt bat“. Und an Leopold von Gerlad

Die Nachfolge Bismard's 169

ſchrieb er die nachdenklihen Worte, daß es uns überhaupt nicht gegeben fei „den ganzen Menſchen zu Papier oder über die Zunge zu bringen, und baß wir die Bruchftüde, die wir zutage fördern, andere nicht fo wahrnehmen laſſen fönnen, wie wir fie felbft empfinden, teils wegen der Inferiorität der Sprache gegen den Gedanken, teils meil die äußeren Tatſachen, auf die wir Bezug nehmen, ſich felten unter dem gleichen Lichte darftellen, fobald der eine nicht die Anſchauungen des anderen auf Glauben und ohne eigenes Urteil annimmt“.

Bei diefer tiefen Auffaflung ift e8 erflärlich, daß er mit der oberflächlichen Ausnußung beliebiger Zitate für die Darftelung feines Charafter8 oder feiner Anſchauungen, wie fie Moritz Buf betrieb, wenig einverftanden war. Des öfteren bielt er ihm deshalb entgegen, daß die Art, feinen „inneren Menſchen aus fragmentariihden Beobachtungen zu entziffern, zu gänzlich verfehlter Auf- faſſung“ führen müſſe, wenn anders er ſich nicht durch feine Pedanterie, bie abgerifiene Bruchſtücke von SKonverfationen verwerte, als ob fie „mit der Gewifjenhaftigkeit eines vereideten Zeugen vor Gericht“ geführt worden wären, veranlaßt fühlen folle, in feinem Augenblid die fchriftlihe Form und ben amtlichen Kothurn zu verlaffen! Und von Bofchinger kennen wir den Bismardichen Ausſpruch: „Jedes in bemegter Zeit unter vier Augen geſprochene Wort gewinnt eine ganz andere Bedeutung, wenn e3, aus dem Zufammenhang gelöft, nah Fahren vor das Bublilum gebracht wird, welches die Situation nicht felbft erlebt bat.” Bismard weigerte ſich daher mit Recht auch nach feiner Entlaffung, für alle in zwangloſer politifcher Konverfation „ohne Zeugen und ohne Stenogramm” ausgeſprochenen Anfichten, die feinem „gewohnheitsmäßigen Bedürfnis nad) politiiher Ausſprache“ entiprangen und nie den „Charalter einer fyftematifden Manifeftation“ batten, die volle Verantwortung zu übernehmen. Nach feiner treffenden Beobachtung verfchieben fi) derartige Äußerungen in ber Zat im Gedächtnis des Zuhörer und bringen daher, vervollitändigt und unterftrichen, auch bei ehrlicher Anfnüpfung an wirklich Geſprochenes doch einen dem Urheber fremden und fernliegenden Gedanken zum Ausdrud. Wieviel mehr follten alfo erft wir Epigonen uns hüten, Bismarckſche Worte, die nur in ihrer Zeit veritändlich find, auf die Gegenwart anzumenden und auszumüngen!

Natürlid Haben auch unfere Bismardpolitifer eine Vorftelung von ben ſchon vom Altreihsfanzler gerügten Folgen tendenzidfer Geſchichtſchreibung in politifher Abfiht. Aber fie würden ihren jedesmaligen Zwed nicht mit dem- felben Erfolg erreihen, wenn fie jene prophetiſchen Warnungen im Be— mwußtfein ihres Ioyalen, tro allen Kampfes gegen den „neuen Kurs” doch auch wieder auf eine Erleichterung der NRegierungspolitif gerichteten Charalters beberzigt und befolgt hätten. Darum arbeiten fie lieber, wennſchon vielfach unbemwußt, auch weiterhin mit Fleiß an der Mobdernifierung des Bismardbildes, das ja politifch immer mweniger in unfere Zeit zu paflen fcheint. Zweifellos ift dieſes aber nicht nur mit Nüdfiht auf die hiſtoriſche Objektivität viel zu groß, als daß es irgendwelche Übermalung oder Renovierung vertragen könnte

170 Die Nachfolge Bismards

Denn fiherlich bedarf Bismard nicht der Ehrenrettung, wenn eine Frage von heute in feiner Gefchichte feine Antwort findet. Auch würde er fi mit Recht eine Identifizierung feiner Staatsfunft mit der Politik derer, die auf feine Fahne ſchwören, beftimmt verbeten haben, da fie oft eine Antizipierung von Gedanken darftellt, die feinem Zeitalter fernlagen und fernliegen mußten. Nun aber ift jeder, auch der größte Geiſt, ein Kind feiner Zeit, und es ift unerfindlid, wie in der Konftatierung diefer hiftorifhen Grundtatfadhe eine Überhebung gefehen werden fann. Bismards Genie aber war es, daß er die Sehnſucht feines Jahrhunderts erlannte und fo erfüllte, daß alles, was darüber hinaus noch zu tun blieb, den kommenden Geſchlechtern überlaffen werden fonnte. Wer zu ihm zurüd will, denkt daher nicht in feinem Geifte, der Vergangenheit und Zukunft fo wunderbar zu verknüpfen verftand. Unübertrefflih bat dies Fürſt Bülow mit folgenden Worten ausgedrüdt, die diefe Gedanken befchließen mögen:

„Aud der größte Mann bleibt ein Sohn feiner Zeit, und die nad ihm fommenden Gefchlechter können fi) nicht darauf beichränfen, feine Urteile, feine Auffaffung, oder nun gar feine Alüren blind nachzuahmen und nachzumachen, fondern fie müffen mit der Entwidlung der Dinge geben, die nie ftille ftebt, die auch das größte Genie nicht vorberfehen, gejchweige denn vorzeichnen faın .... Wenn die Entwidlung der Dinge es verlangt, daß wir über Bismardie Ziele hinausgehen, fo müflen wir es tun, jelbjt wenn Fürft Bismard feinerzeit unter fcheinbar ähnlichen Verhältniſſen anders geurteilt bat... . Die Nachfolge eines großen Mannes befteht nicht in der fHlavifchen Nahahmung, fondern in der Fortbildung, ſelbſt wenn fie auch bier und da zu einem Gegenfage führt. Und als praftifche Politiler, als Männer, welche die Aufgaben des Tages zu löfen haben, müſſen wir uns mit der Tatſache abfinden, daß wir feinen Fürften Bismard mehr haben.

Der Name des Fürften Bismard, die Erinnerung an das, was Yürft Bismard uns war, wird für alle Zeiten als Yeuerfäule berziehen vor dem deutihen Volle... . Sein Name bleibt ein dauernder Befig, eine Mahnung, ein Vorbild, ein Wahrzeichen, ein Stolz für unfer Voll, eine Gewähr der Zukunft, ein Zroft in forgenvollen oder matten Tagen. Aber die Nation muß die Kraft in fich finden, auch ohne einen ſolchen Titanen auszulommen, wie ihn die Götter nur fehr felten ... . einem Volle ſchenken. Denn wenn der einzelne und auch der größte Genius fterblich ift, jo ift doch die Nation un- fterblih. Ahr Dafein hat mit dem Tode des großen Kanzlers nicht geendet. Und als Batrioten müſſen wir, jeder an feinem Zeile, darauf hinwirken, daß das Wert des großen Kanzlerd erhalten bleibt.“

Der Rückgang der englifhen Kohlenausfuhr und ihre Solgen Don Dr. Richard Hennig

Jer große Weltfrieg hat nah und nad ſchon ſoviel Unmahr- fcheinlichfte8 wahr gemacht, daß alte Anſchauungen, die ftetS wie Selbftverftänblichkeiten, wie Dogmen betrachtet wurden, in immer größerer Zahl ins Wanken geraten und zujammenbredhen. Zu den größten Überraſchungen gehört fiherlich die von weiteiten Kreifen freilich unbeadhtet gebliebene und nicht annähernd genug gemürdigte Tatſache, daß England, das Kohlenland par excellence, das alle Welt mit Kohlen zu verforgen pflegte und insbefondere die Weltſeeſchiffahrt mit dem Toftbaren Brennmaterial verfab, jebt aus Nordamerila Kohlen einzuführen und ein von vielen Zeitungen ſchon dringend geforbertes Kohlenausfuhrverbot demnächſt wabrfcheinli zu erlaffen gezwungen: ift.

Nichts kann einwandfreier als diefer Umſtand bemeijen, wie gründlich irrig Englands forgfältige Berechnungen waren, als fi die Asquith - Greyiche Regierung auf den Krieg gegen Deutichland einließ und zuverſichtlich wähnte, damit ein gutes Gefchäft, Churchills „business as usual“, zu machen. Nichts fann aber auch klarer veranfchaulichen, wie außerordentlich die Wirkungen ber beutfchen Unterfeeboot-Sriegführung find, deren ganzer Erfolg ſicher erſt in fpäterer Zeit befannt werden wird. Denn die Unſicherheit der Schiffahrt hat einen Hauptanteil an biefen nie für möglich gehaltenen wirtfchaftlichen Tatſachen; daneben wirken freilih noch einige andere Einfläffe ausfchlaggebend mit, fo insbefondere die mangelhafte DOrganifation des meiſt in privatem Beſitz befind- Iihen Eiſenbahnweſens und die jehr große Schwierigkeit, den englifhen Kohlen⸗ bergwerlen das nötige Grubenbolz zu befchaffen, das man ehedem faſt vollſtändig aus Deutichland bezog. Alle fonft dabei in Betracht fommenden Umftände, die Lohnbewegungen und Streifprohungen der Kohlen«, Eifenbahn- und Hafenarbeiter, die Schwierigkeiten der Reedereien, der Mangel an Schiffsraum, die hohen Ver⸗ ſicherungsgebühren, die famt und fonders die englifche KRohlenausfuhr empfindlich erſchweren, find erft von felundärer Bedeutung und ihrerſeits erſt Folgen jener erftgenannten primären Faltoren.

Wie ftarl die englifhe Ausfuhr zurüdgegangen ift, erhellt au dem Umftand, daß ſchon im Januar 1915, alfo nod vor Beginn des beutjchen Unterfeeboot-Handelskrieges, die Kohlenausfuhr um nahezu zwei Fünftel, nämlid)

172 Der Rückgang der englifchen Kohlenausfuhr und ihre Solgen

um 372/, Prozent, geringer als im gleihen Monat des Borjahres war (3613000 gegen 5795000 Tonnen). Das Ungeheuerlichſte aber ift, daß England jelbit an empfindlicher Koblenfnappheit leidet, daß ſchon im September die Londoner Gaspreife erhöht werden mußten und daß dieſe abfonderlichen Verhältniſſe ſich immer weiter zugeipist haben, bis jet England, wie gejagt, gezwungen ift, nach dem Zeugnis des Nemwcaftle Daily Journal große Kohlen⸗ mengen in Nordamerifa zu faufen und fi langſam mit dem Gedanken des Kohlenausfuhrverhot8 vertraut zu machen!

Daß damit der Kohlenknappheit in England ſelbſt gefteuert werden wird, ift wohl faum zu bezweifeln. Biel bedeutfamer aber für Deutichlands Intereſſen an diefen Vorgängen ift einmal die tiefgehende Wirkung auf das englifche Wirtſchaftsleben, wie fie ein Kohlenausfuhrverbot durh den Yortfall der bedeutenden Einnahmen aus den Kohlenlieferungen zur Folge haben muß, und anderfeit3 die geradezu unerträglicde Lage, in die zahlreihe neutrale Länder, fowie Englands Verbündete und nahezu die gefamte nichtengliide Schiffahrt dur) die ftet3 ftärlere Erſchwerung und baldige völlige Unterbindung der Kohlenzufuhr gebracht werden müſſen. Schon heut haben die Dinge vielfad einen fehr fritifchen Charakter angenommen. England muß wohl oder übel darauf bedacht fein, in erfter Linie feinen Bundesgenoſſen Frankreich und (nad) Wiedereröffnung des Schiffsverfehrs mit Archangelſt) Rußland in ihrer nod weit ſchwereren Kohlennot beizujtehen. Frankreichs normale Kohlenprodultion ift ja feit September zu 72 Prozent in deutſchen Händen, und in feinen übrig- gebliebenen Koblengruben ift die Förderung, zumal im Pas de Calais, durch Männermangel und teilmeife Bedrohung dur die Sriegsporgänge ftarl beeinträchtigt. Frankreich, das ſchon im Frieden mehr Kohlen verbraudt als erzeugt, und dem nun die eigenen Kohlen zu rund drei Viertel, dazu bie gefamten belgifhen und deutfchen Kohlen abgejchnitten find, muß daher von Amerila und England Kohlen beziehen, um wenigſtens den dringenditen Bedarf zu deden, und England erlennt, daß es dem Bundesgenoffen, der ohnehin feine Haut für britifche Intereſſen zu Markte trägt, in feiner ſchweren Kohlennot bei- ipringen muß, teil aus Anftandsgefühl, mehr aber noch um wenigitens die franzöfifchen Eifenbahnen und Kriegsſchiffe Ieiftungsfähig zu erhalten. So liefert denn England, troß feiner eigenen Schwierigkeiten, mehr Kohlen als in Friedens- zeiten nad) Frankreich; die ſtark verringerte englifche Gejamtlohlenausfuhr ging im Januar 1915 zu mehr als einem Drittel nad Frankreich (1384000 von 3613000 Tonnen), während im rieden (Januar 1914) nur etwas mehr als ein Fünftel (1236000 von 5795000 Tonnen) Frankreich zufloß. Daß Frankreichs Koblendunger durch die Vermehrung der engliiden Einfuhr um nur etwa 10 Prozent unter den obmwaltenden Umftänden nicht annähernd geftillt werden kann, bedarf feiner weiteren Erörterung.

Daß das Fohlenarme und von der Einfuhr abgefchnittene Rußland in vielfader Hinfiht noch übler daran ift als Frankreich, tft bekannt. Auch

Der Rückgang der englifhen Kohlenausfuhr und ihre Folgen 173

eines feiner Kohlenreviere, das (1912) über 22 Prozent der ganzen Kohlen- erzeugung des europäiſchen Rußland dedte, das Dombroma-Beden an der Dreilaifer-Ede, ift feit Anfang Auguft dauernd in deutſcher und öäfterreichifcher Hand. Wenn nun au Rußland vielfach die Kohle dur Holz, Torf und Naphthaprodukte erfegen Tann, fo leidet es doch unter einer ausgefprochenen Kohlennot, um fo mehr als auch im Donez-Beden, Rußlands wichtigſtem Kohlengebiet, die Produktion infolge Mangels an Arbeitsfräften um 30 Prozent gegenüber der normalen Leitung (1912 21300000 Tonnen) gefallen ift. Neuerdings iſt fie noch geringer geworden und betrug im März 80000000 gegen 135000000 Bud im Vorjahr. Zu diefem Ausfall von mindeftens etwa 7000000 Zonnen im Jahr kommt aber ein weiterer von mindeftens der doppelten Höhe durch Fortfall der deutſchen und öfterreichifcden ſowie eines geoßen Zeile8 der engliihen Kohleneinfuhr. Im November 1914, im letzten Monat, wo der Hafen Archangelſt noch offen war, erhielt Rußland von England nur 2000 Tonnen Kohlen gegenüber 379000 Tonnen im November 1913. Später bat auch diefe lebte befcheidene Zufuhr aufgehört; mas Amerila, Japan, China über Wladiwoftot oder Yufan nad) dem europäiſchen Rußland zu bringen vermodten, war wegen ber ungeheuer hoben Bahnfracht nicht der Rede wert, und auch die ruffiihe Kohlenzufuhr vom Donez-Beden floß nur ſehr ſpärlich, da verringerte Erzeugung, überlaftete Bahnen, empfindlichfter Wagenmangel die Berforgung erſchwerten, außerdem auch die Haltung der Bergwerksbeſitzer, die aus der Kohlenteuerung reihen Gewinn ziehen und alles tun, um bie vorhandene Koblennot zu erhalten und, wenn möglich, noch zu fteigern. Petersburg erhielt im Yebruar 1915 ftatt der 1300 Waggons Kohlen, deren es durchſchnittlich im Monat bedarf, nur 96. Die Straßen» bahnen in Petersburg und Moskau mußten im März wegen Kohlenmangels der eleftrifhen Zentralen den Betrieb einjtellen, und die vorhandenen Kohlen waren unverhältnismäßig teuer: in Moskau koſtet Anthrazit unter Mittelforte 5681/, Mark die Tonne, in Petersburg Kol 75 Mark gegen 431/, Mark im Borjahr. Anfangs April fah fi die Regierung genötigt, alle privaten Koblenvorräte zu beſchlagnahmen. Natürlich hoffte nun alles auf Erleichterung ber Kohlennot nad) Eintritt des Frühlings und Wiedereröffnung des Hafens Archangelſt. Diefer Hafen ift zwar ſchon Anfang April, infolge der Tätigkeit der großen Eisbrecher, wieder benupbar geworden, aber die erfehnte Erleichte- tung wird trogdem ausbleiben, weil eben England gar Feine Neigung baben wird, die jeßt doppelt und dreifach wertwollen Kohlen in fehr großen Mengen einem Bundesgenofjen zuzumenden, deſſen Freundfchaft nur fo lange von Wert war, als man noch militärifde Hoffnungen auf feine Millionenheere ſetzen konnte. Wie fol man da in England große Luft verjpüren, das koſtbare Brennmaterial, da8 man im Lande felbit ſchon hier und da doppelt fo teuer wie im Frieden bezahlt, in ſehr großen Mengen nad dem entlegenen und unmwirtlihden Archangelſt zu jchaffen, zumal auch die verfügbaren Schiffsränme

174 Der Rüdgang der englifhen Kohlenausfuhr und ihre Solgen

jegt viel wertvoller als in anderen Zeiten find? Das militäriihe Bedürfnis, die ruſſiſchen Eifenbahnen, Kriegsſchiffe und Kriegsinduftrien möglichſt leiſtungs⸗ fähig zu erhalten, mag ja England nötigen, auch den ruffifchen Kohlenhunger nit ganz ungeftillt zu laffen; aber allen Wünfchen gerecht zu werden, ' wird Bier noch fehr viel fchwerer fein als in Frankreich.

Mit Englands Bundesgenofien leiden aber auch die mehr oder weniger unſchuldigen neutralen Staaten Europa mehr und mehr unter den Hemmniſſen der engliihen Koblenausfuhr. Sie erhalten ſämtlich viel weniger Kohlen, als fie brauchen, und müſſen das wenige, was ihnen zugeführt wird, ungebührlich teuer bezahlen. So belief fih zum Beiſpiel im Januar 1915 die englifche Kohleneinfuhr in Italien auf 470000 Tonnen gegenüber 791000 im Vorjahr, in Spanien auf 159000 gegen 346000, in Ägypten auf 150000 gegen 315000, in Südamerifa auf 259000 gegen 565000 Tonnen ujw. Gelbft die Stüßpunfte der englifhen Flotte erhielten (mas beſonders bezeichnend ift) nicht mehr fondern weniger Kohle als im Frieden, fo zum Beifpiel im November 1914 Gibraltar nur 20000 Tonnen gegen 41000 Tonnen im November 1918, Malta nur 10000 gegen 73000 Tonnen uſw. Dabei mußten die neutralen Staaten nicht nur die ſtark geftiegenen Nettopreife der Kohlen bezahlen, fondern auch die gewaltig erhöhten Unkoſten der Beförderung tragen. Wie groß bdiefe find, mögen zwei Tatſachen Harlegen: die Schiffsfrachten zwiſchen England und Spanien waren im März viermal fo hoch wie vor dem Sriege, und die Ge- famtmeizeneinfuhr eines Monats war in England der Menge nad) um 11 Prozent geringer, dem Werte nach aber um 40 Prozent höher als im gleichen Monat des Vorjahrsl Die Rũückwirkung auf die Koblenverforgung neutraler Länder tft ſehr beträchtlich. Dies zeigt ſich befonders Mar in Italien, das angeſichts der fehr hoben Preife der engliihen und amerilanifhen Kohle in fteigendem Maße fein Heizmaterial aus Deutichland bezieht, obwohl feine Yabrilen zum Teil eigentli nur auf die Verfeuerung englifher Kohle eingerichtet find. Es ift übrigens bisher nicht genügend beachtet worden, daß das Kohlenproblem auf Italien einen ftarfen Drud ausüben müßte, alle Sriegsgelüjte fahren zu laſſen und feine Neutralität bis zum Ende des Krieges zu bewahren, denn fobald Deutſchland dem kohlenarmen talien nicht mehr Liefert, würde fogleich Italiens Kohlennot no ſchlimmer als die Frankreichs werden, und bie ttalienifhe Handelsihiffahrt, die für das Wohl des Landes von befonderer Bedeutung ift, würde ſogleich nahezu lahmgelegt fein, da von England eher ein empfindlicher weiterer Nüdgang der Kohlenausfuhr nad Italien als eine Steigerung in abfehbarer Zeit zu erwarten ift. Schweizer Zeitungen meldeten, daß allein für die italieniſche Negierung täglich acht Güterzüge mit Kohlen aus dem Nubrgebiet über die Gotthard» und die Lötichbergbahn nad Italien geleitet würden; dazu lommt noch die Verforgung der privaten Induſtrie Italiens. Gin Eingreifen Italiens in den Krieg als Gegner feiner einftigen Bundesgenofjen würde diefe Quelle natürlich fogleich verftopfen, und der „welfchen

Der Rüdgang der engliſchen Kohlenausfuhr und ihre Folgen 175

Vertragstreue” würde in Geftalt einer gewaltigen Koblenteuerung und Koblen- nappheit und außerdem mit der erzmungenen Sperrung des Suezlanals, von der die Türken bisher nur SYtalien zuliebe abgejehen haben, eine höchſt empfindliche Strafe fogleih auf dem Fuße folgen.

Alle diefe Folgen der erfchwerten Kohlenverforgung einzelner Länder durch England haben immerhin in der Haupiſache nur Bedeutung für die jeweilig betroffenen Zänder felbit. Bon allgemeinerer und weitertragender Wirkung muß aber die ausnehmend hohe Erſchwerung fein, welche die Verſorgung der fried- Iihen Handelshäfen und der in ihnen verlehrenden Schiffe mit den benötigten Kohlenmengen bereitet. Ein großer Zeil der Weltichiffahrt ift nun einmal an die englifche Kohle gewöhnt, deren Heizwert ja unerreicht ift und die daher mit einem Minimum an Quantität die jeweilig gewünſchten Leiftungen zu voll» dringen geftuttet. Wird die befte engliſche Kohle der Schiffahrt in den europäilchen, afrifanifchen, aflatifchen und anderen Häfen auch nur zum großen Zeil entzogen, fo werden unabjehbare Folgeerfcheinungen zu verzeichnen fein. Someit in den Häfen nicht ein ausnehmend großer Kohlenvorrat lagert, wird die Verforgung vielfach geradezu unmöylich fein, und die Kohle, die in ungenügenden Mengen noch angeliefert werden fann, wird ſich fo teuer fielen, daß alle für normale Friedenszeiten geltenden Rentabilitätsberechnungen der Reedereien über den Haufen geworden werden. Wollen fi die Dampfer aber für die Dauer des Krieges von der allzujehr verteuertin und nur ſpärlich zu beichaffenden englifhen Kohle freimadhen und fi mit geringwertiger Kohle begnügen, fo find die Verhältniffe auch um nicht viel gebeffert. Die leichter erhältliche, von den Kriegsmwirren nicht berührte andere Kohle, meinetwegen japaniiche oder amerifanifhe Kohle, mag viel billiger fein als die englifche, aber fie muß an Quantität erfegen, was ihr an Dualität abgeht. Zrogdem mag es bei ber gewaltigen Preisipannung zwiſchen engliicher und überfeeiicher Kohle für viele Fahrten zweckmäßig fein, auf die engliſche Kohle zuguniten der fremden zu verzichten. PVorausfegung freilich ift dabei, daß die Kohlenräume der Schiffe darauf eingerichtet find, die ftark erhöhte Kohlenquantität aufzunehmen und daß die Fahrzeuge nicht gezwungen werden, vom nubbringenden Frachtenraum abzugeben, um nur die ausreichende Koblenverforgung zu ermöglichen. Die- jenigen Schiffe aber, die in der Zage find, fi von der engliihen Kohle zu emanzipieren, ohne die Rentabilität ihrer Fahrten zu gefährden, könnten ſich dann leicht im Kriege derart an die billigere nichtengliihe Kohle gewöhnen, daß fie au im Frieden zu ihrer alten Liebe nicht wieder zurüdfehbren. Im einen wie im anderen Falle ift das engliihe Wirtſchaftsleben der leidtragende Teil und damit wäre wieder ein bedeutender Erfolg in dem uns auf- gezwungenen Wirtichaftsfrieg für Deutfchland errungen!

Kriegswirtfchaftslehre Don Dr. sc. pol. Ernft Oberfohren

ei einer Durchficht der gangbaren wirtſchaftswiſſenſchaftlichen Nach ichlagewerfe und Lehrbücher fucht man vergeblih nad) einer Behandlung der akuten pathologifchen Erfcheinungen des Wirtſchafts⸗ a lebens, die der Krieg hervorruft. Während fonft ſoziale Geſichts⸗

| 2 punkte allgemeinfter Art in der bisherigen wirtſchaftswiſſenſchaftlichen Forfhung und Lehre nichts Seltenes waren, wurde der Krieg ftarl vernach⸗ läffigt, mochte es fich nun um Erſcheinungen handeln, die den Krieg modifizieren, oder um foldhe, die durch ihn modifiziert werden. Etwa bie Kriegstrifiß den immer wieder auftretenden, für unſere Wirtſchaftsordnung charakteriſtiſchen Krifen unterzuordnen, geht nit an; und zwar fon deshalb nicht, weil die Kriegskriſis meift plößlich eintritt und alle Zeile der Wirtſchaft . gleichzeitig trifft, während die „normale“ Wirtſchaftskriſe einen langſamen Verlauf nimmt, indem fie von einer beitimmten Stelle beginnend fi auf die anderen Gebiete ausdehnt. Nun ift zwar, wie befannt, in den legten Jahren vor dem gegenwärtigen Weltkriege eine ganze Reihe von Schriften über einzelne finanzielle Fragen, über die Wirkungen des Kriege8 auf den Aderbau, ben Handel einzelner Länder, über den Zufammenhang zwiſchen den Produlktions⸗ formen, welche dur den Krieg einerjeits, den Frieden anderjeitS bedingt werden, erfehienen; auch find einzelne kriegswirtſchaftliche Unterſuchungen durch die verhältnismäßig zablreihen kurz aufeinanderfolgenden Kriege der legten Jahrzehnte, die bedeutſames Erfahrungsmaterial geliefert haben (fo der ſpaniſch⸗ amerikaniſche Krieg, der Burenfrieg, der ruſſiſch⸗japaniſche Krieg, der italienifch- türkiſche Krieg, der Balfanfrieg), veranlakt worden. Wenn man indeflen die an fi) vielfach fehr wertvollen Arbeiten durchmuftert, fält einem ein offenbarer Mangel an Syftematif auf: die einzelnen Fragen find wohl in der mannig- faltigften Weife angefaßt, es fehlt indefien an zielbewußter Zufammenarbeit, bie für den wiſſenſchaftlichen Fortfchritt von größter Bedeutung ift.

Vielleicht hat die hier angedeutete Tatfache darin ihren Grund, daß die theoretiihe Nationalöfonomie vielfach, veranlaßt durch naturwiſſenſchaftliche Analogien, danach trachtete, eine einzige Wirtſchaftsordnung als „die“ Wirt- ſchaftsordnung zu konſtruieren und die verſchiedenen erfahrungsmäßig vor⸗ gefundenen als unweſentliche Variationen anzuſehen. Unter dem Eindruck der

Ariegswirtſchafts lehre 177

gewaltigen eigenartigen Erſcheinungen des Wirtſchaftslebens, die der gegenwärtige Weltkrieg veranlaßt bat und noch veranlaſſen wird, dürfte fich für die Wirt⸗ ſchaftswiſſenſchaft infofern ein neues Forichungsgebiet eröffnen, als ihre Träger angeregt werden, nicht nur dem Strieg und den mit ihm zufammenhängenden Erſcheinungen größere Aufmerkfamleit zu widmen, fondern auch marlante Gruppen von Fragen fchärfer zu prägifieren und deren inneren Zufammenhang aufzuzeigen.

Auf die Notwendigkeit einer ſolchen ſyſtematiſchen Unterfuchung des geſamten fpezifiihen Kompleres von Erſcheinungen und Tatſachen, die der Krieg hervorruft, hat ganz kurz vor dem Ausbruch des gegenwärtigen Welt- frieges der dfterreichifcehe Nationalölonom Dtto Neurath bingewiefen, der im Sabre 1913 in der Tübinger Zeitfchrift für die geſamte Staatswifjenichaft über „Probleme der Kriegswirtichaftslehre” und im Weltwirtfchaftlichen Archiv über „Die Kriegswirtichaftslehre als Sonderdisziplin“ Auffäge veröffentlichte. Neurath verjteht unter dem Begriff Kriegswirtfchaftsiehre die ſyſtematiſche Erörterung der Bor- und Nachteile des Krieges. Diele Begriffsbeftimmung dürfte indefjen erheblich zu eng fein. Es ift von vornherein Mar, daß die Kriegsmwirtichafts- lehre ſich nicht erichöpfen kann in eines wirtichaftlichen Schlußbilanz der Aktiva und Paſſiva des Kriegserfolges, das heißt in einer Betrachtung des wirtfchaftlich geſchäftlichen Erfolges und Mißerfolges, den das NKriegsunternehmen für die beteiligten kriegführenden Böller hat. Im Hinblid auf ihre ſpezifiſche Aufgabe, den gefamten Kompler von Erſcheinungen, Zatfahen und SKaufal- zaulammenhängen, wie fie durch den Krieg hervorgebracht werden, ſyſtematiſch zu unterjuchen, müßte fie eine bejondere Nationalölonomie des Krieges werden, der als Forſchungsgebiet die Sefamtheit der mit dem Kriege zufammenhängenden wirtſchaftlichen Tatbeitände zufiele. Geht man fo daran, die Kriegswirtichafts- lehrte in dem Sinne zu betreiben, daß höheren Anfprühen in bezug auf ſyſtematiſche und theoretifhe Durchdringung genügt wird, dürfte fild allerdings bald herausftellen, daß das Unterfuhungsgebiet begrifflih nur ſehr roh ab- zugrenzen if. Manches, was bei fchärferer Analyſe zu eliminieren wäre, wird vorläufig einbezogen werden; aud wird der Berfud, ein Syftem zu jchaffen, von vornberein mit erheblichen Mängeln behaftet fein. Immerhin fann man ganz allgemein jagen, daß die Kriegswirtichaftslehre als eine jpezielle National- öfonomie des Kriege in der nämlichen Weife aufgebaut werden müßte wie die Wirtichaftswifienihaft überhaupt: zerfallend in eine theoretifche und eine praktiſche Kriegswirtichaftsiehre würde fie fih als eine Geſamtlehre von den eigenartigen wirtſchaftlichen Zuftänden und Erſcheinungen darftellen, die der Krieg bervorbringt, von den Vorbereitungen auf den Krieg bis zu den nachher verbleibenden wirtichaftlichen Folgewirkungen.

Die augenblidliche Situation ift für die Entfaltung der neuen wiflenjchaft- lichen Disziplin überaus günſtig. Nicht nur ift der Sinn für allgemeinere theoretiſche Zufammenfafiungen gewachſen, gerade unfere Zeit hat auch überaus bedeutfames empirifches Material geliefert und liefert e8 in unerjhöpflicher

Grenzboten II 1915 | 12

178 Kriegswirtfchaftslehre Fülle weiter. Allerdings wird man fi) nicht der Hoffnung hingeben dürfen, daß die Ergebnifle diefer Sunderdisziplin rafh gefunden und in wenigen Sätzen formuliert werden könnten. Gerade der Balkankrieg bat noch auf das Ddeutlichfte gezeigt, wie mannigfultig die Folgen fein können, die der Krieg in den beute empirisch vorliegenden Vollswiriſchaften hervorzurufen vermag. Wir fahen, wie er bier fchwerfte Störungen, dort nur geringfügige Veränderungen berporrief, an anderen Stellen g-radezu anregend wirkte. Die Kriegswirtichaftslehre wird die Staaten in Gruppen teilen und überdies auch darauf Rückſicht nehmen müffen, in welchem Staatenigitem ſich ein beftimmter Staat befindet. Sie wird einen Unterichted zu machen haben zwiſchen ſolchen Gebieten, die im mefentlichen die Eiyentümlichleiten der Geldmirtichaft aufmeilen, welche vor allem durch die Häufung leicht kündbarer oder furzfriftiger Verträge charalteriftert ift, und zwiſchen jenen Gebieten, in denen die Naturalwiriſchaft überwiegt und das überfommene Zufammengebörigfeitsgefühl auftaucddende Schäden leichter über- winden läßt. Es wird von großer Bedeutung fein, ob in einem Gtaate bie Örundbefigverteilung eine aleihmäßige oder ungleihmäßige tft, ob man es mit Heeren der allgemeinen Wehrpflicht oder mit Sölonerheeren zu tun bat uſw. Schon dieſe flüchtige Überficht zeigt, welche reiche Gliederung die neue Disziplin notwendigermeife befigen muß und mwelde Fülle von Problemen der Löſung harrt. Darüber darf man fi allerdings nicht täuſchen, daß troß aller günftigen Vorausfegungen noch geraume Zeit vergehen dürfte, His ein voll- ftändiges Syitem der Kriegswiriſchaftslehre zuftande fommt. Auf der anderen Seite darf abır doch auch gejagt werden, daß ein Ausbau der Kriegsmwirtichafts- lehre zu einer geſchloſſenen Theorie die Enifaltung der Volkswirtſchaftslehre überhaupt weſentlich fördern würde. Abgefehen davon, daß die Kriegsmwirtichafts- Iehre die Erforfchung der konkreten Wirklichkeit intvnfioer als bisher ermöglichen wird Tann durch ihre Anerlennung als Sonderdiszplin aud der Einficht Vorſchub geleiftet werden, daß die volkswirtſchaftliche Theorie in der Lage ift, vielerlei Komplere von Ericheinungen zu bejchreiben, die verſchiedene Ver⸗ ſchiebungsregeln für ihre Elemente aufweilen. Wären wir in der Volkswirtſchafts⸗ lehre foweit fortgefchritten, daß wir ganz allgemein alle möglihen Wirtichafts- formen ftudierten und uns die Frage ftellten, wie fi) gegebene Formen verändern, wenn dauernd beftimmte Regeln gelten, wie dagegen, wenn eine Negeländerung eintritt, dann brauchten wir feine eigene Theorie für den Krieg, da diefelbe als Sonderfall ſchon vorgeiehen wäre. Da wir uns aber im allgemeinen nur wenig von den vorgefundenen Kombinationen entfernen und es nur felten wagen, empirifh gemonnenes Material zu neuen Yormen zu verbinden, fo erſcheint es dem jegigen Stande der Vollsmwirtichaftslehre angemefjen, wenn man im engen Anſchluſſe an die vorhandenen Gebilde fhrittweife zu Generalifierungen übergeht.

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Deutſche Hriegsdichtung heut und vor hundert Jahren Don Dr. W. Woarftat

„Was zum Siege uns erforen, Bar der Freiheitskriege Geift, Der aus tieffter Roi geboren, Feſter und zuſammenſchweißt.“

Eeeſes Geftändnis finden wir in einer ber Kriegsdichtungen bon * heute. Es iſt das Gedicht „Deutſche Kunde“ von Richard May in

der Sammlung „Deutſchlands Kriegsgeſänge“ von C. Peter. (Oldenburg i. Gr. Verlag Gerhard Stalling.) Und blättert man die außerordentlich große Zahl von Gedichtfanmlungen und jelbftändigen Gedichtbüchern einzelner Dichter durch, die mit der Zahl 1914 an ber Stirn unter dem Zeichen des Weltkrieges erfchienen find, fo findet man überrafchend oft da8 Beitreben, innerli und auch äußerlich an die Zeit vor Bundert Jahren, an den Geift der Befreiungsfriege und an den Ausdrud dieſes Geiltes, bie fogenannte „Sreiheitsdichtung“, anzuknüpfen.

Bon ben Bemühungen, in Außerlidfeiten ſich an jene Zeit und ihre Dichtung anzulehnen, fei nur erwähnt, daß in Erinnerung an Rückerts „Geharnifchte Sonette” die Sonettform wieder zu Ehren gefommen iſt. Ja, einzelne Dichter ‚gehen jo weit, jenen berühmten Titel für ihren Bedarf abzumandeln und feine allgemeine Belanntheit wenigfteng im Abglanz für fih auszunügen. Richard Schaukal, der öfterreihiihe Dichter, Ihmiedet „Eherne Sonette“ (Georg Müller in Münden) und zwingt dadurd) den Leſer zu einem Bergleihe zwiſchen diefem fogenannten „Erz“ von heute und der „geharniſchten Poefie“ Rückerts, nicht zu feinem eigenen Borteil. Denn was dem Schwaben 1813/14 gelungen ift, das ift bem Oſterreicher 1914 nicht geglüdt. Iener griff mit geharnifchter Hand in bie Herzen feiner Zeitgenofien und rüttelte fie auf durch die monumentale Wucht feines Wortes: „Was fchmiedft du, Schmied?" „Wir fchmieden Ketten, Ketten!“ „Ad, in die Ketten feid ihr felbft geichlagen.” Es ift ihm gelungen, die gewaltigen Ereignifje von 1812 und 1813 in Bilder und Symbole zu faffen, die ihrer wert find. Schaufal dagegen begnügt ſich vielfach damit, impreffioniftifch und durchaus geſchickt geſehene Einzeleindrüde uns in Verſe und Reime zu leiden. Aber das erfcheint ung heute als Spielerei für Sriedensgeiten. Er madt kleine Gloſſen zum großen Gefcheben. 12”

180 Deutfde Kriegsdichtung heut und vor hundert Jahren

Man vergleiche zum Beilpiel die Sonette „Nation“, „An meine Bücher”, „Schön- Brunn“, „Die Fremde” u.a. Er jchließt ein Einleitungsfonett „An Friebrich Rüdert“: „Roh find wir Eurer würdig, tapfre Ahnen, Bir grüßen Euch, Ihr alten Freiheitshelden, Und wandeln treu auf Euren alien Bahnen.”

Mit mehr Glück tritt Hermann Kienzl, der in feinem Gedichtbande „Auf bebender Erde” (Schleſiſche Verlagsanftalt von G. Schottländer, Breslau, 1914) eine Anzahl ‚von Sonetten unter den Gejamttitel „Sonette im Harniſch“ ftellt, in die Fuß⸗ tapfen feines Dichterifchen Ahnen. Mit Kraft und Gefchid in der Auswahl feiner dichteriſchen Bilder, nicht immer mit Geſchmack im Ausdrud, hält er jo mander Schwäche des deutihen Volkscharakters den Spiegel vor und zeigt fie ung, be- leuchtet vom Lichte des Weltbrandes, um ung zu ermabnen:

„Auf, Deutihel Tragt an Deutihlands jungen Morgen Die legten Scheite eurer Not zuſammen!

Laßt alle Bögen, die die Herzen trennen,

Am reinigenden euer prafielnd brennen!

Ein Bhönir ſchwebt zum Hochwald der Ardennen.”

In die Bahnen Rüderts lenkt bewußt, auch in der Bevorzugung ber Sonettform, Seinrih Molenaar mit feinen „Kriegsgedichten“. (Leipzig. 1914. Friedrich Ianfa.)

Aber auch abgejehen von dieſem etwas aufs Außerliche gerichtete Beſtreben einzelner Dichter haben wir durchaus die Berechtigung, die Kriegsdichtung von heute in Beziehung zu fegen zu der vor Hundert Jahren, fie fih von jenem biftorifhen Hintergrunde gewiflermaßen abheben zu lafien. In ber Tat ift ja bie Volksftimmung von Heute viel mehr mit der von 1813 und 1814 verwandt als etwa mit der von 1870. Nicht nur, dak eine ähnlich große Not, eine ähnlich gewaltige Aufgabe den tiefften Ernft und die mädhtigfte Willensanfpannung, das Bewußtſein im Volke hervorgerufen bat, e8 handele fich jegt für ung, genau fo wie 18183, um Sieg oder lUintergang, Sein oder Nichtfein! Bor allem ift unfer Bolt fih Heute in ähnlicher Weile bewußt, unter der erzieheriihen Wirkung des Krieges zu ſtehen, dem Sriege eine ſittliche Läuterung und Erhöhung zu ver- danken, wie e8 auch 1813 und 1814 der Fall war. Wenn Rüdert fang:

„Geprieſen fei der Herr in feinem Zorne, Der ausgeſendet hat ein frefiend euer an’ über mich, der ich ein ungetreuer Saatader, wuderte mit taubem Sorne. Set will ich wieder tücdhtig fein und wacker, Ein gutes Feld, und tragen gute Saaten, Denn du, o Herr, ſollſt felber mid) befamen . . . .“, fo fingt heute Richard Dehmel: „Sei gejegnet, ernftie Stunde, Die uns endlich ftählern eint; Frieden war in aller Munde, Argwohn lähmte Freund wie Feind Jetzt fommt der Krieg, Der edrlihe Krieg

Deutfde Kriegsdichtung heut und vor hundert Jahren 181

Dumpfe Gier mit ftumpfer Kralle Feilſchte um Genuß und Pracht; ‘est auf einmal fühlen alle, Was und einzig felig macht Jetzt Tommt die Not, Die beilige Rotl... ."*)

Das legte Ziel, nad) dem jene erzieheriihe Wirkung Binftrebt, das Ideal, unter dem jene fittlihe Erhöhung fich vollzieht, ift ein und dasſsſelbe damals wie beute: es ift die Einigung und Verſchmelzung aller perjönlich - indivibualiftiichen Interefien in der Unterordnung unter da8 Intereſſe des Ganzen, nämlich be Baterlandes, es beiteht in der unbejchräntten Hingabe des einzelnen für das Baterland. Unter der Einwirkung des Krieges entfteht eine eigentümliche Ver⸗ ſchmelzung perfönlich - fittliher und nationaler Gefühle. Wir nennen dieſe Er- weiterung des perjönlidy- individuellen Gefühlskreiſes zum nationalen Semeinfchafts- gefühl kurzweg Baterlandsgefühl oder „Rationalbewußifein“.

Diefed Nationalbemußtfein, welches zugleih ein Gefühl der nationalen Gemeinſchaft und Einheit ift, ſpricht fih in der Kriegsdichtung von 1813/14 und der von 1914 in gleicher Weife aus. Aber 1813/14 war diefes Gefühl eine eben erblübte Knoſpe, die ihr Erblüben nicht allein der Gewalt verbantte, mit der das napoleonifhe Unglüd den Ader in den Herzen der Deutichen für fie bereitei Batte, jondern auch der Mühe und Wartung, welche die nationalen Erzieher, die Männer wie Stein, Arndt, Fichte, Schleiermadher ihr Hatten angedeihen lafien. Daber ift der Freiheitsdichtung vor allem ber national-erzieherifche Ton eigentümlid. Er findet fih in Rückerts Sonetten, vornehmlih aber in Arndt Gedichten. Der grimmige Franzofenbaffer läßt es an Tadel und Ermahnungen nicht fehlen, um feine Deutfchen ihrer „Hohen Ahnen“, der alten @ermanen, wert und zu einem feines Wertes und feiner Pflicht bewußten Volke zu machen.

Diefer erzieheriiche Ton tritt in ber Kriegsdichtung von heute nicht fo ftarf hervor, braucht nicht fo ſtark Kervorzutreten; denn daß, was damals Knospe ober junge Ylüte war, das füllt ung heute als köſtliche Frucht in den Schoß, für ung felhft eine Uberraſchung, die das Glücksgefühl über den köftlichen Befig noch erhößt. Dieſes Glücksgefühl über die nationale Einheit, über das Verſchwinden der Gegen- füge von Rang und Stand, Partei und Weltanſchauung gegenüber der ringsum gewaltig und tüdiih drohenden Gefahr, die Wolluft, mit der der einzelne im Ganzen verfinkt, findet auch in der Kriegsdichtung immer wieder Ausdrud. Am Bäufigfien fchlägt diefen Zon Albert Sergel an:

„Vereint in Liedern und Gebet An aller Augen ftrahlt ein Licht, ein ganzes Bolt zum Simmel fleht. Das fündet Trug und Yuperfict. Des Feindes Lift an dir vergeht, Mit ſolchem Bolt erliegft du nicht,

mein Baterland! mein Baterland!

„Der heilige Krieg”, Gedichte auß dem Beginn des Kampfes. Taibücher für bie veldpoft. Heft 1. Jena, Diederihd. Preis 60 Pf. Dieſes reihe Heftchen fpiegelt ebenfo wie da8 Heft „Der Kampf“ [Tatbücher, Heft 4] derfelben Sammlung den Gedanken⸗ und Gefühlsgehalt der Kriegsdichtung von heute vielleiht am überfichtlichften wieder. Man ver. gleihe auch unten Albert Sergeld ſchönes Gediht „Eiferne Saat” in dem gleichnamigen Gedichtbuche dieſes ehrlichen Dichter. Verlag €. I. €. Volkmann Nadif., Berlin-Eharlotten- burg. 1916.) |

182 Deutſche Kriegsdichtung heut und vor hundert Jahren

Biel Hände reden fi empor, fein Herz, das dir nit Treue ſchwor. Run brich zum Krieg, zum Sieg hervor fürs Vaterland, mein Bolt!”

Selten hat ein Kaiferwort in fo glüdlicher Weife die Volksftimmung wieber- gegeben wie jenes: „Ich kenne feine Barteien mehr, ich fenne nur noch Deutichel” Aus der Dichtung Hallt dieſes Wort in hundertfachen Abwandlungen wieder. Will Vesper fingt in dem Gedicht „Die drei Kumpane“ in der Sammlung „Bom großen Krieg 1914" (Münden 1915. ©. H. Bedihe Verlagsbuchhandlung Oskar Bed):

a ....„Da war kein Lärm, da war kein Geſchrei, ſtand Bruder an Bruder gereibt. Nicht Nord, niht Süd und feine Bartei. Alleinig dem Tode geweiht. Du heilige Burg, du beiliges Reich, Dad die Väter gemauert mit Blut, Bor dir ift Kaifer und Bettler gleich, Dir gehört all Xeben und But." ....

Immer wieder befruchtet im Zufammenhange damit dann ber gewaltige Eindrud die Phantaſie der Dichter, wie das deutfche Volt mitten in ber Arbeit bei der Mobilmahung aufbordt, wie ihm einen Augenblid ber Atem ftodt und wie dann Mann für Mann von der Arbeit, von der Ernte zu den Waffen eilt. Gerhard Hauptmann beginnt eines feiner Kriegslieder, das in viele Sammlungen übergegangen ift, mit ben Berfen:

| „D mein Vaterland, heilige Heimatland, Wie erbleichteft du mit einemmal? Banger Atem ging dur Feld und Tal, Bleiern wuchs ringsum der Wollen Band.“

Eine anſchauliche dichterifhe Seftaltung erfährt die Mobilmahung aud in Guftav Schülers Gedicht: „Mobil.“ (In Waffen und Wahrbeit. Leipzig. Verlag Arwed Strauch. 1914.)

„Und alle ſprangen zornfunkelnd vor

Aus Werkſtatt und Haus und Tür und Tor.

Aus den rußigen, rauchenden Hammerwerken

Mit wilden, brechenden Armesſtärken.

Es haben die hinter den Schreiberstiſchen

Nicht Zeit, die Federn auszuwiſchen.

Fort! fortll Die Läden werden leer,

Und feiner fprit und redet mehr.

Alldeutihland fprang aus Tür und Tor

Sornfuntelnd vor!”

Ein befondere8 Blatt wird Hierbei ftet3 den Sriegöfreiwilligen gewibmet. Dem Körnerfchen: „Pfui über di Buben hinter dem Ofen, Unter den Schrangen und unter den ofen! Biſt doch ein ehrloß erbärmlicher Wicht!“

Deutfhe Kriegsdichtung heut und vor hundert Jahren 133

ſteht aber Beute die Schilderung gegenüber, wie ein ungeftümer Drang, eine jelftvergefiene Begeifterung unjere Jugend zu den Waffen treibt. Man vergleiche Albert Sergeld „&ebet der Kriegsfreiwilligen” in der oben erwähnten Sammlung, ferner Kurt Münger „Der Junge“ in „Taten und Stränge“, Lieder zum Kriege 1914 (Arel Sunder Verlag Berlin- Charlottenburg, Orplid-Bücer Bd. 13) u. v. a. m. Kleine Anekdoten und Ausfprüche bieten den Dichtern willtommenen Stoff. Der Kriegsfreimillige bringt fein Pferd glei mit, er beruft fi, wegen zu fchmaler Bruft zurüdgewiefen, darauf, feine Bruft fei für eine Kugel und fürs Eijerne Kreuz breit genug. Hierher gehört Herbert Eulenbergs Gedicht „Begebenheit“ in der Sammlung „Der Heilige Krieg“, Scite 53.

Den Schmerz des Abſchiedes überwindet der Heilige Zorn gegen bie Zeinde, die das Baterland umftelt haben wie die Meute da8 edle Jagdtier. Diefer Zorn, der 1813 fi natürlich gegen den nationalen Unterdrüder Napoleon rihtete, wenbet ſich heute wunderbarerweife viel weniger gegen Frankreich, als vielmehr gegen das barbarifhe Rußland, das Binterliftige Iapan und vor allem das verräterifche, lügenhafte und rechtbrecheriihe England. Die Zahl der Streit- und Kampflieder gegen unſere Feinde ift groß, die Zahl der Haßlieder gegen England aber ift unendlih in unferer Kriegsdichtung. Der klaſſiſche Vertreter all diefer Zorn- und Kampflieder gegen England ift der jo Tchnell überall voltstümlic gewordene „Haßgejang gegen England“ von Ernſt Lifjauer („Borte in die Zeit.“ Otto Hapke Verlag, Göttingen und Berlin W 8) mit dem Leitmotiv: |

„Wir lieben vereint, wir baflen vereint, Wir haben alle nur einen Feind: England.“

Was heute diefen Zorn, diefen Haß gegen unfere Feinde und gegen England im befonberen fo ſchwer und fo tief macht, das ift wohl der fittliche Gehalt darin. Immer wieder bringt e8 unfere Kriegsdichtung zum Ausdrud, wie ſchwer fh unfer Bolt in feinem Rechtsempfinden und in feinem fittliden Empfinden durch den Friedensbruch feiner Feinde verlegt fühlt. Daß man die Nibelungen- treue, die der deutſche Hagen feinem öfterreihifchen Bruder Volfer ein Vergleich, den neben Schaufal nody mehrere andere Dichter gebrauchen gehalten bat, zum Kriegsvorwande genommen bat, daß man die verbündeten Völker zwang, mitten aus der typifchen Arbeit des Friedens, der Ernte, heraus fi) der blutigen Ernte des Krieges zuzuwenden (befonders viele folder Erntelieder find. zum Beiſpiel in der fchon erwähnten Sammlung „Der Heilige Krieg“ [Tatbücher Heft 1] enthalten, Seite 30 fj.), da8 macht die Erbitterung fo tief. Damit im Zufammen- bang entwidelt fi) dann aber das Bewußtſein, für daß gute Net, für bie fittlide Sache zu kämpfen, und das feſte Vertrauen auf die Hilfe Gottes. Deutich- land, das „Herz der Welt“, kann nicht untergehen, e8 muß feine Sendung erfüllen: am deutſchen Weſen ſoll die arge und kranke Welt genejen:

„Geneſen foll die kranke Welt, Bird jegt ihr’ Sad’ auf Recht geftellt - Kommt deutihe Zeit!” F (Karl Rosner, „Kommt deutſche Zeit” bei C. Peter „Deutſchlands SKriegsgefänge“ Seite 53 ff.) |

184 Deutſche Kriegsdichtung heut und vor hundert Jahren

Das Bewußtfein und die Zuverficht göttlicher Hilfe in biefem Kampfe um das Recht, für das deutfche Wefen bildet in der Kriegsbichtung von Beute einen ebenfo ftarfen, wenn nicht noch ftärferen Klang als in der ver hundert Jahren.

Auf dein Bewußtſein des guten Rechts und ber Gotteszuverſicht baut fi dann die freudige Entichloffenheit zum Kampf und die feſte Siegeszuverſicht auf. Für die deutfchen Dichter ift ein Zweifel am glüdlihen Ausgang bes Kampfes, an der Kraft des Baterlandes nicht möglid.

„Deutihland kämpft um fein Leben. Es wird nicht untergehn,“ fagt Alfred Kerr.

Es fcheint fo, als ob dieſe aweifelfreie, unbefümmerte, faft felbftverftänblidhe Gewißheit und Zuverfiht auf die Stärke und den Erfolg des Vaterlandes in Ofterreich nicht in demfelben Make vorhanden ift oder bei Ausbruch des Krieges war wie bei ung. Die Ofterreicher Haben anfcheinend eine derartige Wiedergeburt, eine derartige Einigung ihres vielzerflüfteten Vaterlandes, wie fie unter dem Drude der Not tatfächlich ftattgefunden bat, felbft nicht erhoftt. Richard Schaufal ruft in den „Chernen Sonetten“ den „Nörglem“ zu:

„Wenn wir uns freu'n verheißungsvoller Taten, bon läftigern Zweifel gar zu'gern befreit, fälſchen fie Schatten von Verlegenheit

fogleih zu Mißwachs Hoffnungsreifer Saaten.“

Und Hermann Kiengl fchildert in der Sammlung „Auf bebender Erbe” jene Einigung und Wiedergeburt unter dem Drud der Rot:

„D, du mein Öfterreih! Nah flotten Weiſen Am Walzertatt, wie ritteft du fo Yeiter,

In alten Schlendriansd gewohnten SKreifen | Längft im hiſtor'ſchen Alter eines Greifen, Triebft du die Spiele deiner Jugend weiter; Zum Ernſte fehlte dir der ernſte Leiter.

Doch Eifen bricht die Rot, wie Rot bricht Eifen!

Segt kam der Führer... . .“

Erft allmählich bricht die Freude, das Glück über diefe Wiedergeburt durd).

Da jubelt Schaufal, der in dieſen öfterreihifchen Liedern (Kriegslieder aus Dfter- reich 1914. Erfteß Heft. Münden 1914 bei Georg Müller) fein Beſtes ge- leiftet bat:

„Haſt du dich endlich deiner Kraft befonnen,

mein altes, oft gefcholtenes Oſterreich?

In deinen Adern ftrömen frifche Bronnen,

verfüngt bift du bir felber wieder gleich.

Das ift das Hfterreih der großen Seiten,

nad) dem wir und in Träumen oft gelehnt . . .“

Und biefes Einheitsgefühl fchafft dann auch in Hfterreich Kraftgefühl und

Siegeszuverficht, den Willen zum Kampf bis auf äußerſte, es greift fogar hinüber bis zu dem beutfchen Blutsbruder im Rei. Die beiden Adler, die vereint den

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Deutfche Kriegsdichtung heut und vor hundert Jahren 185

Anſturm der Feinde abwehren und die Grenzen hüten, find ein beliebte Symbol für dieſes Einigfeitsgefühl zwiſchen Deutfchland und Ofterreich, ebenfo wie das Ihon erwähnte Bild vom Bruberfampf Volkers und Hagens gegen die Hunnen.

Die eigentlihe Kampflyrit findet 1813 ihren beften und befannteften Ber- treter in Theodor Körner. Seine aus der Blut bes Gefühls Heraus entitandenen Kampfeshymnen Ieben noch heute und tauchen daher in einer ganzen Anzahl heutiger Liederfammlungen wieder auf, zum Beifpiel in der Sammlung „Soldaten- lieder”, neu gedbrudt im Kriegsjahr 1914 (Arel Junder Verlag, Berlin-Eharlotten- burg, Orplidbücder, Band 11). Die Töne, bie auß ihnen flingen, die Kampfes⸗ freude und die reiheitöbegeifterung, vor allem die Todesahnung, wirken noch heute echt und ſtark. Aber im Vergleich zu ihnen erfcheint ung die Kampfesiyrif von heute viel reicher, reicher an Geftalten und reicher differenziert im Gefühls- gehalt. Es ift Hier unmöglich, die große Anzahl älterer und jüngerer, befanuter und bisher unbefannter Dichter aufzugählen, die zu den Fahnen geeilt find und fo Gelegenheit haben, unmittelbar unter dem Eindrud des Geſchehens bichterifch zu geitalten. Wir gedenten bier nur ftill einiger von denen, die gleih Körner dem Baterlande mit dem Leben zahblten: des Seibedichter8 Hermann Löns, der zu unferer heutigen Kriegsdichtung einige der zarteften Lieder von Soldatenluft und Soldatenlied im Volkston beigefteuert Bat, des Ofterreicher8 Zudermann, beffen „Dfterreichifches Neiterlied“ mit Volfsliedfraft überallhin gedrungen ift*), und endlich des jungen Oftpreußen Walter Heymann.

Roh aber klingt ung die Leyer Richard Dehmels, Rudolf Herzogs, Fritz von Unrubs, des jungen begabten Holiteiner8 H. Friedrich Blund und vieler anderer. Ein Lied wie F. von Unruhs „An der Marne“ zwingt unwillkürlich zum Bergleich mit Körner, e8 liegt Körnerfher Rhythmus darin:

„Die Sonne fteigt glühend aus Nebeln auf, Kanonen donnern und fradıen;

Wir fpringen auf unfere Gäule binauf,

Mit dem Schwerte, dem Schwerte zu waden. Das lieblihe Tal voller Morgenglanz Empfängt unfere fehnenden Herzen:

Wir wollen den grünenden Giegerfrang

Bei rauchenden Schladtenterzen.

Und ftellt fi der Tod von Feld zu Feld Dem Stürmen und Drängen entgegen, Und fält von Scholle zu Scholle ein Held: Bir ſchlürfen des Himmels Segen . . .”

(„Der Heilige Krieg“, Gedichte a. d. Beginn des Kampfes. Jena, Diederichs, Seite 59f.)

Bemerkenswert ald ein unterfcheidender Zug gegenüber der ibealiftifchen Gedankenlyrik Körners ift jedoch das innige Naturgefühl, daß in dem angeführten

*) Bertonungen für eine Reihe folder volkstümlicher Lieder oder Lieder im Bolston die erwähnten find darunter) gibt unter anderen Eugen Diederih8 Verlag in Jena heraus: „Kriegslieder fürs deutihe Bolt mit Roten” und „Kriegöflugblätter für eine Singftimme wit Slavierbegleitung“.

186 Deutfche Kriegsdidhtung heut und vor hundert Jahren

Liede ſchon anklingt, das bei anderen Dichtern fogar eine beherrſchende Stellung einnimmt, zum Beijpiel bei 9. F. Blund und Walter Fler. Sener =. fein Lied „Batrouille”:

„Nebel füllt die Yennen.

Bie Infeln an einem grauen Meer

Magen die Höhen, budlig und ſchwer;

Die Kiefern tropfen, feucht ift das Feld,

Ein ferner Schuß, den der Tannicht hält,

Wo blieb der Feind?“

(Diefes und ähnliche Beifpiele in großer Zahl ftehen in der Sammlung „Der Kampf“ bei Diederich8 in Jena.)

Was den größten Zeil diefer Kampfeslyrik aber von der Th. Körners und ihrem Schillerihden Pathos unterfheidet, daß ift der überall zutage tretende Drang nah dem Volksmäßigen, dem Bollstümliden und infolgedefien dem Liedbaften und Sangbaren. Der Stil des Volksliedes und des Soldatenliedes herricht vor in biefer Lyrik, wenn fie auch von SKünftler - Dichtern herrührt. Den Ton des Soldatenliebes trifft zum Beifpiel fehr glücklich Klabund in feinen „Soldaten- liedern“ (Gelber Verlag, Dachau bei Münden). Ia, man kann noch mehr jagen: die dichteriſche Tätigkeit, da8 Dichten felbft, ift wieder volkstümlich geworden. Es jcheint in der Tat jo, als wenn wir auch während dieſes Krieges ein kraft⸗ volles Auffladern der Volksdichtung erleben follten.

Und aud der Inhalt diefer neuen Volksdichtung ift typiſch; die Lieber find flott rhythmiſche Kampf- und Dlarjchlieder oder Reiterlieder. Man vergleihe das Neiterlied „Mit ſtolz gebauſchten Fahnen“ eines unbelannten Verfaſſers in ber Sammlung „Der Kampf“, Seite 74. Bielfach gebt dur fie jener ſchwermütige Zon, der da8 Bolfglied jo bang und ſüß madt: der Abfchied, der Zod, die Heimat und ihre Lieben, der treue Kamerad und fein Sterben, daß find die Gegenſtände, die diefer Kriegslyrik auch Heute wieder ihren Gehalt geben. Beifpiele für ſolche Bolkslieder find in den erwähnten Sammlungen, namentlih in denen des Diederihsihen Verlages, mehrfadh vorhanden. Die Vorliebe für den Tod und die Trauer des Krieges beherrſcht auch jehr merklich Kurt Münzers Liederbüdjlein: „Raten und Kränze“. (Arel Juncker Berlag, Berlin-Charlottenburg, Orplid-Bücher, Band 13. In der gleihen etwas gejucht wirlenden Ausftattung der Orplid-Bücher find zwei SKriegßliederfammlungen erſchienen: „Neue SriegSlieder” und „Saferne und Schügengraben”. Die Sammlung „Soldatenlieder” wurde ſchon erwähnt).

Daneben aber fehlt auch nit der Humor, der ſich an dieſes oder jenes kleine Erlebnis anfchließt oder die eigene Lage verjpottet. Biel durch die Zeitungen und durch die Zeldpoftdriefe ift das famoje Lehmlied gegangen:

„Bol Lehm find unjere Beine, So geht es Woch' um Wochen, Bol Lehm aud dad Gelicht, Rur Lehm und Lehm und Lehm, Bol Lehm aud alle andre, Es geht bis auf die Knochen Was man man zu jeben kriegt. Der ewige Lehm, Lehm, Lehm. Bol Lehm der Schütengraben, Da plöglih eine Wandlung, Boll Lehm das Nachtquartier, Es gebt in einem Hupp,

Bol Lehm die ganze Gegend, Jetzt regnet? grad zwei Tage:

Und alle ringsum bier. Statt Lehm iſts Erbienjupp.”

Deutfhe Kriegsdichtung heut und vor hundert Jahren 187

Für Sammler fei noch da8 Liebesgabenlied mit dem Stoßfeufzer: „So viel Liebe und fein Mädel!“ und das Rheumatismuslied mit dem Schluß erwähnt: „Uns zieht der Rheumatismus fürs Vaterland durchs Kreuz!”

Neben dieſe Kriegslyrik tritt nun die Kriegsepik, zu der einerſeits die funft- gemäße oder volksgemäße Ballade, anderſeits daB formlofe biftorifche Volkslied gehört. An beiden Battungen ift unfere Kriegsdichtung überrafhend reih. Es gibt Beute kaum einen Sieg, faum eine Tat unfered Heeres ober der Zlotte, kaum einen lleinen oder großen Helden, der nicht mebrfach befungen worden wäre. Am wmeiften Lieder vereinigen ſich wohl auf bie Eroberung Lüttichs und die Taten des „U 9“ und der „Emden“ und auf bie Männer, an deren Namen biefe Taten gefnüupft find. Bon den großen führern wird der Kaiſer und dann natürlich Hindenburg gefeiert. Die Geftalt des Kaiſers bat unter dem Einfluß des Krieges in der bildenden Kunft und in der Dichtung in gleiher Weile eine Verklärung erfahren. Weshalb? Darauf antwortet und Mar Bewer in feinem fnappen, aber tiefen Gedicht „Dem Kaiſer!“

„Wenn einer wert ift,

Daß des Ruhmes Krone,

Des Krieged Lorbeer

Sintet auf fein Haupt,

Bift du es, Kaifer,

Der von allen Herrſchern

Am längften an den Frieden hat geglaubt.“

Hindenburg aber ift nicht bloß im Kampf, fondern au in der Dichtung der Blücher von 1914 geworden. In Hymnen und im Dialelt, in Igrifhen und epiihen Ergüflen, in Balladen und fomifchen Gedichten wird er und feine Zaten gefeiert. Als Probe eines Volksliedes mögen bier zwei Strophen aus einem Liede ftehen, da8 Landwehrmänner nach der Weiſe des Tannenbaumliebes am 22. Dezember auf dem Bahnhof in Sosnotwice gejungen haben:

„D Hindenburg! o Hindenburg! wie fhön find deine Siegel

Du madft nit nur im Breußenland, nein aud in Polen dich bekannt. D Hindenburg! o Hindenburg! wie ſchön find deine Siegel...

Bei Orteldburg, bei Anfterburg, bei Soldau und bei Wlozlau

Haft du die Ruſſen angelodt und ihnen did dann eingebrodt.

Bei Orteldburg, bei Infterburg, bei Soldau und bei Wlozlaul ...“

Zum Schluffe dürfen in ber Kriegsdichtung von heute auch nicht ſolche Stimmen übergangen werden, bie einen anderen Unterton tragen als die bisher geichilderte Dichtung der Kämpfenden, feien e8 nun geiftige Kämpfer oder jolche, bie mit der Waffe vorm Feind ftehen. Auch ber Gefühle derer muß bier gedacht werden, die das Schidfal nicht zum fröhlich - begeifternden Kampf, fondern zum geduldigen Warten auf das Leid, auf den Sammer des Krieges beftimmt Bat, und bie ihr Heldentum daheim, im ftillen ſich erringen müflen durd) die Art, wie fie ihren Schmerz auf fi nehmen und fih mit ihm abfinden. Aud ihre Gefühle finden in ber heutigen Kriegsdichtung gelegentlih Dolmetſcher. Kurt Münger findet zum Beifpiel für fie gelegentlich padenden Ausdruck („Zaten und Kränze“), vor allem aber verjuht Hermann Claudius (Hörft du nicht den Eijen- ſchritt? Zeitgedichte. Alfe. Janflen Verlag, Hamburg, 1914) fi mit dem Welt⸗

188 Deutfche Kriegsdichtung heut und vor hundert Jahren

frieg nicht bloß vom nationalen, fondern auch vom allgemein⸗menſchlichen Stand- punft außeinandergufegen. Er findet dabei für die Hilflofigfeit des einzelnen gegenüber dem Weltgeſchehen, für das Entjegen vor dem Sraufigen des Krieges, für die rein menfchlihe Tragik des Sterbens und des Todes ebenfo echte Töne wie für die ehrliche Vaterlandsliebe und den opferbereiten Kampfesmut.

Er und fein Verleger verzichten auch mutig und felbfibewußt auf eine Art bon nun jagen wir Entſchuldigung, die heute faft zu Häufig in Gedicht⸗ büchern zu finden if. Dichter und Berleger verſprechen einen Zeil des Neinertrags dem Roten Kreuz. Da ift natürlich die Abſicht nur zu loben. Es Bat aber faft den Anichein, als wollten die Dichter ihren Werfen in diefer eifernen Zeit dadurch etwa8 mehr Dafeinsberechtigung verfchaffen. Aud) vor hundert Jahren haben zum Beifpiel Uhland ähnliche Gedanken gequält. Wir möchten aber all unjeren Dichten Beute daS frobe Selbitvertrauen und das Bemußtfein eigenen Wertes wünfchen, wie es Will Vesper ſich bewahrt bat. Denen, die da „mit blutigem Schwert Weltgeſchichte fchreiben“, gefellt er fich ebenbürtig bei und ruft ihnen zu:

„Durch den Ader der morfchen Zeit

reißt ihr breit

Den eifernen Pflug und wendet daß Land. Aber Hinter euch geht

mit jegnender Hand

der Sänger und fät

beilige Saat,

daß nod in ferniten zukünftigen Tagen eure Tat

‚euren Enteln joll Ernten tragen.”

WMaßgebliches und Unmaßgebliches

Theologie

Kirhengeihichtlihes Seſebuch. Heraus- gegeben von Brof. Dr. H. Rinn in Hamburg und Pfarrer lic. theol. Yüngft in Gtettin. Große Ausgabe. Dritte vermehrte und ber-

befierte Auflage. Tübingen, Verlag von % B. Mohr. 1915. Preis M. 6.—, geb. M. 7.—. 480 Seiten.

Mit der Herausgabe diefes kirchengeſchicht⸗ Iihen Leſebuchs, als deſſen ausſchließlichen Verfaſſer man wohl nur Rinn in Anſpruch nehmen darf, bat fich der Verfaſſer ein wirk⸗ liches Verdienſt um das Studium der Theologie und um die Vertiefung des Religionsunter⸗ richts an unſeren höheren Schulen erworben. Das Buch iſt von der richtigen Voraus⸗ fegung aus geſchrieben, daß der religiöfen Gewißheit um fo beſſer gedient wird, je ge wiflenbafter die Arbeit ift, die über die Ent- ftehung und den Werdegang des Ehriftentums bon feinen erften Anfängen an quellemnäßige Klarheit und Wahrheit verſchafft. Einen überreich quellenden Stoff, der fi auf beinahe zwei Jahrtauſende erftredt, auf einen ver⸗ bältnigmäßig engen Raum zufammenzu- drängen, war nur möglich bei der ficheren Beberrihung des Material® dur den Be⸗ arbeiter, der den Leſer auf möglichft geradem und geebnetem Wege dem Ziele der Gegen- wart zuführt.

Dad Buch zerfällt in fünf Adfchnitte. Die beiden legten Abſchnitte ded Buches Halten wir für die vortrefflihften Teile des ganzen Werlkes, obſchon auch die drei erften Abfchnitte eine QUuellenfammlung von grundlegender Bedeutung find und in wiſſenſchaftlichen latboliihen Kreifen ebenjo günftiger Auf⸗

nahme begegnen werden wie die beiden legten Abſchnitte in proteftantifhen. Zu dem Snierefie an der Sade gefellt fih das Intereſſe an den Berfönlichleiten. Auch von der Kirchengeſchichte gilt das von der profanen Geſchichte geprägte Wort: PBerfönlichkeiten maden die Geſchichte. So ſucht denn auch Rinn den Hauptwert feine® Buches in dem quellen» mäßig belegten Werdegang ber Männer, die Kirchengeſchichte gemacht haben. Wir empfangen höchſt wertvolle Auszüge aus dem Leben der religiöfen Helden ded Mittelalter bon Auguftin an bis herab zu Erasmus Diefe Namen allein berühren bei aller Kürze der Erwähnung fo vieles, daß man gar nidt daran denten Tann, au nur eine fnappe Darftellung gu verfuhen.. Um fo wichtiger ift die Perfönlichkeit, die nun der ganzen Kirchengeſchichte in der Folgezeit ihr dauerndes Gepräge aufdrädt, Martin Luther. Trotz der feit dem Jahre 1883 gewaltig an- geſchwollenen Lutherliteratur ift das Urteil über ihn noch nicht zur Ruhe gekommen. Sn leidenſchaftsloſer Einfachheit laßt Rinn den großen, gewaltigen Eindrud vor uns erftehen, den diefe religiöfe Heldengeftalt auf Mite und Nachwelt allezeit gemacht bat; er verförpert den jungen Gottesfucher, den un« geftümen Beter und Rufer im Gtreit um jein Gewiffen und feiner Seele Seligleit, die ungeſchlachte Derbheit des in der Notwehr um fi fchlagenden Kämpferd, den aus« barrenden Mut des ungebeugten Titanen, der eine Belt aus den Angeln hebt und doch in allem, was er tut, fih beugt unter die gewaltige Sand des allmäditigen Gottes. Hier Führt und Rinn zu den Höhen der Menſchheit, in das Neih des Großen, Er-

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Habenen, Heroiſchen. Luther verfolgt un? nun dur das ganze Bud. Im Verlaufe der fpäteren Geichichte des Proieftantiämus erfheinen lange Zeit feine Perfonen von genialer Überlegenheit, bis die neuefle Zeit mit dem Pietißmus, der Aufklärung über. leitet zu Auguſt Hermann Franle, Zinzen⸗ dorf, Reimarus, Leffing, Kant, Schleiermadıer, Albrecht Ritſchl, dem legten Kirchenvater. Hier mödten wir einmal einen Augenblid Halt madhen. Hat die Überfülle dee Stoffes den Verfaffer gezwungen, Goethes Religiofität fo kurz zu charafterifieren und die Bedeutung der Fauftdihtung für das religiöſe Leben der Gegenwart beijeite zu jegen? VBiemards Religiofität hören wir voll außtönen in feinem Berbebrief an Herrn von Puttlamer und in der fozialen Botſchaft vom 17. November 1881. Über diefen Tlaffifhen Helden des modernen deutfhen Chriftentums vergißt Rinn nit das weitausſchauende, freie, kirchliche Vereinsweſen der Gegenwart, das die Rüſtung darſtellt, mit der die Kirchen der Gegenwart ihre Lebensaufgabe löſen und der Aus—⸗ einanderſetzung mit freundlichen und feind⸗ lichen Mächten des religiöſen Lebens ſich widmen.

Ein Vergleich der zahlreichen kirchen⸗ geſchichtlichen Lehrbücher, die früher und teil⸗ weiſe noch heute dem lkirchengeſchichtlichen Unterrichte an hoheren Lehranſtalten zur Grundlage dienen, mit dem kirchengeſchicht⸗ Iihen Leſebuch Rinns madt jene nicht ganz überfläjfig, zeigt aber, daß wir in dem Streben, den Schüler an die Quellen zu führen und ihn fein religiöfe® Urteil felbft finden zu lafien, doch immer weiter fortichreiten müffen. Sn gedrängter Zufammenjtellung und zweck⸗ mäßiger, überſichtlicher Gruppierung gibt das Bud einen äußerſt umfangreichen geſchichtlichen und biogrophiihen Stoff, deffen Benugung und Ausführung dem lebendigen Bortrag des Lehrers überlafien bleibt, dem Schüler und Studenten aber ein Nachſchlagebuch wird, aud dem er immer Wieder neue Ber lehrung und Anregung ſchöpft. Das Ganze ift in eine fpannende und fließende Dar» ftelung gefleidet, für die alte und junge Geſchichtsfreunde dem Verfaſſer dankbar find, da fie die Durdarbeitung und Benugung

gefichtet.

Maßgebliches und Unmaßgebliches

des Buches zu einem Vergnügen, nicht zu einem Zwang macht. Mit unendlichem Fleiße, den keine Mühe bleichte, iſt ein reiches Material zuſammengetragen, kritiſch verarbeitet und Daß der wohlverdiente Erfolg nicht gefehlt hat, beweiſt die Tatſache einer dritten Auflage, die raſch der erſten und zweiten gefolgt iſt und aus dem Werke der erſten Auflage in der vorliegenden Ausgabe ein ganz neues Buch gemacht hat An der kundigen Hand des Verfaſſers koſtet der Leſer immer wieder die Freude am Werdegang des Chriſtentums und erquickt fich gern an der nationalen Bereicherung, die das deutſche Bolt durch fein religiöſes Chriſtentum und umgekehrt das Chriſtentum durch die Religioſitãät des deutſchen Gemüts erfahren hat. Heinrich Reuß

Julius Rupp: Geſammelte Werte. Bd. J a/b. Aus der großen Fülle deſſen, was Julius Rupp geichrieben hat, gibt der erfte Band feiner bei Diederichs ericheinenden ges fammelten Werke in zwei Teilen Rupps Auf⸗ füge zum Evangelium und zur Xheologie. Während aber die im zweiten Zeil zuſammen⸗ geitellten Ausführungen zur Theologie größten« teild Trisifche Beſprechungen bereits überholter theologiſch⸗ wiſſenſchaftlicher Werte enthalten, entwidelt Rupp im erſten Teil in ziemlicher Ausführlichkeit feine und feiner Gemeinde Stellung zu den LZebendfragen des Ghriften- tums, alfo gu den Problemen, die aud) uns Beute wieder am Herzen liegen.

Rupps Frömmigkeit ift durchaus männlich und tatlräftig, denn fie tft Dur und durch fittlih bejtimmt. Das Grundfaftum, durd das ihm allererft Religion möylid wird, ift die Exiſtens des, Geiltes im Menſchen; unter Geiſt verfteht Rupp aber nit etwa den Philoſophie, Wiſſenſchaft und Kunſt hervor⸗ bringenden Verſtand, ſondern dad Selbſtbe⸗ ſtimmungsrecht des Menſchen, das fich in der Stimme des Gewiſſens offenbart, den vor und über aller Urſächlichkeit wirfenden Willen, dasfelbe aljo, was Kant Freiheit oder autor nome Vernunft oder intelligibled Subjelt nennt. Diefer Geift ift e8, der den Menſchen über alle anderen Weſen erhebt und zum Teil- nehmer des göttlihen Lebens macht; denn

Maßgeblihes und Unmaßgebliches

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Gott iſt diefer Geiſt in feiner Geſamtheit, das Geſetz der ewigen Ordnung. Glaube an Gott ift alſo gleichbedeutend mit dem , Glauben an den Geiſt und deſſen ewige Ideen der Gerechtigkeit oder der Gleichheit und Freiheit“ (S. 127), und der Grad der Frömmigkeit eines Menſchen hängt davon ab, wie weit die durh eine freie Tat bed Beiftes beftimmte Richtung feined Handelns im Einklang oder im Widerfprud mit dem ewigen Geſetz der Gerechtigkeit fteht. Nicht auf die einzelne Handlung oder den fpeziellen Grundfag kommt e8 an, fondern auf die vor allem Handeln Itegende Unterfheidung von Gut und Böfe, auf das allgemeinfte Werturteil, durch daB fih der Menih für das Geiftige oder das Ungeiftige entjcheidet. Hierbei darf fih der Menſch auf niemanded Beiftand verlaffen, auh nicht auf Gottes Hilfe, diefe Ur und Grundentiheidung bleibt durchaus und ftetß eine Tat feiner Freiheit.

Mit einer prachtvollen Unbejorgtheit gegen- über allen Bedenken der hiſtoriſch⸗kritiſchen Theologie erflärt Rupp diefe durchaus Kantiſch gefärbte „Boiſchaft von dem Reiche der Er⸗ lenntnis und der freiheit” für den eigentlichen Anhalt der Predigt Jeſu: „Daß die Be friedigung aller Triebe des perjönlichen Daſeins dem Leben ded Geiſtes unbedingt unlerzu- ordnen fei, daß der Gehorfam gegen da8 Geſetz der Gerechtigkeit, die Aufnahme der göttlichen Volllommenheit in den Willen des Menihen als die wahre Beitimmung des Menſchenlebens erkannt werde,“ das war der neue Bedankte, den Jeſus in dad Bewußtfein der Völker einführen wollte (S. 96). Es ift überflüffig zu fragen, wie weit died mit den biftorifhen Tatſachen übereinftimmt, um fo mehr, als eine gültige Beantwortung diefer Frage unmöglid) ift; denn angenommen, wir mwüßten, welde Sprüde aus dem Neuen Zeftament wirklihe Ausfprühe Jeſu find wa3 wir von feinem einzigen mit Sicherheit behaupten konnen! fo könnten wir nad Rupps Meinung doch niemals mit Sicherheit feftfiellen, welchen Sinn Jeſus mit feinen Worten verfnüpft bat. Alſo überlaflen wir mit Rupp diefe bei dem jegigen Beſtande der Quellen boffnungslofe Unterfuhung den gelshrien Theologen, fuhen wir das heraus,

191

was und in dem Fortfchritt unferer fittlich« religiöjen Erkenntnis fördern kann und vor unferm Wahrbeitsfinn ſtandhält! Es ift über» haupt grundfäglic verfehrt darin ftimmt Rupp mit dem gejamten Nationalismus mit Einſchluß Kantd überein —, die Wahrheit eine® Satzes dur den Hinweis auf ein hiſtoriſches Yaltum oder eine hiſtoriſche Berfon zu beweifen; die Gefhichte kann niemals über wahr oder unwahr entiheiden; vielmehr ift

‚die einzige Inſtanz, die bier gültige Ent-

fheidungen treffen kann, „der Wille Gottes, das Geſetz in unferer Bruft, die Offenbarung unſeres Gewiſſens“; dem Richterfpruch diefer Inſtanz unterliegt alles, aud) Jeſus!

Dies ift Rupps ftolger und männlicher Glaube, der Haupt⸗ und Grundgedante feiner Bertündigung, das eigentliche Thema, das in allen Auffägen in immer neuen Abwandlungen und Bariationen wiederkehrt. Damit aber rüdt Rupp durchaus in die Reihe der großen Idealiſten, dor allem neben Fichte und Schiller: mag bei Fichte das deal mehr moraliſch, bei Schiller mehr äfthetiih, bei Rupp mehr religiöß gefärbt fein, da8 dem deal zugrunde liegende Welt⸗ und Lebens gefühl haben die drei Männer gemeinfam. Mit ihnen teilen auch wir jegt in der Zeit des Weltkrieges den herzerhebenden Idealis⸗ mus, und ſo iſt Rupp für uns die Stimme eines Predigers, die nicht ungehört verhallen darf

Rechtsfragen

Dr. Ludwig Hatſchet, Univerfitätsprofejjor in Göttingen: Das Barlamentsreht Bes Deutſchen Reiches, im Auftrage des deutfchen Neichstages dargeftellt. Eriter Teil. Berlin und Leipzig. G. J. Göſchenſche Verlags⸗ buchhandlung ©. m. b. H. 1915. 628 ©. Preis geh. 16 M.

Wie Ihon der Titel ſagt, ift das Wert im Auftrage de Neichdtaged verfaßt und den Neichdtagdabgeordneten Yund und Graf Oppersdorff aud Dankbarkeit für mannigfache Förderung gewidmet. Lagen au bisher ſchon kleinere Vorarbeiten wie 3. B. von Perels bor, fo fehlte e8 doch an einer umfaſſenden Darftellung des gejamten Reichstagsrechtes,

192 Maßgebliches. und Unmaßgebliches

daB biöher nur in den Werken über Reichs⸗

ſtaatsrecht überhaupt Berüdfihtigung gefunden Batte. Hatſchek als Berfafler eines „englifchen Staatsrechtes“ hatte in diefem Wert gerade dem Parlamente ald dem Mittelpunfte der eng- liſchen Verfaſſung befondere Aufmerkfamteit gewidmet. Wenn der beutihe Neichstag es daher al3 feine Aufgabe betrachtet, eine wiſſenſchaftliche Darftellung feine eigenen Rechtes in? Leben zu rufen, fo war ber Berfafler dazu fehr wohl geeignet.

Daß die Arbeit fehr müheroll war, muß bon vornherein anerlannt werden. Denn es handelte fi nit nur um die Beftimmungen der Reichsverfaſſung, des Wahlgejege® und der Geſchäftsordnung. Es mußten auch aus zahllofen Bänden der Reichstagsdruckſachen feit 1867 die Vorgänge feftgeitellt werden, um daraus die beftehende Übung zu ent iwideln.

Der Berfafier bat feine Aufgabe auf breitefter Grundlage gu erfüllen verfudht. Denn er bat nit nur die ſchwer zu er mittelnden Quellen des deutichen Barlament& rechts feitgeftellt, jondern rechtsvergleichend auch die meilten ausländifchen Parlamente berangegogen bis gu Griehenland und Dänemark herab. Die ruffiide Duma fehlt

allerdingd. An anderen Stellen, wie bei der Bablprüfung, find nur die. Barlamente her» angezogen, die beſondere charakteriſtiſche &igentümlichleiten darbieten. So wird daß Buch in mander Hinſicht aus einem deutfchen zu einem Parlamentsrechte überhaupt.

Am ganzen Iann man bon dem bisher allein vorliegenden erften Teile fagen, daß Berfafler feine Aufgabe in glänzender Weiſe erfült bat. Daß man bei einem fo um⸗ faffenden Werte nit mit allen Ausführungen des Berfaflers einverftanden fein Tann, if felbftverftändlih. Ich möchte in diefer Be

ziehung nur die an englifche8 Parlamentsrecht

antnüpfenden Erörterungen über Barlamentse brauch und SKonventionalregel bervorheben. Ein weiteres Eingehen auf Einzelheiten ver bietet fi von felbit.

Dem beutihen Reichſtage ifl jedenfalls in dem Werke für alle fünftig auftauchenden Streitfragen eine unerjhöpflide Fundgrube geboten, deren Benugung er fi nicht ent⸗ geben lafien wird. Möge dem eriten Zeile, der nad) einer Einleitung im wefentlichen die Organe der Volksvertretung behandelt, bald der zweite folgen, der ‚und vorausfichtlich ihre Wirkſamkeit kennen lehren wird.

Prof. Dr. Eonrad Bornhak

Ulen Manuflripten ift Porto hinzuzufügen, da andernfalls bei Ablehnung eine Nädfenbung

nicht verbürgt werben Tann,

Beraxntwertlid:

rag een füntlider Uuffäge nur mit ausbrädiidher Erlaubnis Des ber Serausgeber Georg Cleinow in Berlin Lichterfelde En. - Banuitriptienbungen

Derlags geſtattet.

Briete werben erbeten unter ber Abrefſe:

Un den Herausgeber der Grenzboten in Berlin - Lichterfelde Weit, Sternſtraße 56. Beruiprecher des Heransgeberb: Amt Lichterfelde 498, des Berlags und der Schriftleitung: Ant Lägew GEIO. Berlag: Berlag der Grenzboten ©. m. b. H. in Berlin SW 11, Tempelhofer Ufer 35a.

Druck: „Der Reihsbote” ©. u. b. H. in Berlin SW 11, Defiauer Straße 86/87.

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Der Swec in der Dolitif

Don Dr. Paul $eldfeller

ir wären übel beraten, wollten wir ung bei Amateuranthropologen und Anhängern einer Rafjentheorie als Weltanfhauung Auskunft 4 holen, um mas es fich in diefem Kriege handelt. Hat man e3 N Doch fertig gebracht, aus intereffegeleiteter Liebhaberei, die immer die wiſſenſchaftliche Unſchuld verunreinigt, den ftarfen germanifchen Einſchlag Britannien zu leugnen. In ſchärfſtem Gegenfag zu dieſem Naturalismus und Materialismus ftehen die politifhen Tatſachen. Gegen uns lämpft verwandtes Blut, und nicht nur das englif he. Und wenn es wahr fein jol, daß die Stimme des Blutes ein geheiligtes Naturgebot enthält, das fi) nit übertönen läßt: wie fommt es, daß fie nicht in den Franzofen und Ruſſen ſpricht, mit deren Blut fi) doch auch, wenn auch ſchwächer, das unfere miſcht? Anderſeits Tämpfen an unferer Seite Polen, Litauer und Juden. Sie haben auf das Ehrenprädifat „deutſch-völkiſch“‘“ a priori nicht in geringerem Grade Anſpruch als die ſich unnachweislich von reinerer Rafle Dünfenden. Dazu ftommt das ganze bunte Völfergemifch Öſterreichs, vom Galizier bis zum Tiroler und iftrifhen Italiener. Sie alle eint das Bewußtſein einer gemeinfamen großen Sache, die weit hinausgeht über eine einfache bloße Yamiltenfimpelei im großen, welche die einfeitige Betonung der Völferverwandtichaft doch ift und welde noch niemal3 in der Gefchichte das gegenfeitige Zerfleifchen verhindert hat.

Mit den germanifhen Stämmen, die zu Hermanns Zeiten daS heutige Deutihland bewohnten, haben wir nicht viel mehr gemeinfam als das Territorium. Mag für den Zufammenfhluß von Stämmen die VBerwandtichaft den Ausſchlag geben, größere Volfsverbände pflegen fi nach) ganz anderen Gefihtspunften zu gruppieren. Die Betonung des Blutbandes fteht anfangs allerdings obenan. Sie ift der primitive Zwed einer primitiven Politif. Der Stammesegoismus Tennt fein höheres Bedürfnis als die eigene politifche Sicher- ftellung. Indem er diefe durch Unterwerfung feindlicher Stämme um fo beffer zu erreichen glaubt, wird die Eroberung fremden Landes die erjte Konjequenz

Grenzboten II 1915 18

194 Der Swed in der Politik

diefer primitiven Bolitil. Deren Folge wiederum tft die Erweiterung der GStaatsgrenzen. "

Kein Begriff diefer naiven Politik ift fo gweideutig wie der der „Unter werfung“. Schauen wir doch auf das antile Rom. Die „unterworfenen“ italieniſchen Bundesgenoſſen erftreiten fi das Bürgerrecht und erlangen ent- iheidenden Einfluß auf die römiide Staatsmaſchine. Die normannifchen Eroberer laſſen fih von der „unterworfenen“ Bevölferung Englands auffaugen. Denn zwar wird der Hafe vom Menſchen erlegt und verfpeift. Aber fein Fleifh wird nach einem Umſchmelzungsprozeß Teil des fiegreihen Organismus; Zeile von ihm können auf diefe Weife fogar das Gehirn erneuern und von bier aus den gefamten Organismus Ienten. Das Individuum glaubt einen Alt ber Feindſchaft vollzogen zu haben, wo in Wahrheit das folidarifhe Yüreinander der organifhen Natur ihre höchften Triumphe feiert. So glaubt auch primitive Politik ihren Zwed, die Macht des eigenen Bluts, der eigenen Raſſe zu ftärfen, aufs befte zu erfüllen. In Wahrheit forgt die „Lift der Vernunft” dafür, daß gerade das Gegenteil erzielt wird: die Raſſe vermifcht fih, und das fremde Blut Tann nach vollzogener Eroberung und „Unterwerfung“ unter Umſtänden befjer gedeihen und die urjprünglicden Elemente ganz verdrängen. |

Mas der Eroberer alfo legten Endes bezweckt hat, tft ihm nicht gelungen. Statt deſſen aber erzielt er einen anderen, freilich unbeabfichtigten Sieg. Ehe die Speife die Funktionen des neuen Organismus mit übernimmt, muß fie ſich ihm affimilieren. Den gleihen Ummandlungsprozgeß beobachten wir an dem befiegten und einverleibten Volle. Ehe es vom bloßen Dbjelt der Geſetzgebung und Verwaltung zum Subjelt wird, muß e8 die oberften Zwede feiner ehemals felbftändig gerichteten Politik aufgeben und fi den nationalen Gedanken des neuen Volksorganismus aneignen. Unbeſchadet diefer neuen Richtlinie der politiiden Zwede aber wird das anneltierte Volt dann die wertvollfte Mitarbeit zur Weiterentwiclung des nationalen Lebens leiften können, wenn die Eigenart feiner geiftigen Kultur nicht bloß mehr Dbjelt der Staatsfunft und eventuell der Unterbrüdung bleibt, fondern wenn ihm die Lebenskraft gelaffen wird, als mitbeftimmender Faltor den nationalen Gedanken bereichern zu helfen. Man fieht, wie wenig die Vermandtichaftstheorie für die Staatenbildung bedeutet und wie unberectigt Die Schlagworte „Slawismus“, „Romanismus“, „Germanismus“ dann find, wenn mit ihnen Gegenfäte der Abjtammung, ftatt der Kultur, gemeint werden.

Um dieſen Vorgang der politiihen Motivverſchiebung richtig zu begreifen, müſſen wir ihn aus den pſychologiſchen Grundtatfahen zu erflären ſuchen. In der phyſikaliſchen Welt gilt das Geſetz der Konftanz und Erhaltung der Energie (beziehungsweife das Aquivalenzprinzip). Auf das pſychiſche Geſchehen aber kann dies Gefe nicht angewandt werden. Gerade im Gegenteil befteht bier das „Prinzip des Wachstums geiftiger Energie”, wie Wundt es genannt hat. Ein ausgeprägtes Beifpiel für die Geltung dieſes Prinzips haben wir im der

Der Zwed in der Politif | 195

fogenannten Heterogonie der Zwecke, welde das geſamte geiftesgefchichtliche Werden durchzieht. Wer kennt nicht die vielen Fälle aus feinem eigenen Leben, wo ber urjpränglid allein begehrte Zwed, der Grundmwille, gar bald unvor« bergejehene, ja für den Fall, daß fie vorbergefehen wären, unerwünfchte Wirkungen und Nebeneffelte zur Folge bat, die dann jpäter vom Willen bewußt aufgenommen und zum Hauptzwed gemacht werden Tönnen? Der Schulbub, der nur, um der Strafe zu entrinnen, in die Schule geht, weiß nicht, daß die Borfehung der Eltern und Lehrer in ihm die Grundlage für ganz andere Zwede legt, die fpäter in ihm auftauchen werden. Bald geht er zur Schule mit dem ausgeſprochenen Zwed, fich dereinſt felbftändig ernähren zu können. Und gerade die Beiten der mit diefer Abfiht die Univerfität auffuchenden Studierenden geben auch diefen Zweck als oberſten Geſichtspunkt auf und ftellen die felbftlofe Arbeit im Dienſt der Wiſſenſchaft obenan. Meiitens freilich fpielt die Natur jene Art „Vorfehung”. Das junge Mädchen im Badfiichalter, deffen feimende Liebesneigung keinen anderen Zwed als das perjönlide Glück fennt, ahnt noch nichts von der Fülle von Zwedfegungen, die fih in Mutterforgen und Familienpflichten dermaleinft aus jenem fimplen Grundwillen ergeben werden und von weldhen aus nicht umgelehrt! erft diefer Grundwille, die Vergangenheit, teleologiich zu deuten ift.

Was bier im Meinen gilt, fpielt fih in dem jahrtaufendelangen Werden des Volles und des BVollögeijtes riefengroß ab. Wenn wir uns zu einer idealiftifchen Weltanſchauung bekennen, fo werden wir das „Wefen“, das Wert⸗ volle eines Volkes nicht in feiner phyſiologiſchen Zufammenfegung, fondern in feinem Geift ſuchen müſſen. Der Geift eines Volles aber offenbart fich in der Fülle und Qualität feiner Kulturzwede. Haben wir nun erlannt, daß Die feelifche Energie. ganz unverhältnismäßig wächſt, daß der Reichtum der Kultur- zwede geſchichtlich aus dürftigen, jeder Geiftigleit baren Urmotiven, ja zulebt und urſprünglich aus einem pſychiſchen Nichts hervorgegangen ift, dann wifjen wir, daß der Volksgeiſt an dem relativen Ende der Entwidlung, nit an ihrem Anfung, zu ſuchen ift. „Das Deutſchtum in phyfiologiicher Konftanz der Raſſe zu ſuchen, ift grober materialiftiiher Naturdienft und Verachtung des Geiſtes“ (Adolf Lafjon, Deutſche Art und deutſche Bildung Seite 19). Und in der Tat bat die heutige deutſche Politik mit derjenigen zu Hermanns oder Chlodwigs Zeiten jo menig gemeinfam mie die Zwede in der Lebensführung des Mannes mit der feiner Kindheit. Ja es wäre eine jchlechte Anerkennung, bier feine Disfrepanz, feine ſcharfen Gegenſätze zu erblidenl Die nadten Raſſeninſtinlte, wenigftens innerhalb der europäifhen Menjchheit, find nur auf primitiver Kulturftufe und im Naturzuitande wirkfam. Wenn wir heute vom „deutihen Volk” ſprechen, jo meinen wir etwas anderes als die Summe der blauäugigen, blondhaarigen ujm. Menſchen. Wir gebrauchen dann vielmehr einen Begriff, von deſſen Gerüjt einiges jtehen geblieben it, der aber im Laufe der Zeit feinen Inhalt gänzlich geändert bat.

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196 Der Swed in der Politik

„Deutſch“ ift eine beftimmte Geiftesrichtung, eine Gefinnung, ſo gut „helleniſch“, „byzantinifch“, „chriftlich“, eine befiimmte Denkungsart, ein Kultur- ideal bezeichnen, ohne daß wir hierbei an ein ganz beftimmtes Bolf im natur- wiſſenſchaftlichen Sinne denken, in deſſen Mitte einmal die betreffende Kultur ihren erften bejcheidenen Anfang nahm. Was uns in dem Begriffe vom idealen deutſchen Vollsgeifte, vom Ewig ⸗Deutſchen, vorſchwebt, läßt fich höchſtens an dem Sdealbilde des Emwig-Hellenifhen meſſen. Diefer Vollsgeiſt iſt im Entftehen, und wehe uns, wenn wir ihn zurädichrauben wollen auf die Tierheit brutaler Raſſeneiferſucht! Er fest fih Kulturzwede, von denen unfere böblen- bemohnenden leiblihen Vorfahren ſich nichts träumen ließen. Er ſucht feine wahren Vorfahren, außer bei den Großen der eigenen geſchichtlichen Ver⸗ gangendeit, vor allem in Hellas, dem ewig jungen Lande der Griechen, und erlangt fo durch eine ununterbrochene Sette geichichtlicher Kontinuität eine Bürgſchaft für die Stetigkeit und Legitimität unabläffig fortfchreitender Kultur.

In irgendeinem Snotenpunfte der Entwidlung beeinflußt dies Kultur⸗ bemußtfein die Zwede der Politik. Das großartigfte Beiipiel aus dem Altertum ift die Eroberungspolitit Aleranders des Großen, die dem weltgeſchichtlichen griechiſchen Geifte auch eine weltpolitiihe Bedeutung geben wollte. Hehre Zwede eines idealen Kulturbemußtfeins juchte die Weltpolitif des ftaufifchen Kaiſerreiches zu verwirkliden. Wir lieben heute diefen tdealen deutfchen Geift, ohne uns ſtklaviſch an feine Dffenbarungen von damals Halten zu wollen. Und wieder ift für unfer Voll eine Zeit gelommen, noch überfließender an überſchüſſiger geiitiger Kraft, Großes veriprechend, mit ſtärkerer Einficht, wacherem Bewußtſein höchſte Kulturzwede in fein politifches Denken aufnehmend. Denn uns genügt heute feine Politik mehr, die nicht an großen Kulturzweden orientiert ft. Die fi fortwährend ändernden Bedingungen der politiihen SKtonftellation, vereint mit wachlender DBertiefung der Weltanfhauung, des fittlihen Ver⸗ antwortungsgefühls, des künſtleriſchen Genießens ſchufen fortgejegt neue Zweck⸗ ſetzungen des Volksgeiſtes, die umd deren Erreihung jamt den eigens dazu beſchafften Mitteln nun wieder die Bedingungen für neue, höhere Zweckſetzungen abgaben. Allmaͤhlich fehen wir diefe anfänglich ſcheinbar weltabgewandten, rein geiftigen Zmwede auch mit dem politiihen Denken verwachſen. In Kants praktiſcher Philojophie fängt das an. Ganz deutlich ift es bei Fichte zu fehen. Hegel läßt das fittlihe Leben im ftantlihen aufgehen. Gerade die Befreiungs- friege braten die Bedingungen für höhere geiftespolitifhe Bedürfniſſe und Zwedfegungen, deren Erfüllung in den Berfafjungsfämpfen und der Gründung des neuen Reiches abermals neue, unvorhergefehene Zwecke im Bemußtfein der Nation erwachſen ließ. Stehen wir jett wiederum in einem folchen hochbedeut⸗ famen Knotenpunkt der politiihen Entwidlung, jo dürfen wir in der Stärkung der fittlihen Kraft und der ganz neuartigen Böllergruppierung, die für ben neuen deutſchen Geiſt Karakteriftiich ijt, die Bedingungen für Kulturzmede jehen, die, dem demofratiihden Zug der Verfaffungen und der Zeit entiprechend,

Der Swed in der Politik 197

von jelbft auch zu politiiden Zmeden werden. Der Geift des beutichen, wie jedes großen Volles läßt ſich nicht definieren, zumal er ftändig abmwirft und fi) erneuert. Mit ein paar Begriffen tft da wenig getan. Aber etwas Neues ift er, unvergleichbar mit Geweſenem, wie alles, was ber Geiſt ſchafft. Der deutfche Geiſt hat bewußt die beengenden Fefjeln dhimärenhafter anthropologifcher Erflufivität gefprengt. Das tft vielleicht der wichtigfte Gewinn biefes Krieges und eröffnet weiteite Perfpeltiven. Denn wenn ein nationaler Gedanke der Gegenwart für eine geiftige Weltkultur in Frage kommt, die ſich bermaleinft ebenbürtig der belleniichen würde an die Seite ftellen können und dabei zugleich auch eine reale politiſche Weltmacht darftellt (was fi von vornherein gegen- feitig gar nicht ausfchließt), fo ift dies der deutfche Geift.

Durch diefe Erflärung der Motivverfgiebung verliert die fälfchlih als „Dorjehung“ bezeichnete Erſcheinung ihr Geheimnisvolles. Da die Zwede immer reiher und erhabener werden, der geiftige Fortſchritt ftetig zunimmt und bie eben erft erreichten Zwede zu Mitteln wieder höherer Zwecke macht, fo ſcheinen für das unkritiſche Auge die lebten und höchften Zwecke bei der eriten Ziel. fegung des primitinen Grundwillen® von einer höheren Macht und Weisheit bereit3 vorweggenommen und ihr zugrunde gelegt zu fein. Solche Auffafjung will bereits Jahrhunderte vorher das Gras wachſen hören, iſt aber auch ethifch bedenklich, da fie die fittlicde Aktivität diskreditiert. Denn geichichtlich Iekte und höchſte Zmede gibt es für die Politik nicht, weil jede Zweckſetzung ſchon eine höhere im Keime birgt. Wir follen wifjen, daß allein die perfönliche Aktivität fi im gegebenen Augenblide auch ihrer Zwede bemußt werben und fie erfüllen fann.

Erft wenn mir die Cierſchalen ſolch fataliftifhen Glaubens an ein vor- gezeichnetes Verhängnis, wie er auch dem Naturalismus zugrunde liegt, ab» geitreift haben, wenn der anthropologiſtiſche Aberglaube geſchwunden fein wird, fann der Geift als bemußtes Prinzip die Völkerſchickſale geftalten. Die alten natürlih und gefdhichtli gewordenen Formen wirken dann nur wie leider, die ihre Inhaber wechfeln. Das ift ja das Merkwürdige, daß alle diefe vom Egoismus der Perſonen oder Völker gefchaffenen Formen ſchließlich vom Geifte als neuem inhalt erfüllt und damit fozial nutzbar gemacht werden. So bietet die ganz eigennüßig entitandene Hausmacht der Habsburger heute das rettende geiftige Band für Völker, die nicht von dem Moloch des Ditens verfchlungen werden wollen. Der Staat überhaupt, der mit "feinen Gefegen und Ein- richtungen zuerft die Intereſſen bevorredhteter Individuen und Klafien ver- förpert, wird zum Bollsftant. Aus dem Machtſtaat wird ein Rechtsſtaat, aus dem Bolizeiftaat ein Kulturftaat. Schließlih nehmen wir bewußt unfer eigenes Schickſal in die Hand. Nicht Intereſſen der Abftammung noch des Handels, fondern allein der Beſitz einer unerfjehlichen Ydealkultur gibt erft das moraliſche Recht zu politifcher Weltftellung.

Der Imperialismus in englifcher Auffafiung

Don Dr. Elfe Hildebrandt

end 8 Tann fein Zweifel beitehen, daß die Mebrbeit des deutſchen Dr Volles von der Teilnahme Englands am Kriege völlig über-

Di R, raſcht worden ift. In diefer Verwunderung liegt gleichzeitig das

—82 Eingeſtändnis eines Fehlers. Wir wußten nicht ausreichend a Beſcheid über die Denkart unſeres Feindes und überſchauten nicht in genügender Klarheit die Tendenzen ſeiner Geſchichte. Wir beſchäftigten uns nicht eingehend mit den Publikationen der letzten Jahrzehnte, die in England große Verbreitung gefunden haben, und aus denen wir deutlich die Ziele engliſcher Politik und ihre Stellung zu Deutſchland hätten entnehmen können. Das Verſäumte nachzuholen iſt ſelbſtverſtändlich für uns von großer Bebeutung.*)

Als der charakteriftiichite Zug englifher Geſchichte und Verfaſſung galt im allgemeinen die Entwidlung Englands zur „Demokratie und Freiheit“. Bon englifchen Autoren werden wir eines beſſeren belehrt: der Grundgedant in der Gefchichte Englands ift die Tendenz zum Imperium, zu „Öroß-Britannien“ und zu „Größer-Britannien”, Demokratie und Freiheit find eigentlich nur Mittel zum böherjtehenden Ziele. Ä Diefe Gedanken entwidelte zuerft der Profeffor der neueren Geſchichte an

der Univerfität Cambridge, J. R. Seeley. Ungeheures Aufſehen madten des Autors Vorlefungen über „Englands Erpanfion”. Welche Bedeutung man den geäußerten Anfichten in Großbritannien zumies, zeigen die unzähligen Auflagen, die die 1883 in Buchform erfchienenen Vorlefungen erlebten**).

*) Im zweiten Bande feines in ſchwediſcher Sprache erfchienenen Buches „Krieg und Kultur“ ftelt Guſtav F. Steffen für da8 imperialiftiiiche Problem ein reiche® Quellenmaterial zufammen. Der erite Band iſt bereit? in deutſcher Überfegung bei Eugen Diederichs in Sena erichienen. Vergleiche die Grenzboten Nr. 17 d. J.

**) Vergleiche die etwas verfürgte Ausgabe des Werfes bei Velhagen und Klaſing „English Authors‘ 86. Lieferung. Bielefeld und Leipzig. 1903. Geeley bat aud) in einem anderen Werk, „The Growth of British Policy“, (Cambridge 1895) die Geſchichte und Zukunft des britifhen Kolonialreichs, don denfelben Geſichtspunkten aus, beleuchtet. Sein Anterefje für deutſche Literatur und Gejichichte bezeugt er in feinen Werfen „Life and Times of Stein, or Germany and Prussia in the Napoleon Age, Leipzig 1879“ und „Goethe reviewed after sixty Years (1893)‘,

Der Imperialismus in englifher Auffaffung 199

Der Grundgedanke der Seeleyfhen Geſchichtsauffaſſung iſt für das gefamte englifde Denken kennzeichnend: er mill feiner Gefchichtsichreibung eine praktiſche Richtung geben, fie fol eine Vorbereitung fein zum politifchen Handeln. Schon in feiner AntrittSvorlefung in Cambridge ſprach er über die MWechfelbeziehungen zwiſchen Geſchichte und Politik. Die Gefchichte nannte er die Politik der Ver- gangenbeit und die Politit die Gefchichte der Gegenwart. Die Gefhichte muß eine Schule der Staatskunft werden; ohne praftifches Ziel tft fie immer nur ein Spiel, das höchſtens kurzweilige Bücher hervorbringen Tann.

Vielleicht erflärt gerade diefe Tendenz bes Werkes feine ftarke Verbreitung auh in größeren Volkskreiſen. Denn im allgemeinen ift ja der Engländer ftolz auf feine mangelnde theoretifhe Begabung, weil er glaubt, daß diefe mit jein enpraltifchen Talenten unvereinbar ift. „In der Regel können wir” fo führt der Engländer Sydney Low gelegentlid) aus „feinen Bolitifer ver- tragen, der Theoretiker ift, feine Anſchauungen wirklich durchdenft und fie ſyftematiſch ordnet. Er erfcheint uns zu alademifh und intelleftuell. Wir reden wohl mit Achtung von ihm, aber er hat feine Bedeutung in ber poli⸗ tiſchen und realen Wirklichkeit. Man hält nur den profeffionellen Parteipolitifer für fompetent.”

Die fünf Perioden, in die Seeley die neuere Geſchichte Englands fett 1500 einteilt, bejtätigen feine Grundanfhauung über die Entwidlung Groß- britanniens zum Imperialismus. Dus erfte englifche Imperium fchließt mit dem Abfall der nordamerifanifhen Kolonie, aber das zweite fchließt ſich nad Seeley an das erite an. Er ftudiert die Organifation, die Urfachen und die Wurzeln des englifhen Imperialismus, um daraus Schlüffe zu ziehen und feine Erhaltung für die Zukunft zu ermögliden. Er gehört zu den Politikern, die einfehen, daß es viel leichter ift, ein Weltreich aufzubauen als es zufammen- zubalten. Aus diejer Erkenntnis ftammt die Forderung der allgemeinen Wehr- pflicht, für die [don vor dem Weltkrieg außer dem alten Feldmarfhall Lord Mobert3 der Schüler GSeeleys, der Hiftorifer Cramb, mit großer Energie eintrat.

Der engliſche Staat beruht von Anfang an wie Seeley darlegt nicht auf friedlicher Arbeit, fondern auf Eroberungen: der angelſächſiſchen, nor- manifhen und iriihen. Milde gegen die Cingeborenen Tannte er niemals. Schlimmer als andere Nationen befledte fi) die englifche mit den Graufamleiten des Sflavenhandels. Aber Seeley wie feine Schüler machen wegen diefer Tat- fadhen ihrem Baterlande feinen Vorwurf, denn immer wieder betonen fie, daß ein fo gewaltiger Organismus wie ein Weltreih feinen eigenen Entmwidlung3- gejeten folgt. Nach Cramb ift der Entwicklungsgang der Imperien den Wünſchen und Abfichten einzelner unzugänglid, für fie ift daS Wort Napoleons charal- teriftifih: La politique est la fatalite. Auf Ddiefelbe Weife wird von Conan Doyle die Politif Englands im Jahre 1807, das Bombardement Kopenhagens und die Wegnahme der dänifchen Flotte entjchuldigt. Mit andern Worten: der

900 Der Jmperialismus in englifder Auffaffung

Bruch der Neutralität eines Tleinen Staate8 war geredhtfertigt, weil vitale Sntereffen auf dem Spiele ftanden. Das engliſche Imperium iſt beftimmt fo drüdt fi ein anderer Schüler Seeleys, Charles Wentworth Dilfe*), von dem übrigens der fo populäre Ausdrud „Greater Britain“ ftammt, aus das „Oberimperium“ der Welt zu werden, denn der engliſche Imperialismus ift feinem Wefen nad) „Überimperialismus“, und auch der englifche Nationalismus ift ein befonderer Nationalismus ein „Übernationalismus“. Nah Dilte liegt die zukünftige Geſchichte allein in der Macht des englifhen Bollsftanmes, nur noch die Vereinigten Staaten und Rußland läßt er neben England gelten. Cr unterfucht die Bedingungen, unter denen die beiden angelſächſiſchen Reiche das Übergewicht gegen Rukland bewahren können. China wird nad) feiner Anficht jpäter unter den Einfluß Indiens und ber britifhen Kronlolonien kommen. Tür Deutfchland findet ſich fein maßgebender Platz in der zulfünftigen Welt- geſchichte.

Die Entwicklung zum Weltreich bleibt aber den genannten Hiſtorikern zufolge keineswegs ohne Einfluß auf das innerſtaatliche Leben. Es muß, um die Erhaltung des Weltreich zu gemwährleijten, feine Bürger zu tieferem fozialen Bemußtfein erziehen. Es braucht imperialiftiih und demokratiſch denfende und fühlende Staatöglieder. Die Weltmacht beiteht nicht allein in äußerfter Ausdehnung des alten Nationalſtaates, fondern in der Ausbreitung britifchen Geifte8 über die übrige Welt. Alle Menſchen, die dem englifchen Imperium unterworfen find, follen in den Stand gefegt werden, die Menfchheit, ihre Bergangenheit und ihre Zukunft von engliſchem Geſichtspunkt aus zu feben. Die unterworfenen Bölfer follen religiöfe Toleranz und Liebe zur foztalen Hreibeit von dem Mutterlande Iernen. Für Korb Milner, einen ber bervor- ragendften Imperialiſten, hat der Imperialismus die Tiefe und Bedeutung eines religtöfen Glaubens und in höherem Maße eine moraliſche als eine materielle Bedeutung. Seiner Auffaffung nad) liegt das Prinzip des wahren Ymperialismus in der Bewahrung ber Einigleit und bes Zuſammenhaltens innerhalb eines großen Volles, fo daß dieſe politifde Einheit imftande ift, ſich weiter frei zu entwideln, indem fie den Gefeten ihres eigenen Wefens folgt.

Diefer englifche mperialismus war nicht immer ein bewußter. Seeleys Buch bezeichnet von diefem Geſichtspunkt aus betrachtet den Beginn einer neuen Epode. Daß gerade in den achtziger Yahren der Übergang vom unbewußten zum bewußten imperialiftifden Streben notwendig wurde, lag in dem Aufblühen Deutichlands, des Konkurrenten Englands. Daneben machten fih im Innern des englifchen Weltſtaates Zuftände bemerkbar, die eine theoretijche —— imperialiſtiſcher Probleme gebieteriſch forderten.

*) Vergleiche Problems of Greater Britain, London 1890. Auf ähnlichem Stand⸗ punkt fteht James Anthony Yroude in feinem Werke „Oceana or England and her Colonies“ (2ondon 1886).

Der Imperialismus in englifher Auffaffung 201

Daß Deutſchland der Feind Englands ift, ift auch die Anſicht bes Hiſtorilers Cramb, der das Land nicht, wie die meilten Engländer, nur vom Hörenfagen kennt. Cr war Hörer Treitichles. Seine Urteile über Deutihland find deshalb nicht die „beſchränkter englifcher Inſularität“. Die Fahre des Studiums in Deutſchland haben ihm ein merkwürdige Ver⸗ ftändnis für den deutſchen Geift eingepflanzt. In feinen Borlefungen, die 1913 unter dem Titel „Germany and England“ in Buchform erfchienen und ſechs Auflagen erlebten, nennt er Deutihland einen würdigen Gegner Englands- Deutſchland ift der heroifchite Feind, den England in feiner taufendjährigen Geſchichte gehabt hat. Das Deutfhland des zwanzigften Jahrhunderts iſt „größer in feiner Weltanfchauung, in feinen Gedanken, in allem, was menfchliche Werte ausmachen, als das Spanien Karl des Fünften und Philipp des Zweiten, als das Holland de Witts und das Frankreich Ludwig des Vierzehnten“. Es ſcheint, als ob Cramb in feiner Auffaffjung der engliihen Geſchichte von Treitichle beeinflußt fei, als ob auch er glaube, daß die Glanzzeit Englands abgeſchloſſen fei mit dem fiebzehnten Jahrhundert, mit dem Zeitalter Cromwells und Miltons. Ex fehildert die Überzeugung Treitfchles, daß Englands Welt⸗ berrichaft in feinem Verhältnis fteht zu feiner wirklichen inneren Kraft, zu feinem politifchen, fozialen, individuellen und moralifhen Werte. Er wagt e8, feinen Landsleuten zu erzählen, daß Treitichle und Napoleon England wegen feiner eingebildeten, anfpruchsvollen, kleinbürgerlichen Selbftgenügfamleit gehaßt haben, einer Selbitgenügfamleit, die durchaus nicht Vaterlandsgefühl genannt werden und die nicht verglichen werden kann mit dem deutſchen Patriotismus von 1813 und 1870. Aber die Hauptfache bleibt doch: Deutſchland ift Englands Seind, fein fchlimmfter Feind, und zwar nit nur in quantitativem Sinne durch die Millionen feiner Soldaten, fondern auch durch feine „feeliiche Größe”.

Nah dem Verlauf der englifhen Geſchichte wäre alfo die Belämpfung Deutſchlands im gegenwärtigen Augenblid auch ohne theoretifhe Begründung eine innere Notwendigleit. Seit dem fechzehnten Jahrhundert bat England jeden Staat, der als fein ernithafter Konkurrent auftrat, befämpft. So ver- nichtete e8 die Armada Spaniens, fo lämpfte es die aufitrebenden Niederlande nieder. Aus demfelben Motiv mifchte es fich unter der Leitung Marlborougbs in die Kämpfe Ludwig des DVierzehnten. Seit Jahrhunderten dehnten Die Engländer ihre Macht mit fchranfenlofer Rüdfichtslofigleit aus. Aber wir hörten fon, mie imperialiſtiſche englifde Hiftorifer diefen Hauptzug des britischen Smperialismus begründen: eine höhere Ordnung bat England zum Imperium gemacht. Deshalb find alle Verlegungen des Völkerrecht gerechtfertigt und undiskutierbar. Sie find erlaubt aber nicht zu vergeflen nur für einen Staat: Großbritannien. Wehe einer anderen Nation, die ebenfo handeln will wie England; ihr ift von dem Schickſal nicht diefelbe gewaltige Aufgabe zuteil geworden. Was für Britannien ein Gebot innerer Notwendigkeit fein Tann, ift für jeden anderen Staat unmoralifh und verwerflid.

202 Der Imperialismus in englifher Auffaffung

Die Alleinberechtigung des englifchen Imperialismus wird befonders dadurch begründet, daß man die Nichtberechtigung der imperialiftifhen Beitrebungen eines anderen Staates nachweiſt. Es bleibt alfo den engliſchen Imperialiſten die Aufgabe zu zeigen, daß die Ausdehnung des Staates, der im Begriff ift, dem englifchen Imperialismus SKolurrenz zu machen des Deutihen Reiches —, unberechtigt ift: dieſes Deutſchland ift im Gegenſatz zu England ein Kunftproduft, das 1870 mit Blut und Eifen zufammengezwängt wurde. Das neue Deutſche Reich ift etwas weltgefchichtlich Überflüffiges, das am beften wieder aus ber Melt gefhafft wird. Man weit nad, daß, während England mit der Auf richtung feiner Weltmacht überall Demokratie und Freiheit verbreitet bat, Deutfchland mit feiner Waffenmacht diefe Kulturerrungenfchaften in der ganzen Melt zerftört und die nationale Gelbitändigfeit der Nationen bridt. Im Zufammenhange hiermit ftehen die ‘Prinzipien der Deutſchen: „Macht geht vor Recht“ und „Der Stärlere fol herren“. Der deutſche Militarigmus wird als Weltgefahr Hingeftellt, er ift fchlimmer als der Abfolutismus Rußlands, und wie das ruffiiche Volk von diefem, jo muß das deutfche von jenem befreit werden. Man zeigt ferner, wie Lloyd George in einer Rede im September norigen Jahres, daß die Zivilifation der Deutfchen felbftfüchtig und nur auf Materielles gerichtet ift. Deshalb können fie auch nicht Englands Stellung in dem Welt- frieg verftehen. Daß man fih wie Franfreih aus Gelüften der Revande um die Erlangung eines Landgebiets jchlägt, können die Deutfchen begreifen. Aber der Gedanfengang Großbritanniens, feine NReichtümer, feine Macht, daS Leben feiner Kinder, feine gejamte Exiſtenz zu opfern, um eine Heine Nation zu - befhügen, ift einem Volke wie dem deutſchen vollftändig unerllärlid. „Die deutſche Nation will die Menfchen bilden nah dem Mufter eines Diefelmotoren, zuverläffig, folid und Stark, aber ohne Spielraum für die Regungen der Seele.“ „Aber Deutichland,” fo fährt Lloyd George fort, „will nod) mehr, e8 will das Chriftentum zerftören, das ihm nur mehr weichliche Sentimentalität be- deutet.“ |

Daß in Deutichland tatfählih vor dem Kriege aggreffive imperialiftifche Beitrebungen beitanden, darüber find fi) wohl alle engliihen Publiziiten und Hiltorifer einig. Um ihre Ziele zu verwirklichen, braudte man bei uns den Krieg. „Ale Machtmittel des deutſchen Volles, die maritimen, die militärifchen, die finanziellen, politifchen, journaliftiihen und pädagogiihen hat man in Deutichland in den Dienſt der Kriegsvorbereitung geitellt,“ fo argumentiert Lord Noberts, und deshalb ift auch der Krieg England durch die pangermaniftifchen Ratgeber des deutjchen Kaiſers aufgezwungen worden.

Um das deutfche Auspehnungsbedürfnis und damit die moraliide Not- wendigfeit für England, Deutſchland zu befämpfen, darzutun, verglid man vor den Kriege immer wieder dad Wachstum der engliihen und deutfchen Flotte. Man bemüht fi, zu zeigen, daß der Bau der englifhen Dreadnoughts nicht raſch genug vor fi ging, um den Vorſprung gegenüber Deutichland zu wahren.

> Der Imperialismus in englifher Auffaffung 203

Als Begründung diefes Übergewicht diente immer wieder die Notwendigkeit einer unüberwindlichen englifchen Übermacht auf allen Weltmeeren zur Behauptung de3 Imperiums. Für die Briten ift alfo eine ftarfe Flotte ein inneres Bedürfnis. Welche Beweggründe zwangen dagegen Deutichland, feine Kriegsihiffe in jo auf fallender Weife zu vermehren? Für diefes Vorgehen liegt feine ökonomiſche Not- wendigfeit vor, Die deutſche Flotte ift wie das ganze Reich ein Kunftprodult, ein Aus⸗ fiuß des „reinen Militarismus“. Jenen engliſchen Flottenimperialiften fiel es nie» mals ein, daß eine gewiſſe Herrſchaft über die Weltmeere ein integrierender Beftand- teil in jedem modernen Imperium fein muß, befonder8 aber in dem deutfchen, da8 wegen feiner geographiſch⸗ökonomiſchen Verhältniſſe feine Eriftenz auf einem wachſenden transozeanifchen Handel aufbauen muß.

Neben diefen militärifhen Entwidlungen werden in allen englifchen Zeit- Kriften der lebten Jahrzehnte immer wieder die Gedanken eines Treitichke, Niepihe und Bernhardi dazu benugt, um die imperialiftifchen Beftrebungen Deutfchlands nachzuweiſen. Die Anfichten diefer Männer werden zitiert, ihre zufammenbhängenden Schriften zu leſen, ift man aber in England nicht imftande.

Wie fieht nun der deutſche Imperialismus in den Augen eines neutralen Schmeden aus?

Steffen ftellt im zweiten Bande feines Werkes „Krieg und Kultur“ den deutſchen Imperialismus, wie er ihn jieht, dem englifchen gegenüber, indem er ſich mit den genannten englifhen Hiſtorikern auseinanderfegt. Er nennt die deutfchen Beftrebungen im Gegenſatzzu den englifchen und franzöfifchen defenfiv. Gerade das vielgeſchmähte Buch von Bernhardi beweiſt ihm, daß das beutfche Volf und feine leitenden Männer vor dem Kriege nicht die gewaltigen inıperialütijchen Beitrebungen batten, wie man im Auslande fo gerne glauben machen wollte. Denn Bern- bardis Buch ift ja gerade zur Hälfte mit Wehklagen angefült über die allzu friedlide Stimmung des deutichen Bolfes. Immer wieder betont der Verfaffer den Unterfhied zwifchen feiner Denkungsart und der des Volles. Bernhardi felbit it einer friedlihen Löfung der vorhandenen Probleme durhaus nicht abgeneigt. Er zweifelt nur daran, daß Deutſchland vor allem von England Raum gewährt werden wird für fein öfonomifches, nationales und politifches Wachſen. Imperialiftifche Beftrebungen können Deutfchland allein auf geiftigem Gebiete nachgewieſen werden: für die deutiche Arbeit wollte man die Welt gewinnen. Der Imperialiſt Rohrbach, den Steffen zitiert, wollte nicht Weltherrichaft und Weltmacht für das deutſche Volk erringen, fondern nur freie Bahn fhaffen für die Betätigung des deutſchen Geiſtes. Erhebend ift es fo fährt Gieffen fort wie Rohrbach mit wahrbafter Größe den Engländern Recht wider fahren läßt, wenn er fagt, daß es für das britifche Volk hart ift, neben fich ein anderes Voll zur Geltung kommen zu fehen.

Den beutichen Imperialismus militariſtiſch nennen heißt allen Tatſachen widerfpreden. Das bemweifen ſchon die Ausgaben für Heer und Marine. Nach einer von Steffen angeführten vergleichenden ſchwediſchen Statiftik, die leider Rup-

204 Der Imperialismus in engliſcher Auffaſſung

land nicht aufführt, ſteht Großbritannien und Irland pro Kopf der Bevöllerung an rſter Stelle, mit 27,50 Kronen, den zweiten Platz mit 25,15 Kronen nimmt Frank⸗ reich ein dann folgt erft das Deutiche Reich mit 19,22 Kronen. Im Verhältnis zum Geſamtetat fteht Deutfchland mit feinen militärifchen Ausgaben im Vergleich zu anderen Staaten erit an vierter Stelle. Sie betragen in Großbritannien 58 Prozent, in Frankreich 55,2 Prozent, in Schweden 49,9 Prozent, in Sachſen 48,7 Prozent, in Preußen 48,6 Prozent, in Bayern und Württemberg 44 Prozent. Der deutfche Imperialismus ift auch aus diefem Grunde nicht wie der franzöftiche, englifde und ruſſiſche feit 1870 auf Eroberungen gerichtet, nicht militärifch. Denn man überhaupt von einer Agreifivität des deutſchen Imperialismus ſprechen Tann, fo liegt diefer allein auf ökonomiſchem Gebiete.

Treten jetzt während des Krieges auch in Deutichland in breiteren Volks⸗ ſchichten ftärlere imperialiftiide Neigungen hervor, fagt Steffen, fo darf dieſe Erſcheinung nicht als eine Urſache des Weltkrieges, jondern als feine Folge angejehen werden. Hierin bat ber Verfaſſer mit feinem Berftändnis das rechte getroffen: erit durch den Weltkrieg find wir uns unferer inneren Sraft als Boll, als Staat bewußt geworden. Bor allem haben wir aufgehört, das engliide Oberimperium“ als felbftverftändlih binzunehmen. In den erften Jahrzehnten des neuen Reiches waren wir noch zu viel in Anſpruch genommen durch unfere innere Sonfolidierung, wir haben die äußere Politik, deren Hand» habung wir nicht veritanden, vernadjläffigt. Der Weltkrieg aber bat uns zu neuem Leben erwedt: wir haben wieder wie vor 1870 politifche Ziele, die uns über das innerftaatlide Leben binausführen.

Weltkrieg und Dolkszahl

twa 950 Millionen, alſo weit mehr als die Hälfte der gefämten Menſchheit innerhalb und außerhalb Europas ift an dem unge. beuren Ringen des jehigen Krieges beteiligt, wenn auch in fehr verfchiedenem Maße. Er ift in der Tat der Weltkrieg und ohne gleichen in der Weltgefchichte. Innerhalb unjeres Erbteils befinden fh in runden Zahlen 370 Millionen im Striegszuftande; denn unfere Feinde zählen etwa 248 Millionen (Frankreich 39,6, Belgien 7,5, Großbritannien 46,1, Außland 150, Serbien 4,5, Montenegro 0,4), denen Deutfchland mit feinen Verbündeten nur etwa 123 Millionen entgegenftellen Tann CDeutſchland jebt 68, Dfterreih-Ungarn 52, Europäifche Türkei 3 Millionen), fo daß unfere Feinde um das Doppelte an Zahl uns überlegen find. In allen übrigen Weltteilen find ſchätzungsweiſe faft 580 Millionen im Sriegszuftande, nämli etwa 538 Millionen auf feiten unferer Feinde und nur 40 Millionen auf unferer Seite (12 Millionen in deutfchen Kolonien und 28 Millionen in dem türfiichen Reiche einſchließlich Ägypten). Insgefamt zählen unfere Feinde rund 790 Millionen gegen 160 auf unferer Seite. Aber während jene noch nicht ein Dritteil ihrer Bollsmaflen in Europa haben, wohnt von den 160 Millionen, die auf unjerer Seite ftehen, noch nicht ein Vierteil außerhalb unferes Erdteils“). Die Gefamt- mafle unjerer Feinde verhält fih zu der unfrigen mie eins zu fünf. Die außereuropäifchen Befigungen fallen mit ihren riefigen VollSzahlen zwar in viel geringerem Grade ins Gewicht, weil fie für die enticheidenden Punkte wenig verfügbare Truppen befiten und deren Herbeiziehung durch die große Entfernung erſchwert wird; immerhin aber haben Kanada, Indien, Auftralten, Senegambien, Tunis, Algier, Sibirien Hilfsfräfte fenden müffen, und unmöglich it das Eingreifen Japans auf dem europäilchen Kriegsichauplage nicht zu nennen. Jedenfalls haben unfere Gegner zahlenmäßig eine geradezu ungeheure Übermacht, und fäme es auf diefe allein an, fo wären wir verloren. Glüdlicher-

2) Sollten Italien (87 Millionen), Berfien (9 Millionen), China (850 Millionen), die Bereinigten Staaten von Rordamerifa (96 Millionen) in den Krieg eingreifen, jo würde die Bahl der Beiwohner der triegführenden Länder fih auf faft 1450 Millionen, alfo fünf Sechſtel der geſamten Menfchheit erhöhen!

206 Weltkrieg und Dolfszahl

weife fpielen andere Faltoren eine wichtige Rolle in dem ungeheuren Kampfe. Aber immerhin tft die militäriſche Stärke und Leiftungsfähigfeit eines Volles doch weſentlich durch die Vollszahl mit bedingt.

Das volkreiche Rußland verfügt nach Blume (Die Wehrkraft Deutſchlands) über ein Heer von 7668000 ausgebildeten Mannſchaften in Kriegsitärle, wobet die Gefamtheit feiner mwaffenfähigen Mannſchaft nur in ſehr geringem Grade ausgenugt ift, nämlid mit 4,2 Prozent der Bevölkerung. Wäre Rußland in der Lage, die Gefamtmaffe feiner Waffenfähigen militäriſch voll zur Geltung zu bringen, fo wäre feine Macht tatfächlich für uns erdrückend. Es Tönnte, wenn es denſelben Prozentfah der Bevölferung wie Deutſchland mobil zu machen vermödte, 15 Millionen ins Feld fchiden.

Dagegen vermag Frankreich bei feiner feit Jahrzehnten faft ftillftehenden Bevölkerungszahl nur 4399000 ausgebildete Mannſchaften aufzubringen, wobei bereit 11,8 Prozent der gefamten Bevölkerung herangezogen find, aljo bie äußerſte Ausnugung aller halbwegs brauchbaren Kräfte notwendig ift. Jedenfalls iſt Frankreich, nicht Deutichland, dasjenige Land, das den Militarismus weitaus am jtärfiten ausgebildet hat.

England fann wegen feiner ganz anderen militäriſchen Verhältniſſe zum Vergleiche nicht herangezogen werden. Den Mangel eines, nach dem Maßſtabe der anderen Großmächte gemeſſen, ebenbürtigen Heeres, den fein Söldnerſyſtem mit fi) bringt, fucht e8 durch feine Übermadt zur See auszugleichen, wie dur Heranziehung von Kolonialtruppen. Was fein Anwerben von Freiwilligen an Zahl und Tüchtigkeit zu erreichen vermag, läßt fih noch nicht überfehen.

Neben diefen Großmächten ftellen Belgien, Serbien und Montenegro wohl noch 600000 Mann ins Feld, von Japan ganz zu fehmweigen.

Demgegenüber vermag Deutſchland mit 8 Prozent feiner Bevöllerung 5262000 ausgebildete Mannfchaften zu ftellen, neben denen es natürlidy eine weit größere Zahl noch auszubilden vermag, als Frankreich, das ſchon 3,8 Prozent mehr ausgebildet hat. Bei gleicher Ausnugung feines Menſchen⸗ materials wie Frankreich (mit 11,8 Prozent), könnte Deutjchland noch reichlich 2,5 Millionen Soldaten mehr aufbringen. R

Ofterreih- Ungarn nügt feine Kräfte in viel geringerem Maße, nur mit 4,3 Prozent aus, und vermag dadurch) 2243000 ausgebildete Mannfchaften zu jtellen. Bei voller Heranziehung der nicht ausgebildeten, aber waffenfähigen Männer würde fi Ddiefe Zahl ungeheuer fteigern laſſen, vielleiht um vier Millionen.

Die Türkei endlid vermag ein Heer von 24000 Offizieren und 600000 Mann im Kriege zu ſtellen. Ausgebildete Mannſchaften müjjen aber viel mehr vorhanden fein. (Aloys Belge: internationaler Armeealmanad. 1913/14.).

Die jährliden Aushebungsziffern, die fi) (abgefehen von den lebten Steigerungen) für Rußland auf 430000, Frankreich auf 225000, Deutichland auf 270000, Lfterreid”- Ungarn auf 133000 belaufen, gehen infolge der ver-

Weltkrieg und Dolfszahl 207

ſchiedenen Ränge der militärifchen Dienftzeit nicht parallel mit der Zahl der ftehenden Heere, die für Rußland 1250000 (7,8 pro Mille), Frantreid) 530000 (14 pro Mille), Deutſchland 630000 (9,5 pro Mille), Ofterreih-Ungarn 372000 (7,1 pro Mille), Türkei 155000 (5 pro Mille) betragen.

Die numerifhen Stärfeverhältniffe haben ſich gegen früher gewaltig ver- ihoben. Das kommt weniger für Rußland in Betracht, das jährlih um faft zwei Millionen durch Geburtenüberfhuß anwächſt, aber infolge jeiner wirt ſchaftlich-kulturellen Rückſtändigkeit diefe Macht militäriſch nicht auszunutzen vermag, ſondern vor allem für Frankreich und Deutſchland. 1870 hatte Frankreich foft die gleihe Einwohnerzahl wie Deutichland. Heute zählt es nur 39,6 Millionen, gegen 68 feines Gegners. Bon 27,5 Millionen im Sabre 1801 war es bis 1870 auf 38,4 Millionen gemadien, aber die Zahl der Lebend⸗ geborenen nur von 904000 auf über eine Million in den Jahren 1859/67 geftiegen, von da bi8 1870 aber wieder auf 944000 gefallen. Auf 1000 Ein- wohner zählte Frankreich 1806 31,4, dann 1816 und 1819 die Hödhjftzahl von 32,9, aber ſchon 1846/50 nur noch 26,5, 1866/70 25,8, 1871/80 25,4, 1881/90 23,9, 1891/1900 22,1, 1901/10 20,6, 1911 18,7 Lebendgeborene. Dagegen ſank die Sterblichleit von 1816 bis 1910 von 762000 auf 703000 und ftieg 1911 auf 777000=19,6 pro Mille. Außer den Yahren 1854/55, wo Frankreich eine Mebriterblichleit von 69000 und 36000 aufwies, und den Kriegsjahren 1870/71, wo diefe 103000 und 445000 betrug, ift feit 1890 die Sterblichleit fiebenmal größer geweſen, als die Geburtenzahl. Geit 1890 betrug der Geburtenüberfhuß zufammen nur etwa 580000. Faſt ebenjoviel (567000) hat die Bevöllerungszahl Frankreichs durch Einwanderung gewonnen. Wenn 1912 einen Geburtenüberfhuß von 57911 aufwies, fo war dies ein bejonder3 günftiges8 Jahr, wie 1911 ein fehr ungünftiges. Die militärifche Shwähe Frankreichs gegenüber Deutichland, die durch äußerſte Ausnutzung feines Menſchenmaterials ebenfomenig, wie durch den Bau faſt uneinnehmbarer Seitungen auszugleichen ift, folgt alfo aus feiner fett langer Zeit eingemurzelten und immer mehr verbreiteten Beſchränkung der Sinderzahl. Nach Bertillon (La depopulation de la France) bildete die Bevölferung Frankreichs im Jahre 1700 40 Prozent der VBollszahl der Großmädte, 1789 nur no 27 Prozent und 1910 nur noch 7 Prozent, wenn man die außereuropäifchen neuen Groß- mächte der Vereinigten Staaten Nordamerikas und Japans mitrechnet. Schon diefe Zahlen deuten an, wie Frankreichs weltpolitifche Bedeutung geſunken ift.

Und wie wird nun der Weltkrieg auf die Bevölkerungszahl und damit auf die künftigen Machtverhältniſſe einwirken ?

Man kann öfters lejen, die Verluſte an Menfchenleben, die ein Krieg ver- urſacht, feien von feiner nennenswerten Bedeutung für die Bevölkerungszahl. In einem Lande wie Deutfchland, das jährlid etwa °/, Million Be— völlerungszuwachs zähle, feien fie in einem oder einigen Monaten wieder erjegt. Solder Dptimismus wird den Tatſachen doch fehr wenig gerecht, zumal den

208 Weltkrieg und Volkszahl Rieſenzahlen, mit denen in diefem Weltfriege gerechnet werden muß. Der Einfluß des Krieges uon 1870/71 auf die Bevölkerungszahl Deutſchlands und Frankreichs, der fih genau zahlenmäßig nachweiſen läßt, gibt einen Anhalt, um den Einfluß des jebigen Krieges, natürlich unter allem Vorbehalt in” An- betradht der Unftcherheit feiner Dauer und feines Verlaufes abzufchähen. Ganz Deutichland in feinem heutigen Umfange (mit Ausnahme von Helgoland) zählte Ehefhliegungen 9. Geburten einſchl. 9%. Sterbefälle einſchl. 9% Zotgeburten Totgeburten 1865 353807 8,9 1561644 39,2 1154443 29,2 1866 319202 8,0 1569165 39,4 1281469 32,2 1867 363491 9,1 1532849 38,3 1106636 27,6 1868 357916 8,2 1544160 38,4 1173053 29,2 1869 884267 9,5 1594187 39,4 1154303 28,5 1870 813961 7,7 1635646 40,1 1184315 29,0 1871 836745 82 1473492 35,9 1272113 31,0 1872 423900 10,3 1692227 ü 41,1 1260922 30,6 1878 416049 10,0 1715283 41,8 1241459 29,9 1874 400282 9,5 1752976 41,8 1191932 28,4 1875 386 746 9,1 17985691 42,3 1246572 29,3

Während aljo im Striegsjahre 1866 etwa 24000 Eheſchließungen weniger ftattfanden, als im Durchſchnitt nach der Bevölkerungszahl zu erwarten war, betrug der Nüdgang der Geburten im folgenden Jahr über 36000, und aud) 1868 erfolgten noch 25000 weniger al$ 1866. Die Zahl der Sterbefälle war 1866 um 127000 höher als im Borjabre, während 1867 allerdings mit 48000 weniger ald 1865 ein ſehr günjtiges Verhältnis aufwies. Die natürlidde Be⸗ völferungszunahme ſank 1866 von 10,0 auf 7,2 pro Mille, das heißt von 397201 auf 287696, alfo um 109505. Wenn fie 1868 dagegen auf 426213 ftieg, jo kann das nit mit dem Krieg in Verbindung gebracht werden; im Gegenteil war ja die Geburtenzahl noch niedriger, al8 vor dem Kriege.

Biel größer war der Einfluß des Krieges von 1870/71 auf die Entwicklung der Bevölkerungszahl. Die Zahl der Cheichließungen ging 1870 um mehr als 70000 zurüd und bob fih au 1871 nur um noch nidht 23000. Erſt 1872 jchnellte fie um 87000 empor. Die Geburtenzahl fan? 1871 um mehr als 162000, anftatt entipredhend der Bevölferungszunahme um 20 bi8 30000 zu fteigen; und die Zahl der Sterbefälle ftieg 1870 nur um 30000, aber 1871 abermals um 88000. Die Bevölferungszunahme war 1870 infolge der hohen Geburtenzahl noch übernormal, 11,1 pro Mille gegen 10,9 im Borjahre, fant aber 1871 auf 4,9 pro Mille, um 1872 wieder die etwa normale Höhe von 10,5 zu erreichen. 1870 wies 451331, 1871 nur 201379 Geburtenüberfhuß auf. 1871 allein betrug alfo der Ausfall an Bevöllerungszunahme etwa 6 pro Mille = 250000. Das ift der wirkliche Einfluß des Krieges von 1870/71,

Weltkrieg und Dolfszahl 209

und zwar, obwohl der ganze Krieg im Auslande geführt wurde und, wie das Generalftabswer? fagt, Seuchen nicht ausbrachen, während 1866 Cholera und Boden ſtark hauften und fo den Bevöllerungszuwachs um etwa 120000 hemmten. Die Berlufte durch feindliche Waffen (28628) und durch Krankheit ufw. (12258) im deutſchen Heere, welche fi) 1870/71 nur auf 40881 beliefen (außer 12879 Bermißten), ftellen alfo nur etwa 17 Prozent, nur ein Sechsteil ber durch ben Krieg verurfaddten Hemmung bes Bevöllerungsmahstums dar. Noch jett zeigt fh die Minderzabl von Geburten im Jahre 1871 darin, da in Preußen am 1. Januar 1911 vorhanden waren

im Jahre 1869 Geborene 461 724

» nn 189700 „478929

„nr Isrı „406036

1872 516984

Der Jahrgang 1871 weiſt alfo gegenüber den Nachbarjahren noch jeht eine Minderzahl von faft 73000 bzw. 111000 auf.

Einen Teil des Ausfalls erfegt allerdings (menigftens vorübergehend) meift Die Folgezeit, Da nach beendetem Striege infolge reicher Arbeitsgelegenheit und dergleichen die Ehefchließungs- und demgemäß auch die Geburtenziffern über die normale Höhe anzuſchwellen pflegen. . u

Im Kriege von 1870/71 hatten insgefamt 1146355 Mann die franzöfiiche Grenze üiberjchritten, während die Höchftzahl der mobilen Truppen im Yebruar 1871 mit 936915 und der immobilen mit 413872, die höchſte Geſamteffektiv⸗ ftärfe alfo mit 1350787 erreicht wurde. Nach Blättermeldungen bürfte die Geſamtſtärle des deutſchen Heeres jeht ſchon vielleicht die vierfache Höhe erreicht baben und wirb bei langer Ausdehnung des Krieges durch Heranziehung von nit ausgebildeten Mannſchaften vielleicht auf die fünf. oder ſechsfache Höhe fteigen. Wenn nun 1870/71 der Gefamtverluft an Toten 40881 und einfchlieglich der Bermißten, die ihnen wohl glei zu rechnen find, etwa 53500 betrug, das heißt etwa 8 bis 4 Prozent der Gejamtftärle des Heeres, und wenn man ferner unter Berüdfichtigung der längeren Dauer des Krieges und der größeren Erbitterung, mit der gefämpft wird, einerfeitS und der verbefierten fanitären Ein- richtungen anderfeits in diefem Kriege mit dem gleichen Prozentſatze rechnen dürfte, jo würde der.Berluft des Heeres an Toten ſich auf 163 000 beziehungsmeife 214000 bis 245 000 beziehungsmeife 320 000 ſchaͤtzen laſſen. Einigermaßen entfprechend dürfte dam aud der Ausfall in der Geburtenzahl der Jahre 1915 und 1916 tn vier- bis 6facher Höhe zu erwarten fein (je nad) der Dauer des Krieges), nicht ganz fo groß, weil diesmal fehr viel fehr jugendliche Kriegsfreimwillige und auch mehr ältere Leute zur Fahne herangezogen find, auch die Geburtenziffer auf etwa drei Viertel derjenigen zur Zeit des deutfch-franzöftihen Krieges geſunken iſt. Aber anbderfeits ift auch die Säuglingsiterblichkeit gejunfen. Wenn der Weltkrieg entiprechend den riefenhaften Zahlen der Mitlämpfer auch nur dert vierfachen Berluft an Menſchenleben und an Geburtenausfall brädte, fo würde

Grenzboten 11 1915 14

210 Weltkrieg und Dolfszahl

die Verminderung des Bevöllerungswachſtums für Deutſchland auf eine Million,

aljo ein und ein Drittel der natürlichen Bevölferungsvermehrung eines Jahres zu [häßen fein. Vorausſetzung ift dabei, daß auch ferner der Krieg, wie bisher faft ganz auf feindlidem Boden ausgelämpft wird. Es tft aber auch weiter zu beachten, daß der frühe Tod vieler Taufende von jungen Männern bie Heirats- und Geburtenziffer auf Jahrzehnte hinaus ungünftig beeinfluffen muß, nur iſt diefer Einfluß verfchleiert und ſchwer in feiner Höhe abzufjhägen. Bon einem Erſatze ber Kriegsverluſte in einigen Monaten kann aljo gar feine Rede fein.

Die ruffiihen Verluſte an Menfchenleben find zweifellos ungeheuer groß. Schon im Heere mögen fie nach den Blättermeldungen bisher vielleiht eine Million betragen. Zweifellos werden fie aber auch bei der Zivilbenöllerung zumal des unglüdlihen Polens durch Entbehrungen, Seuchen, Hinrichtungen und Unglüdsfälle riefig fein. Wenn man dazu den gewaltigen Geburtenausfall berüdfitigt, fo wird man ſchon jeßt die Hemmung der natürlichen Benölferungs- vermehrung auf mehr als 1'/, bis 2 Millionen fchägen müflen. Bei dem ungeheuren Geburtenüberfuß von 1°/, bis 2 Millionen jährlich wird sBlau) ſolchen Berluft immerhin am erften ertragen können.

Ganz anders Frankreich. Eine Berluftlifte des Krieges von 1870/71 ift für Frankreich nicht veröffentlicht worden. Die Zahl der Gefallenen und Zoten im Heere wird auf 90000 bis 150000 geſchätzt. In Wirflichfeit war der Berlufi an Menſchenleben natürlich viel größer, da der Krieg auf franzöſiſchem Boden geführt wurde, und der Rüdgang an Geburten war ebenfalls beträchtlich. 1866 bis 1870 hatte die Geburtenzahl durchſchnittlich 948292 betragen, ſank aber 1871 auf 826121, alfo um über 122000, das heißt von 25,8 auf 22,9 pro Mille. 1872 ftieg fie dann auf 966000 (26,7 pro Mille). Dagegen ftieg die Sterblichkeit von 874000 auf 1047000 und 1871 auf 1271000, das beißt von 24,8 auf 28,4 und 85,1 pro Mille, fo daß die an fih fon äußerſt geringe natürlide Vermehrung von 1,5 pro Mille nicht nur gänzlich aufhörte, ſondern eine Überfterblichfeit von 2,6 und 12,2 pro Mille eintrat. Anftatt eines dem damaligen Durchſchnitt entſprechenden Zuwachſes von etwa 200000 in den beiden Kriegsjahren anfammen trat Mebriterblichleit von 548000 ein. Frankreichs Berluft an Bevöllerung durch den Krieg betrug aljo (abgejehen von der mehr als 11/, Millionen zählenden Bevölkerung von Elfaß-Lothringen) rund °/, Millionen, das Dreifache vom Berlufte Deutfchlands, faft 2 Prozent feiner Einwohnerzahl! Entſprechend ſank die mittlere Bevölferungszahl von 38440000 im Jahre 1870 auf 36190000 im Jahre 1871 und 36140000 im Sabre 1872. Auch die folgenden Jahre haben von dem Derlufte nichts erſetzt. Allerdings zeigten 1872 und 1874 einen größeren Geburtenüber[huß von 4,8 und 4,7 pro Mille,

aber 1873 nur 2,8, 1875 2,9, 1871 bis 1880 durchſchnittlich nur 1,7 pro Mille.

Wie groß wird nun der Menfchenverluft für Franlreich durch den Welt- Trieg fein? Wenn man bedenkt, daß Frankreich alle Kräfte zufammenrafft und vielleicht die fünf- bis fechsfacdhe Zahl der Soldaten von 1870 ins Feld ftellt,

ou rein ann

Weltkrieg und Dolfszahl 211

daß der Krieg wiederum auf franzöſiſchem Boden geführt wird, daß ein Gebiet von vielleicht 8 Millionen Einwohnern ſeit acht bis neun Monaten von den Deutſchen beſetzt iſt, daß die Maffe der Flüchtlinge unter ungeheuren Ent- behrungen fich heimatlos irgendwo binfriften muß, daß der Krieg mit ungeheurer Erbitterung geführt wird und die Zivilbevölferung vielfach mit verräterifchen Überfälen in den Krieg aktiv eingriff und bemgemäß geftraft werben mußte, fo wird man die Menfchenverlufte Frankreichs in diefem Stiege auch auf das vielfacde des Krieges von 1870/71 ſchätzen müſſen. Yünfmal 548000 würde faft 2,2 Millionen wirklichen Menfchenverluft ergeben, wozu noch der Ausfall an Geburten fäme, fo daß man 21/, Millionen annehmen könnte. Auf weniger als 1!/, Million wird nad dem Vergleiche mit 1870 ihn niemand ſchätzen fönnen. Sol doch nad) Blättermeldungen die Zahl der gefallenen franzöftichen Soldaten bi8 Ende Januar 1915 allein 450000 betragen, was nad dem Gefagten wohl glaubli erſcheint. Das bedeutet aber für Frankreich einen ungeheuren, einen tatfächli unerjeglichen Verluſt von 3°/, bis 6!/, Prozent feiner Volkszahl. Er wäre nicht unerfeglih, wenn Frankreich einen normalen Geburtenüberfhuß hätte. Aber nun rächt ſich die Fünftliche Herabdrückung der Geburtenzahl in fehredlicher Weile. Es zeigt filh, daß der Neumalthuftanismus tatfächlich nichts anderes als der Selbftmord des ganzen Volles war. Denn er ſchwaͤchte nicht nur die Wehrkraft Frankreichs in bedenklichſter Weife, Tondern führt nunmehr aller Vorausſicht nad) zum befchleunigten Ausfterben des Volkes. Denn daß fo tief eingemwurzelte Unfitten durch ſolche Kataſtrophen ausgerottet werden follten, ift ſchwer glaublid. Zu oft ift Frankreich vergeblich auf bie unausbleibliden Folgen feines „Zweilinderfyftems“ bingewiefen worden. Nun ift die Kataftrophe da, von der Frankreich fich nie wieder erholen faın. Um das vorauszufehen, darf man nur an die tatfächliche Bevöllerungsbewegung denfen. 1911 fanden in Frankreich 307788 Ehefchließungen ftatt. Die Zahl der Lebendgeborenen aber betrug nur 742114 = 2,4 auf eine Eheſchließung, im Departement Seine nur 1,73, in den Departements Gers, Garonne, Tarn und Garonne, Gironde, Lot, Lot und Garonne, Yonne ufw. nur 2 oder darunter. Abgeſehen von einigen Departements mit geringer kultureller Entwidlung (Finiftre uſw.) iſt das Zmweilinderfgftem ja durchgeführt, nur in Departements mit ſehr günftigem AltersSaufbau infolge ftarler Zuwanderung verichleiert. Bertillon redet von Departements, in denen auf zwei Wiegen brei Gräber fommen. Daß das feine Übertreibung ift, zeigt das Jahr 1911. In diefem

zählten die Departements Lebendgeborene Sterbefälle ss 2882 4700 GB 222 0202..2802 4451 Garonne . . . .. 6370 9203 Zarn und Garonne . . 2525 3949 " MDome » 2 2 20.20.4272 6168 Lot und Garonne . . 83604 5345

14*

212. | Weltkrieg und Dolfszahl

und 1912 war es nicht viel beſſer, denn es brachte im ganzen 8000 Geburten mehr. Auf 1000 Einwohner berechnet ergaben ſich Geburten in demfelben Jahre in

Puy de Dome . 18,1 Garne . . . 147 Gar... .. 180 Cote # Dr. . . 15,8 Lot und Saronne . 13,6 Rob ..2.2.2.1650 Zarn und Garonne 15,0 ANhone . . . . 15,7 .Zaım. -. . . . 165 Mir . . . . 148 Sere. . . . . 162 Sochpyrenien . . 16,5 Aude. . -. . .. 160 Seine und Marne 16,8 Aube. . . . . 166 Vaucluſe . . 16,8 Bar . 2... 16,6

Mehr Sterbefälle als Geburten zählten 1911 64, 1912 21 Departement. Die betrug in Tauſenden an Lebendgeborenen Sterbefällen Geburtenüberſchuß

1813/71 2 ... 968 822 181 1878/82 . . . . 988 841 92 1888/87 . . . . 928 848 75 1888/92 . . . . 865 858 12 1898/97 . . . . 858 812 46 1898/1902 . . . 844 805 39 1908/07. . . . 807 772 85 1908/10. . . . 779 734 45 191l 2.0.0.7 777 —35 = 192 ..n 750, 651 698 58

Frankreich hatte in den vierzig Jahren von 1878 bis 1912 eine natürliche Bevölkerungsvermehrung von nur etwa 2,3 Millionen, daneben durch Einwanderung einen Gewinn von 1,1 Million. Hatte e8 den Berluft beziehungsweife Ausfall von °/, Million, die der Krieg von 1870/71 ihm brachte, erft im Jahre 1879 durch Geburtenüberfhuß ausgeglichen, fo wird der Erſatz für den ungeheuren Blutverluſt des Weltkrieges vorausfichtlich in abſehbarer Zeit überhaupt nicht wieder zu ſchaffen ſein. Denn die wirkliche Geburtenzahl hat ſeitdem um 200000 jährlich abgenommen und der Geburten⸗ Aberſchuß betrug in den legten 25 Jahren durchſchnittlich nur 32000 bis 33 000. Der Berluft von 2 Millionen würde bei gleichem jährlichen Überfhuß zwar in 60 Fahren erfegt fein; aber bei dem bisher und vorausfidtlih auch in Zukunft (abgefehen von den felbftverjtändliden Schwankungen) beharrlichen Ginfen der Geburtenzahl und dem Mangel von Hunderttaufenden von fort- pflanzungsfähigen Männern ift anzunehmen, daß überhaupt eine Vollsvermehrung nicht ftattfinden, ſondern ftatt deſſen eine chronifche Mebrfterblichkeit fich einftellen wird. Das hängt jelbitveritändlid vom Willen des Volles ab; aber durch ein Jahrhundert bat diefer fih als fteigende Abneigung gegen eine größere

Weltkrieg und Dolfszahl 218

Kinderzahl offenbart. Nur durch Einwanderung wird Frankreich feine Bolls- zahl behaupten fünnen.

Dem entſprechend finft Frankreichs militärifhe und politifche Bedeutung immer mehr. Bertillon veranfhaulicht diefen Vorgang durch einen Vergleich Frankreichs mit Deutihland. ES Hatte Franfreih 1852 bis 1855 eine Geburtenzabl von 9382000 und dementſprechend zwanzig Jahre fpäter eine Rekrutenzahl von 291000; 1909 aber nur 770000 Geburten umd zwanzig Jahre fpäter wird es nur 269500 Rekruten haben. Deutſchland dagegen hatte 1852 bis 1855 1228800 Geburten und von diefen fpäter 345800 Rekruten, 1909 aber 2015000 ®eburten und demnach hat es 594000 Rekruten zu erwarten. Das militärifche Stärkeverhältnis, das anfangs der fiebziger Jahre wie 100 :119 ſich verhielt, wird dann wie 100:215 fih geftalten.

Für die Weiterentwidlung und Weltftelung Deutſchlands wird bie Höhe feiner Geburtenzahl in Verbindung mit der Kinderfterblichfeit von entfeheidender Bedeutung fein. Bei feiner geographiſch gefährdeten Lage muß es numerifch ſtark fein, wenn es fi behaupten will gegen eine Welt von Feinden. Unbeftreitbar hat e8 bisher einen hohen, günftigen Geburtenüberfhuß aufzumetien, fit 1900 13 bis 14 pro Mille jährlich, troß ſtark finfender Geburtenziffer, die zum Beifpiel für die Neichshauptftadbt auf 1,93 Geburten auf jede Ehefchliekung im Jahre 1912 zurüdging. Wenn aber dieſes Sinken, das von 1880 bis 1911 nicht weniger als 10 pro Mille betrug (von 89,1 auf 29,0) weiter anhält, fo wird auch der Geburtenüberſchuß nicht nur relativ fondern abfolut fi) gewaltig mindern. Betrug dieſer doch in fämtlidhen deutichen Städten mit mehr als 15000 Einwohnern 1912 nur nod) 10,5 pro Mille gegen 13,6 pro Mille im Jahre 1901, und bei den Großſtädten weniger als 10, während nad) dem günftigen Altersaufbau der Städte ein höherer Geburtenüberſchuß als auf dem Lande zu erwarten wäre. ebenfalls verdankt Deutichland feine gewaltigen Erfolge im Weltkriege nicht zum wenigiten feiner günftigen Bevölkerungsvermehrung, ohne die feine militärifche Kraft zum Siege im großen Entſcheidungskampfe gewiß nicht ausreichend wäre.

Das Wort „wer die Jugend bat, der hat die Zukunft“, läßt fi auf die Weltftellung und Geltung der Völker anwenden: nur ein Boll, das viel Jugend hat und die Mübfal und Koften ihrer Auferziehung nicht ſcheut, das hat eine Zukunft, das kann fi im Kampfe behaupten.

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Derdeutfchungen

Don Rice von Carlowitz⸗Hartitzſch

Fer erbitterte Kampf ums Dafein, den unfer deutſches Vaterland gegenwärtig durchficht, hat überall die Erlenntnis gewedt, dab es nicht nur um das politifche Deutichland geht, fondern im lebten und tiefften Grunde um beutfches Weſen überhaupt, an dem nad) Wagners herrlidem Wort die Welt genefen fol. Darum bat diefer Krieg auch fo gewaltig umwühlende feeliihde Wirkung, die in ſchlechthin allen VBollsichichten zur Vertiefung und leider oft erft zum Bewußtſein bes Deutfehtums geführt bat. Nicht zulebt in der Sprade, die ja Grund⸗ und Eckpfeiler völkiſchen Weſens iſt. Berufene und unberufene Kräfte find eifrig am Werl, bier die fremden Eindringlinge auszumerzen und mit eigenen Borjchlägen zu erfegen. Wir braudden an unferer grundfäglicden Stellungnahme zur Sprad)- reinigung*) nichts zu ändern, derzufolge wir alle Berdeutfhungen für Begriffe des praftifchen Lebens, alfo eben für vollstümliche Worte von breitefter Geltung freudig begrüßen. Das Bolt braudt fie, das Voll ſoll ſie deshalb verftehen und möglichft auch ſchaffen. Gerade darum ift hier die Laienmitarbeit von unſchätzbarem Werte, die endlich heute in einmütiger Bereitwilligfeit eingefeßt bat und dieſer Sprachbewegung boffentli größere Fruchtbarkeit gemwährleiftet, als ihren mehr oder weniger zünftigen VBorgängerinnen beſchieden war. Daraus ergibt ſich auch die erfte und, man kann fagen, einzige Forderung, die von vornherein an jede Verdeutſchung geftellt werden muß: fie ſoll das Zeug dazu haben, vollstümlich zu werden. Aber weil man das einem Wort eben nicht von vornherein anfehen, fondern nur von hinterher feftitellen kann, ift diefe einzige Forderung zugleich die ſchwerſte. Wenn man aljo nidt die guten Eigenfchaften benennen Tann, die feine Volfstämlichleit herbeiführen, fo Tönnen wir doch vielleicht die jehlechten finden, die fie verhindern. Und damit wäre ſchon etwas gewonnen. Ohne im geringften diefe ſchwarze Lifte er- ſchöpfen zu wollen, mödjten wir beute auf ein folches Hindernis aufmerffam machen, das uns als das hauptfächlichite erf'heint: die Länge der Verdeutſchungen oder vielmehr, da fie bloß der äußere Ausdrud ein erinneren Urſache ift die umftändlide Genauigkeit der Begriffsbeftimmung. Jeder fucht feinen Vorſchlag

2) Bergleihe „Das ftilehte Fremdwort”, Grenzboten 1913 Nr. 2.

Derdentfchungen 215

geradezu dadurch zu empfehlen, daß er eindeutig den vorliegenden engbegrenzten Begriff, womoͤglich gar genau das Fremdmort dafür wiedergibt, deſſen buch⸗ ftäblicden Sinn man nicht felten mit diefem Begriff verwechſelt. Auf dieſe Weiſe gelangt man dann bereit3 für das Grundwort zu einer Wortzufammen- feßung, die in den notwendigen Ableitungen zu jenen Wortwürmern „geftredt“ wird, bei denen man nicht mehr weiß, was Kopf und Beine find. Abgefehen davon läuft aber diefe Genauigfeit der Wortabgrenzung der vollstümlichen Spradbildung überhaupt zumider. Sie arbeitet mit Logik, das Boll mit Phantafie, das heißt fie unterſcheidet begrifflih, wo da8 Boll zum Bilb zufammenfaßt. Das Volk will bei feinen Worten: nicht mit einer Vielheit belehrt, fondern mit einer Einheit fagen wir ruhig: künſtleriſch unter- balten fein. Yür eine vollstümliche Verdeutſchung muß alfo der Begriff zur fünftleriihen Impreſſion, zum Gefamteindrud verdichtet werden, aus dem man das hervorftechendfte Merkmal, die pſychologiſche Dominante diefes Eindrudß, al8 Symbol für die ganze Vorftelung berausgreift, das den Namen bergibt. Gewiß läßt das Zwiedeutigkeiten zu, weil dieſes eine Merkmal fehr wohl aud anderen Begriffen mehr oder weniger deutlih zulommen Tann. Aber gerade über dieſes Mebr-oder-weniger enticheidet allein die Gewohnheit. Wenn fie das berauögeitellte Merkmal „deutlih”, das beikt ſymboliſch deutbar, und zwar fraft piychologiiher Gedankenverbindung zwangsläufig deutbar findet, fo wird dem Deutlichen das Eindeutige unbebenklich geopfert. Die Macht der Gewohnheit ift, wo pſychiſche Faktoren im Spiele find, nicht hoch genug zu veranfchlagen. Wenn fie erft das kurze und kühne Wort in diefe neue Richtung gedrängt bat, fteht es bier viel feiter als ein ängſtlich Torreltes Wortungeheuer, daS von vornherein „ven Tod auf der Zunge bat“, wie ein hübſcher Ausdrud hierzulande lautet. Und die Gewohnheit hängt fich, gewiſſermaßen felbit- tätig, an jede möglide Verkürzung, fchon weil fie ihrerfeitS wieder für neue Zufammenfegungen Raum gibt. So ift zum Beiſpiel aus dem Beloci- ped erit ein Fahrrad oder Zweirad und jetzt einfach ein Rad gemorden. Kein Menſcht fagt: „Borge mir dein Zweirad!” fondern: „dein Rad.“ Und fühlt ih durchaus nicht beirrt, daß es noch unzählige andere Räder gibt, mit denen ihm durchaus nicht gedient iſt. Und wie bequem ift da3 für Zufammen- fegungen: radfahren, Radpartie, Damenrad uſw. Aus demjelben Grunde fehen wir auch den amtlich gejchobenen „Kraftwagen“ fteden bleiben. Wo nicht die Verkürzung „Auto“ beibehalten wird, die nicht nur dem barbariichen latein- griechiſchen Bauftard Automobil entftammt, fondern in ihrer Profruftesform fogar widerdeutſch“) tit, wird einfah Wagen gejagt: „Welchen Wagen fahren Sie?" Ya, man fagt fogar feelenrubig: „Mein Wagen hat vierzig Pferde!” obgleich bier die Verfuhung zum Mißverſtändnis verdoppelt if. Gleichwohl

*) Man überlafie den Zoo, Bneu, Aero ufw. den Kulturvölkern“ Frankreich und

England. Auch für die Buchftabenfpielereien bei Firmen (Hapag ufw.), Waren (Efbe⸗Corſetts ufw.) oder bei Ausftellungen (Bugra, la ufw.) follte bei uns feine Einfuhr fein.

216 Derdeutfchungen

iſt dieſe Verkürzung auf den Gattungsbegriff nur Notbehelf und auf Yälle befhräntt, wo aus dem Zufammenhang des Sabes oder des ganzen Geiprädhs der unterlegte Artbegriff „deutlich“ durchleuchtet. Beſſer ift natürlich ein Wort, das gerade das Befondere des Falles betont und dafür die Gattung als etwas Gelbitverftändliches außer acht Yäht, fowie auch der Landauer nicht mehr nötig bat, fi als Landauer Magen vorzuftellen. Solches beſondere Merkmal des Automobils tft zweifellos die Geſchwindigkeit. Es follte darum „Läufer” beißen. Darin liegt zugleich das Selbittäge, Spielend-Leichte des Fortlommens angedeutet, da „laufen“ gerade von Mafchinen gefagt wird. Dieſes einfache Wort läßt fich Dabei zu Zufammenfeßungen ungezwungen ausbauen, fo daß der Chauffeur, ber dem breiteiligen Sraftwagenführer nicht Pla machen wollte, vielleicht endlich vom „Lauflenfer” bezwungen wird (Lauffahrer oder -führer ift durch die zwei aufeinanderftoßenden „f“ zu hart). Wenn davon mit der Zeit nur noch der Lenler übrig bleibt, um fo beffer. Die Autogarage würde zum „Läuferjchuppen“ (analog Wagenſchuppen, Läuferverfhleiß iſt gefucht, -balle hotelmäßig auf gedonnert). Wir könnten „Läuferrennen” abhalten, „Läuferitraßen” bauen, und mit „Wanderläufern“ (Tourenautos), „Stadtläufern“ (geſchloſſene Wagen), „Laftläufern” oder „Rennläufern” (Sportautos), mit „Benzin- oder Kurzläufern” (elettriihe Autos von ihrer gebrungenen Form) nad Herzensluſt „laufen“. Dean ftoße fi nicht daran, daß Läufer, abgejehen vom Marathonlänfer, ſchon im Schal, auf der Treppe und im Schweineftall zu finden find. Zut es vielleicht den SKreuzern Abbruch, daß fie noch kleine Namensvettern in öfter: reichifchen Geldtaſchen oder neuerdings gar Wettbewerber in der Luft haben?

Ein weiteres Beiſpiel. Da las ich eine lange und furchtbar gewifienbafte Abhandlung Über die Verdeutſchung von Invalid, mit dem ſich zu beichäftigen gerade jebt fo traurige Veranlaffung if. Mit Recht Iehnte der Verfaffer den Vorſchlag „Kriegstrüppel” als roh und Kriegsverſehrter als zu „gelehrt“ und unſchön (vier helle Volale) ab. Es ift ausgefchloffen, dab fi) ſolche Worte durchfeßen. Wenn er dafür „Kriegskranker“ vorjchlägt, fo ift das ſchon eine erhebliche Verbefferung, aber, ich möchte fagen, halbe Arbeit, weil boppelte Arbeit. Der unfelige Genauigleitsteufel bat es nicht gelitten, daß der bloße Zatbeitand ohne die polizeialtenmäßige Angabe feines Wieſo, Warum und Woher bleibt. Statt einer Inappen Marke gibt das Wort eine zwar gebrängte, aber vollftändige Lebensgeſchichte. Diefes Ziel aufs innigfte zu wünjden, an das fi unfere Sprachverbeſſerer um ein belanntes Wort zu variieren —: mit ebenfoviel Furcht als Vaterlandsliebe Hammern, trägt in die Wortbildung ein ganz falfches, fremdes Motiv. Als wenn die Sprade zur Denlerfparnis da wärel Gie verlangt im Gegenteil fchöpferifche Mitarbeit. Wo fle deshalb nicht neuprägt, was ftreng genommen nur noch in onomatopoetiſchen Erfindungen geichieht, wirft fie fih in Umprägung aus, indem fie aus dem Schatz ber vorhandenen Wortftämme, der ſchlechterdings für alle etwas Paflendes hat wie die Kriegsgarnitur auf Kammer, den beitfigenden herausgreift und ihm

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Verdeutſchungen 217

ſelbſtherrlich die neue Bedeutung aufſtempelt, vorausgeſetzt, daß fie jung genug iſt, Sprachwillen zu haben und ihn durchzuſetzen. Sind wir wirklich ſchon ſo greiſenhaft, daß uns die geiſtige Biegſamleit dafür fehlt, den Sprung vom Alten zum Neuen zu wagen, der allerdings bei ſolchen Umprägungen erfordert wird? Muß immer alles in Buchſtaben gerinnen, was in dem flüffigen Begriff gebunden liegt, und darf e8 den armen Hirnchen garnicht zugemutet werben, fi aud da, wo Worte fehlen, etwas benfen zu müflen, das heißt gewohnheitsmäßig den einen Begriff im andern mitſchwingen zu laſſen, ohne daß er eine ſchwarz⸗auf⸗weiße Gedächtnishilfe hat? Auf unferen Striegs- franten zurüdzulommen, fo ift hier entweder der Krieg oder der Kranke vom Übel. Der Krieg als Merkmal ift nicht „deutlich“ genug, da glücklicherweiſe mehr „Srieger“ heil als invalid zurüdtehren. Auch ift das altertümliche Wort, das fozufagen in die poetifhe Borratsfammer geftellt wurde, bereits in wenig glüdliher Weile von den „Kriegervereinen” aufgegriffen worden. Bleibt alfo der Kranke, der entſchieden im Begriff invalid den Hauptton trägt. Kranker felbft iſt als Gattungsbegriff wieder ganz farblos. Aber wir haben dafür ebenſo gemwifjermaßen in poetiſchen Ruheſtand verfett ein anderes Wort auf Kammer: „Der Sieche.“ Hier fehe ich jedoch ſchon wieder die philologifchen Gemüter ihr zartes Gewiffen damit beunruhigen, daß umgelehrt krank urfprünglich nad) dem friegerifhen Sinn unferer Vorfahren mit Selbftverftändlichleit den Wundcharalter einſchloß, wie unfere ſchöne Jägerſprache noch das „kranke“ (an- geſchoſſene) Reh bewahrt hat, während gerade fiech die allgemeine Bezeichnung für alle Krankheiten im Zivilverhältnis war („Siechenhaus“ ift der Vorgänger unferer Krankenhäuſer). Da fpiele ih nun den lebten Trumpf aus: „ber Wunde.” Es enthält bei gutem Willen alles, was man will: die friegerifche Veranlafjung, die verminderte Gefundheit und ein ſtillſchweigendes Hut-ab! Kenn für uns find Wunden Ehrenmale.. Und über dieſen Wertfinn hinweg, der in jedem deutſchen Derzen unwiderftehlih mitllingt, fann man das Wort auch unbedenflih auf ſolche Kriegskranke übertragen, die ohne „verwundet“ zu fein durch den Krieg an der Gefundheit Schaden litten, wie Geiftesfrante, Mheumatiler uſw. Die Ehre, ihren gefunden Leib dem Vaterland geopfert zu haben, gehört ihnen allen. Dabei läßt „Wunder“ in der Stammform mund ihöne und kräftige Zufammenfegungen zu: „Wundgeld“ (Invalidenrente), „Wundendant“, „Sanzwunde”, „Wundenheim” um.

. Bon biefem Grundfaß des einfachſten aber ftärkiten Leitmotivs aus können wir aud) hoffen, ein Wort wie Intereſſe zu erfchüttern, das uns immer wieder als unüberjegbar entgegengehalten wird. Freilich wenn man es überfegen will, lommen wir höchftens auf Teilnahme, teilnehmen, wobei uns bereit8 der Atem für die Form „intereffant” ausgeht. Außerdem hat Teilnahme immer einen dedauerlihen Klang und für mande Fälle zu wenig kühle Berehnung. Wenn ih einem Kaufmann fagen will: ich intereffiere mich für Ihre Artikel und bitte um Satalog, und würde fchreiben: „sh nehme an ihren Waren teil und

218 Derdentfchungen bitte um Verzeichnis,“ fo würde er fich ſchönſtens bedanken. Wir müſſen uns vielmehr noch einmal das Befondere des Falles, der mit Intereſſe bezeichnet wird, lebhaft vergegenwärtigen. Es ift zunächit ein geiftiger Zuftand: id habe Intereſſe, Teine Tätigkeit: ich nehme teil. Und zwar ein Zuftand, in dem unfere Aufmerlfamfeit mit mehr oder weniger ausgeſprochenem Beſitzwillen auf einen Gegenftand gerichtet ift, ohne daß diefer Wille ſchon irgendwie fidh entichieden hätte, alfo ein Zuftand der Erwartung vor der Tat oder mit einem Wort: der latenten Energie. Und dafür haben wir das bilbfräftige Wort‘: „Spannung.“ Wie eine gefpannte Feder eine unſichtbare, unterdrüdte Kraft birgt, die fich jederzeit in Arbeit umſetzen kann, fo hat ein intereffierter Menſch feine geiftige Energie auf einen beftimmten Punkt gefpannt mit mehr ober weniger klarem Bewußtſein volllommener Freiheit, ob und mann er dieſem Druck nachgibt. Und der inneren Blidrichtung als dem zweiten Merkmal des Intereſſes trägt Spannung infofern ungezwungen Rechnung, als wir auf etwas fpannen wie der Schübe den Bogen auf das Ziel. Setzen wir in allen erdenklichen Fällen „Spannung“ für Intereſſe, „ipannend“ für interefiant, „Ipannen auf“ für fich intereffleren, „geipannt an“ für intereffiert an, fo werben wir überrafcht fein, wie vollfommen der Sinn getroffen if. Einige Beilpiele: „Ihre Arbeit babe ich mit lebhafter Spannung gelefen“ oder „hat mic) lebhaft geipannt.” „Ich bitte um Mufter Ihrer Neubeit, auf die ich ſpanne.“ „Ste fpannt auf ihn.“ „Ein fpannender Menſch.“ „Er bat für nichts Spannung.” „Gr iſt an diefes Unternehmen mit 10000 Mark gefpannt.” Wo es nicht paßt, wie zum Beifpiel „Ipannende Felsbilbung,“ werden wir bei näberem Zuſehen finden, daß auch intereffant fehief angewendet war. Wir belfen uns gerade dann leicht anders: reizvolle, fühne, auffallende, merkwürdige, jeltene, bedeutſame Telsbildung.

Menn wir unfere drei Beifpiele „Läufer“, „Wunder“ und „Spannung“, fo bunt zufammengemwürfelt fie find, vergleichen, jo haben fie das Gemeinfame, daß fie alle nicht nur denkbar einfach find, fondern eben troß dieſer jtrengen Einfachheit einen ganzen und reich gefalteten Sonderbegriff deden dadurch, dab ihre Bedeutung auf ein finnli anfchauliches Element zurüdgeht. Auch für Abftrafta wie Intereſſe ift, wie man flieht, diefer Rückgang vergleichsweiſe immer möglid. Und das ein foldhes einfaches Bild durch Gewohnheit mit einem ganzen BorjtellungsfreiS von mitzudenlenden Begriffen verfchwiitert werben Tann, ift eine pfychologiihe Erfahrung, auf die der Spradbilbner mit Sicherheit rechnen Tann und rechnen muß. m diefer Zeit der fieberhaften Worterfindung jcheint es notwendig, diefe pfiychologifhe Vorausſetzung und durchgängig piychologifhe Bedingtheit alles Spradlichen in Erinnerung zu bringen. Und wenn unfere Beifpiele zur Veranſchaulichung dieſes Grund- gedanlens beigetragen haben, ift ihr Zwed erfült. Als Vorſchläge wollen fie gern verihminden, wenn befjere gefunden find.

WMaßgebliches und Unmaßgebliches

Tagesfragen

Grete deutfche Blätter. Jahrgang 15 in Fortſetzung des „neuen Jahrhundert“. Verlag der Krausgeſellſchaft, Münden 27, Möhl⸗ firaße 44. Bezugspreis vierteljäbrlih 2 M., Einzelbeft 75 Br.

Bielfah ſchon iſt die Hoffnung aus—⸗ geiprochen worden, daß der Burgfrieden in die Friedenszeit fortwirten und die Stimmung

der Barteien, Stände, Gefellihaftsfhichten

gegen einander dauernd befjern werde. Ganz befonder® darf man da8 von den SKtonfeffionen erwarten. Die Haltung der Katholilen und des Papſtes machen e3 den Broteitanten unmöglid, den Katholizismus aud in Zukunft noh als eine Gefahr für das Deutfche Reich anzufehen. Ahre Schuldigfeit baben die preußiichen, die deutſchen Katho- Iifen aud 1866 und 1870 ſelbſtverſtändlich getan, aber, aus befannten Gründen, mit geteilten Herzen. Diesmal find fie mit ganzem Herzen dabei; einerjeit?, weil fie, ebenfo wie die Sozialdemofraten, einjehen, daß es um unfer aller Eriftenz geht, ander» feitö, weil neben dem proteftantiihen England das durch Katholitenverfolgungen berüdhtigte- Rußland und die atbeiftifche Tirchenfeindliche Regierung Frankreichs unjere Feinde find. Die Gefinnung der Katholifen kommt deutlich in ihrer Prefje zum Ausdrud; nit bloß in der deutſchen: in Italien ift nur die katholiſche Brefie (wie intereffant, daß in dem ganz Tatholiiden Zande die wirklichen Katholilen eine ſchwache Minderheit ausmachen) ent- ſchieden deutfchfreundlid. Und in Nr. 17 von Kauſens Rundſchau, von der mir zufällig ein paar Nummern zugeben, wird über einen berrlihen deutfchfreundlichen Bortrag berichtet, den Georg Baumberger, Medalteur der Tatholiihen Neuen Züriher Nachrichten in

Konſtanz gehalten babe. Rah dem alten Grundfage Catholica non leguntur werde in der deutſchen Prefle, die über Spitteler lärme, von diefem Vortrage wenig gefprochen, und werde Baumberger3 ſehr gut redigiertes Blatt in Deutihland nirgends gelefen, während man in allen Zeitungskiosls Süddeutſchlands die Neue Züricher Zeitung finde, die alle Zügen unferer Feinde ohne Redaktions- bemerfung abdrude.

Aber auch an den Katholiken kann bie Erfahrung nicht ſpurlos vorübergehen, daß die fittliche Mberlegenheit Deutſchlands über die Fatholiihen Franzoſen und Belgier ‚zu einem guten Zeile der Gefundheit und Kern⸗ baftigfeit der proteftantiihen nordbeutfchen Stämme und des Hohenzollernhaufes zu danken, daß aljo, was übrigen® die Kölner Richtung ſchon feit langem anerkennt, nicht die Konfeflion fondern das allgemein Ehrift- liche das Wefentlihe if. _ Das Vorurteil, als ob katholiſche Orthodoxie die Bedingung hriftlicher Lebensführung fei, wird gründlich geritört, die deutichen Katholiken werden fich, ohne auf die ihnen and Herz gewachſene Kichenform zu verzichten, ihren proteftantifchen Mitbürgern ftärler als bisher feelenverwandt fühlen und die evangeliihe Konfeffion nicht mehr als eine Härefie anſehen, fondern als eine beredtigte Form des Chriſtentums würdigen.

Unter dieſen Umijtänden haben jene Katholiken, die für eine freiere Auffaffung des Chriſtentums lämpfen, mehr Ausſicht auf Erfolg ald bisher, und ihre Beftrebungen zu fördern, liegt offenbar im vaterländifchen Anterefie. In der oben genannten Zeitſchrift haben fie fih ein Organ geichaffen, das die Freunde der Grenzboten um fo lieber unter. ftügen werden, da ihnen der Seraudgeber, Dr. Philipp Funk, duch die Beiprechung

220

feines geifte und gemütvollen Buche „Bon der Kirche des GBeiftes" im 8. Bande 1914 der Srenzboten Seite 20 als ein wirklicher Geiftipender befannt if. Die Annäherung der Konfeffionen wird er mit feiner Zeitfchrift fiherlih fördern. Bei den Tatholifchen Kirhenbehörden Bat er freilih auf Billigung oder auch nur Duldung feiner Tätigfeit vor⸗ läufig nit zu rechnen. So erfreulich bie politiihe Haltung Benedikis des Yünfzehnten ift, im Innerkirchlichen ſcheint fih unter ihm nichts ändern zu Wollen: wie Tatbolifche Blätter melden, ift Funks wahrhaft dhrift- liche, wahrhaft erbaulihe® Buch auf den nder gejett worden, was übrigens infofern von Vorteil ift, als es ihm in weiten Streifen al® Empfehlung dient. Die liberalen Katholiten werden ſich durch diefe Unfreund⸗ lichleit fo wenig abjchreden laſſen wie durch alle früheren Verdammungen; wiſſen fie do: die Regierung eines geiftlicden Welt⸗ reichs, das fo feit gefügt und von fo alten und mädjtigen Traditionen gefefjelt ift wie die Tatholifhe Kirche, Tann ihren Kurs nicht im Handumdrehen ändern. Dr. Earl Jentſch

Kleine Hauslomödien mit Mufil. An

Heft 9 der Grenzboten d. %. hat Dr. Eric Fiſcher unfern Leſern von kleinen Haus fomödien erzählt, die er gejchaffen hat, indem er bergeflene Klänge unferer beiten Meifter and Licht 309g, um fie zu Singipielen zu- fammenzufügen. Inzwiſchen bat er vier folde Tleine Hauskomödien zur Aufführung gebracht: „Der Wäſchetag“ mit Mufif von Albert Lorging, „Da Teebrett“ mit Mufif bon Joſeph Haydn, „Das alte Lied“ mit Mufit von Wolfgang Amadeus Mozart, und „Die Überrafhung” mit Muſik von Johann

Maßgebliches und Unmaßgeblidhes

Sebaftian Bad. Damit werden uns Fiſchers Beftrebungen erft ganz lebendig. Ein eigen- artiger Zauber umfängt uns, wenn wohlver⸗ traute Stimmen in neuer Weife zu uns fpreden, wenn wir zu Melodien Bade fröhlich tanzen fehen oder wenn Vater Haydns Geift berufen wird, um über dem Zwift eines jungen Ehepaars zu ſchweben. Wenn Lorging und Mozart zu barmlofer Froͤhlichkeit die Klänge fügen, fo will un® dies ſchon eher in den Sinn, aber auch bier gibt es über raſchungen angenehmfter Art: ja, Mozarts „Altes Lied” fchlägt und wohl am ftärfften in feinen Bann.

Es iſt nit Brauch in den Grengboten über da, was der Tag an mufilalifden Genüflen bringt, zu berichten. Wenn heute an diefer Stelle auf die Darbietungen Fiſchers hingewieſen wird, fo geſchieht es, weil es fih um ein Unternehmen handelt, da8 neue Bahnen weift und einen gewiß nicht unweſentlichen Teil unfrer Vollserziehung in die Hand nimmt die Pflege eines geläuterten muſikaliſchen Geſchmacks. Wer die Aufführungen beſucht, die in jeder Be⸗ ziehung von künſtleriſchem Geiſt getragen werden, wird neben äſthetiſcher Freude reiche Anregung für gute Hausmuſik ernten. Uns aber ziemt es, unſerem verehrten Mitarbeiter, Dr. Erich Fiſcher, ein glückliches Vorwärts⸗ ſchreiten auf einem Wege zu wünſchen, der uns immer neue, herrliche Ausblicke zu ver⸗ heißen ſcheint.

Jeder, der Luſt und Begabung zum Singen und Spielen beſitzt, wird bei den zunächſt

‚geplanten Aufführungen in Kriegslazaretten

zur Mitwirkung aufgefordert. Schriftliche Auskunft erteilt Dr. Erich Fiſcher, en Wilmersdorf, Mokftraße 51.

Be N 2 Br

Kriegstagebuch 221

Uriegstagebudh

1. Mai 1915. Der engliihe Xorpedobootszerjiörer „NRecruit“ bei Galloper Feuerſchiff durch ein deutfches Unterjeeboot vernichtet, beim Roord- Binder Feuerſchiff Gefecht zwiſchen zwei unferer Borpoftenboote und einer Divifion engliſcher Berftörer, wobei unfere Boote verfentt wurben.

2. Mai 1915. Das englifhe Kanonenboot „Eolumbia” von einem deutfhen linterfeeboot beim Noordhinder⸗Leuchtſchiff vernichtet.

2. Mat 1915. Bei der Verfolgung der auf Riga flüchtenden NMufien weitere 1700 Mann gefangen, vier Geſchũtze, vier Maſchinengewehre erbeutet. Südweitlih von Kalwarja ruffiihe Angriffe adgefchlagen, ebenfo nordöftlich bon Stierniewice, 480 Mann gefangen.

2. Mai 1915. Die ganze ruſſiſche Front in Weftgalizien eingedrüdt und an zahlreihen Stellen durdjftoßen. Die Trophäen des Sieges laflen fih noch nicht annähernd überfehen.

2. Mai 1915. Der franzöfifhe Banzerfreuzer „Henry IV“ und der engliihe Panzer „Vengeance“ vor den Darbdanellen von türlifhen Branaten ftart beſchädigt, ein feindliche® Unterfeeboot vernichte. Für die ann erfolgreihes Gefecht am Suegzlanal.

8. Mai 1915. In Flandern die Pläge Zevenkote, Zonnebele, Wefthoel, der PBolygoneveldwald, Nonne Bosſchen genommen.

8. Mai 1915. Südlich Witau bisher 4000 Ruſſen gefangen. Abgeſchlagene ruffifhe Angriffe füdweftlih von Kalwarja, ſüdöſtlich Auguſtow, nordöftlid Lomza 600 Gefangene gemacht, zwei Majchinengewehre erbeutet.

8. Mai 1915. Die Beute des erſten Tages in Weſtgalizien beläuft fih auf 21500 Gefangene, 16 Geſchütze, unüberfehbares Kriegsgerät jeder Art.

8. Mai 1915. Gefeht in der NRordfee zivilen einem deutfchen Marineluftihiff und englifchen Unterfeebooten, wovon eins zum Sinken gebracht wurde.

4. Mai 1915. Weitere Erfolge öftlih Ypern, die Fermen Vanheule, Effterneft, Herenthager Schloßpar! und Het Pappotje genommen. Im Briefterwald, nordiweitlihd von Pont⸗àa⸗Mouſſon einen ftarfen frangöfiichen Angriff abgeihlagen, im Walde von Ally im Angriff 750 Franzoſen gefangen.

4. Mai 1915. Ruſſiſche Angriffe bei Moffienie, bei Kalwarja, Suwalli und öſtlich Auguftow abgewiefen, 500 Gefangene gemadit.

4. Mai 1915. In Weftgalizien die dritte ruffiihe Stellung an der ganzen Front durchbrochen, der Feind auf die Wisloka zurüdgeworfen.

6. Mai 1915. Bei Ypern einige BHundert Gefangene und 15 Maſchinengewehre erbeutet. Bei Combres 150 Franzofen gefangen, vier Mafchhinengewehre und einen Minenwerfer erbeutet. Am Aillywalde den Feind aus feiner Stellung geworfen, mehr als 2000 Franzoſen, darunter 21 Offiziere gefangen, zwei Gejhüge, mehrere Maſchinengewehre und Mineniverfer erobert. Abgefchlagene franzöfiihe Angriffe nördlich Flirey und bei Eroir de Carmes, fowie in den Bogejen nördlid Steinabrüd.

5. Mai 1915. Kämpfe ſüdweſtlich Mitau, ſüdlich Szadow und öftlih Roſſienie, abgefhlagene ruffiihe Angriffe bei Kalwarja und an der Pilica. Grodno mit Bomben belegt.

5. Mai 1915. An den Dardanellen ein englifches Bataillon ver⸗ nitet, die Türken erbeuten viele Gewehre und mehrere Majchinengewehre.

222

Kriegstagebud

5. Mai 1915. In Weftgaligien der Feind über die Wisloka ge worfen, Dufla von uns bejegt, bisher über 50000 Gefangene gemadit.

6. Mai 1915. Die Kämpfe füdlih von Szadow und öſtlich von Noffienie endeten mit einer großen Niederlage der Ruſſen, die 1500 Ge⸗ fangene verlieren.

6. Mai 1915. In Weftgaligien wird der Feind immer weiter nad) Often gedrängt, Tarnow von den Verbündeten bejegt, auch bon der SKarpathenfront ziehen ſich die Ruſſen ſchnell zurüd. In den Oſtkarpathen heftige ruſſiſche Angriffe abgewieſen. |

7. Mai 1915. Der mit Munition beladene englifhe Riefendampfer „Lufitania” don einem deutfchen Unterfeeboot an der irifhen Küfte bei Kinfale torpediert und verfentt, 1400 Berjonen dabei ums Leben gelommen.

T. Mai 1915. Japan ftelt an Ehina zur Annahme feiner weit- gehenden Yorderungen ein achtundvierzigſtündiges Ultimatum.

7. Mai 1915. Die italieniihde Kammer bis zum 20. Mai vertagt.

7. Mai 1915. Bor Zeebrügge bringen unfere Küftenbatterien den englifhen Zerftörer „Maori” zum Sinten. Die Befagung ſowie Die Boots⸗ befagung des zur Hilfe geeilten „Erufader” werden gerettet fieben Dffiziere, 88 Mann und gefangen genommen.

7. Mai 1915. Libau don unferen Truppen befegt, 1600 Gefangene gemadt, zwölf Geſchütze, vier Maſchinengewehre erbeutet.

7. Mai 1915. In Weſtgalizien überfchreitet die Madenfenarmee den Wislok, die Zahl der Gefangenen erhöhte fi auf 70000, die Zahl der erbeuteten Geſchütze auf 88, darunter neun ſchwere. In Südoftgalizien auf den Höben des Lomnicatales ſtarke ruſſiſche Angriffe abgewiejen.

8. Mai 1915. Bei Ypern die Engländer aus den ſtark befeftigten Stellungen zwiſchen den Straßen Yortuin--Wieltjie und Gheluvelt— Ypern geworfen, 800 Mann gefangen. Abgeſchlagene franzöfifche Angriffe nord» öftlih der Lorettohöhe und weftlich Perthes.

8. Mai 1915. Rordöfili von Kowno die Bahnlinie Wilna —Szawle gründlich zerftört, ein ruſſiſches Bataillon vernichtet, ruſſiſche Angriffe an der Pilica abgewiefen.

8. Mai 1915. In Wefigaligien überfchreiten die Verbündeten die Linie Uzſoker⸗Paß Komancza Krosno Debica— Szezucin. In Oftgalizien erobern die Oſterreicher den ſtarkbefeſtigten Brüdenlopf Zaleszezyli und nehmen 8500 Ruſſen gefangen.

8. Mai 1915. Kaifer Wilhelm trifft auf dem Galiziſchen Kriegs⸗ fhauplag ein und wohnt einem Gefecht der 1. Sarde-Dipifion bei.

9. Mai 1915. China nimmt Japans legte Vorſchläge an.

9. Mai 1915. In den Dünen bei NRieuport mehrere feindliche Gräben und Mafchinengewehre erobert. Bei Verlorenhoel 162 Engländer gefangen. Südweltlih Lille großer franzöſiſch⸗engliſcher Angriff, der bis auf einen Xeilerfolg der Feinde bei Carency überall abgewielen wird, eiwa 800 Gefangene gemadit. Southend an der Themjemündung durd Luftſchiff bombardiert.

9. Mai 1915. Bei den Berfolgungslämpfen in WVeftgalizien machte die Heeredgruppe Madenfen feit dem 2. Mai allein über 80000 Gefangene.

10. Mai 1915. In Weftgalizien die neuen ruffiihen Linien bei Besko und zwiſchen Brzozow und Lutoza durchbrochen. Die Auflen räumen die NRidafront. In Südoſtgalizien ſtarke ruffifhe Angriffe ab» geſchlagen.

Kriegstagebud;

10. Mai 1914. Oſtlich Ypern fünf Mafchinengeivehre erbeutet. Südweltlih Lille franzöfiihe Angriffe abgeſchlagen. Nordweſtlich Berry⸗ aus Bac feindlihe, aus zwei hintereinanderliegenden Linien beftehende Stellung im Sturm genommen, zwei Minenwerfer mit viel Munition er« beutet. Feindliche Angriffe nördlid Ylirey und im Priefterwald fcheiterten.

10. Mai 1915. Unſere Unterfeeboote verfentten in acht Tagen (dom 28. April bis 5. Mai) 32 feindlihe Schiffe.

11. Mai 1915. Oſtlich Ypern eine wichtige Höhe genommen. Südweftlih Lille ale franzöfiiden Angriffe abgewiefen, ebenfo ein folder auf den Hartmannsweilerkopf.

11. Mat 1915. An der Bzura ein ruffilhes Bataillon vernichtet.

11. Mat 1915. In Weitgaligien den San zwiſchen Sanok und Dynow überſchritten. Fortdauernde Steigerung der Kriegsbeute; ein Bataillon des 4. Garde⸗Regiments 3. F. nahm allein 4500 Ruſſen gefangen und erbeutete vier Gefhüge und anderes Material.

11. Mai 1915. Giegreihed Gefecht des „Sultan Jawus Selim” gegen die ruſſiſche Schwargmeerflotte. die fih auf Sebaftopol zurüdzieht.

12. Mai 1915. Starke franzöfifche Angriffe zwiſchen Ablain Neuville abgeſchlagen; Carench und der Weſtteil von Ablain von und geräumt. Heftige Kämpfe bei Erore des Carmes, die zu unjeren Gunſten endeten.

12. Mai 1915. In Veftgalizien die Linie San⸗Vancut Kolbuczowa erreicht. Nördlih der Weichſel Kielce befegt. In den Karpathen nahmen die Verbündeten die Höhen öftlih des Stryj, wobei 8660 Ruſſen gefangen wurden und ſechs Maſchinengewehre erbeutet. Die Siegesbeute aus der Schlacht bei Gorlice und Tarnow beträgt bisher annähernd 103 600 Ge⸗ fangene, 69 Gefhüte und 255 Mafchinengewehre, außerdem wurden in den Karpathen und nördlid der Weichfel weit Über 40000 Ruſſen gefangen.

12. Mai 1915. Daß engliihe Linienſchiff Goliath/ von den Türken vor den Dardanellen vernichtet.

13. Mai 1915. Das italieniihe Kabinett unter Salandra tritt zurüd.

18. Mai 1915. Starte engliihe Angriffe vor Ypern abgeſchlagen, ebenfo franzöfifhe Angriffe füdweltlich Lille, nordiweitlih Berry-au-Bac und im Priefterwald.

18. Mai 1915. Weſtlich Prafanyfa Heftige ruffifhe Angriffe ab» geihlagen, 120 Gefangene gemadt.

18. Mai 1915. Wüſte Ausfchreitungen des engliihen Pöbels gegen Deuftſche in Liverpool, London, in Südafrika, in Auftralien. Ale männlichen Deutſchen werden interniert.

18. Mai 1915. Windhuk von den Unionstruppen ohne Kampf befegt.

14. Mat 1915. Bei Ypern erhöht fi die Zahl der Gefangenen feit 22. April auf 110 Offiziere, 65450 Mann. Einen Angriff nördlich der Korettohöhe abgewiefen. Südlih von Ailly einige feindliche Gräben ge nommen, ebenfo im Priejterwalde, über 200 Gefangene gemadt.

14. Mat 1915. Der Vormarſch ſtarker ruffiiher Kräfte bei Szawle ft zum Stehen gebradt, nad einem vorübergehenden Tleinen Erfolg des Feindes, der uns drei Geſchütze Toftete. Bei Kalwarja und Auguſtow fowie an der unteren Dubiffa feindliche Angriffe abgeſchlagen.

14. Mai 1915. In Weltgalizien der Brüdentopf von Jaroslau im Sturm genommen, Rudnil, Lezajat, Dobromil, Stary Sambor und Boryslaw von den Verbündeten befegt. Nördlih Kolomea ruffiide Sturmangriffe aurüdgeihlagen.

228

224 Kriegstagebudh

.15. Mai 1915. Angriffe ſchwarzer Truppen noͤrdlich Ypern ab» geihlagen, ebenfo englifhe Angriffe. ſüdweſtlich von Lille und franzöftiche an der Xorettoböbe, bei Souchez und bei Neuville. Weſtlich der Argonnen einen ftarten franzöſiſchen Stügpunft erobert.

15. Mai 1915. Bei Szawle ruſſiſcher Angriff abgewieſen, 1500 Gefangene gemadt. An der Dubiſſa vor ſtarken feindlichen Kräften ausgewichen, zwei Geſchütze dabei verloren. Bei Auguftow und am Omulew 245 Gefangene gemadt.

15. Mai 1915. In den Waldkarpathen eine ftarfe ruſſiſche Nachhut zeriprengt, fieben Geſchũtze, elf Mafchinengewehre erobert, 1000 Gefangene gemacht.

15. Mai 1916. Der König Viktor Emanuel nimmt das Rücktritts⸗ geſuch des Kabinettd Salandra nit an.

Ulen Manuflripten ift Porto hinzuzufügen, ba anberufalls bei Ablehnung eine Räüdfenbung nicht verbürgt werben kann.

Neqhdruck Tämtliider Uuffäge nur mit ansbrädiider Erlaubnis des Derlags geſtattet. Besantweriliäh: ber Herausgeber Georg Eleinow in Berlin. Licjterfelde We. Wanuikriptiendungen und Briete werben erbeten unter ber Adrefle:

Un deu Herausgeber ber Greuzboten in Berlin» Bikterfelde We, Sternſtraße 56, Gerufprodger bes Herausgebers: Amt Lichterfelde 408, bes Verlags und der Ehrift!eitung: Amt Lüge EEL0. Berlag: Verlag der Grenzboten G. m. 5. 6. in Berlin SW 11, TXempeibofer Ufer 85a.

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Deutfchlands Anteil am Suezfanal Don Dr. Walther Janell

„Maxjimi semper in rebus humanis momenti Aegyptus fuit.“

Leibniz rs FA —— eit Kriegsausbruch ſcheinen die „Intellektuellen“ des Dreiverbandes VI / vor Wut faft alle den Kopf verloren zu haben, wie ihre Urteile | —* über die hervorragendſten Deutſchen glauben laſſen: Schillers VO 2 Afthetit erfcheint ihnen kindiſch, Beethoven verdient Mitleid, und Goethe ift ihnen „ein mittelmäßiger Beamter von mäßiger Be- gabung“. Dabei hätten wenigftens die Engländer allen Grund, Goethe dankbar zu fein und feine vorausſchauende Weisheit aufs höchſte zu preifen. Sit er doch der erſte Deutjche gewefen, der England im Befig eines Suezlanals zu jeden gewünſcht hat, nachdem der große Leibniz bereit$ 1671 diefe Stellung den Franzofen zugedacht hatte. Am 21. Februar 1827 äußerte Goethe zu Edermann: „Dieſes (daS heißt einen Kanal zwiſchen dem Atlantifchen und dem Stillen Ozean) möchte ich erleben; aber ich werde e8 nicht. Zweitens möchte ich erleben, eine Verbindung der Donau mit dem Rhein bergeftellt zu jehen. Aber dieſes Unternehmen ift gleichfalls fo riefenhaft, daß ich an der Ausführung zweifle, zumal in Erwägung unferer deutſchen Mittel. Und endlich drittens mödte ich die Engländer im Beſitz eines Kanal von Suez jehen. Diefe drei großen Dinge möchte ich erleben, und es wäre wohl der Mühe wert, ihnen zuliebe noch einige fünfzig Jahre auszuhalten.“ Goethes Wunfch ift in Erfüllung gegangen: genau neunumdvierzig Jahre nad) jener Äußerung, am 21. Februar 1876, begründete der engliihe Minifter Disraeli im Unter- hauſe, warum er den Anlauf eines gewaltigen Altienpoftens der Suezkanal⸗

gejellichaft hatte durchführen lafjen*). | *) Vergleiche Hier und fonft den Auffag „Das Eindringen Englands in Agypten“ (Grenz boten 1915) und R. Hennig „Der Kampf um den Suezlanal” (Der deutſche Krieg, Heft 35), Grenzboten Il 1915 15

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226 Deutfchlands Anteil am Suezkanal

Bom bamaligen deutſchen Standpunkt war Goethes Wunſch eigentlich nicht unberedtigt; denn wer hätte in Deutſchland damals an die Möglichkeit denken dürfen, deutſche Seemacht und Seegeltung verwirklicht zu jehen! Daß wir heute, ein Weltreih und ein. Welthandelsvoll geworden, die Engländer gern am Suez fehen, dürfte niemand behaupten, daß wir oder vielmehr unfere türliſchen Bundesgenoffen, unterftügt von deutſchen Dffizieren*), die ftärkften Anftrenzungen machen werden, den Kanal England zu entreiken und biejem dadurch die Herrichaft über Ägypten ftreitig zu machen, das erfcheint heute jedem verftändlich, der die Bedeutung dieſer Verbindung zwifchen den Meeren des Nordens und bes Südens fieht. Bon den geograpbifhen Berhältnifien - fagt Philippfon in feinem Haffiihden Werke „Das Mittelmeergebiet” :

„Unmittelbar öftlih (von Unterägypten) folgt der Iſthmus von Suez, wo fih dem Mittelmeer bis auf 120 Kilometer Abftand das Note Meer nähert. Ein tiefer, fehr junger (erft am Ende des Pliocän entitandener) Grabenbrud), der fi nordwärts in zwei Zipfel teilt, welche die alte Friftalline Maſſe der Sinaihalbinfel umfaflen, auf beiden Seiten von den hoben, alten Horftgebirgen Dftägyptens und Weftarabiens begrenzt, tft da8 Note Meer feiner Temperatur und feiner organifhen Welt nad ein Glied des Indiſchen Dzeans, ein echt tropifches Meer, während das Mittelmeer bis in feine öſtlichen Teile hinein ſich als Golf des fubtropifchen Atlantifhen Dzeans zu erfennen gibt. Obwohl der Iſthmus von Suez fi nur bis zu 16 Meter erhebt, hat doch bier nur ganz furze Zeit, im älteren Duartär, eine Verbindung beider Meere beftanden . .. . Eine Naturgrenze zwifchen beiden Ländern (Ägypten und Syrien) bildet ber Iſthmus nit. Durch die Windverhältniffe wird die Bedeutung des Roten ‚Meeres für die Segelſchiffahrt ſehr herabgeſetzt. AInfolgedefien bat der Verkehr von Dftafrifa und Südarabien nah dem Mittelmeer, für den das Note Meer die gegebene Straße zu fein feheint, meift vorgezogen, in Oberägypten zu Lande den Nil aufzufuchen und diefem ftromab zu folgen, während der indiſche Ver- kehr meift öftlidere Wege aufſuchte. So Hat der Iſthmus von Suez feine hervorragende Rolle in dem Verkehr vom Mittelmeer zum Indiſchen Dean gefpielt, eine größere als Landſtraße zwiſchen Ägypten und Borberafien. Die Umfegelung Aftifas durch Vasco de Gama (1497/98) bedeutete alfo nicht nur die Dermeidung des furzen Landweges über den Iſthmus, fondern eines langen Landtransportes der indiſchen Waren durch Vorderaflen oder die oberägyptifche Müfte. Das wurde völlig anders durch die Dampffhiffahrt, der das Note Meer kein Hindernis mehr bot; der fi) nun bier fchnell entwidelnde große Verkehr führte zum Bau des Suezlanals, und ſeitdem ift die Rote-Meer-Linie eine der bervorragenditen Straßen des Weltverlehrd geworden. .. . Der bei

*) In der Türglich veröffentlichten Verluftlifte Ar. 1 der in türkiſchen Dienften gefallenen preußiſchen Offiziere a. D. lieft man: Hauptmann a.D. ...., jetzt kaiſerlich Ottomanifcher Major, Tommandiert zum Stabe eined® Armeelorps, gefallen auf der Sinaibalbinfel Februar 1915.

Deutfhlands Anteil am Suezkanal 227

weitem größte Teil des Verkehrs vom Indiſchen und Großen Dzean nad Europa der bedeutendfte Warenſtrom der Erde überhaupt nächft dem zwiſchen Amerila und Europa führt vom Suezlanal, wie gefagt, durch das Mittel- meer bireft nad) Wefteuropa oder Südeuropa. . . .“

Trotzdem das Note Meer der Segelichiffahrt große Hinderniffe entgegen- ftellte, hat die nur ſchmale Landenge von Suez fon in uralter Zeit den Wunſch erwedt, eine Waflerverbindung berzuitellen, jeboch nicht durch unmittel- bare nord-füdlide Verbindung der beiden Meere, wie fie. der jebige Kanal bedeutet, jondern unter Benutzung des Nils. Nach der Darftellung griechiicher Hiſtoriler und Geographen wurde diefer Schiffahrtsweg, bereits unter Ramſes dem Zweiten (um 1300 v. Chr.) begonnen, bei Bubaſtis (norböftlih von Katro) vom Nil abgezweigt „und ging durch das Wadi QTumilät, einen tiefen Ein- ſchnitt in das Wüftenplateau, zum Bitterfee auf dem Iſthmus von Suez und von bier zur Nordipite des Noten Meeres“). Fortieber des Werles waren Necho, König von Ägypten, und vor allem der Berfer Darius. Diefer ver- Tündet auf einer am Suezlanal gefundenen Infchrift”"): „Es ſpricht der König Darius: Ich bin Perfer. Bon Perfien aus eroberte ich Ägypten. Ich befahl diefen Kanal zu graben von dem Strome namens Mil, der in Ägypten fließt, nad dem Meere, das von Perfien ausgeht. Es wurde diefer Kanal gegraben fo, wie ich befohlen Hatte, und Schiffe fuhren von Ägypten durch diefen Kanal nah Perfien fo, wie es mein Wille war.” Ob der Durchſtich wirklich ganz ausgeführt war, gebt aus den Worten des Königs nicht klar hervor, da es denfbar ift, daß man die Schiffe eine kurze Strede über Land gezogen bat. Darauf deutet die Angabe eines antilen Geographen bin, der Kanal fei auch von Darius nicht vollendet worden, da feine Ingenieure eine Niveaubdifferenz zwiſchen Rotem und Mittelmeer angenommen und befürchtet hätten, das Wafler des Noten Meeres werde Ägypten überſchwemmen. Erft die Ptolemäer follen dann den Durchſtich ausgeführt und durch Schleufen jene (übrigens nur vermeint- lihe) Gefahr vermieden haben; dieſe SciffahrtSverbinhung erhielt baber den Namen Btolemäuslanal. Seine Schidjale in fpäteren Jahrhunderten waren ziemlich bewegte, bis er am Ende des achten nachchriſtlichen Jahr⸗ hundertS von den Arabern aus militärifh- ftrategifden Gründen zugeſchüttet wurde. Ä

Neunhundert Jahre hat es bedurft, biß der Gedanle eines Kanals wieder auftauchte. Beſonderes Verdienft erwarb ſich in diefer Frage Leibniz, der in einer ausführliden, wohlbegründeten Denkichrift „De expeditione Aegyptiaca Ludovico XIV regi Franciae proponenda“ varlegte, der Herr Ägyptens fönne fi die Menichheit verpflichten, wenn er das Note Meer durch einen

*) Dies alte Kanalbett benugte man bei dem Bau des jetzigen teilweije für den Süß» waſſerkanal, der den Seelanal begleitet. ”*) Bergleihe F. H. Weißbach in der Vorderaſiatiſchen Bibliothek“, Band IIl. 15*

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Kanal mit dem Nil oder dem Mittelmeer verbinde, mobei er übrigens die Niveaudifferenz in das Reich der Fabel verwies”).

Die Vorſchläge von Leibniz find damals nicht verwirklicht worden, und auch Napoleon der Erfte, der einhundertundzwanzig Jahre fpäter, unzweifelhaft durch die Denkſchrift des großen Philofophen beeinflußt”*), auf feiner ägyptifchen Expedition den großartigen Gedanlen wieder aufnehmen ließ, hat ihn noch nicht durchführen können, das war erft ber zweiten Hälfte des neungehnten Jahr⸗ hunderts beſchieden.

Im Herbſt 1833***) kam ein Franzoſe namens Enfantin mit einer Schar von Jüngern nad) Ägypten, alle voll von begeiſtertem Eifer für den Bau eines Kanals zwiſchem Rotem und Mittelmeer. Mußte Enfantin au 1837 unver- richteter Sache heimlehren, jo hatte er doch gründliche Studien an Dirt und Stelle machen können, die ihn befähigten, feinen alten, wohldurchdachten Plan fpäter wieder ans Licht zu ziehen und angefehene, einflußreiche Männer in Frankreich, Sachſen, Äſterreich, mo auch Metternich fi für die Angelegenheit intereffierte, und England für ihn zu gewinnen. Bereits 1845 darf er in feinen „Notes sur Suez et noms des hommes qui ont travaill& à la pr&paration de l’auvre“ ausfpreden: „Il nous reste & faire une societe industrielle, ce que la diplomatie tenterait en vain sans nous; il nous reste à tracer sur le globe m&me le signe de la paix et à vrai dire, le trait d’union entre les deux parties du vieux monde, entre l’Orient et l’Occident; non point un chemin, un canal ce serait trop peu pour un tel signe, mais. une mer nouvelle* (U.®.6&. Pr. 1). Ein Werl des Friedens jollte in dem Kanal entftehen, ein Werk des gejamten Europad. „The construction of the Suez Canal, in the way we proposed it, as an European work, would maintain Burope in its present commercial position, giving the same time a proof that the European nations are aware of the solidarity existing between them for the maintenance of their reciprocal position and of their legitimate influence in the general system of European. politics, trade and civilization“, fo ſchreibt der Leipziger Bankier Dufour- Feronce, einer der tätigften und Harblidendften Förderer des Kanalplans, an einen engliſchen Interefjenten (U. G. ©. Nr. 61). Bon befonderer Bedeutung aber mußte der Kanal für den europäifchen Kontinent werden. „Den Häfen des- Adriatifchen und Mittelmeeres,“ fo erflärt wieder Dufour-Yeronce (U. G. ©. Nr.3),

*) Vergleiche Leibniz, Werke, heraudgegeben von Onno Klopp, Band I (Hannover 1864) Geite 107.

**) Klopp (in feiner Ausgabe) beftreitet die; aber die Belanntihaft Rapoleons mit. jenem Plan wird ſchon durd fein Leibniz⸗Zitat: „Agypten ift das wichtigfte Land ber Erbe“ wahrſcheinlich gemadt.

***) Quellen für die folgenden Angaben bilden die Werke: „Urkunden zur Geſchichte des Suezkanals“ von Georgi⸗Dufour, 1918 (zitiert als U. G. ©.) und „Die Geſchichte des Suez⸗ lanals“, herausgegeben von der Schriftleitung der Rundſchau für Technik und Wirtihaft”, 1912.

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„würde dadurch der Handel mit dem Drient und China für das gange fefte Land von Europa direlt zufließen. Unſere Fabrifen würden die Urftoffe des Orients nit mehr auf einem ungeheuren Ummege über England beziehen; bie deutihe Schiffahrt würde die Bedüirfniffe des Gefamtoaterlandes in eigenen Schiffen herbeiführen.“ Und der Bau des Kanals erfchien feinen Betreibern um jo notwendiger und dringlicher, als Damals die Gefahr beitand, daß Amerika den PBanamalanal bauen werde, und Europa ſich nicht verhehlen durfte, daß diefer Kanal, „ohne den Durchſtich von Suez vollendet, den Mittelpunkt des Welthandel von Europa nad) Amerika verfeten müßte“ (U. G. 5. Nr. 68); der Suegzlanal jei aljo eine enropätfche Rotwendigleit, heißt e8 in einer Darlegung der Firma Dufonr u. Co. an das königlich ſächſiſche Miniſterium des Innern (U. ©. ©. Nr. 66). Nun kam es vor allem auf die Haltung Frankreichs und Englands an: Englands Politik bezüglich Ägyptens vertrat den Gefichtspuntt, man dürfe auf dem Wege nad Indien feine Macht auflommen laflen, die ihm da entgegentreten Tönne; Frankreich, das einft die Hoffnung gehegt, durch Mehemed Ali ein neues iSlamifches Reich in Ägypten und Syrien unter feinem: Proteltorat entfteben zu ſehen, das aber 1840 dem Bierbunde gegenüber hatte nachgeben müffen, fuchte, feit 1847 immer mehr Herr in Algier geworden, den damals verlorenen Einfluß wiederzugewinnen und wünjchte Tängjt die Errichtung eines jeibft für größere Dftindienfahrer fchiffbaren Kanals. Während alſo bie Franzoſen das Kanalprojelt unterftügten, wollte England ſich höchitens zu einer Eifenbahnverbindung über den Iſthmus von Suez verjtehen, um fein Schiffahrts⸗ monopol auf dem Atlantifden und Indiſchen Dzean nicht aufgeben zu müſſen.

Um fo Iebhaftere Unterftügung fanden die Kanalpläne in Sachſen, Dfterreich und anderen deutſchen Staaten. Zu ihren eifrigften Verfechtern gehörte ber bereits genannte Bankier Dufour, der bereit8 1845 verfiherte (U. ©. ©. Nr. 2): „Daß der Kanal gemadt wird, ift jegt faum mehr zu bezweifeln, aber wir in Deutichland müfjen uns rühren, daß er nicht ohne uns und zu unferem Nachteil gemacht werde, während er uns unendlich nügen muß, wenn wir bei deſſen Benugung allen anderen gleich ftehenl” Die Angelegenheit müfje mit dem Charakter einer kaufmänniſchen Spekulation aus der Mitte Deutſchlands auftauchen und eine Gefellihaft Deutſcher Kapitaliften die Aus⸗ führung übernehmen. Und ein Mitglied des fächfiihen Landtages, Abgeordneter Georgi, führte dort am 9. Juni 1846 unter anderem aus: „Es tft ‚nicht zu bezweifeln, daß, wenn diefes Unternehmen ſich realifieren ließe, für Deutſchland ein ganz eminenter Nuten daraus bervorgehen würde. Deutſchland würde dadurch dem füböftlichen Afien nähbergerüdt werden, die Handelsitraße von England und ſelbſt wohl zum Zeil von den Vereinigten Staaten von Nord« amerifa nad Aften würde über Deutſchland gehen, und es ließe ſich wohl denten, daß ein Teil des Handelsflors, deſſen fi im Mittelalter bie italienifchen und mitteldeutſchen Städte wie Augsburg, Nürnberg und andere in jo hohem Grade dur den Verkehr des oftindifchen Handels über Ägypten erfreuten,

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durch Kanalifierung der Landenge von Suez für Deutfchland wieder hervorgehen könnte“ (U. ©. ©. Nr. 6). Die Berechtigung diefer Anſchauungen erfannte man auch an den amtliden Stellen, und im Januar 1847 wurde dem in Sadjien gebildeten „Somit& zur Herftellung der Vorarbeiten für den Canal von Suez“ ein Vorſchuß von 25000 Franken bewilligt. In Vfterreich war man ebenfalls ſehr rührig: das Beſte für den Kanal hat hier geleiftet ber Ingenieur, fpäter Ehefingenieur der öſterreichiſchen Eifenbahnen, Negrelli: Dufours Korrefpondenz mit ihm bezeugt «8.

Negrelli legte 1846 in einem Beriht an feinen Borgefebten, Hofe fammerpräfidenten von Kübel, dar, welde Wichtigleit das Unternehmen zu allernächft für Lfterreih habe: „Am Tage, wo der Kanal eröffnet würde, bätte die Entdedung Vascos da Gama ihre große Bedeutung eingebüßt, und Benedigg Größe nebft dem Flor ihrer neuen Schweiter an Adriens Geftade würde von demſelben Zage an wieder aufblühben, und der Segen des Handels würde erft durch Üfterreih, Italien, Tirol, Kärnten und Krain, kurz durch das weite Gebiet Sfterreichd zu dem Nachbarlande ge langen” (U. ©. S. Nr. 7). Auch außerhalb der ſchwarz⸗gelben Pfähle fah man Oſterreichs Mitwirkung als entſcheidend an: „Jedenfalls müflen,“ fchreibt Dufour 1850 aus Lyon, „die erften Schritte von OÖſterreich kommen; England wird fie nit tun, und Frankreich wird alles verderben, wenn e8 an die Spitze treten wollte. Der Dfterreichifche Lloyd muß fidh recht feit in den Sattel fegen, um fih in feiner Dampfſchiffahrt im Orient zu behaupten; denn wie ich bier vernehme, foll in Marfeille in der nächften Zeit eine ſehr mächtige Dampfſchiff⸗ Compagnie bergeftellt werben, deren Zwed ift, allen orientaliiden Verkehr von Trieft ab nad) Marfeille abzuleiten“ (1. G. S. Nr. 62). In der Tat war bereit8 1847 außer ber Handelsfammer in Trieft auch der OÄſterreichiſche Lloyd dem deutſchen Zweigverein des Suezkanal⸗Comités beigetreten, und man hoffte, biefer Gruppe ein fo bedeutendes Gewicht in den künftigen Beratungen zu verſchaffen, daß einft Trieft der Sit der Kanalgeſellſchaft werden würde. Preußen aber, zu defien Vertreter Alerander von Humboldt ‘auserfehen war, blieb in dem Ausſchuß unvertreten, da Humboldt Dufour mitgeteilt hatte, daß Gründe vorwalteten, welche feinen Beitritt nicht geftatteten (U. &. S. Nr. 15).

Die Gründung der „Societe d’etudes du Canal de Suez“ oder des „Comité zur Betreibung der Vorarbeiten für den Kanal von Suez“ war inzwifchen erfolgt in einer Sigung vom 30. November 1846 in Paris: bie Geſellſchaft beftand aus drei Gruppen (jede von zehn Mitgliedern aus ben meiftbeteiligten Nationen), einer deutſchen Gruppe mit Negrelli als Ingenieur, einer engliiden mit Robert Stephenfon als ingenieur, einer franzöfifchen Gruppe mit Paulin Zalabot als Ingenieur. Da die leitenden Ingenieure ihre unentgeltliche Mitwirkung verſprochen hatten, fo glaubte man die Borarbeiten mit 150000 Franken finanzieren zu können. Die deutſche Gruppe, die aus folgenden zehn Mitgliedern und Körperſchaften beitand:

Dentfchlands Anteil am Snezfanal 231

Oſterreichiſcher Lloyd in Trieft Handelskammer in Zrieft Stadtrat in Trieft . Diterreichifeher Gewerbe-Berein in Wien . Sandelstammer in Venedig Neg. Rat Thiriot in Dresden N. Georgi in Mylau Suftav Harlort in Leipzig 2. Sellier in Leipzig 10. 4. Dufour-Feronce in Leipgig war am tätigften, wobel ihren Mitgliedern die Fähigleit zu Hilfe kam, fi „mit volllommener Entänßerung einer nationalen Parteifärbung auf den Standpunlt des Kosmopolitismus zu erheben“ (U. G. S. Nr. 49); fie entfandte bereits im März 1847 eine Ingenteurbrigade für die techniſchen Vorarbeiten nad) Ägypten und leiftete Die notwendigen Zahlungen pünftlic).

An Ägypten galt es zumächft das Mißtrauen des Vigelönigs zu aberwinden, der den Kanal ſelber bauen wollte, ſchließlich aber doch die Genehmigung für die Vor⸗ ſtudien erteilte. Dieſe Erlaubnis erreichten die deutſchen Ingenieure um ſo eher, als dem Bizelönig bekannt fein mußte, „Daß außereuropäiſche Gebietserweiterungen nie in den Abfichten deutſcher Staaten lagen, und je mehr der Paſcha in einer Annäherung an die deutfhen Großmächte eine moralifche Verftärfung feiner Stellung den ihn im Dſten und Weiten bebrobenden Gebietsnachbarn gegenüber erbliden müßte" (U. G. S. Nr. 7). Die deutiche Brigade hatte „die nördliche Küfte der Zandenge aufzunehmen und bie Tiefen des Mittelländiichen ‘Meeres bei Tineh zu fondieren, um den paffendften Bunt für die Ausmündung des Kanals zu ermitteln und den Plan zu einem die Ein- und Ausfahrt des Kanals zu jeder Zeit fihernden Hafen zu entwerfen” (U. ©. S. Nr. 16). Der Leiter diefer Arbeiten, In⸗ genteur Jaßnueger, ſchildert in ſehr interefjanten, anſchaulichen Berichten an Negrelli feine Tätigkeit (U. G. ©. Nr. 29 bis 33). Diefer konnte aber aus den Feft- ftellungen feiner Brigade und den dur Stepbenfon aus den Archiven ber englifhen Abmiralität befdhafften Karten die Gleichheit des Waflerftandes in beiden Meeren berechnen und erwarb fi fo das Verdienft, jenen uralten Wahn der Niveaudifferenz, an die er vorher noch felber geglaubt hatte, endgültig zer- ftört zu haben; von da an vertrat er als erfter den Gedanken, man müſſe den Kanal ohne Schleufen und mit der fürzeften Linienführung bauen.

Worin beftanden num die Aufgaben der beiden anderen Gruppen ? Die englifche foüte unter Stepbenfons Leitung „diefelben Arbeiten im Noten Meere bewirken, welche Negrelli im Mittelländifhen ausführen Tieß,“ die franzöſiſche unter Talabot „die früher während der franzöfiichen Beſetzung auf Befehl des Generals Bonaparte bergeftellten und fpäter dur ägyptiſche Ingenieure ergänzten Nivellements von Suez am Roten bis Tineh am Mittelländifchen Meere prüfen und nad Befinden vervollftändigen, ſowie die zu Herſtellung gründlicher Anſchläge

KÄLTE ARE

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erforderlichen Bodenfondierungen bewerlitelligen” (U. ©, ©. Nr. 16). Während diefe Gruppe unter Leitung des Ingenieurs Bonrdaloue ihrer Aufgabe durchaus geredit wurde „Bourdaloue feheint die Sache fehr gründlich zu betreiben, aber ſehr langſam und fehr Loftfpielig,“ urteilt Dufour im November 1847 (U. G. S. Nr. 41) —, trat die Lauheit Stephenfons, der mehr für feine Eifen- babhnpläne Intereſſe hatte, deutlich hervor, und ſchließlich taten die Engländer nichts. Überdies brachten die ungünftigen politifcden ımd finanziellen Zuftände der Jahre nad) 1847 die Arbeiten zum Stillitand, und es unterblieb auch die geplante Fahrt der drei Oberingenienre, die vorhatten, ſich im Oltober 1848 „gemeinſchaftlich nach Ägypten ‘zu begeben, bie. Landenge zu bereifen und gemeinfhaftlid mit Herrn Linant (Bey, erftem ingenieur der ägyptiſchen Negierung) . . . die Richtung, welche dem Kanal zu geben fein wird, nad) perlönliher Prüfung zu beftimmen, die Detailpläne und Anjchläge aufftellen zu laſſen und fo dem Verein die Arbeiten vorzulegen, welche der Ausführung des Werkes zu Grunde gelegt werden können“ (U. &. ©. Ar. 16). Doc nupten Dufour und feine Freunde unermüdlich die Zeit zur Gewinnung neuer Ditglieder der Societe d’etudes, die freilich zu einer „Societe d’ex&cution“ ſich ver. wandeln zu ſehen felbit der optimiftifche Dufour damals nicht zu hoffen wagte.

Auf eine für die Mitglieder der „Studiengeſellſchaft“ verhängnisvolle Bahn geriet nun aber die Angelegenheit durch Ferdinand von Leſſeps. Dieſer, in ben dreißiger Jahren als franzöfiicher Vizekonſul in Katro ohne jedes Intereſſe an den Plänen Enfantins, traf „auf der Sude nah Beichäftigung und Berdienft“ 1854 mit biefem zufammen, erichien ihm wie anderen als Dukel der Kaiſerin Eugenie von Frankreich wertvoll und wurde auf Betreiben von Arlas, Vetter Dufours, und Enfantin nad) Ägypten entſandt, weil fie bei ber Thronbefteigung Said Paſchas (1854), mit welchem Leſſeps in Paris fehr befreundet gemwefen war, vorausfekten, e8 werde gelingen, die Konzeifion für Erbauung des Kanals von diefem neuen Paſcha zu erlangen. „Dies ift geglüdt, und die Bunktation zu den Bedingungen tft allerdings ſehr günftig,“ wie Dufour 1855 fchreibt (U. ©. ©. Nr. 79). |

Tatſächlich war es Leffeps gelungen, eine (vorläufige) Vollmacht zu erlangen, „pour constituer et diriger la Compagnie universelle du canal maritime de Suez“ (U. ©. ©. Nr. 72), allerdings auf ihn perfönlich Tautend. Den vorfichtigen und gewiegten Bankier Dufour machte das mißtrauiſch, und er hätte gern „die an Leſſeps gegebene Konzeſſion an die drei Monarchen Königin Pictoria, Kaifer Franz Joſeph und Napoleon dem Dritten gemeinfchaftlih abgetreten“ gejehen (U. G. S. Nr. 79), aber er ließ fi damit beruhigen, daß man im Drient immer mit einem Individuum verhandeln wolle und einer nad) dortigen Begriffen nicht zu fallenden Geſellſchaft nie eine Konzeſſion erteilt haben würde. Das ſchien alfo ein bedeutfamer Schritt vorwärts, und Negrelli äußerte fi fehr erfreut über „le grand &venement de la concession à notre ami et associe, M. Ferdinand de Lesseps.“ Aber diefer Associe

Deutſchlands Anteil am Suezkanal .233

täujchte das Vertrauen, das man in ihn feßte, und fuchte nur feine perfönlichen Zwede und die Befriedigung feines Ehrgeizes, der ihn trieb, als der Urheber eined jo gewaltigen Werkes in den Augen der Nachwelt zu erfcheinen und zugleich ein glänzendes Gefchäft zu. machen. Sole Erwägungen veranlakten ihn, fi vornehmlich der Mitwirkung Negrellis, des einzigen, der den Kanal ohne Schleufen mit der fürzeften Linienführung bauen wollte, zu filhern. - Diefer, der vom Bizelönig bereit3 1855 nebit dem öfterreichifchen: Finanzminifter von Brud zum erbliden Gründermitglied der SKanalgefellihaft ernannt und defien Plan 1856 endgültig angenommen murde, war 1857 Generalinfpeltor der Kanalarbeiien geworden und verhielt ſich Leſſeps gegenüber, dem er anfangs durchaus vertraut hatte, zurückhaltend. Doch gelang es Diefem, nad) NegrelliS 1858 erfolgtem Tode, deffen Zeichnungen und Entwürfe an fi zu bringen und vor allem mit Hilfe Napoleons vorwärts zu lommen, zumal als Said Paſcha, der fi, empört über Leſſeps eigenmächtiges Handeln, gänzlich von ihm losgeſagt und den Kanalbau felbft auszuführen befchlofien hatte, im Sabre 1863 gejtorben war. Es galt bier wieder das alte Wort eines Drient- tenner8 gegenüber dem Ingenieur Jaßnueger, er müſſe feine ganze Stellung Ägypten gegenüber als ein Schaufpiel betrachten, das mehrere Alte habe; in den Alten wechſelten Perjonen und Koftüme. Leſſeps hatte ſchon vorber feine Altien-Gefellichaft, die „Compagnie universelle du Canal de Suez*, aus- gebaut, unter Zurücddrängung der Societe d’Etudes, und war ihr Generaldireftor geworden. In Frankreich hatte er eine Subfkriptien auf die Kanalaltien eröffnet und viele, namentlich kleine Leute, zur Zeichnung veranlaßt, auch dem Vizelönig Ismail Paſcha einfach üher 170000 Aktien aufgezwungen. Im März 1866 erſchien endlich das kaiſerliche Irade in Konftantinopel, das die Bauerlaubnis an eine Geſellſchaft gab, der jede redhtlihe Grundlage fehlte. Das Gomite international von 1846, die Societe d’&tudes, deren Arbeit durch Leffeps ver- nichtet worden war, batte ſchon 1861 befchloffen, fi abwartend zu verhalten und nach dem Erfolg oder dem Scheitern der Pläne von Lefjeps ihre ferneren Schritte zu beftimmen: „Sollte der Kanal“ fo ſchildert Dufour in einem Schreiben vom April 1861 an das ſächſiſche Minifterium die Sache „wirklich zur Ausführung lommen, jo würde der Hauptzwed mehrgenannten Comites erreicht fein, der hauptſächlich darin beitand, die Erbauung des für die Intereſſen des Handels der ganzen Welt jo wichtigen Kanals zu befördern. Sollte dagegen Herr de Zeffeps in feinen Beftrebungen jcheitern, jo würde in Erwägung zu ziehen fein, welde neuen Mitiel zu ergreifen find, auf einem anderen Wege den Kanal zur Ausführung zu bringen (U. ©. ©. Nr. 103). Nun wurde ja aber der Kanal gebaut, wobei Lefjeps fi wiederum der mächtigen Unterftüßung Napoleons zu erfreuen hatte, und „das Comité international” hatte feine Gelegenheit mehr, weitere Schritte zu tun, ohne fi) übrigens tatfächlich aufzulöfen. Vielmehr find bie Nechte feiner ehemaligen Mitglieder auf Grund ihrer hervorragenden Tätig- feit und ihrer finanziellen Leiſtungen durchaus beitehen geblieben, und die

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berechtigten Anfprücde ihrer Erben mit allem Nachdruck wahrzunehmen, ift jeht eine Vereinigung angefehener Männer tätig. ebenfalls haben wir in Deutſch⸗ land und Öflerreich feinen Anlaß, Leffeps als den Schöpfer des Kanals zu preifen: feine große Energie fol durchaus anerlannt werden, aber daß er ohne die wiſſenſchaftliche und finanzielle Vorarbeit namentlich der deutſchen Mitglieder der alten Studiengefellihaft fein Ziel nicht hätte erreichen können, darf eben- fowenig verichwiegen werben mie fein rüdfichtslofes Verfahren alten, wohl» erworbenen Rechten gegenüber.

Die weiteren Schidfale des Kanalbaues find belannt: der Kanal wurde nach Überwindung großer Hinderniffe und Schwierigfeiten aller Art, namentlich von feiten der Engländer, 1869 fertiggeftellt und im November besjelben Jahres unter großartigen Feierlichkeiten eröffnet. Nach einigen Jahren des Mikerfolges begann eine bedeutende Hebung bes Berlehrs; England, das bis dahin nichts vom Kanal hatte wiffen wollen, erwarb 1875/76 die 177642 Altien des Bizelönigs Ismail Paſcha und fpielte ſich fo zunädft den Kanal und dann ganz Ägypten in die Hände. Die Bedeutung gerade für feirie Beziehungen zu Indien und Auftralien erhellt aus den Berlehrsziffern”): im Jahre 1870 betrug die Zahl der durchfahrenden Schiffe 486 mit 654914, 1908: 8795 mit 19 Millionen, 1912: 5373 mit 28 Millionen Tonnen; unter den Schiffen bes legten Jahres waren 8335 englifhe und 698 beutfche.

Bon der Bedeutung des Kanals geben biefe Zahlen ein Bild; von ber Aufmerkſamkeit aber, welche «die gebildete Welt in den fechziger Jahren feinem Bau und feiner Eröffnung gewidmet hat, zeugen noch heute die Äußerungen dreier Männer, die jene Jahre miterlebt haben: der eine tft Ludwig Pietſch, der treffliche Plauderer und Zeichner, der als Berichterftatter und als einer ber „Messieurs les Invites“, alfo als offizteller Saft des Vizekönigs, der Eröffnung beigewohnt bat. Im feinen Erinnerungen”) daran erllärt er, daß aus der überreichen Fülle reizwoller und prächtiger, großartiger und erſchütternder Bilder geſchichtlicher Ereigniffe, denen er... . vom bevorzugten Plage aus in nächfter Nähe zugeſchaut babe, leuchtend und glänzend faft vor allen diejenigen hervor» träten, weldhe im November und Dezember des jahres 1869 ihm zu fehen und zu erfahren vergönnt geweſen jeien. Der andere ift Henrik Ibſen, der große Nordländer, welcher in „Port Said“ und dem „Ballonbrief” feine ägyptifchen Eindrüde ſchildert. Und der dritte ift unjer Wilhelm Raabe, defien Interefie und Berftäudnis für weltpolitiide Dinge wir aus vielen feiner Werke lennen: fo lefen wir noch heute mit größter Aufmerkfamfeit, was er im „Abu Telfan“, deſſen erfte Auflage 1867 erfchien, feinen Helden Leonhard Hagebucher den Seinen in Bumsdorf von der „verfänglicden Weltfrage der Durdiftehung der Zandenge von Suez“ berichten läßt.

*) Die Zahlenangaben ftammen teil® aus NReubaur, „Der Sueztanal”, teil aus

Oberhummer, „Agypten und der Suezkanal“ (Deutihe Revue, Januar 1915). *) Veröffentlicht 1902 in Velhagens u. Klaſings Monatöheften.

Don deutjcher Kultur und deutfcher Sreiheit

Auch eine Kriegsbetrachtung Don Dr. jur. et phil. Erich Jung o. 3. Profeflor der Rechte

enn die größte politiiche Frage, die Eriftenzfrage, einem Staats⸗ a weien geftellt ift wie ums jetzt, dann treten naturgemäß alle I anderen Seiten des Gemeinfdhaftslebens in ben Gedanken ber DA Nation zurüd vor der nun allein ausſchlaggebenden der militärifden Machtentfaltung.

Aber diefe Höhepunkte der Kraftentfaltung, oder vielleicht darf man fagen Höhepunkte bes nationalen Lebens überhaupt, in denen bie erfte ethiſche Uualität, bie Fähigkeit zur Hingabe des Ich an einen höheren Zweck, am einfachften und dringlichften in die Erfcheinung treten muß bezeichnen naturgemäß nur ben Moment des Freimerdens gefammelter Kräfte und Eigenſchaften, Die das Ergebnis langdauernder Arbeit und Pflege, altererbter Anlagen der Nation und ibrer geſchichtlichen Erlebnifie, find.

Jene über unjer fühnftes Hoffen noch hinaus nun fo wunderbar ſich offen- barende Entſchloſſenheit, Opferfreudigfeit und Einigleit der Nation ift nicht aus den Cinzelurfaden dieſes Bölferfrieges und auch nit nur aus unjerer DOrganifationsfähigleit, aus der militärtihen Tüchtigkeit oder fonftigen einzelnen Eigenſchaften zu erflären. Sie hat ihre tieferen Urſachen in dem ganzen geiftigen und etbifhen Weſen der Nation; in ihrer Kultur, wie man zufammenfaffend fagen fann, wenn man nur das Wort Kultur genügend weit faßt, und es nicht, wie häufig geichieht, mit dem Begriff Zivilifation, fchärfer Domeſtikation, ver- wechfelt; wobet unter biefem letzteren Ausdrud zu verſtehen ift die äußere Seite intenfiveren Kulturlebens, die Bermebhrung der materiellen Annehmlichkeiten des Lebens und die Verfeinerung auch der nicht geiſtigen Bebürfniffe.

Diele äußere Bereicherung des Lebens fteht ja in einem gewiflen Zufammen- dang mit der wirflichen Kulturhöhe der betreffenden Gemeinſchaft. Aber diefer Bufammenhang tft fein notwendiger; es Tann eine Gemeinſchaft die materiellen Errungenſchaften des Kulturlebens noch eine Zeitlang fefthalten, wenn bie eigentlichen Trieblräfte der Kulturgemeinſchaft ſchon abgeftorben find. Dies bat

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vor allem der Untergang der antiken Kulturwelt —* jenes merfmärbige kulturgeſchichtliche Phänomen, das ben ‚Zrägern der zweiten großen Kulturepoche Europas, die mit dem Auftreten der Germanen und des Chriftentums beginnt, recht eigentlih als ein Mene Tekel oder als die bei Strafe bed Untergangs zu löfende Frageſtellung entgegentritt.

Die Einheit der 78 Millionen Deutfcher, die heute im Kampf liegen gegen die übrige Welt, wie die Preußen Friedrichs des Großen gegen Europa, ift. befanntlich nicht eine befehlsmäßige, eine politiſche Einheit. Zwölf Millionen davon find öſterreichiſche Untertanen; und felbit innerhalb des deutſchen Reichs treten die tapferen Fäufte von fieben Millionen Bayern, Fianken und Schwaben erſt im legten Moment, nämlich mit der Mobilmadjung, unter den unmittelbaren Befehl unferes Kaiſers. Die Gemeinfchaft der Lebensunterlagen und der Lebens- ziele, die Kulturgemeinfchaft,: bildet. die tiefergehende und darum au dur äußere Feinde nicht auf die Dauer zerftörbare Grundlage unferer Volkseinheit.

Bas beißt nun deutfche Kultur? In welddem Verhältnis fteht fie zu den heute neben ihr beftehenden Kulturgemeinfchaften, wie etwa der franzöftichen, zu früheren Epochen, wie zur antilen Kultur?

Wer im lebten Jahrzehnt als Deuticher im Elſaß lebte feitdem von Köller im Jahre 1902, um einen bequemen Landtag zu haben, die ftaatlicden Handhaben gegenüber der Preſſe aufgegeben hatte und damit die mit franzöſiſchem Geld unterhaltene elfäffifche Hetzpreſſe entfefjelt hatte, mußte in Betrachtungen über das Verhältnis und das Alter der frangöftihen und ber deutihen Kultur, über die „Mentalität“ der Deutichen gegenüber den Franzoſen und ähnliches einen unglaublichen Wuft von Entftellungen und hahnebüchenen Unrichtigkeiten genießen. Die immer wiederholten Behauptungen und Forde⸗ rungen mußten ſchließlich, wie jeder ftandhaft wiederholte Unfinn, auf ſchwächere Naturen auch auf deutſcher Seite einen gewiſſen Eindrud maden. Selbft Altdeutſche Hatten in der ſchwülen Luft der füdlicden Rheinebene bie Schwädlichkeit, von der für den SKulturaustaufh zwiſchen Deutſchland und Frankreich notwendigen Vermittlerftelung des Elſaſſes zu ſprechen und möglichfte Nachgiebigkeit gegen den franzöfiihen Einfluß, die Begünftigung von Zwei⸗ ſprachigkeit, Doppelkultur und Ähnlichem zu verteidigen oder gar zu fordern.

Die gegenfeitige Mitteilung von Kulturgütern unter verfchtedenen Nationen hat folche geographiſche Zwifchengebilde gewiß nicht nötig; diefe wirken vielmehr als Duelle von Reibungen auch auf den Kulturaustaufch nur ſchädlich. Zwiſchen Italien und Deutichland, zwiſchen Deutichland und England hat foldde Kultur vermittlung früher in ausgedehnten Make ftattgefunden, ohne daß man dazu eine gemifchte deutſch⸗italieniſche oder deutich-engliihe Provinz für nötig gehalten hätte. In dem Einfluß der deutichen Neformationsgedanten auf England, in ber Stellung Shaleipeares, der für die Deutichen heute mehr bedeutet wie für die Engländer, in dem Wirken Garlyle8 und feiner Vermittlung Goethes und der deutihen Klaffifler an die Engländer hat dieſer deutſch⸗engliſche Kultur-

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austauſch fich erwiefen. Niemand wird behaupten wollen, daß dieſer Prozeß der Aulturvermittlung zwiſchen Deutichland und England durch die zeitweilige Berfonalunion von Hannover und England mefentlich gefördert worden fei oder fie gar nötig gehabt hätte.

Den Franzofen fällt es auch gar nicht ein, etwa in Nizza die italienifche Sprade und Art zum Zweck der NKulturvermittlung zwiſchen den beiden romaniſchen „Schweiternationen” zu fördern und zu pflegen. Dabei handelt es fi hier doch um Italien, die unbezweifelbare Mutter und Schöpferin der tomanifhen Kultur. Die Franzofen halten ſich allerdings für führend unter den romaniſchen Kulturvöllern. Das tft eine Erläuterung zu dem Kapitel, wie furz das geſchichtliche Gedächtnis der Völker if. Daß die Italiener unter den romanifchen Nationen die ältefte Kulturvergangenheit haben, lan: doch wirklich nicht zweifelhaft fein. Die Tatſachen der Geſchichte wollen wir uns durch ihr jebiges Verhalten nicht verbunfeln laſſen. Daß die Kulturarbeit Italiens auch in der nachantilen Entwidlung, von Dante über die Renaifjance zu Michelangelo und Galilei und Bolta, gegen die franzöſiſche nicht zurüdbleibt, dürfte ebenfalls ficher fein. Die Urfache jener an ſich durchaus unbegründeten franzöfifchen Überhebung kann nur in der langdauernden politiichen Schwäche und Zerrifienbeit Italiens liegen; wie die Franzofen ja aud) im Berhältnis zu uns über den zweihundert Jahren ihrer Übergriffe und politifchen Übermacht die Tatfadhen vieler früherer Jahrhunderte völlig vergefien haben: daß nämlich die politifche Vormachtſtellung in Europa lange vorher und die längfte Zeit bei den Deutſchen geweſen war. Richt als ob ein Anſpruch darauf deilen Erhebung dem alten Reich fo ſchweren Schaden gebracht hat von den heutigen Deutfchen irgendwie geltend gemacht würde. Nur gegenüber dem törichten Gerede von dem neuberauf- gelommenen Deutſchland, das fi) neulich fogar ein amerilaniſcher Admiral, ausgerechnet ein amerilanifcher, geleiſtet hat, darf man wohl einmal jene geſchichtliche Tatſache ſich vergegenwärtigen. Aber freili), wenn man felbft bei uns am hervorragender Stelle von dem jungen und neuempor- gefommenen Deutichland fpricht, wird man bei einem amerilanifchen Hemd⸗ ärmelpolitifer feinen weiterreihenden gefchichtlihen Geſichtskreis vorausfehen bürfen.

Der politiſche und wirtſchaftliche Aufſchwung Mitteleuropas, Deutichlands und auch Italiens, ift eine Wiederaufnahme, nicht ein Neuemporkommen. „Das deutſche Königtum,” fchreibt der englifche Geſchichtsforſcher und Staats- mann James Bryce, „war ſchon ein Band zwiſchen den deutſchen Stämmen und es fcheint ftarf und geeint, wenn man es mit Frankreich unter Hugo Gapet oder England unter Aethelred dem Zweiten vergleicht." Und Dietridy Schäfer fagt: „Am Ausgang des Mittelalterd waren Staliener und Deutiche wirtſchaftlich die entwidelteiten Völker Europas.” Ihre glänzende wirtichaftliche Entwidlung in unferen Tagen war nur ein Wiedererwachen aus dem langen Schlaf der ſtaatlichen Zerriffenheit. Nicht weil fie junge Völker find, fondern

8 Don dentſcher Kultur und deutfcher Sreiheit gerade weil fie die älteften und am intenflvften Lultivierten unter den europäifchen Nationen find, konnten fie diefe Leiftung vollbringen. Ziviliſation, Domeftilation fann ſchwächen; wirkliche Kultur ſtärkt. Die europäiſchen Nationen von heute find den Naturvöltern und überhaupt Zulturell tiefer ſtehenden Bölfern im allgemeinen auch militäriſch und phyſiſch überlegen. Die verbreitete gegenteilige Meinung, als ob die Kultur notwendig ſchwächen müſſe, ftammt aller Wahr- ſcheinlichkeit nach noch von einer falſchen Auffafiung des gemwaltigften, umftärzendften Ereigniſſes der bisherigen Kulturgefhichte: als ſei Die antike Zivilifation durch die Germanen zerftört worden und nit von innen beraus, durch bie anthropologiſche Veränderung und das Aus fterben der bis dahin kulturtragenden und ftaatsbildenden Bevöllerungs- oberſchicht.

Nun brauchen freilich die Franzoſen ihre Ziviliſationsform in ihrer Miſchung von keltiſchen, romaniſchen und fränkiſch⸗germaniſchen Beſtandteilen nicht für einen bloßen Ableger der antiken Kultur zu halten, wenn auch die lateiniſche Eroberung und Beſiedlung die Sprache dauernd beſtimmt bat, im Gegenfag zu dem in der fpäten Antife auch ſchon ſtark romaniſchen, aber eben doch nicht dauernd romanifierien Südengland. Jedenfalls aber kann bie Behauptung der Franzofen, ung gegenüber bie ältere Kulturnation zu fein wenn überhaupt eine —, nur diefe Unterlage haben, daß fie die Yortjeger und Erben der antiken Kultur feien. Die Kulturform der Antike ift natürlich älter als unfere heutige deutſche Kultur. Aber unter den nachantilen Kulturen und die Cäfur nad dem Untergang des römifchen Reiches und ber Chriſti⸗ anifierung der europätihen Welt war eine fo einfchneidende, daß man bier, troß aller einzelnen Übernahmen, von einer neuen Kulturform ſprechen muß —, ift die deutfche die erfte und ältefte.e Dabei tft unter Deutfchland natürli zu veritehen das Land zwiſchen Elbe und Maas, zwiſchen Nordfee und Alpen, das Deutfchland des Mittelalters, das eben doc auch heute noch den Kern des deutichen Gefamtftants bildet. Die Siedlungslande jenfeitE der Elbe find natürlich von jüngerer Kultur, fo groß ihre rein politifhe Bedeutung und ihre politiihden Verdienfte um Geſamtdeutſchland auch fein mögen. Sie haben in der neueren Zeit auf ſtaatlichem Gebiet zweifellos mehr geleiftet als die älteren weitlicheren deutfchen Lande, vielleicht gerade durch jene Toloniale Art ihres Urſprungs, dur ihre größere NRüdfichtslofigkeit und Nüchternheit, aber auch dur ihre größere Vorausfegungslofigleit und Tatkraft; in einem gemifien Sirnne ift das Verhältnis des deutſchen Dftens zum deutſchen Weften ähnlich dem des jungen Amerifa zum alten Europa „haft feine verfallenen Schlöffer und feine Bafalte.” Bei den norböftlicden Gegenden liegt heute verdientermaßen in Deutfehland die politifche Führung, wie früher, zeitweilig bei dem ſüdöſtlichen Kolonialgebiete in den Habsburgifhen Landen. Wenn aber die Rede ift von deutfcher Kultur, von dem, was für ihren Inhalt, ihr Alter und fonftiges Wefen fennzeichnend ift, muß man felbitverftändlih die deutſchen Lande zum Vergleich

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beranziehen, wo biefe Kulturentwicklung ſich die längfte Zeit abgefpielt hat und darf nicht willfürlih eine beftimmte einzelne Gegend des jetzigen beutjchen Staatsgebiet herausgreifen.

* * »

Nächſt der Firchlicden Überlieferung ift das Rechtsleben der Zweig ber fulturellen Betätigung, der das Alte am treueften feithält und den Neubildungen, Veränderungen den ftarriten Widerftand entgegenfest, fo daß hier jenes Fort⸗ wirlen oder auch, je nad) dem Standpunlt des Beurteilers, Weiterlaften uralten Kulturerbes befonders anſchaulich wird.

In Deutichland hat die dee des römiſchen Kaiſertums deutſcher Nation befanntlich zu dem beifjpiellofen nur mit der teilmeifen Annahme der jüdtichen Religion durch die hriftlichen Völler zu vergleichenden Vorgang der Übernahme des römiſchen Privatrechts geführt. |

In Frankreich hat eine erneuerte Übernahme antiler Ideen auf politiichem Gebiet eingefegt mit der revolutionären, beſſer der napoleonifchen Neugeftaltung des franzöfiicden Staatsweſens, die dem in der Revolution erfochtenen politifchen Siege des keltiſch⸗ romaniſchen Elements über feine bisherigen fränkiſch⸗germaniſchen Herren entiprad. H. Taine bat in feiner „Entftehung des modernen Frankreich“ das Weſen jener Umgeftaltung und damit mittelbar überhaupt den Gegenjah des Haffiziftiiden und des germaniſchen Staatsgedankens folgendermaßen ge- fennzeichnet: „Infolge feines deſpotiſchen Inſtinkts und feiner Haffifchen lateiniſchen Schulung faßt der Meifter (Napoleon) die Menfchenvereinigung nicht vom modernen, germanifchen, hriftlicden Standpunkt auf, als ein Zufammenmwirlen von unten ausgebender Initiativen, fondern in der Weile des Altertums, der Heiden, der Romanen: als eine Stufenleiter von von oben eingejeßter Obrigleiten.“

Damit ift die Eigenart des germanischen Staatsgedanlens treffend bezeichnet. Diefe Befonderheit hat einerfeitS im germanischen Mutterland, in Deutichland, zeitweilig zur fait völligen Auflöjung der Zentralgewalt geführt und Deutſchland politifh lange ſchwer geſchädigt; anderſeits hat fie aber auch durch die größere Bemwegungsfreiheit und Gelbftändigfeit der Glieder die unvergleichliche Biel- geftaltigfeit und den Reichtum des deutſchen Kulturlebens weſentlich mitver⸗ urſacht.

Mit jener Taineſchen Unterſcheidung könnte man den Gegenſatz antik⸗ mittelmeerländifcher und germaniſch⸗nordeuropaͤiſcher Kulturform wenigſtens auf ſtaatlich⸗ rechtlichem Gebiet und damit wenigſtens für ein Hauptgebiet der kulturellen Betätigung Herder nennt einmal den Staat das höchſte Kunſtwerk des menſchlichen Geiſtes nod) etwas allgemeiner dahin zufammenfafjen: bie Antike bat die dee einer Organifation des in Familie und Stamm urſprünglich trieb- baft gegebenen Zujammenlebens unter eine zentrale Staatögewalt, der bie einzelnen nur Mittel zum Zwed find, gebracht; die germaniſch beftimmte

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Kulturentwidlung bat die Anerlennung des Individuums an oder auch die bee der perfönlicden Freibeit.

„C'est par les barbares germains, que le senkimänt de la personalite, de la spontaneit& humaine dans son libre d&veloppement a éêté introduit dans la civilisation europeenne; il &tait inconnu au monde romain, inconnu & l’eglise chr&tienne, inconnu à presque toutes ‚les civilisations anciennes“ jagt der franzöfiihe Hiftorifer und Staatsmann Guizot in feiner Histoire de la civilisation en Europe.

Was moderne Franzofen etwa in grenzenlojer Unkenntnis unferer älteren Geſchichte als den angeborenen Sinn des Deutichen für Uniformierung und Disziplin bezeichnen, ift, wie Fürft Bülow einmal gegenüber dem franzöftfchen Journaliſten Huret ausgeführt bat, nur die notwendige, durch die jahrhunderte- langen politifden Mißgeſchicke endlich anerzogene Schranke unferes ertremen Individualismus in allen geiftigen Dingen, der, auch auf politiiche Berhältnifie übertragen, unferer Nation fo furchtbare Leiden verurfacht bat und ſo ſchließlich als eine Anpafjungserfcheinung im Dafeinstampf jene Gegengewichte hervor⸗ gerufen bat.

Nach der franzöftichen Revolution es bat die herrſchende liberal-tonftitutionelle Drthodorte durch beharrliche Geſchichtsfälſchung und Wortgläubigleit denn mit Worten läßt fich trefflich „ein Syſtem bereiten“ während die Beobachtung ber wirfliden Zuftände und Tatſachen ſtets eine ſchwerere und entfagungSreichere Arbeit ift zu erreihen verftanden, dab in der öffentliden Meinung Die Weſtmächte und ihre Zuftände als die eigentlichen Vertreter und wahren Bor- bilder ber politifchen Freiheit galten. Aber diefe Meinung ift unrichtig, wie Vieles, ein Peifimift würde fagen, wie das meiſte, was auf dem geiftigen Niveau der Zeitungen und Parteien allgemein behauptet und geglaubt wird. Die Franzofen haben anfheinend eine gewiſſe Liebe zur politiſchen Freiheit mwenigftens in den letten hundert Jahren betätigt. Aber dieſe Liebe ift ent- ſchieden unglüdlih und unerwidert. Das bezeugen nicht nur ihre beventenditen Geſchichtsſchreiber, Taine, Tocqueville, Nenan, Guizot, fondern noch einleud)- tender die Tatſachen. Die Galloromanen find bei ihrem Verſuch zu beſſeren politiihen Zuftänden zu gelangen, ftatt zur Freiheit in Lürzefter Friſt zur äußerften Tyrannei, in die Schredensherrichaft, gelangt, der fie dann bald die ſchärffte Militärbiktatur, unter Napoleon vorzgogen. Und fie waren vorber, im Alten Regime, in einen NAbfolutismus geraten, der fehr viel fchärfer abſolutiſtiſch und willlürlider war, als etwa die Negterungsform der deutſchen Einzelftaaten in der fogenannten abfolutiftifchen Zeit. Nur die Einzelftaaten Iönnen ja überhaupt bier herangezogen werden; im alten deutſchen Reich war die Regierungsgewalt ja keineswegs unbefchräntt, fondern in fehr genaue rechtliche Schranken gebunden. Ja man kann fagen, die alte Reichsgewalt tft an dem Über maß der rechtlichen Schranken zugrunde gegangen, an ihrem Parlamentarismus; daran daß alle weſentlichen politifchen Befugniffe ſchließlich beim Parlament,

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bei den Reichsſtänden waren. Und die Entwicklung eines gewiffen Abfolutismus in den Einzelftaaten war nur die lebensnotwendige Reaktion des gefamtdeutichen Geſellſchaftskörpers, der zu feiner Selbfterhaltung vor allem irgendeine wirkliche Staatsgewalt braudite, bei dem gänzlihen Verſagen der Zentralgemwalt.

Das alte Deutſche Reich war nicht in zu geringem Maaß, e8 war zu jehr Rechtsftaat und zu wenig Madhtftaat, könnte man fagen. „Bon der Seite der genaueften Beitimmung jedes auch noch fo geringfügigen Umftandes, der ſich aufs Recht bezieht,” fchreibt Hegel in der Schrift über die Verfaffung Deutſch⸗ lands, „muß dem deutſchen Staate bie befte Drganifation zugeſchrieben werden als einem Syſtem der durchgeführteften Gerechtigkeit.”

Au einer anderen Stelle fagt er: „Diele Form des deutſchen Staats- rechts ift tief in dem gegründet, woburd bie Deutſchen fi) am berühmteften gemadt haben, nämlid in ihrem Trieb zur Freiheit. Diefer Trieb ift es, der die Deutſchen, nachdem alle anderen eurspäifchen Völker ſich der Herrſchaft eines gemeinfamen Staat unterworfen haben, nicht zu einem gemeinfhaftlicher Staatsgewalt fi) unterwerfenden Volle werden ließ.“

Die Phrafen des weftlicden Liberalismus waren zu einem wefentlichen Teile ſchuld an den Drgien des Inverftandes und widerfinnigen Haffes, denen Deutſchland zu Beginn dieſes Krieges in der ausländifchen Preſſe preisgegeben war. Man mußte wirfii zu der verzweifelten Überzeugung gelangen, daß die Lüge ebenfoviel wert ift wie die Wahrheit, wenn man dieſe Preffe ftudierte. Die braven Gefellen Gehring, Kranp und Freiburger, die nad) Paris, bie Schweinheim und Pannartz, die nad Rom die Buchdruderkunft gebracht haben, haben fich eigentli nicht um das Baterland verdient gemadht, indem fie den ſubgermaniſchen Nationen, wie man die nachantifen Nationaltypen, den fpanifch weſtgotiſchen, den fränkiſch⸗galliſchen, den angelfähhfifch-britifchen, den longobardiſch⸗ italienifhen und fo weiter, durchaus ſachentſprechend bezeichnen könnte, die fcharfe Waffe der Buchdruckerkunſt übermittelten. Glücklicherweiſe ift ja nun, fo un- begreiflic groß die Macht der Lüge fich auch erwiefen hat, ihre Macht in der Zeit begrenzt. Schließlich dringt die Tatſache einmal durch, ob die andern fie wiflen und anerlennen oder nicht; die Tatſache, daß wir in allem, worauf e8 für die Entwidlung der Perfönlichkeit wirklih ankommt, das freiefte und am tiefften kultivierte Voll der Erde neben den Standinaviern find. Es wird ſich erweifen, fo fehr fie filh gegen die Wahrheit ftemmen.

Angefihts der glänzenden XQapferkeit unferer Zruppen halfen ſich die englifchen Zeitungen bisher immer noch mit ihren kümmerlichen Redensarten von der eifernen Disziplin, dem Mafchinengehorfam, den der preußiſche Drill und Militarismus den Deutfchen eingeprägt haben. Jettt, nachdem die jungen Regi- menter nad) paarmonatlicher Ausbildung an die Yront gelommen find, und mit ger ringerer foldatifher Erfahrung aber mit der gleihen Bravour draufgeben, werben jelbft die englifchen Zeitungen ftugig, ein jo aufrechter Wille zur Lüge auch an fi) bei ihnen vorhanden fein mag. Eine der ſchlimmſten fagte neulich,

Grenzbsten 11 1915 16

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es ftände ihnen nun nicht. mehr nur der militäriſche Bureaukratismus, jondern die deutſche Ration felber gegenüber, die aus ihrem eigenften Willen heraus - zum Kampf bis auf äußerfte entſchloſſen ſei. Ihr werdet noch mande Ent- täufhungen dadurch erleben, ihr Herren Britanefen, daß ihr eure Zeitungs- phrafen wirklich geglaubt habt! Der Auge irifhe Jude Bernhard Shaw hat euch kürzlich ſehr vorfidtig ‚und mit den üblichen Flosleln verbrämt gejagt, was euch vor einem halben Jahrhundert ſchon euer John Stuart Mil und andere gejagt haben: daß nämlich Deutichland, in allem worauf es wahrhaft. anlommt, das freiefte Land ift; daß wir leineswegs „unter dem Militarismus ſeufzen“, fondern daß vielmehr diefer, als ein Gegengewicht gegen die größte Gefahr für die Freiheit unter modernen wirtſchaftlichen Verhältniffen, gegen den Mammonismus, ein Hort der Perjönlichleit und der Freiheit ift, worüber nod einiges zu fagen fein wird.

. England Hatte unzweifelhaft, bejonders in ber eek zu. gewiſſen Zeiten die Grundzüge des germaniſchen Geſellſchaftsaufbaus und germaniſcher Achtung vor der Perjönlichkeit in ausgeprägter Form verwirklicht; aber es hat, wie jest allgemein erfennbar wird und ‚wie Schärferblidende ſchon früher aus- geſprochen haben, fein Weſen allmählich” umgebildet und verändert, beginnend etma mit dem Puritanismus und dem Sieg des Parlaments über das Königtum in der Great Rebellion und der. Glorious Revolution. .

= Es ift durchaus unrichtig, daß parlamentariſch regierte Ränder freier find al3 Länder mit ‚einer wirklichen Monardie. Erftens ift überhaupt nicht Die Inſtitution, die theoretiiche Rechtsform, beftimmend für den tatfähli in einem Gefelichaftsaufbau vorhandenen Grad von Freiheit, fondern die Stärle bes Berjönlichleitsgefühls, das in den Gliedern dieſes Geſellſchaftsaufbaus Iebt. Eine Niggerrepublik bietet mit noch fo radilaler Berfaffung ihren Genofjen niemals den Grad von rechtlicher Freiheit wie ein auf Germanen und ben entipreenden Perſönlichleitstrotz aufgebautes Gemeinwefen, ſelbſt wenn defjen Oberhaupt formell abjolute Gewalt hätte. Aber noch aus einem anderen Grunde bietet etwa parlamentarijche Regierungsform keineswegs der Nation im ganzen ein größeres Maß von perſönlicher Freiheit als andere, monardifche Negierungsformen. Parlamente find, mie Napoleon einmal fehr überzeugend darlegte, nicht eine Inſtitution des Volls, fondern einer Heinen Zahl von Leuten, die die Politik als Beruf treiben können; unter diefen find wieder ganz Heine Gruppen, einzelne Parteiführer, fehließlih allein ausfchlaggebend. Das tft aber nichts weniger als die Form, bei der die Rechte und die Freiheit der geſamten Nation am beiten gewahrt find.

Die Phraſen. des weſtlichen Liberalismus und Parlamentarismus ſchmeicheln der Eitelfeit der damit behafteten Nationen und fie werden. dadurch zunächſt unausrottbar fein. So Hört man jetzt bei Neutralen, wie Amerilanern, Schweizern, die Nedensart, der Sieg Deutichlands werde einen Sieg ber Reaktion bedeuten. Wo dies bösartig wider beſſeres Wiſſen geäußert wird, nur um

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Deutichland etwas Schädigendes oder Unangenehmes zu fagen, läßt ſich natürlich nichts dagegen tun. In anderen Fällen wird aber diefe Phrafe ehrlich für wahr gehalten. Hier bandelt e8 fi einfah um maßloſe Unwiffenheit und Unflarbeit über die tatlächlichen politiihen und fozialen Zuftände Deutſchlands einerfeit$, und über die tatfählihe Wirkung der parlamentariihen Re⸗ gierungen in Franfreih und aud in England anderfeits, von Stalien oder Griechenland ganz zu gefchweigen. Es it eben immer fo unendlich viel. bequemer, fih an eine vorhandene Formel wie bier die Inſtitution, Die theoretiſche Verfaffungsform zu halten, als die verwidelten und vielgeftaltigen: Tatſachen des Gemeinfchaftsleben zu erforjchen.

Bor allem müßte man die beharrliden Gefchichtsfälichungen, bie die. Engländer zur eigenen Verherrlihung vorgenommen haben, und die vom: Liberalismus der erjten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in fo rührender Weiſe für bare Münze genommen mwurden, einmal gründlic” befeitigen. Ein. feiner Beitrag ſei bier geliefert. Es heißt gewöhnlich, in England fei die Zortur hundert fahre früher als auf dem Kontinent abgejchafft worden; bier mar Friedrich der Große bahnbrechend, der fie nachdem fie übrigens fchon Jahrzehnte vorher in Preußen tatſächlich kaum mehr angewendet wurde fehr bald nach feinem Regierungsantritt befeitigte, nebenbei bemerft nicht ohne leb⸗ haften Widerfpruch namhaftefter RechtSgelehrter, die eine Üüberſchwemmung Preußens durch alle Verbrecher Deutfhlands davon befürdteten. Was die Engländer bei: ſich als Abſchaffung der Folter bezeichnen, weiß ich nicht; jedenfalls haben fie na aktenmäßigen Darjtellungen des neuen Pitaval nod Ende des achtzehnten Sahrhunderts die furchtbare Gemichtsfolter, die darin beitand, daß dem Ge fangenen immer fchwerere Eifenplatten auf den Körper gelegt wurden, mit Vorliebe angewendet. Bekanntlich ift auch das engliihe Gefängnis- und Straf wejen unferer Tage, das ohne Prügel nicht ausfommt, fehr viel inhumaner, übrigens au wohl unzweckmäßiger als unferes.

Zur Beit der Reformation und auch noch fpäter ijt die Sicherheit ber Bürger gegenüber Willfüraften in bezug auf Leben, Freiheit und Eigentum, worin fi die Rechtsſtaatsnatur eines Gemeinmwejens für den einzelnen zunächft am fühlbarften äußert, in Deutichland weſentlich höher als im gleichzeitigen England. Die Art zum Beifpiel, wie Philipp der Großmütige fi mit den Anforderungen der Einehe auseinanderfette, mag ihre”religiös-bogmatifchen und fonftigen Bedenken haben; fie zeigte jedenfalls moralifh und rechtlich einen fehr viel höheren Stand an, ald das Verfahren Heinrichs ‚des Achten von England, der fi) den Abſchluß einer neuen Ehe troß Beſtehens einer früheren einfach, und zwar in wiederholten Fällen, dur Hinrichtung feiner Frau ermöglichte. Mittels diefes durchgreifenden Verfahrens eriparte er fi) fomohl die Firchlichen Schwierigkeiten der Scheidung, wie die Gewiſſensbedenken wegen einer Doppelebe, die Philipp der Großmütige fih durch die vielangefochtenen Gutachten der Reformatoren zu beſchwichtigen fuchte. Überhaupt findet die grenzenlofe Willkür

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Heinrichs des Achten von England aud in anderen Dingen in den politiichen Zuftänden des gleichzeitigen Deutichland fein Gegenbeiipiel. Unter der Re⸗ sierung der blutigen Murie und jelbft noch unter Elifabeth und fpäter tft bie Staatsraifon häufig ausreichender Grund zur Befeitigung von politiſch gefähr- lien oder auch nur politiſch erledigten Perjönlichleiten durch Hinrichtung.

Daß erft auf dem Umwege über England das germaniiche Verfafſungs⸗ und Verwaltungsrecht, das der Ausdrud jenes erhöhten Perfönlichleitsgefühls des Germanen anf dem ftaatlich-reihtlichen Gebiete ift, allgemein in der Kultur⸗ welt vorbildlih wurde und dann eine ähnliche weltgefchichtliche Nolle gefpielt bat wie das römifche Privatrecht, hatte feinen Grund darin, daß in England bie inneren Gegenfäbe der Bevölkerung zwiſchen Selten, Sachen und Normannen and die dadurch hervorgerufenen fteten Reibungen zu einer genauen Feitlegung der Befugniſſe und Pflichten zwangen und dadurch die juriftifch - politifche Kultur förderten, ähnlich wie in dem ebenfalls aus verfchiedenen Stämmen zufammengefegten Rom; im Gegenfat zu innerlich gleihartigeren Gemeinweſen, wo die Ähnlichkeit der Triebe und innere Harmonie der Beftanbteile bie genauere juriftiihe Grenzziehung vielfach zu erjeben in der Lage ift.

Die enticheivenden Schlachten aber jenes jabrtaufendelangen und noch feineswegs zu Ende gelämpften Kampfes um das Recht des Individuums und die freie Entwidlung der Perfönlichleit wurden naturgemäß im germanifchen Mutterlande, in Deutfchland, geichlagen.

(Schluß folgt)

A Ed Nr X AL en.

Ein neues Univerfitätsgejet Don Dr. jur. Eduard Hubrich, o. d. Profeffor der Rechte

Jer Ruf nach einem Univerfitätsgefe ift alt, und doch ift es etwas neues, wenn jetzt auch von uns der Wunſch nach einem neuen Univer⸗ fltätsgeſetz ausgeſprochen wird. Bisher dachte man gewöhnlich bei dem Ruf nad) einem Univerſitätsgeſetz an einen umfaſſenden ge- fegliden Ausbau des gefamten Univerfitätswejensd. Wir dagegen weilen den Plan eines folchen allgemeinen Univerfitätögefebes als ein für abjehbare Zeit gar nicht zu erreihendes Phantom zurüd und wollen das neue Univerfitätsgejeg auf beftimmte Punkte befchräntt fehen. Hinſichtlich der Ausfichtslofigleit eines allgemeinen Univerfitätsgefehes benfe man doch nur an die noch immer nicht überwundenen Schwierigkeiten, welche ſich der Berfafjungs- verheißung eines allgemeinen Schul- und Unterrichtögefetes (Art. 26) ent- gegengeftellt haben. Biel zu weit auseinandergebende Wünfche, Meinungen, Befirebungen würden bei Regierung, Landtag, Voll bervortreten, wenn der Plan eine allgemeinen Univerfitätsgefebes gewagt werden folltel Aber wie es gelungen ift, dur das Gefeh, betreffend die Unterhaltung der öffentlichen Volksſchulen vom 28. Yult 1906, wenigftens einen Zeil des Elementarſchulweſens neuer gefeglicher Regelung zuzuführen, befteht die Hoffnung, daß ein neues, kluger Beſchränkung zugängliche Univerfitätsgefeg auf feiten der Regierung, wie der BollSvertretung Zuftimmung finden wird.

Um glei in medias res zu geben, ſchlagen wir etwa folgenden Geſetz⸗ entwurf vor:

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„Abänderungen der bisher vom König einſeitig erlaſſenen und ergänzten Univerſitätsſtatuten, ſowie der Erlaß neuer Univerfitätsſtatuten erfolgen in Zu⸗ funft durch ein formelles Geſetz.

Die Fakultäten, welche bisher noch leine miniſteriell beſtätigten Fakultäts⸗ ſtatuten beſitzen, erhalten ſolche binnen Jahresfriſt nad dem Inkrafttreten dieſes Geſetzes.“

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„Rechtliche Kompetenzſtreitigleiten zwiſchen dem zuftändigen Minifterium und den Univerfitätsverwaltungen, zwiſchen einzelnen Univerfitätsorganen und zwiichen einzelnen UniverfitätSangeftellten (ordentliden und außerordentlichen

246 Ein neues Univerfitätsgefet

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Profefioren, Privatdozenten, Affiitenten) unterliegen der richterliden Entſcheidung dur das Dberverwaltungsgericht in Berlin in erfter und letzter Inſtanz.

Unberübrt bleibt hiervon die gefehliche Regelung der Disztplinarverhältnifje der einzelnen Univerfitätsangeftellten.“

Der Vater des Wunſches, daß diefe oder gleichartige Beitimmungen in einem neuen Univerfitätsgefet Aufnahme finden möchten, ift das in Univerfitäts- freien vielfah empfundene Bebürfnis einer feften Garantie der amtlihen Zu- ftändigfeiten. Die gegenwärtige Lage des preußiſchen Univerfitätsrechts wird diefem Bedürfnis auch nicht im entfernteften gerecht. Das Univerfitätsredht gehört zu den dunkelſten Partien der preußiſchen Rechtswiſſenſchaft. Nur felten verliert fi der Fuß des zünftigen Staatsrechtler8 auf dies Gebiet, und wo dies auch in neuerer Zeit geſchehen, ift es bisher nicht einmal gelungen, über die erften Grundlagen diefer Materie ein fachliches Binverftändnis zu erzielen. Der Grund der herrihenden Meinungsverjchtedenheiten ift die Zerfplitterung des einfchlagenden Rechtsmaterials, das zu einem wefentlihen Zeil noch im Allgemeinen Landredt von 1794 fi vorfindet. Dabei beginnt gerade der jüngeren Generation die vertiefte Kenntnis eines fo gewaltigen Geſetzgebungs⸗ werks, wie e8 das A. L. R. ift, mehr und mehr abzugeben, und der neuerdings in der Literatur bervorgetretene Meinungszwieſpalt hinfichtlich des preußiichen Univerfitätsrechts tft zum größten Teil geradezu auf ein Nichtlennen der Ber- hältnifje und Anſchauungen des achtzehnten Jahrhunderts, weldhe doch bei der Auslegung des A. L. R. zugrunde gelegt werden müſſen, zurüdzuführen. Um nur ein ungefährliches Bild der hinfichtlich des Univerfitätsweiens herrſchenden Rechtsverwirrung zu geben, feien folgende Angaben gemadit:

Das Reichsgericht (Straffahen Band 17 Seite 210) erklärt die Univer- ftäten für öffentlich-rechtlihe Korporationen und ihre Königlich beftätigten Statuten für Nechtönormen, was unzweifelhaft aud) dem 8 2 Einleitung: „Statuten einzelner Gemeinheiten und Gefellihaften erhalten nur durch die Landesherrliche Beftätigung die Kraft der Gefege“ entſpricht. Eine Konfequenz dieſes prin- zipielen Standpunftes tft, daß bei einer Abänderung der Univerfitätsftatuten Rektor und Senat der Univerfität gutachtlich zu hören find in Gemäßbeit des 8 62 Einleitung: „Bei Aufhebung befonderer Statuten ... . müflen die- jenigen, die es zunächſt angeht, mit ihrer Notdurft gehört werden.” (Siehe aud II 8 8 118, 208). Eine weitere Konfequenz aber geht dahin, daß Ab- - änderungen der Univerfitätsftatuten nunmehr in der Gefehfammlung zu publi- zieren find (Art. 106 B.U., Geſetz vom 3. April 1846 8 1, fogenannte lex ‚Schiffer vom 10. Juli 1906). Demgegenüber hält Anſchütz die Univerfitäten für „der Auffiht und Leitung des Unterrichtsminiſteriums unterftellte Staat$- anftalten” „worüber man fi) durch die lorporativ anmutenden Einrichtungen ihrer Verfaffung nicht täufchen laſſen möge” und die Univerfitätsftatuten grundfäglih für „AnftaltSordnungen” mit dem Charakter von Berwaltungs- vorſchriften, nicht aber von Rechtsnormen. Demgemäß befteht nad Anfchüg

Ein neues Univerfitätsgefeg 247

in der Gegenwart bei Abänderungen der Univerfitätsitatuten und beim Erlaß neuer Univerfitätsitatuten fein Publilationszwang in der Gefegiammlung. Hatſchek mahnt gegenüber Anſchütz, auf die Univerfitäten nicht „den Begriff der modernen Staatsanitalten mit ihren Folgerungen” anzuwenden, bält jene aber doch im Sinne des A. L. R. für „Stiftungen“, die eventuell grundfäglich nah Il 19, nit nad dem das SKorporationsredht enthaltenden II 6 zu behandeln find. Bornhat haralterifiert troß des Einfprudh von Hatſchek die Univerfitäten weiter als „Korporationen und Anftalten” und arbeitet binfichtlich des Univerfitätsmefens, ebenfo wie Arndt, weiter mit der Idee eines „felbftändigen” Berordnungsrechts des Königs.

Bei ſolchem juriftiicden Zwiefpalt über die Grundlagen des Univerfitäts- rechts find trob guten Willen® auf allen Seiten Differenzen der beteiligten Kreife unausbleiblih, und der vorgefchlagene Geſetzentwurf ſieht daher (& 2) in einer erft- und lebtinftanzlicden Nechtiprehung des Oberverwaltungsgerichts in Berlin das befte Hilfsmittel, auf dem Gebiete des Univerſitätsweſens zu autoritativ-fiherem Recht zu gelangen. Er zerreißt nicht den Faden der Ent- widlung, will vielmehr durch die Möglichkeit einer höchftrichterlichen Nachprüfung die Zweifelsfragen des UniverfitätsrechtS zur Klärung bringen, auch dem in ben beteiligten reifen obwaltenden Bedürfnis nad) Nechtsgarantien ein Genüge Ihaffen, insbefondere den Charakter der Univerfitäten als Selbitverwaltungs- körper fiherftelen.. Es Tann für den Geſchichtskenner jedenfalls nicht zweifelhaft fein, daß die wiſſenſchaftliche Blüte der Univerfitäten mit geficherter forporativer Gelbftverwaltung im Zufammenhang ftehbt. Der Sicherung der Univerfitäten in ihrer Eigenfchaft als Selbftverwaltungstörper dient denn auch der $ 1 des Geſetzentwurfs. Der Abſatz 2 des 8 1 trägt dabei dem Umftand Rechnung, daß bisher noch immer nicht alle Fakultäten die in den Univerfitätsitatuten vorgefehenen, miniſteriell beftätigten Yakultätsftatuten befigen. Zu verſchiedenen Zeiten find von einzelnen Falultäten auf amtliche Aufforderung Entwürfe von Falultätsftatuten eingereicht, ohne daß die minifterielle Genehmigung erreicht wurde. So herrſcht auch in diefer Hinficht Rechtsunficherheit in den einzelnen Fakultäten und Ungewißbeit, auf. welchen Statutenentwurf gegebenenfalls zurüd- zugehen ift. Der vorliegende Geſetzentwurf fieht daher vor, daß die Fakultäten, die noch nicht minifteriell beftätigte Statuten haben, ſolche binnen Jahresfriſt nad) dem Inkrafttreten des Gefegentwurfs erhalten müſſen.

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Dom unbefannten Geibel Don Dr. R. Shadt

. om unbelannten? Was, wird man fragen, kennen wir von Geibel u fi nicht? Die Quellen für feine Biographie fließen reichlich, auch RN EB bei nur teilweifer Kenntnis des Nachlaſſes gibt es keine Lücken

Zain ihr, feine Rätſel, nicht einmal ein Problem. Und wer kann

EEE yon einem kaum dreißig Jahre toten Dichter, deſſen erfter Band noch bei des Verfaſſers Lebzeiten mehr denn hundert Auflagen erreicht bat, behaupten, er wäre unbelannt?

Aber gerade bie begeifterte Aufnahme, die dieſer erfte Gedichtband gefunden bat, ift der Grund dafür gemwefen, daß man den ganzen, und man darf wohl jagen, den beiten Geibel nicht kennt. Das ift nicht eine perfönliche Anficht, ein fubjeltiveg Urteil, fondern eine Tatſache, die niemand klarer ald der Dichter felbft empfunden hat. „Ih babe,” äußerte er 1872 gegen Heinrich von Treitfchle, „Das zweifelhafte Glück gehabt, mit einer frühen Sammlung fehr jugendlicher Gedichte einen Erfolg zu erringen, der zu ihrem Wert in gar feinem Verhältnis fteht; was ich dagegen als Dann bei größerer Reife und unter ernfter künſtleriſcher Arbeit gefchaffen, das ift, wohl eben infolge ber vorber- gegangenen, für jeden Berftändigen zutage liegenden Überſchätzung verhältnis- mäßig wenig in biefenigen Kreiſe gedrungen, bei denen ich am liebiten Anklang gefunden hätte.” Das melandholifhe Schidfal eines, der Modedichter wurde und verdiente, mehr zu fein!

Die Mode blieb ihm treu bis zu den „uniusliedern“, fie boten feine Über- rafhungen. Geibel war, wie das Schlagwort lautete, der Dichter der „ſchönen Form“, und da das große Publilum die fogenannte fchöne Form nun einmal für etwas ein für allemal Feftitehendes, für eine Art abftralten Geſetzes hält und auch ohnedies nur mit den größten Anftrengungen dazu zu bewegen ift, über einen Liebling umzulernen, fo galt des Dichters Entwidlung fortan für abgeichloffen. Freilich Tann nicht geleugnet werden, daß Geibel felbft nicht wenig zu diefem verhängnisvpollen Irrtum beigetragen bat. Nicht nur fand er nicht den Mut, einmal als ſchwächlich Erfanntes in einem bereit3 veröffentlichten Bande in fpäteren Auflagen zu unterdrüden bie erften Verſuche vereitelte der wohlmeinende Rat wibderftrebender Freunde er verfhmähte es auch nicht,

Dom unbefannten Geibel 249

einen neuen „fälligen“ Band durch Beigabe von älteren oder mehr oder weniger gelungenen Überarbeitungen von älteren Gedichten auf den nötigen Umfang zu dringen. So bat er felbft, das Publikum, wie die Kritik täufchend, die Refultate feines ernften, ftetigen Strebens verwiſcht.

Und mas die Enthufiaften nicht zu würdigen veritanden, wie hätte e3 bie feit Ende der achtziger Jahre gegen den Gefeierten einfegende Oppofition kennen folen? War es doch gerade der auf Koften von Mörile und Storm, Hebbel und der Drofte übermäßig geſchätzte Verfafjer der „Gedichte“ und „Juniuslieder“, den es anzugreifen galt, die übrigen Bände, die in weitere Kreife faum gewirkt Hatten, ließ man unzerzauft, zum mindeiten ließ man fi), begreiflicherweife durch die Lektüre der früheren Bände ermüdet und enttäufcht, durch Geibels Verwiſchungsverfahren irreführen. Und fo iſt es gelommen, daß man nod) heute von einem unbelannten Geibel ſprechen Tann.

Das ift feine ausgedachte Konftruftion. Jeder Leſer kann die Probe gleich an ſich ſelbſt machen. Wir alle haben Bätern und Tanten mit Recht opponiert, wenn man, wie es felbit Goedele tat, das aus lauter blafier Reflexion zu- ſammengeſetzte „Minnelied“ lobte, aber wie wenige lennen auch jenes feine Heine Porträtgedicht „Die Braut“ (aus den „Neuen Gedichten“), vor dem freilich Möriles „Berlaffenes Mägdlein“ die anſchauliche Situation voraus hat, das aber fonft an Zartheit der Piychologie und überzeugender Einfachheit in deutjcher Lyrik unübertroffen daſteht. Wir alle kennen jenen öldruckhaften „Zigeunerbuben im Norden“, aber wie felten hört man ein Wort über das dritie und fünfte Stück der „Erinnerungen aus Griehhenland“. Und fo ließen fi nod eine große Neihe von Gedichten Geibeld anführen, die ſämtlich zu wertvoll find, um vergefien zu werden’). Bon diefen und ihrem Dichter fol bier die Rede fein.

Bergegenwärtigen wir uns zunächſt deſſen Werdegang. Dft genug bat man den jungen Geibel grollend einen farblofen Mufterfnaben genannt, was im ganzen der Wahrheit durchaus entfpriht, ohne daß es, wie man gemollt dat, feine Lünftlerifhe Begabung in Frage ftelen mußte. Schon früh aber treten an dem Mufterjüngling, defien jchöne und wohlgeformte Briefe (erfchienen dei Karl Eurtins, Berlin, übrigens eine wahre Mufterfammlung, die jeder Sekundaner befigen follte) Goedeles Biographie zugrunde lagen, zwei Charalter- züge als auffällig hervor: der Drang in die Yerne, nad dem Süden, und bie feftgemurzelte Liebe zur Heimat. Dieje echt deutiche Vereinigung zweier ſcheinbar unvereinbarer Charalterzüge iſt bei Seibel nur dadurch zu erflären, daß er fein Gegenwartsmenſch war. Er fehnte fi) oder ſchaute zurüd, weshalb aud in feiner Liebesiyrif die Erwartung oder die Klage um den Berluft die Aus- ſprache glüdlichen Befiges bei weitem überwiegt. Er fehnte ſich oder fchaute zurüd, aber, wenn aud mit Iyrifher Klage, ohne jede Zerifienheit. Vom

*), Man findet fie in der von mir berau&gegebenen, kürzlich bei Heſſe und Beder, Leipzig, erihienenen Auswahl aus Geibeld Werten.

250 Dom unbefannten Seibel

jungen Deutſchland, das die geruhfamen Waldesſchatten und das realitätsent- rüdte taugenichtfige Bummelleben der jüngeren Romantik aus Widerſpruch gegen eine weichlich entartete, geiftig gelnebelte Zeit gar zu ungeftüm mit einer raſch aber oberflächlich erfaßten und daher chief und tendenziös gefehenen Wirklichkeit vertauſchte und deſſen unabweisliche romantiſche Gefühlsrüdftände fi in falſch geſchminkter Sentimentalität oder in negierendem Weltſchmerz Luft machten, trennte Geibel eine Welt. Er gehörte noch zu jenen harmoniſch ausge⸗ glidenen Menſchen einer für uns längft vergangenen, uns faft unverftändlich gewordenen Epoche, die ſich nicht, fozufagen von Gegenſatz zu Gegenſatz fpringend, fondern langfam in traditioneller Gebundenheit aber organisch wachſend entwickelten. Bei aller Spielerei, die mit unterlief, waren die Elemente feiner Yugendbildung: das Baterhaus mit dem proteftantifhen, tüchtigen Bürgerleben, alte Philologie, von der man damals auf der Schule noch einen lebendigen Begriff befam, und moderne Dichtung Schiller, Goethe, Shalefpeare, Heine, die Damals eben noch nicht fo fehr als Klaffiter fondern mehr modern anmuteten, feit in feiner Natur verankert. Und fo wenig ber Gegenmwärtige fi über dieſe Einflüffe Mar wurde, fo lebendig machten fie fi dem Abmefenden bemerkbar. Nicht als Entdeder, noch minder als moderner Analytifer ging er nad) Griechen- land, fondern als ein Verehrender, der das von frommgläubigen Altphilologen in ihm SHineingelegte und dankbar Empfangene durch eigene Anſchauung zur höchſten Lebendigkeit zu fteigern trachtete. Aber gewiß war e8 nun ein Zeichen beginnender Reife, daß er auf griechiſchem Boden bei aller body gehenden Begetfterung für die Antile doch nicht, wie etwa Platen, felbft zum Griechen wurde, fondern die in der Heimat wurzelnde eigene Kraft erfannte. Und fo fpiegelt denn fein erfter Gedichtband weniger da8 in Griechenland Erworbene (die „Diftihen aus Griechenland” kamen erft in die zweite Auflage) als den zum Ausdrud drängenden Stand feiterworbenen organifch verarbeiteten geiftigen Befitzes. Faft alles in diefem Bande ift bei aller oft und mit Recht betonten Unfelbftändigleit fertig, abgeſchloſſen. Sein großer, übrigens erſt allmählich fich einftellender Erfolg und die Sprödigleit der Kritik werden zum größten Zeil dadurch erflärt; denn wenn es dem vorwärts blickenden Kritifer, der feiner Natur nah) das Publitum auf Neues, Zuentdedendes hinzuweifen bejtrebt ift, befonder8 bei einer Erftlingsarbeit Iodt, Keime des Neuen, Vielverfprechenden zu finden und hervorzuheben, fo zieht eben das Publikum, der gleichermaßen Kenntnis wie Witterung vorausſetzenden Arbeit Tritifcher Spürkunſt den bequemen Genuß auf bereit$ zugänglich gemaditen und belannten Bahnen vor.

1847 wurden die „Juniuslieder“ veröffentliht. Ste gelten als Geibels charakteriſtiſcher, vielfach auch als fein befter Band. In der Tat kommt er bier dem, was man gemeinhin „ſchöne Form“ nennt, am nächſten. Aber alles gemeinhin Genannte und daher oberflächlich Gelannte ift nichts als ein Schema und fo tft denn auch tatfächlich die Yorm der „Juniuslieder“ häufig nichts mehr

Dom unbekannten Geibel Ost

als bloße und unperſönliche Abftraktion. Gegen die „Gedichte“ gehalten, find die Anflänge an andere freilich vermieden, der Inhalt ift bier nnd da reifer geworden, aber wer merlt es dem Bande, abgefehen von einigen Selbftbefennt- niffen (Bonatuslieder, Ein Bild) an, daß er in das für den Dichter von be» ftändiger Unruhe erfüllte Jahrzehnt zwiſchen dem griechiſchen Aufenthalt und der Berufung nad München fällt? Gerade diefer Unperfönlichleit aber lag ein perſönliches Streben zugrunde. „Es ift ſchön,“ fchrieb er 1847, alfo dem Erſcheinungsjahr der „Juniuslieder“, „ein Dichter zu fein, aber e8 ift ſchwer, unendlich ſchwer. Denken Sie fi ein Gemüt voll vielfeitiger Empfänglichkeit, vol inniger raftlofer Sehnfucht, voll verbhaltenen Feuers, wie das Gemüt jedes echten Poeten es fein muß, benlen Sie ſich das tm wechfelnden Verkehr mit Zaufenden, einfam hineingeriffen in den Strubel blendender Gefelligleit, bewegt und durchſchüttert von den Pulsfchlägen der Zeit, bezanbert von dem Glanze, abgeftoßen von der Hoblheit neuer fi ihm aufſchließender Lebensiphären, heute in fühner Yugendluft anfjauchzend, morgen durch bittere Enttäuſchung gefräntt, und fühlen Sie dann mit mir, wie ſchwer es fein muß, in dieſem haſtig ftärmifchen Leben, in all der blühenden Verworrenheit immer das rechte Gleich- gewicht zu bemahren, immer rein von Eitelfeit und Sinnlichkeit, frei von Selbft- betrug, Übermut und Verzagtheit zu .bleiben.“ Deutlich fpürt man unter diefen vorfihtig andeutenden Worten, auf was e8 anlam. Geibel war eben alles andere als ein bloßer Schöngeift, er war ausgeſprochen choleriſch veranlagt, ein temperamentooller heißblütiger Menſch. Aber in feinem ganzen Leben, das wir ziemlih genau kennen, ift fein Abenteuer. Niemals hätte er es fertig gebracht, aus Leidenſchaft einen Fehltritt zu begehen, nicht aus QTemperament- lofigkeit, jondern weil er durch die Tradition des bürgerlich tüchtigen fromm- fittlichen Eiternbaufes gebunden war. Doch oft genug mag er während der rubelofen Wanderjahre, in denen er bald bier, bald dort das verwöhnte, verführeriich ungebundene Leben des überall hochgeehrten Gaftes führte, der nur empfing und nichts zu geben brauchte, als was Laune und QTemperament mühelos ge- währten, um feinen fittliden Halt, um feine geſunde Weiterentwidfung gebangt haben. Er jehnte fih nach Ruhe, nad) Bodenftändigfeit, nach einer Lebensform. Aber vorderhband blieben fie ihm, der fi in fein feltes reales Verhältnis finden Tonnte, Ideale: die traditionellen Ideale ftanden ihm über den wirklichen Dingen. Dies eben ift es, was den Epigonen ausmadt. Er wagte nicht, fi der Leidenſchaft hinzugeben und dichtete fie daher zur „Minne”, dem Begriff des Mittelalters, um, wagte nicht, fidh der Politit tätig in die Arme zu werfen und wurde zum Sänger, der über den Parteien ftand. Das ift der Dichter der „Juniuslieder“, der ſich hinter der idealen Form verftedt, ftatt fie aus ſich zum eigenen Ausdrud neu zu geftalten. Aber, mag man es nun Zufall oder, fataliftifcher, Schidfal nennen, feinem Streben ward Erfüllung: er fand eine fefte Lebensftellung, gründete einen eigenen Hausftand, genoß ſoviel ruhiges Glück, wie es nur felten einem Sterblichen zuteil geworben ift.

Dom unbefannten Geibel

1D ot IV

Er gelangte zur Ruhe; aber nicht bloß zur Ruhe. Er kam nad München nicht al8 Privatmann, fondern berufen als offizieller Vertreter großer deutſcher Kunft, als Lehrer an der Univerfität, als Freund des Königs. Er gehörte ſich nicht reftlos ſelbſt an, er follte und mußte repräfentieren, ein Leben ber Form führen. Was ihm Ideal gewejen war, die Form, bier wuchs er hinein und wurde fo zum Nepräfentanten der Form in jedem Sinne. Und fo war die Form auf einmal fein bloßes deal mehr, fie wurde Erlebnis, das Erlebnis, das den fpäten Geibel ausmadit.

Doch die Form will Inhalt, wenn fie nicht leer werden fol. Woher aber follte Geibel, der jegt weniger denn je die Gegenwart finnlich ergreifen konnte die Echönbeit der ſüddeutſchen Natur blieb ihm verfchlofien den Inhalt nehmen? Da waren es, wie einft in Griechenland die Erinnerung an die Heimat Geftalt in ihm gewann, jegt jene Erlebnijje, die in ihrer Gejamt- ftimmung dem forglofen glänzenden Leben, das er in München führte, am meiſten ähnelten: die feines griechiſchen Aufenthaltes. Aus ihnen ermuchien die „Srinnerungen an Griechenland“. Es find lyriſch gefärbte Landſchaftsbilder; aber fie find weder mit Reflexion durchwachſen oder durch hiftorifche Neminifzenzen gefärbt wie bei Platen, noch aus lebendig aber einzeln erfahtem Detail zu- fammengefeßt wie bei der Drofte, noch liegt über ihnen der feine norbifche Geeluftton der Stormſchen Lyril. Es find durchweg Fernbilder, wie die deutſchen Stalien-Landfchaften der Yahrhundertmitte, mit mwenigem fchlagendem Detail von typiſcher Beleuchtung in fcharfem Sonnenlicht unter einem weithin ſich dehnenden Himmel und vor einem weitgeftredten Horizont. Es tft weniger Zraum in ihnen, weniger Empfindung als ein „wortlos Schauen, tief und Mar“; das tiefe forglofe Glücksgefühl, wie e8 den Nordländer erfaßt, der ſich zum eritenmal dem Eindrud der Maren, fonnigen Weite füdlicher Landſchaft bingibt.

Beraufht von Glanz und Düften,

Das Herz in tiefer Muh’,

Bedüntt mich fait, wir fchifften

Den ſel'gen Inſeln zu. Das ift feine Epigonenpoefie mehr, das ift eigenes Gewächs. Und daß e8 Das mar, beweiſt Geibels unbeftrittene Autorität im Münchener Dichterfreis. Niemals Hätten die größtenteils Neues erftrebenden Syüngeren einem bloßen Epigonen eine ſolche Stellung zugeftanden.

Es fann nicht die Rede davon fein, bier, auf beichränttem Raum das gefamte fpätere Schaffen des Dichters einer eingehenden Analyje zu unter ziehen. Die angeführten „Erinnerungen“ mögen als typiſches und mahnendes Beifpiel genügen. Nur von einer gleichfalls viel zu wenig gelannten Gruppe muß noch die Rede fein: von den Vaterlandsliedern. Wir Deutſchen find uns, nach unferer Weife, unfer Beftes allzu gering einzufchägen, faum bewußt, was wir an dieſen krafterfüllten Liedern für einen wertvollen Schag befigen. Hätten Sranzofen oder Engländer desgleichen, wir würden Proben davon in jedem

Dom unbefunnten Seibel 253

—o —⸗

fremdſprachlichen Schulbuch haben. Von den meift über ihr poetifches Verdienſt gerühmten Freiheitspichtern ift Geibel an Fülle keiner, an Kraft nur Arndt zu ver- gleihen. Gewiß läuft in den früheren Stüden bewußte oder unbemußte Nachahmung des MittelalterS mit unter, gewiß ift manches heute ftofflich veraltet, aber wo ift zum Beilpiel in unferer jüngften Kriegsigrif irgend etwas, das an repräfentativer Kraft, an Größe der Gefinnung und formaler Vollendung dem empfindungs- gefättigten Sonett „beim Ausbrud des Krieges mit Dänemark“, in dem fi Ianggeftaute Hoffnung in kraftvollen Säten Luft macht und heiße Freude über bie endlich gelommene Zeit des Handelns brennt, wo etwas, das den Rhythmus freudig wogender Volksmaſſen deutlidder zum Ausdrud bräcdte als das im lauteften Jubel noch ernſt wuchtige Lied von Düppel, wo etwas beftimmter und fühner als das Lied „Was wir wollen“ mit feinem eifernen, auch heute wieder pafienden Refrain, und melde Siegesſymphonie in dem „Hochzeitslied an Deutich- land“. Es ift nicht die Stimmung des Augenblids, die uns diefe Dinge wieder ſchätzen lehrt! fie gehören, ganz abgejehen von ihrer jebigen Aktualität zu dem beften, was wir von deutſcher Poefle haben, es ift nicht die edle Gefinnung allein, die uns anfpridt, fondern in mindeftens gleihem Maße die fchlechthin vollendete Yorm. Hier war Seibel der gegebene Mann. Die Entmwidlung Deutſchlands zum Kaiferreih war die einzige Hoffnung, die dem verwöhnten Liebling des Glückes erft nad) langem bangen Harren reifte, neben feiner formalen Stellung die einzige, die den ganzen Menfchen wirklich und dauernd ergriffen hatte. Er, der fein Leben lang im Genuffe königlicher Penſionen ftand, war gleihfam zum Sänger des Volles ſchickſalsbeſtimmt und er entzog ſich nicht, wann immer die Stimmung des Volles nad) Ausdrud verlangte. Dabei fügte es das Glüd, das nur verfchwindend wenigen der Heutigen vergönnt ift, daß er zeitlebens über den Parteien ſtehen konnte und den eigentlichen Ereignifien fern genug war, um, ftatt am Detail zu leben, nur den großen Allgemein- beiten in fchlagenden Wendungen und einfachen Bildern, die von allen, dem Höcjften, wie dem Geringiten mitempfunden werden, Ausdrud zu geben. Hier fam ihm feine mufilalifche Begabung, der Inſtinkt des Liederdichters zu Hilfe: fein einziges faft der Stüde in den „Heroldsrufen“ bleibt als Leſegedicht im Bude fteden, Tein einziges ift bloß der Ausdrud eines einzelnen, an den einzelnen fi) wendend, alle fordern fie das Echo der Maſſe.

Diefer Geibel zum mindeften tft nicht veraltet. Dielleiht wird man verſuchen, von Hier aus wieder ein neues Verhältnis zu dem Bielgefchmähten, nur balb Selannten zu gewinnen.

Maßgebliches und Unmaßgebliches

Wirtfchaft

Im Reiche des Geldes von Leo Yolles. Berlin und Leipzig bei Schufter u. Loeffler, 1915.

Das Bud enthält 44 don den Finanz⸗ berichten, die der Berfaffer im „Zag”, in der „Zukunft“ und in der „Neuen Freien Preſſe“ zu veröffentliden pflegt, in drei Gruppen ab⸗ geteilt: Die wirtichaftliche Perſönlichleit; Börfe und Spieler; Geld, Geldmadt, Geldmacher.

Der Krieg, dad haben ſchon viele aus⸗ geiprochen, ift ein trefflicher Lehrer der Volls⸗ wirtihaft. Das Weſen des Geldes hat Adam Smith aufgeflärt, aber felbft die Männer vom Fach vergaßen e8 manchmal, und im Volke war die richtige Einficht wenig ver- breitet. Der Krieg nun bat die Wahrheit fo grell beleuchtet, daß fie auch dem blödejten Auge nicht länger verborgen bleiben Tann. Der Reihtum befteht niht aus Geld, fondern aus Gebrauchsgütern. Das Geld ilt nur dag Nad, da3 die Güter umtreibt, einem jeden feinen Einfommenanteil zuführt, dazu Re⸗ präfentant der Güter und Wertmefler. Es macht niemals auch nur den kleinſten Teil des Einkommens aus; ein nicht ſehr bes deutender Teil des privaten und des Volksvermögens iſt es nur in der Geſtalt von Hartgeld. Die Güter laufen nicht dem Gelde, ſondern das Geld läuft den Gütern nach. Das engliſche Geld Läuft jetzt amerikaniſchen Kriegslieferungen nach und fällt mit ihnen ins Waſſer. Deutſchland hat Geld, ſeine Finanzen ſind geordnet, weil es die Güter, die es braucht, ſelbſt erzeugt, Nahrungsmittel allerdings nur in nicht ganz ausreichender Menge. Sonderbarerweiſe ſchreibt Jolles Seite 181: „Die Zollpolitik hat es dahin gebracht, daß das deutiche Volt zur Dedung feines Bedarfd ausländiſches Getreide in wacjender Menge kaufen muß.” Bekanntlich hat die Zollpolitif die Yandivirte in den Stand gejegt, durch Intenſivizierung des Betriebs

den Ernteertrag ftetig zu fteigern und fo mit dem Wachstum der Bevöllerung einigermaßen, wenn auch nicht völlig, Schritt zu balten. Freilih hat die Anwendung dieſes Mittels, des Zollihuged, ihre Grenzen und vermag die Urſache der Rahrungsmittelfnappheit, die Bodentnappheit, nit zu heben Die Auf» klärung der verſchiedenen Begriffe, die mit dem Worte Kapital verbunden werden, ver⸗ danken wir Rodbertus. Das Geldlapital ijt ein Rechtsanſpruch. Die Hypothek, die Aktie madt den Inhaber zum Mitbefiger eines Zandgut3, eine® Bergwerks, und verleiht ibm das Recht, einen Teil des Ertrages, alſo des Arbeitproduftd anderer, jür fih ein» zuziehen; der Staatsſchuldſchein weilt auf den Steuerertrag de3 Staates, alſo auf dag Arbeit» produft der Geſamtheit feiner Bürger an. Der Wert eined ſolchen Kapitalftüds hängt davon ab, ob und in weldem Maße der Rechtsanſpruch verwirklidt werden Tann. Marianne muß ihre Rechtsanſprüche in den Schornftein fchreiben, weil Ruſſen, Serben und Güdamerifaner keine Zinſen zahlen fönnen, und Kohn Bull fann die Binjen feiner in überfeeijhen Unternehmungen angelegten. Kapitalien nicht hereinbekommen, weil der Krieg den Weltverfehr unterbindet und eine Weltdepreifion zur Folge Hat. Nur der Wert der im Inlande angelegten Kapitalien ift fiher. Der Wert der Nealgüter gegenüber dem Gelde tritt dem aufmerffamen Lefer des Buches don Jolles fchon in dem Umijtande entgegen, daß die deutfchen Männer, deren Charafterjfigzen in den Auflägen der erften Gruppe gezeichnet werden, die Krupp, Loewe, Nathenau, stirdorf, Thyſſen, Stinnes captains of labour, Organifatoren der Güterproduftion, die amerifanishen mehr Spelulanten als Produzenten, die franzöfifchen Geldfürften find.

Der Krieg hat alſo der Mberfhägung des Geldes ein Ende gemadt. Aber als unent» bebrliches Werkzeug des Güterumlauf3 darf

Maßgebliches und Unmaßgeblidhes

es auch nicht unterfhägt werden, und wer ed rihtig verwenden will, muß die Gejeke iennen, nad denen es Wirkt. Jolles bat darum recht daran getan, daß er der Auf forderung ſeines Berlegerd gefolgt ift, und ſich dur die don verſchiedenen Seiten zu erwartenden Einwendungen bon der Ver—⸗ öffentlihung in Buchform nicht hat abhalten laſſen. Diefe Auffäge hätten doch nur für den Tag, höchſtens für die Woche Geltung, werde man fagen; aber „in der wirtichaft- lichen Entwidlung gibt es Grundlinien, die immer da find“. In der Tat, was er zum Beifpiel über dad Weſen und die Biychologie der Spetulation, über den Unterichied des franzöliihen vom engliiden Wirtſchaftsleben jagt, wird bis in eine ferne Zukunft Geltung behalten, und man wird fih im Wandel der

Zeiten noch oft daran orientieren. Denen

aber, die ihm die feuilletoniftiiche Behandlung der Geldfragen vorwerfen, werden feine Leſer antworten, daß fie für die genießbare und Genuß gemwährende Form dankbar find, in der er den trodnen und nüchternen Stoff darbietet. Daß er von der Schulzeit ber noh mit den Muſen Yühlung unterhält, bemeift die griehifhe Widmung an Harden, und mit der Abhandlung über den Börfenwig bat er die Aſthetik um ein Kapitel bereichert.

Zu vollöwirtihaftlihen Abhandlungen dürfen ſich Taged« oder Wochenberichte natürs ih nit auswachſen, aber bie und da hätte

ohne Üiberfchreitung ded Rahmen? wünſchens⸗

werte Auskunft über eine Wichtige Frage gegeben werden Tönnen. So möchte man in dem Kapitel über des James Batten Weizen- corner gern erfahren, um wie viel und auf wie lange diejer den Weigenprei® erhöht hat, ob den Weltpreis oder nur den Preis im Bereich der Union. Ich war bisher über- zeugt, daß wegen der ungeheuren Menge der Ware und unter den heutigen Verkehrsver⸗ bältniffen fpelulative Erhöhung des Preiſes der Brotfrühte ebenjowenig mehr möglid) fei wie fünftlicher Preizdrud, der Weltpreis diefer Ware wirklich nur durch das Verhältnig des Vorrats zum Bedarf bejlimmt werde (für Länder, die überhaupt oder zeitweilig durch einen Krieg vom Weltverfehr abgejperrt find, gibt es natürlich feinen Weltpreis). Ich mödte nun wiffen, ob Patiens Erfolg oder Dißerfolg diefe Überzeugung umftößt. oder

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betätigt, wa nur aus Yablenangaben erjehen werden Tann. Daß man den Nendelsſohns ihre Ruſſengeſchäfte nicht ala Verbrechen an« rechnen, ihnen die Beſchwörung der 1905 drohenden Panik der Ruffenbefiger nicht übel nehmen darf, ift richtig; Geſchäft ift Geihäft;.. aber bei diejer Gelegenheit wäre die Frage aufzuwerfen geivefen, wie fich die Regierung ſolchen Geſchäften gegenüber zu verhalten hat. . Die fetten PBropifionen, die ruffiihe Anleihen. abwarfen, waren damals fchuld, daß aud Blätter, deren Redakteure Rußland Haflen, die Verbreitung ungünftiger Meinungen über diefen Staat möglichft Hinderten. Hätten unfere Staat3männer die Tatſache ind Auge. gefaßt, daß eine friegerifhe Auseinanders jegung mit Rußland über furz oder lang undermeidlih fein werde, dann bätten fie, wahrſcheinlich die Panik als ein zwedmäßiges Borbeugungsmittel gefördert. Jolles fpottet: über die Angft. dee BDeutihen vor der. Milliarde, über die Bejorgnid, ob die un⸗ geheuren Summen, die den Banken ander» traut werden, dort auch ficher aufgehoben. feien.. Ob die Sicerheitömaßregeln zum. Shug dor Schädigungen durh Bank und Börfe, die unfere Gejeggeber beliebt haben, gerechtfertigt und zwedentjprechend find, vers. mag ih mit meinen ungenügenden finanz». wiſſenſchaftlichen Kenntnijfennicht gu beurteilen, aber fo ganz unbegründet find denn dod die. Beforgnifie de Publikums nicht, da® gern willen möchte, wa3 mit feinem Gelde geſchieht, wie die franzöſiſchen Schwindelgeſchichten beweifen, die Jolles ſelbſt erzählt. Voll gemacht und ſchonungslos enthüllt hat freilich das Elend der franzöfiihen Sparer erft der Krieg, und darüber werden wir ja in dem verſprochenen ziweiten Bande des „Seldreiches“, der „Die Wirtſchaft im Kriege“ behandeln fol und auf den wir und freuen, genaue

Auzfunft erhalten.

Einer der dom Sriege hell beleuchteten Wahrheiten, die oben flüchtig berührt wurde, mögen bier noch einige Sätze gewidmet werden. Franz Oppenheiner hat im Februar⸗ und im Märzheft der Neuen Nundfhau die volkswirtſchaftlichen Lehren des Krieges jehr Ihön dargeftellt, hat fi aber durd feinen piychologifhen Irrtum, dem ich ſchon öfter entgegengetreten bin er denit fi die Menſchen als Wafjertropfen,. die fi) auf jeden

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Drud Hin nad den Gefegen der Mechanik bewegen zu folgender ungeheuerlicher Mbertreibung des wirtiaftlihen Anpaſſungs⸗ vermögens verleiten lafien: Wenn fi auf da8 Geheiß de zürnenden Pofeidon im Meer eine Phãakenmauer erhöbe und England von der übrigen Welt bermetifh abiperrte, fo würde Teineswegd eine Hungersſsnot auße brechen, fondern die hohen Lebensmittelpreife würden die Kapitalien in die Landiwirtfchaft Ioden, und über die Zeit biß zum erhöhten Ernteerirag würden Berteilungsmaßregeln der Regierung hinwegbelfen. Abgefehen vom pſychologiſchen Srundirrtum ftehen der Ber wirflidung der Phantafie drei Hindernifle im Wege, deren jedes für fih allein ſchon mädtig genug wäre, das Gelingen gu ver⸗ eiteln. 1. In Deutſchland ift die Anpaflung der Wirtſchaft an die Kriegdnot gelungen, weil den Anpafiungsprogeß eine Negierung leitete, deren Organiſationskraft beiſpiellos daſteht in der Weltgeſchichte, und weil fie Dabei von berufſtändiſchen Organiſationen unterftügt wurde, die ebenfall® ibhresgleichen nit haben in den übrigen Staaten heutiger Zeit. In England, wo unter dem Ramen der Freiheit mandefterlich -individualiftifcher Schlendrian herrſcht, fehlen ſolche orga⸗ nifierende Kräfte. 2. Bei der deutſchen An⸗ pafſung handelte es fih einmal um die Überführung von Kapitalien und Induſtrie⸗ arbeitern aus den einen Induftriezweigen in andere, und zweitend um die Einteilung und Verteilung der vorhandenen Lebensmittel. horräte, die zwar fnapp, aber doch eben vor» handen waren. Den Borrat zu bermehren ift aud) die erftaunliche deutfche Organifationg« fraft nicht imftande geweien, und fie wird aud den Ertrag der nächſten Ernte nit weientlih über den Durchſchnitt erhöhen. Andufirieerzeugniffe fönnen mit Dampf- und Clektrigitätsgefchwindigfeit vermehrt werden, Pflanzen und Tiere brauden ihre bon der Ratur unabänderlid beftimmte Leit zum

Maßgebliches und Unmaßgebliches

wachſen und reifen. Und ehe der neue englifhe Weizen reifte, müßte er erft gefät werden auf den Flächen, die jet Weide oder Bar! und Xagdrevier find; dazu wäre bie Anlegung von einigen hunderttaujend Bauer» wirtſchaften erforderlid in einem Lande, wo es gar leine Bauern mehr gibt; wir aber, die wir noch Bauern haben, wiſſen, was trotzdem innere Rolonifation in hundert⸗ mal Tleinerem Umfange für ein ſchwieriges, langwierige und Toftipielige® Berl if. 8. Und woher die Menfhen nehmen für diefe® Wert? Nah der Niederiwerfung der Burenrepublifen feufzte die Saturday Rebiew: „mehr Land hätten wir nun wieder, aber wober Bebauer nehmen? Unfere ganz ber» ftädterte Bevöllerung taugt nicht zu bäuer- liher Befiedlung.” Aus dem dritten Bande des Jahrgangs 1918 der Örenzboten Seite 119 und 201 haben wir erfahren, daß ed aud in Kanada nit erwachſene großftädtifcdhe Broletarier find, die der weiteren Befiedlung dienen, fondern Sinder, die frühzeitig ihrem ungefunden Milieu entriffen, für diefen Zweck erzogen werden. Und wären diefe drei um überfteiglihen Sindernife überwunden, fo Yönnte Englands Bolt immer noch nidt auße ſchließlich vom eigenen eigen leben, weil die 151000 Quadratlilometer von England und Wales nun einmal nicht hinreichen, 34 Milli- onen Menfhen zu ernähren. Der Boden bes alten Babyloniens und Agyptens hätte je noch mehr ald 288 Menſchen auf den Quadrat» tilometer zu ernähren vermodt, und im tro⸗ piſchen, im fubtropifhden Amerila mag eb noch viel folden Boden geben; aud Indien würde bei rationellem Betrieb der Lande wirtihaft und bei mufierhafter Verwaltung bon Hungersnöten verſchont bleiben, aber England liegt nun einmal nidt in den Tropen. Möchten fih unfere Bolikiter nicht irre führen laffen dur phantaftiide fiber» treibung der Anpafiungsmöglichleiten! Dr. Earl Jentſch

Allen Manuftripten it Ports hinzuzufügen, da auberufais bei Ublchuung eine Nüdfenbung nicht verbürgt werden Tann,

er Grlaubnis des

Natarud fämtiiider Uuffäge nur mit ansbrädiie Beriags geiattet, Weorautwertii: ber Geranbgeber Georg Cleinon in Berlin - Lichterſelde Weſt. BRanuftriptiendungen u.» Be unter ber Adreſſe:

ben Geransgeber der © in Berlin - Bidhterfelde Weſt, Gterufirahe 56, des Herantgebers: Amt —— 408, bes Berlags und ber Eariftieitung: Umt Süden MEIO. Berlag: Berlag der Grenzboten ©. m. 5. 9. in Derlin SW 11, Xempeiboiec Uſer Ana. Denk: „Der Weigäbete" ©. m. 5.9. in Berlin SW 11, Deffauer Strahe 36/87.

Der Preis für Italiens ITeutralität

Don George Ic. Elellan, Profeffor der Nlationalöfonomie an der Univerfität Princeton U. S.

George Me. Elellan, der für einen vorzügliden Senner der europäifhen Geſchichte gilt, Hat den nadjfolgenden Auffag in der Rew Hort Times Magazine veröffentliht. Wir geben jeine Auß- führungen als Beiſpiel einer „neutralen“ Beurteilung der Sadjlage in der Tiberfegung von Dr. Reinhold Schmidt ungefürzt wieder, obgleich fie, joweit fie Vermutungen über die zu erwartende Stellungnahme Italiens enthalten, durch die Ereignifje überholt find. Die Scriftleitung

enn man den Gerüditen, die wir fürzlihd von Rom vernommen haben, glauben darf, jo ſchließt das Gebiet, das Italien als Lohn feiner Neutralität von Oſterreich verlangt, ganz Sübtirol AM füdlich des Puſtertales ein, ferner Görz, Gradisca, Trieft und

4 ganz Iſtrien mit etwa einem Dutzend der größten Inſeln, die an der kroatiſchen und dalmatifchen Küfte liegen. Mag es nun die wirkliche Forderung der italienifhen Regierung fein oder nicht, jedenfall ftellt dies die Wünſche eines großen Teiles des italieniſchen Volles dar, das kürzlich Die „irredentiftifche Bewegung“ wieder hat aufleben lafjen, die im lebten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts jo mächtig war.

Im Sabre 1878 erwartete das junge Königreich Italien, im Vollgefühl jeiner neugefchaffenen nationalen Einheit, vertrauensvoll an der Verteilung der türfifchen Beute auf dem Berliner Kongreß teilzunehmen. Nicht nur wurde diefe Hoffnung vereitelt, ſondern Italien hatte auch noch den Schmerz, zu jehen, wie fein Erbfeind, Ofterreich-Ungarm, die Berwaltung Bosniens und der Herzegowina zugeiprodhen befam. Als Ergebnis diefer Enttäufhung und aus Haß gegen Dfterreich erhielt die Bewegung für ein „Größeres Stalien“, die bi8 dahin nur wenig Fortichritte gezeigt hatte, plöglich große Lebenskraft. Das Evangelium eines „Italia Irredenta“, des noch nicht erlöften, unter fremdem Joch jeufzenden Italiens, wurde im ganzen Königreich gepredigt, und feine Prediger

Grenzboten II 1915 17

258 Der preis für Jtaliens Xeutralität

beftanden darauf, daß Italiens Einheit nicht eher vollftändig wäre, als bis alle Italiener unter der Herrichaft des Hauſes Savoyen vereinigt feien.

Die Sprade wurde zum jchiedsrichterliden Prüfitein gemacht, aber felhft diefer Prüfftein, der natürlich falſch tft, wurde nicht ftreng und logiſch angewandt. Die Irredentiſten verlangten die Einverleibung von Südtirol einſchließlich Trentino und des ganzen Gebietes ſüdlich des Gipfels des Brenner Paſſes mit ſtark deutfcher Bevölkerung; ferner das ganze öſterreichiſche Küftenland mit Fiume mit großenteils deutſcher und ſlawiſcher Bevöllerung; ben Schweizer Kanton Ticino, fowie Nizza, Corfila und Malta. Eine Verwirklichung ber irredentiſtiſchen Beftrebungen hätte natürlich Krieg bedeutet, und zwar nicht wur mit Öfterreih, fondern aud mit der Schweiz, mit Frankreich und England.

Die Bewegung erreichte ihren Höhepunkt, als Menotti Garibaldi, einer von Biufeppe Garibaldis unruheftiftenden Söhnen, in einer Mafjenverfammlung den Vorſitz führte, die den Zweck hatte, Freiwillige für den Einmarſch in Trentino auszubeben. Der Premierminifter Cairoli konnte ohne ‘Mühe die beabfihtigte Freibeutererpedition unterdrüden, und als die Bewegung in republifanifche, ſozialiſtiſche und anarchiſtiſche Hände geriet, gelang es Depretis ohne Schwierigkeit, fie in ihre Grenzen zu weiſen. Als 1881 Frankreich Tunis tn Beflg nahm, auf das Stalien feine begehrlihen Augen geworfen hatte, und als dann infolgedefien Italien fi) dem Dreibund anſchloß, da erichlaffte bie Irredentiftenbewegung und ftarb bei der Entbedung der Verſchwörung des Irredentiſten Oberdank gegen den Kaifer von Vfterreich (1882) faft ganz aus. Der neue Ausbruch des Irredentismus hat in den legten Jahren ftattgefunden. Die Jtaliener, die immer von einer Großmacht geträumt hatten, glaubten, baf 1912 ihr Traum dur) die Eroberung von Tripolis ganz verwirklicht worden wäre. indem fie fiberfahen, daß wirtſchaftliche Feſtigkeit Die einzige Grundlage fit, auf ber eine Großmacht beftehen Tann, vergaßen fie die Tatſache, daß Italien erſt kürzlich zahlungsfähig geworben war und zogen den Schluß, daß fie die politiſch Gleichberechtigten aller Großmächte ſeien.

Dieſes Gefühl der nationalen Selbſtüberhebung führte zu dem allgemeinen Wunſch nad) ftaatlider Vergrößerung und rief die fogenannte „Nationaliften- bewegung“ ins Dafein. Die Nationaliften waren, zu Anfang wenigitens, im ihrem Programm ſehr gründlid. Sie erörterten allen Ernftes die Frage, ben italieniſchen Königstitel zu verwandeln in ben Titel „Nömifcher Kaiſer“ und faben mit beftimmter Erwartung der Zeit entgegen, da alle Stüften bes Mittelmeeres italieniſch und das Mittelmeer felbft ein italieniſcher Binnenfee fein würden. Der Dreibund hatte „an dem Ringe feitgehalten”, als Italien bie Zürlei befämpfte, und daher waren die Nationaliften für den Augenbiid wenigitens bereit, das irredentiſche talien in Ruhe zu laſſen. Außerdem hätte dieſes das herrliche Gebäude ihrer Hoffnungen nicht befriedigen können.

Der Ausbruch) des Krieges im lebten Sommer veränderte volllommen beu nattonaliftifhen Standpunkt von Italiens zukünftiger Weltgröße und machte fie

Der Preis für Italiens Neutralität 259

zum Brennpunkte gemifier endgültiger Möglichkeiten. Diefe Möglichkeiten umfafjen, wie ſchon oben erwähnt, den Erwerb von Trentino und der öfter- reichiſch⸗ ungariſchen Küfte von Yriaul bis Fiume und außerdem einige Troatifche amd dalmatiſche Infeln. Die gemöhnlichen Gründe, die zur Stüße der italieniſchen Anſpruche auf diefe Gebiete vorgebracht werden, find folgende: fie feien faft ganz von Italienern bewohnt, die dem Königreich Italien angegliedert zu werden wünjden; fie würden furdibar unterbrüdt und fchlecht regiert, und bi8 vor kurzem hätten fie der einen ober anderen ber ttalieniichen Provinzen angehört; kurzum der Erwerb bes neuen Stalien ſei nichts anderes als das Biedergutmachen eines großen Unrechts, die MWiebervereinigung Italiens mit Böllern, die ihm geftohlen worden ſeien. Diefe Gründe find fo beftändig angegeben worden, daß fie allgemein angenommen wurden, obgleich fie natürlich weit davon entfernt find, im einzelnen zutreffend zu fein.

Die irredentifchen Anſprüche auf Trentino erftredien ſich von der italientfchen Grenze bis Franzensfefte, ein Gebiet von 96 Meilen. Dies Gebiet wird nur auf einer Strede von 35 Meilen von ber Grenze von einer italienifch fprechenden Devölferung bewohnt, und die übrigen 61 Meilen von deutſch fprechenden Sermanen. In der Stadt Trient, die im Süden liegt, ſprechen von ben 135000 Einwohnern nur zwei Drittel italienifh und ein Drittel deutſch. Das öfterreichiihe Kronland Görz und Gradiska Liegt zwiſchen dem ttalienifchen Friaul und Trieft. Bon den Einwohnern find zwei Drittel ttalienifch ſprechende Italiener, die übrigen find deutſch fpredhende Slawen, während von ben 235000 Einwohnern von Zrieft drei Viertel italienifh fprechen, die übrigen deutſch. Don den 350000 Bewohnern Sitrtens find drei Viertel Slawen, bie fibrigen Staliener, und von den Bewohnern Kroatiens und Dalmatiens, ein- ſchließlich der Inſeln, find nur drei Prozent Italiener.

Bei dem Vorwurf der Unterdrüdung und ſchlechter Regierung ift großenteils der Wunſch der Vater des Gedanken gewefen, denn die Gemeindeverwaltungen Dfterreichs können fich fiher mit denen Italiens meflen, und der induftrielle Wohlftand ift dort in normalen Zeiten fogar größer. Der Hauptkummer ber Italieniſch⸗Hſterreicher ift das Fehlen einer italieniſchen Univerfität auf öfter reichiſchem Boden, und Dfterreich hat wenig ober nichts getan, dem zu begegnen.

Man nimmt allgemein an, daß alle öfterreichiichen Provinzen, in denen Italieniſch die Sprache der Mehrzahl der Einwohner ift, früher und in neueren Zeiten zu italieniihen Staaten gehörten; das tft aber durchaus nicht der Fall.

Bon Trentino gehörte nur die äußerſte Südfpige bis zu einer Linie etwas nörblicd des Gardafees zur venetianifhen Republik, bis dieſe verfiel. Das ührige Trentino war zwar 774 Karls des Großen italienifhem Königreich einverleibt geweſen, aber ſchon im Jahre 1027 trat Kaiſer Konrad ber Zweite alle weltlichen Rechte dieſes Gebietes an den Biſchof von Trient ab und bradite es an Deutichland, dem es feitdem auch immer (beziehungsweife Ofterreich) angehört hat, ausgenommen während ber Herrichaft Napoleons.

17°

:960 Der preis für Jtaliens Xeutralität

Die Behauptung, daß Saribaldi es im Jahre 1866 eroberte, ift ganz unbaltbar: Er hatte nur die Grenze überfchritten, als er von Cavour den Befehl zum Ruckzug erhielt. |

Görz und Gradiska gehörte während eines Teiles des elften Jahrhunderts dem Patriarchen von Aquileja. Das Land wurde dann nacheinander von ben Eppenftein- und Lurngan⸗Familien in Beſitz gehalten, und jeit 1500 hat es mit Ausnahme der napoleoniſchen Zeit dem Haufe Habsburg gehört.

Zrieft gehörte feit dem Untergange des römiſchen Reiches bis zur Ein- nahme durch Venedig im Jahre 1208 den deutſchen Sraf-Bifhöfen. Bis 1382 war e8 bin und wieder unter der Herrihaft Venedigs und fam dann endgültig an Oſterreich. Die nicht italienifch ſprechende Provinz Iſtrien gehörte zu Venedig vom zwölften Jahrhundert bis zum Frieden von Campo Formio 1797, durch den fie an Vfterreich fiel. Dalmatien, ebenfalls ein nicht » ttalienifches Gebiet, ift ungefähre während derſelben Zeit zum Zeil unter venetianifcher Herrſchaft geweien. Bon dem ganzen öſterreichiſchen Gebiet, das die Srredentiften verlangen, haben alſo nur Iſtrien und die dalmatiſchen Inſeln in verbältnis- mäßig neuerer Zeit einem italieniſchen Staate, dann aber bundertundacdhtzehn Sabre lang Ofterreih angehört, dazu find die fogenannten „unerlöften“ Ein- mwohner zur Hälfte Deutſche oder Slawen und fpreden gar nicht italienifch.

Wenn Trieft und Fiume zu Italien fommen, wird das adriatiſche Meer ein italieniſcher See. Äſterreich und Ungarn werben weiter nicht3 als Binnen- ftanten fein, und Deutfhland wird zur See im Diten jeder Ausfuhrfüfte beraubt werden. Es leuchtet ein, daß weder Deutfhland noch Äſterreich in ein ſolches Abkommen einmwilligen Tönnen, folange fie überhaupt Heere im Felde haben. Aber die Frage, die für Italien von größerer Bedeutung ift, lautet: werden und können die Verbandsmächte (England und Frankreich) einwilligen! Vom englifhen und franzöfifen Standpunft ift es fchon ſchlimm genug, wenn das Schwarze Meer ein ruffiicher Binnenfee werden und Rußland als Mittelmeer- macht ein Viertel des Mittelmeere8 beherrſchen ſollte. Es ſcheint kaum möglich, daß ſowohl England wie Frankreich erlauben werden, daß Italien die völlige Beherrſchung der Adria erlangt mit der möglichen Ausſchließung der ganzen übrigen Welt. Nachdem fie gezwungen worden find, die Anwartſchaft von einem Viertel des Mittelmeeres Rußland zu überlafien, werden fie fidher nicht, wenn fie e8 auf irgend eine Weiſe vermeiden können, ein zweites Biertel an Italien abtreten.” Dem Schaufpiel, das Jtalien das einzige öſterreichiſche Ausfuhrgebiet zur See beherrfät, kann weder London noch Paris mit Gleichgültigleit zu- ſchauen. Und do nimmt die italieniſche Prefie an, daß Italien, wenn es zu den Ententemächten überteitt, nicht nur die Beherrihung und den fait ganzen Befig der Adria erhält, fondern auch „feinen Anteil an der türkiſchen Beute“ befommt; und zu alledem noch obendrein ganz Trentino.

VWDie Irredentiſten umfaffen nicht nur die Nationaliften, die in fait allen Parteien vorhanden und nur durch ihren Chauvinismus loſe vereinigt find,

Das italienifhye Parlament 261

fondern auch die große Mehrheit der vier revolutionären proletarifchen Parteien: die Republifaner, Sozialiiten, Synbilaliften und Anardiiften. Es tft unmöglich zu fagen, wie weit dieſe lebteren von einem Geifte aggreifiver, nationaler Politik getrieben werden und wie weit durch den Wunſch, eine Lage zu ſchaffen, die zum Sturze des jekigen Königshaufes führen kann. Gegen den Krieg find faft alle Mitglieder der induftriellen Mittelllaffe des Nordens, die ſeit Auguft durch ihse Lieferungen an Frankreich und Ufterreich zu großem Wohlſtand ge- langt find; ferner die Artftofratie aus Furcht vor einer proletarifchen Revolution und die Kirche aus Yriebensliebe.

Signor Salandra und feine Kollegen glauben aufrichtig, daß ein nationaler Gewinn aus dem Kriege herausgeichlagen werden muß, und auf jeden Yall werden fie es vorziehen, diefen Gewinn auf frievlidem Wege zu erlangen. Die Erhaltung der italienifchen Neutralität beruht alfo auf der Frage, inwieweit Ofterreich ſich auf eine Abtretung einlaffen und bie nationalen Wünfche Stalieng zufrieden ftellen wird.

Wenn es wahr ift, daß Lfterreich ſich erboten hat, das utalieniſchſprechende Trentino abzutreten (was übrigens das einzige iſt, worauf Italien mit Sicherheit rechnen Tann, wenn es den Ententemächten beitritt), fo follte e8 fcheinen, daß es die Aufgabe einer Tlugen italienifhen Staatstunft ift, das Angebotene anzunehmen und Italien die unnennbaren Schreden eines Krieges zu erfparen.

Das italienifche Parlament Don Dr. M. de Jonge

Ber Zufammentritt des ttalienifhen Parlaments, deſſen Beratungen diesmal weltgeſchichtliche Bedeutung hatten, lenkt den Blick auf die ftaatsrechtliche Strultur dieſer Vollsvertretung. Artifel 8 der italieniſchen Verfaſſung vom 30. Dezember 1870, die in ber Hauptſache Iedigli die rezipierte Verfaſſung des Königreichs Sardinien vom 4. März 1848 ift, teilt die gejebgebende Gewalt dem König und den beiden Kammern, Senat und Deputiertenlammer, gemeinfam zu. Der Begriff „Parlament“ findet fi) nicht in der Verfaſſung, wurbe aber ſchnell im der Sprache der Geſetze und ber Praxis gebräuchlich. |

Der Senat befteht aus zwei Gruppen von Senatoren: geſehlichen unb ernannten. Die „geſetzlichen“ find die Prinzen des Königlichen Hauſes, die mit 21 Yahren Sig und mit 25 Yahren Stimme im Senat haben. Die „ernannten“ Senatoren werden nad) vollendetem vierzigften Lebensjahre aus

262 Das italienifhe Parlament

fünf Kategorien gewählt: aus den Erzbiſchöfen und Biſchöfen; aus Staats. männern (Minifter, Deputierte, Botfchafter); aus hoben Staatsbeamten, Offizieren und Gelehrtentreifen; aus Männern, die „durch Dienfte oder Ber- bienfte das Vaterland berühmt gemacht haben“; aus den reihen Leuten (das heißt foldden, die feit drei Jahren 8000 Lire direkte Steuer zahlen). Die Zahl der Senatoren betrug feit 1870 rund 860; doc kam e8 im Juni 1886 zu einem „Senatorenſchub“ von 41, fo daß der Senat jekt rund 400 Mitglieder zählt. Wiederholte Verſuche einer demokcatifierenden Reform des Senats (Ein- ſchraͤnkung des Ernennungsrechts, Feitfegung einer Höchſtzahl und anderes) find bisher ſtets (zuletzt 1910/11) gefcheitert.

Dagegen tft die heutige ftaatsrechtliche Geitaltung der Deputiertenlammer das Ergebnis der gleichzeitigen parallelen Reformbeftrebungen. Nach mand)erlei auch bier vergeblich unternommenen Verfuchen gelang es Giolitti im Jahre 1911 bie Reform durchaufegen, und am 80. Juni 1911 wurde das neue Wahlgeſetz veröffentlicht. Das aktive Wahlrecht befiten: alle Staatsangehörige, die 30 Jahre alt find; alle, die 21 Jahre alt find und entweder 1. Militärbienft geleiftet haben oder 2. die Beringung eines beftimmten Steuerzenfus erfüllen oder 8. „Kapazitäten”.Wähler find, das heißt Die Bedingung einer gewiſſen geiftigen Bildung duch den Nachweis beftandener Prüfungen erfüllen (eine Verordnung vom 10. Juli 1912 regelte das Minimum diefer „Wahlprüfungen”). Die Ausübung des Wahlrechts erfolgt nad Artikel 19 am Drte des „dauernden Aufenthaltes" (mit Nüdficht darauf, daß in manden Gegenden und Be völferungstreifen Italiens von geringer Seßhaftigkeit ein „Domizil“ fehlt), tft alfo auch bier im Sinne einer Erweiterung des Kreifes der Wahlberechtigten erleichtert worden. Durch diefe Reform tft die Zahl der Wähler von etwa 3!/, Million auf etwa 7°/, Million (darunter 21/, Million Analphabeten, bejonders viele in Süpditalten) vermehrt worden. Die Wahl iſt geheim und dire. Das Wahlgeheimnis ift duch eine dem deutſchen „Kloſettgeſetz“ nachgebildete Be⸗ ftimmung des Reformgeſetzes in höherem Maße geſchützt als früher.

Das paffive Wahlrecht tft durch das Reformgeſetz nur unweſentlich ver- ändert worden. Es ift in der Hauptſache noch immer basfelbe wie in ber Sardiniſchen Verfaffung vom 4. März 1848, die durch die Beichlüfie der Rationalverfammlung vom 30. Dezember 1870 zur Verfaflung Italiens erflärt wurde. Immerhin haben einige fpätere Gefeße, zuletzt das Wahlgeleb von 1882, einige Änderungen eingeführt. Wählbar ift jeder Staliener, der 80 Jahre alt ift, falls er nicht ein Amt befleidet, welches „inlompatibel” mit dem eines Deputierten tft: bierher gehören Geiftliche und die meiften Kategorien der Staats» beamten; es find dagegen wählbar die Generale und höheren Offiziere, Mitglieder der Kaffations- und Apellhöfe, ordentliche Untverfitätsprofefioren und andere. Doch dürfen nach der fehr weiſen Beftimmung des Gefebes von 1877 höoͤchſtens 40 Beamte in der Kammer ſitzen, von denen höchftens zehn Richter und hoͤchſtens zehn Univerfitätsprofefioren fein Dürfen (bei Mehrwahlen entſcheidet das 208). Das

Das italienifhe Parlament , 263

neue Wahlgefeb von 1911 bat diefe Inlompatibilitätshinderniffe nur in einem unweſentlichen Punkte abgefhwächt (Bürgermeifter und Provinziallandtags- abgeordnete, die früher erſt ſechs Monate nad) Niederlegung ihres Amtes wählbar waren, find es jetzt ſchon nad) acht Tagen, das heißt de facto fofort). Die Deputierten erhalten nah dem neuen Geje 2000 Lire Poſtkoſten⸗ entihädigung und 4000 Lire Aufwmandsentihädigung mit Ausnahme der (unmittelbaren und mittelbaren) Staatsbeamten, die Gehalt oder Penfion be- ziehen (ijt deren Betrag geringer als 4000 Lire, fo erhalten fie die Differenz). Die Anregung, diefer Entihädigung (nad) Analogie des deutſchen Reichsſtaats⸗ echt) den Charakter von Anmefenheitsgeldern (mit Abzugsredht im Abweſen⸗ beitsfalle) zu geben, aljo eine indirekte Präfenzpflicht einzuführen, fiel in Italien nit auf fruchtbaren Boden.

„Die Zahl der Deputierten für das ganze Königreich) beträgt 508 und wird auf die verfhiedenen Provinzen verteilt.” (Artilel 44 des Wahlgejepes son 1882.) Nach einem Geſetz von 1860 follte ein Deputierter für je 50000 Einwohner gewählt werden. Infolge der Verſchiebung der Bevölferungs- serhältnifje (ftarle Zunahme in diefen, geringe in jenen Wahllreifen) bat fich im Laufe eines halben Jahrhundert das anfängliche „Verhältnis“ in vielen Kreifen, ganz ähnlich wie in Deutfchland, zu einem „Mißverhältnis“ entwidelt, welhes eine ſchwere wahlpolitifche Ungerechtigkeit bedeutet, um fo mehr als, ahnlich wie im deutfhen Wahlgefeg, die Anderung der Wahlfreigeinteilung entfprechend den Ergebnifien der Vollszählung im Geſetze (Artikel 46) ausdrücklich zugefagt war. Daß diefe Zufage auch in dem neuen Wahlgeſetz von 1911 (im Artikel 54) ausdrücklich wiederholt, aber die Änderung der Wahlkreiseinteilung dennoch unterlaffen wurde, wird in der Abhandlung eines Univerfitätsprofeflorg aus dem jahre 1913 Über diefes Geſetz „eine geradezu empörende Beftätigung eines abfichtlich aufrecht erhaltenen geſetzwidrigen Zatbeftandes” genannt. Diejer tapfere Profeſſor heißt Siotto Pinto und wirkt an der Univerfität Catania.

Don deutfcher Kultur und deutjcher Sreiheit

Auch eine Kriegsbetrachtung Don Dr. jur. et phil. Eri Jung o. d. Profeflor der Rechte

(Schluß) 4

Der zweite große Kampf der Deutſchen war geiftigerer Art; er galt ber Befreiung der Gewiſſen von der dogmatiiden Schablone, die von derjelben mittelitalienifeden Stadt ausging, die auch noch in Trümmern eine anjcheinend unüberwindlicde Suggeftion des von ihr ausgehenden Weltimperiums ausübte. Man darf die Reformation als einen deutſchen Kampf bezeichnen, denn die älteren Beftrebungen auf eine Erneuerung des Glaubens, in Südfrankreich, tin England, in den ſlawiſchen Ländern, waren doch eben nicht erfolgreich geweſen, und nur bie deutſche Bewegung tft in die Breite und auf die Dauer durch gedrungen. Man follte fi dur die Unzulänglichleit und Halbheit der fogenannten Reformation, die befonders in ihrer Iutherifchen Seftalt fofort wieder in gleiche oder ähnliche Fehler verfiel wie Die alte Kirche, und durch die furdhtbaren polttifden Schädigungen, die die Reformation mittelbar über Deutſchland bradhte, nicht den Blick trüben laſſen für ihr eigentliches geiftiges Weſen; diefes tft vielleicht in der Herder-Goetheichen Zeit zu einem fehärferen, jedenfalls zu einem höheren Ausdrud gelangt als in den Männern des fechzehnten Jahrhunderts. Jene weiteren, mittelbaren Errungenfchaften der Reformation find dem heutigen deutfchen Katholizismus zunächſt durch die tridentintfchen Reformen und mittelbar durch die Befeitigung feiner Alleinherrichaft ebenfo zugute gelommen wie den Gegnern und haben ihm zu einer Verinnerlihung und Vertiefung verholfen, die er ohne die Notwendigleit des fteten Kampfes faum erreicht hätte, und die ihm anderswo fehlt. Zwiſchen dem wirklich auf dem SKulturniveau feiner Nation jtehenden deutſchen Katholiken von heute und etwa einem venetianifchen Landgeiftlichen, felbft wenn er auf dem päpftliden Stuhle fit, ift der Unterſchied der wirklich in ihnen lebenden religiös - metaphpfiichen Überzeugungen größer als zwifchen jenem katholiſchen Deutſchen und einem nichtlatholifchen Deutſchen. Deutichheit tm tiefiten Sinne ift auch eine ethiſche Grundſtimmung und damit eine Religion.

Es gibt eine wundervolle Stelle in Goethes Zagebüchern, vom 7.Januar1812, die fi vielleicht einmal diejenigen Deutichen verfchiedener Belenntniffe gejagt

Don deutfcher Kultur und deutfcher Sreiheit 265

fein laſſen werden, die troß verfchiedener Begründungen und theoretifchen Faſſungen doch über das Ethiſche und über das Vorhandenfein einer über- imdividuellen Bedeutung des Einzeldaſeins einig find und praltifch danach bandeln. Goethe erzählt darin von feinem Beſuch bei einem Bergdireltor, ber die nad) Goethes Anficht verfehrteiten geologiichen Theorien entwidelt, der aber jeinen Betrieb auf die zwedmäßigite und verjtändigfte Weiſe geitaltet bat. „Merkwürdig fiel mir dabei wieder auf,. daß tüchtig praktiſche Menfchen von den theoretiſchen Irrtümern keineswegs gehindert werden, vorwärts zu gehen... Dies belehrt uns, in dem menſchlichſten Sinne, tolerant gegen Meinungen zu fein, nur zu beobachten, ob etwas geſchieht, und das übrige, was bloß Worte find, guten und vorzüglihen Menſchen rubig nachzuſehen.“ Es find ja auch meilt nur bie Theoretiler der Religion, die Theologen, die immer nur das Zrennende der verjchiedenen chriftlichen Konfeſſionen fehen und betonen.

Die europäifcde Geiftesgefchichte „ift eine große Yuge, in der die Stimmen ber Bölfer nadjeinander erklingen”, beißt es einmal im Wilhelm Meifter. Die Renaifjance hat ihre eigentliche Heimat und ihre wefentlichften Wirkungen in Stalien, die Neformation in Deutichland, die Revolution in Franfreih. Diefe drei großen geiftigen Bewegungen bilden in biefer ihrer zeitlichen Aufeinander- folge zwar feineswegs eine organifche Entwidlungsreihe, und fie hatten jeweils ihre Hauptwirfung auf fehr verfchiedenen Gebieten. Man verfteht gewöhnlich oder wenigitens man verftand bis vor kurzem unter Renaifjance im bejonderen Sinne die „zunehmende Beichäftigung mit den das Mittelalter hindurch erhalten gebliebenen Schriftwerlen des Altertums“. Das ift aber fider zu eng. „ES war doch nicht fo,” fagt Rohrbach in feiner Geſchichte der Menfchheit mit Recht, „daß man über die antike Literatur zu der neuen Bildung kam, fondern jo, daß das Verlangen nad) diefer neuen Bildung zu den Quellen des antilen Kulturideals führte.” Die Renaiffance wirkte wejentlih auf die künjtlerifche und wiſſenſchaftliche Betätigung, während die Reformation eine religiös-ethifche, die Revolution eine politiſche und foziale Bewegung war. Aber trotz dieſer Berihiedenbeiten war der Ausgangspunlt dieſer Bewegungen ein gemeinjamer, und diefer Punkt, der Erbbebenherd könnte man jagen, war das Individuum.

Jakob Yurdhard Tennzeichnete das Weſen der Renaifjance als das Erwachen und die Befreiung des Individuums.

Die durch die deutiche Neformation angeftoßene Bewegung die natürlich leineswegs erichöpft oder gleichbedeutend ift mit der Neformationsbewegung des fehzehnten Jahrhunderts und noch weniger mit einer heutigen proteitantijchen Kirche beftimmter Faſſung bat die gleiche Grundlage: daß das einzelne Gewiſſen nach eigener fubjeltiver Überzeugung verlangte, nad) einem, feinem eigenen Innern zwingenden, nicht nach Autorität und Überlieferung gefundenen Ürteil über Gut und Böfe, über Wahr oder Unwahr.

Die franzöfiiche Revolution ift nach den beitimmenden Ideen, Die durch alle geſchichtlichen Zufälligkeiten, alle UÜbertreibungen und Rückfälle ſchließlich

266 Don dentſcher Kultur und deutſcher Sreiheit

doch als das allein Dauernde erkennbar berportreten, eine Wirkung der Ratur- rechtslehre; die Raturrechtslehre aber fteht in nachweisbarem Zufammenhang mit Nenaifiance und Reformation. Das „natürlihe” Recht, Billigleits- oder Ber» nunftsrecht tft, in fo verſchiedenen Geftalten und mit fo mannigfachen Ber gründungen e8 im Lauf der Jahrtaufende auch aufgetreten tft, fchließlich nichts anderes, als die Gegenfäplichkeit zu dem nad) objektiven Merkmalen gegebenen, in Sagungen und gefchichtlichen Überlieferungen gefundenen Urteil über Recht oder Unrecht; die eigene fubjeltive Meinung über Recht oder Unrecht, die nad des Ratio der heutigen Zeit und fchließlich nach dem fubjektiven ethifchen Wert urteil des ausfchlaggebenden Individuums gefundene Ausjage über Recht oder Unredit.

Die Gefahren der ratiomaliftifhen Überhebung des Subjelts, die Unter ſchätzung der in der Überlieferung und in dem Beſtehenden verlörperten, die individuelle Einfiht allerdings, befonders in ftaatlich rechtlichen Dingen häufig überragenden Vernunft der früheren Generationen und der ganzen Gattung, fud dabei am anfchaulichften zutage getreten in der zeitlich letzten Bewegung, in der Revolution, mo fie vielleicht befördert wurde durch die befondere, vormiegend verftandesmäßig dialektiſche Beiftesart der Franzofen.

Aber die Gefahr fit an fih auch auf anderen Kulturgebieten gegeben: die Gefahr einer Überfhägung der eigenen Zeit und des eigenen Ich, oder auch einer Überfpannung der Anfprüde an das Individuum, dem nad) Dauer und Wirkungskraft von der Natur fo enge Schranfen gezogen find, daß es eben do an allen Enden wieder auf die Binfiht und die Mitarbeit der Mitlebenden und Generationen vor ihm, auf deren Arbeit e8 weiterbaut, angemiefen if, und damit doch wieder auf die überindivibuellen Kräfte und Zufammenhänge. Wie wenig kann ſchließlich der einzelne wirklich fich geiftig felbft erwerben von ben unzähligen Erfenntniflen, die er jeden Tag braucht; wie viel muß auch der Selbftändigfte, einen wie unendlidy überwiegenden Teil feines geiftigen Beſty⸗ ftandes muß auch das größte Genie aus der Überlieferung übernehmen. Der Proteftantismus überfpannt unzweifelhaft dem Prinzip nach den indivibualtftiichen Gedanken und vernadjläffigt den Gegenpol, dab ſchließlich zu allem größeren Bollbringen aud) wieder eine Vereinigung der Überzeugungen nötig tft; wie es Mietzſche, natürlich Übertreibend und paradox in „Jenſeits von Gut und Böfe“ ausdrädt: „Daß das Weſentliche, wie es fcheint, im Himmel und auf Erden tft, daß lange und in einer Richtung gehorcht werde. Dabei kommt und kam auf die Dauer immer etwas heraus, befientwillen es fich lohnt auf Gxden zu leben.”

Daß die Reformation von jenen drei Bewegungen die am tiefften wirkende und am mweiteften reichende war, kann nicht zweifelhaft fein. Die franzoͤſiſche Revolution mit ihren Maßlofigleiten und ihrem widergefchichtlicden Radikalismus bat infolge der durch fie hHervorgerufenen, begründeten Rückſchlaͤge der Sache einer vernünftigen politiiden Freiheit mehr geſchadet als genügt. Die großen

Don deutfcher Kultur und dentfcher Sreiheit 267

Wirkungen, die fie in der Geftalt des Phänomens Napoleon auf Deutſchland hatte, daß fie die weltbürgerlih und rein humaniſtiſch gefinnten Deutichen durch die äußerte Not zu politiidem und nationalem Denten erzog und eine Unmenge von Berüdentümern, wie Garlyle fagt, ausflopfte, war ja faktiih nur eine jehr ungemwollte pofitive Wirkung. So groß die Wirkufgen bes Humanismus und der Renaiſſance auf wiſſenſchaftlichem und künſtleriſchem Gebiet auch waren, au diefe Bewegung umfaßte fchließlih doch ein engeres Gebiet, verglichen mit der Reformation, die die Menſchen an ihrem Tiefiten faßte, an ihren ethiſch⸗ religiöſen Überzeugungen, die eben doch den Kern des Perſönlichen aus- maden und die Vorausſetzung jeder wirklichen Produktivität auf allen geiftigen Gebieten bilden. „Die Menſchen find nur folange probuftiv, als fie nod) religiös find,” fagte Goethe am 26. März 1814 zu Riemer; wobei freilich feine Borftellung von Neligiösfein fi) weber mit der Tatholifchen noch mit einer anderen beftimmten Tonfeffionellen Auffaffung dedte, wenn fie foldde auch ihrer- ſeits ſehr wohl mit einfchließen Tonnte. |

Daß auf religiös -ethifhem Gebiet die norbeuropäifch »- germanifdhe im Gegenſatz zur antik - mittelmeerländifhen Kultur eine neue und felbftändige Form und nicht etwa eine bloße Ableitung der antifen Kultur darſtellt, wird niemand beftreiten wollen, troß der vielfachen helleniftifch - femitifchen Elemente der älteren dogmatifchen Formen der chriftlichen Belenntnifie, der Dogmen, die ja leineswegd immer der zutreffende Ausdruck ber lebenden und wirkſamen Religion ihrer Belenner find. Auf ftaatlich » rechtlichem Gebiet find, wie wir faben, tro mehrfacher Haffiziftiicder Nüdichläge, wenigftens im Mutterlande der nadantifen Kultur, in Deutichland, die Grundzüge des germaniſchen Geſellſchafts⸗ aufbans erhalten geblieben, der auf die Freiheit und das Eigenleben der Teile einerfeit8 und anderjeitS auf die intenfive Bindung des Individuums nicht an die Bentralgewalt, fondern an die gewachſenen Verbände gegründet ft. Auch auf diefem nächſt dem religtös-etbifchen wichtigiten Gebiet der menfchlichen Kulturarbeit ftellt deshalb die moderne neuzeitige Kultur eine felbftändige Form das und ift nicht etwa nur eine Tochter der Antife, eine „romaniſche“ Kulturform.

Auf äſthetiſchem Gebtet wird man vielleidt am ebeiten geneigt fein, der antilen Kultur auch für unfere Zeit noch eine beftimmende Rolle zugufchreiben und inſofern dem romanifchen Kulturkreis den Vorrang und bie Überlegenheit gegenüber dem nordeuropäifhen modernen zuzufprehen. Aber das wäre, teoß eines gewiflen Anſcheins, doch ebenfalls unrichtig. Zwei Künfte, Malerei und Muſil, haben fi) im nordeuropäifch- modernen Kulturkreis völlig unabhängig von der Antike entwidelt, wobei unter Malerei die Augenkunſt zu verftehen iſt, deren Hauptausdrudsmittel Farben- und Lichtunterfehiede find, im Gegenſatz zu des Malerei, für die die Form noch wefentliches oder alleiniges Ausdrucks⸗ mittel ift; die Sirtinafresfen Michelangelo find in diefem Sinne noch zur reinen Formiunft zu rechnen und eher Bilbnerei als Malerei. Die Malerei nun im diefem modernen Sinn als Kunft der Yarbe und des Lichts ift eine

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268 Don deutſcher Kultur und deutſcher Freiheit

moderne und zwar eine germaniſche, ſpezieller niederdeutſche Schöpfung; fie iſt entftanden im Rheindelta durch die van Eyds, und bat in derfelben örtlichen und volllihen Umgebung auch ihre höchſte Spitze erlebt in Rembrandt. Und daß die zweite für die moderne Kultur im Gegenſatz zur antiken Tennzeichuende Kunft, die große Mufil, im Mutterlande der nordeuropäiſchen Kultus, in Deutſchland ihre höchſte Blüte erfahren hat, wird ja wohl aud) von den anderen Nationen zugegeben.

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Entfpreddend jenem Grundprinzip germanifcher Geſellſchafts organiſation in der oben angeführten Tainefchen Faſſung „Zuſammenwirken von Initiativen, die von unten ausgehen,“ Föderalismus, Bartilularismus find bie germanischen Länder immer die eigentliche Heimat der Freiheit geweſen. Defien war man fih auch in früheren Jahrhunderten immer bemußt. Das konnte au nach dem Verlauf der Religionsbemegung im fechzehnten und fiebzehnten Jahrhundert gar nicht anders fein, als Zaufende und Tauſende von religiös und politiſch erfolgten in Deutfchland eine neue Heimat ſuchten und fanden; befonders die großen Züge der Refugies aus Frankreich nad der Aufhebung des Edikts von Nantes und die Emigres in der NRevolutionszeit, die vor der „liberte, egalite, fraternit&“ flohen, in deren Namen befanntlich politiicde Ver⸗ folgungen, Hinrichtungen und Austreibungen in einem Umfang vorlamen, wie faum jemald „unter dem verabſcheuungswürdigen Deipotismus“ der Könige.

Deutfhland hatte fih in den Kämpfen um die Erneuerung der chriftlichen Religion für zwei Jahrhunderte politiih vernichtet. Aber es war um dieſen freilich furchtbaren Preis doch auch das Land geworden, in dem das verhältnis mäßig höchſte Maaß von religiöfer Duldung zu finden war.

Im Don Uuichote läßt Cervantes einen ber flüchtigen Mortslos fagen: „sch begab mich nach Deutichland. Dort [dien es mir, daß man noch am freieften Ieben könne. Beinahe überall in diefem Lande genießt man Gewifiensfreiheit.”

Die rechtlide Lage war tatfächlich nicht fo günftig, daß man von Gewähr- leiftung der Gewifjensfreiheit hätte reden Lönnen. Denn der Landesherr konnte von feinen Untertanen den Beitritt zu feiner, des Landesherrn, Konfeilion oder die Auswanderung verlangen. Aber dies Recht wurde, bejonders in ben peoteftantifchen Gebieten, nicht ftreng gehandhabt. Und vor allem: bie Biel- geitaltigleit der politiihen Gebilde ließ fchließlih auch den, der die Heimat verlafien mußte, immer irgendwo in deutſchen Landen eine Staatsgewalt feines Belenntniffes finden. Dieſer kulturelle Segen der SKleinftaaten wiegt ihren politifchen Unfegen nicht ganz auf. Aber er ift jedenfalls ein Umftand von größter Bedeutung für die deutſche Geiftesentwicdlung und eine der wichtigiten Urſachen der Dtannigfaltigfeit und Tiefe des deutichen Geiſteslebens geweſen. Chriftian Wolff fand, bis ihn Friedrich der Große nad) Halle wieder zurüdberief, von wo er dur Friedrich Wilhelm den Erjten verjagt morden war, in Marburg einen ganz ent-

Don deutfcher Kultur und deutfcher Freiheit 2369

ſprechenden Wirkungskreis. Die Göttinger Sieben fanden bald ihre Stellung und ihren Lehrſtuhl bei anderen Zandesherren wieder, und wenn es auch viel- leicht nur geſchah, um den viellieben Better von Hannover zu ärgern. In Deutihland kann fi durch die Vielheit der Brennpunkte geiftigen Lebens nicht in dem Sinne eine herrſchende Meinung entwideln wie anderwärt8; bie Diel- geitaltigleit des deutichen Geifteslebens läßt die Tyrannei des Gout oder Cant nit. auflommen.

In den geiftigen Kämpfen des ſechzehnten Jahrhunderts galt allgemein das Heimatland der Reformation und der Buchdruckerkunſt auch als das Land ber mweitgehendften Toleranz und der freieften Ausiprache.

Db der Germane gutmütiger ift al8 der Romane wie denn die ftarfen, ungeſchlachten Naturen vielfah von verhältnismäßig fanftmütiger Art find oder ob, was das Wahrſcheinlichere ift, die einheitlichere Volksart zwiſchen Rhein und Elbe die Urſache ift, fei dahingeſtellt. „Die Franzofen haben in jhwierigen Lagen immer zum Maffacre gegriffen, um die DObftruftion zu über- winden, von den Tagen der Kreuzzüge gegen die Albigenjfer im breizehnten Jahrhundert bis zur Vernichtung der Parifer Kommune im neunzehnten. Hinter dem Terror von 1793 ftehen nicht nur die Bartholomäusnaht und die Ber- folgungen, die nach der Aufhebung des Edikts von Nantes einfesten, fondern noch ungezäblte andere Mebeleien wie jene, die unter der Regierung Ludwigs des Vierzehnten ftattfanden“, fagt Brooks-Adams, der amerilanifhe Geſchichts⸗ philofoph.

Boltatre bat von dem tigre-singe gefprochen, der im galliiden Volkstum ftede. Unter den von Herrn Gayot de Pitaval berichteten Rechtsfällen finden fi Gefchichten von einer Scheußlichkeit, einer Graufamleit der Vollsgenoſſen untereinander, bie fi) nur dur den inftinktiven Raſſenhaß verſchieden ge- arteter Vollsbeſtandteile erflären laſſen und denen wir nichts an die Seite zn ſeten haben.

„Grattez le Francais et vous trouverez le Celte“, fagte Voltaire und Gobineau fagte es feinen galliihen Landsleuten ganz ähnlid. Und die Briten man follte nur no von Galliern und Briten reden und fie nicht mehr. fälfehlih mit den germanifchen Namen der Franlen und Angelſachſen ſchmücken Haben anfdeinend auch ihren germanifhhen Blutbeftandteil verbraudt; fie baben Tennzeichnenderweife in der lebten Zeit im Gegenfab zu früher ihre keltiſche Berwandtichaft bei jeder Gelegenheit mit Vorliebe betont. Um jo befler für uns, wenn unfere beiden frühmittelalterlihen Kolonien wieder feltiftert find. „Oallos quoque in bello floruisse audivimus“, fagt Caeſar: „auch die Ballier follen früher einmal im Stiege erfolgreich geweſen fein.“

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270 | Don deutfcher Kultur und deutfcher Sreiheit

Das erftemal im Beginn unferer Zeitrehnung ging der große Kampf gegen das römifhe Reich um die politifche Freiheit der Nation, um das Beſtehen von Böllerindividuen überhaupt. Das zweitemal ging e8 um die Freiheit ber religiöfen Überzeugung für die Einzelfeele. Wenigftens dem Endztele nad) ging der Kampf darauf ans: dieſer zweite Kampf ift freilich noch lange nicht zu Ende gefämpft.

Es ift eine Wurzel, aus der dieſe beiden Bewegungen entipringen, bie man wohl die mwidtigften Ereignifje der nordeuropäiſchen Geſchichte nennen kann. „Deutſchlands Geichichte iſt, wie ich glaube, die Grundwurzel ber Geſchichte Europas,” ſchreibt Charles Kingsley, feinerzeit Profefior der Geſchichte in Cambridge. |

Die geiftige Bewegung der Aufllärumgszeit gehet auf die Anftöße der Neformation zurüd und wäre ohne fie nicht möglich gemeien. Noch Boltaire war fi) defien gelegentlich bewußt, daß, wie Victor Hugo in Notre Dame be Paris es ausdrüdt daß das achtzehnte Jahrhundert „das alte Schwert Luthers ald Waffe Boltaires“ ergriffen habe.

Die europäiſche Kulturwelt hat zwei große Kulturepochen erlebt, die fi zeitlich und örtlih und nad der anthropologiſchen Unterlage deutlich trennen lafien; bie antife, um das Mittelmeer gruppierte helleniſtiſch⸗römiſche Kultur und die moderne, nachantike Kultur der nordeuropäilden, vorwiegend von Nationen germanifher Sprade und Abftammung bewohnten Länder. Die romaniſchen Völker Tönnen natürlich ſchon wegen der Sprache einen befonderen Zuſammenhang mit der Antike von fi behaupten. Aber das bedeutet feinen Borrang in der Kultur, denn die moderne Kultur, der auch diefe romaniſchen Völker angehören, ift nicht etwa nur eine Weiterbildung der antilen Kultur, fondern etwas anderes, eine andere Kulturindividualität, nad) ihrer Entftehung wie nach ihrem heute eriennbaren Weſen.

Das Dogma vom Haffifhen Altertum Iaftet noch ſchwer auf und. Daß überhaupt, ohne an feiner Lächerlichleit zu erftiden, das Wort von den deutichen Barbaren fallen konnte, ift nur möglich geweſen durch dieſes Dogma, das Die zomanifchen Nationen freilich zu pflegen Urſache haben, denn es tit die Brund- lage ihrer unbegründeten Überhebung.

Wenn die romanischen Völfer um beswillen, weil fie eine Tochterſprache der damals vor zweitaufend Jahren höchſtzivilifierten Nation ſprechen, fih für die eigentlichen Kulturnationen halten wollen, fo tft wirklich nicht ein- zufehen, warum man nit noch ein paar Jahrtauſende weiter zurüdgeben fol; auf die älteren Mittelmeerlulturen, von denen wieder der Stern der Antile, bie griechiſche Kultur ihrerſeits abftammt. Dann find die Fellachen, als die Rady- fommen der alten Agypter die fich übrigens tatfächlich den Römern gegen- über in ganz entiprechender Weile ihrer älteren Kultur rühmten und bie Bewohner der meſopotamiſchen Ebene die eigentlichen Kulturträger; benm bie griechiſch⸗ römiſche Kultur bat von den älteren Mittelmeerfulturen, der mykeniſch⸗

Don deutfher Kultur und deutfcher Sreiheit 271

ketifhen, der ägyptifchen und aſſyriſchen, ihrerfeitS wieder ältere und ſchon erungene Kulturelemente übernommen.

Kürzlih bat der Franzoſe Boutrour gegen die Deutſchen den Vorwurf echoben, daß dieſe erftrebten, ſich völlig von der antiken Überlieferung zu be- freien und ihre neuzeitige Kultur ganz aus ſich heraus und aus germaniichen oder für germaniſch erllärten Beitandteilen aufzubauen. Wir empfinden den Borwurf des Franzofen nicht als Bormwurf, fondern befennen, daß allerdings unfere Vorftellungen von heutiger umd Tünftiger deutider Kultur mindeftens in der allgemeinen Richtung geben, die dort befämpft wird.

„Das Schiefal der Deutichen tft ſchrieb Goethe noch nicht erfüllt. Hätten fie Teine andere Aufgabe zu erfüllen gehabt, als das römiſche Reich in zerbrechen und eine neue Welt zu jchaffen und zu ordnen, fie würden längft wgrunde gegangen fein. Da fie aber fortbeitanden find, und in foldder Kraft und Tüchtigkeit, jo müflen fie nach meinem Glauben noch eine große Zukunft haben, eine Beitimmung, welche um fo viel größer fein wird denn jenes gewaltige Werk der Zeritörung des römiſchen Reichs und der Geftaltung des Mittelalters, als ihre Bildung jet höher fteht.“

Wir kämpfen heute um unjere Eriftenz gegen die balbe Welt; um bie ſtaatliche und wirtſchaftliche und felbit um die phyſiſche Exiſtenz des deutſchen Volle. Und damit da8 fagen wir laut hinaus ohne falide Scham um die höchften Werte der modernen europäifchen Kultur, als deren Schöpfer uns weientliche Träger die Deutichen ſich erwieſen haben.

Die europätichen Sprachen und der .

Don Profefior Dr. £udmwig Sütterlin

BE er Sturm des gegenwärtigen Krieges hat im Meer der Völker ſddie Wellen mächtig erregt und durcheinandergewühlt. Blut ift A 1 nicht mehr dicker denn Waffer: wir haſſen unfern britifchen Vetter, Pd vie ih nur Verwandte Hafen lönnen, und fechten und jterben

2 Schulter an Schulter mit Ungarn und Türken, die einft die Nacht einer Völkerwanderung meteorgleich herniederfandte auf unfere Fluren.

Diefer Bruch mit alten Gemöhnungen und der dadurch veranlakte Wetter⸗ fturg der Gefühle ſcheucht auch die Sprachwiſſenſchaft auf in ihrem ftillen Gemach: das vergangene Jahrhundert, in dem bas aus ber Aſche des Belt: bürgertum3 neu erglimmte Feuer des Vollbewußtſeins den Lauf der Geſchichte beftimmte, batte ihrem Bemühen auch einen äußerlichen Zwed verliehen und in ihr vielleicht zumeilen den Wahn geweckt, fie trage der Strom der Welt als ihren ‘Bropbeten.

Die krauſe Gegenwart enttäufcht fie nun zunächſt, indem fie ihr manches Traumgebilde abftoßend verdeutlicht: denn aus dem alten Märchenlande Indien, deſſen Schriftwerle einft ganz Europa begeiftert hatten, die Verehrer Herders ebenfo wie bie Jünger Schellingicher Natur- und Religionsphiloſophie, deſſen vollendete reihe Sprache ihr vor hundert Jahren felbit ins Dafein half, treten ihr jetzt meſſerſchwingend die braunen Eingeborenen entgegen, die Inder, Deren Urväter die heiligen Veden gedichtet und das „himmliſch⸗ſchöne“ Schaufpiel Sakuntalal Läßt die fprachlide Buntheit auf beiden Seiten der Kämpfenden und die Gleichgältigleit uns ſprachlich nabeftchender Zuſchauer nicht auch noch befürdten, daß ihre Arbeit fürderhin gar feinen Wert mehr babe für das Leben? Wäre die Sprache, die uns Deutihe doch noch einte in den troft- Iofeften Zeiten, fortan fein Band mehr für die Völfer? Und follte man bie ſprachlichen Entlehnungen von Land zu Land, die ficheren Zeugen für den Austauſch des Kulturgutes, Tünftig nur zufammenftellen dürfen als Beweiſe für völfiihen Undank?

Ein fchärferer Blick in die Geſchehniſſe zeigt ſolche Befürchtungen als klein⸗ mütig. Denn ganz ift die Sprache doch nicht ausgeſchaltet aus dem Spiel der Kräfte, das die Verhältniffe des Lebens geftaltet: jedenfalls jpiegelt ſich Die Gefinnung der Staaten auffällig wieder in den. gegenfeitigen Beziehungen der

Die europätfhen Sprachen und der Krieg 378

Sprachen, und der Sprachforſcher fieht Fäden, bie nit zufällig umd wicht bedentungslos fein Lönnen.

Sollte er nicht wagen dürfen, den Gang der Dinge aud) damit zu erflären? .

Der Grundpfeiler, auf dem die gefamte Sprachwiſſenſchaft im Lauf der legten hundert Jahre ihr mädhtiges Gebäude aufgerichtet bat, tft die Erkenntnis, daß die indogermaniſchen Sprachen eine Einheit bilden.

Diefer Grundpfetler ift für das beutige Empfinden verſchüttet. Einem Gebildeten kann man die indogermanijche Berwandtidhaft in der Hauptſache Dar machen durch die Mebeneinanberftellung von Zeitwortäformen (mie Iateiniich dixi und griechiſch idea) oder durch Vergleihung von gewöhnlichen Wörtern, befonders der Berwandtichaftsnamen, Fürmörter oder Zahlwörter. Einem Krieger unferes Ditheeres nüht dieſe indogermaniſche Berwanbtichaft nichts, da die dem Deutihen und Auffifch- Polnifchen noch gemeinfamen Erbwörter im Klang jeht gewöhnlich weit auseinandergehen; etwas beſſere Dienfte leiften ihm ſchon die wenigen Ausdrüde, die wir dem Slawiſchen entlehnt haben, wie Droſchle, Pallaſch, Säbel-Sabel, ſowie die viel zahlreidheren, wofür die Ruffen uns verpflichtet find: teild reindeutiche wie Band, Bank, Butterbrot, Fenerwert, Halstud, Perüdenmader, Schlagbaum, teild romaniſche oder fonft fremde in unferer Lautgebung wie Apfelfine, Juwelier, Kartoffel, Preisfurant. Am beften aber Tann er fi) durchhelfen mit franzoͤſiſchen Entlehnungen, die auch bei uns ablich find, wie Ballon, Kommode, Kompott, Lampe, Möbel, Reſtaurant; als Kenner des Franzöſiſchen verftändigt er fih auch noch mit einigen uns jebt abgehenden, aber im Slawiſchen noch lebendigen Lehnmwörtern aus dem Franzöfifhen wie debarcadere „Bahnhof“, diligence. „Eilwagen“, gazette „Zeitung“; dagegen braucht er fih auf das Engliſche nur felten zu ftüben, fo bei dem Ausdrud „Schienen“ (engliſch rails), ſchon nicht mehr bei Beeffteal, Pudding und PBunf oder bei Waterflofett.

So ſucht aljo Die gewöhnliche Lebenserfahrung die Brüde zwiſchen Deutichen und Slawen an der faljden Stelle, auf der Seite der Lehnmörter, nicht in der Gegend der Erbwoͤrter.

Der nachdenklidde Geift der Allgemeinheit dagegen ſieht in noch fhärferem Gegenſatz zu der Willenihaft hier überhaupt Teine Brüde, fondern nur eine Aluft: er entdeckt zwiſchen den Völlern überall nur Berjchtedenheiten und faßt diefe zufammen unter dem Begriff der Raſſe. Die indogermanifche Sprad- wiſſenſchaft kann ein Lied fingen von diefer Nafjenfrage, leider ein rühmliches: denn mit fliegenden Fahnen und voreiligem Giegesgefchmetter ift bier bie Forſchung auf Jahrzehnte hinaus in eine binterhältige Sadgafie geritten.

Man erflärte die Sprachverwandtſchaft als Folge einer Völferverwandichaft und fchrieb auf Grund einiger Andeutungen bei alten Schriftftellern nicht nur den Germanen, fondern auch dem Urvolf boden Wuchs zu, blaue Augen, weiße Haut und blondes Haar, dazu fpäter noch Langichäbeligleit. Glieder dieſes Herrenvolles, bei dem die Auslefe der rauhen Urheimat während ber

Grenzboten II 191R 18

974 Die europäifhen Sprachen und der Krieg

Bereifung Europas dieſe milde Art des Albinismus heranzüchtete, mußten nad den fühnften Vertretern biefer Lehre alle großen Männer fein, nad Chamberlain in den „Grundlagen bes nennzehnten Jahrhunderts“ auch Ehriftus.

Aber Kronos verſchlang auch bier nad) und nach wieder alle feine Kinder.

Zunächſt konnte der nicht abzuleugnende dunkle und rundlöpfige Teil des indogermanifhen Bollstums nur eine unechte Beimifchung fein, Nefte von unterworfenen Stämmen und Raſſen. Nur ftellte fi) bei genauerem Hinfehen diefe Beimifchung heute als Hauptteil heraus, nicht nur bei den andern inbo- germaniſch redenden Völkern, fondern jhlieplic auch bei den Germanen, wo die angebliden Raſſenmerkmale von Norden nad Süden abnehmen, bis zum Beriäwinden: während bie feinerzeit von Virchow angeregte Unterfuchung ber Schullinder für Lauenburg 45 Blonde ergab unter 100, für Baden nur 24, entdedte die Schädelmeffung unter 100 Köpfen in Südbaden 95 runde, in Friesland nur 49; und ebenfo, verglichen nad) Städten, in Freiburg 93 runde, in Bremen nur 42.

Daß fich freilich die Bewohner verfhiedener Gegenden an Körper und an Geift unterfcheiden, zeigt fon in Baden das Nebeneinander von Alemannen und Franken, bei den Slawen der Gegenfah von Ruſſen und Polen, ähnlich wie am Nil die edlen Geftalten der Hieroglyphenbilder mit ihren Mandelaugen hervorleuchten aus der armfeligften Fellachenbevöllerung. Aber die Urfachen diefer Unterſchiede und die Tragweite ihrer Wirkungen kann den Spracdhgelehrten nur die Naturwiſſenſchafft ergründen, fie, die der Sprachforſchung ſchon fe manchmal vorwärts geholfen bat, durch Darwin, Brüde, Helmholtz; fie leuchtet dann aud heraus aus dem Zweifel darüber, ob man ein foldhes Merkmal für ein altes Erbftüd halten müfje aus dem Hausrat der Väter oder für eine junge Errungenſchaft, gewonnen im gemeinfdhaftlichen, gleichgeftellten Kampf ums Dafein.

Bis dahin meidet man am beiten das Meer ſchwankender Bermutungen in der Raſſenfrage und richtet fein Haus nur ein auf dem fiheren Grund ber Erde, der Sprade. Schon diefe lehrt für heute genug durch die drei Kreife, bie fie uns in Europa als feitummallte Einheiten entgegenftellt, da8 Romanen- tum, das Slawentum und das Germanentum.

Die romaniſche Welt liegt unter dieſen drei Einheiten dem Blid ber Dffentlichleit am freieften da, und durch die Brille des Lateins fieht er deren Bufammengebörigleit als etwas Gegebenes an, mehr als der Außerlide Sad verhalt zunächſt rechtfertigt. Die Lupe des Forſchers verfeinert das Bild um vielfade Züge und Abtönungen. Wenn fie zwiſchen den vier bis fünf Haupt- gebieten noch den einen oder anderen eigenen Kreis entdedt, jo neben der Mundart der Nordfranzofen noch das Provenzaliiche, und ihm zur einen Gelte, befonders in der welſchen Schweiz und Savoyen, da8 Franloprovenzalifde, anderfeit3, gegen die Pyrenden zu, die Katalanen, fo mildert dieſe Einfügung nur die Schärfe der Übergänge zwifchen den Hauptgebieten und legt den Zaum

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wieder nieder, den die Entwidlung ihrer Schriftiprachen errichtete. Denn wie der Näherftehende in dem Provenzalifhen ein notwendiges Bindeglied erkennt zwiſchen Franzöfif und Italieniſch, und wie das Frankoprovenzaliſche vermittelt fowohl zwifchen Franzöfifch und Provenzaliſch als zwiſchen diefen beiden und dem Italieniſchen, fo ſchlägt das Katalaniſche wieder zwiſchen Brovenzaliih und Spanif& eine geiſtige Brücke, die ihre Pfeiler über die Pyrenden und die burg- artige Kuppe des Monijerrat fpannt bis gegen Valencia, in gewiſſem Sinn als Entſchädigung für die Lüde, die bei der wirfliden Brüde der Bidaſſoa Das Baskiſche zwifchen die romanischen Völker reißt. Das bißchen Spaniſch, das der fonjt fo ſprachfaule Franzoſe bier an der Grenze in der Schule des Lebens lernt, al Kneipwirt in Luchon oder als Kutfcher und Badediener in Biarrig, füllt diefe Lüde in feiner Weife aus und verſchwindet gegen die Dienfte, die der rege Katalane für die Völlerverbrüderung leiftet. Eine Fahrt öſtlich Dagegen über den Mont-GCenis bringt uns ähnlich nicht nur bei Pignerolo in Waldenferdörfer, mit deren Bewohnern wir uns ohne Mühe auf franzöflfc unterhalten, fondern mit Oberitalien überhaupt in ein Gebiet, wo für das Ohr des Fernftehenden ein halb franzöfifches taltenifch erklingt. -

Nur die rumänifche Scholle hat die flawtiche Flut von ihrem Mutterboden gelöft und in das Land zwiſchen Donau und Bukowina verſchlagen, wo fie zwar ſprachlich in manden Einzelheiten ſtark an ihre Nachbarſchaft gebunden ift, fo durch eine das einheimifche Sprachgut faft erftidende Fülle von ſlawiſchen Sremdmwörtern, wo fie aber ihr Iateinifches Ausfehen doch nicht nur beibehielt, fondern durch Wortanleihen bei Italienern und Franzoſen fpäter wieder Träftig anffrifchte. Man ſchätzt daher im Kreife ihrer Bewohner das Deutihtum und das Deutſche Reich ſehr Hoch, am eheiten an den leitenden Stellen und innerhalb des Judentums, und füllt darum in der Hauptftadt gern die weiten Säle der vtelfeitig gegabelten deutfchen Schule; aber das Herz zieht die breiteren Schichten des Bolls in diefen Tagen doch unzmweideutig hinüber zu den Franzofen, ſchon aus Abneigung gegen die mit ung verbündeten Ungarn.

Diefe landſchaftliche inhettlichfeit verftärlen aber in der Gemeinſprache auf das allerfräftigite geichichtlihe Ausgleichungen doppelter Art.

Einmal haben fi) die Romanen immer und überall als Nachkommen der alten Römer gefühlt und in ihren Reichen nicht nur das Lateiniſche lange als eigentlide Schriftiprache verehrt und verwendet, fondern aud) dem Baum ihrer ſchriftſprachlich ſchon feitftehenden Landesſprache fortwährend neue Reiſer auf- gepfropft, jo in Franfreih vor allem zur Zeit Karls des Großen und im Zeit⸗ alter Franz des Erjten, in Spanien im vierzehnten Jahrhundert und fpäter in den Tagen Calderons. |

Diefe Ausbeutung des Erbes der Alten, die fogar den Eatbau zeitweilig im bie Geleife Ciceros zurüdlenten wollte, ift heute nur dem gelehrten Auge erlennbar. Der gemeine Mann führt daher auf romaniſchem Boden jebt ahnungslos Wortformen im Munde, die ſich für den Kenner der Sprachgeſchichte

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an ihm ausnehmen wie Ausdrüde Wulfilas im Munde eines Schweizer Berg- führers, Wortformen übrigens, die für die heutige Begriffswelt des Romanen ganz unentbehrlid) geworben find, wie franzöfifd) facile, fertile, juste, crime, penser, trahir. Tatfählih find fie wegen ber engen Verwandtſchaft zwiſchen Latein und Romantic) für ihn aber kaum etwas anderes als für uns Ausdrücke, die eine jüngere Zeit wieber aus dem Altdeutſchen berporfuchte, Ausdrüde wie bieder, Fehde, Halle, Hort; denn fie find Fleiſch von feinem Fleiſch, während wir mit unfern griechiſch⸗lateiniſch⸗ romaniſchen Entlehnungen bunte Seidenlappen einfeben ig unfer einheimiſch einfarbiges Wollfleid. Aber nicht nur mit gelehrtem Iateinifhem Tuch bat der Romane in allen feinen Reichen gern eine begriffliche Blöße verbedt, fondern auch mit romanifchen Stoffen aus anderer Gegend.

Schon die beiden franzöſiſchen Sprachgemeinfchaften helfen ſich gegenfeitig vielfad aus, wenn aud die Schlußabrechnung die Einfuhr nad) der Provence als größer erweiit als ihre Ausfuhr nad) Paris. Denn die wenigen üblichen Ausdrüde, die als verbleibende Tropfen aus einem geſchichtlich lange Zeit riefelnden Bad) noch heute im Norden Heimatsrecht genießen (abeille „Biene“, rossignol „Radtigall”), wiegt der verzehrende Einfluß mehr als hundertfach auf, den der Norden als Duelle der Schriftipradde und als Herb des ganzen Staatögebäudes bis in die entlegenften Gebirgsbörfer übt; er fchlägt fih zum Beifpiel in einem Auvergnedorf bei Elermont-Ferrand ſprachlich nieder in mund- artlich zugeſtutzten Entſprechungen für facture „Rechnung“, fatiguer „ermüden“, teliciter „läd wünfhen”, maigre „mager“ und vielen andern.

Einen viel weiteren Ausblid gewähren die Entlehnungen aus einer der fonftigen romaniſchen Hauptiprachen in die andere, Entlehnungen, die entweder die Alpen überfteigen ober die Pyrenäen oder beide, je nachdem fie von Frankreich ausgehen oder von Stalien, feltener von Spanien. Da bier im Mittelalter erft Franfreih den Reigen anführt, dann aber, mit der Wieder- erwedung des Haffifhen Altertums, Stalien die hohe Schule wird für bie Wiſſenſchaft, für Handel und feines Gewerbe, für die Kunſt des Pinſels und der Töne, aber auch des gefelligen Lebens wie des rauhen Strieges, bis ſchließlich nad einer vorübergehenden kurzen Blüte Spaniens Ludwig der Vierzehnte doch wieder feine Franzojen in den Vordergrund fchiebt, fo wechleln Ebbe und Flut an allen Stellen mehrmals ab. So tragen in talien franzöſiſches Gewand eine Reihe von Ausprüden wie arnese „Harniſch“, bersaglio „Zielfcheibe“ (davon bersagliere „Scharfſchũtze“), und franzoſiſch ift Die ganze Endung -iere. Der Sondoliere in Venedig nennt ſich aljo ähnlich vornehm wie ein deutfcher Lagerift oder ein Hühnerologe. Bas Franzöſiſche ift noch viel gaftlicher geweſen. Allein aus Italien beherbergt es nicht nur eine umfänglide Schar von Einzel- wörtern wie bal „Ball“, balcon „Ballon“, guide „Führer“, moustache „Schnurrbart“, fondern als Endung vor allem die Form -esse (in forteresse „Feſtung“, jeunesse „Jugend“, noblesse „Adel“), die übrigens noch nad) Spanien weitermanderte: die ſpaniſche grandeza fieht von hinten alfo italieniſch aus.

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Auf diefe Innigleit der Beziehungen innerhalb des romaniſchen Berwanbt- ſchaftskreiſes wirft das richtige Licht erit die Tatſache, daß ſich diefes felbe Gebiet gegen das Germanifche im Vergleich dazu wie durch eine hohe Mauer abfhließt, die nur in der Zeit der Völlermwanderung ein einigermaßen: offenes Tor hat für einzelne Wörter aus dem Bereich bes Friegerifchen und ftaatlichen Lebens, der Landwirtichaft oder der Schiffahrt (aune „Elle“, bateau „Schiff“, gazon „Wafen“, blanc „blant“, laid „leid, häßlich*“, riche „reich“) und auge nahmsweiſe au für die Endung -ard, die aus Eigennamen wie Eberhard, Reginhard-Reinhard (franzöfifch renard „Fuchs“) überfprang auf andere Stämme (fo franzöfiih in communard „Mann der Kommune“, vieillard „Greis“), daneben au für zahlreiche Berjonennamen, darum aud für Raymond „Raimund“, den Vornamen des Mannes „mit der geballten Fauſt“, Poincaré, wie für Garibalbi.

Bon diefen Nomanen durch eine Welt geichieden ift der große, auch wieber feft umfchloffene Kreis der Slawen, nit nur räumlich, fondern auch in Weien, Zeben und Sitte, und nicht zum mindeften in der Sprade.

Während der Romane die Wortbiegung durch Hilfswörter erfegt (metft dur) Präpofitionen: de la tete, A la tete) und die einfachen Zeitwortsformen des Latein in Wortgruppen auflöft (lateiniſch donavit: franzöſiſch il a donne), die freilich wieder zufammenmwadfen Tönnen (il donner-a eigentlid) „er bat zu geben“), verfügt der Slawe mit Ausnahme des Bulgaren, der ſich hierin wie in ber Anwendung des Artilels dem Romanen gleichftellt, noch über feben aus alter Zeit lebendig gebliebene Kaſus und über ein ausgeprägtes Zeitwort, allerdings in auffällig altertümliher Form. Während nämlich das gefamte Weftenropa vor allem die Zeititufen hervorhebt, das Verhältnis zum Augenblid des Spreddens, und die Vergangenheit fcheidet von der Gegenwart, ſchildert der Slawe eher die Art des Verlaufs einer Handlung nad) Augen- blilichleit ober Dauer. Was der Franzofe aljo ausnahmsmweije durch das Nebeneinander von Sjmperfelt und Perfelt andeutet (il allait il alla), und mas wir als Unterſchied empfinden bei er wacht er wacht auf, dos iſt für den Slawen der fpringende Punkt. Der Sat „Die Schwalbe flog zum Neft“ lautet für ihn alfo dreifach verſchieden, je nachdem er einen einmaligen ganzen Flug im Auge bat, oder nur die Ankunft im Neft, oder einen mehrmaligen Flug.

Eine Altertümlichkeit ift auch die Beweglichkeit des Worttons der meiften ſlawiſchen Sprachen, des Ruſſiſchen, Bulgarifchen, Serbofroatifchen, Sloweniſchen und des Kaſchubiſchen, die hierin das Griechiſche übertreffen, indem fie nicht an die letzten brei Silben des Wortes gebunden find, fondern aud) die viert-, fünft-, fechftlege Silbe betonen können. Daher heißt bei den Serben ber eine oſterreichiſche Landesteil Buͤkowina (ruſſiſch Bulowina), der andere, nad) einem Herzog Stefan benannte Herzegowina; in Bosnien nennt man die Hauptſtadt Särnjemo, einen Bewohner von ihr Sarajewac, eine Bewohnern aber wieder Sarajewla. Nur das Bolniihe hat den Ton faft überall auf der vorlegten

278 Die europäifhen Sprachen und der Krieg Silbe feftgelegt, das Tſchechiſche und Serbiſche auf der erften: der polnifche Berfafler von „Quo vadis“ heißt alfo Sjenkjewitfh, dagegen die Beamten des Kaifers Matthias, die mah zu Beginn des breikigjährigen Krieges in Prag aus dem Fenfter ftürzte, Märtinig und Slawata, der Schladhtort des Jahres 1866 Sadowa. Dazu lommen als weitere Vorzüge einmal eine reich entwidelte Vähigfeit der Wortableitung und noch mehr eine große Freiheit in der Wort⸗ ftellung, die in Verbindung mit einer meift vorhandenen Bierzahl der Partizipien und einer beifpielswetfe in der ruffiihen Schriftipradhe zu Gebote ftehenden Zweizabl der Gerundien die Verfnüpfung der Gedanken ſehr erleichtert, vielleicht mehr als die unfelige deutſche Verſchachtelung ber Nebenjäge.

Alles in allem ftehen alſo die ſlawiſchen Sprachen auf einer hohen Stufe.

Aber auch rein lautlich find fie befier als ihr Auf, und ihre Kenner ftellen fie trob ihrer vielen Zifchlaute und trog ihrer zahlreichen Palatal- fonfonanten an Klangfüle vor das Deutſche. Das Ruſſiſche jedenfalls iſt mindeftens ebenſo vokalreich wie das Deutſche eine Probe hat auf 100 Laute im Ruſſiſchen 42 Vokale ergeben, im Deutſchen nur 36 —, und diefe Bolale wechſeln ziemlich bunt untereinander ab, ungeachtet vielleicht einer gewifſen Borberrfhaft des a: eine Stichprobe aus Zurgenieff enthielt 53 a gegen 40 andere Bolale, eine fleinruffiihe Probe allerdings nur 38 a gegen 148 fonftige Bolale. Und in der Zonführung nimmt es das Serbiſche wenigftens mit den melodifchften deutſchen Mundarten auf, weil es in den Tonſilben Ab- ftieg und Anftieg nach Stärke und Höhe ſcharf auseinanderbält: denn damit ſcheidet e8 zwifchen feinen Formen ähnlich, wie der Nheinländer zwiſchen dem Dativ Baum und dem Akkuſativ Baum.

Wie ftellen fi) aber die Slawen untereinander, und wie ftellen fie Aid) zu uns?

Zunächſt heben fi aus ihrer großen Maſſe zwei geichlofiene Gruppen heraus: die fühliche der Slowenen, Serbokroaten und Bulgaren, unter denen die Bulgaren auch ſprachlich heute am eheſten einen eigenen Weg gehen, mie fie auch urfprünglich ein finniſches Bolt waren, das die Sprache der von ihm unterjochten Slawen annahm; "daneben die weitlihe ®ruppe der Polen, der Sorben und der Tſchechen, zu denen man als Unterabteilung die Slowalen ftelit, die übrigens nicht alle im Ausland Mausfallen verlaufen, fondern in der Mehrzahl zu Haufe Liptauer Käſe bereiten, den Ader pflügen und Wein ziehen; die dritte und größte Gruppe, die Ruſſen, rechnet man am beiten für fi, nicht zu den Sübvöllern; fie zerfällt in die nördlichen Großruffen, die füdliden Kleinruffen (Ruthenen oder Ulrainer) und in die Weißruffen im Weften. Bebrohlich tft bei diefer Verteilung der Widerftreit zwiſchen Sprachgebiet nnd Staatshoheit.

Die Kleinrufien bevöltern nod ganz Galizien und ftoßen da im Süden, bei Czernowitz, an bie ungarländifhen Rumänen; und das Serbiſche erfüllt

Die europäifchen Sprachen und der Krieg 279

nit nur die ganze Strede vom Timok bis zum Adriatifhen Meer, vereinigt alfo das alte Königreich Serbien, Altjerbien und Montenegro mit Bosnien, der Herzegowina und Dalmatien, ſondern dedt ſich ſachlich auch völlig mit dem Kroatiſchen, und Grund zu der Trennung in ſerbiſch und kroatiſch ift außer der Verſchiedenheit des Belenntniffes nur die Form der Buchſtaben: die rechtgläubig-griechifchen Serben jchreiben eigene Zeichen, die römiſch⸗ latholiſchen Kroaten dagegen die lateiniſchen Buchftaben. Dazu wurzelt Die ganze kroatiſche Schriftiprache überhaupt im Serbiſchen, und ihr Begründer Bul Stefanomwic Karadſchic (1767—1864) gehörte durch feine Eltern nad) der Herzegowina und nad) dem nörbliden Montenegro.

Die einzelnen Sprachen dieſes Kreifes find nun an ſich zwar deutlich von- einander gefchieden, fo daß der Tſcheche Schafaril im Jahre 1825 feine Geſchichte ver ſlawiſchen Sprade und Literatur deutſch fchreiben mußte, um nur im Dfterreich- Ungarn allen flawifchen Stämmen verftändlich zu werben.

Doch iſt diefe Verſchiedenheit Feine unüberfteiglide Scheibewand, am wenigſten in der Schriftiprache.

Denn wie im Romaniſchen das Latein, jo thront über den ſlawiſchen Einzelſprachen die Kirchenſprache des Altbulgariſchen, die für die ſüdliche und die öſtliche Gruppe lange Zeit die einzige Schreibform war, für das Ruſſiſche über Peter den Großen hinaus, für das Serbokroatiſche bis zum Beginn bes neunzehnten Jahrhunderts. Darum führt gerade der ruffiihe Wortſchatz txoß der erfolgreichen Reinigungsbeftrebungen des Geſchichtsſchreibers Karamfin (1766 bis 1826), des Fabeldichters Krylow (1768 bis 1844), des Schaufpieldichters Gribojedom (1793 bi8 1829) vor allem in der Dichtung noch heute manche Ausdrücke in Tirchenflamwifcher Lautung weiter, jo wremja „Zeit“ (neben nord⸗ ruſſiſch wirklich vorliegendem mweremja), jo den Namen Wladimir neben feiner Abkürzung Wolodja.

Aber auch ohne diejes Kirchenſlawiſche find die heutigen Schriftiprachen der ' Slawen einander doch jo ähnlich, daB eine gute Kenntnis der einen ſchon das Berftändnis der andern ermöglicht, vor allem im Drud. Mag der Ausdrud au einmal wechleln, fo Klingen Doch Lautgeſtalt, Wortbildung und Wortbiegung immer ziemlich aneinander an.

Und im mündlien Verkehr fteht es wohl ähnlich.

Zwar find alle ſlawiſchen Hauptipradhen mundartlid ſtark geipalten. Dennoch entdedt bier nicht nur die Forihung überall Berübrungspunlte in ber Geſtalt allmähliher Übergänge, fondern auch die lebendige Erfahrung: wenn ſelbſt ein Ausländer mit einiger Kenntnis des Ruſſiſchen auch in einer polnifchen Unterhaltung manches aufſchnappt und fich in Montenegro und Bulgarien fogar bei den unteren Volksſchichten durchhelfen kann, wie viel eher ein gebürtiger Slawe, zumal mit Bildung und Geſchick!

Noch machen die Slawen von diefer ſprachlich erleichterten Möglichkeit engeren Zuſammenſchluſſes feinen allgemeinen Gebrauch, fondern liegen fid)

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vielfad) in den Haaren: während die Serben mit den Bulgaren ftreiten um Mazedonien, läßt im faiferlihen Rußland der Großruſſe den Kleinruſſen faft ebenjowenig auflommen, wie den Polen, der in Galizien den Ruthenen aud ſeinerſeits nur quält.

Die ruffifhe Abneigung gegen Deutichland, die ſchon früher jedes rufflfche Ungemach Bismard in die Schuhe ſchob, und die fchon damals weite Schichten einen Krieg mit unferm Reich als einen halben Kreuzzug betrachten lieh, wie mir ein befreundeter. Gutsbeſitzer einft offen ins Geficht geitand, findet die Heineren ſlawiſchen Brüder noch nicht richtig bereit zur Gefolgichaft, ſchon weil biefe Angft haben muſſen von der Moskauer Knute, die Andersgläubigen und Freigeiftigen auch vor den Schnüffeleten des heiligen Synode.

Die Zukunft fann das ändern. Dann aber bringt fie uns nicht weniger Gefahren als dem britifchen Vetter, der fi dann natürlich wieder feiner ger maniſchen Abſtammung erinnert.

Wie ſteht es nun mit dieſer Abſtammung, und wie überhaupt mit den Brüdern aus dem germaniſchen Hauſe?

Nachdem das Wirrſal der Völkerwanderung von den drei —— des germaniſchen Sprachaſtes den öſtlichen abgeknickt und zertreten hatte mit der hoffnungsvollen gotiſchen Blüte daran, ſtand allein noch der ſtandinaviſche Zweig dem bisher wefſtlichen und jetzt allgemein feſtländiſchen gegenüber, an dem fi) das Friefiihe, damals noch zwiſchen Nordſee und Leine, mit ſeinem nordöftliden Nachbarn, dem Angelfähhfiiden, von dem fonftigen Deutſchen abhob. Auch als die Angeln mit den angrenzenden Sachſen auf das bisher rein Feltifche Britannien übergefegt waren, hingen fie noch geiftig zufammen mit ihren feftländifden Berwandten. Dieſes Band zerriffen erft die Einfälle der Nordmänner: weniger der unmittelbare von Dänemark aus, der den ganzen Oſtſtreifen zwiſchen Tweed und Theme losrik und hier von 800 bis über 1100 hinaus dem Nordiſchen eine filhere Stätte bereitete, an die noch heute nordiſche Wörter im Engliſchen erinnern wie law „Geſetz“, bylaw „Ortsgeſetz“, sky „Himmel“ und to take „nehmen“, als die mittelbare, über die Normandie hinweg fett dem Jahre 1066: nachdem diefe Wilinger an der franzöfiichen Weſt⸗ füfte im Laufe von hundertundfünfzig Jahren franzöfifche Spradde und Sitte ange- nommen hatten, hielten fie in England dreihundert Jahre fo zäh daran feft, daß fie damit England ſprachlich in ein ganz neues Fahrwaſſer fteuerten, und daß darum der Deutſche jebt dem echten Altengliichen weniger ratlos gegemüberfteht als die Nachfahren der fagenhaften Hengift und Horfa. Daß der König und fein ganzer Hof nur Franzöſiſch verftanden, Gericht und Parlament nur in Franzöoͤfiſch verhandelten, hatte zur Folge, daß heute nad) einem Wort Leffings die Sprache der britiihen Inſel in der Hauptſache Franzöfiich ift, nur engliſch ausgeiprochen, und daß zur Ausftattung des nicht Hafftich gebildeten Engländers ein Wörter- buch gehören fol, das ihm die fremden Ausdrücke erflärt. Und als das ein- heimiſche Sprachgut vom Jahre 1400 an wieder mehr zu Ehren fam und bie

Die europätfdyen Sprachen und der Krieg ' 981 Sprache gerade angefangen hatte, ihre inneren Unebenheiten zu glätten, ftrömte no einmal Fremdländiſches herzu, bauptfächlich Lateinifches und Griechiiches, in den Tagen, die das alte Rom und das alte Hellas unter feinem mittel- alterlichen Schutte bervorfteigen fahen, teilmeife im Laufe des fechzehnten Jahrhunderts au Spaniſches.

Seitdem zeigt die Sprache des Briten vor allem in Wortſchatz und Wort- formung ihr Doppelgefidht, und der Verfluß der Jahre Hat die romaniſchen Züge darin nicht verwiſcht, ſondern ſtets kraͤftiger herausgearbeitet.

Alles in allem bat alſo England ſprachlich mehr als halb das Band durchſchnitten, das es an Mutter Germania Mnüpfte, und fi) damit befonders Paris zuliebe den Weg veriperrt nad Berlin und Wien, den Weg aber aud zum Berftändnis deutſchen Weſens. Freilich tft diefer Weg für England etwas lang, dadurd, dak er Über das ihm zunächſt liegende Niederdeutſche zum Hochdeutſchen binausführt.

Doch Hat der ſtandinaviſche Norden diefen mühevolleren Weg zu uns nicht geſcheut! Das Daniſch⸗Schwediſch⸗Norwegiſche liegt uns von Haus aus dur) mande Eigentünnlichleiten ferner als dem Engliſchen: fo durch die Zer- ftörung der Beugung des Hauptworts und die dadurch notwendig gewordene feftere Wortftellung, dur die Einſchränkung des grammatiſchen Geſchlechts, beim Zeitwort dur die Ausgleichung der Perfonalformen des Präfens (däniſch nit nur han taler „er ſpricht“, fondern auch jeg taler „ih ſpreche“, in der Mehrzahl vi tale „wir ſprechen“, I tale „ihr ſprecht“), im Sakbau durch die Bildung von Beifügefäten ohne einleitende Wortformen (in der Art des englifden the man, | saw, was a lawyer); fern liegt es uns auch durch die übrigend dem Deutſchen entnommene Umfchreibung der Leideform mit bleiben (nad) der Weile des deutſchen: ‚ber König bleibt geliebt, die Stadt bleibt ge- ſchũtzt). Dieſe Kluft zwiſchen uns und unſern nordiſchen Verwandten hat der Lauf der Geſchichte ſtellenweiſe ganz gangbar überbrückt. Denn über ein Jahr⸗ taufend lang ſtrahlte deutſcher Einfluß über Dänemark nad) Schweden und Rorwegen aus: vom Abſchluß der Völlerwanderung, wo der Niederrhein den Rordländern über da8 Sachſenland hinweg die Stegfriedfage und die Wodans- verehrung zuführte, über Guſtav Adolf hinaus, bis zu Klopftods Aufenthalt in Kopenhagen, wo zuerſt der aus Norwegen gebürtige Dichter Holberg der fhwellenden Flut einen Damm entgegenfegte, ja noch weiter, bis zu unjern Tagen, wo erft Geyer und Tegner fiheren Erfolg hatten in der Abwehr. Die Sanfa, die In den ſchwediſchen Städten fogar Anteil beanſpruchte an der Ber- waltung, einigermaßen auch die Reformation, mehr wieder der breikigjährige Krieg und die daraus folgende ftantliche Verkoppelung mit Deutichland, gaben diefer Strahlung ihre Richtung und ihre Kraft. Sie brachte ſprachlich fogar niederdeutſche Wortbildungsmittel nad dem Norden (jo die Borfilben der Wörter be-gehren, ent-fallen, ver-laffen, und die Nadjfilben der Wörter teil-

282 Die europäifhen Sprachen und der Krieg

baftig, offen-bar, Dieb-erei, Falſch⸗heit, Fürft-in, höf⸗iſch), und jo viele deutjche Einzelwörter, daß es im Däniſchen davon geradezu wimmelte: vor allem niederdeutſche im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert, hochdeutſche erft im ſechzehnten und fiebzehnten Jahrhundert. Solche deutſchen Eindringlinge leben noch beute im Norden üppig fort, fo bei den Dänen: achten, Angit, arbeiten, Bild, bleiben, Faftelabend, doch, je-je „je deſto“, dazu unverfälicht hochdeutſche wie Kranz, plöglid, treffen; bei den Schweden nit nur brauchen, Bürger, frei, fremd, Edelftein, Schmwertfeger, Schuhmacher, fondern auch wieder bod)- deutſche wie kratzen.

Das ſtaatliche Zerwürfnis zwiſchen Dänemark und Deutſchand hat bier zwar gewirkt wie ein hoher Schutzzoll. Aber abgejehen davon, kommen uns die Nordländer doch auch heute fprahli in weiten Maß entgegen, jo daß befonder8 das gefchäftige Kopenhagen den Reiſenden anmutet wie eine balb- deutfche Stadt.

Leider können wir dem Norden diefes freundliche Wohlwollen nur unvoll- kommen vergelten, in Dänemark wegen der Schwierigleit der gerade hier maß- gebenden feeländifchen Ausiprache, in Schweden nicht jo recht wegen der Eigenart feiner klangvollen Zonführung; kaum aud in Norwegen, nicht nur, weil das bier Schriftipradhe gewordene Däniſch nicht in das Boll dringt, jondern auch, weil dem gerade im Bolf der Einfluß des Englifhen entgegenfteht: weniger dan? den bier bei billiger Unterkunft im Sommer Lachſe angelnden Briten als infolge der gewinnbringenden Beziehungen der norwegiſchen Arbeiterflaffen zu nordamerilaniſchen Häfen, Bergwerlen und Fabriken.

Holland und das belgiihe Flandern endlich, mit denen fi} der germanifche Sprachkreis um uns herum fchließt, find gutes, deutfches Urland; abgejehen von dem friefiihen Nordrand und den niederſächfiſchen Landichaften um die Hfiel, ein Stammftüd des fränkiſchen Gebiets, zu dem aud Köln gehört und die Pfalz, und die fpradlih wie nad) der Art der Bewohner mit diefen Gegenden enger verwandt find als der Badener in Heidelberg mit dem Badener in Yreiburg- Aber fie find ihrer Herkunft nicht fo umentwegt treu geblieben, wie wir es gern erwarteten. Auch ſprachlich bat diefe Norbweitede von Deutichland nicht mehr viel wiſſen wollen, nachdem fie feit dem Jahre 1200 ihre fränkifche Mundart zur Schriftipradde erhoben hatte, und darum auch nur wenigen echt- deutihen Wörtern nachträglich noch Gaftrecht gewährt, wie äten, Harz, Kurz⸗ weil, Kranz, Spieß, verzagen, zerren, Zieratt zittern, zollen.

Viel mehr Gnade bat bei ihr das Franzöfifhe gefunden, da dieſem außer anderem im fünfzehnten und fechzehnten Jahrhundert die hochfinnige Gunft der burgundiſchen Herzöge Vorſchub leiftete, fpäter die Verbindung mit. dem Reihe Napoleons.

So tft das Land der Generalftanten, das der Sprache jeines neidiſchen Nachbars England immer fehr kühl gegenüberſtand und ihr früher nur jelten einen Ausdrud entlehnte, ein behaglicher Hort des Franzöfiihen geworden:

Die europäifhen Spradyen und der Krieg 283

befonders im Haag, das nad dem Ausſpruch eines Zeitgenofien im Jahre 1641 von galliiden und holländiſchen Yranzöslingen wie überflutet war; dort gaben ſich nicht nur der Hof und alle Herren des SchwertS und der Feder ganz pariſeriſch, ſondern noch im neunzehnten Jahrhundert war bei den höheren Schichten die Sprade des hier einft halbvergätterten Voltaire das modiſche VerftändigungSmittel im Briefmechfel und in der Geſellſchaft.

Bir ermeffen die Wucht und den Umfang diefes nachhaltigen Einfluffes am beften an dem traurigen Erfolg: nit nur find dort unfere fühlichen Örenzmarlen, die im fiebzehnten Jahrhundert noch bis Boulogne reichten, jet weithin abgebrödelt; aud in Holland hat die Sprade von ihrem galiihen Bormund für immer eine Unzahl von Einzelmörtern Äbernommen: nad) der Auswahl eines Turzen etymologiſchen Wörterbuchs, das im ganzen 8000 Formen zufammenfaßt, über 1000, gegenüber rund 650 aus dem Latein, 200 aus dem Deutfchen und 68 aus dem Englijchen.

Den Wall, der die drei hauptſächlichſten Sprachgebiete Europas jo grund- fägfih voneinander jcheidet, hat der Strom der Kultur alfo an verſchiedenen Stellen überſchritten und dabei fprachliches Gut zahlreich von der einen Geite auf Die andere geſchwemmt.

Sein Lauf geht im allgemeinen von Süden nad) Norden und Diten, und er Reigt bei feinem Borfchreiten ftufenweife abwärts. Indem er erft von Rom ansgeht, dann von Paris, findet er den erften bedeutenden Widerftand auf dem Dftufer der Weichſel. Hier ftaut ſich fein Waſſer in dem weftlich davorliegenden beutichen Beden, bis es, zunädjit gehoben dur einen mächtigen reindeutichen Schwall, in neuem Anfturm nad Dften und Norden weiterbrict: fo gelangt der Titel Caefar erft als Kaifer zu uns, dann als Zar bis nad) Mostau; ebenfo fchon von den Goten aus das germantihe Kuning „König“ in der Bedeutung „Yürft“ zu allen Slawen; dazu noch fpäter der Name Karls des Großen, der den Dftlenten (als Kräl, Kröl) heute die Königswürde ver- örpert und in den Perfonennamen Kral und Kroll zu uns zurüdwanderte.

Wie viel unfere deutfchen Fluren von dieſem fremdländifchen Wafler in fh aufgenommen haben, mögen wenigftens einige Zahlen veranfdhaulichen, die gleich nachher vergleichsweife einen Maßſtab abgeben können für unfere Ber- dienfte um den ſlawiſchen Dften.

Während fi) der deutſche Wortihat nach der kulturgeſchichtlichen Gefichts- punkten Rechnung tragenden Darftelung %. Seiler8 vor der Einführung des Chriftentums nur etwa 330 Fremdbroden einverleibt hat, und ungefähr eben jo viele nach der grundlegenden Zufammenjtellung Friedrich Kluges, eignet er id wieder nad) Seiler8 Wörterverzeichniſſen von da bi8 zum Ausgang des Mittelalters noch ein gutes Tauſend weitere an, in der neueren Zeit außerdem gar noch 4800. Eine Hochflut brachte dabei der dreikigjährige Krieg: auf einer Streife in den Schriften des fiebzehnten Jahrhunderts ftieß

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Frau Klara Hechtenberg⸗ Collitz allein auf rund 8400 folder Überläufer, davon die gute Hälfte mit Heimatsrecht auch noch bei uns. Aber auch das deutſche Srembmwörterbuch des gerade in Frankreich gefallenen Hans Schulz, defien alleir erſchienene erite Hälfte nur als Auswahl über 1600 Grundformen beipricht, bätte für unfere landläufige Gebildetenſprache gut die gleiche Zahl erreicht.

Das meiſte von dieſem fremdländiſchen Stoff hält fi aber nicht an ber Oberfläche des guten Schriftiums und der feinen Gefellichaft, ſondern fidert nad und nad hinab bis auf den Urgrund der Mundart, im Süden und Weiten freilich wohl mehr als im Innern des Reichs: jedenfalls führt der St. Galler Bauer gut 400 ausländiſche Ausprüde im Munde, gegenüber einem berüdfictigten Geſamtwortſchatz von höchſtens 4000 Formen immerhin ein leidlicher Bruchteil; der Pfälzer dagegen in dem Heidelberger Vororte Hand- ſchuhsheim bringt es gar auf faſt 700 Fremdwörter, bei einem Gefamtbeftand von 20000 Wörtern für das ganze Dorf und von 10000 bi8 15000 Aus drüden für den einzelnen nach der Schäbung von Philipp Lenz —, glüd- licherweiſe doch nur, um mit Klopftoc zu reden, ein Tropfen am Eimer!

Demgegenüber kann der Einſchlag nicht auflommen, den das Deutſchtum bei dem ſprachlichen Gewande des Slawen hinterlafien hat. Denn fo fehr uns das über Böhmen oftwärts vorbringende Chriftentum vorarbeitete, ſpäter die Geltung des Magdeburger Rechts und der Handel der Hanfa, fteht er bei den noch erhaltenen öftlichen Hauptſprachen der Slawen in feinem rechten Verhältnis zu ber Bodenfläche, die wir ihnen feit Karl dem Großen im Weften abgenommen haben, in feinem rechten Verhältnis auch zu der allgemeinen fremden Beimifchung. Er ift nad dem heutigen Stand wenigftens fogar geringer als bie meift durch unfere Vermittlung hindurchgegangene romaniſche Beeinfluffung. In einem polnifch-franzöfiihen Wörter: und Geſprächbüchlein vom Jahr 1798 kommen auf 3500 bi8 3600 polnifde Ausdrüde im ganzen nur etwa 130 von deuiſcher Herkunft, aber 210 Iateinifch - tomanifche (ein deutſches alfo auf 27 polnifhe Wörter, dagegen ein Iateinifch-romanifches fhon auf 19). Und in einem ähnlichen ruffiiden Werfen aus unferer Zeit jtehen unter 2260 Aus- drüden 268 romanifdhe, 56 rein deutſche und zwölf romaniſch⸗deutſche (Gips, Matrofe), fowie 15 englifche, mithin ein romanifches neben acht bis neun ruffiihen, ein deutiches neben 34 und ein englifches neben 151 ruſſiſchen.

Freilih find die deutſchen Ausprüde den Slawen mehr in Fleiſch und Blut übergegangen als die ihm mehr zur Zierat und als Flitter dienenden Nömlinge: denn die deutſchen Entlehnungen bezeichnen Begriffe aus dem gehobenen Alltagsleben, Handwerle, Gegenftände ber Hausetnrichtung, der Küche, bes Handels, der Kleidung, des Kriegs und der Jagd, und find der weiten Maſſe des Volkes eigen und vertraut, während das aus unjerem Sübmeften übernommene Sprachgut durchgängig Ausbrüde für verfeinerte Lebens- gewohnheiten nur der Gebildete in den Mund nimmt.

Die europäifchen Sprachen und der Krieg 285

Doch deuten ſolche Einzelwörter die geiſtige Abhängigkeit zwiſchen ben europaͤiſchen Bölfern nur ganz grob an, fo wie die flüchtigſten Reihſtiche eine fpätes mit der Mafchine ausgeführte Naht vorzeichnen. Unmerklich fchlingen fih neben ihnen von Sprache zu Spradhe noch zahllofe andere, feinere Bänder, bei denen die entlehnende Gegend ihre Selbftändigleit äußerlich weniger aufgibt, und die gerade deshalb um fo feiter Inüpfen. Sie ſchließen den ganzen Weiten unferes Erbdteils, Romanentum und Germanentum, teilmeife auch noch das Slawentum, zufammen zu einer Ginheit, deren ganzes Denlen und Sprechen, in Wortſchatz und Satzbau, der Geiſt des Lateins beberricht.

Aber diefe Verknüpfung mag noch fo eng fein, einigen Sptelraum bewahren fich die Glieder diefer Einheit Doch noch zum eigenen Atmen und Leben. Das Wafler, das über die Grenze der großen Sprachgebiete flutet, verbeert nur zeitweilig einzelne Felder, im ganzen dient es eher ihrer gleichmäßigen Befruchtung. Reißt die Welle dem Grenzdamm einmal eine größere Lüde, fo ſorgt die Zeit meiſt auch gleich wieder für ihre Schließung: man wirb feiner Eigenart bewußt und ſtößt das Fremde aus, im großen und Heinen. Der Germane fegt bei fih das Romanentum aus, in Deutichland und Holland, in Daͤnemark und Schweden; der Ruſſe wehrt ſich gegen das Altbulgarifche, wie der Standinavier und Holländer gegen das Deutſche, und wie der Deutiche gegen das Englifhe; und jo verdammt in Frankreich Dalberbe auch die aus⸗ laͤndernden Beſtrebungen der Plejade.

Die Führer bei ſolchen Bewegungen treibt in ber Segel das Gefühl für die Würde ihres Volles, manchmal aud die Rüdfiht auf den guten Geſchmack. Unbewußt arbeiten fie aber auch für die Größe und die Stärkung ihres VBolks- tums: denn alles Ausländifhe in der Sprache richtet eine Scheidewand auf zwifhen Gebildeten und Ungebildeten und ebnet dem Sieg und der Allein- berrfhaft der fremden Sprache und eines fremden Volkes nur zu fehr ben Weg, lähmt in einem Staate, wie uns Elſaß⸗Lothringen gezeigt hat, der Regierung auch vielleicht den Arm bei ihren Gegenmaßregeln.

Ein Staat vollends empfindet das Dafein fremder Sprachen noch viel. mehr, zumal wenn er es mit einem jenfeitS der Grenzen gar herrſchenden Bollsteil zu tun bat.

Darum ftreben felbitbewußte Reiche, wie Rußland, Ungarn, aud) Deutſch⸗ land, in ihrem Innern möglichſt nad ſprachlicher Einheit; Franfreid dagegen ſchiebt langſam, aber bewußt und planmäßig durch viele ftille Kanäle feine Sprache vor gegen Norden, in Belgien, wie e8 für fie wirbt in Rumänien.

Freilich kann das Ausland uns in diefen Dingen für die Zulunft über- haupt nur ein recht bedingtes Vorbild fein. Denn daß wir unjere germanifchen Leitern no enger an uns fchließen, ift wegen der geographiſchen und der ſtaatlichen Verhbältniffe, und wie der Stand und der Lauf der Kultur gegen- wärtig nun einmal ift, faum möglich, wenn wir dem Norden und dem nächſten Weiten ſprachlich auch mehr Teilnahme zumenden fönnten. Um jo mehr müſſen

286 Die europäifchen Sprachen und der Krieg

wir im eigenften, im deutſchen Haufe nad) dem Rechten fehen. Für die Aus- landsdeutfchen haben wir Gott fei Dank ſchon vielfach ein offenes Herz und eine offene Hand, auch wo fie auf einem vielleiht fchon verlorenen Boften ftehen. Aber auch unmittelbar an den Grenzen, vor allem im Süden und Südweſten, muſſen wir ſprachlich nur auf das Gemeinſame jehen, nicht auf das Trennende. Nur wenn wir aud) in der ſcheinbar ungelenfeften Mundart des Elſaß den Hauch des deutſchen Geiſtes verjpfren und in den gröbften Zauten des Berner Oberlandes nur die „nadläffig rohen Töne der KRatur“ berausbören, vermeiden wir, beide dem Franzöfiihen in die Arme zu treiben, in denen fie felbft die gutmütigit gedachte Spöttelei eines Neihsdeutfchen immer Schub ſuchen läßt.

Und wenn wir künftig auch von unſerer gerade in letzter Zeit auf Koſten der Literaturfenntnts etwas übertriebenen Wertihäbung der mündlichen Be herrſchung der heutigen Auslandsipradden wieder ein wenig ablommen, und wenn wir ebenfo die Sitte noch weiter einjchränten, unſern Gebildetentöchtern wahllos, auch den unfähigften und unmilligften, im romaniſchen oder englifchen Ausland die letzte Weihe zu geben für den Lebensweg, fo fann das ihrer Bildung und unferm Vaterland nichts ſchaden. Denn das ift im Grunde doch nur eine farblofe, verjpätete Blüte aus der Zeit, da Leſſing feinen Laokoon erft glaubte franzöſiſch fchreiben zu müſſen, aus der Zeit, da Johannes von Müller in der Berliner Alademie der Wiflenfchaften den Geburtstag des großen Friedrich noch feierte durch eine Rebe über „La gloire de Frederic“; es ift ſchilleriſch geredet eine Erinnerung an die „Zage dharalterlofer Minderjährigleit”, die wir nun, fo Gott will, für immer hinter ums haben!

Maßgeblihes und Unmaßgebliches

Schöne Kiteratur

Edgar Poe, Werke. Band 1. %. €. €. Brund, Minden i. W.

Mit diefem Bande ift die verdienitreiche, ttefflihe Ausgabe der Werte ded großen amerilanifhen Dichters zur Vollſtändigkeit gediehen. Und damit dürfen wir das ſchöne Unternehmen doppelt freudig und dankbar begrüßen. Die ſechs Bücher mit dem weiß. goldenen Rüden bilden ſchon äußerlich eine Bierde jeder Bibliothek.

Eingeleitet wird dieſer erite Band, der mit einem Bilde des Dichters und einem Fakſimile geſchmückt ift, durch eine Biographie, welhe Sohn H. Ingram verfaßt Bat. Sie bemüht fi, die gebäfligen, vererbten Ber. daͤchtigungen zu befeitigen, mit denen man Boed Leben folange befudelt Bat. Noch beute gilt ja die Anfiht und ift weit ber» breitet: der Charakter eines Künſtlers ift Ionform feinen Werfen. Ganz äußerlich de- duziert man: bat einer von Mord und Dieb» ſtahl geichrieben, fo muß er felbft irgendwie anrädhig gewefen fein. Was weiß die Menge bon der Seele ded Schöpfer?, von dem Ge⸗ heimnisvollen, Tiefſchmerzlichen, Rotwendigen, von dem, was aus unerforſchten Quellen keimt? Und fo zieht man plump und ſchaal einige jener Schlüſſe, deren der Alltag gerade fäbig ift und deren er fo viele in ungeduldiger Bereitihaft bat, und geht überlegen lächelnd feine Weges. Somit wollen wir Ingram Dank wiffen für fein Bemühen, töridhte und niedrige Segenden befeitigt zu Haben und den größten amerifaniihen Poeten, dieſen feeliiden Spürjäger, diefen Rätjeldeuter, von falſchen Vorausſetzungen gereinigt gu fehen. Ein tieffhürfender Auffag von Moeller van den Brud führt in Edgar Poed Schaffen und Schriften ein; dann folgt eine Auswahl feiner Berje, die zumeift ganz vortrefflich übertragen find. Ein. Dramenfragment und einige

erlag

feſſelnde Auffäge vervollftändigen den Band, der wiederum mit Zeichnungen bon Marcus Behmer geihmüdt ift.

Es wird wohl die Zeit kommen, die in Poe nit nur den Erzähler von graufigen Novellen, von Kriminalnovellen erblidt, fon- dern aud feine brennende Sehnſucht und Einfamteit verftehen lernt. Es bat Künftler gegeben, die in fchöner Klarheit, in reiner Sarmonie geſchaffen haben, die das Licht tiefer Tiebten und freudiger begrüßten, aber wir jollen Ehrfurdt haben vor einem, der mit den dunflen Gewalten des Lebens ge- rungen bat, der unerforjchte Tiefen und Ab⸗ grände fand und mutig Binabftieg, um fie zu erforfhen; vor einem, der fi befreien mußte von geheimnisvollen Mädten, die den Sorglofen, Unbedenklihen fremd und ſchrec⸗ haft erfcheinen. Aber wen Iodte es nicht, Hinunterzufchauen in jene purpurnen Schädhte, wo e3 bligt und gleißt wie von bergrabenen Schägen? ... Wieviel neue Möglichleiten bat diefer Dichter erfchlofien, in welch truntene Fernen bat er gewiefen! Er ſah dem Xode gelaffen ind Auge und erzwang ſich Yivie- iprade mit ihm; er forſchte nad den großen Zufammenhängen bed Leben; er blidie ahnungsvoll hinauf zum Wandel der Geftirne. Und e3 geziemt und, Achtung zu begen vor einem folden raftlofen, ehrlichen Kämpfer, ihn nicht äußerlich zu begreifen, fondern da, wo alle Kunft feimt und wurzelt: im Ewigen! Dazu möge dieſe vortreffliche Ausgabe feiner Werke ihr Teil beitragen; dann bat fie ihren Zweck erreicht! Ernft Ludwig Schellenberg

Laturgefchichte

Menſchen und Tiere in Deutſch⸗Südweſt. Bon Adolf Fiſcher. Gebeftet M. 4.—, ge bunden M. 5.50 (Stuttgart, Deutſche Ver⸗ [ag8 Anftalt). Ein Buch ohne Bildſchmuck, aber in feiner ſchlichten Ausdrucksweiſe an⸗

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regend und überzeugend. Ein Reiſter in der Erkenntnis der vielfältigen Beziehungen zwiſchen Menſchen und Wild zu den Eigen- tümlicäfeiten des Landes fpricht zu und und fefielt unfere Teilnahme. Seine lebenswahren Schilderungen zeugen bon ungewöhnlicher Beobachtungsgabe. Tiber der ganzen Dar» ftellung ſchwebt ein Hauch des Mitleides für das traurige Schidfal der alteinheimifchen Bevoͤllerung und der jagbbaren Tiere bon Deutih-Südweftafrila. Lobensiwert ift dabei die Gründlichleit der in dieſem Werle auf⸗ geivendeten Arbeit, die forgfältige Benuyung und geſchickte Bewertung der in älteren Reife werlen enihaltenen Nachrichten und die ſach⸗ tundige Schürfung der widtigften Beobach⸗ tungsangaben aus den eigenen langjährigen Tagebühern. So bringt Fiſchers Bud auch der Wiſſenſchaft Rugen und wird bei weiteren Forſchungen über Wild und Leute von Deutfch- Sũdweſtafrika weſentliche Dienfte leiften. Was Fiſcher im Vorwort von ſeinem Freunde Otto Eggers jagt, „ſein Rüſtzeug ſei geweſen: Fleiß und Können und die große Liebe zum Land“, daB gilt gewiß auch für den, ber diefe® Buch geichrieben Hat, ein Buch, das jedem Leſer viel gibt und auch dem wiflen- ſchaftlich arbeitenden Forſcher eine Fülle von Be» lehrung darbietet. Prof. Paul Matfchie

Tagesfragen

Kriegsbüdlein für Das beutie Haus, beraudgegeben bon Rechtsanwalt Dr. Georg Baum in Berlin (Berlag von 3. Heß, Stutts gart).

Der Krieg Hat auch die Daheimgebliebenen bor eine große Reihe neuer und ſchwieriger Aufgaben geitellt. Seitdem die dritte Wirt- Ihaftsperiode dieſes Krieges begonnen Hat, Die auch dem Haushalt des einzelnen Individuums Einfhräntungen, Sparjamteit und Überlegung, wie man mit feinen Mitteln auskommen foll, auferlegt, treten eben an den einzelnen fo viel Schwierigleiten und

Maßgebliches und Unmaßgeblidyes

ragen Beran, daß er fi dankbar nad) einem Berater umfehen wird. Run geben wohl die Tagedzeitungen zu allen diefen altuellen Fragen

Auslünfte und Ratſchläge. Aber wer fammelt

diefe und wer ahnt, dab, wenn er heute in feiner Zeitung über irgendein Problem eine Abbandlung geleſen hal, dieſes etwa vierzehn Tage Später für ihn praftifch werden könnte?

So ift e8 dankbar zu begrüßen, daß ein folder Berater auf all den Gebieten, auf denen der Krieg neue Probleme aufgeftellt bat, in Geftalt diefeg Kriegsbüchleins dem deutſchen Volle geboten wird. Bon Wit arbeiten, deren Ramen für Sadlunde bürgen, und unter denen fi Berfönlichfeiten wie Karl Oppenheimer, Oftwald, Heinz Potthoff, Adele Schreiber befinden, find folgende Gebiete gedrängt auf faft 800 Seiten behandelt worden: Hilfstätigleit im Kriege, Krieg und Volkswirtſchaft, Wirtichafteführung der einzelnen Stände, Krieg und Frauen, insdejondere die Hausfrau in Kriegszeiten, Krieg und Jugend, ärztliche Natichläge, Kriegsausrüftung, Liebesgaben, Fürforge für Berwundete, Berfiherungswefen, Kriegsrechtd- fragen, Feldpoſt, Bermittlung von Auskunfte⸗ wegen und endlih Militärifches.

Der Herausgeber de Buches jelbft, NRehisanwalt Dr. Baum, Berlin, der ala einer der beften Kenner des Geiverbe-, Kaufmannd- und Verfiherungsrechted einen ſchriftſtelleriſchen Namen befigt,” Hat Die Kriegsrechtsfragen behandelt, unter denen die Probleme ded Schadenerjages für Kriegs⸗ Ihäden, der Vertragsverhältniſſe im Kriege, des Erbrecht und des Schuldnerihuges her⸗ borgeboben jeien.

Alles in allem werden in dem Büchlein in$befondere rauen, denen der gegebene nädfte Berater dadurch fehlt, daß er in® Feld gerüdt ift, für die verfchiedenen Fragen, die durch des Krieges Zwang an fie heran treten, brauchbare und zuverläffige Auskunft erhalten. Dr. Sontag

UNen Manuflripten it Borto hinzuzufügen, da audernfalld bei Ablehnung eine Rüdfenbung nicht verbürgt werben Tann.

fümtither Uuffäge

Nachdrudct nur mit andbrädiider Erlaubuis des Berlags g VDereuwortlich: der Geranbgeber Georg "Tleinew in Berlin» Bihterfelde Well. uns Briete werben erbeten unter der Abdreſſe:

Un deu Herausgeber der Grenzboten in Berlin - Bickterfelbe We,

e 56,

Gerufpredger des Serausgebers: Amt Lichterfelde 408, des Berlags und ber Schriftleitung: Amt Säge 6510.

! Bezlag ber Grengboten ©. m. b. 6. in

W 11, Xempelhofer Ufer 862.

S Deut: „Der Neichsbote“ ©. m. 5.6. in Berlin SW 11, Deſſaner Strahe 88/87.

Kur Hundertjahrfeier der Deutfchen Burfchenfhaft

am 12. Juni 1915 Die gefchichtliche Bedeutung der Urburfchenfchaft Don Prof. Dr. Paul Sfymanf

itten in das heftige Toben des europäilhen Krieges, in dem a Deutihland unter Anftrengung aller feiner Kräfte um fein [8 W 1 völkiſches Daſeinsrecht und feine politiſche Weltſtellung gemaltig R —7 N ringt, fällt die Hundertjahrfeier einer Begebenheit, welche für die

EEE eichichtliche Entwidlung des deutichen Bolfes im legten Jahr⸗ hundert von Bedeutung geweſen ift: das Yubiläum der Gründung der Deutjchen Burſchenſchaft.

Als am 12. Juni 1815 die Jenger Landsmannſchaften unter Führung der Bandalia zum Wirtshaus zur Tanne hinauszogen und nad) einer Anſprache des Bandalenfeniors als Zeichen ihrer Auflöfung die Fahnen ſenkten, da ahnte feiner der jungen Studenten, zu welcher bedeutjamen Rolle die neugegründete Verbindung, diefe Vereinigung aller Burjchen, noch berufen ſei, und welchen Weg durch Tränen und Blut fie werde gehen müſſen, ehe fie das von ihr eritrebte deal erreihhen ſollte. Es war zunächſt faum mehr gefunden als eine neue Form des Studentenftaates, eine einheitliche Organijation an Stelle der bisherigen Zeriplitterung in Landsmannſchaften; die neue Geijtesrichtung, der fie ihre Entftehung verdankte, vermochte nicht zur gleichen Zeit auch ſchon einen neuen inhalt zu fchaffen. Das follte erft der Entwidlung der nächſten beiden Jahre gelingen, und nicht bloß Jena hatte daran feinen Anteil, jondern in hervorragender Weife auch Gießen, wo die Gruppe der „Schwarzen“ die geijtige Führung beſaß. Das ftudentifhe Wartburgfeft am 18. Oltober 1817 bildete den glänzenden Gipfelpuntt der burſchenſchaftlichen Entwidlung, auf den jedod zwei Sabre fpäter die durch die Karlsbader Beichlüffe herbeigeführte Kataſtrophe,

©rengboten II 1915 19

SIR

290 dur Bundertjahrfeier der Deutfhen Burfhenfhaft am 12. Juni (915

ihre Auflöfung durch die Behörde an allen Univerfitäten, folgen folte. Wenn e8 nun auch der Burſchenſchaft gelang, bald nachher als Geheimverbindung zu neuem Leben zu erftehen, fo befaß diefe epigonenhafte Neugründung nicht mehr die Ideenfülle und die elementare Kraft der Urburſchenſchaft und erhielt bis zu ihrer zweiten Sataftrophe nad dem Frankfurter Wachenſturm (1833) die allgemeine Bedeutung ihrer Vorgängerin nicht wieder, obwohl fie bei weitem mehr als diefe in das politifche Treiben der Zeit verftridt war”).

Die Zeit nah den Freiheitsfriegen befand fi in krankhafter Erregung; das aufftrebende Neue ftand in fchroffem, unüberbrüdbarem Gegenjate zum überlebten Alten, und die allgemeine Enttäufhung im deutſchen Volk über die Geftaltung feines Schidfals war tief und berechtigt. „Man muß es geftehen,“ fagt Heinrih von Sybel, „niemals ift einem großen, mit friſchem Siegeslorbeer gefrönten Volle eine fümmerlichere Unverfafjung auferlegt worden als e8 damals dem deutfhen durch die Bundesafte geſchah. Die mächtigen Gedanken, welche Preußens Wiedergeburt und damit Deutjchlands Befreiung vorbereitet hatten, waren bier in ihr Gegenteil verwandelt.“ Ganz befonders tief mußte biefer mädtige Zwielpalt im Voll auf feine Jugend wirken, zumal auf die, welche ſelbſt auf den Schlachtfeldern Europas mitgelämpft und für die Freiheit des deutfhen Landes ihr Blut veriprikt Hatte. In ihr lebten große und fchöne Gedanlen. So fagt die Verfafjung der Hallefhen Teutonia, welche eine Vor- läuferin der Burſchenſchaft war und dur ihren Kampf mit Immermann belannt geworden ift: „Darum möüfjen wir e8 (das heißt das Vaterland) ehren und lieben, jebt und immerdar; darım wir Blut und Leben gering achten, wenn feine Freiheit gefährdet und feine Ehre angetaftet wird, müflen kommen und männlid kämpfen, wenn unfere angeftammten Fürften zu feiner Ber- teidigung rufen, denn wer fein Vaterland nicht achtet umd liebt, ift felber der Achtung nicht wert, und wer es feige verlaffen kann in der Not, der bat ſich felbjt verlafien.” Auch war fi die Jugend bewußt, was man in dem „heiligen“ Kriege gegen den korſiſchen Eroberer gewonnen hatte. „Etwa bloß ein paar Streifen tote8 Land,” ruft ein damaliger Student Haupt in einer Brofhüre aus, „Befreiung von. den Bedrüdungen der Herrſcher und unfere verlorenen Städte und Feitungen? Nein, Brüder, wir haben mehr gemonnen als das alles wert if. Wir haben ein Land gewonnen, ein herrliches, großes, blühendes Land, ein Vaterland; wir haben den innern Zerftörer und Eroberer aller Völker, die Parteifudht, und ihre Mutter, die Seldftjucht, aus dem Lande gejagt; wir haben ewige Städte und Feitungen gewonnen in dem Einflange der Herzen aller Stämme Deutſchlands; wir haben erkennen lernen, daß wir ein Bolt find, daß wir ein Vaterland haben, und daß das Heil desfelben einzig in der Einigkeit und Liebe, in dem Verſchmelzen und Unterorbnen jedes Cinzel-

*) Ausführlichere über die Entwidlung der Burſchenſchaft findet fi unter anderen bei -

Schulze und Sſymank: Daß deutſche Studententum von den älteften Zeiten bis zur Gegenivart. (Leipzig, R. Voigtländer, 1910.) ©. 176ff.

dur Hundertjahrfeier der Deutfchen Burfchenfhaft am 12. Juni 1915 291

willens unter dem der Gefamtheit beftehen Tann. In Parteien zerfplittert waren wir der Raub jeder Macht, vereint trogen wir einer Welt.“

Aus diefer Geiftesrichtung ging die Bewegung ber Urburfchenfchaft hervor, aber der eigenartige akademiſche Boden, auf dem fie fich entfaltete, gab ihr ſoviel des Befonderen, daß fie tatſächlich eine felbitändige, ihrem inneren Wefen nad) fein veräftelte Bewegung daritellt, der bei allem Nebelhaften und Unerfäll- baren doch ein gefunder Kern innewohnte. Die neue Drganifationsform, welche man für den Studentenftaat gefunden hatte, wollte, wie die Burſchenſchafts⸗ verfafjung von 1818 zeigt, „die freie und natürliche Vereinigung der gefamten auf den Hochſchulen wiſſenſchaftlich ih bildenden deutfchen Jugend zu einem Ganzen fein, gegründet auf das Verhältnis der deutfchen Jugend zur werdenden Einheit des deutſchen Volles." Mit jugendlich - Lühner Begeifterung ftellte fo die Urburſchenſchaft ihrer Nation in dem ftreng einheitlich geſchloſſenen Burfchen- ftaat ein Ideal vor Augen, fie ſchuf für ihre Sehnfucht auf akademiſchem Boden eine fefte Form ohne partifulariftifche Überbleibjel. Ihr Verdienſt mar es, daß fie nidht bloß von ihren Wünfchen redete, fondern zum erften Male von allen Zeilen des deutſchen Volles die befreiende organifatorifche Tat fand. Und zu- gleich follte die neue Form des Studentenftaates ein bedeutungspolles Sinnbild für den politiihen Staat fein, deffen Einheit die Burfchenfchaft erträumte, „ein Bild ihres in Gleichheit und reiheit blühenden Volles“. Gemwiß war die Urburſchenſchaft feine politifcde Schöpfung und fie wollte, wenn man von dem Heinen SKreife der um Karl Follen gefharten „Unbedingten“ abfleht, eine folche auch gar nicht fein, aber in ihrer Wirkung war fie doch politiſch, indem fie ihr Erziehungsideal einer großen, über ganz Deutfchland verbreiteten Schicht von Bebildeten einprägte; die Gefchlechter, die durch ihre Schule gingen, konnten nit Träger des alten, im Deutfchen Bunde verlörperten Syſtems fein, das alle Hoffnungen der Vaterlandsfreunde vernichtet hatte. In diefer erzieherifchen Beeinfluffung des Volkes, die durch taufend Kanäle oft ungeahnt und unauf- fällig in die meitejten Sreife fich verteilte, Tiegt ein guter Teil der entwidlungs- geſchichtlichen Bedeutung der Urburſchenſchaft; fie hielt Den Gedanken der deutfchen Einheit in treuer Hut, fie mwinterte ihn in ihren Epigonen während der politiſch fo dürren Jahre zwifhen 1820 und 1830 dur) und ließ die nationale Sehn- ſucht nicht eriterben. |

Damit war ihre Bedeutung aber keineswegs erſchöpft. Sie griff vielmehr dur) das Wartburgfeit geradezu beitimmend in den gejchichtlihen Werdegang des deutichen Volkes ein. „ES war etwas tief Eindrudsvolles, daß über all die neuverſtachelten Eiferfuchtsgrenzen der deutichen Binnen-Baterländer hinweg diefe Jünglinge aus Nord und Süd unter dem Zeichen eines gemeinfamen Deutichgedantens fich zu verfammeln mwagten. Wenn damals der badifche und der fchleswig-holfteinifehe Student fi) die Hand reichten, fo waren das Völler⸗ haften, die bisher faum etwas Genaues voneinander gewußt hatten, war das ganz etwas anderes, als wenn heute Heidelberg und Kiel, Freiburg und

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999 Sur Bundertjahrfeier der Deutſchen Burſchenſchaft am 12. Juni 1915

Königsberg fih grüßen“ (Heyd). So ward, wie eine Zeitung jener Tage rühmend fchreibt, das Felt zu einem „Silberblick deutſcher Geſchichte“ und zu einem „Blütendurchbruch unferer Zeit”, und mit Recht gedenlt die Burfchen- ſchaftsverfaſſung von 1818 jener „heiligen Tage, die jedem, ber es rebli mit dem Baterlande meinte, eine helle Morgenröte des Tages fein müſſen, der da fommen jollte”.

Aber nicht das, was die Burſchenſchaft im NRitterfaale der Wartburg und am lodernden Feuer des Wartenberges verlündete, war das entwidlungs- gefchichtlich Bedeutungsvollite an der Tagung. Ste bot in diefer Hinficht nicht mehr, als die edeliten Geiſteskämpfer in ber Zeit der Freiheitskriege erjonnen und gedacht hatten; aber die von edler Leidenſchaft durchglühte Kraft, mit der fie jene Gedanken Tundgab, rüdte fie in den Mittelpuntt des allgemeinen Intereſſes: dur fie wurde die Idee der nationalen Einheit erft zu einem allgemeinen Zufunftsprogramm, dem die breite Öffentlichkeit lauſchte. Und diefer Heroldsruf, den fie von der Lutherburg herab erklingen ließ und in dem die tiefgefühlte nationale Sehnjuht einen elementaren Ausdrud fand, war zugleich eine fchmetternde Fanfare, mit der das emporftrebende jüngere Geſchlecht dem alten politifden Syftem entſchiedene Fehde anfagte.e Auch ohne das Ein- greifen der Reaktion hätte fomit die Wartburgverfammlung einen Markftein in der nationalen Entwidlung bedeutet; durch die Stellungnahme der feindlichen Mächte ward ihre Bedeutung aber noch erhöht; und die kommende Zeit bewies die Wahrheit der prophetiſchen Worte, welche der Jenaer PBrofefjor Kiefer in feiner damals gedrudten Verteidigungsfchrift ausfprad: „Was fie (da8 beikt die Wartburgverfammlung) in ihren unabfehbaren Folgen für Deutichlands Sugend noch werden mag, ift fie nur durch den Gegenlampf geworden, ben fie mit der Schlechtigleit des Lebens Hat führen müſſen. Mit Niefenfchritten bat fie Ideen entwidelt, die damals nur als dunkle Ahndungen dem jugend- lien Geifte vorſchwebten, und durch die fliegende Geiftesgewalt, mit welcher fie id über alle Anfeindungen triumpbierend erhalten bat, bat fie ftatt der urfprüngliden Bedeutung einer höchſt unfchuldigen, rein gemütlichen und andädtig-frommen Zuſammenkunft jet die Bebeutung eines politiiden Feſtes gewonnen, weldes in feinem dunklen Schoße fruchtbare, auf Jahrhunderte wirkende Keime enthalten Tann.” Und tatfächlich eröffnete die Tagung auf der Wartburg, die man mit Fug und Recht wegen ihres interterritortalen Charakters als das „erite deutſche Nationalfeft” bezeichnen Tann, eine lange Reihe ähnlicher Feſte alle beftimmt, den völkifchen Einheitsgedanfen lebendig zu erhalten und die unerfüllte nationale Sehnſucht zum Ausdrud zu bringen. Als eine Nachwirkung der burſchenſchaftlichen Tätigleit und als Beweis von ber Größe ihres Einfluffes auf das gefamte Volt darf man es betraddten, daß ihre Farben ſchwarz⸗ rot» gold jene Trilolore bildeten, „die dur ein halbes Sabrhundert die Fahne der nationalen Sehnfucht blieb, die foviel Hoffnungen und fovtel Tränen, foviel edle Gedanken und ſoviel Sünden über Deutichland

Sur Aundertjahrfeier der Deutfchen Burfhenfhaft am 12. Juni 1915 293

bringen follte, bis fie endlich, gleih dem fchwarz-blau-roten Banner ber italienifhen Carbonari, im Toſen der Barteilämpfe entwürdigt und gleich jenem durch die Farben des nationalen Staates verdrängt wurde” (Treitſchle).

Über den Wert des burfchenfchaftlicden Wirkens hat man fehr verfchieden geurteilt; am jchärfften und unabhängigften geht unter den Geſchichtsſchreibern Heinrich von Treitfchle mit ihm ins Gericht. Und tatfählich entſprach bie Burſchenſchaft, wie Iehterer überzeugend ausführt, ſowohl in ihrer ftudentifchen wie nationalen Betätigung, ganz dem Charakter ihrer Heimat, des thüringifchen Landes, wo der aroßzügige, aber auch herbe Staatsgedanfe nie Boden gefaßt dat und man daber für die Bedingungen des ftaatlihen Werdens fein rechtes Berftändnis beſaß. Die Burſchenſchaft war ein rein theoretifches Erzeugnis, welches auf die landsmannſchaftlichen, an fi) durchaus begründeten Unterſchiede feinerlet Rüdficht nahm, und fie glaubte, diefelben gewiſſermaßen durch einen Federſtrich befeitigen zu können, ftatt fie in organiſcher Weife beim Aufbau des Neuen mitzuverwenden. Diefer das geſchichtlich Gewordene mißachtende, dem Sefühlsleben entfpringende Zug trug ihr nicht nur den Verdacht des Revolutionären ein und ftügte die Meinung des in Metternichs Sinn fchreibenden Wiener Bubliziften Gent, daß fie „ein durchaus vermerfliches, auf gefahruolle und frevelhafte Zwecke gerichtetes Inſtitut“ fei, fondern er bewirkte au, daß fie Beftrebungen unbeadtet ließ, die wie ber fpäter von Preußen gefchaffene Deutihe Zollverein in praftifcher Weife zu einer nationalen Einigung führen jollten. Wenn man für die Bedeutung der burfchenfchaftlihen Bewegung ein Bild gebrauchen will, fo darf man vielleicht jagen: die Burſchenſchaft war der breite Bad, in den von allen Seiten Zuflüffe rannen, und der fo allmählich zu einem weite Vollskreiſe umfafienden ftarlen Fluffe ward; aber erft als dieſer Fluß fi mit der anderen Strömung vereinigte, die von Preußen ausging und zunähft nur wirtfchaftlider Natur war, kam der ftolge, unaufbaltiame Strom zuftande, der dann mit Naturnotwendigfeit und Sielficherheit zur Gründung des deutiden Einheitsſtaates führte.

Staatenbund von Nordeuropa Don Juftizrat Bamberger

Man vergleiche die Auffäge in den Heften 88, 48, 49 vom Jahre 1914 und in Heft 2 des Jahres 1916.

enn es wünfjchenswert ift, für den Fall der Beendigung bes 8 Krieges eine völlerrechtliche Verbindung anzuſtreben, die Das \ or, Y Deutihde Rei mit den ihm benachbarten Fleineren Staaten, ae Schweden, Norwegen, Dänemarl, Holland und auch Belgien nebft LNuxemburg zu einem Staatenbunde vereinigt, jo liegt es nahe, den Blid auf die bereitS beftehenden Stantenbundsbildungen zu richten und zu prüfen, ob fie fi zum Beten der Gefamtheit und ihrer Glieder bewährt haben oder nicht. Die Verfaſſung der Vereinigten Staaten von Nordamerifa vom 17. September 1787, die Schweizeriihe Bundesverfafiung vom 8. April 1848 und die Verfaffung des Deutichen Reich vom 16. April 1871 bezeichnen übereinftimmend als ihr Ziel den Schuß des Bundesgebiet, den Schub des darin geltenden Rechts und die Pflege der Wohlfahrt der Bundesangehörigen. Das Deutſche Reich ift nach der herrſchenden Lehre nicht als völlerrechtlicher Bund im eigentliden Sinne, fondern als ein Bunbdesftaat aufzufaflen, während die Vereinigten Staaten eine eigentlihe Staatenbundsvereinigung völlerrechtlicher Natur darftellen. Gemeinfam ift allen drei Schöpfungen, daß die Unabhängigkeit der Gliedſtaaten grundſätzlich gewährleiſtet wird, joweit fie nicht durch aus⸗ drüdlide Beitimmung zum Belten der Bundeszwede beſchränkt if. Man wird einräumen müſſen, daß dieſe Stantenvereinigungen bis jet die Erwartungen erfüllt haben, die ihre Teilnehmer an fie Mnüpften. Der amerilanifhe Bund, ber auf 46 Staaten angewachſen ift, befteht ſeit 128 Jahren, der ſchweizeriſche feit 67 Jahren, das Deutiche Neih nunmehr 44 Jahre. Die nächfte, nicht ausdrücklich hervorgehobene, aber vielleicht wichtigfte Wirkung der Vereinigungen beftand darin, daß Kriege zwiſchen den einzelnen Staaten von felbft in Wegfall Tamen. Die Staatenvereinigungen verringern aljo die Sriegsgefaht. Sie dienen unmittelbar und jelbfttätig der Sache des Friedens. Sie bienen ber Sache des Friedens nicht nur innerhalb des Bundes, fondern auch nad) außen. Solange ein Meiner Staat alleinfteht, jchwebt er vermöge feiner natürlichen Schwäche in beftändiger Gefahr. Diefe Gefahr wird für ihn befeltigt ober doch ſtark verringert, jobald er Mitglied einer Staatengeſellſchaft wird, die mit ihrem größeren Anfehen und mit ihrer größeren Macht für ihn eintritt. Bis

Staatenbund von Ylordeuropa 295

zu dem Zeitpunkt gefährbet er überdies mit feiner Widerjtandsunfähigkeit nicht etwa nur fich felbft. Vielmehr bildet das Daſein eines einzelnen Kleinftantes eine allgemeine Gefahr für den Frieden. Es ift eine traurige Wahrheit, daß der Schwache die Begehrlichleit des Starken reizt. Wieviel fehlte im Monat Auguft 1866, daß Napoleons Forderung, ihm Belgien zu überlafien, Krieg zwifchen zwei großen Reichen entzündete? Und wieviel fehlte im Beginn des Jahres 1867, als der König der Niederlande fi beftimmen ließ, dem franzöſiſchen Kaiſerreich das Großherzogtum Luremburg zu verlaufen, daß um dieſes Zwergſtaates willen ein europäifcher Krieg ausbrah? Was für Unheil Belgiens Schwäche über ganz Europa gebracht hat und in erfter Linie über diefes unglüdliche Land felbft, das haben wir ſchaudernd miterlebt. Nur eine Berlennung jo großer Gefahren, eine Verkennung des Begriffes und der Auf- gaben des Staats geitattet das felbftändige Dafein der Kleinftaaten. Wie wirtfchaftlich ſchwache Einzelperfonen für fi allein dem Kampf ums Dafein nicht gewachſen, fondern genötigt find, fih zufammenfhliefen und, nunmehr widerjtandsfähig geworden, in eine weitere Gemeinihaft mit Stärleren zu treten, fo find auch politiſch ſchwache Staatsgebilde, wenn fie ihre Unabhängigfeit fihern wollen, unweigerli auf eine Bergefelihaftung angewiefen. In der Erlenntnis dieſer Wahrheit, mit weitem Blid und Luger Selbſtbeherrſchung haben fich die erwähnten europäifchen und nordamerilaniſchen Staaten zufammen- geichlofien und haben dies, ſoviel befannt geworden, nie bereut. Es ift hier nicht der Drt, alle fegensreihen Wirkungen aufzuführen, die die Staatenvereinigung mit fih bringt. Daß jeder einzelne Bürger für die Geltendmachung feiner geiftigen und wirtfchaftlichen Kräfte nicht mehr auf den engen Raum eines Heinen Landes beſchraͤnkt blieb, daß er als ſtolzes Glied eines mächtigen Staatenvereind in einem großen Wirtfehaftsgebiet Fähigkeiten entwideln konnte, die bis dahin brach lagen, das fei hier nur angedeutet. So tft denn auch nie belannt geworben, daß einer jener nordamerilanifhen Staaten oder irgendein ſchweizeriſcher Kanton den Eintritt in das Bundesverhältnis bedauert und angeftrebt bätte, die ehemalige Unabhängigkeit, diefes glänzende Elend, wiederzuerlangen. Nie ift befannt geworden, daß das Königreich Bayern Neigung verfpürt hätte, feine hohe Stellung als Mitglied des Deutſchen Reiches aufzugeben und ſich wieder, wie einft, allen Gefahren internationaler Verwidlungen auszufegen. Liegt es doch für jeden denkenden Menichen auf der Hand, dab die Unabhängigkeit des Kleinftantes nichts ift, als ein leerer Schein, nichts als eine fable convenue, und daß die Gefahren diejer Vereinzelung ins Ungemeſſene wachſen mit dem Wachstum der Großmächte und mit der immer häufiger zu beobachtenden Ver- bindung der Großmächte untereinander. Inzwiſchen hat der große Gemein- Ihaftsgedante felbft in dem Böllerkriege jeine Wirkung geäußert. Er bat Bündniffe. auf beiden Seiten der Tämpfenden Parteien hervorgerufen, er bat die ſtandinaviſchen Länder zum Schuge ihrer gemeinjamen Intereſſen zufammen- geführt und er hat jeht einen neuen großen Sieg bavongetragen. Im Mai 1915

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haben die fübamerifanifhen Staaten Argentinien, Brafilien und Chile einen Vertrag zur gütlicden Erledigung von Streitigleiten geichloffen, die etwa zwiſchen ihnen ausbrechen könnten. Danach iſt jeder Streitfall, der weder auf diplo⸗ matiſchem Wege, noch fchiedsgerichtlich zu erledigen ifl, vor einen ftändigen Bundesausfchuß zu bringen. Der Bundesausſchuß hat feinen Sit in Montevideo. Er hat auf Anruf auch nur einer der drei Regierungen in Zätigfeit zu treten. Damit ift eine neue Sintereffenvereinigung zwiſchen drei Reichen gefchaffen, die zufammen ein Gebiet von zwölf Millionen Duabdratlilometern mit vierundzmangzig Millionen Einwohnern umfaffen mehr als die Hälfte von ganz Südamerilka. Mährend der europäilhe Boden vom Blute dampft, während die europätiche Diplomatie fi außerftande erwies, furchtbares Unheil zu verhüten, zeigen fi) in der neuen Welt Kluge und entichloffene Männer bemüht, ihren Ländern und damit auch den benachbarten Rändern die Segnungen des Friedens zu fichern. Die hohe Bedeutung des Bündniffes, das unter dem Eindrud welterjchätternder Ereignifje geichloffen wurde, fpringt in die Augen. Dan kann fehwerlich etwas anderes darin erbliden, als den Anſatz und die Grundlage für eine bedeutungsvolle Schöpfung, für den Bund der Vereinigten Staaten von Südamerika! Sähreitet die Vergeſellſchaftung der Staaten hiernach erfreulichermetie unaufhaltfam fort, fo erſcheint es für die alleinftehenden Staaten in nod böberem Grade, als bisher, angezeigt, zu unterfuchen, ob e3 in ihrem mohl- verftandenen Intereſſe liegt, auf die Vorteile zu verzichten, die eine Staaten- organifation mit fi bringt. Unverkennbar find die Schwierigleiten groß, bie fih dem Plan eines Staatenbundes von Nordeuropa entgegenftellen. Schwierig. feiten ähnlicher Natur waren aber auch bei der Begründung ber übrigen Staatenverbindungen zu überwinden, wie bie amerikaniſche, bie ſchweizeriſche und die deutſche Geſchichte lehrt. Gleichgültigkeit, Engherzigkeit, Eiferfucht und Mangel an weiten Blick haben diefen Beitrebungen, wie anderen, lange Jahre hindurch Hindernifje bereitet. Doch haben fi alle Yortfchritte der Menſchheit nur allmählich vollgogen. Und es läßt fidh nicht verlennen, daß die Errichtung eines auf freier Vereinbarung beruhenden Staatenbundes, ber unter Berld- fichtigung des SKolonialbefiges ein gemwaltiges Gebiet umfaßt, die grünblide Prüfung feiner Zweckmaßigkeit, feiner Ziele und Bebingungen erforderlich macht. Die belgifhe Frage tft bier nicht näher zu erörtern. Nur foviel jet bemerft, daß ein Schuk- und Trubbündnts mit Belgien unbebingt durch eine ftraffe Militärkonvention gemwährleiftet werden müßte, wenn ber Zweck einer klug · ſchonenden Behandlung bes Beftegten mit den Lebensinterefien bes Siegers tn Einklang gebradt werden fol. Damit wäre freilich dann auch ber erfte Schritt zur Begründung bes Staatenbundes getan. Auf anderer Grundlage wäre eine Berftändigung mit ben übrigen, tatſächlich neutralen unb befreundeten Staaten anzuftreben. Daß ihre Madhtverhältniffe in bezug auf Lage, Flächen- raum, Benöllerungszahl und wirtſchaftliche Entwidlung fehr verfchieden find, faͤllt fiherlih ins Gewicht und erfordert eingehende Verückſichtigung. Doc

Staatenbund von Ylordeuropa 297

macht biefer Umftand eine Verbindung zum Schutze gemeinfamer Intereſſen nit unmöglid. Denn ähnliche Verſchiedenheiten beitanden unter den jeht verbündeten deutſchen Staaten auch, ohne daß fie den Abſchluß des Bündnifjes auf die Dauer gehindert hätten. Wenn es weiter zu Bedenlen Anlaß geben follte, daß ein Teil der Bevölferung in den in Rede ftehenden Ländern zurzeit nicht freundlich gegen Deutfchland gefinnt ift, fo ift dies gewiß forgfältig zu beachten. Entſcheidendes Gewicht wird indeilen auf die Vollsftimmung kaum zu legen fein. Sole Stimmungen wechſeln. Um dies zu erfennen, braucht man nicht auf die Zeit des Koriolan oder Yulius Cäſar zurüdzugehen. Es mag genügen, an die wechlelvolle Gejchichte der Beziehungen zwiſchen Franfreih und England zu erinnern. Für die Mafle Itegt es nahe, Mikgriffe, die einzelne Beamte ſich zufhulden kommen laſſen, dem ganzen Lande anzurechnen. Im allgemeinen läßt fih fchwerlih behaupten, Deutſchland babe im letzten Menſchenalter jeit dem Siege über Franfreih und der Aufricätung des Reiches eine Neigung zu Übergriffen gegen fremde Staaten oder zu ihrer Unterbrüdung an den Tag gelegt. Ein Berfuh von Triegerifhen Eroberungen auf Koften der Nachbarn, wie er fo Häufig in der Geſchichte namentlih von Franfreih und England feftzuftellen ift, wird fi nicht nachweiſen laffen. An Gelegenheiten hat es befanntlich nicht gefehlt. Sie blieben unbenugt. Die Tatſache des dreiundvierzig- jährigen Friedens von 1871 bis 1914 läßt fi nicht aus der Welt ſchaffen. Sie Tiefert einen Beweis, der ſich nicht entkräften läßt. Auch dafür find die Beweife vorhanden, daß Deutſchland während der ganzen Regierungszeit Kaifer Wilhelms des Zweiten eifrig, wenn nicht zu eifrig, beftrebt geweſen tft, durch weites Entgegenlommen ein freundliches Einvernehmen mit allen Nachbarländern zu erhalten. Wenn Zuverläffigleit und Treue im Leben der Nationen noch ttgend Wert haben, läßt ſich behaupten, Deutichland habe feinen Bundes- genoffen, Äſterreich oder Stalien, die Treue gebrochen? Oder e8 habe um eigenen Vorteils willen die Türkei ihren Yeinden preisgegeben? Flößt Italien den neutralen Staaten größeres Bertrauen ein als Dentihland? Und bat fid die deutſche Regierung im Sommer 1914 wirklich geirrt, wenn fie glaubte, tings von Feinden umgeben zu fein? Hat fie dennoch geirrt, war biefer Jertum fo umverzeihlih, daß Deutichland jeden Auſpruch auf Vertrauen ver- loren bat?

Wer fih bemüht, gerecht zu richten, wer die reine Wahrheit fucht, wird diefe Fragen nicht zu ungunften des Reiches beantworten können. Deswegen darf die Hoffnung ausgeſprochen werden, die geiftigen Führer in den neutralen Staaten möchten ımbeeinflußt von wechlelnden Bollsftimmungen nad) eigenem Ermefien prüfen und entſcheiden, ob e8 zum Ruben oder Schaden ihres Landes dienen wird, für den Fall des Friedens dem Staatenbundsgebanten näher zu treten.

Hriegsgetreide- $ürforge Don Güterdireftor der Stadt Berlin Schroeder

8 dürfte wenig ernfthafte Männer in Deutichland geben, welche nad den Erfahrungen diefes Krieges dem Gedanken wiberftreben, für künftige ähnliche Fälle noch befjer vorzuforgen. Dazu würde einmal die Möglichkeit gehören, die genügende Menge an menſch⸗ Ss licher Nahrung im Lande zu erzeugen, zum anderen bie, im rechten Augenblid auch die Verfügung über fie zu haben.

Die Möglichkeit, die nötige Menge an Nahrungs- und auch Yuttermitteln im Lande zu erzeugen, ift jebt fo oft behandelt worden, daß ich mich mit ihrer Crörterung nicht länger aufhalten will. Daß das in Deutſchland vor- bandene Obland zur Verforgung ausreicht, ift fachlich Längft nachgewiefen worden. Warum waren aber diefe Ländereien bisher ertraglo8? Weil fich die Urbarmachung unter den jegigen Preisverhältnifien landwirtſchaftlicher Erzeugniffe und menfchlicher Arbeit nicht lohnte. Wird das nunmehr mit einem Schlage anders werben? Ich fürdte nein! Wer fol alfo die Zubußen leiften? Der Staat? Der Odlandbefitzer? Die nährbebürftigen Städte?

Es wird nicht unterlaffen werden können, durch eine befiere Belehrung der Bevölkerung an Drt und Gtelle alle die bisher ertraglofen Ländereien, welche die Kultur lohnen, aber nicht als geeignet erlannt worden find, zu Nutzländereien bherzurichten, zum Beiſpiel an ſich fruchtbare aber erjoffene Zöndereien, Waldungen, die auf fruchtbarem, nur zwedimäßig zum Aderbau berzurichtendem Grunde ftoden, fandige, ſcheinbar unfruchtbare Flächen, bei benen es gilt, den jebt zu tief unter der Oberfläche ſtehenden, an ſich fruchtbaren Boden durch Ziefkultur heraufzuholen und andere mehr.

Daß es ſolche Ländereien in Fülle gibt, wiffen wir von denjenigen Landes⸗ teilen, welche ſchon geologiſch⸗agronomiſch Tartiert find, von noch größeren Flächen, die nicht Lartiert find, können wir ähnliches vermuten. Die geologiidh- agronomifhen Unterfuhungen und Karten müſſen alfo zunächſt einmal fertig- geftellt werden.

Ganz ohne Zwang wird e8 bei der Urbarmachung von Ädland dem Privat- befiger gegenüber wohl nicht mehr abgehen. Bei Ländereien, die nur ber fachlich richtigen Behandlung bedürfen, um einen Reinertrag abzumwerfen, ift dies wohl kaum jemand zumider. Die von Grund auf nicht ertragsfähigen

Kriegsgetreide » Sürforge 299

Ländereien aber ertragsfähig zu machen, wirb den öffentlichen Körperfchaften, die es angeht, zugemutet werden müflen, und es wird nicht zu umgehen fein für jeden Bezirk einen Plan aufzuftellen, nach welchem im Laufe des nächſten Menſchenalters zu verfahren iſt. Als Mitwirkende bei der Herrihtung von Ddland zu der, Wiefe oder Weide werben aud) die Städte das ihrige zu leiften haben. Sie werden in der glüdlihden Lage fein, die ihnen entftehenden Koſten fih von jedem erftatten zu laſſen, der bei ihnen zuzieht. Ob fie dabei den WBohlhabenden mehr, den Unbemittelten weniger beranziehen, iſt Sache bejonderer Erwägung.

In Groß-Berlin werden für den Kopf der Bevölferung jährli etwa 66 Kilogramm Gemüfe ohne Kartoffeln verbraudt. Das find rund 40 Duadrat- meter NRiefelfeldgemüfeandbau. Da der Gemüjebau auf NRiefelfeld mindeftens die Betriebstoften aufbringt, find an Ankaufs⸗ und Herftellungstoften für Rieſel⸗ land 20 bis 30 Marl von jedem Zuziehenden einmal zu bezahlen, um ſich „jein“ Gemüfe zu „erfigen“. Ldland ift nun zwar nicht gerade gutes Niejel- land, aber e8 wird e8 doch im Laufe der Jahre in den meilten Fällen. Die anderen Abmwäfler- „Befeitigungs“ (fo heißt es ja leider allgemein noch, es muß aber in Zukunft heißen „Ausnugungs“-) Syfteme hätten fünftig den Gefichts- punkt der Stadtverforgung genau fo behördlich in Auftrag zu belommen wie fie heute die Probe der gefundheitlich einwandfreien „Befeitigung“ zu beitehen haben.

An Hausmüll, Straßenkehricht und dergleichen fallen auf Kopf und Jahr der Bevölkerung mindeftens ein halber Kubikmeter. Es fteht feft, daß elendefter trodener Sandboden, wie er zum Beiſpiel um märlifde Städte zu QTaufenden von Heltaren ertraglos Liegt, mittel @inverleibung von !/, bis 1 Kubikmeter derartiger Abfallftoffe auf den Quadratmeter anbaufähig wird, und zwar nicht nur für die verhältnismäßig anfprucdhslofe Kartoffel, fondern auch für die meiften viel anfpruchsvolleren Früchte. Davon Tann ſich jeder, der es will, bei Berlin auf einem Nachmittagsausflug überzeugen. Yür Berlin ergibt das 160 bis 200 Hektar (600 bis 800 Morgen) derart jährlich zu gewinnendes Kulturland. Im Bergleih zu den SKoften, die jetzt entftehen, um die Abfälle zu ſcheußlichen Bergen aufzuhäufen, find die Ausgaben (mit 0,80 bis 1,— Marl je Kubil- meter), bei richtiger Heranziehung der jett ſchon zur Verfügung ftehenden und künftig unfchwer zu fchaffenden Verkehrsmöglichkeiten (Nachtſtraßenbahn, Feldbahn und deren BZufammenarbeiten mit der Waflerbeförberung), für die direkte Be- förderung auf die paflenden Ländereien, die ja im Privatbefit verbleiben können, nit weſentlich höher. Der Kartoffelverbraud in Berlin beträgt an dem Überſchuß der Jahreszufuhr gegen die Ausfuhr gemefien etwa 100 Kilo gramm auf den Kopf. Bet mäßiger Ernte (150 Doppelzentner je Heltar) gehören 66 Quadratmeter dazu, die an Kulturkoſten (1,50 Mark 1 Quadrat⸗ meter je Kubilmeter) ein „Einbürgerungsgeld“ von rund 100 Marl beanſpruchen würden. In Berlin würden bei 160 bis 200 Hektar alljährlid 24000 bis 80000 Menſchen neu zuziehen können, deren Startoffelbedarf auf diefe Weiſe

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300 Kriegsgetreide⸗Fürſorge

mit Neuland gedeckt wäre. Die jetzt lagernden Rieſenberge geſtatten für längere Zeit einen gehörigen Aufſchlag auf dieſe Zahl zu machen; die Abfuhr könnte bei derſelben Körperſchaft verbleiben, der ſie jetzt obliegt.

Daß die jetzt ſo leicht eingeführte Art der ſofortigen Verfütterung der Speiſereſte der Haushaltungen der Städte in den Frieden hinübergenommen wird, iſt wohl ſo ſelbſtverſtändlich, daß kein Wort darüber zu verlieren ſein dürfte. Freilich erfüttert ſich der Städter damit nur eine Fleiſchgabe von einem Pfund Schweinefleiſch für die Woche, aber ſie iſt doch reiner Gewim.

Die Hauptſache wird immer die Brotverſorgung ſein.

Man ſpricht vom Getreidemonopol. Der Gedanke einer derartigen not⸗ gedrungen bureaukratiſchen Einrichtung erſcheint wenig angenehm, wohl aber dürfte es ohne eine ähnliche, natürlich friedensmäßige Einrichtung, wie die jetzige Kriegs⸗ getreidegeſellſchaft es iſt, künftig nicht abgehen. Wenn die Spirituszentrale in gemeinſamer Arbeit mit allen alkoholverarbeitenden Induſtrien in der Land⸗ wirtſchaft ihre Lebensfähigkeit erwieſen hat, warum ſollte eine ähnliche Ver⸗ bindung von Roherzeugern (Getreidebauern) und Verarbeitern auf das Brot⸗ getreide bezogen, nicht lebensfähig ſein? Freilich beſteht ein grundlegender Unterſchied darin, daß die Alkoholerzeugung und Verarbeitung meiſt in Betrieben geſchieht, die man nicht mehr, ſelbſt in ihren kleinften Anlagen, als Kleinbetrieb bezeichnen kann, die vielmehr an dem Getreidebau gemeſſen über⸗ wiegend Großbetriebe find. Es muß alſo verſucht werden, durch techniſche Ein⸗ richtungen den landwirtſchaftlichen Mittel⸗ und Kleinbetrieb heranzuziehen. Grund⸗ fägliche Bedenken kann ich aber nicht finden. Im Getreidebau iſt ber Großbetrieb dem Kleinbetriebe überlegen und dieſer ſieht fi mehr und mehr gezwungen, fi die Einrichtungen des Großbetriebes (Getreidebindemafhinen, Kraftdreſch⸗ maſchinen uſw.) zu Nuten zu machen, wenn anders er auch lebensfähig fein will. Denn bei diefer Erzeugung kommt e8 mehr wie bei jeder anderen in der Landwirtſchaft auf Herabdrückung der Geftehungstoften an. Das ift aber bem Großbetriebe im legten Jahrzehnt entfchieden erreichbar geweſen. Ich will als Beifpiel nur zwei Einrichtungen anführen. Die Rieſendreſchmaſchine liefert heute in zehn Arheitsftunden je nad) Art des Getreides dreihundert bis fünfhundert Doppelzentner Getreidekorn, die ehemalige Dampfdreſchmaſchine hundert bis hundertundfünfzig Doppelgentner, und zwar mit zwölf Arbeitern gegen vierund⸗ zwanzig.‘ Die Tonne koſtet an Arbeitslohn 5 Marl gegen 10 Mark und bie Maſchine bringt ihre Zinfen ſchon bei einer nicht bedeutend höheren Gebrauchs⸗ zeit auf. Dazu gibt fie die Möglichkeit, die Ernte wicht unmefentlich früher zu beginnen, fie durch Erdruſch vom Felde fort zu fihern und an den die Land- wirtſchaft fo ungünftig belaftenden Gebäuden erheblich zu fparen, da das ge- preßte Stroh nur den vierten Teil Raum einnimmt, wie Getreibegarben. Der neuzeitliche Getreidefpeicher aber nimmt ungefadtes Getreide, wie e8 dieſe Maſchine ohne Hilfe der menſchlichen Hand loſe in den Wagen laufen läßt, in faſt jedem Feuchtigkeitsgrade auf und feht damit die Erntearbeit unter Dad

Kriegsgetreide » £ürforge 301

und Fach fort, das heißt fichert die bekauntlich an ſich nicht lagerfeſte deutſche Getreibeernte volllommen. Die Erfahrung aber, zum Beifpiel der Stadt Berlin auf ihren Gütern, erweiſt die volle Verzinsbarkeit der Speicheranlageloften bei zweimaligem Umſchlage allein aus der Erſparnis an Handarbeit bei der Ber arbeitung des erdroſchenen Korns an einer Stelle, ftatt fonft an fünfundzwanzig. Die Erfparniffe betrugen im Laufe von fünf beziehungsweife fieben Jahren noch⸗ mals über 5 Mark die Tonne. Die Erntefiherung und die höhere Verwertungs⸗ möglichleit aber allein und ohne diefe 10 Mark für die Tonne laſſen folche Anlagen als eine der beften Sapitalsanlagen in der Landwirtſchaft ericheinen.

Bas liegt alſo für ein Grund vor, nit auch bei uns ein Verfahren durhguführen, welches Amerika aus anderen Berhältniffen heraus geboren hat, und welches Rußland jeit zehn Jahren auszudehnen fi) mit Erfolg bemüht, wie die Borg- und Getretdegefhäfte mit England bemeifen? Wir würben dann freilid dazu kommen müflen, in ähnlicher Weife wie wir Gefamtarmen- verbände und amdere mehr im Lande baben, auch Gefamternteverbände zu Ihaffen. Zu beteiligen find außer Staat, Gemeinde und Gut die getreidever⸗ arbeitenden Induſtrien. Auf jedem Gute und in jeder Gemeinde wirb fich dann eine ſolche Rieſendreſchanlage befinden, die zu feſtem Lohnſatze möglichſt in da Ernte vom Felde fort den Exrnteteil erdrifcht, den jeder Getreidebauer dem Ernteverbande abzuliefern bat. Für jede zmweitaufend Heltar Getreibe- anbauland aljo in wirtſchaftlicher Entfernung liegend (drei Aderwagen oder Feldbahn mit je dreißig bis vierzig Doppelzentner Iofem Getreide find dem gerade Dreſchenden nur nötig, die drei Stunden Lieferzeit bedeuten) ift ein derartiger, einen Teil der Ernteeinrihtung bildender Speicher zu . errichten. Diefer hat das Getreide in jedem, leicht und ſchnell genau feftzuftellendem Feuchtigkeitsgrade abzunehmen und mit dem für dieſe Type (Heftolitergewicht u. a.) geltenden Preife zu bezahlen. Die vielfach örtlich” mögliche Verbindung mit der verarbeitenden Induſtrie welche übrigens als Speichernebenbetrieb troß der Kleinheit des Betriebes ebenfo billig arbeitet, wie der fpezialifierte Mühlen⸗ tiefenbetrieb filhert die angemefjene Verwertung des Getreides und der Staat wird ſich ſodiel Einfluß darauf fihern fönnen und müſſen, um feine Zwecke damit zu erreihen und obne daß der Verzehrer der wie oben angeführt ja au einen mit den Jahrzehnten fteigenden Anteil an dem Ädlandsanbau hat mit ungebührlichen Brotpreifen belaftet werden muß.

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Die Zukunft der Sugendpflege Don Dr. W. Woarftat

l. Die körperliche Kräftigung der Jugend und die Erziehung zur Wehrtüchtigkeit.

nter allen Fragen der Jugendpflege nimmt die Frage der körper⸗ lien Kräftigung unferer Jugend, die Erziehung unferer Jugend zur Wehrtüchtigkeit deshalb den erften und wichtigſten Platz ein,

ZA weil uns diefer Krieg mit brutaler Gewalt die Augen darüber E A geöõffnet hat, daß von ber Erhaltung und Steigerung der Wehr- fähigteit in dem heranwachſenden Geſchlecht unfere nationale Zukunft abhängt. Was Männer wie der Generalfeldmarfhall von der Golg feit Jahren immer und immer wieder betont haben, ohne daß ihre Stimme wirkli allgemeines Gehör in unferem Volle gefunden hätte, das ift jetzt jedem einzelnen Deutfchen Auge in Auge mit den Zatfadhen zur Gewißheit geworden: ohne eine rüftige und wehrhafte Jugend ift es um Deutſchlands Zukunft geichehen, möge der jetige Weltkrieg ausgehen, wie er wolle.

Nun bat man allerdings auch ſchon vor dem Striege von den verſchiedenſten Geiten und in der verſchiedenſten Weife eine Lörperlide „Ertüchtigung“ unjerer Jugend zu erreichen verfuht. In erjter Reihe find bier DOrganifationen mit mehr oder weniger militärijdem Anſtrich zu nennen, wie die Jugendwehr⸗ fompagnien, der bayerifhe Wehrkraftverein und der Pfadfinderbund. Diefe und eine große Anzahl der glei) noch zu nennenden Vereine find auf Anregung des Generalfeldmarſchalls von der Goltz feit 1911 zum „Jungdeutſchlandbund“ zufammengetreten.

Eine Törperliche Kräftigung der jugend im allgemeineren Sinne, nicht unter dem befonderen militäriihen Geſichtspunkte eritreben die Turn⸗ und fonjtigen Sportvereine; vor allem hat in den letzten Jahren der Wandervogel und die gefamte Wanderbewegung einen ſehr großen Einfluß auf die deutiche Jugend gewonnen. Es gibt beute feine einzige “ugendpflegevereinigung, bie nieht den erzieherifhen Wert der Leibesübungen, des Sports, des Wanderns vor allem, erfannt bat und ausnugt. So wirlen an der körperlichen Kräftigung unferer Jugend ebenfogut die kirchlichen Jugendpflegevereine mie die fozial-

Die Zukunft der Jugendpflege 303

demofratifde Yugendorganifation mit. ine befondere Erwähnung verdient der „SZentralausfhuß zur Förderung der Bolls- und ugendipiele”, der 1912 fein zmwanzigjähriges Beftehen feierte und unter anderen das „Jahr⸗ buch für Bolle- und Jugendſpiele“ und das „Deutſche Wanderjahrbudj“ berausgibt.

Die Beltrebungen der Yugendpflege, unfere Jugend körperlich zu Träftigen, haben feit mehreren Jahren auch Fräftige Unterftübung durch die Negierungen der deutfchen Bundesitaaten gefunden. In dem großen $ugendpflegeerlaß des preußiſchen Kultusmintiteriums vom 18. Januar 1911, duch den Die Drganifation der Yugendpflege angebahnt wurde, und in den beigefügten „Srundfägen und Ratſchlägen für die Jugendpflege* wird auf die Bedeutung der Leibesübungen für die Jugendpflege nachdrücklich hingewiefen und Schulung der Sinne, Schulung und Bildung des Willens und des Charakter als End- ziel auch für diefen Teil der AYugendpflegearbeit aufgeitelt. Auf diefe Ver⸗ fügung Hin ift dann vielerortS die Gründung von Drt3-, Kreis- und Bezirks» ausfhüffen für Yugendpflege erfolgt, die, durch ftaatliche Mittel unterftüßt, auf den Gebiete der Lörperlihen Jugendpflege die eifrigfte Tätigkeit entfaltet haben. In Preußen genießen aud) die dem „Jungdeutfchlandbund“ angegliederten Vereine, da fie fi den Jugendpflegeausſchüſſen angefchloffen haben, die ftaatlichen Ver⸗ günftigungen, die dieſen zugeftanden find, zum Beifpiel Fahrpreisermäßigungen, Haftpflicht und Unfallverfiherung ufw. Im preußifchen Etat find über andert- halb Millionen Mark für Zmwede der Jugendpflege ausgeworfen, der Kaiſer felbft Hat Geldmittel zur Verfügung geftellt und die Feitung Silberberg den jugendvereinigungen als „Jugendheim“ zur PVerfügung geſtellt. Andere Yundesftaaten, wie Sachſen, Hefien, Württemberg, Hamburg und andere find in ähnlicher Weife vorgegangen.

Bor dem Striege ließ nun der Staat allen ugendpflegevereinigungen möglichite Freiheit, um in der einem jeden eigentümlichen Weife auf die Jugend zu wirken. Er verlangte keineswegs, daß die Fugendpflegearbeit unter irgend- einem tendenziöfen GefichtSpunft geleitet wurde. Amar wurde in den oben erwähnten „Srundfägen und Ratſchlägen“ darauf hingewieſen, daß mie alles Heldentum, das nationale Heldentum insbefondere der Sinnesart der Jugend entipredde, daß daher die Kriegsgeihichte, daß Regimentsgeſchichten geeignete Vortragsitoffe für die Yugendpflege abgeben. Daneben wird aber empfohlen, das felbfttätige Intereſſe, die felbitändige Mitarbeit der Jugend an den Jugend⸗ pflegeorganifationen zu weden und auszunugen. Am wenigften wird bei der törperlicden Jugendpflege eine unbedingte militärifhe oder nationale Tendenz gefordert, wenn man auch eine antimilitärifhe und antinationale Tendenz, wie fie vor dem Kriege in einzelnen Gruppen der Yugendpflege berrfchte, als auch gegen die Zwecke der ftaatlichen Yugendpflege gerichtet abmweifen mußte. Ander- feit8 hat man vor dem Kriege jenen Yugendpflegevereinen, die ihren Übungen einen ausgefprochen militärifchen Charakter gaben, die aljo Erziehung zur Wehr-

304 Die Zukunft der Jugendpflege

tüchtigleit im engeren Sinne treiben wollten, von vielen Seiten baraus einen offenen Vorwurf gemacht.

Nah Ausbruch des Krieges hat fich in diefer Beziehung auf allen Seiten ein Umſchwung vollgogen. Die preußiichen Minifterien des Krieges und des Kultus taten einen energifcden Schritt weiter zur Militarifierung der körper⸗ lien Jugendpflege. Sie organifierten durch eine Verfügung vom 4. September 1914 eine umfafjende Werbetätigleit, um die Jugend vom vollendeten ſechzehnten Lebensjahr an zum Eintritt in die allerortS ausgebauten oder neu gegründeten Jugendwehrkompagnien zu veranlafien. Dort follte die Jugend zunächſt „während der Dauer des Krieges“ für den militärtiden Hilfs- und Arbeitspienft wie für den ihnen bevorjtehenden Dienft im Heer und in der Marine vorbereitet werben, „loweit es ohne Ausbildung mit der Waffe möglich iſt“.

Diefes Vorgehen der Regierung iſt überall gebilligt worden, fogar im Lager der Sozialdemokratie. So erfennt beifpielsweife Hermann Mattutat in einem Auffage der Sozialiſtiſchen Monatshefte*) diefen Ausbau der Yugend- webr als eine nationale Notwendigkeit an, begrüßt fogar in ihm die Aner- fennung einer alten Programmforderung der fozialiftifhen Partei, nämlich der Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigleit. Er verlangt, daß die Jugendwehr politifh neutral geftaltet würde und tritt für die Beteiligung ber ſozial⸗ demofratifden Jugendorganifationen an der Jugendwehr ein, um diefen Zwed zu erreichen. Dabei erfennt er an, daß die Regierung ein rebliches Bemühen zeige, diefe politiihe Neutralität in der Jugendwehr zu erhalten, indem fie die ſozialdemokratiſchen Organe zur Beteiligung aufgefordert und bei der Aufftellung der Grundzüge ihnen Entgegentommen gezeigt habe. in bejonderes Lob wegen bes Fehlens „jedes nationalen überſchwangs“ in dieſen Grundzügen erhält von ihm die württembergifche Jugendwehr.

Man kann aljo, ohne zuviel zu fagen, behaupten, daß heute innerhalb des deutſchen Volles Einmütigleit darüber herrſcht, daß die körperliche Er⸗ ziehung der deutfchen Jugend unbedingt eine Erziehung zur Wehrtüchtigleit fein oder werden müfle.. Daher muß man erwarten und verlangen, daß bie Erziehung zur Wehrtüchtigkeit, wie fie jebt zunächſt während der Kriegäzeit in den Jugendwehren angeftrebt wird, auch nad) dem Kriege fortgefegt werde. Allerdingg wird man dann nit umhin können, diefe ganze Erziehung. organifatorifh und zum Zeil vielleicht auch inhaltlich auf neue Grundlagen zu. ftelen. Denn ihre augenblidliche Organifation, gelennzeichnet als Ausbau der ſchon vorhandenen Jugendwehren und anknüpfend an ſchon Beitehendes, war: zwar für den Augenblid das Gegebene, trägt aber doch nur den Charalter eines Provtforiums. Sie erfüllt ſchon jet kaum mehr ihren Zwed. Überall. wird über das Abftrömen und Fortbleiben der Jugend aus den Jugend⸗ fompagnien geklagt.

*) Augendwehr und Arbeiterbewegung. Sogialiftiihde Monatshefte 1914, Nr. 20,. Geite 1240f.

Die Zukunft der Jugendpflege 305

Das ift überhaupt der fchlimmfte Fehler der augenblicklichen Organiſation, daß fie auf dem Grundſatz der freiwilligen Beteiligung der Jugend aufgebaut ift und daher niemals die gefamte Jugend erfaßt und erfafien kann. In weiten Kreifen der Jugend befteht noch immer troß der eifrigen Werbetätigleit, die nad dem Jugendpflegeerlaß von 1911 einfeste, Gleichgältigkeit, in andern Kreifen, namentlich in denen der felbitändigen Jugendbewegung (Wandervogel und verwandte Bereine) Miktrauen gegen dieſe von Erwachſenen geleitete Jugendpflege. Ja, felbft nach dem Erlak vom September 1914 ift die Be- geifterung für die Jugendwehr ſehr fchnell wieder abgeflaut.

Die Gründe dafür find zum Teil allgemein-pfychologifcher Art. Sie liegen im Wefen der menſchlichen Natur im allgemeinen und dem der jugend im befonderen.. Es nübt daher nichts, über ſolche Erfcheinungen zu Hagen ober zu ſchelten; man muß fie vielmehr zu verhindern fuchen.

Eine allgemeine und dauernde Erfaffung unferer Jugend dur eine Er- ziehung zur MWehrtüchtigleit ift nur dann möglid, wenn die Beteiligung an ihren Einrichtungen allgemein verbindlich if. Und nur der Staat allein ift imftande diefe Allgemeinverbindlichleit für die Veranftaltungen der Törperlichen Jugendpflege auszuſprechen. Daher muß die Förperliche Yugendpflege, inſoweit fe eine Erziehung zur Wehrtüchtigkeit fein fol, verftaatlicht werben.

Man bat bisher einer Beritaatlihung der Yugendpflege oder auch nur irgendeines ihrer Zweige gerade in den Kreifen ‚der freien Jugendpflege faft allgemein durchaus ablehnend gegenübergeftanden. Man fürditete den Bureau- katismus und Schematismus, der mit einer Verſtaatlichung notwendigerweife verbunden fein müßte, und betonte, daß gerade in ber Jugendpflege Indivi⸗ bualiftierung in den Mitteln, je nach der fozialen Stellung, der Bildung, felbft nad) dem Charakter des Volksſchlages vonnöten ift, dem die Kreife angehören, die für die Jugendpflege gewonnen werden follen. Man betrachtete mit Recht bie Bielgeftaltigfeit der Jugendpflegeeinrichtungen, die begeifterte Freiwilligkeit und Hingabe an ihre Aufgabe, die bei den Yugendpflegern, die freiwillige Mit⸗ arbeit und Gelbitbetätigung der ſich beteiligenden Jugend als hohe Vorzüge, bie ber bisherigen Art der Jugendpflege anbafteten. Der preußifche Jugend⸗ pflegeerlaß vom Jahre 1911 wußte diefe Vorzüge richtig einzuſchätzen, da er die Wichtigkeit ber opferwilligen Zätigfeit der leitenden Perfonen und ber Selbitbetätigung der Jugend am Ausbau und der Leitung ber Einrichtungen für den Erfolg der Jugendpflege betont. Er wollte baber die Jugendpflege auch gar nicht verftaatlichen, jondern vielmehr, wie Dr. Friedrich Reimers im Handbud für Fugendpflege*) fih ausdrückt, als Träger der Yugendpflege bie Ration mit den beften geeignetiten Perfönlichleiten in völlig freiwilliger Betätigung binftellen, der Staat felber aber follte der „treue, von tiefem

”) Seraudgegeben bon der Deutihen Zentralftelle für Jugendpflege. Langenfalza, Herm. Beyer u. Söhne. 1918. GSrenzboten II 1915 20

806 Die Sufunft der Ingendpflege

Berftändnts erfüllte, nimmer ermübende Helfer und Förderer der Jugendpflege fein, der durch Hergabe feiner Einrichtungen und Beleitigung vorhandener lähmender Geldnot den zu felbftlofer Betätigung drängenden fittlichen Kräften freie Bahn ſchafft“.

Aber jelbft wenn wir jebt, gedrängt von den Erfahrungen und Forderungen unferer Zeit, die Berftaatlidung eines Teiles ber Jugendpflege fordern, fo braudden jene Befürchtungen deshalb nicht aufzuleben. Denn wohlgemerkt, nur ein Teil der Jugendpflege, ja felbft nur ein Teil der Törperliden Jugend⸗ ‚pflege fol vom Staate auf feite Grundlagen und Bahnen geftellt werden, nämli die Erziehung zur Wehrtüchtigkeit. Nur die körperliche Jugendpflege, foweit fie Erziehung zur Wehrtüchtigkeit leiften ſoll, foll aus dem Gefamt- arbeitsgebiet der Jugendpflege herausgehoben und vom Staate auf neue und zwar allgemeingültige und für die Jugend und bie Jugendleiter allgemein- verbindlide Grundlagen geftellt werden. Alle die vielgeftaltigen Jugendpflege⸗ veranftaltungen jollen im übrigen ihre volle mdividuelle Yreibeit behalten; die in ihnen wirlenden ſittlich⸗erzieheriſchen Kräfte, vor allem die Freiwilligkeit der Arbeit und die Selbittätigleit werden auch in Zukunft ungeſchmälert ihre Wirkung entfalten Tönnen.

Aber bei der Erziehung zur Wehrtüchtigkeit handelt es fi) eben nicht allein um eine allgemein-erzieberifde Einwirklung auf die Jugend, wie bei der Zugendpflege im allgemeinen. Dieſe allgemein-erzieheriide Einwirkung Iäßt ſich, wie die Geſchichte unferer Yugendpflege beweift, von den verfehiedenften Grund» logen aus und auf dem verfhiedeniten Wegen erreihen. Hier handelt es fih aber vielmehr um die Löfung einer ganz beitimmten, praktifchen Aufgabe, die das Boll und den Staat als Ganzes aufs ftärkite praktiic intereffiert: die MWehrtüchtigleit des kommenden Geſchlechts. Bei der Wichtig. Teit des zu erreihenden Erfolges ift es dringend wünfchenswert, daß biefem Ziele nicht von den verſchiedenſten Seiten zugeftrebt wird, fondern es tft nötig, daß das Ziel und die Wege, die zu ihm führen, einhettlih und Mar beftimmt und gezeigt werden und daß dieſes Ziel und diefe Wege allgemein- verbindlich für die ganze deutſche Jugend bingejtellt werben.

Man kommt aljo um die ftaatlide und allgemeinverbindliche Organiſation der Erziehung zur Wehrtüchtigleit,” troß jener gefchilderten Bedenken unb Befürchtungen nicht herum. ES fragt fi aber nun, in welcher Weile dieſe Drganifation zu geftalten wäre. Man Tönnte zunächſt an eine felbftändige Organiſation dieſes Zweiges der Yugenbpflege denken, etwa in ber Weile, ba die Jugendlompagnien als ftaatliche Einrichtungen übernommen und der Eintritt in fie für alle Jugendlichen in einem beitimmten Alter, etwa vom fünfzehnten bis zwanzigſten Lebensjahre, verbindlih gemacht würde.

Abgefehen davon, daß diefe Einrichtung, beiſpielsweiſe die Kontrolle über die Beteiligung der in Betracht kommenden Jugendlichen, eine unverhältnismäßig große Aufwendung von Kraft und Mühe koſten würbe, fo ftellen fi) ihr doch

Die Zukunft der Iugendpflege 807

auch noch ſchwerwiegende praktiſche Bebenlen entgegen. Es würde in ihr eine neue, felbftändige Drganifation gefhaffen, die aufs Rene einen Teil der Zeit und Kraft der Jugend in Anfpruch nehmen würde. Die Leidtragenden würden dabei zwar nicht die Jugendlichen felber fein, fondern die Arbeitgeber der Jugend einer- feit8 und die Schule, namentlich die höhere Schule, anderjeits. Wir wiflen, unter welchen Schwierigleiten und tatſächlichen Opfern der Arbeitgeber die Einführung des Fortbildungsfchulgwanges möglich war. Die Durchführung der felbftändigen obligatorifchen Jugendwehr würde neue und größere Zugeftändniffe an Freizeit vom Arbeitgeber erfordern. Was endli die Schule, namentlich die höhere, angeht, jo befindet fie fich ſchon heute den vielen Jugendpflegeorganiſationen gegenüber deshalb in einer ſehr fehwierigen Stellung, weil alle dieſe Beftrebungen neben der Schule hergeben und ihr die Jugend aus der Hand nehmen, ohne dab e3 der Schule bisher gelungen wäre, den richtigen Anſchluß an biefe Beitrebungen zu gewinnen. Schon heute fpielt fi der größte Teil ber erzieherifhen Einwirkung auf die Jugend neben der Schule ab, und die Schuld daran liegt nicht bloß auf feiten der Schule. Wenn nun die Drganifation der Erziehung zur Wehrtüchtigkeit felbftändig neben die Schule tritt, fo wirb jener unerwünſchte Zuftand noch verſchlimmert. Man müßte anftelle befien wünfchen, daß gerade der Schule ein Feld eröffnet würde, auf dem fie wieder in höherem Maße zu erzieheriihem Einfluß auf die Jugend gelangten Tönnte.

Alle diefe berechtigten Anſprüche finden eine genügende Berüdfichtigung, wenn man die Erziehung zur Wehrtüchtigkeit an die Schulen felbft angliedert, und zwar an die Volks⸗, Fortbildungs-, Mittel- und höheren Schulen in gleicher Weiſe. Und auch die praktiſchen Organiſationsſchwierigkeiten würden dann auf ein geringes Maß zurüdfinlen. Es ift in diefem alle eigentlih nur ein zweckentſprechender Ausbau des Zurnunterricht3 vonnöten. Dieſer Ausbau hätte zu erfolgen nad) den Grundfägen, die von der Regierung in den „Richtlinien für die militärifche Vorbildung der älteren Jugendabteilungen während des Kriegszuftandes“ aufgeftellt worden find. Ein großer Zeil der darin angegebenen Ziele Tieße fih ſchon in den gewöhnlichen Turnftunden erreihen. Dazu müßten dann aber Heinere und größere Geländeübungen treten. Diefe könnten auf halb⸗ und ganztägigen Wanderungen ftattfinden, wie fie auch jebt ſchon an den Schulen Ablih waren. Diele Wanderungen wüßten jebt aber öfter, plan- mäßig und allgemeinverbindlih ftattfinden. Die Einbuße an Unterrichtszeit, die dabei eventuell unvermeidli werden könnte, wird durch den erzielten Gewinn an körperlicher und geiftiger Friiche bei der Jugend wieder wettgemacht werden.

Jedoch wäre es von erzieheriihen und praltifchen Geſichtspunkten aus gleich wichtig, daß die Form der Jugendkompagnie beibehalten und daß ben Sugendlompagnien innerhalb des Rahmens der Schule eine gemifje Selbft- ftändigleit gewährt würde. Diefe Form erleichtert der Jugend bie Selbfttätigkett, die Mitwirlung bei Ausbau und Leitung der Einrichtungen, auf deren er-

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308 Die Zukunft der Jugendpflege

zieberifhen Wert oben bingemwiefen wurde. Dieſe Selbftändigleit gegenüber der Schule müßte fogar foweit gehen, daß auch Jugendliche, die nicht mehr der Schule angehören, beifpielsweife junge Leute, die mit dem Einjährigen- zeugnis bie höhere Schule verlafien haben, der entſprechenden Jugendkompagnie nicht bloß ihrer ehemaligen Schule, fondern aud, wenn fie ihren Wobnfit verlegt haben, am neuen Wohnort der einer fremden Schule beitreten müßten.

Ferner muß die Selbftändigfeit der Yugendwehrlompagnie fo ausgebaut werden, daß die freiwilligen Hilfskräfte, die bisher fo QTüchtiges in der Erziehung zur Wehrtüchtigkeit als Führer der Jugend geleiftet haben, auch fernerhin ihre Kräfte in den Dienft der Sache ftellen können. Ihnen muß die Möglichkeit gegeben werden, als Jugendwehrführer, etwa bei Gelände. übungen, fi) neben den Qurnlehrern der Schulen zu betätigen, namentlich auch dann, wenn etwa mehrere Schulen in größeren Verbänden oder gegen- einander üben.

Bet diefen organifatorifhen Fragen, bie ſicher noch mancherlei Überlegung loften werden, ins einzelne zu geben, dazu ift hier nicht der Pla. Es follte bier nur auf die Notwendigkeit bingewiefen werden, die Erziehung unjerer Jugend zur MWehrtüchtigleit mit Hllfe der Autorität des Staates allgemein- verbindlich zu maden und auf feſte Normen zu bringen, und gleichzeitig follte ein Weg gezeigt werben, wie bdiefer Zweck am leichteften zu erreichen wäre, ohne daß die Intereſſen der beteiligten Kreiſe zu ſtark in Mitleidenſchaft gezogen würden. Unſer Vorſchlag lautet alfo: allgemeinverbindliche Erziehung „unjerer Yugend zur Wehrtüchtigleit bei Unterorbnung und Anlehnung ihrer Drgantjation an die Schulen, jedoch fo, daß den Yugendabteilungen ein gewiſſes Maß von organtfatoriiher Selbftändigleit gewahrt bleibt.

Sollen die Dramatiker fchweigen ?

Don Dr. Julius Zeitler

Jie Rundfrage, die neulich von einem Leipziger Abendblatt (Abend- zeitung) bei Bühnenleitern, Künftlern, Schriftftellern und Ton- dichtern veranftaltet wurde, um ihre Urteile über den Einfluß des Krieges auf die deutiche Theaterwelt zu fammeln, tft außer- ordentlich aufſchlußreich bezüglich der gegenwärtigen Lage der Theater.” Man findet darin Beiträge zur Pſychologie des Publilums, zur Lage des Schaufpielerftandes im Kriege, zur Klarftellung des merfwürbigen und leider fo ſehr erllaͤrlichen Wandels, den der Spielplan in ben legten Monaten erfahren bat. a, es ftedt ſogar eine Art Theatergefchichte diefer Kriegszeit darin, da wir bie einzelnen Phaſen der Spielplangeftaltung ſchon deutlich überbliden können: von dem nationalen und Haffifhen oder epigonifchen Drama nad) der Lähmung des Auguft, der Überwucderung ber folgenden Monate mit patriotiſchem ſchnellproduziertem Hurralitich, bis zum fentimentalen und beruhigenden Vollks⸗, Biedermeier- und Zauberftüd. Werke der Iehteren Ordnung nannte man „Entfpannungsliteratur” ; das Theater wich den Zeitereignifien jo weit aus, daß die Ablenkung von diefen als feine Hauptaufgabe erſchien, das Bublitum fteuerte immer mehr in eine Sudt zum Leichten und Leichteften binein und fo wollten die Theater nur noch der Zerftreuung, Erbeiterung und Erholung dienen. Es muß gejagt werden, daß dieſe zunehmende Verflachung von recht vielen Stimmen nur mit Nefignation gebucht wurde. So beflagt Dito Maurenbrecher, daß „unfer Publilum vom Theater vorerſt noch nicht die große Erhebung und Erbauung wolle, die man ihm gern reichen möchte”, und Alfred Halm findet bittere Worte über die Erniedrigung und Verflachung des Publilumsgefhmads, die in ihren Wirkungen auf eine recht lange Zeitipanne hin nur niederdrüdend empfunden werden lönnen.

Alle Stimmen verwerfen natürlich ausnahmslos die aktuelle ſchnell zufammen- gezimmerte Kriegsdramatil, bis zur Kriegspoſſe und Kriegsoperette binunter, jenen patriotifchen Schund, über deſſen entfebliche Albernheit man eigentlich fein Wort zu verlieren braucht. ES gibt geradezu Tein Baterlandslied, defien Titel

310 Sollen die Dramatifer ſchweigen?

oder Anfangsftrophe nicht als Titel eines biefer in einer ſchreckensvollen Mafien- baftigfeit auftretenden Werke mißbraucht wurde. Manche Direltoren bedauern es mit bitterem Hohn, daß fie die Pforten ihres Haufes foldem Schund nicht ver- &hließen durften aus wirtfchaftlihen und Publitumsgründen. Es muß aber anerlannt werden, daß bie ernfteren Bühnen dieſer Seuche fo gut wie gar nicht anheimfielen, daß fie auch in der Kriegszeit immerhin auf ein anftändiges Niveau bedacht waren. Jene Probufte, wie „Immer feſte druff“, „Sloria-Biltoria”, „Infanteriſt Pflaume”, „Die Tripelentente”, „Krümel vor Paris“ und andere, feinen in der Tat jebt ganz an bie Stätten verwieſen, wohin fie gehören, in die Operettenhäufer und Barietes. Die Stüde find damit ſchon von felbft in den Orkus gefunten, und es hätte auch jenes prinziptellen Beichluffes einer Bühne (der Münchener Generalintendanz), fi aktuellen Kriegsdramen zu verſchließen, gar nicht beburft, um fo mehr, als ein folder Beſchluß, wie wir ſehen werben, doch auch eine zweifchneidige Sache ift, indem er neben dem Schlechten auch dem Guten die Lebensmöglichkeit abſchnürt. Aber aud die nationalen Dramen der Vergangenheit (Kleift, Leſſing, Heyfe) haben angefangen, in den Hintergrund zu treten, nud ernfte Theaterleiter beginnen, dem irre- geleiteten Kriegszeitgeſchmack des Publikums mit Aufführungen von Neu- erfheinungen zu begegnen, die ſchon vor dem Kriege entftanden find, aber eine Weile in den Schubläben der Dramaturgen ſchlummern mußten. Selbftverftändlih find auch Haffiihe Werke ohne nationalen Gehalt wieder aufgenommen worden. Soweit jene Neuerfcheinungen einen ſolchen batten, erbielten fie ihn ſchon aus der Zeitſtimmung vor dem Kriege, wie Freiherr von Unrubs „Louis Ferdinand”, Ludwigs „Kronprinzendrama”, Paul Ernſts „Preußengeift“, Burtes „Katte“, Eulenbergg „Morgen nad Kunersporf” und andere eine ganze Reihe von Preußenftüden! Die Literaturgejchichte mag unterſuchen, warum fi) fo viele Dichter der Preußendiftorie zuwenden, warum au der Preußenroman in der Luft liegt. Es find GStüde, die gewifiermaßen eine zweite Staffel jener nationalen Dramen darftellen. Im weiteren Sinne gehören auch das in Erfurt aufgeführte Striegsichaufpiel „Fröſchweiler“ von Wentel und Runkel, Lee „Grüne Dftern“, 1813 fpielend, Hans Frands „Schlacht bei Worringen“ (Düffeldorf), Edmund Baflenges „Sotentreue“ (Chemnit) und Edarts „Heinrich der Hobenftaufe“ Dazu; wohl alle find ſchon vor dem Krieg geichrieben und [piegeln doch die Kriegsftimmung wider. Sogar Bismards Gedanken und Erinnerungen haben fich gefallen laſſen müſſen, dramatifiert zu werden. Jenſeits dieſer immerhin kriegeriſch durchdrungenen Dramenwelt erhielten wir von Schönherr, Wildgans, Bartſch, Sternheim neue Stüde, die aber in diefem Zufammenhang außer Betracht bleiben ſollen. Alſo jene oben erwähnten Werle fanden wenigftens da oder dort bei den Theater- leitern eine freundliche Aufnahme, man ſchlug zwei Fliegen mit einer Klappe, man befriedigte die patriotiſche Gefinnung und ſchien dabei zugleich Die lebendige Dramatik, das Schaffen der Gegenwart, zu fördern.

Sollen die Dramatiker fchweigen? all

Aber e3 iſt Mar, auch dieſe ſporadiſchen Erſcheinungen und Aufführungen baben e8 noch längſt nicht vermocht, unferer Theatergegenwart einen Charalter zu geben. Im ganzen wird gerade jett, in dem Zwiſchenraum zwiſchen der erften und der zweiten Kriegsepoche, deutlich, daß über unferen Bühnen ein Zuſtand der Ratlofigleit Itegt, eine gewiſſe Blutleere, trotz aller Experimente, aud) den Breitern heilfames Menſchenblut zuzuführen, ja faſt eine Lähmung, wie fie im Monat der Mobilmahung herrſchte. Woran liegt das? LUnfere Frage beantwortet das Schweigen der Dramatifer. Warum fchweigen fie? Schweigen fie nicht zu lange? Das Mikverhältnis zur Kriegsdichtung liegt Mar zutage; viele Tanfende Kriegsiyriler fingen und zwitſchern und marjchieren gereimt und ungereimt die Dramatiler aber fchweigen. Dem ungeheuren Geſchehen dieſer Zeit erftehen noch feine dramatiſchen Geftalter. Was uns angefündigt fit, hat Teinen Bezug darauf. Denn wir werden wohl weder Ernſt Hardts „König Salomo” noch Sudermanns faft in der Urzeit ipielendes neues Drama, die angejagt find, mit den Ereigniſſen unjerer Zeit, die uns im Herzen zittern, in Berührung bringen dürfen. Es mag Heroismus fein, einer bebenden Gegenwart künſtleriſch entfliehen zu Lönnen. Aber es ift ficherlih ein anderes Heroentum, als es heute in den Geelen lodert, als e8 heute bie dramatifche Hülle zu fprengen fuhen muß. Was uns bisher von unferen PDramatilern in diefer Richtung befchert wurde, ft überaus fpärlid und es find beftenfalls nur Leine Abjchlagszahlungen. Schmidt-Bonns und Dülbergs dramatiide Prologe, Hawels „Einberufung“, Bahrs munterer Seifenſiederſchwank, Klabunds „Sleines Kaliber”, Carl Anzen- grubers „Im großer Zeit”, Thomas „Erfter Auguſt“ teils fteden fie noch ganz in der Mobilmahung, teils find fie nad) außen gerichtet und geben billige Feindeskarikaturen. Alexander von Gleichen - Rußwurms „Feinde ringsum“ beſchwor das Griechentum und ftellte die Mobilmachung Themiftofles’ anf die Bühne. Tiefer ins Gefüge der Zeit greift Carl Hauptmann in jeinen dramatifhen Einaftern, die, wie ſchon das Tedeum „Krieg“, ins Philoſophiſche münden, und das innere und weitere nationale Geſchehen noch nicht ergreifen. Auch Hans Johſts „Stunde des Sterbenden” fchließt fih an Hauptmann an. Das wären fo ziemlih alle dramatiſchen Geburten, die der Krieg bisher gebracht bat.

Aber wie ftellen fi nun unfere ZThenterleiter und Dichter felbft dazu? Was erhoffen fie von der eigentlich lebendig zu nennenden Dramatik unjerer Zaoge? Hören wir die Rundfrage, fo begegnen wir bei nicht wenigen einer großen Zufunftsfreudigkeit, nicht wenige hoffen auf bedeutende Dramatiker und fordern fie, und wo einmal eine Stimme refigniert ausklingt, geſchieht es aus Liebe zum Beiten, aus unüberwindbarer Stepfis gegenüber dem Publikumsgeſchmack. Da lebt Graf Bylandt-Rheidt der Hoffnung, daß unfere große Zeit „auch wieder große” Dichter erftehen laſſen wird, Julius Rudolph hofft, „daß biefe große Zeit auch große Dichter bringe, damit die Mafjenproduftion

312 Sollen die Dramatifer ſchweigen?

von dramatiſchen Seichtheiten aufhört,“ Georg Stollberg erwartet einen günftigen Einfluß auf die dramatifhe Produktion („wir waren nahe an der Berfumpfung“), Wolzogens Gattin wünſcht, daß fih in blühender Schaffens- fraft „ein perfönlich-nationaler Geſchmack herausdeftilliere aus dem Pulverdampf des Srieges, aus dem Strudel des Völferblutbades", Mar Pategg veripricht, daß fih „modernen Dichtern, foweit fie die SZeitereigniffe mittelbar oder unmittelbar in padender Form widerzuipiegeln wifjen, gern die Tiheaterpforten öffnen”, auch Ernſt Wachler fordert, daß „die Bühnenleiter foviel als möglih neue Dichtungen” aufführen follen. Richard Leiner ſeufzt gar nad Dichtern, die ältere Ideen in fi haben ausreifen Iaffen, weil ihm die gegenwärtigen fo fehr zu verfagen fcheinen. Gut meint e8 auch Alfred Halm mit den modernen Dramatifen: „Es brauden ja nicht gleich Meiſter⸗ werfe geichaffen zu werben, aber wir haben ſoviel Tünftlerifch - empfindende Shhriftiteller, die das Handwerk der Bühne fennen und hier gern einipringen würden.” Maximilian Bötticher, der eine fchlimme Zeit für die Fünfte nad dem Krieg beraufziehen fieht, meint es noch berzlider: „Jetzt ſchon follten Die Zbeaterdireftoren auf die Suche gehen nad) jungen deutſchen Dichtern, und bie noch Unficderen ftügen und fördern.” Auch Hermann Kienzls innerjte Münfche gehen auf das Erftehen von Dichtern wenn fie erftehen, jo wird „ihre von der neuen Zeit befruchtete Dichtung die Weſensmerkmale diefer Zeit, wird ihr heroifches Drama die Züge des ftillen, in innerer Not ausharrenden Heldentums tragen.“ Und wenn au) Heinrich Stümle die Auserwählten bünn gejät fieht, fo geht doch auch feine Sehnfuht nad) neuen Dramen. Karl Ettlinger endlih rät: „Neue Stüde von neuen jungen Autoren geben!” Der Krieg lehrte, daß viele unerfannte Heldennaturen unter uns leben, fo leben auch viele unerfannte Talente unter uns! „Sie jet ans Licht zu bringen, das wäre nicht nur die Tünftlerifche Aufgabe der Theaterleiter, ſondern aud ihr beites Geſchäft.“ I

Man fieht, es haben fi doch eine erfledliche Anzahl von Gewaltigen ber Bühne und von angefehenen Schriftitellern in der Belundung ihrer Sympathien und ihres Optimismus für die kommende neue Dichtung zufammengefunden. Freilih, die Dramatiler felbft find auch in diefer Umfrage ſtumm geblieben. Eine fehr gewidhtige Stimme aber bat fi) ausdrüdlich für die Fortdauer des beitehenden Zuftandes ausgefprodhen. Geheimrat Zeiß, deſſen Spielplan ſicherlich feinem Wahlſpruch „Anftändig durchhalten“ ganz hervorragend entipricht, ftellt zwar feft, daß „unfere Dichter heute in Ergriffenheit vor den ungeheuren Ereigniffen noch ſchweigen,“ mie er in dem Liebesgabenheft der öfterreichifchen Rundſchau ausführt, aber er begleitet Dies zugleid mit dem Ausruf: „Ste feien dafür gepriefen!” Für die Zukunft läßt Zeiß zwar gleichfalls alle Hoffnungen gelten, er fiebt, daß fid „da draußen im Anblid jener über- menſchlichen Heldennaturen” Dichter formen und vorbereiten, ja das Schweigen der Dichter, „die unjer modernes Drama fo verfeinert, Tünftlerifch fo reich und

Sollen die Dramatiker ſchweigen? 318 vielvermögend gemacht haben”, ijt ihm gerade ein Beweis, „daß bier ein jtilles neues Wachstum anhebt.” Dean fragt fih aber, warum foll dies Schaffen fo fehr in die Zukunft verlegt werden, warum fol man nicht erwarten dürfen, daß es fi} fihon in der Gegenwart auswirke? Warum fol die Dramatif gegenüber allen anderen Rebensäußerungen, die wir fich entfalten jehen, zurücdbleiben? Dan könnte jagen, alles was heute die Dichter Ichaffen, und fei eg im ftillften Kämmerlein, fei es auch der graueften und erotifchften Vorzeit entnommen, bänge doch irgendwie mit den Begebnifjen der Gegenwart zujammen, jei doch irgendwie von dem Blutdunſt und dem beroifchen Atem unferer Zeit ummittert. Aber das iſt e8 nicht, was die Zeit fordert. Sie will, daß ihr die Dichtung gerade und ohne Ummwege und Umſchweife ins Auge blide und ihr den Spiegel der Kunft vorbalte. Da unfere Dramatiler im Mobilmahungszuftand ſtecken geblieben find, tragen fie eine Hauptihuld an der gegenwärtigen Natlofigleit und Stagnation der Theater. ES erjcheint verfehlt, mit dem Schaffen bis nad dem Kriege zu warten. Gerade jenen Stimmen gegenüber, die die Lage nad) dem Krieg peifimiftifch beurteilen, müfjen zeitig Mahner und Geljtesrufer auf⸗ treten, bie jener befürchteten Lähmung unſeres SKulturlebens entgegentreten. Es ift nicht einzufehen, warum es in künſtleriſchem Sinne verboten jein ſoll, ſchon jest die ungeheure Dannigfaltigleit innerer Brobleme, in denen wir ftehen, dramatifch zu erfaffen. Mon macht die Verwirklichung eines Dramas unmöglich, wenn man feine Hoffnungen immer wieder in die Zukunft verlegt. In unferer ganzen Kulturepoche mäften wir unausgefegt die Zulunft von unjeren Hoffnungen, unausgefebt verurteilen wir die Gegenwart, indem wir alles Heil von der Zukunft erwarten. Keine Ewigkeit aber wird erbringen, was die Gegenwart ausgeſchlagen hat. Nie wieder wird das Erleben biefer Zeit in fo brennender Deutlichkett und Schmerzlichleit vor uns ftehen, wie gerade jest. Bon aller Zulunft dürfte nur eine Schwächung und Verdünnung der Gefühle, von denen der heutige Deutſche durchraft ift, zu erwarten fein. Der Zuftand, in dem wir leben, ift fein Burgfrieden mehr, fondern er tft ein „Kichhhofsfrieven“. Dabei fei die Vermutung ganz zurüdgemwiefen, daß das Schweigen der Dramatifer eine Miturfade habe in Bedenken vor der Zenfur ein fo bedenklidhes Symptom werden fie mit ihrem Schweigen nicht verraten wollen. Bon der Beforgnis, daß man ihr Schaffen mit der üblichen Kriegspofienfabrilation verwechfeln Tönnte, ift garnicht zu reden. Es ift verftändlih, daß fie fid mit ihrem Schaffen abheben wollen, aber das Schweigen bat fie ſchon abgehoben, ihre Werke fallen jest nit mehr ins Getümmel. Alfo heraus mit neuen Stüden, ihr Dramatiker! Die Zeit ftroßt von Problemen, die nad Verwirklichung, Daritelung und Löſung verlangen, erfüllt gerade jebt und hier die Aufgaben der fortichreitenden Dichtung, damit ihr nicht hinter dem dämoniſchen Lauf diefer Zeit zurüdbleibt! Vergeßt auch nit, daß euch ein Amt Gberantwortet ift, eins von der Kunſt und eins: von der Menichlichleit! Bleibt auch jegt Träger und Erfüller diefes Amtes! Laßt

314 Hlaßgeblies und Unmaßgeblidyes

nicht die Worte wahr werden, die Paul Beller, einer der berufenften Warner und Richter, der Zeit ind Bronzeanlit fchleudert, daß die heutige Bühne „jede neue Lebensregung zum lautlojen Abfterben verurteilt“, daß das Publikum „zu einer Denkträgbeit beifpiellofer Art“ erzogen wird, unter „Beichönigung der eigenen Bequemlichkeit und Geichäftsichlauhelt mit vaterländiich - pathetiſcher

Gefte”.

Bekker wird ſchwerlich alleinftehen, wenn er feftftellt: „eine geradezu

ungeheuerliche Geiſtesfaulheit hat ſich aller bemeiftert.“ Diefer Geiftesfaulheit auf ihrem Gebiete entgegenzumirken, das ift bie Aufgabe unferer Dramatiler. Die Intendanten wir haben e8 ja gehört

werden folgen.

Auch werden fie ohnedies ihre Häufer nicht zumauern können.

Waßgeblihes und Unmaßgebliches

Dolitit

Aus der Maſſe der gegneriihen Kriegs⸗ literatur verdienen nur wenige Schriften die Beachtung des deutihen Publikums. Blind» wütiger Fanatismus, Verleumdung und ſchreiender Selbſtbetrug herrſchen vor und überbeben uns jeden eingehenden Urteils. Auch die Ausnahmen können un® nur infor weit intereffieren, als fie und ein Bild von dem Gemütszuſtand unferer Feinde geben. An bdiefem Sinne möchte ich bier den Ge⸗ danfengang ded kürzlich erfchienenen Buches „La Guerre“ von Erneft Denis wiedergeben, deſſen Berfajler, Geihichtsprofefior an der Sorbonne, fih felbft zu den objeltiven Schriftſtellern rechnet (2. Auflage, Paris, Delagrave).

Er beginnt mit der unmittelbaren Ber- anlafjung des Krieges. Als Ergebnis des diplomatifchen Streites ftellt er feft: Oſterreich Bat an Serbien unannehmbare Forderungen geftelt; Serbien bat in feinem Entgegen⸗ kommen ſchon die Grenze des Möglichen überfchritten; troßdem hat Oſterreich an Serbien den Krieg erflärt; Deutihland Hat alle diplomatifhen Friedenzbeftrebungen der Mächte Hintertrieben, bat Rußlands Teil mobilmahung als Vorwand zur Kriegser⸗ Härung benugt und dur die Weigerung,

Belgiens Neutralität zu adhten, England zum Kriege gezwungen. Der Triegeriihe Ausgang ift aber nur die unbermeidliche Folge der ganzen deutſchen Bolitil. In dem Bewußtſein, „der eiwige und einzige Träger von Kultur und Wiſſenſchaft zu fein“, wollte fih Deutſch⸗ land die Welt unterwerfen. Deshalb hatte ed feine Kaufleute und Lehrer in alle Welt geihidt, „um die Eriftenz anderer Raſſen zu untergraben und den preußiſchen Regimentern den Weg zu bahnen”. Angefichts dieſes Bieled Hat Deutfhland vor nichts zurück⸗ geichredt: ed Bat den Burenkrieg entfadht, den ruſſiſch⸗japaniſchen Krieg, den chineſiſchen Feldzug, die ruffiihe Revolution, den Irre⸗ dentismus, die türfifhe Revolution, es bat fein Heer und feine Flotte geſtärkt. Frank⸗ rei, der „berufene Apoftel der Freiheit“, begnügte fich damit, die Statue der Straß burg zu befrängen. Aber da feine Sicherheit durch die wirtſchaftliche Habſucht Deutſchlands bedroht war, ſuchte und fand es die Freund⸗ ſchaft Englands und Rußlands und ver⸗ mittelte zwiſchen beiden Mächten zweck Erhaltung des Weltfriedens.

Der Krieg bat das franzöſiſche Publikum enttäuſcht. Man dachte, man hätte es nur mit einer Kafte zu tun und ſah fich plotzlich einem ganzen Bolte gegenüber. Wie ift diejer Bollöfrieg zu erflären? Nur durd die Tat

Mafgeblihes und Unmaßgeblidhes

ſache, daß das ganze deutiche Volt allmählich vergiftet worden iſt. Durch die Freiheitskriege wurde der politiihe Fanatismus und bie Anbetung der rohen Kraft großgezogen. Die deutſchen Gelehrten Iogen und fälfchten, um die Überlegenheit Preußen » Deutfchlands zu beweifen, und predigten ıhrem Wolle den Kultus der Kraft und die Heiligfeit des Dieb- ſtahls. Daß diefe Lehren vom Publitum ftändig fo geduldig hingenommen wurden, fiegt an dem angeborenen Mangel jeder Ihöpferifden Phantaſie. Deutſchland Hat geiftig immer nur bon anderen geborgt. So war e3 möglid, daß die allmähliche, er⸗ drüdende Propaganda, der Wille zum Herrſchen und der Machthunger die Seele des deuſchen Volles vergiftete.

Leider hat keine der friedlichen Mächte des Reiches dieſer Begierde genug Widerſtand entgegenſetzen können. Der Partikularismus, auf den die Franzoſen ſoviel Hoffnung ſetzten, Bat ſich in der preußiſchen Vorherrſchaft ver⸗ flüchtigt; das Zentrum treibt mit ſeinen Prinzipien Handel und hat ausſchließlich praktiſche Intereſſen; die Univerſität ſteht im Banne der engherzigſten Unduldſamkeit und geht in mechaniſcher Arbeit, in Gelehrſamleit und Radbeterei auf, ohne ein jelbitändiges Urteil und Berjönlileiten auflommen zu laffen; die $nduftrie, die fonft jede Störung des Marktes vermeidet, war von dem Aufſchwung nad) 1870 befefien und hoffte durch eine neue Razzia die Kaſſen wiederum zu füllen; die Sogialdemofratie war eine rein delorative Erfdeinung, im runde von dem gleichen nationalen Hochmut wie alle anderen Volks⸗ ſchichten befeelt.

So hatten die Alldeutfchen leichte Arbeit. Ihre ſechs Direltoren waren feit langem die eigentlien Leiter der deutſchen auswärtigen Boliti. Die niederen Leidenfchaften des Bolle8 waren erwadt. Die rechtmäßigen Erben Goethes hatten aus dem vergifteten Kelch getrunken und vertierten.

Der Friede, den die Verbündeten Deutfch- land auferlegen werden, muß folgendes Ergebniß haben: Zerftüdlung des deutſchen

315

Meihed und Schaffung neuer Staaten nad dem Rationalitätenprinzip.

Mit diefem Bilde, da8 der llniverfitäts- profeflor von uns entwirft, befennt er fi gang und gar zur typiihen franzöſiſchen Srundauffaffung. Im einzelnen verſucht er den widtigften Glaubensartifel der Franzoſen die Deutfhen find an allem ſchuld durch ſcheinbare hiſtoriſche und pſychologiſche Tatſachen zu ſtützen; feine Tatſachen find wieder nur Erzeugniſſe ſeiner nationalen Grundauffaſſung. So dreht er ſich ſtändig im Kreis herum. Er ſetzt immer voraus, was er erſt beweiſen will. Entbehrt ſein Buch alſo des wiſſenſchaftlichen Ernſtes, ſo wird es dadurch nicht objektiver, daß er ab und zu phantaſtiſche Behauptungen hinein⸗ wirft. Er ſtellt feft, daß bei den Deutſchen da8 Gefühl vorherrſcht, und ſchreibt dem Gefühl eine unbeiwiefene inquifitatorifhe und gewalthaberifhe Eigenihaft zu. Dur dab ganze Pamphlet geht dabei ein offenes und bewußted® Streben nah Unwahrhaftigleit. So an allen Stellen, wo er die Friedensliebe Rußlands, Serbiend und Frankreichs lobt. Er ſtellt den elenden franzöſiſch⸗ ruſſiſchen Handel (Geld gegen Soldaten) als eine „Liebesheirat” hin, obwohl er wiſſen muß, wie wenig volkstümlich er anfangs im franzoͤ⸗ ſiſchen Bolfe war und wieviel Rubel in die franzöfifden Nedaltionen gerollt find, um aus den franzöliihen Sparern die zwanzig Milliarden herauszupreſſen. Er fest Frank⸗ reich einen billigen Heiligenſchein aufs Haupt, wenn er e3 den gegebenen und etvigen Hüter de3 Nationalitätzprinzipg nennt. Und ein paar Seiten weiter gibt er zu: dieſes Prinzip muß azugunften höherer Erwägungen zurück⸗ treten, wenn es gilt Deutfchland zu ſchwächen. Mit diefem einen Sat widerlegt er fein ganze? Bud).

Und trog alledem ift diefer Verſuch einer zyniſchen Geſchichtsklitterung lehrreich für ung: das franzöfifhe Volt Hat auch die geiftigen Berbindungsbrüden in die Luft gejprengt und die gegenfeitige Berftändigung für lange Zeit unmöglih gemadt. Dr. Fritz Roepke

Fe 2 ELSE

64 DJ \ N

Kriegstagebuch

16. Mai 1915. Nördlich Ypern unſere vorgeſchobenen Stellungen bei Steenſiraate und Het Sad zurückgezogen. Bei Ablain und Reubille franzöfifhe Angriffe abgewiefen. Die Kriegsbäfen Calais und Lover mit Luftichiffen erfolgreih angegriffen.

16. Mai 1915. Huffiihe Angriffe bei Eiragola und Ezetifztt, fowie bei Mariampol und Ludwinow abgeſchlagen.

16. Mai 1915. In Galizien den San bei Xaroslau und an anderen Stellen überjritten, Drohobyez von den Verbündeten genommen, 6100 Gefangene gemacht, acht Maſchinengewehre erbeutet.

17. Mai 1915. Südlich Reude Ehapelle engliihe Angriffe abge» wiefen, ebenfo franzöfife Angriffe an der Lorettohöhe, Den Ablain, weſtlich Soudez und im Prieiterwalde.

17. Mai 1915. Bei Eiragola und Mariampol ruſſiſche Angriffe abgeſchlagen. Vorſtoß in Richtung Grycſzlabuda Syntowty —Szaki, wobei 1700 Ruſſen gefangen wurden.

17. Mai 1915. Franzöſiſche —— an der kleinaſiatiſchen Küfte von den Türken vereitelt.

17. Mai 1915. In Galizien wurden in der erften Maihälfte inse gefamt 174000 Ruſſen gefangen, 128 Geſchütze und 868 Mafchinengewehre erbeutet.

18. Mai 1915. Auf der Lorettohöhe einige feindliche Gräben ge- nommen, zwei Mafchinengewehre erbeutet. Feindliche Angriffe ſüdlich Reuve Ehapelle, bei Neuville gefcheitert, ebenſo im Priefterwalb.

18. Mai 1915. Bei den Kämpfen um den Sanübergang bon einer aus Hamoveranern und Oldenburgern beftehenden Divifion 7000 Ge⸗ fangene gemadt, vier Geihüge und 28 Maſchinengewehre erbeutet.

19. Mat 1915. Neubildung des englifchen Kabinetts; e8 wird ein Koalitionsminifterium gebildet, in dem die Unioniften ftarf vertreten find.

19. Mai 1915. An der Dubiffa 900 Ruſſen gefangen, die Höhe 105 bei Podubis erftürmt, weitere 500 Gefangene gemadt, füdlich de Riemen bei Grycſzkabuda Syntiowiy— Szali die Ruſſen völlig geichlagen, 22300 Gefangene gemadt, vier Mafchinengewehre erbeutet.

19. Mai 1915. Nördlich) Przemyſl verzweifelte Gegenangriffe der Ruſſen unter jehr erheblichen Verluften des Feindes abgewiefen, am oberen Dnjeftr 5600, nördlih Kolomea 1400 Ruſſen gefangen.

19. Mai 1915. Erfolgreicher türkfifher Angriff auf die Landungs⸗ teuppen der Alliierten bei Ari Burnu.

20. Mai 1915. Das italieniihe Parlament erflärt fih mit 407 gegen 74 Stimmen für den Frieg.

20. Mai 1915. Nördlich Ypern Angriff farbiger Franzoſen. An» griffe der Engländer ſüdlich Neuve Ebapelle, der Franzoſen im Ailly- Walde geicheitert.

Kriegstagebudh

917

20. Mai 1915. Unſer Angriff an der Dubiffa öftlih Podubis brachte uns bis Betygola, weitere 1500 Ruſſen gefangen; öſtlich Milofzajcie und Zemigola die Ruſſen über den Fluß geworfen.

21. Mai 1915. Südweſtlich Neube Chapelle eine Anzahl farbiger Engländer gefangen genommen. Franzöſiſche Angriffe an der Lorettohöße, bei Ablain und Reuville abgewiejen.

21. Mai 1915. Neiterfämpfe in Gegend Schawdiny, ein Negiment der ruſſiſchen Ufjuri-Meiterbrigade aufgerieben.

21. Mai 1915. Bei Bojan, öftlih Ezernowig, ruffiiher Vorſtoß aurüdgetviefen. |

21. Mai 1915. Ein türkiſches Unterfeeboot verjentt im Schwarzen Meer den ruffiihen Panzerkreuzer „Banteleimon”.

22. Mai 1915. Südlih Neupille 90 Franzofen gefangen, zwei Maſchinengewehre erbeutet. Franzoͤſiſche Angriffe an der Straße Bethune Lens, auf der Lorettohöhe und im Prieftertvalde abgeichlagen.

22. Mai 1915. Bei Szawle im Angriff gegen den ruſſiſchen Rord- flügel 1600 Ruſſen gefangen, fieben Mafchinengewehre erbeutet; an der Dubifia ruffiihe Rahtangriffe abgeichlagen, 1000 Gefangene gemadit.

22. Mai 1915. Ruſfſiſche Angriffe öfilih Saroslau und am oberen Dujeſtr abgewiefen.

28. Mai 1915. Rächtliche engliihe und franzöfiiche Angriffe zwiſchen Reuve Ehapelle und Givenchy, ſowie am Nordabhang der LXorettohöhe bei Ablain und Neuville unter ſchweren Berluften für den Feind abgejchlagen, 150 Gefangene gemadt.

28. Mai 1915. Bei den Gefechten im Bergland von Stielce in den legten Tagen 30 Offiziere und 6300 Ruſſen gefangen.

28. Mai 1915. Heftige für die Alliierten äußerſt verluftreiche Kämpfe bei Sedd ul Bahr an der Südfpige der Sallipolibalbinfel; fie verlieren über 2000 Tote, mehrere Schiffe beihädigt.

28. Mai 1915. Italien erflärt ohne Recht und Grund unter gröbftem, ſchimpflichſtem Treubruch Oſterreich Ungarn den Krieg, worauf der deuifhe Botichafter in Rom, Fürft Bülow, ebenfalld feine Päſſe fordert.

24. Mai 1915. Unſere Angriffe in Richtung Ypern fortgejegt, Claminghe⸗Ferme, dad Schloß nördlıd Xieltje, die Bellewaarde⸗Ferme er⸗ ftürmt, 150 Gefangene, zehn Mafchinengewehre erbeutet. Südlich Armentieres, zwiſchen Neuve Ehapelle und Givenchy und nördlich der Lorettohöhe feind- lihe Angriffe abgefchlagen.

24. Mai 1915. An der Dubifia öftlih Roſſienie die Ruſſen an⸗ gegriffen, zurüdgeworfen und 2240 Gefangene und fünf Mafchinengewehre erbeutet. Ruſſiſche Angriffe aus Eiragola gejceitert.

24. Mai 1915. Die Armee Madenfen nördlihd Przemyſl erneut

vorgegangen, die ſtark befeftigten Orte Drohojow, Oftrow, Nadymno,

Wyſocko, Wietlin, Malowillo und die Höhen nordweitlih Bobrowla und öftlih Cetula erftürmt. Bisher über 21000 Mann und 158 Offiziere ge fangen, 89 Gejchüge, darunter neun ſchwere, und 40 Maichinengewehre erbeutet.

24. Mai 1915. Die öfterreihiiche Flotte bombardiert erfolgreich die italienifche Adriaküfte von Venedig bis Barletta.

24. Mai 1915. Barid von mehreren deutlichen fylugzeugen bom--

barbiert.

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Kriegstagebud

25. Mai 1915. Das engliide Schlachtſchiff Triumph“ im Wolf bon Saros dor Ari Burnu don einem deutſchen Unterfeeboot in den Grund gebohrt.

25. Mat 1915. Norböftlih Givenchy gelang es farbigen Engländern fi eines vorjpringenden Teiles unſeres vorderften Braben® zu bemädhtigen. Zwiſchen Lievin und der Lorettohöhe ein großer franzöfiiher Angriff voll⸗ tommen geſcheitert. Der Gegner erlitt fehr ſchwere Berlufte. 100 weiße und farbige Franzoſen gefangen.

25. Mai 1915. Südöſtlich Radymno nah bHeftigem Kampf der Ort Swiete genommen, weiter nördbli die Gegend Öftlih Lafzli und bie Linie Korzenica-apalow an der Labaczowka erreicht. Die Siegesbeute bat jih bis jet erhöht auf 25000 Gefangene, 54 leichte, gehn ſchwere Geſchütze, 64 Mafhinengewehre, 14 Munitiondwagen. Nördlich der Weichſel 998 Ruſſen gefangen.

25. Mat 1915. In Tirol eine italienifhe Abteilung in Condins eingerüdt. Italieniſche Angriffe an der Kärninerifhen Grenze abgeichlagen, am Badon-Baß und weitlich des Plöden der Feind geflohen.

26. Mai 1915. Erneute Durchbruchsverſuche der Franzoſen zwiſchen Bermelles und der Lorettohöhe unter ſchwerſten Berluften des Feindes ver⸗ eitelt. NRördlih Dirmuiden 28 Belgier gefangen; Tleinere feindlide An⸗ griffe bei Soifjons und im Priefterrvald abgewiefen.

26. Mai 1915. Oſtlich Radymno die Höhe Horodyflo und der Ort NRienowice im Sturm genommen, 2000 Gefangene gemadit, ſechs Ge⸗ ſchütze erbeutet. Südöſtlich Praemyfl bei Huſſakow die feindliche Haupt⸗ ſtellung durchbrochen, 2800 Mann gefangen, elf Mafchinengewwehre erbeutet. Südöftlihd Drohobycz und bei Stryj die befeftigte feindliche Yroniftellung durchbrochen.

26. Mai 1915. In Tirol ſüdöſtlich Trient Angriff der italieniſchen fhweren Artillerie, bei Caprile im Cordevoletale zwei italieniihe Kompagnien duch Öfterreichiiche® Mafchinengewehrfeuer vernichtet. Im Küftenlande Tleinere italienifche Abteilungen von den Grenzitellungen zurüdgeworfen.

26. Mat 1915. Pöbelausſchreitungen gegen Deutihe in Mailand.

27. Mai 1915. Dad englifhe Linienſchiff „Majeftic" vor Sedd ul Bahr von einem deutichen Unterjeeboot in den Grund gebohrt.

27. Mai 1915. Italien ertlärt die Blockade der Öfterreichiichen Küfte und der Albanien?.

27. Mai 1915. Abgeſchlagene franzöfiiche Angriffe an der Loretto⸗ höhe. Seit 9. Mai hier 1450 Franzofen gefangen, ſechs Maſchinengewehre erbeutet. Im Priefterwald jihwere Niederlage der Franzoſen. Kleinere Kämpfe in den Vogeſen am Reichsackerkopf und bei Mekeral, wo bie Franzoſen fi in einem Kleinen Stüd unferer Gräben feftfegten. Franzöſiſcher Luftangriff dur 18 Flugzeuge auf die offene Stadt Ludwigshafen. Das Führerflugzeug wurde heruntergeſchoſſen.

27. Mai 1915. An der Straße Eiragola Roſſienie bei einem Vorſtoß 8120 Ruſſen gefangen.

37. Mai 1915. In Galizien verzweifelte Gegenangriffe der Ruſſen recht? ded San, die nur bei Sieniawa einen feinen Erfolg erzielten, indem ſchwächere Abteilungen auf das linle Sanufer gedrüdt wurden, die dabei einige Geſchũtze zurüdlaffen mußten. Rordöftlicd Praemyfl weitere 9000 Ge⸗ fangene gemadt, 25 Gejhüge und 20 Maſchinengewehre erbeutet.

Kriegstagebud

27. Mai 1915. Die Türkei erllärt den Suezlanal als Kriegsgebiet.

28. Mat 1915. Aögefchlagene franzöfiihe Angriffe längs der Straße Bethune —Souchez, bei Neuville und im Priefterwald. Gravelines, Dün- firden, St. Omer und ein Flugplatz nordöftlid Fismes mit Bomben belegt.

28. Mai 1915. An der oberen Dubiſſa bei Kurtowiany umd Kielmy ruffiihe Angriffe abgewieſen, an der unteren Dubiffa die Rufſſen an vielen Stellen über de Yluß geworfen und 880 Gefangene gemadit.

28. Mai 1915. Helfingfors dur Beppeline bombardiert.

28. Mai 1915. Bor den Dardanellen ein engliſches Linienfchifl vom Typ „Agamemnon“ durch ein deutſches Unterfeeboot torpebiert. Bei Ari Burnu nahmen die Türken mehrere feindliche Verſchanzungen, fie rüdten auch bei Sedd ul Bahr vor.

28. Mai 1915. Im Küftenland bei SKarfreit ein italienifches Bataillon zerfprengt, bei Plava und nördlih Görz feindliche Angriffe ab» geiwiefen. Benedig durch oͤſterreichiſche Marineflieger bombardiert.

28. Mai 1915. Un der Lubaczowka und Öftlih Radymno beftige Angriffe der Ruſſen abgewiefen, weitered Vorrüden der Verbündeten nördlich Przemyſl, am oberen Bnjeftr, bei Drohobycz und Stryj.

29. Mai 1915. Franzöfiihe Angriffe öftlid des Yſerkanals unter ſchweren Berluften für den Feind abgefchlagen, an der Straße Bethune— Soudez mehrere Dutzend ſchwarzer Franzofen gefangen genommen.

29. Mai 1915. Bei Illoka, 60 Kilometer füdöftlih von Libau, eine feindliche Abteilung durch unfere Kavallerie zurüdgeworfen. An der Dubifla räumte eine Tleine Abteilung vor überrafhhenden ruffiiden Angriffen den Ort Sawdyniki, wobei vier Geihüge zurüdgelafien werden mußten; er wurde durch eintreffende Verſtärkungen jedoch fofort wiedererobert.

29. Mai 1915. Un der Tiroler Grenze und im Küftenlande leinere Grenzgepläntel.

80. Mai 1915. Schwere Niederlage der Frangofen bei Arras an der Front NReupille—Roclincourt, ein lange borbereiteter Durchbruchs⸗ verſuch der Franzoſen unter außergewöhnlich hohen Verluſten für fie durch rheiniſche und bayerifhe Regimenter vereitelt. Im Briefterwald gelang e8 den Franzoſen in einige unferer vorderjten, ſchwach bejegten Gräben einzudringen.

80. Mai 1915. Angiff eines AlpinicRegiment® auf dad Blateau von Lavorne blutig abgewiefen. Vergebliche Vorſtöße der Italiener nord« Öftlih PBanereggio, an der Kärntnergrenze, öſtlich Karfreit.

81. Mai 1915. Vergeblicher franzöfifher Durchbruchsverſuch an der Straße Souchez Bethune und am Barency Bad. Im Priefterwald eroberten wir die verlorenen Grabenftüde größtenteils zurüd. Als Antivort auf den Angriff auf Qudwigshafen wurden bie Werften und Dodd von London außgiebig mit Bomben belegt.

81. Mai 1915. Bei Amboten, fünfzig Kilometer öftlih Libau das zuffifde vierte Dragonerregiment duch deutihe Kavallerie in die Flut geihlagen. Im Mat erbeutet: nördlich des Niemen 24700 Gefangene, 16 Geſchütze, 47 Mafchinengewehre; zwifchen Njemen und Pilica 6948 Ge- fangene, elf Mafdinengewehre, ein Flugzeug.

81. Mai 1915. Die Fortd 10a, 11a und 12 an ber Nordfront Przemyſls durch bayeriihe Truppen erftürmt: zwei Banzere, 18 ſchwere, fünf leichte Geſchütze erbeutet, 1400 Ruſſen gefangen. Ruſſiſche Angriffe

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820 Kriegstagebud,

öftlih Jaroslau unter ſchwerſten Verluften für fie abgejchlagen. Garde truppen, Oftpreußen und Bommern erftürmen den ſtark befeftigten Ort Stryj, über 9200 Mann gefangen, at Geſchütze, 15 Maſchinengewehre erbeutet.

81. Mai 1915. Ein deutfches Unterfeeboot torpediert einen engliſchen 8000 Tonnen großen Hilfskreuzer bei den Strati⸗Inſeln im Agäifchen Meer.

1. $uni 1915. Die YZuderfabrit weftlid Souchez wiedererobert, franzöfiiher Angriff bei Neupille abgejchlagen.

1. Zuni 1915. Bei Neubhaufen, 50 Kilometer nörböftlid und bei Shidili, 65 Kilometer füdöftlih Libau, Tleinere feindlihe Abteilungen abgefchlagen, bei Szawle 500 Gefangene gemadit.

1. $uni 1915. Zwei weitere Forts von Braemyfl erſtürmt. Die Kriegsbeute des Mai auf dem galiziichen Kriegsſchauplatz beträgt: 868 Offi- ziere, 268869 Mann gefangen, 251 Geihüge, 576 Maſchinengewehre er- beutet, von welden Zahlen auf die Armee von Madenjen entfallen: 400 Offi⸗ ziere, 152254 Dann, 160 Geſchütze und 408 Mafchinengewehre. Einſchließlich der in Polen und Kurland gemadten Gefangenen find im Mai etwa 1000 Offiziere und über 800000 Mann in die Hände der Berbündeten gefallen.

1.Xuni1915. Angriffe der Italiener auf den Krn-Rüden im Küften- land unter ſchwerſten Berluften für fie abgeiviefen.

2. Juni 1915. An der Front Souchez —Neuville größere franzöfiiche Angriffe, die überall mit ſchwerſten Verluſten für den Yeind abgewieſen wurden.

2. Juni 1915. Die Feltung Praemyfl von der Madenjen » Armee zurüderobert, die Beute läßt fi noch nicht Überfehen. Armee Linfingen dringt in Richtung Zydaczow vor. Die Beute der Schladht bei Stryj iſt auf 60 Offiziere, 12175 Mann Gefangene, 14 Geihüge, 85 Maſchinen⸗ gewehre geitiegen.

2. uni 1915. Weitere Kämpfe an der Tiroler und Kärntener Grenze, auf dem Plateau von Folgaria, bei Mifurina und in Gradisca; die italienifhen Truppen flüchten, fobald fie ins Feuer kommen.

2. Yuni 1915. Ein englifher Linienfhiffstreuger bei Tenedos torpediert.

8. Juni 1915. Schloß und Ort Hooge, 8 Kilometer öftlid Ypern geftürmt, englifhe Angriffe öftlih Givendy abgewieſen, ebenfo franzöfifche bei Neuville. Im Brieftertvald faft alle verlorenen Gräben wiedergeivonnen

8. Juni 1915. Ruſſiſche Abteilungen aus Lenen und Schrunden, 60 und 70 Kilometer öftlih Libau, durch unfere Kavallerie vertrieben. An der Dubiffa gefceiterte feindliche Angriffe bei Rawdsjany und bei Samwdynili.

8. Juni 1915. Oſtlich Przemyſl die Linie Boleftraczyege— Tori— Bozdziacd— Starzawa erreiht, die Höhen bei Myslatycze, 22 Kilometer öftlih Przemyſl, erftürmt.

Allen Mannftripten it Porto Hinzuzufügen, ba anderufells bei Ablchnung eine Rüdjenbung nicht verbürgt werden lann.

Nachdrud ſamtlicher Uuffäge nur mit ausprädlidder Erlaubnis des Berlags geiattet. Besantwestlig: bez Herausgeber Georg Tleinow in Berlin. Lichterfelde Wei. Maxufkziptiendungen uab Briefe werden erbeten unter ber Adreſſe: Herausgeber der Grengboten in Berlin» Bichterfelde Wer, Gterufratte 66, Deruprecher bes Hesausgebers: Amt Lichterfelde OO, bed Verlags und ber Schriftleitung: Amt Bägem CE10. Berlag: Berlag ber Grenzboten G. m. b. H. in Berlin SW li, Xempelbofer Ufer 852. Diud: „Der Meigäbote” G. m. 5. 5. in Berlin SW 11, Deffausr Steche 38/87.

Örenzboten 9)

Die völferrechtliche Stellung des Papftes

Don Profefior Dr. Conrad Bornhaf

ie mittelalterliche Obergewalt des Papſttums über die geſamte N: 9) Chriftenheit ging mit dem Beginn der Neuzeit zu Ende. Noch \ e &

4 Heinmal hatte 1493 Papft Alerander der Sechſte, der berüchtigte 8 Borgia, von der alten päpftliden Machtfülle Gebraud) gemacht, indem er die ganze Welt, joweit fie nicht ſchon unter hriftlicher Herrihaft ftand, nad einem Längengrade zwiſchen Spanien und Portugal teilte. Daraufhin festen fih dann beide Mächte über ihre wechlelfeitigen Anſprüche in dem Pertrage von Tordeſillas vom 7. Juni 1494 auseinander, der am 24. Januar 1506 von Papſt Julius dem Zweiten bejtätigt wurde. Doc die aufftrebenden proteftantifhen Völker erfannten diefe päpftlicde Dbergewalt nicht mehr an. Gerade ihr Zufammenbrud gab die Grundlage, die bisherige chriftlich- abendländiiche Kulturgemeinfhhaft mit einem neuen Bande zu umſchlingen. So entftand das moderne Völkerrecht al3 das echte Kind der Reformation.

In der neuen Völkerrechtsgemeinſchaft war von einer päpftlichen Dbergewalt nicht mehr die Rede. Aber der Papft war immerhin Beherrſcher eines italienifchen Mittelftantes. In dieſer Eigenſchaft trat er als gleichberechtigtes Mitglied in die WVölferrechtsgemeinichaft ein. Daß er daneben noch das Haupt einer über alle ftaatlihden Grenzen binausgehenden kirchlichen Gemeinſchaft war, fpielte völferrehtlih nur eine untergeordnete Rolle. Die Tatholifhen Staaten geftanden um deswillen dem Bapfte und feinem Vertreter einen Ehrenvorrang zu. Umgelehrt unterhielten aus demfelben Grunde einige proteftantifche Staaten, jo England feit der Revolution von 1688, mit dem Beherrfcher des Kirchenftaates feinen diplomatifhen Verlehr oder lehnten wenigſtens wie Preußen den Empfang eines päpftlihen Abgefandten ab. Gewiß, als Gegenftand des völferrechtlichen Berkehrs fpielten die Angelegenheiten des italienifchen Mitteljtantes eine geringe

Grenzboten II 1915 21

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Nolle, hauptſächlich handelte es fih um das Verhältnis von Staat und Kirche, das überhaupt nicht völlerredhtlih war. Aber das Böllerrecht gab für den Berlehr des Papftes mit den weltlichen Staaten den Rechtstitel und die äußeren Formen. Insbeſondere gehört hierher die vielbeftrittene Doltorfrage nad) ber rechtlichen Ratur der Konkordate, die in der Form völlerrechtlicher Verträge bie Beziehungen von Staat und Kirche zu regeln beftimmt waren.

So blieb es bis zur Einverleibung des Kirchenſtaates in das Königreid Stalien. Die kurze Epifode der Aufhebung der weltlihen Herrſchaft des Papites durch Rapoleon den Eriten kann füglich unerörtert bleiben. Die Losreißung der Romagna, der Marken und Umbriens, die @inigung des Königreichs Stalten, obwohl vom Papfte nicht anerlannt, ließen zunächft die päpftliche Stellung no unberührt. Ander8 wurde es mit dem vollftändigen Untergange ber weltlichen Herrſchaft des Papftes im Jahre 1870.

Die Vernichtung des Kirchenftaates und ber Einzug der Staltener in Rom nad) Einſchießung der Brefche bei der Porta Pia vollzog ſich durch den anerkannten Bölferrechtstitel der Eroberung. Damit ging die volle und uneingefchränfte Staatsgewalt über das bisher noch vom Papſte beherrfchte Gebiet auf das Königreih Italien über. Alles Eigentum des Bapfıtums als ſolchen wurde ttaltenifches Staatseigentum, der Papft wäre als italienifcher Untertan aus der Böllerrechtögemeinfchaft ausgefchieden geweſen.

Das italienifhe Garantiegefeh vom 18. Mai 1871 bat diefe Rechtswirkungen der völlerrechtlihen Eroberung des Kirchenftantes zwar nicht aufgehoben, aber abgeſchwächt. Danach tft der Papſt nach wie vor heilig und unverleglich, Angriffe auf feine Perſon werden ebenfo beftraft wie folche auf die Perfon des Königs. Er genießt feitens der italienifchen Regierung die Ehren eine Souveräns mit ‚dem Chrenvorrang, den ihm bie katholiſchen Souveräne zugeftehen. Gr darf fi eine Leibgarde halten unbejchadet der Verpflichtung ihrer Mitglieder gegen die Staatsgefete. Die italienifche Regierung zahlt dem Papfttum und zwar auch während des Interregnums eine jährlidhe Rente von 3225000 Lire, frei von allen Abgaben. Der Papft hat den „Nießbrauch“ an den apoftoliihen Paläften von Batilan, Lateran und Caſtel Gandolfo nebft Zubehör, die famt ven dort befindlichen Mufeen, der Bibliothef und den Sammlungen für Kunſt und Altertümer unveräußerlih und fteuerfrei find. Das SKonflave und bie õtonomiſchen Konzilien find frei. Kein Staatsbeamter darf ohne Genehmigung des Papſtes, des Konflaves oder des Konzils in die apoftoliihen Paläfte ein- dringen. Unterſuchungen und Beſchlagnahmen bei den päpſtlichen Ämtern find unterfagt. Die beim Papſte beglaubigten Gefandten erfreuen fi aller völferrechtlihen Vorrechte und Befreiungen. Der Papft genießt volle Freiheit des Briefmechfels mit der ganzen katholiſchen Welt. Zu diefem Zwecke wird im Batilan ein päpftliches Poſt- und Telegraphenamt eingerichtet, deſſen Sendungen, wenn fie mit dem päpftlicden Amtsfiegel verfehen find, im italienijgen Gtaatsgebiete frei befördert werben.

Die volkerrechtliche Stellung des Payftes ‘328

Das italieniſche Barantiegefeh beruht weder auf einer Vereinbarung mit anderen Staaten noch iſt e8 vom Papfte anerlannt, der insbefondere die An- nahme der ibm durch das Geſetz zugebilligten Jahresrente abgelehnt hat. Damit fehlt aber dem Pafttum eine allgemein anerlannte völferredhtlihe Rechtsgrund⸗ lage überhaupt. Bielmehr ergiebt fi) ein dreifach verſchiedener Rechtsſtandpunkt, ber des italienifhen Stantes, der des Papſtes und der der neutralen Staaten. |

Halten hat die Rechtsfolge der Eroberung bes Kirchenftaates in vollem Umfange gezogen. Der Kirchenſtaat befteht nicht etwa fort, befchränft auf dns beſcheidene Staat$gebiet der apoftolifden Paläfte von Batilan, Lateran und Eaftel Sandolfo. Auch diefe find ſamt allen darin befinplihden Sammlungen italieniſches Staatögebiet und italtenifches Staatseigentum geworden, der Bapft hat nur den Nießbrauch. Ebenſowenig wie päpftliches Staatsgebiet gibt e8 noch päpftliche Untertanen, der Papſt ſelbſt ift italtenifcher Untertan geworben, deſſen Nechtsverbältnifie eben im Garantiegefeb durch die italieniiche Staats⸗ gewalt einjeitig geregelt werden. Ber ttalienifhe Staat unterbindet ſich in gewiſſen Beziehungen nur die Ausübung feiner Staatsgewalt, indem er den Papft mit den perjönliden Ehren eines Souveränd für unverleglich, feine Refidenz für italieniihe Beamten unbetretbar, feinen Verkehr für frei und unbehindert und die bei ihm beglaubigten Sefandten für unter dem Schub bes Döllerrechtes ftehend erklärt. Aber diefer Selbftbeichränfungen kann ber italieniſche Staat fich jederzeit durch einfeitige Abänderung oder Aufhebung des Sarantiegefebes wieder entledigen. Damit beantwortet fich insbefondere die Doltorfrage, ob der Papſt, wenn er das Garantiegefeg anerkennt, die Rente von 1870 ab oder erft vom Zeitpunfte der Anerlennung nadfordern Tann. Stalien, das völlig außerftande ift, die Rente für beinahe ein halbes Jahr⸗ hundert nachzuzahlen, würde dieſe Frage allein im Wege der authentifchen Sinterpretation des Garantiegefehe8 beantworten.

Vom päpftliden Standpunkte wird weder die völferrechtlihe Tatſache der Eroberung des Kirchenftaates noch das Garantiegeſetz anerfannt. Die Befeitigung der weltlichen Herrſchaft des Papſtes ift einfach Kirchenraub und kann daher niemals ein Recht der italienifhen Staatsgewalt begründen. Die apoftolifchen Baläfte nebft Zubehör, in deren Befite Stalien das Papſttum nicht behindert, find Eigentum der Kirche. Der Papſtkönig bleibt nah wie vor weltlicher Herrſcher und der erfte und legitimfte unter den Souveränen, kann aber infolge der italienifchen Vergewaltigung das Gebiet des Vatikans nicht verlaffen, fondern ift Hinter feinen Mauern gefangen. Den freien völlerrechtlichen Verkehr mit anderen Staaten beanfprudt er nicht nad) dem italienifhen Garantiegeſetze, fondern Traft eigenen unverjährbaren echtes als Souverän. Die Kirche duldet den dermaligen Zuftand temporum ratione habita, mit Rückſicht auf die ſchlechten Zeiten, nachdem fie alle ihre Machtmittel bis zum großen Kirchen⸗ . bann, gegen die Kirchenräuber erſchöpft bat, aber fie erfennt ihn nicht an.

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324 Die völferrechtliche Stellung des Papftes

So feltfam die Haltung des ftarren Einſpruchs gegen bie Macht der Tatſachen und der durch fie begründeten völlerrehtlichen und ſtaatsrechtlichen Drbnung ber Dinge berühren mag, fo ift fie doch nicht ohne rechtliche und tatfächliche Grundlage. Rechtlich Tann die Tatholifche Kirche Traft der ihr von ihrem göttliden Stifter erteilten Sendung nicht auf die weltliche Grundlage ber freien Stellung des Papfttums verzichten. Sie würde damit, wenn auch die Notwendigleit der weltlichen Herrichaft des Bapfttums nicht, wie zeitweife beabfichtigt, dogmatiſch feitgelegt wurde, gegen göttliches Recht verftoßen. Die Durchführung des Anſpruches des Papſttums bleibt auf beffere Zeiten vorbehalten. Und tatfähhlich tft die durch das italieniſche Garantiegeſetz gemwährleiftete Freiheit des Bapfttums ein höchſt unficherer Beſitz, ſolange in Italien nicht das Geſetz, fondern der Straßenpöbel die Verhältniſſe beherrſcht. Nicht einmal die Leiche Leos des Dreizehnten bat man gewagt, feinem lettwilligen Wunfche entſprechend, aus dem vatifanifchen in das einige Kilometer davon entfernte lateraniſche Gebiet zu überführen. Und die Pertreter Deutſchlands und Üfterreichs beim Bapfte ſahen ſich genötigt, beim Ausbruche des Krieges Italien zu verlaflen.

Die andern Staaten endlich haben ſich der Tatſache nicht entziehen können, daß der Kirchenftaat durch Eroberung untergegangen tft. Aber fie betrachten den Papſt nad wie vor, troß des Fortfalls der territorialen Grundlage, als perfönlichen Souverän mit königlichen Ehren, entjenden an ihn Botichafter und Gefandte und empfangen feine Abgefandten, denen jogar in katholiſchen Staaten ein befonderer Vorrang zugebilligt wird; fie erlennen auch die Drbensverleihungen des Souveräns ohne Land an. Damit ift die im Völlerrechte einzigartige Erſcheinung eines perfönlidden Souveräns entitanden, wir haben es mit einer völkerrechtlichen Perfönlichkeit zu tun, binter der kein Staat fteht. Gegenftanb des völferrehtlihen Verlehrs mit diefem Souverän können natürlih überhaupt nicht mehr die Verhältnifje von Staat zu Staat, fondern nur die von Staat und Kirche fein. Das Völkerrecht dient bier als rechtliche Verkehrsform für Berhältniffe, die des völlerrechtlichen Inhaltes entbehren. Dieſe Auffafiung der neutralen Staatenwelt ift ebenſo unabhängig von dem italienifhen Garantie gefege wie von dem Standpunkte der katholiſchen Kirche, fie iſt feit 1870 gewohnheitsrechtlich nen entwideltes Völlerrecht.

Trotz der Verſchiedenheit des Standpunktes haben fi) Doch alle Beteiligten im Laufe der Jahrzehnte in einen gewiſſen Modus vivendi hineingefunden. Der Papſt ift ein unabhängiger Souverän, aber hinter den Mauern des Vatikans. den er tatfächlich nicht verlaffen darf. Das Konklave ift unbehindert, aber Der Kardinal, der zum Papfte erwählt wird, bleibt im Batilan gefangen. Der Papit Tann durch Geſandte und anderweitig frei mit der Welt verfehren, aber nur im DBatilane. Beſuche katholiſcher Staatsoberhäupter empfängt er nur, wenn fie bei ihrem Befuche in Rom mit dem Quirinal nit in Beziehung getreten find, und daher, da diefe Bedingung nicht erfüllt werden kann, gar nicht.

Die völkerrechtliche Stellung des Papftes 825

Proteſtantiſche Stantsoberhäupter dürfen den Papft auch ohne Erfüllung der Bedingung beſuchen, nur nicht vom Quirinale aus.

Diefer tatfächlihe Ausgleih der Gegenfäte muß aber fofort Schiffbrud leiden, ſobald die tatfähhlihen Vorausſetzungen des beftehenden Zuftandes fich ändern.

Das gilt zunächſt für den Fall, daß etwa der Papft mit der Filtion der Gefangenſchaft im Vatikane bräde und auch nur vorübergehend einen andern Aufenthalt wählte. Allerdings unterliegen Batilan, Lateran und Caftel Gandolfo feinem Nießbrauche, aber nad) dem Wortlaute des Garantiegefebes ift nur der Balaft oder die Ortlichleit, wo der Papft gewöhnlich refidiert oder fich zeit weilig aufhält, vor dem Eindringen italieniſcher Staatsbeamten gefeit. Der Papft begründet mit feiner Perfon die Immunität des Ortes. Gelbft ein Sommeraufenthalt in Caſtel Sanbolfo würde die Immunität des Vatikans mit feinen Alten und Archiven preisgeben. Man braucht dabei nicht einmal die weitere tatfächliche Frage in Erwägung zu ziehen, ob die jeweilige italienilche Regierung Luft bat oder auch nur imftande fit, den PBapft gegen Angriffe des Pöbels zu ſchützen, der in Stalten bekanntlich die Straße beherricht. Man fieht, die Sefangenfchaft bes Papftes im Batilane tft nicht ohne Grund, wenn man dabei auch nicht gleich an das Kerkerftroh zu denken braucht, das in der Kultur- fampfzeit als Reliquie verlauft wurbe.

Noch ſchroffer würde fih freilich der Gegenſatz des verſchiedenen Rechts⸗ ftandpunltes geltend machen, wenn der Papſt jemals beabfichtigen follte, Nom zeitweife zu verlafien. An eine dauernde Aufgabe des römiſchen Wohnſitzes fann natürlich nicht gedacht werden. Denn der Papft als Nachfolger bes Apoſtels Petrus und erften römiſchen Biſchofs tft dogmatiſch an das Grab des Apoftelfürften gebunden. Ein Berlafien Roms, mag es fürzere oder längere Zeit dauern, ift Daher immer nur ein Eril des Bapfttums. Niemand würde den Bapft hindern, Rom zu verlafien, aber er fäme leichter heraus als wieder hinein. Die vatikaniſchen Sammlungen und Archive würden die Italiener wicht herauslafien und jeden Verſuch des Papftes, fie mitzunehmen mit dem energiihen Befehle beantworten: „Das Gepäd bleibt bier!” Ber Papſt hätte die Immunität feiner bisherigen Refidenz und die Freibeit feiner Berwaltungs- behörden aufgegeben, ohne einen Erjat dafür zu gewinnen.

Eine andere Frage tft e8, ob die Greigniffe nicht trotzdem den Papft zum Berlafien Roms zwingen können. Das italienifche Königtum fteht auf fehr ſchwachen Füßen, dbermalen mehr wie je. ine freimaureriide Revolution, die die italieniſche Republik ausruft, würde auch vor den Toren des Vatilans nicht Halt mahen. Das Garantiegefeb bat eine wächſerne Naſe und Tann jederzeit von der fouveränen ttalieniichen Staatsgewalt befeitigt werden. Schon gleich bei Ausbruch des Krieges erwies fi das Garantiegeieg als unwirkſam, indem die Vertreter Deutſchlands und Dfterreih beim Batilane ah aus Rom zurüd- ziehen mußten. Die fremden Staaten lönnen fich nicht auf das Garantiegeſetz

826 Die volkerrechtliche Stellung des Papſtes

verlafien und haben auch gar kein Recht darauf, da e8 ohne ihre Mitwirkung als einjeitiger Alt der italieniſchen Staatsgewalt erlafien iſt. Das Papftim ift vollends der Willtür preisgegeben.

Das tft ein auf die Dauer unhaltbarer Zuftand, der nur folange beftehen Ionnte, weil Jtalten auch bier durch den Dreibund gebedt war. Das Bapfttum wie die Katholiten des Weltall haben aber einen Anſpruch auf eine allfeitig rechtlich geficherte Stellung des Dberhauptes der katholiſchen Kirche, die biefem die freie Ausübung feines Hirtenamtes gewährleiſtet. Diefe Stellung barf weder abhängig fein von den Launen des herrſchenden römiſchen Straßen- pöbels noch auch von der Willkür der freimaurerifchen ttalientichen Gefeßgebung.

Dafür gibt es verfchtedene Möglichkeiten.

Die von der Kurie gewünfchte Löfung wäre natürlich die Wiederherftellung bes SKirchenftaates, mindeftens in dem Umfange, den er von 1860 bis 1870 noch hatte, als Stadt und Provinz Nom oder im Sinne des Altertums Latium und Säd-Etrurien. Auch den Stalienern wäre für ihre Treulofigfeit der Verluſt bes Gebietes, das fie den deutichen Siegen von 1870 verdankten, wohl zu gönnen. Die Schwierigkeit beftände nur darin, daß ſich ein folder neuer Kirchenſtaat aus eigener Kraft ſchwerlich halten könnte. Er hätte gegen aufe rührerifhe Bewegungen im Innern, Fretichärlerangriffe von außen und gegen bie offene und verftedte Feindfchaft der ttalienifhen Regierung zu lämpfen. Er bedürfte alfo der militärifehen Unterftüyung durch eine fremde Macht, wie fie Napoleon der Dritte dem Kirchenſtaate bis zum beutfch-franzöfifchen Kriege gewährte. Diefe undankbare Rolle wird aber ſchwerlich ein fremder Staat auf fi! nehmen wollen. Das Deutfhe Reich als paritätifcher Staat hat dazu am wenigſten Veranlaffung. Schließlich wäre die Dadurch herbeigeführte perfönliche Freiheit des Papftes auch nicht weit her. Denn er käme in Abhängigkeit von ber Macht, die Rom befegt hat.

Den Gegenfag zu jener Löfung bildete, wenn man den Inhalt des Sarantiegefeges zum Gegenftande einer Vereinbarung unter den Mächten machte. Die weltlihe Herrſchaft des Papftes bliebe damit endgültig befeitigt. Aber Die dur das Garantiegefeg feitgefegte Stellung des Papites wäre der einfeitigen DVerfügungsgemwalt Italiens entzogen. Stalien wäre zur Aufredhterhaltung des beitehenden Zuftandes durch völferrechtlihen Vertrag gegenüber anderer Staaten gebunden. Viel gewonnen wäre dadurch freilih nicht. Denn wir willen ja, wie Italien völkerrechtliche Verpflichtungen zu erfüllen pflegt. In einem Augen- blide, wie dem gegenwärtigen zum Beifpiele, wäre ein folder Vertrag für das Papfttum nicht das Stüd Papier wert, auf dem ber Vertrag geſchrieben ift. Und außerdem iſt nirgends mehr als in Stalien die Möglichkeit vorhanden, daß ein Pöbelhaufe alles über den Haufen wirft.

Es bliebe endlich noch die Möglichkeit, dem Papfte ein ganz befchränltes Gebiet mit voller Souveränität zu übertragen, etwa ben auf dem rechten Ziber- ufer liegenden Zeil von Rom mit einem Landftreifen an dieſem Ufer entlang

bis zum Meere, alfo ein Gebiet etwa vom Umfange eines dentſchen Yürftentums. Hier genöfle ber Papft völlige Unabhängigkeit, auch Freiheit des Berlehrs mit dem Auslande. Das Heine Gebiet wäre unter Gewährleiftung aller Groß- mäcdhte auch leichter zu halten als ein großes. Freilich eine abfolute Sicherheit gegen ttalienifchen Vertragsbruch gibt es auch bier nidt.

Gerade die Loslöfung Italiens vom BDreibunde und bie dadurch berbei- geführte Krifis hat die Unhaltbarkeit der derzeitigen Stellung des Papſtes gezeigt. Die italienifche Untreue wird fih auch in biefer Hinfiht an Italien jelbft rächen. ebenfalls muß auf eine internationale Grundlage geftellt werden, was man bisher vertrauensvoll der Verfügung ber italieniſchen Staatsgewalt überlaffen hatte.

Belle Alliance

Sum hundertften Gedenktage am 18. Juni 1915 Don Dr. W. Eapelle

8 ift kein Zweifel: die Geſchichte wird in unferem Zeitalter wieder die vornehmfte Wiſſenſchaft. Nur fie lehrt wirklich die großen Zufammenhänge verjtehen, aus denen dieſer Weltkrieg entitanden ift. Nur fie gibt dem Staatsmann von heute wie dem der Zukunft die dauernden Richtlinien. ... .

Zu den großen Zujammenhängen aber, ohne die der heutige Krieg nicht vol verſtändlich ift, gehört nächft dem Bismardifchen vor allem das Napoleonifche Zeitalter. Schon jährt fi) zum hundertften Male der Tag, an dem dies Beitaltee beinahe wie durch ein Wunder und dod) durch fein Wunder, denn daS Ergebnis quillt aus dem innerſten Wefen der Dinge, das heißt der Perfonen jo jäh feinen Abſchluß fand wie nie ein Zeitalter vormals und nachmals. D&b ° freilid der hundertſte Jahrestag von Belle Alliance unter den dröhnenden Schlägen des jegigen Kampfes, diefer „Götterdämmerung“ zwifchen den Mächten des Lichts und der Finfternis auf Erden nicht klanglos verrauſchen wird? Wer weiß es? Und doch ift heute zum erften Male wieder der Boden, auf dem jene wunderbare Schlacht geſchlagen wurde, in der Hand beutfcher Heere. Und doch tft ein tieferes Bindringen in die Zufammenhänge von damals and für die Gegenwart oder vielmehr für die deutſche Zukunft gerade in unferen Tagen von erhöhter Bedeutung.

828 Belle Alliance

So weit war e8 nun alüdlih auf dem Wiener Kongrek bei dem Ctreit um Polen und Sachen gelommen: noch war fein Jahr verflofien, daß die verbündeten Mächte den Friebensftörer Europas geftürzt hatten da rüfteten fie ſchon heimlich zum Kriege gegeneinanderl Preußen und Rußland auf ber einen, Ofterreih, Frankreich, England auf der anderen Seite. Da fchlug bie Kunde von der Rückkehr Napoleons in das Elend „vieler fonderbaren Ber- fammlung, die bis jegt unter dem Namen der bevollmächtigten Minifter Europa beberrfchte” *), wie ein reinigendes Gewitter. Mit zornigem Staunen und nicht ohne Entſetzen vernahm die Welt die pompöfe Proflamation, die der von Elba geflüchtete Ymperator aus Cannes am 1. März 1815 an feine ſchlachtergrauten Beteranen erließ: „Der Adler mit den Nationalfarben wird von Turm zu Zurm fliegen bis zu den Türmen von Notre Dame.“ ... Mit einem Schlage war aller Zank und Hader unter den vier Großmächten vergeſſen: am 25. März erneuerten Preußen, Vfterreih, England und Rußland das Bündnis von Chaumont. Napoleon felbft wurde feierlich geächtet. Bier Heere in erfter Linie 600000 Mann wurden gegen ihn aufgeboten, gegen den noch vor Sabresfrift in Frankreich Allmäctigen, der jebt trog aller Zugeftändnifie an bie öffentlihe Meinung im Lande nur 271000 Mann aufzubringen vermodite. Das vierte Heer, auf das allein es hier anlommt, wurde in ben Niederlanden aufgeftellt: 90000 Mann Engländer”), Holländer und Norddeutiche unter Wellington in der Gegend von Brüffel, 112000 Preußen an der Sambre und Maas unter Blücher, der wieder Gneifenau als Chef feines General itabes hattel

Napoleon PBroflamation hatte in Frankreich zunächſt nur bei feinen alten Soldaten, die die Erinnerung an die Gloire unter dem vergötterten Imperator nicht aus dem Herzen reißen konnten, den erwarteten Widerhall gefunden. Die Mehrzahl der Franzofen blieb kalt: fie hatte feit mehr als zwei Jahrzehnten nur einen Wunſch: dem Frieden! Napoleon erlannte das wohl. Nur durch einen glänzenden Erfolg hätte er die Mafje der Nation noch einmal mit fi fortreißen können. Einen folden Erfolg auf dem Schlachtfelde natürlih galt e8 jebt zu erreichen. Mit einem Blick überfah er die ftrategifche Lage: außer der vierten Armee der Verbündeten in Belgien waren die Feinde nod) im weiten Felde. Die beiden Gruppen der vierten Armee aber, in Wahrheit zwei jelbftändige Heere, ftanden nicht mehr weit voneinander. Aber ihre einzelnen Zeile waren noch nit annähernd Tonzentriert.

Napoleon hatte zunächſt 128000 Dann feiner alten Truppen zufammen- raffen können. Gelang es ihm, fi mit jähem Anfprung zwiſchen Blücher und Wellington zu werfen und fie einzeln zu fchlagen, dann hatte er gewonnen. Dank ging der Neft von Wellingtons Truppen in Antwerpen auf die Schiffe zurüd die Koalition war zerjprengt, Frankreich wieder in feiner Hand.

*) Worte Blüchers an Friedrich Wilhelm den Dritten vom 20. Robember 1816. **) Engländer waren davon nur 25000 Mann.

Belle Alliance 329

Hiernach handelte er mit jener rüdfichtslofen Entichlofienheit, die alles aufs Spiel fest, um alles zu gewinnen.

Freilich mißlang diefer Anfprung, vermodten Wellington und Blücher fi) rechtzeitig zu vereinigen, dann war er verloren. Aber er dachte nicht an die Möglichleiten des Mißlingens. Er fah nur das Gelingen und feine Folgen.

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Im Vertrauen auf Wellingtons Hilfe hatte Blücher am 16. Juni die Schlacht bei Ligny angenommen. Da aber dieſe Hilfe durch Wellingtons Schuld ausblieb, der ſich felbft nur mit Mühe bei Quatrebras der Truppen Neys Hatte ermwehren können, fo ift Blücher freilid unter Mitwirkung anderer unglüdlicder Umftände wie des Ausbleibensd von Bülows Korps bei Ligny geſchlagen worden. Daran hatte felbit das verzweifelte perfönliche Ein- greifen bes alten Helden nichts ändern können; als nad ftundenlangem, wütendem Ringen im Dorfe Ligny felbft Napoleons alte Garde das preußifche Zentrum durchbrochen hatte und die Franzofen ſchon auf Brye vordbrangen, hatte fich Blücher in Erlenntnis der Gefahr yerfönlid an die Spite einer Feiterbrigade gefekt und fie mit gezogenem Säbel gegen den Feind geführt. Andere Regimenter, wie biefechiten Ulanen unter Lutzow, hatten ſich mit ſtürmiſchem Zuruf angeichlofien. Da ftürzt Blüchers Pferd, von einer Kugel getroffen; der greife Feldmarſchall kommt unter das fchwere Tier zu liegen, die franzo- fiſchen Reiter jagen vorüber, ohne feine Nähe zu ahnen. Vergeblich ſucht inzwiſchen Gneiſenau die Kavallerie nochmals zu fammeln. Mitten im wildeſten Getümmel der Hin- und herwogenden Reiterſchlacht rettet er mit gezogenem Säbel den verwundeten Major von Bardeleben, der, den Arm in der Binde, aeben ihm reitet. „Ein Hundsfott, wenn ih Sie nicht heraushauel”“ ...

Da Blücher verſchwunden bleibt, jagen mehrere höhere Dffiziere, um Befehle für den unvermeibli gewordenen Rüdzug zu erbitten, zu Gnelfenau. Ber hält unbeweglich zu Pferde bei Brye, die Karte in der Hand. Ein kurzes Schweigen . . . Befahl er jetzt den Rüdzug nad Dften, wohin fchon ein Teil der geichlagenen Preußen flutete, jo behielt die preußiiche Urmee, die von Wellington trog feiner beftimmten und wiederholten Zufage fo fchnöde im Stich gelaffen war, ihre natürliche Rüdzugslinie nad dem Nhein und war gerettet . . . Da befiehlt er den Rüdzug nad Norden! So gibt er die Ver⸗ dindung mit der Heimat auf, um unter allen Umftänden mit Wellington in Yühlung zu bleiben und in den nächſten Tagen mit ihm gemeinfam zu ihlagen. Dur diefen Befehl Gneifenaus, den er, ungebroden durch das Unglüd des Tages, im vollen Bemußtfein feiner Tragweite gegeben bat, ijt der Sturz des Korſen befiegelt für immer. An die traumhafte Möglichleit, daß die geſchlagenen Preußen unmittelbar nad) ihrer Niederlage ihre Rückzugslinie aufgeben würden, um alsbald, mit Wellington vereint, von neuem eine Cchecht zu liefern, bat er im Ernſt niemals gedacht. Ja, in der ihm eigenen Unter⸗

er erft am andern Nachmittag durch Marſchall Groudy mit nur 83000 Dann die Berfolgung in Öftlicher Richtung aufnehmen ließ. In diefem wahrhaft verhaͤngnisvollen Yehler zeigt fih das Weſen bes Korſen in fchärfften Lichte. „Des Menſchen Eharalter tft fein Schidfal,“ fagt ein griechifcher Denker. Für Napoleon gilt dies Wort ebenfo wie für Wallenftein .. .

So können fi die Preußen am 17. unbehelligt von Groudy, ber erft am 18. ihre Spur findet, gen Norden auf Wavre zurückziehen, fi) hier in der Nacht mit Bülow vereinigen und in ber Frühe bes 18. ſcharf nah Weften umbiegend Wellington zu Hilfe eilen.

Diejer war am Nachmittag des 17. auf der Brüffeler Straße norbwärts zurüdgegangen und batte bei dem Dorfe Mont St. Jean Stellung genommen. Auf Blüchers Anfrage hatte er fich bereit erflärt, bier am folgenden Tage eine neue Schlacht anzunehmen, wenn er auf die Hilfe von etwa 25000 Mann rechnen könne. Blücher hatte geantwortet, er würde kommen, womöglid mit feiner ganzen Armee. Wellington hatte nur an eine Verſtärkung feines Iinfen Flügels gedacht, Gneifenau aber beichloß, den Franzofen mit der ganzen Macht

in bie rechte Flanfe und in den Rüden zu gehen. Gelang das, dann war das’

Schickſal Napoleons entſchieden.

Wellington hatte noch am 17. ſeine Truppen links und rechts der Brüſſeler Straße, das Gefiht nad) Süden, auf einem weſtlich⸗öſtlich ſtreichenden Höhenzug aufgeitelt. Bor ihm jenkte fi das Gelände faum merfli und verlief dann eine Strede ganz eben, bis es fi allmählich wieder gen Süden zu einer neuen

Bodenwelle erhob. An der Stelle, wo diefe von der Brüffeler Straße durch⸗

ſchnitten wird, liegt ein weithin fichtbares Gehöft, der Pachthof Belle Alliance. Auf diefem füdlihen Höhenzug hatte Napoleon am 17. gegen Abend, nachdem er fi bei Duatrebras mit Ney vereinigt hatte, feine Truppen in weft-öftlicher Richtung aufgeftellt, jo daß das Gehöft von Belle Alliance faft genau das

Zentrum feiner Stellung bildete. Die zwiſchen beiden Höhenzügen liegende

ſehr flache Geländemulde ift das Schlachtfeld vom 18. Juni. Rechts vor der engliigen Stellung lag das Schloß Hougomont, dit vor dem Zentrum das Vorwerk La Haye Sainte, während links vor ihm die weißleuchtenden Gehöfte La Haye und Bapelotte lagen. Der Meifter der Defenſivſchlacht hatte all diefe Punkte ſtark bejebt.

Napoleon hatte 72000 Mann gegen Wellingtons 68000, war aber an

Kavallerie und beſonders an Artillerie 240 Geſchütze gegen die 150

Wellingtons ſtark überlegen. Er plante durch mehrere furchtbare Frontal⸗ angriffe, ohne Rüdfiht auf die Zahl der Opfer, die engliſche Stellung zu durchbrechen. Aber an dem zähen, erbitterten Widerftande der Engländer und Deutſchen unter Wellingtons Taltblütiger Führung fcheiterte der Angriff Erlons ebenfo wie bie beiden gewaltigen Neiterattaden unter Ney und Kellermann. An die bintigen Opfer waren umjonftl Da endlich erſtürmt nad wütenbem

*

Belle Alliance 881 m ————————— ——— Kampfe die Diviſion Quiot im Zentrum das Vorwerk La Haye Sainte, die Franzoſen ſtoßen nach auf Mont St. Jean. Die Mitte der engliſchen Schlacht⸗ linie iſt durchbrochen. Nur notbürftig füllt Wellington die Lüde durch bie Brigade Kielmannsegge wieder aus. Aber inzwiſchen verliert Bernhard von Beimar La Haye und Papelotte an die Divifion Durutte.

Bis jebt hatte Napoleon die 24 Bataillone feiner Garde noch zurüd- gehalten. Warf er dieſe jeht gegen Mont St. Yean oder gegen ben fchwer erihätterten Tinten Flügel Wellington, dann war der Sieg fein. Es ift allbefannt, wie Wellington in diefem kritiſchen Augenblid zumute war. „Blücher oder die Nacht!“

Wenn Napoleon trotzdem bie Garde zurüdhielt, fo lag die Urſache aus⸗ ſchließlich in dem Anmarſch der Preußen, ber ihm durch einen aufgefangenen Brief ſchon feit ein Uhr befannt war und alle feine Maßnahmen beeinflußte.

Blüchers Heldengeift hatte troß des Sturzes am 16. alle Anfälle feines dreiundftebzigjährigen Körpers überwunden und Führer und Truppen durch Bei- ſpiel und Zufpruch mit ſich fortgeriffen, fo daß felbft der vom Regen aufgemweichte Lehmboden Brabants, in dem die Gefchühe immer aufs neue fteden blieben, nur ein vorübergehendes Hindernis war. Der Angriff der Preußen kam von Nordoften. Um ein Uhr hatte das Gros ihres Heeres das Defilee von St. Lambert glüdlih überwunden und ging nun in zwei Kolonnen dem Feinde in Slanfe und Rüden. Während Zieten auf Ohain marfchierte, um den rechten Flügel der Franzoſen in der Flanke zu faffen und ihnen dann Papelotte und La Haye zu entreißen, verfammelte Bülom gegen vier Uhr fein Korps im Walde von Frihemont zum Angriff auf Plancenoit, das hinter dem rechten franzöfifhen Flügel lag. „Einen befonders fchönen Anblid gewährte Die Angriffsfeite des preußifchen Heeres. Das Terrain war bier terrafjenförmig gebildet, jo daß mehrere Stufen Gefchüßfeuer übereinander entwickelt werden fonnten, zwiſchen denen die Truppen brigadenmweile in fchönfter Ordnurg in die Ebene bHinabftiegen, während ſich aus dem Hinten auf der Höhe Liegenden Walde immer neue Mafjen entfalteten“ *). Als dann die Breußen unaufhaltiam vordtangen und Napoleon nit nur in der rechten Flanke, fondern auch im Rüden fchwer bedroht war, da entichloß er ſich zu einem letzten verzweifelten Schlage: zehn feiner Gardebataillone jendet er unter Ney weſtlich der Brüffeler Straße gegen das englifche Zentrum, doc) der Angriff fcheitert unter furchtbaren Berluften; zwölf wirft er nad) PBlancenoit hinein gegen Bülow. Zmeimal ftürmen die Preußen bier vergeblih, unter unerhörten Opfern. Da fammelt Sneifenau felbft, der bei Plancenoit in heiterer Ruhe die Schlacht geleitet, bie Truppen nochmals und fchidt fie aufs neue vor. So wird gegen acht Uhr abends Plancenoit in wätendem Handgemenge von den Preußen erftürmt. Endlich weicht die Kaiſergarde in wilder Flucht! Zugleich wird weiter nördlich

*) Aus Gneifenaus Heeresbericht.

332 Belle Alliance

das Korps Lobaus von Zietens und Bülows Truppen in Front und Flanfe gepadt und zeriprengt.

Als Napoleon ſah, daß auf dem Iinfen und vollends auf dem rechten Flügel alles verloren war, gab er einen letzten Angriff mit der Divifion Quiot auf Mont St. Jean auf, Wellington aber benuste in kalter Ruhe biefen Augenblid und machte mit allen ihm irgendwie erreihbaren Teilen feines Heeres einen lebten Vorſtoß, damit es fo fchiene, als ob er hierdurch die Entſcheidung herbeigeführt hätte, wie er es denn au zum bellen Zorn Blüchers und Gneiſenaus in feinem alsbald in Brüffel verfaßten Bericht dargeftellt hat).

In wilder Flucht ftrömten jebt bie Heerestrümmer bes Imperators auf der Brüffeler Straße, die bereit$ von der preußiichen Artillerie beftrichen wurde, in wirrem Durcheinander zufammen, nur noch aufgelöfte Haufen, bie feine Disziplin, Tein Kommando mehr kannten. Gnetfenau, der fübli von Belle Alliance dem Zufammentreffen Blühers mit Wellingtons beigewohnt und mit Barbeleben einen Augenblid die reine Freude des Sieges geloitet hatte, raffte zufammen, was er an Stavallerie und Artillerie zur Hand fand, und übernahm ſelbſt die Verfolgung des geſchlagenen Feindes. In wilder Haft jagte er, ſchließlich nur no mit einem Zrupp Ulanen und fünfzig Füfllteren, hinter den angftgepeitfchten Maſſen einher, die noch mehr als fieben- mal gar unfanft aus ihren Biwals aufgefhredt wurden. Als die Verfolger ſchließlich erihöpft beit Frasnes Halt machten, da fäumte bereitS das Morgen⸗ rot den Horizont. Erft durch dieſe beifpiellofe Verfolgung ift die Auflöfung der napoleonifchen Armee derartig geiteigert worden, daß fi von ihr in Paris nur noch 10000 Verſprengte zufammenfanden.

Der Feldherr aber, durch defien heroiſchen Entſchluß erſt die Vereinigung von Blüchers und Wellingtons Armee zur Wirklichkeit geworden tft, der dur perlönliche Zeitung der Verfolgung den Sieg erft zu einem endgültigen gemacht hat Gneifenau empfand in feinem ewig jungen Herzen auch in diefen Stunden bie wilde Poeſie des Krieges. Sechs Tage darauf ſchrieb er an Frau von Clauſe⸗ wis und die Gräfin Dohna, Scharnhorfts edle Tochter: „Unfere Schlacht von Belle Alltance war ſchön wie feine, entjcheidend wie feine, der Feind vernichtet wie nie ein Feind.“ Und von ber Verfolgung unter feiner Führung: „Wir machten erft dann Halt, als der Tag angebroden war. &8 war die herrlichfte Nacht meines Lebens. Der Mond beleuchtete die fchöne Szene, das Wetter war mild." An den Staatskanzler Hardenberg hatte er fchon zwei Tage

*) In diefem Bericht, den er ſchon am 19. an den Staatsſekretär des Auswärtigen Amtes, Bathurft, richtete, Heißt ed: „Die Operation bes Generals von Bülow gegen bie Flanke des Feindes war höchſt emticheidend, und felbft wenn ich mich nicht in der Lage befunden bätte, den Angriff unternehmen zu können, der das endliche Reſultat herbeiführte, würde diefelbe den Feind zum Nüdguge genötigt haben ... .” Deſp. XII 478, zitiert von son Letiow⸗Vorbeck, Napoleons Untergang 1815 (Berlin 1904) I Seite 444.

Belle Alliance 833

vorher geichrieben: „Es gibt in der Gefchichte Feine entſcheidendere Schlacht als die von Belle Alliance, entſcheidend ebenfomohl durch die Wirlung auf dem Schlachtfelde jelbft als durch ihre moralifde Wirlung. Wäre fie verloren, was würde aus der Koalition mit al ihren Kongrekerinnerungen?“

% * %

Ein kurzes Wort möge in diefem Zufammenbange über den Namen der Schlacht erlaubt fein. Wellington, der ſich in feinem englifhen Hochmut als Sieger betrachtete, nannte fie befanntlid nad feinem lebten Nachtquartier Baterloo, einem Dorf, das mehr als drei Kilometer nördlich der Kampfitätte liegt, ein Verfahren, das feiner Widerlegung bedarf und hier nur deshalb gegeißelt wird, weil e8 auch bei uns noch vielfach üblich iſt, die Schlacht fo zu nennen. Wer das tut, fröhnt, ohne e8 zu wifjen, nur englifcher Anmaßung. Als ob er diefe vorausgefehen hätte, hatte Gneifenau im Hauptquartier Merbes le Chateau ſchon am 20. Juni 1815 in feinem Armeebericht gefchrieben: „Im Mittelpunft der franzöſiſchen Stellung, ganz auf der Höhe, liegt eine Meierei, la Belle Alliance genannt; wie ein Yanal ift fie ringsum fihtbar; dorthin war ber Marſch aller preußifhen Kolonnen gerichtet. Auf diefer Stelle befand fi Napoleon während der Schlacht; von bier aus gab er feine Befehle; von bier aus wollte er den Sieg erringen, und bier entſchied fi} feine Niederlage; hier endlih trafen in der Dunkelheit dur die anmutige Gunft des Zufalls der Feldmarſchall und Lord Wellington zufammen und begrüßten ſich gegenfeitig als Sieger.“

Dann aber fährt er fort: „Zum Andenken des zwiſchen ber britiichen und preußiſchen Nation jebt beftehenden, von der Natur fon gebotenen Bünd- nifjes, der Bereinigung der beiden Armeen und der wechlelfeitigen Zutraulichkeit der beiden Feldherren, befahl der Feldmarſchall, daß die Schladt von Belle Alltance genannt werden follte.”

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So hohe Gefinnung diefe Worte des wunderbaren Mannes bezeugen fie waren ſchon in wenigen Wochen blutige Ironie! Schon am 2. Auguft ſchrieb derjelbe Gneifenau aus Paris an die Gräftn Voß: „Unfer Feldzug tft der angenehmite, der vielleicht je gemacht worden iſt. Schwierige Lage ohne unfere Schuld, Rettung daraus durch Kühnbeit, ein glänzender Erfolg, ein Ver⸗ folgen einer Treibjagb ähnlich, ein abfcheuliches Syſtem durch einen Schlag zermalmt, ein verwegener Tyrann geftürzt, die feindliche Hauptitabt zu unferen Füßen.” Dann aber fährt er fort: „Diefer Töftlihe Trank hat aber einen bitteren Nachgeſchmack. Wir müflen deſſen Hefe ebenfalls trinfen. . . .“

England, zumal Wellington, tft e8 vor allem, der diefem köſtlichen Tranf den hitteren Nacgefhmad gab. Daß er fi der Sprengung ber „“ena- Brüde“ wie der Erſchießung Napoleons wiberfeßte, die Blücher und Gneiſenau

334 Belle Alliance

tategorifch forderten, tft noch verhältntsmäßig harmlos, obgleich es nur in ber Drdnung geweſen wäre, wenn hier „bie ewige Gerechtigkeit” *) Durch bie preußiſchen Feldherren vollzogen worden wäre.

Bon unabfehbarer Tragweite aber wurde ein pofitiver Schritt Wellingtons: in geheimem Ginverftändnis mit feiner Regierung führte er hinter dem Rüden der preußiichen Feldheren zwei Tage vor dem Einzug der verbündeten Monarchen am 8. Yuli Ludwig den Achtzehnten nad Paris zurück. Hierdurch ftellte er diefe vor eine vollendete Tatſache, die fie keineswegs beabfichtigt hatten, aber nad) allem Borbergegangenem nicht mehr rüdgängig machen konnten. Diele Tatſache aber, die Wellington felbft für am geeignetften erflärte „Europa in den Zuftand eines dauernden Friedens überzuführen”, war die von Wellington wie von feiner Regierung vorausgejehene, das beißt gemwollte Urfadde davon, daß Frankreich Teinerlei demütigende Frievensbebingungen, das heißt Teinerlei LZandabtretungen auferlegt wurden. Ja, damals bildete fih ſchon im Keim die heutige Koalition gegen uns: Englands Ränken gelang es, im Einver⸗ ftändnis mit Rußland, Frankreich möglichft ftark, Preußen aber möglichſt ſchwach zu erhalten”*).

England belämpft ja immer 1815 wie 1915 die ſtärkſte Feſtlands⸗ macht. Wenn diefe aber, wie Napoleon bei Belle Alliance, entſcheidend beflegt ift, dann widerſetzt es fi) ebenfo bartnädig wie heuchlerifh einer zu ftarfen Schwächung des bis dahin gefürchteten Gegners. Warum? Um „das europäifhe Gleichgewicht“ zu erhalten eine von England ausſchließlich in feinem Intereſſe erfundene Doltrin: die Feſtlandsmächte follen fi) gegenfeitig im Schad halten, damit England „die Freiheit der Meere” aufrecht erhalten, das heißt die Meere beberrichen kann ....

Wie Gneifenau, der nicht nur militäriſch. fondern auch politifch einer der am tiefften blidenden ‘Männer der Zeit tft, damals über Wellington und England urteilte, das zeigen noch heute feine vertrauten Briefe. So ſchrieb er am 17. Auguft 1815 aus Paris an Arndt: „Am fchlechteiten benimmt fid Wellington, er, der ohne ung zertrümmert worden wäre, der uns die Zufage, zu unferer Hilfe am 16. (Juni) in Bereitfchaft zu fein, nicht gehalten hat, dem wir, uneingedenk des durch feine Schuld erlittenen Unglüds, am 18. ritterlid zu Hilfe gelommen find... .” Und von Albion felbft jagt er in dem gleichen Briefe: „England ift in unbegreiflich fchlechten Gefinnungen und mit feinem Willen ſoll Franfreidh fein Leid gefchehen..... Wenn aber England auf der Integrität franzöfifcehen Gebiet befteht, jo Tann man in einer foldhen Ber-

*) Ausdrud Gneiſenaus betreffd Erihiegung Rapoleon?.

*) Schon im Herbft 1815 erwog daher Gneifenau allen Ernftes, ob Rußland fi mit Sranfreih gegen Preußen verbünden würde, falld Preußen allein aufd neue Frankreich be Triegte, um feine Forderungen durchzuſezen. (Oneifenau an Hardenberg 5. September 1815.)

Daß Preußen feine Forderungen 1815 nicht durchfegte, hat feine Urſache freilih auch mit in dem völligen Verfagen Dfterreich® gegenüber Preußen? Wünfchen. (Metternich.)

Selle Alliance 885

tehriheit nichts als das Beſtreben erbliden, den Krieg auf bem Kontinent zu nähren und Deutichland von fi abhängig zu machen.”

So zeigte fi) England ſchon damals in aller Heimlichleit als ber Tobfeind des werdenden neuen Deutſchland. England vor allem verbinberte «3, daß erfült wurde, was Preußen zu einer dauernden Sicherung forderte. Niemand bat diefe Forderungen ſchärfer und treffender formuliert als Arndt und Gneifenau. Schon im Yuli 1815 forderte Gneiſenau „einen ſolchen Zuftand der Dinge, daß wir nicht ftets befürchten müffen, von einem unrubigen Nachbarvolk mit Krieg überzogen zu werben. Jeder andere Friede als ein folder ift Verrat an ſich felbft und Selbftmord.” Ya, ſchon vier Tage nad Belle Alliance fchrieb er an den Staatslanzler: „Die Feftungen der Mofel*) und des Rheins müflen von Frankreich abgeriffen werden, nebft Lothringen, und alles Land, defien Flüffe fi in die Maas ergießen.“ Blücher, der König, Stein, Hardenberg, Humboldt ftanden auf feiner Seite. Arndt aber fchrieb acht Tage nad) Belle Alltance: „Das Elſaß und Lothringen und Meb und Lille, Balenciennes und Dunkerken.... ein Dutzend franzöfifcher Feftungen gefprengt .... das fordert jeder ehrliche und geficheite deutfhe Mann und das Tann er fordern.” Auch „die ſchönen burgundifhen Lande und das Bistum und Fürftentum Lüttich) nebft mehreren Neichsabteien“ betrachtete er als verlorenes deutfches Erbgut. |

Die Forderungen Arndts und Gneifenaus find noch heute nach hundert Jahren! nicht erfüllt.

Einer der erften Kenner jener Zeit fagt im Hinblick auf den zweiten Pariſer Sieden: „Der Sieg von Belle Alliance, die Berfolgung, der Sturmmarſch auf Paris, der Übergang über die Seine, die Bezwingung der Stadt, alles war vergeblich gewefen”*).”

Und 1915?

*) Alfo Epinal, Toul, Nancy, Mek. ”*) Delbrüd, Leben des Feldmarſchalls Neidbard don Gneiſenau. II., 8, 279.

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Die Hrifis des deutfchbaltifchen Menſchen

Don Dr. Maz Hildebert Bochm

J ationaler Zufammenhalt, kaum mehr gefühlte Bande des Bluts Se und des Zulturellen Willens find uns in dieſen Tagen wieder 3 E% merflih geworden. So begibt fi das Paradoxe, daß heute A 9 ganz unabhängig von politifden Ambitionen irgendwelder Art das deutſche Voll das Schidfal eines Stammes als eigenes zu —— lernt, deſſen wehrfähige Mannſchaft gegen uns im Felde ſteht. Als der nationale Begriff Deutſchland ſich vor fünfundvierzig Jahren zu einem politiſchen verbichtete, da waren die Deutſchbalten in Livland, Eſtland und Kurland fozufagen auf ein totes Gleis gefchoben. Der von politiiden und wirtſchaftlichen Zielen vorwiegend in Anſpruch genommene deutſche Geift ging Wege, die die zu Ausländern in ſchärferem Sinn Gewordenen nicht mitgehen fonnten. Hätte nicht ein Vorgang eingefebt, der doch ſchon Verfall bedeutete: die Rüdwanderung einer großen Zahl geiftig bewegter Menſchen nach Deutfchland nämlich, man hätte vielleicht die Yalten nahezu vergefien. Da machte wieder bie lettifch - eſtniſche Revolution von 1905/06 das Schidfal des verfprengten Stämmchens zu einer rafch verfladerten Senfation. ine materielle Hilfsaftion wurde eingeleitet, Vertriebene fanden gaftlide Aufnahme, im übrigen war bie Fremdheit des neuen Deutichland gegenüber den baltifden Rudimenten eines bier längjt verllungenen Feudalismus viel zu groß, als daß fein Anteil ſich jehr weit über eine etwas fentimental- wohlmollende Sntereffiertheit hätte erheben Tönnen. Nun bat die große Geſchichte, Die heute gewaltig am Werke ist, in ihrer Selbftherrlichleit ein helles Streiflicht auf die baltiſchen Geſchicke geworfen. Es wird nit dur Die mikrologiſchen Intereſſen des baltifchen Deutſchtums entſchieden werden, wem nad) dem Sriege der viel umftrittene Küſtenſtrich längs der Dftfee gehören wird. Aber ein Hecht nicht nur, ſondern die Pflicht fogar bat trotzdem das deutſche Voll, ih um das Verftänbnis ber fulturellen Lage dieſes Tochterſtammes zu bewerben. ine beftimmte Abart deutſcher Geiftigleit und die Welt, die um fie war, beide in ihrem Ineinander und Durcheinander, will ich bier darum verſuchen, dem fchauenden Blick zu

Die Krifis des dentfchbaltifchen Menſchen 887

eröffnen. Um Wertbetonungen handelt e8 fi) vorerft nit. Trüge uns nicht die Liebe zu diefem Gondergearteten wie wollten wir feiner anfihtig werden? Der Wille, die Iandläufigen modernen Maßftäbe vorerft beiſeite zu laſſen, muß auch vom Aufnehmenden gefordert werben.

I. Die formenden Kräfte

Der ritterlide Abenteuerfinn, der kaufmänniſche Wagemut, ‚der dem koloniſatoriſchen Drang der erften Anfiedler feinen ſtürmiſchen Anlauf und zugleich feine zähe Ausdauer gab, war in den frommen Eifer eingebettet, der Jung- frau Maria, des Meeres Stern, das gottlofe „undentiche” Heidenland dienftbar zu machen. Die Eroberung vollzog fi als Kreuzzug, der Weg nad) dem wilden Land ging über See. So beftimmte fi die Auswahl berer, die dazu auserfehen waren, der jungen Siedlung erftmals ihr Gepräge aufzubrüden: Klerus, ftädtifches Bürgertum, das ſich fofort in Riga den bis heute feſteſten Sit ſchuf, möndjifcheritterlicher, aber auch freier weltlicher Adel. Er febte fich in Burgen ringsum im Lande feft, an die ſich ſtädtiſche Ortſchaften von nicht fehr entmwideltem Selbftändigleitsfinn anfchmiegten. Der Bauer, der den be- weglichen Planken mißtraut, blieb aus. Aber auch innerhalb der beteiligten Stände führte das pridelnd gefabrvolle, zugleich jedoch von fittlich » religiöjem Ernſt geleitete Unternehmen, das keineswegs über das phantaftifche Lockmittel der beraufchenden Kulturen des Morgenlandes verfügte, zu einer Ausleje ganz beitimmter Art. Der religiöfe Antrieb Tonnte bier nicht ſchwärmeriſch zerflattern. Er war gebunden an nüchtern⸗praktiſche Zielfegungen agrariich-merlantiler Ent- widlung. Die baltifchen Städte, zugleich Sitze der einen geiftlihen Gewalt, der bifchöflichen, gehörten zu den früheſten Mitgliedern der Hanſe. Das Verhältnis der unterworfenen Schicht zu ihren ritterlichen Herren geitaltete ſich als agrarifche Dienitbarkeit, die an Härte immer mehr zunahm. In dieſer feinee Bindung an durdaus weltlih bauende Zwede mußte ſich aber die Chriftlichleit als Lebensmittelpuntt gerade Hier am feiteften behaupten. Schließlich kommt dies ihr Ernitgenommenwerden auch in der Widerftritiigleit zum Ausdrud, die bier ihre Form als Lebenselement beftimmte. Bon vorn- berein ſpannte fi) ein Dualismus zwiſchen der bifchöflichen und der Ordens⸗ gewalt. Diefer Zwieipalt mag fich noch verfehärft haben, indem er mit dem Gegenſatz von Landadel und Bürgertum übereintraf. Beiden aber fam ber Sturz von Händen des Proteftantismus, der paradoxerweiſe in diefem feudalen Lande mit am frübeften Eingang fand (1522). Bon den Städten aus eroberte er ſich fchnell das ganze Land. Deſſen Berfaffung entzog er das Fundament, bie unendlichen ſich daraus ergebenden Wirren kamen auswärtigen Staaten zugute, die Selbftändigleit des Landes hatte ein Ende. Der Dualismus der geiftlihen Gewalten war befeitigt, Bistum und Orden verfanfen, die weltliche Bajallenfchaft des Ordens rüdte auf und kam entfpredend dem aderbaulichen Charakter des Landes zu immer größerer Geltung. Das Landvolk war längft

Grenzboten II 1915 22

338 Die Krifis des deutfhbaltifhden Menſchen chriſtianiſiert. So Lönnte es fheinen, als wäre der einitmals durch ZWiderftände rege gehaltene religiöfe Eifer jeht zur Ermattung verurteilt. Die Geichichte forgte für nene Wetzſteine. Der entichlofiene Proteftantigmus vereinigte jet das ganze Land, feine Einheitlichleit überwölbte auch den nationalen Gegenſatz. Um fo mehr konnte er zum feften Anker der baltifhen Sonderart in ben folgenden Streitigleiten werben, in denen das Tatholifche Polen, das proteftantifche Schweden, das grichifhe Rußland fih um den Erwerb des Landes bemühten. An erfter Stelle fteht im Privilegium Sigismundi Augufti (1561), das Polen dem Land erteilte, die Gewähr der Unantaftbarkeit bee Augsburgifchen Ronfeffion. Und als Livland ſich Peter dem Großen unterwarf (1710), wurde die Aufrechterhaltung des. evangelifhen Glauben? ausdrüdlih den eroberten Provinzen für alle Zeiten zugeftanden, freiliy mit der Erweiterung, daß auch ber griechiſchen Kirche freie Neligionsübung im Lande verftattet fein ſolle. So beſcheiden hielt die Orthodoxie ihren Einzug. Erſt feit 1830 etwa begann fie eine rührige Werbetätigkeit in dem bisher fraglos proteſtantiſchen Territorium zu entfalten. Und zwar trat fie als unverhohlene Helferin der Ruſſifizierung anf. Denn fie begann jenes raffinierte Spiel kulturpolitiſcher Winlelzüge, dur) bie die Regierung die religiös - Tulturelle Einheit des Landes zu untergraben fuchte, um daraus für feine Verruffung zu vortellen. Die famofen Praltiken ihrer Sendboten Tönnen bier nur angedeutet werden. Durch trügerifche Land- angebote in Mißwachsjahren wurde die lettiſch⸗eſtniſche Unterſchicht zum Konfeffionsmwechfel verlodt. Der NRüdweg wurde den Enttäufchten und deren Nachkommen durch ein Geſetz verbaut, das den Austritt aus der Staatskirche unterbindet. Über 200 Kriminalprozeſſe gegen lutheriſche Geiſtliche, welche Kinder der etwa 35 000 „Belehrten“ evangelifch tauften, unendliche Gewifjens- nöte waren die Folgen dieſer verwerflicden Maßregeln, zumal unter dem Deutſchenhaſſer Alerander dem Dritten alte Konfeffionsliften wieder ausgegraben und in Kraft gefebt wurden, nachdem der liberalere Alexander der Zweite ſchon einmal die Zwangsgeſetze aufgehoben hatte. Erft das Dltobermanifeft von 1905 bradte einige freiheitliche Erleichterungen in das herrſchende Syſtem defpotifcher religiöſer Jutoleranz.

So wuchſeñn durch alle baltiſche Geſchichte aneinander Drud und Widerdrud. Es möchte eine reizuolle Aufgabe fein, aus der troßigen Lebensform des tatholiſchen Livland den heimlichen Proteftantismus herauszuſchälen. In ihm kam die Seele des Landes zu ſich felbit. SKolonifatorenleben fteht unter dem Zeichen des Kampfes, der unerjchrodenen perjönlihen Behauptung gegenüber übermädhtig andringenden Gewalten. Wo empfänden wir diefen Geift Eräftiger, als in den Trutzliedern der deutfchen und ntederländifhen Proteitanten, in der Sprachſeele, aus ber Luthers Bibelwort geboren tft, in der ftrengen Tonfügung des norddeutfhen Kantors Johann Sebaftian Bach? An diefem Proteftanten- geift auch findet das Haus und fein harmoniſch gegliederte Dafein erftmals das Ya der Religion. Das Baltilum Tennt kaum dörfliche Niederlaffungen.

Die Krifis des deutfchbaltifhen Menſchen 889

Die ſoziologiſche Strultur des äußeren Lebens Tennzeichnet fi durch die Form der Stadt oder aber des Hofes als Gutshof, Paſtorat und bäuerliches „Gefinde“. Diefer patriarhhalifhen Bindung des Lebens gibt der Proteftantismus mit feiner Helligung der Familie die religiöfe Weide. So ift nicht ſowohl der Paftor als Berfon, wie das Baftorat, jener Schnittpunkt religiöfer, ſozialer, kultureller Strebungen, als der tragende Pfeiler baltifher Sonderari zu begreifen. Im Paſtor wurde urfprünglich der „Kirchenherr“ (bafnizas Tungs im Lettiſchen) durch die Sprache des Volles anerfannt. Er unterftand zwar dem Patronat der Gutsherren, die ihn einfesten, und mit denen ihn ein mwohlmwollendes, auf gegenfeitige Achtung gegründetes, diftanziertes Verhältnis verband*). Dem Volk gegenüber aber gehörte der Geiftliche zum deutſchen Herrenftand, dem es auch Naturalienzing und Frone (unentgeltlide Arbeit) fchuldete. Anderfeits war gerade das PBaftorentum durchaus geneigt, auf die Sonderart des Volles feelforgerifch einzugehen. Es predigte ihm lettiſch oder eſtniſch das Gotteswort, überfegte ihm frühzeitig (Ende des fiebzehnten Jahrhunderts) die Bibel in feine Sprache, nachdem ſchon hundert Jahre vorher Luthers Katechismus mit einer Anzahl von Kirchenliedern ufw. in Iettifher Übertragung eriftiert hatte. Es war bier alfo keineswegs wie bei der griechifch -orthbodoren Miffionierung auf eine verftohlene Germanifierung dur die Konfeifion abgezielt. Wohl aber wurden dem Landvolf gerade dur die Vermittlung des deutſchen Paſtorats unter Belaffung feiner angeftammten Nationalität alle Segnungen der deutſch⸗ proteftantifhen Kultur und Zivilifatton zugänglid. Deren höhere Weiben waren dann freilich mit einer Aufgabe der einheimifchen Nationalität verknüpft. Dur die alademifche Bildung find eine ganze Reihe urfprünglich lettiſcher und eſtniſcher Familien allmählich zwanglos zu deutſchen geworben.

Nur kurz ſei der dogmatiſche Charakter dieſes baltiſchen Proteſtantismus hier geſtreift. Man könnte es noch als einen letzten Ausklang des katholiſchen Ordensgeiſtes deuten, daß das autoritäre Altlutheranertum bis in unſere Tage hinein hier ſeine unentwegteſten Vertreter gefunden hat. Die Univerſität Dorpat war der Hort einer herben und ſtrengen Orthodoxie, die Bibelgläubigkeit zeigte eine Härte, der gegenüber die heutige äußerſte Rechte bei uns weich zu nennen wäre. Das macht: das Tirchliche Leben des Landes war viel zu eng mit der dur) die modernen Ideen im Kern bedrohten ariitofratifchen Struktur einer Heinen fozialen Dberfchicht verknüpft, als daß es den gemeinfchaftzerfegenden Tendenzen des abftraften Individualismus in dem Maße hätte ftattgeben können, wie e8 etwa im deutfchen Süden der kirchliche Liberalismus getan hat. Ein revolutionierende8 Bürgertum bat es im Baltilum nicht gegeben. Das

”), Für dad Kurland des achtzehnten Jahrhunderts gibt ein anfchaulide® Gemälde diefer Berbältniffe der von Alerander von Dettingen 1878 neubearbeitet herausgegebene Roman von Theodor von Hippel: Lebensläufe in auffteigender Linie. Ein reiches Paftoren- leben aus dem vorigen Jahrhundert zieht in der GSelbftbiographie von Dr. Aug. Bielenftein: Ein glüdliches Leben (Riga 1904) an und borüber.

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849 Die Krifts des deutfchbaltifhen Menſchen

nationaliſtiſch⸗ ſozialiſtiſche Jungletten- und Jungeftentum griff in feinem Proteft fofort nach dem Extrem bes mehr ober minder unverhüllten Atheismus Weſt⸗ enropas und fonnte fo nicht zu einer Milderung, fondern viel eher zur Ber härtung des deutfch-proteftantifchen Konſervativismus beitragen.

Bei allen ftantsrechtlihen Regelungen, allen Unterwerfungsatten, die das baltifde Deutſchtum im Lauf feiner wechſelvollen Geſchichte vollziehen mußte, war zweierlei in allererftem Betracht ausbedungen: Aufrechterhaltung des Iutberifden Glaubens und der deutſchen Sprade. Dieſe wurde recht eigentlid als Symbol, zugleih als Stüge und als Gewähr der angeftammten beutjchen Aultur in tieffter Seele empfunden. Sie war das nationale Helligtum, für defien Schuß fein materielle Opfer dem herrſchenden Stande zu hoch erſchien. Und wie der Glaube im evangelifhen Paftorat, fo fand bie Kultur in der deutſchen Schule fozufagen ihre foziale Berlörperung. Hier aljo werden wir in zweiter Linie den formenden Kräften des baltiſchen Geiſtes nachzufpüren haben. Die Entwidlung des baltiihen Schulwefens Tann bier ganz kurz zufammen- gefaßt werden. Bis auf die Anfänge der deutſchen Siedlungen geben bie Lateinſchulen zurüd. Als folde wurde aud die noch jeht als Gymnaflum beftebende Domfchule in Reval begründet. Den eigentliden Aufſchwung ver- dankt das Schulwefen der Reformation. So wurde 1528 unter dem direften Einfluß Luthers die Rigaſche Domfchule eingerichtet. Alademifhe Gymnaſien (in Livland und Eftland. feit 1680, in Kurland erft feit 1775) nahmen eine Art Mittelftelung zwiſchen Schule und Univerfität ein. 1632 wurde bie ſchwediſche Univerfität Dorpat (nachmals Bernau) zum erftenmal begründet, fam aber nicht zu rechter Blüte und ging im Nordifhen Krieg zugrunde. Ihre ſchon von Peter dem Großen verfprochene Erneuerung kam erft 1802 zuftande, und zwar aus ritterfhaftliden Mitteln. Seit Ende des fechzehnten Jahr⸗ hunderts wurden Stadtichulen errichtet, die eine mittlere Bildung boten. Real anftalten famen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts auf, 1862 wurde auch die Techniſche Hochſchule (Polytechnikum) in Niga ins Leben gerufen. Das Mädchenſchulweſen entwidelte ſich verhältnismäßig fpät. Bemerkenswert ift, daß die Stadt Riga ſchon 1681 einen Verſuch machte, etwas wie allgemeine Schul- pflicht einzuführen. Das Volksſchulweſen erzielte unter kirchlicher Verwaltung hervorragende Erfolge. Es baute auf der Mutterfprahe des Volles auf. Es verlam jedod völlig mit dem Moment, wo ruffifche Fäufte e8 zu „reorganifieren” begannen. Bon 1881 bis 1899 ftieg die Zahl der Analphabeten von zwei Prozent auf zwanzig Prozent der jyulpflichtigen Kinder. Wenn man allerdings bedentt, daß es im übrigen Rußland fait achtzig Prozent Analphabeten gibt, dann wird erfihtlih, daß dem moskowitiſchen Bildungseifer noch große Peripektiven im baltifden Lande offen ftehen.

Der Folgefhluß aus diefem zufammengedrängten Tatfachenmaterial aus der Geſchichte des baltiſchen Bildungswefens führt nicht fomohl auf eine auß-

Die Krifls des deutfchbaltifchen Menfchen 941

geiprodene Sonderart, al8 vielmehr auf fein völliges Parallelgehen mit der Entwidlung des gefamten deutſchen Schulmefens. So teilt das baltiſche Deutfch- tum mit unferer ganzen Nation den breiten Einftrom humaniftiſch antilen Getites, während die ruffifche Intelligenz von deſſen Berührung faft völlig frei geblieben iſt). Aud die pädagogifhen Strebungen ber Aufflärung und des deutſchen Idealismus wurden in den baltifchen Internatsgründungen ber erften Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wirkſam. Seither forgte die Einwanderung zahlreicher, zumal auch ſüddeutſcher Pädagogen für den geiftigen Kontakt mit dem Mutterlande. Umgelehrt waren deutſche Univerfitäten, zumal Königsberg, aber auch Leipzig, Jena und Göttingen zum Beifpiel, in Zeiten, wo e8 eine livländifche Landesuniverfität nicht gab, aber auch fpäterhin von der baltifhen Jugend eifrig beſchickt“). Als der Beſuch ausländifcher Univerfitäten 1798 verboten wurde, brad) diefer Zuzug ab, aber die bald darauf neugegrünbete Univerfität Dorpat bot namentlid in ihrer Glanzperiode unter ber Regierung Aleranders de8 Zweiten nambaften deutſchen Gelehrten Gelegenheit, deutiche Wiſſenſchaft an jenen äußerften öſtlichen Worpoften des deutſchen Geiſtes hinauszutragen. In feltfamer Laune hat die Geſchichte übrigens damals ein in die Wege geleitetes Erperiment liegen gelafien. Friedrich Nietzſche erhielt als Bafler Philologe einen Ruf nad Dorpat. Er lehnte ab. Man möchte wohl verfucht fein der Frage nachzuſinnen, welchen Einfluß der Übergang aus dem bürgerlich⸗ dumpfen Bafel in die Stadt der ungebärdigen ftudierenden Junker auf den profefiorenhaft-theoretifchen Verehrer der blonden jchweifenden Beitie ausgeübt hätte. Manche Verzerrung hätte feine Lehre vielleicht vermieden, wenn fie bort niht im felben Maße in proteftlerifher Überfteigerung ſich hätte zu formen brauchen.

Es tft nicht nötig bier zu wiederholen, welch beträchtliden Beitrag die Univerfität Dorpat dem reichsdeutſchen Profeflorentum geleiftet bat. Allein etwa fiebzig baltifche Profefioren lehren gegenwärtig an deutſchſprachigen Univer- ftäten***). Es brauchen nur repräfentative Namen wie Johann Eduard Erdmann, Biltor Hehn, Auguſt Bielenftein, Adolf von Harnad, Reinhold Seeberg, Georg Dehio genannt zu werden, um die Aufmerkfamleit auf die Tatſache zu lenken, dab die hiſtoriſch⸗kulturwiſſenſchaftliche Denkrichtung bie recht eigentlich hervor-

*) Man fehe zum Beifpiel, welche verſchwindende Rolle die Antike im Geſichtskreis hervor⸗ tagender Geifter wie Doſtojewſti jpielt; vergleihe meine Studie: Die Geſchichtsphiloſophie Doftojewflis und der gegenwärtige Krieg. Preußiſche Jahrbücher 1915, befonderd Seite 198.

“*) Vergleiche den Anhang zu Julius Edardt, Livland im achtzehnten Jahrhundert (l, Leipzig 1876), wo für einige Univerfitäten fämtlihe baltiihe Immatrikulierte nambaft gemacht werben. Die meiften Familien find noch heute im Lande wohlbelannt. Bon nad mals auch in Deuiſchland bekannt geivordenen Ramen feien beraußgegriffen: Holm, von Dettingen, Buchholg, Goette, von Böllerfahm, Holft, Lenz, von Taube, Bergmann, von Heyſer⸗ ling, von Grotthuß, Zoege von Manteufel, von Baer, von Bietinghoff- Scheel.

), Ich entnehme die Zahl dem Auffag don Piet von Reyher: Bon baltiſcher Deutſch⸗ treue. Hochland 1916.

349 Die Krifis des deutfchbaltifchen Menſchen

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gelehrte Seite baltiſcher Forſchung iſt). Dies führt unſere Betrachtung auf das geiftige Leben des Landes zurück. Es iſt ganz erſtaunlich, welche Fülle lotalhiſtoriſcher Einzelarbeit in den zahlreichen gelehrten Geſellſchaften des Baltikums in der außerakademiſchen Studierſtube des Paſtorats, des Lehrer⸗ und Juriſtenſtandes, aber auch bes befiglichen Adels geleiſtet worden iſt. Auch das Intereſſe für Familienforfhung ift ſtark entwickelt. Es tft dies alles der natürliche Ausflug der nationalen Beharrlichkeit, die der vorgeſchobene Wacht⸗ poften deutfcher Art forderte und ftets wach erhielt. Es tit zugleich ein Zeichen, wie wenig bier die Bildung freifhwebender Selbſtzweck virtuofer Gelehrjamleit, wie tief fie in das Gemeinfchaftsleben eingeſenkt war, feineswegs ſich dabei an platt-nubhafte Zweckſetzungen proftituierend. Zugleich gab diefe Bildungs- form, ohne unweiblier Emanzipation Vorſchub zu leiften, im allgemeinen der Frau einen ungewöhnli großen Anteil an den Dingen des Geiftes. Diele durchgreifende Bildung war der ideale Kitt, der das ſtändiſch auseinanderftrebende Deutihtum im gemeinfamen Kulturwillen band, fie war Ausdrud einer ſcheuen Liebe zum einheimifhen Vollstum der Unterfchicht, in deren fremde Art fi bejonders ber Geiftlihe bineinzufinden hatte, fie war der Stolz des Landes und feine zäh behauptete Hoffnung. Mir äußerte ein beuticher Philofoph, wir Balten hätten alle etwas vom Dilettanten. Es war nicht als Vorwurf gemeint und es ift auch Fein Vorwurf. Es ift die Anerkennung der Tatſache, daß die baltiide Bildung fih das erhalten hat, was dem modern-arbeitsteiligen fpezialifierten Wiffen zu entſchwinden droht: die Harmonie mit der Sphäre des Vitalen, die Weite des Blickes und die Diftanz vom einzelnen, die edle Muße⸗ baftigfeit und Unberuflichleit des Geiftigen und jene abfolute Ferne von aller tapitaliftiihen „Nechenhaftigkeit“.

Welchen Zweig baltifchen Kulturlebens man in feiner Entwidlung verfolgen mag: immer zeigt die Kurve diefelbe Form. Mit hoffnungsvollem Aufftieg jegt fie ein. Es folgt ein Schwanfen, fie beginnt ſich zu wellen, und fie fenlt ſich in entfeglichen Kriegszeiten bis zum Nordiſchen Krieg hin in troftlofe Tiefen hinab, um wie durch ein Wunder doch immer noch die Wendung nad) oben zu nehmen. Darauf nach ihrem tiefiten Sturz ein erft zaghaftes, bald jedoch frohgemuteres Auffteigen bis zum neuen Höhepunkt unter der Regierung Aleranders des Zweiten. Dann aber ein jäher Bruch um die Mitte der achtziger Yahre des vorigen Yahrhunderts: der berüchtigte Nuffifizierungsulas des panflawiltifden Alerander des Dritten. Crft heute bat die Gefchichte die welthiftoriihe Probe auf das Erempel der wachſenden Scheelfucht des Zarismus gegenüber dem aufblühenden Deutjchen Reich geliefert. Das baltiſche Land, dies Fauftpfand des deutichen Geiſtes im moslomitifhen Machtbereich, hat dieſe Wut ſchon über fünfundzwanzig Jahre lang auszubaden gehabt. Die

*) Daß dab baltiſche Land in Karl Ernft von Baer, Ernft von Bergmann, von Bunge und Oftwald aud) in der Raturforfchung Wejentliches geleiftet Hat, ift dabei nicht überfehen.

Schwediſche Politik im Lichte der einheimifchen Kritif 343

Fauſt ballt fi ung, wenn wir im einzelnen zuſehen, wie Zweiglein für Zweiglein dieſes über den Grenzgraben hinüberreichenden Aftes der deutſchen Kultur, der dem ruſſiſchen Reich bundertfältige Frucht getragen hat, von nichtsiwürdigen, dumm-brutalen Fäuſten gefnidt, wie in frivoler Weiſe der Geiſt der Zwietracht im boppelipradhigen Land gefät, forgfam gebegte Pläne durchkreuzt, Loyalität und Treue mit Undank vergolten wurde. Am bärteften traf die Auffifizierung vielleiht das blühende Schulweſen des baltiſchen Landes. Im Umkreis der Vollsſchule führte fie zur abfoluten Demoralifation bei Lehrern und Schülern, in den höheren Schulen zu einer unendlichen Erſchwerung, aber auch Ber- ſchlechterung der Bildung. Die einftmals ftolze Univerfität Dorpat wurde zum fümmerlihen Daſein etner fchlechtbotierten Provinzialhochichule herabgedrückt. Bon den Reformen nad) der Revolution haben nur die höheren und mittleren Schulen gefruchtet. Die rührige Tätigkeit der neugegründeten „Deutichen Bereine” hatte mit erftaunlidem Drganifationsgefhid in Türzefter Zeit ein neues wenigftens halbdeutſches Schulfyſtem gefchaffen. Run liegt auch dies alles wieder in Trümmern. (Schluß folgt)

Schwedifche Politik im Fichte der einheimifchen Kritif Man ſchreibt uns aus Stodholm:

7 m lebten Heft der Zeitichrift „Det Nya Sverige“ macht ber Herausgeber Dr. Adrian Molin in einem Leitartifel mit dem a Titel „Das Fazit der Nentralitätspolitit* dem ſchwediſchen

9 FA Dinifter des Außeren heftige Borwürfe wegen feiner Handhabung

—E Yer Neutralität. Diefe Zeitichrift ift ein Organ der Eonfervativen Partei und der Herausgeber fehr ſtark bdeutfchfreundlih. Nachdem er aus führlich nachweift, welche Vorteile Schweden von einer ſtarken deutſchen Ditfee- flotte hätte, wirft ex der Leitung des auswärtigen Amtes vor, die Wünfche Deutihlands nicht genügend berüdfichtigt zu haben. Dadurch fei in Deutich land eine Mikftimmung gegen Schweden entftanden, die nur ſchaden Tönne. Die Gründe diefer Mibftimmung formuliert er in drei

1. Der Mißgriff der auswärtigen Leitung, der barin bie Demobili- ſierung Schwedens von der Zurückziehung der ruſſiſchen Truppen aus Nord- finnland abhängig zu machen.

2. Der feit dem Herbft gebuldete Transport von Kriegsmaterial über Schweden von und nad Rußland.

8. Die äffentlihe Diskufflon, wie Schweden fih unter Berbrängung Deutſchlands den ruffifden Markt erobern könne.

344 Schwedifche Politif im Lichte der einheimifchen Kritik

Bon diefen Fragen fei die erfte von größter Bedeutung. Rußland habe ja nichts mehr gewünſcht, als der ſchwediſchen Neutralität filher zu fein, um feine Truppen aus Finnland zurüdziehen zu können. Schweden aber hatte bavon gar feinen Vorteil, weil ja biefe Truppen zu jeder Zeit zurückgeſandt werden Tonnten. Für Deutſchland bedeutete dieſe Maßnahme der ſchwediſchen Regierung 200000 Feinde mehr an der Dftfront.

Über den Transport von Kriegsmaterial nah Rußland erfährt man aus dem Artikel, daß dieſer bis zum Aufrieren der Dftfee von ben ſchwediſchen Häfen am Bottnifhen Meerbufen nad Kemi, Gamla Karleby, Vaſa, Mäntyluoto und Raumo, und nachher über Sundsmall, Gefle und Stodholm nad den zwei lettgenannten finniſchen Städten ging. Die Empfänger waren ruffiiche Waffenfabriken in St. Petersburg, Tula, Perm ufv. vor allem aber bie Franco - Ruffo - Gefelfhaft in St. Petersburg. Die transportierten Waren beftanden aus: Maſchinen zur Herftelung von Schrapnells uſw., Schrapnell- beftandteile, wie: Böden, Zündrohre, Salpeter ujm. Einen Begriff von dem Umfang diefer Transporte gibt die Tatſache, daß allein während einer Woche im Februar 1915 an eine einzige Firma 200 Wagenladungen von Raumo nad) St. Petersburg gingen. Da die Häfen von Archangelſt und Wladiwoſtok während des Winters zugefroren find, muß alſo Rußland einen erheblichen Teil von feinem Kriegsbedarf über Schweben erhalten haben. Die Schuld an den Kriegsbedarftransporten nach Rußland ſcheint Deutſchland der mangelhaften Aufficht der ſchwediſchen Regierung zuzufchreiben, ja vielleicht bezweifelt man fogar den guten Willen. Das Holzerportverbot und die Minierung vor Mäntyluoto feien ohne Zweifel als Repreſſalien aufzufaffen.

Die öffentliche Disfuffion der Möglichkeit für Schweden, unter Benugung der Notlage Deutichlands den ruſſiſchen Markt zu erobern, zeugt, nad) Molin, von ebenfovtel oökonomiſcher Kindlichkeit als von politiſchem Unverftand. Während die Söhne Deutichlands anf den Schlachtfeldern Galiziens und Bolens mit dem ruſſiſchen Niefen, deffen Steg auch den Untergang Schwedens bedeuten Tönnte, auf Leben und Tod ringen, geniert Schweden ſich nicht, feinen Profitgeiz auf Koften Deutſchlands offen zu zeigen. Diefes muß aber jeden Schweden, ber fühlt, mas der Kampf Deutſchlands aud für Schweden bebeutet, tief verlegen, und erſt recht die Deutfchen. Übrigens wird fi Deutſchland, wie aud der Krieg enden mag, nicht aus Rußland verbrängen laſſen. Deshalb können bie kindiſchen ſchwediſchen Ratſchlaͤge ihm Leine Angft einflößen, fondern fie werben nur Erbitterung gegen diefe Art ſchwediſchen Unternehmungsgeifte8 erweden. Die linksſtehende Preſſe jagt unverhullt, der Steg Deutſchlands würde eine ölonomifhe Gefahr für Schweden bedenten. Bor der aus einer beutfchen Niederlage entftehenden politifchen Gefahr macht man aber die Augen zu.

AS Gegenfab Hierzu ſchildert Molin dann bie fonderbar nadhgiebige und rũuckſichtsvolle Haltung des Auswärtigen Amtes England gegenüber. Keine Macht habe Schweden fo brutal und vüdfihtslos behandelt wie England. Die

Schwedifche Politit im Lichte der einheimifchen Kritif 345

Handelsſchiffe fein nah engliiden Häfen verfchleppt und Wochen und Monate zurüdgebalten worden. England halte die Korreipondenz mit Amerika an und füge Schweden enorme Verluſte zu. Und mas macht das Auswärtige Amt? ES befchräntt ih auf Vorftellungen, die ungehört verflingen. Weshalb ergreift man nicht das völferrechtlich erlaubte Mittel, das man Netorfion nennt? Weshalb läßt das Ausmärtige Amt nicht die briefliche und telegraphiiche Korreifpondenz, die von England über Schweden nad Rußland geht, zurüd- dalten? Weshalb verhindert man nicht den zum größten Teil aus Lebens. mitteln und Sriegsbedarf beftehenden Warenaustauſch zwiſchen Rußland und England und umgelehrt via Schweden? Wäre dies alles geichehen, jo würde Schweden fi England gegenüber in einer ganz anderen Lage befinden. Aber die Leitung fei wankend und ſchwach geweien und England glaube jebt Schweden nach Belieben behandeln zu Lönnen.

Bon fämtliden Eriegführenden Mächten hätte Rußland von einem Ein⸗ greifen Schwedens am allermeiften zu befürchten gehabt. Anfangs fürchtete man ih auch ernitlih. Wäre die äußere Leitung Schwedens ihrer Aufgabe gewachſen geweſen, fo bätte fie Rußland Bedingungen geftellt, die nicht nur einen augenblidlichen, fondern dauernd einen Schu gegen Often boten. Statt defien bat man nur gerade dasjenige verlangt, was Rußland am tunigften wünſchte, und die finniſchen Regimenter marſchierten mit fliegenden Fahnen und Ilingendem Spiel gegen Deutfhland. Diefem Rußland, das durch feine milttäriiden Maßnahmen in Finnland und durch feine fyftematifhe Spionage Schweden ſtets droht, die ſchwediſche Rechtsordnung in Finnland vernichtet und jest für Schweden Freundfchaft heuchelt, erweiſe Die ſchwediſche Regierung ein auffallendes Entgegentommen, was man auch ruffifcherfeitS volllommen zu ſchätzen weiß.

Das Fazit der ſchwediſchen Neutralitätspolitif fet folgendes:

In ökonomiſcher Hinfiht: Gewinn für eine Anzahl von ausländifchen und einheimiſchen Jobbern durch Lieferung von Kriegslonterbande, Kriegsbedarf und fonftigen BedarfSartileln, aber große Berlufte für das Land im ganzen, und erhebliche Steigerung der Lebensmittelpreife.

In politſiſcher Hinſicht: ein vereinfamtes Schweden, obne wirkliche Freunde, von den Sriegführenden als ein „quantit& n&gligeable‘ behandelt.

Betreff der Sicherung der Zukunft: in diefer der größten und wichtigften aller Fragen ift nichts von reellem Zulunftswert gewonnen. Der Artikel ſchließt: „Werden wir denn nur den Schwierigleiten des Augenblids aus dem Wege geben, ohne an die Gefahren der Zukunft zu denen? Werben wir in Wind und Wellen auf dem Meere umbertreiben, ohne Kompaß und Ziel? Eine ſolche Fahrt Tann auch ein uraltes Reich in Trümmer fchlagen.“

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846 Schwediſche Politif im Lichte der einheimifchen Kritit

Die Tagespreffe hat mit wenigen Ausnahmen den Artilel Molins in allen Tonarten vom Bedauern bis zur zornigen Entrüftung verurteilt. Sogar die aus⸗ geiprochen veutfch- freundlichen „SvenskaDagbladet“ und „Aftonbladet“ bezeichnen ihn als bedenklich und unpatriotifch, verfchweigen aber den inhalt. Der linlks⸗ ftehenden Prefje ift er natürlich ein Anlaß zu wütenden Angriffen geworden. Nur die hochfonfervative „Nya Dagligt Allehanda* gibt ihn ungelürzt wieder und fcheint beizuftimmen. Der Minifter des Außeren konnte natürlich die Be ſchuldigung nicht auf fi figen lafien, fondern forderte den Berfafler auf, bie Vermittler des Konterbandehandels anzugeben, damit die Schuldigen beftraft werden könnten, worauf Molin erwiderte, er babe nicht von Konterbande jondern von Kriegsbedarf geſprochen, der nicht troß fondern vielmehr infolge ber gejeglihen Beitimmungen über Schweden zwiſchen Rußland und England tranfitiert worden fei. Kurz darauf wurde von der Regierung eine Ber ihärfung des Tranfitverbots erlaffen. Aus Schweden darf nur in „georbnetem Frachtverkeht“ eingetroffener Kriegsbedarf weiterbeförbert werden. Unter „ge ordnetem Frachtverfehr” ift zu veritehen, daß die Güter mit einem und dem- jelben Frachtbrief von dem Abfendungsort bis zum Beftimmungsort befördert werden müſſen. Cine Umladung in Schweden für Transport nad) Rußland oder England iſt aber nicht mehr möglih. Außer den drei flandinavifchen Staaten ift wohl Deutſchland das einzige Land, das mit Schweden in einem „georbneten Frachtverkehr“ fteht. Als Grund der neuen Beſtimmung wurde angegeben, es feien neuerdings große Mengen von Mafchinen zum Ausheben von Zaufgräben und zum Anfertigen von Waffen aus England über Schweden nad Rußland gefandt worden.

Die Nachgiebigleit der Regierung gegenüber England, bie ja tatſächlich unerflärli erſcheinen muß, bat in Kaufmanns⸗ und Reederkreiſen tiefe Un- zufriedenheit erregt und die nationale Preſſe verlangt faft täglich in geharnifchten Artikeln effeltive Maßnahmen. Aber bisher tft von dem Minifter des Auferen nichts getan worden. Er proteftiert nur. Waren im Werte vieler Millionen find auf dem Wege von und nad) Amerifa von den Engländern beſchlagnahmt worden und liegen in englifhen Häfen. Es handelt fi dabei durchaus nicht um Kriegsbedarf, fondern um Lebensmittel und für Schweden felbjt beftimmte Produlte, bie größtentell3S dem Ausfuhrverbot unterliegen, alfo im Lande bleiben würden. Die Forderungen der ſchwediſchen Reeder an den englifhen Staat find bereit fo enorm, daß man unter feinen Umftänden dieſe ſchwebenden Schulden zu vermehren wagt, ehe die Erfabfrage geordnet if. Überall in den ſtandinaviſchen Hafenftädten betreibt England eine weitverzweigte Hanbels- fpionage, die von den Gefandten geleitet wird. Die fogenannten Handels attahes arbeiten eifrig mit unzähligen Unteragenten, verfchaffen fi durch Beitehung von Angeftellten der Spebitenre und Reeder genaue Angaben über die Warenabfender und Empfänger und die Waren, die nad Deutichland weitergefandt werden follen. In Gotenburg ift die Spionage befonders arg

Schwediſche Politif im Lichte der einheimifchen Kritif 347

geweſen. Es ift vorgelommen, daß dort in großen Firmen angeftellte Engländer die ganze Korrefpondenz der Firma dem englifhen Konful in Abfchriften über- geben haben. Dieſe Schriftftüde werden der engliichen Regierung überjandt und Die betreffenden für Deutichland beitimmten Güter in englifhe Häfen geladen. Zwei englifche Handelsſpione find bereitS ausgewiejen worden. In der letzten Zeit hat ein bei der engliihen Geſandtſchaft in Stodholm angeftellter „Handelsattachegehilfe" Dir. Phillpotts viel von fi) reden gemadt. Eine Öotenburger Zeitung hat eine große Anzahl von feinen geheimen Berichten in Durchſchlagkopien auf irgendeine Weife erhalten, und läßt jekt, um das Aus wärtige Amt zu erforderliden Maßnahmen zu zwingen, diefe in Facfimile ver- öffentlichen. Vor einer Woche erſchien der erſte Bericht und die Zeitung befigt no achtzehn. Sie tft von der Regierung gebeten worden, den Angriff ein- zuftellen, fie feßt ihn aber ruhig fort und vor einigen Tagen wurde Mr. Phillpotts bei einem Beſuch in Gotenburg auf offener Straße beläftig.. Der Heraus- geber der Zeitung bat ihn der Polizei wegen Handelsfpionage gemeldet und der Engländer bat ihn wegen fuftematifcher Verfolgung angellagt. Die Unter- ſuchung der Bolizet iſt auf Höheren Wunſch eingeftellt worden und die Regierung bat die Angelegenheit felbft in die Hand genommen. Die Anlagen der betreffenden Zeitung gegen den Miniſter des Auswärtigen find außerordentlich ſcharf. Es wird ganz offen behauptet, die Gründe der Ententefreundlichkeit und der Nachgiebigleit des Minifters gegen England ſeien ausſchließlich ölonomilcher und privater Natur. Es darf nicht vergefien werben, daß der Minifter einer der größten Finanzleute Standinaviens tft und befonders mit Frankreich und England intime ölkonomiſche Beziehungen unterhalten hat. Daraus erflärt fi auch die große Sympathie, die er in den linksſtehenden Barteten genießt.

Srüchte des Hrieges

Betrachtungen aus dem Selde

Don Otto Dahmke, Unteroffizier der Seewehr

a ZA kehrt die Zahl nicht heim, die ausgezogen tft nad Dft und AWeſt, aber diejenigen, die heimfehren werden, find dafür ge MN vwachſen auch die Knochen, Arme und das Genid. Doch mehr N noch find gewachſen Hirn und Herz. Das Ichafft kein Friede in qtqſtrengſter Arbeit, was hier der Krieg gebildet und erzogen.

Da Tamen fie anmarjdiert im legten Auguft, die Rekruten mit ihren Kindergefiitern, ſchmalen Schultern, mit unverwüſtlichem Humor und den hellen Stimmen beim Marſchgeſang. Zwiſchen uns Landwehrmänner wurden fie geitedt. Dann marſchierte der achtzehnjährige Schneider neben dem adhtund- dreißigjährigen Grobſchmied, der feingliedrige Student neben dem Bauernfohn, der Yabrifarbeiter neben dem Kaufmann. Und fo find fie durch Feindesland gezogen, ins Gefecht und zur Schlacht, jeder abhängig von dem anderen, jeder für alle anderen.

In folder Gemeinſchaft und unter ſolchen Verhältniſſen fchleift jede Krufte ab, die im Frieden fo oft den Charakter verbedt. Bon jedem einzigen erfennt man fchnell feines Weſens Kern. Die Drüdeberger find fofort erlannt, die Faulen, die Selbitfüchtigen. Die enge Gemeinſchaft ftraft fie ſchnell und erzieht fie bald. Wie du mir, fo id) dir. Die Guten und Hilfsbereiten werden geehrt und geachtet, die Tüchtigen und Nechtlichdentenden genießen Anſehen.

Sp ungefähr ift es ja im Frieden au. Aber um wie viel ſchwerer, und erniter, und größer, find die Anforderungen, die geftellt werben, wenn e8 auf Tod und Leben geht, wenn die Strapazen auch den allerlegten Reſt der Kraft erfordern, wenn fein Unterfchied ift zwiſchen Tag und Nacht, Hike oder Kälte.

Jeder fühlt den unerhörten Willen, der in ben Kommanboftellen wirkt, und der fein eigenes Geſchick leitet. Jeder fpürt, daß der Wille die Wurzel aller Erfolge tft. Und jeder, auch der Letzte, erfennt, daß er jelbit nur beftehen fann, wenn er Willen zeigt, Willen und Ausdauer. Nur dadurch kann er ſich behaupten und Geltung verſchaffen.

Städte des Krieges 349

Unter dem gewaltigen Einfluß der Verhältniſſe, wie wachſen die Leiſtungen des einzelnen, wie erfennt jeder die ungeahnte Kraft bes Willens an fich felbft. Vie mähft das Selbftvertrauen und die Sicherheit. Und alles Kleinliche, alles Gitle, es verweht wie Spren im Winde.

Leiftungen, und immer wieder Leiftungen, nur bie gelten.

Und für Leiftungen gibt es bier nur Anerlennung, leinen Lohn. Wohl winft uns ein Lohn, aber ben follen ſich diejenigen, bie nach biefem furchtbaren Ringen wieder in die Heimat zurüdlehren dürfen, dann erft erwerben in einem nen erlämpften, herrlichen Vaterland.

Hier gibt es für die Leitung nur Anerlennung, Selbftfudt Tann bier nicht gedeihen. |

Die Ideale find der breiten, werktätigen Maſſe des Volles noch nie fo verftändlih geweien als jebt, da fie Herausgerifien ift aus der Enge des Alltags. Manche Nacht haben die Xeute fchlaflos in den Unterftänden gelegen und fi unterhalten über Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Aber unter einem andern Gefichtswintel erfennen fie diefe Ideale beute. Ste erfennen, daß Freiheit ohne Ordnung unmöglich ift, und Ordnung nicht Unfreiheit fein Tann. Sie erkennen, daß, wie im Heer, fo im Leben keine Gleichheit fein ann. Das Können, den raftlos ſchaffenden Willen müſſen wir felber nad) oben tragen, denn nur von höherer Warte können fie die Mafjen befruchten und bewegen. Und Brüderlichleit, das kann nur beißen: ich helfe auf deinem Ader, dann bilfft du auch auf meinem Ader, und nichts anderes.

Und das Vaterland! Seht vom Feindeslande aus lernen fie e8 erfennen. Nun wächſt es vor ihnen empor wie ein gewaltiger Fels, der über die Wollen ragt. Seine Gipfel ftrahlen im Somenlicht und ungeahnte Kräfte wirken in feinem Innern. Bon diefem Berge ftrömen die Waffer, die unfere Mühlen treiben. In feinen Falten ftehen unfere Hütten, gefichert gegen jeden Sturm.

Den Fels für uns erhalten, da ift daS Leben kein zu teurer Preis.

Die beimlehren werden, find andere Menfchen als da fie auszogen. Aus den Rekruten mit den SKindergefihhtern find Männer geworden, und die als Männer auszogen find reifer, gefeftigter, willensftärfer und tüchtiger. Veredelt werden fie heimkehren, denn es iſt nicht wahr, daß der Krieg verroht. Hilfreich, aufopfernd, mitfühlend iſt der härtefte unter uns geworden. Die furdhtbaren Leiden ringsum rühren jedes Herz und zwingen zum nachdenlen.

Es kehrt die Zahl nicht wieder, die ausgezogen tft, aber diejenigen, Die heimlehren werden, werden einen Stamm geben unferem Volke fo eifenhart, io gefund, daß die Alte und Zweige treiben können, weit über unfere Grenzen, und daß die Früchte über den Erdball rollen.

Mondnadt

Über Berg und Bush und Baum leitet weiße Glut, Wie der Woge Silberſchaum Auf der Meeresflut.

Auf den Wieſen zittert leis Milder Mondesglanz, Webt um Ried und Rohr und Reis Einen Perlenkranz.

Wie Kriſtall vom heil'gen Graal Schimmert Hang und Hain. Über Tann und Tau und Tal Wandelt Irrlichtſchein.

Wunderfames Leuchten quillt Aus dem gold’nen See, Und ein füßer Friede ftillt Meiner Seele Web.

AU mein Sram in ſeel'gem Traum Eingefchläfert ruht. Über Berg und Buſch und Baum Gleitet weiße Glut.

Roderich Key

K: n a\ IeE_. *

Maßgebliches und Unmaßgebliches

Pädagogik

Die nationale Aufgabe des deutſchen Boltstindergartens. Wie die hohe erziehliche und Tulturelle Bedeutung des Vollskinder⸗ garten? in weiten Kreifen längſt noch nit gebührend gewürdigt wird, fo ift man fid bisher felten oder gar nirgend beivußt ge» worden, daß der Volkskindergarten den wichtigften Faktor aller unferer nationalen Beſtrebungen darftellt. Die Seele ded Kindes ift unbeſtelltes Aderland, das, vernachläſſigt, teinerlei Frucht, höchſtens Unkraut hervor⸗ bringt, das recht bearbeitet und mit dem rechten Samen befät die Ernte hervorbringen tann, die wir erhoffen. Gegen Sturm und Ungewitter, gegen Böswilligfeit und Schelmen» tat, die unſer mühſames Wert vernichten, vermögen wir freilih wenig zu tun. Unſer Gewifien wird und dann immer fragen dürfen: was war dein Anteil an dieſem traurigen Menfhenverlommen? Dein Nichts⸗ tunl Befinnen wir und! Die Zeit ift ernit und fhwer; fie lehrt und tiefer als je den Bert eine Baterlandes begreifen. Gtellt fie uns nicht auch die ethiſche Korderung, diefen Wert, ſtatt ihn nur zu nügen, zu fchügen und zu erhalten? Eine Glut der Begeifterung, der Liebe zur deutſchen Erde durdbrandet und Legen wir fie nicht nur in die Herzen der großen Jungen und Mädels, die fchon ahnen, was es Heißt: mein PDeutichland. Benden wir und aud an die Kleinen, Un» verftändigen, Ahnungsloſen! Nicht etwa, daB wir ihnen erzählen von Kanonendonner und Deldentaten, nit, daß wir ihr Kleines Hirn überanftrengen mit dem Audwendiglernen bon einem halben Dutend Buterlundsliedern, fondern indem wir mit unermüdlider Sorg- falt ihre ſprachliche Entwidlung beobadten, leiten und beeinfluſſen. Lehren wir unfere Kinder ihre Muiterſprache von klein auf lieben

und richtig fprehen! Damit legen wir den beiten Grund zu einer [päter einzufegenden verftandesmäßigen nationalen Erziehung. Der Kindergarten hat von jeher großen Wert auf die ſprachliche Entwidlung gelegt; er achtet forgiam auf richtiges Wort» und Sapbilden, er läßt die Kinder reigende kleine altberühmte Bollsliedhen und Reime fingen lemen ftatt der elelhaften, franzöfifch « defadentem Borbilde nahgeahmten Gaflenhauer, die die Großftadtjugend bisher gröhlte —, er ver» ſucht, durch frifched Erzählen von dem Kinder⸗ verſtändnis angepaßten Erzählungen auß der Sagen und Märchenwelt bereits ethifche Keime zu legen. Und fo ift der Kindergarten nit nur eine für die arbeitende Mutter hoch⸗ willkommene Gelegenheit, ihre Sprößlinge die Zeit ihrer häuslichen Abweſenheit unter Auffiht verbringen zu laflen, fondern eine Pflegeſtätte vaterländifchen Fühlen® in der für diefe jüngften Altergftufen einzig möglichen Art. Wie bochbedeutend dieſe Zätigfeit des Volkskindergartens in ganz befonderem Maße für die Grenzlande mit teilweife ſprachlicher Verſchiedenheit wird, das haben wohl einzelne patriotifhe Verbände erfannt, indem fie auf ihre Koften, in der Provinz Poſen zum Bei- fpiel, Kindergärten gründeten. In weiten Kreifen ijt man fi} diefer nationalen Arbeit des Sindergartend aber leineswegs bewußt. Was fie, richtig geleitet und finanziert, für unglaubliche Erfolge haben kann, da® möge und das Beifpiel eines unferer Feinde lehren. Man lernt nicht gern vom Feind. Doch ift dies töricht, denn gerade ihm gegenüber fegen wir eine befonder$ ſcharfe kritiſche Sonde an. Und müffen wir etwas, das er tut, für nüglich erkennen, weshalb denn nur heimlich ih felbft da® zugeben, weshalb nicht feine Erfahrung ſich dienftbar madhen? Frank⸗ reih begann im Jahre 1792 in richtiger Er» wägung, daß die Sprade das wichtigſte

352

Bindemittel zwiſchen ftammesfremden Böltern ift, mit eifrigen Bemühungen in dem bis dahin deutſchſprachlichen Elſaß die franzöfifdhe Sprache einzuführen. Ohne befonderen Er⸗ folg, obdgleih 18423 bereit in den Schulen nur franzöfiih geiproden werben durfte. Die Schulen Tonnten der ihnen geftellten vaterländifchen Aufgabe nicht gerecht werden, weil damals Tein allgemeiner Schulzwang eriftierte. Nun gab es im Elfaß, durch Ober- lin Verwirklichung Peſtalozziſcher Ideen angeregt, 1810 bereits mehrerorts ähnliche Inſtitute, wie die heutigen Kleinkindergärten. Dieſe wurden 1888 (ihre Zahl war auf 88 geftiegen) der Schulverwaltung unterſtellt. Damit begann die Periode des franzöflichen

Maßgebliches und Unmaßgebliches

Erfolges im eljaß » lothringiſchen Sprachen⸗ tampf. Im Sabre 1859 gab es bereits 225 jogenannte salles d'asile. Was fie leifteten, beiweift die Tatſache, daB in ber Leit von 1862 bis 1867 die Anzahl ders franzoͤfiſch jprechenden Kinder in den Gren landen von 14 Prozent auf 64 Prozent flieg, und die Anzahl der ausſchließlich deuntſch fpredenden von 65 Prozent auf 15 Prozent fant. „Exempla trahunt*! NMoͤchte dies auch im vorliegenden Fall zutreffen, damit die weiteſten greife unſeres Wolle dem deutſchen Kindergarten mehr nterefie und Beihilfe zuwenden als bisher. Wir erfüllen damit eine vaterländifche Pflicht. Dr. phil. Anton Beinridy Roſe

Allen Maunftripten tft Borte Hinzugufügen, da andernfalls bei Ablehmung eine Nüdfendung

nicht verbürgt werden kann.

Habrud fkmtitdder Untfäge unr mit ansbeidiih Besauttseuitiih: der Herausgeber Georg Kitas in Berlin » Bisterfelbe We. erbeten unter ber Abdreſſe:

Briete werben

er Erlaubnis des Derlags geftattet. Manuftciptiendungen uud

Un den Geraudgeber ber Greuzboten in Berlin - Lichterfelde Wer

Depreqer bed Herausgebers: Amt Bichterfelde

Gteruftrahe 58 488, bei Berlags und ber Gäriftieitung: Amt Düsen 10.

Berlag: Berlag der Grenzboten G. m. 5. H. in Berlin SW 11, Xempelbofer a 3a. Dend: „Der Neichsbote“ G. m. 5. 6. in Berlin SW 11, Deſſaner Strahe

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Italieniſche oder flawifche Irredenta ?

Don Dr. Eduard Wilhelm Mayer

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32 befonder8 betonten Richtlinien erkennen, die Gegenwart und

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Jee bisherige auswärtige Politit Italiens läßt eine Reihe von SL Zukunft beftimmen müſſen. Die erfte ift die irredentiftifche, genauer antiöfterreichifche, ein Überbleibfel aus den Kämpfen um die Einheit, die dur die Zurüdgeminnung der „unerlöjten“ Brüder unter habsburgiſcher Herrſchaft erft „vollendet“ werden fol. Dazu fommt in den achtziger Jahren nach der Enttäufhung, die Stalien in Zunis erlebte, die antifranzöfifhe Tendenz, die jich die Wahrung der Selbftändigfeit und den Ausbau der eigenen Macht im Mittelmeer gegen den vorherrichenden Staat zum Ziel jet. In den Jahren 1885/86 verfolgte die italienijche Regierung ein foloniales Programm; fie fuchte nad) dem Vorgang der größeren Mächte fern vom Mutterland, im Roten Meer, Landbefi zu gewinnen, als Entfhädigung für die Erwerbungen, die ihr in Tunis und Äpypten entgangen waren. Nachdem diefer Verfuh durch den Widerftand Abyifiniens in enge Grenzen gemiefen war, wurde Nordafrifa von neuem ins Auge gefaßt; man ließ fih mit dem Anrecht auf Tripolis abfinden, unter Verzicht auf die antifranzöfifhen Beftrebungen. Da Stalien feine Anfprüde im weftlichen Beden des Mittelmeers damit aufgab, wandte es fi um fo entichiedener gegen Diten, um auf dem Balfan und in der Levante den politifchen und wirtſchaft⸗ lihen Kräften ein Ventil zu geben, in verdedter Rivalität mit Dfterreich*). Die angedeuteten Ziele find verſchieden Hoch geftedt. Zweifellos war es leichter, fih dur eine Echaufelpolitif das Anrecht auf Tripolis zu erwerben, als dur eine antifranzöfiihe Politif den Kampf um das Gleichgewicht im Mittelmeer aufzunehmen. Ebenfo ift es unter weltpolitiſchen Geſichtspunkten

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SCH:

) Bergleihe meinen Aufſatz „Staliend Bolitit auf dem Ballkan und in der Lebante”. Die Grengboten Heft 16 dieſes Jahres. Ä Grenzboten II 1915 28

354 Italieniſche oder flawifche Irredenta?

eine viel befcheidenere Aufgabe, die „unbefreiten Vollsgebiete" zu gewinnen, als eine Kolonialmacht über See zu gründen. Wenn die nordafrilanifhen und die Ballanpläne, wenn die Seeherrſchaft im Mittelmeer imperialiftifche Ideale find, bedeutet der reine Irredentismus, der nichts anderes fieht als „Trento e Trieste“, den Verzicht auf jeden Imperialismus. Cr gibt der auswärtigen Politik ein Heinbürgerliches Gepräge, weil er einen geringen Berluft nicht an einen großen Gewinn zu ſetzen vermag. Er hat feine Borausfegungen in einem ſtarken Nationalgefühl, aber zugleih doch auch in einem Mangel an großzügigem nationalen Lebenswilen. Um uns die Geelenverfafiung des Srredentiften Har zu machen, genügt es daran zu erinnern, daß wir Deutſche. wenn wir der gleichen Dentweife huldigten, unfer Verhältnis zu Rußland ftets danach hätten beftimmen müfjen, daß in den Ditfeeprovinzen unfere baltifchen Landsleute zunehmender Bedrückung unterliegen.

Es erſcheint auffallend, daß der Irredentismus gerade in Stalien eine ſolche Macht geworben tft, obwohl das Regno unter den Großmächten Europas der reinfte Nationalftaat ift, der die prozentual geringfte Zahl von Bolls- genofjen außerhalb feiner Grenzen läßt (noch nicht 5 Prozent). Aber dieſes „obwohl“ verwandelt fidh tieferer Betrachtung in ein „weil“: weil das Land binfichtlih feiner nationalen Geſchloſſenheit fo verwöhnt tft, iſt e8 auch gegen Heine Unftimmigleiten der Grenze befonders empfindlid. Den 35,3 Millionen Italienern des Regno ftehen nur 1,4 Millionen gegenüber, die andern Staaten angehören. Davon entfallen auf franzöflfches Staatsgebiet (Korfila und Tunis) etwa 400000, auf Dfterreid-Ungarn etwa 800000 Seelen.

Zweifellos hielte das italienifhe Vol! auch nicht den Blick gebannt auf dieje ſchmalen Sprachgebiete unter habsburgiſcher Herrſchaft, wenn nicht eine alte Gefühlsgewöhnung dieſe Richtung wieſe. Der nationale Hab gegen Dfterreich, gegen die Tedeschi, wie es wohl fchlechthin heißt, ift in der Geſchichte begründet. Das Haus Habsburg hat bis 1859 Oberitalien beberrfcht, und von dort aus laftete feine Macht auf dem ganzen Land. Mag aud) die Ber- mwaltung der Lombardei und Venetiens die beſte gemwefen fein, die italienifchen Staaten damals zuteil wurde das erfennen aud) Ftaliener an —, fo wurde fie doch ausgeübt mit al dem verftändnislofen hoffärtigen Dünfel, den das Dfterreich Metternich in nationalen Fragen bewiefen hat”). Man erinnere ſich wie Treitfchfe über diefe Fremdherrſchaft geurteilt hat. Italiens Kampf um bie Einheit war ein Kampf um die Unabhängigkeit von Dfterreih. Das find Erlebniffe, die auf Iange hinaus das politiide Gefühl eines Volkes beftimmen fönnen. Die Auffaffung Mazzinis, daß der Habsburger Staat das verlörperte „Böſe“ fei, Iiegt jedem Staliener im Blut. In manchen Zeilen der Bevölkerung lebte ſchon feit Iangem mit der Kraft chiliaftifcher Überzeugung der Glaube,

*) Bergleihe den Aufſatz bon Dr. Selma Stern „Der italienifhe Arredentismus“. Die Grenzboten Heft 9 dieſes Jahres.

Italienifhe oder flawifche Jrredenta? 355

Daß die Tage Vfterreichs gezählt und die nationalen Wünfche der Erfüllung nahe feien. Seitdem der Ballanfrieg die nationalen Afpirationen der Ballan- völfer geftärkt hatte, wurbe die bevorftehende Liquidation des Habsburger Reichs auch in ernfthaften Zeitfchriften erörtert. Dieſen Kreifen erjchien der Weltkrieg als das Stihmwort, auf das man gewartet hatte.

Gine politiſche Gefahr wurde die Irredenta aber erft in ihrer Verbindung mit größeren, imperialiftifhen Zwecken, wie e8 die gegen Üfterreich gerichtete Ballanpolitif und die Beftrebungen in der Levante find. Die Gegenfähe auf diefen Gebieten leiteten immer wieder Waſſer auf die Mühle des Irredentismus, und haben ihn recht eigentlih ins Leben gerufen. Seine Geburtsftunde fällt in die Zeit nach dem Berliner Kongreß, als Dfterreich Bosnien befegte und dieſe Erpanfion des „Erbfeindes“ im Adriagebiet die Befürchtungen der Italiener erweckte.

Lie Sorge um die „unerlöften Brüder” wurde gejteigert, al$ man zu beobadjien glaubte, daß die habsburgiſche Monarchie im Küftengebiet das ſlawiſche Element in feinem Borrüden auf Koften des ttalienifehen begünftigte, um ſich diefe Landesteile deſto fefter zu affimilieren. Die Haltung der Wiener Regierung in der Frage der Gründung einer ttalienifhen Univerfität bat feit Jahren böfes Blut gemadt. Noch im Mai 1914 rief die Nachricht, daß in Trieſt mehrere Staliener bei einem Kampf mit Slawen ihr Leben eingebüßt hätten, einen Proteftitreit der Studentenſchaft von Zurin bis Palermo hervor. Es mehrten fi die Stimmen, die da fagten, daß nur eine baldige Annerion die völlige Slawifterung des Küftenlandes aufhalten könne.

Die Arredentiften führen für ihre Beftrebungen auch militärifhe Gründe an: die geographiſch willkürliche Dftgrenze fei ſchwer zu verteidigen und der vorgefhobene Zipfel öſterreichiſchen Gebiet8 an der Etſch fei eine gefährliche Einfalspforte. Einzelne nationaliftifche Heißſporne ſcheuen ſich denn auch nicht, im Intereſſe der militärifchen Sicherung ein Gebiet zu beanfprudhen, das weit hinausgeht Über die Sprachgrenzen. „Der Brenner und die Quelle der Erich werben die Grenzlinien fein müffen, und die 200000 Deutſche, die das obere Etfchgebiet bewohnen, werden die bibliſche Strafe für die Sünden ihrer Bäter auf fi nehmen müſſen“ (A. Colocci in der „NRivifta d'Italia“ 15. Sannar 1914). Dabei liegt die Sprachgrenze Welfchtirol8 verhältnismäßig ſehr einfach und ift meift den geographiichen Verhältniſſen angepaßt. Schwieriger müßte fi) gerade unter militärifchen Gefihtspunften die Regelung der Grenzen im Adriagebiet geftalten, wenn die nationaliftifchen Ideale erfüllt werden follen; denn der ſchmale von Stalienern bewohnte und mit Slawen durchſetzte Küften- ftreif ift ohne das Hinterland militärifch nicht zu halten. Deswegen Tann man auf den Karten, die den vom italienifhen Nationaliemus erfirebten Befig verzeichnen, die Grenze bis hart an Laibach, die Haupftadt Krains, aljo wie wir fehen werben, bis tief in ſlawiſches Gebiet hinein, gezogen finden. Aus geographifch-militärifchen Gründen tft eben eime wirklich durchgeführte „Voll⸗

25"

856 Italieniſche oder ſlawiſche Irredenta?

endbung der nationalen Einheit”, bie Beftanb haben fol, nicht möglich ohne ſchwere Verletzung ber Nechte fremder Nationalitäten.

Über die ethniſchen Verhältniſſe in den öſterreichiſchen Grenzgebieten gibt die offizielle Statiftit Anhaltspunkte, da bei den Vollszählungen die „Umgangs- ſprache“ der einzelnen Familien angegeben werden muß. Cine völlig einwand- freie Statiftit der Nationalitäten befommen wir damit allerdings nicht in die Hand, da in ſprachlich ſtark gemilchten Bezirken die „Umgangsipracdhe” Tein Kriterium für die ethniſche Zugehörigkeit bildet, und da überdies bei dieſen Feititellungen die Willkür des Zählers und des Gezählten freien Spielraum hat.

Mas insbeſondere Welfchtirol anlangt, fo Hält die offizielle Statiftil Staliener und Ladiner nicht auseinander, während tatfächlich diefe Urbevöllerung nad Abftammung und Sprade als ein völlig felbftändiger Volksteil zu betrachten tft; man berechnet ihre Kopfzahl auf über 90000. Anderſeits werden die aus dem Königreich zugezogenen Italiener, foweit ſie nicht die öſterreichiſche Staats: angehörigkeit erwerben, nicht berüdiichtigt.

Bet der Bollszählung vom 31. Dezember 1910 gaben 385700 Bewohner Tirols Italieniſch oder Ladiniſch als ihre Umgangsſprache an (gegen 868021 im Sabre 1900). Davon fiten faſt 870000 in fompafter Majorität in folgenden Bezirkshauptmannfchaften und Städten:

Deutſche Italiener

Rivnn.. 2 een. 1643 26 296 Rovereto (Stadt) . . ». .. 8ll 9 509

„» aa) . 22... 99 6558567 Tione. .. 26864 35 955 Trient (Stadt)..... 2819 24196

&aınd .......11897 66 745 Bot. 2 2 2 2020002 0.. 1617 42 989 Brimiero - > 2 222 nn 245 10 663 Ge . 2 2 2 2 een. 1857 45 798 Mezolombardo -. . . 2. 2.801 20 849 Gavalfe . . 2 2 17382 22 517 Ampeso > 2 2 2 2 een 443 5 990

13893 8366 937

"Gerade im Gebiet von Ampezzo, in dem Winkel zwiſchen Buftertal und Etſchtal, fehlt eine feite Sprach jrenze, die mit den geographiſchen Berhältniffen in“ Einflang zu bringen wäre; bier vor allem ſchiebt „fih Die ladiniſche Bevölkerung zwiſchen die deutfche und die italieniſche ein.

Weit vermorrener aber Liegen die ethniſchen Verhältniſſe im Küftengebiet an der Adria. Ansgefamt wurden in diefem Zeile der habsburgiſchen Monarchie 1910 gezählt: 266614 Slowenen, 170773 Serbofroaten. und 356 495 Staliener. Ihre Gliederung wird aus folgenden Tabellen erfichtlich:

Italieniſche oder flawifche JIrredenta? 357 Beztrlshauptmannfchaften und Städte Slowenen Italiener Deutſche Monfalcone . 1693 45 907 Gradisca. . 4656 26263 Görz (Stadt) . .....10790 14812 3238 | (1900: 4754 16112 2760) | (Zand) 2... 70089 2 165 Zolmein . 37 889 29 Sefana ; 29 497 343 Görz * Graditen 154564 90119 4486 (1900: 140582 81086 3498) Zrieft (Stadt und Provinz) 56 916 118959 11856 (1900: 23420 116520 8517)

Gin zufammenhängendes italieniſches Staatsgebiet würde fi demnad nur bei der Angliederung der Bezirle Gradisca und Monfalcone, des alten Yriaul, ergeben; die 6000 Slowenen, die bier wohnen, wären allerdings ſchon eine unliebfame Verſtärkung der zirla 40 000 Slawen, die heute auf Staliens eigenem Grund und Boden in der Grenzprovinz Udine haufen. Im Landbezirt Görz find die Slowenen bereit3 in überwältigender Majorität, und die Stadt Görz ift in fortfchreitender Slawiſierung begriffen. Bas gleiche gilt von Trieſt, das auch ſchon vom ſlawiſchen Sprachgebiet völlig eingefchloffen ift. Der überrafchende Gegenfat der Zahlen von 1900 und 1910 in Trieft und der Stabt Sörz geht aber nur zum Zeil auf eine wirflie Vermehrung der Slawen in diefem Jahrzehnt zurüd; es ift auch eine Veränderung der Zählmethode in Rechnung zu ziehen. Vermutlich tft aber das Verhältnis der Nationalitäten in diefen Gebieten im Wirflichleit auch jett noch ungünftiger für die Staliener, als aus den obigen Zahlen erfichtlich tft, da viele Hausangeftellte ſlawiſcher Abkunft, joweit fie im Dienfte des meift italienifchen Bürgertums ftehen, italienifch als ihre Umgangsſprache angeben. Anderjeits find in Trieft zu jenen 118959 Jtalienern noch über 20000 Staatsangehörige des italieniſchen Königreich hinzuzurechnen.

Bunter no wird die Völlerkarte weiter ſüdlich auf der Halbinfel Iſtrien, zu der politiid auch die Quarneroinſeln gehören.

Begzirkshauptmannſchaften und Städte Slowenen Serbolroaten Staliener

Capodiſtria 31679 17573 88 006 Parenzo . 1962 17034 41276 Stadt Rovigno . 68 57 10859 Bola . . . 3680 30532 40 868 " Mitterburg, Bifino. 288 42 924 4 032 Bolosca . ; 17336 30534 953 Infel Deglia . j 29 19533 1 544 Inſeln Luffin und Cherſo 97 9997 9 884 Iſtrien 55134 168184 147417 (1900: 47717 143056 186191)

358 Italienifche oder flawifche Irredenta?

Auch wenn das Dreied Iſtrien halbiert und Stalien nur die weltliche Hälfte in Anſpruch nehmen würde eine praftifh unmögliche Teilung —, ftünden etwa 130 000 Staliener 100 000 Slawen gegenüber.

In Dalmatien ſchließlich machen die taliener nit einmal 3 Prozent der Bewohner aus; fie finden ſich bier nur in den Städten Zara, Spalato und Cattaro. Trotzdem nehmen extreme Nationaliſten wie Gorradint und Sighele auch diefes ehemals von Venedig beberrichte Gebiet in Anſpruch: wenn das ganze Litorale Dfterreih-Ungarns und Balona, der „Schlüffel der Adria”, in Italiens Händen fei, dann erft werde die Adria wieder fein, was fie früher geweſen fit: ein ttalienifhes Binnenmeer.

Dem politifhen Kopf muß fih die Frage erheben, ob die volllommene Erfülung diefer Wünſche mit al ihren Folgen in Italiens wohlverftandenem Intereſſe liegt. Er wird nicht anerlennen, daß eng nationale Wünſche aud) dann erfüllt werden müſſen, wenn dadurch die Zulunft des Gefamtvolles im Ringen der Nationen gefährdet wird.

Soviel ift Hat, daß Stalien fein Ziel nur durch eine Zertrümmerung Oſterreichs erreichen kann. Wenn das aber wirklich gelänge, dann wird Italien die Geifter, die es rief, vergeblich zu bannen ſuchen. Es wird am eigenen Leib verjpüren, was es beißt, Srenznachbar des vordringenden Slawentums zu fein. Ein Bild der Zukunft läßt fi) ſchon heute aus ber rufftihen panflamiftiichen Prefje gewinnen. In der „Birſhewija Wedomoſti“ ftand Anfang Februar zu lefen und der „Sortiere della Sera“ drudte e8 in einer verborgenen Ede ab: „Die ruffifhen Zeitungen nehmen an, daß die Annerion von Trieft Die von ganz Yitrien zur Folge hat. Nun hängt in Wahrheit das eine nicht vom anderen ab, und wenn man auch die Abtretung Trieft3 an Italien zulaffen wollte, fo muß man fi energii der Abtretung von Iſtrien widerfeben, weil dieſes Land, im Ganzen genommen, flamwifd), ſerbokroatiſch ift, nicht italieniſch. Auch Über Trieft können Zweifel entfteben. Es tft einftweilen italieniſch. Aber in dreißig Jahren haben fich die Italiener . verringert, während die Slawen zugenommen haben. Wenn Trieft und ganz Iſtrien in italtenif he Hände gerät, werden die Staliener ihr möglichfte8 tun, um bie Disitaltantfation und die Slamifierung aufzuhalten. Es ift aber nicht im Intereſſe des Slawismus, geſchweige denn ber Gerechtigkeit, daß Trieft und Iſtrien auf den Standpunkt zurüdgehen, auf dem fie in ber eriten Hälfte bes neunzebnten Jahrhunderts waren. Don der Abtretung Trieſts hätte man zu Anfang des Krieges fprehen können. Auch dann hätte man erwartet, daß Italien nad) einer Reihe von Jahren Trieft den jungen ſlawiſchen Zölfern herausgegeben hätte; dann würde es fich nämlich überzeugt haben, daß ein folder Befig wegen der Nähe Großferbiens für Italien feinen politifchen und ölonomiſchen Vorteil bat.” Das iſt nicht etwa die Meinung eines einzelnen. Siafonow Hat dem Petersburger Berichterftatter des Gorriere della Sera erflärt, daß Trieſt zwar italienifh werben dürfe, daß aber auf Iſtrien und Dalmatien die Serben unveräußerlihe Nechte hätten. In diefem Gegenfah der

Ne)

Italieniſche oder flawifche Jrredenta ? 35

Anſprüche ift die Prophezeiung ſchon erfüllt, die Robert Michels vor wenigen Sabren gab: „Das legte Ziel des Stalien und Rußland einigenden Kampfes birgt den Keim unentrinnbaren Gegenſatzes zwiſchen beiden Kämpfenden in ſich. Die Berdrängung Dfterreihs von der Balfanhalbinfel würde den ruffiichen und ttaltenifden Einfluß mit voller Gewalt aufeinanderprallen laſſen.“

Sftrien müßte alſo erft von Üfterreih erobert, dann gegen Serbien, Rußland verteidigt werden. Auch in und um Trieft würde Italien, wenn es fih dort feftfehte, eine ſtarke ſlawiſche Irredenta entjtehen ſehen. Es ſchüfe ſich in dieſem militäriſch ſchwer zu haltenden Gebiet eine Angriffsfläche, für deren Wahrung es einen großen Teil ſeiner Kraft feſtlegen und damit anderen Zwecken entziehen müßte. Die Küfte würde dem doppelten Druck der Slawen im Dſten und der Deutſchen im Norden unterliegen. Denn auch für die deutiche Vollswirtfchaft tft der zollfreie Zugang zum Mittelländifchen ‘Meer eine Notwendigkeit; Bismard fchien das allgemein deutſche Intereſſe bier fo ſtark im Spiel, daß er fagte, der italientfche Irredentismus werde in Trieft preußifche Bajonette finden.

Die Herrſchaft in jener Dretraffenede Europas muß dem Nationalitäten- ſtaat Dfterreich leichter gelingen als einem reinen Nationalftaat. Gerade Die politiſchen Probleme, die fih an das von den ttalienifhen Gefühlspolitifern heiß begehrte Küftenland knüpfen, beweiſen ſchlagend die Nichtigfeit der Worte Grifpis, daß man Dfterreih, wenn es nicht da wäre, fchaffen müffe, daß jein Beitehen für das Gleichgewicht Europas notwendig ſei. Wie aus biefen Worten dervorgeht, jehen die Denkenden in Italien, welche Bedeutung die Erhaltung Dfterreihs auch für ihr eigenes Vaterland hat. Der habsburgiſche Staat hat fi gebildet als ein Deichverband der chriftlihen Völker gegen die Türken. Indem er es fi) heute zur Aufgabe fett, den Völker⸗ und Raffenfplittern des Donaubedens unter einer einheitlichen Staatsgewalt das frieblide Zufammen- leben zu ermöglichen, wird er für Germanen und Romanen ein Vollwert

gegen die flawiiche Flut.

Deutfchland und die belgifche Neutralität in ethischer Beleuchtung

Das Buch eines Bolländers

n der deutſchen Preffe wird immer wieder die und alle billiger- weife intereffierende Frage aufgeworfen, und auch wir haben au diefer Stelle*) bereitS mehrfach Gelegenheit genommen, die Auf-

JE merkſamkeit unferer Lefer darauf zu Ienlen, wie man in Holland,

dem Lande der nüchternen, phlegmatifhen, uns in manchem fo weſensverwandten Niederländer, über die deutide Sade in diefem Kriege, vor allem auch über die maßlofe Hehe und die verleumderifchen Anwürfe gegen unfer Volk und Heer denkt und fchreibt, das heißt in den Kreifen der Intelligenz; die „freundichaftliden” Gefühle gewiſſer anderer Kreiſe“ dürfen wir rubig mit Achjelzuden übergehen, und die weife und Lorrelte Neutralität der hollänbifchen Regierung muß ja ſelbſtverſtändlich außer Betracht bleiben.

Es muß immer wieder darauf hingemwiefen werden, daß es grundverlehrt ift, von einer durchfchnittlichen oder auch nur überwiegenden „Stimmung“ in unferem Nachbarlande zu ſprechen oder gewiſſe Anzeichen als Grundſymptome bald nach der einen bald nach der anderen Seite zu verallgemeinern. Die Meinungen find eben einfach geteilt. Hier find es politiſche, wirtſchaftliche und anders begründete Motive, Hoffnungen oder Befürdtungen, dort wieder einfach Sympathien oder Antipathien, die der Hinneigung oder Entfheidung für die eine oder die andere Partei die Richtung geben, ohne daß man indes dieſe Zeilung nad Slaffen, Parteien, nad) Beruf, Bildungsgrad oder auch nad Zanditrihen zu begrenzen vermöchte. Die Holländer felbft betonen immer wieder gerne, daß fie in allererfter Linie Holländer find und danach ſich ihre Meinung zurechtlegen.

Dem entſpricht ungefähr das Bild, das die Prefie bietet, wobei allerdings feftzuftellen ift, daß in ihr Objektivität und vorfichtige Zurückhaltung im Urteil nicht überall in gleihem Maße zu ihrem echte kommen. Biel unfreunbliches, viel boshaftes und nach unferer Anſicht oft recht unfinniges ift denn auch iu Holland über uns geredet und geſchrieben worden; aber dafür find aud mit die beiten Aufjfäbe und Bücher des Auslandes über die deutjche Kriegslage und die Zuftände in Deutichland, die unvergleichlicden Leitungen unjerer Truppen,

*) Bergleihe Nr. 7 und Nr. 9 der Grenzboten.

Deutſchland und die belgiſche Heutralität in ethifcher Beleuchtung 361

die fittliche, geiftige und wirtfchaftliche Kraft und Tüchtigfeit des ganzen deutichen Bolles, über unfere friedfertige Politik in den verfloffenen Jahrzehnten, unfer Recht in diefem Kriege, unfere jo unglaublich beihimpfte Kultur, unfere ganze „deutſche Art“ überhaupt von Holländern gefchrieben worden.

Zu diefer Gruppe gehört das neue Buch des bekannten nieberländifchen Yuriften Dr. Labberton „Die Verlegung der belgiſchen Neutralität“. Gelegentliche, mehr oder weniger eingehende holländifche Betrachtungen dieſes Problems ver- danfen wir ja ſchon unter anderen Golyn, Staal und beſonders Valter („Bei- träge zur Entſtehungsgeſchichte des Großen Krieges“), aber die erfte ausführliche Behandlung diefer wohl zum Lieblingsthema der heutigen und künftigen Welt- triegsliteratur berufenen Streitfrage von holländifcher Seite, vielleicht von feiten der ganzen neutralen Welt bringt das Labbertonſche Bud).

Das Werk ift in einem ganz neuen Rahmen gehalten, es ftellt eine eigen- artige, höchſt intereffante Variation in der Behandlung der ſchon jo und fo oft, je nad) der fubjeltiven Auffafjung der „Parteien“ verſchieden beleuchteten Frage dar, indem es fie, von den allgemein befannten Tatſachen ausgehend und über Tages⸗ meinungen und Leidenſchaften fi) binaushebend, als Problem von einer Seite angreift, Die nach Anfiht des Verfaſſers in al dem Hin und Her der Debatten bisher wenig oder gar nicht zur Geltung gelommen ift, nämlid) von der rechtöphilofophiichen, der ethifchen Seite. Bei einer ſolchen Betradhtungs- weiſe ergibt es fich indes von jelbit, daß das Werk über das in der Aufichrift geſetzte Thema doch hinausgehen muß, und fo ftellt es fih in der Tat auch dar nicht nur als ein Verſuch der Rechtfertigung der deutſchen Politik im Yalle Belgien vom ethiſchen Standpunkt, fondern auch als eine ethiſche Charalterifierung des deutſchen Staatsgedankens und im weiteren Sinne der deutſchen Volls⸗ pigche, des „deutichen Geiftes“ überhaupt. Was die Lektüre im einzelnen jo fehr intereffant macht, ift die erftaunliche Beberrihung der mannigfachen in die Betrachtungen einbezogenen Gebiete durch den Verfaffer, die aus jeder Zeile ſprechende tiefgründige, lebensvolle Weisheit und die überaus reiche Belejenheit, die die Ausführungen mit zahlreihen Zitaten aus der ganzen einſchlägigen Weltliteratur würzt. Bemwundernswert tft ferner die bei aller Sadlichleit und abwägenden Vorficht des echten Suriften, bei aller wiſſenſchaftlichen Grünblichkeit, welche die zum Teil fehr ſchwierigen und abftralten Dedultionen erfordern, klare, faft Haffiih einfache und dabei nie nüchterne, ftetS feflelnde Sprade und? was uns Deutiche befonders erfreulich berührt das tiefe Verſtändnis für Deutichland, für deutſches Wefen und das mutige Belenntnis zu unferem guten Recht in diefem Kriege. Wir können bier natürlich nur in größeren Zügen die Gedanken⸗ gange des Buches wiedergeben, dürfen aber hoffen, daß es den deutichen Leſern fpäter auch in einer Überfegung zugänglich gemacht werden wird.

Zunächſt ftellt der Verfaſſer feit, daß der belgifdhe Vertrag von 1839 im erfter Linie eine Gewähr gegen einen Mißbrauch belgifhen Gebietes durch

862 Deutfhland und die belgifche Neutralität in ethifcher Beleuchtung

Franfreih für feine friegeriiden Operationen bieten follte; in zweiter Linie wird die Aufmerkſamkeit darauf gelenkt, daß der Vertrag nicht ſowohl im Intereſſe Belgiens felbft als vielmehr in demjenigen der ihm beigetretenen Großmächte abgeſchloſſen wurde; alſo dieſe verpflichteten fi wechelſeitig. Die von anderer Seite vertretene Anficht, daß durch den Kriegszuſtand zwiſchen Deutfhhland, Rußland und Frankreih Anfang Auguft 1914 der Vertrag ſchon ipso facto aufgehoben worden ſei, teilt Zabberton nicht; es beſtand vielmehr noch eine Verpflichtung Deutfchlands zur Schonung Belgiens gegenüber England. Ebenfalls läßt ſich kaum behaupten, meint er, daß der Vertrag nad) feiner hiſtoriſchen Bedeutung überhaupt von vornherein nur Franfreih, aber nid Deutſchland band. Alfo es ift als Faktum feftzuhalten: Deutſchland war gegen. über England verpflichtet, und dieſer Pflicht ift e8 nicht nachgelommen.

Mit der einfachen Konftatierung diefer formalen Nechtsverlegung, ift indes, nach Labberton, die Sache denn doch noch nicht erledigt. Allerdings iſt die Lehre von dem „rebus sic stantibus“, die den Vertrag durd) die Verſchieden⸗ beit der ihn bedingenden Umftände im Jahre 1839 und im Jahre 1914 als ohne weiteres hinfällig betrachten möchte, nicht befriedigend. Die die Verträge bindende Kraft ift nämlich nicht eine juridifche, fondern eine rein ethifche.

Zabberton behandelt nun in fehr eingehenden und fcdharffinnigen Be⸗ trachtungen das Problem von Recht und Sittlichleit allgemein und im befonderen die Frage, inwieweit Politik mit Moral zu tun bat, ob das fittlide Bewußt⸗ fein aud) für Staaten und völlerrechtliche Abmachungen gilt, und ob und wann für Staaten der Fall eintreten Tann, daß eine Nichtinnehaltung vertraglider Derpflicätungen entichuldbar iſt. Er kommt zu dem Ergebnis, taß die Beifeitefhiebung einer ſolchen Verpflihtung nur dann gerechtfertigt ericheinen fann, wenn eine höhere fittlihe Pflicht den Staat bierzu zwingt. Hierbei muß eben berüdficätigt werden, daß fich ein Staat in einer weit fchwierigeren Rechts⸗ lage befindet al8 ein Individuum, infofern es einerfeit für den erfteren unendlich viel ſchwerer ift, die Tragweite einzugehender Verpflichtungen gegen- über anderen Staaten auch nur annähernd abzufhäten, und es anderfeits für ihn aus politiihen Gründen oft geradezu unmöglich ift, rechtzeitig von ſolchen Verpflichtungen in aller Form zurüdzutreten.

Somit kommt der Berfaffer zu dem Ergebnis: Deutſchland war nicht länger an den Vertrag vom Jahre 1839 für gebunden zu eraditen, wenn nachgemwiejen wird, daß eine höhere fittliche Pflicht, als welche natürlih rein felbftfüchtige Erwägungen nicht gelten können, entgegenftand. Die Frage, ob eine folde höhere fittliche Pflicht für Deutfchland im Auguft 1914 vorlag, beantwortet er „unter voller Verantwortung feines fittlihden Bewußtfeins“ bejahend. Denn, fo führt er aus, Deutfchland befand fi am 2. Auguft in einer denkbar gefahrvollen politiichen Lage, es ftand einem Kampf auf LXeben und Zod gegenüber, und einem Kampf um die Eriftenz überhaupt wird man im Ernſt unmöglid den Gharalter einer fittlihen Pflicht gegen ſich felbit

Dentſchland und die belgifche Neutralität in ethifcher Beleuchtung 368

abſprechen können. Zwar Tann die Pfliht zur Selbiterhaltung auch für einen Staat nit als eine abjolute fittlihe Pflicht gelten, aber fie ift doch zweifellos eine hohe und fehr vornehme Pflicht, jedenfalls mehr als ſtark genug, um den veralteten Vertrag von 1839 beifeite zu fhieben. Die Frage, ob der militärifche Durchzug durch Belgien für Deutichland tatjählid ein Gebot der Gelbfterhaltung bedeutete, ift an und für fich ethiſch indifferent, aber für eine fittlide Beurteilung kommen nicht die Umftände einer Handlung an fih in Betracht, fondern wie fie fih dem Handelnden felbit darftellen und ihn als Motive beeinfluffen. Alfo weil für Deutihland nun einmal der Aufmarſch dur) belgiiches Gebiet unvermeidlih erſchien für einen großen Schlag gegen Frankreich, fo kann es nicht fittlich verurteilt werden, wenn Deutjchland fi) durch die neuen Umftände für berechtigt gehalten hat, die jeit 1839 gegenüber England beftehende Verpflichtung nit mehr innezuhalten. Die Pfliht an ſich, betont Zabberton, beitand aber einmal, e8 beftand ferner auch eine Pflicht gegenüber Belgien felbft. Bon der Mikachtung diefes Gelübdes an ih ift Deutichland mithin nicht freizufprehen. Angeſichts der Lage Deutfchlands aber erjcheint der Gebraud, den England von dem alten Vertragsinftrument machen zu dürfen geglaubt hat, unfittlid, man kann fi) faum eine willfürlihere Handlungsweife, ein kraſſeres Beifpiel von Ausbeutung des Prinzips „summum jus summa injuria“ vorftelen als dieſe dem jcheinheiligen engliſchen Legalismus, diejer vielgerühmten „lawabidingness“ enifpringende typiſch engliſche Stellungnahme die au im der Drforder Profeflorenfundgebung („the old the very old English political theory is: the Right is our interest‘ uſw.) ihr phariſäͤiſch Antlid fo fromm enthält. Gilt dies doch für die eigenen Intereſſen zureddtgemachte ftarre „Recht“ auch dann, wenn es fih einmal nicht mit den eigenen Intereſſen der beati possidentes bedt, fo fragt Labberton, und ift e8 ausgemadt, daB dies „pofitive” Recht auch das fittlicde Recht ohne weiteres immer zur Seite bat und nicht auch der Veränderung und Fort— entwidlung unterworfen tft, wie alles, was entiteht? „Sol allein in Deuti- land Bernunft im Laufe der Zeit zu Unfinn werden?“

Die von England mit foviel Pathos vertretene Auffafjung, daß der mwedhlelfeitige Beitand der Staaten bedingt wird durch die ewige Geltung von Berträgen, erachtet der Verfaffer für unrichtig; dazu ift auch eine relative Geltung Borbedingung. Die Wirklichkeit, an der ſich der hiſtoriſche Prozeß des ewigen Werdens und der ewigen Entwidlung zu vollziehen bat, bedingt allerdings einen gemwiflen Grad von Konflitenz, aber ebenfojehr einen gemwifjen Grad von Plaftizität. Ohne lebtere wird ein Stillftand, das heißt Tod eintreten. Für Stilftand ift immer nur der beatus possidens, für $ortfchritt der Mann oder das Boll, das im Aufftieg begriffen it. Es ift dies eben, meint Zabberton, der ewig alte Streit, über den mit jenem Schlagwort von „Recht und Macht“ fo viel und oft und fo oberflähli geredet wird, und der wieder einen jo prägnanten Ausdrud fand in der meltgefchichtliden Ausſprache des deutſchen

364 Deutfchland und die belgifhe Neutralität in ethifcher Beleuchtung

Reichskanzlers mit dem britifhen Botſchafter im deutſchen Reichſtage am 4. Auguft; es ift der alte Kampf eines neuen Inhalts gegen alte Form, lebensvoller Wirklichleit gegen offizielle Phrafe, der Wahrheit gegen bewußte oder auch unbewußte Lüge; und die berühmte vox populi bricht denn Darüber fo töricht und unüberlegt den Stab mit fchnellfertigen billigen Schlagwörtern wie „scrap of paper“ ufw. Die den Deutfchen eigene Neigung zu „Itarlen Worten“ begreift das dumme Volt doch nie, und mit der Dummheit . . .! Zweifellos, bemerkt der Verfafler nebenbei, hat man gerade hierin eine ber Haupt- urſachen für den Deutſchenhaß zu fuchen; die Deutichen aber follen daraus die Lehre ziehen, daß man eben auch zu groß fein kann, um noch verftändig zu heißen.

it jomit die Frage des Vertragsbruchs durch Deutichland abgetan, geht Labberton nunmehr zu der belangreidderen, nicht bloß formellen, fondern materiellen Seite des Problems, zur belgifhen Gebietsverlegung, über. Hier hält er eine Erledigung mittels der Berufung auf die Pflicht der Selbfterhaltung in höherem ſittlichen Sinne nicht für befriedigend; denn kein Boll bat, nad) Kants Lehre von Perfönlichkeit, das Recht, fih auf Koften eines anderen Volles durchzuſetzen, wie Dies aud in der Beitimmung des Haager Vertrages von 1907 zum Ausdrud kommt: „Das Grundgebtet der neutralen Mächte iſt unverletzlich uſp.“ Deutfchland ift alfo auch diefer Pflicht nicht nachgelommen, und es fann nur dann verteidigt werden, jofern nachgewieſen wird, daß eine noch höhere Pflicht als die der Selbft- erbaltung mit derjenigen zur Achtung anderer Perfönlichkeiten in Konflikt lam.

Bei der Beleuchtung diefer Frage will der Verfafjer zunächft abſehen von der befannten Unterjtelung einer belgiſch⸗franzöfiſch-engliſchen Konnivenz und ferner von der unverlennbaren Tatſache, daß Deutichlands Vorgehen in Belgien nit die einzige Urſache des beklagenswerten Zujtandes dieſes Landes tft; denn, fo urteilt er, bei allen Kriegsſchäden ift nie der Wille des Angreifers allein, jondern wohl ebenfo ftark derjenige des Verteidigers in Betracht zu ziehen. Alfo es bleibt die Schuld Deutſchlands beftehen, fih an der Perſönlichkeit eines anderen Volles vergriffen zu haben. Diefe Schuld aber Tennzeichnet fi für Labberton als das Ergebnis eines fittlichen Konfliktes, eine Erkenntnis, die bei ber Beurteilung der belgifhen Frage unter der Wucht der traurigen Wirkungen bisher fait gänzlich außer acht gelafjen worden ift, die aber geeignet ift, eine Berurteilung Deutſchlands sarıs phrase unmögli zu machen, vielmehr feine Handlungsweije zu erllären oder doch wenigftens in dem erheblich) milberuben Lichte einer tragiſchen Schuld erſcheinen zu laffen.

In längeren, außerordentlich feſſelnden, ſcharffinnigen Ausführungen ver- breitet fid der Verfafjer num über das Problem des fittlihen Konfliftes zumächit allgemein. Wir müfjen es uns leider verfagen, auf dieſe Betrachtungen, bie als wertvolle Fritiiche Beiträge zur Lehre von der Ethik willlommen geheißen werben bürften, bier näher einzugehen. Wir wenden uns daher ſogleich dem Teile des Buches zu, in dem eine fpezielle, für das Thema vornehmlich in Frage kommende und zugleich die interefjantefte Erſcheinungsform bes fittlihen Konflikts

Deutfhland und die belgiſche Neutralität in ethifcher Beleuchtung 365

befproden wird, nämlich der fittlide Konflikt in der Piychologie des Genies.

Nah) einer Definition der mejentlihen Merkmale bes Genies beim Individuum und der fittlihen Genialität bei Staaten, des Höchſten, das ein Menſch und noch mehr ein Staat in Ausübung der höchften fittlichen Be- rufung erreihen fann, führt der Verfaffer feine Betrachtungen zu dem Ergebnis, daß Deutihland in der Tat eine ſolche ethiſche Genialität darftelt.e Nach meiner innerften Überzeugung,“ fagt er, „it Preußen ber fittliche gefunde Kern von Europa, von dem lebten Endes die fittlihe Regeneration unferer todfranlen Welt ausgeben wird." Labberton verfennt hierbet keineswegs, daß dies natürlich .feine fubjeltive, allerdings inftinftmäßige Überzeugung tft, ohne unbedingte Beweiskraft für andere. Indes findet Labberton unter anderem im Preußiſchen Staatsrecht ein unbeftreitbares Symptom ftaatlicder Gentalität, nämlich in der Zatfache, daß diefes Recht für jeden Modewechſel unempfänglid geblieben ift und, nur dem eigenen Maßftabe gehorchend, fih in feiner Eigenart bis Heute durchgeſetzt hat, feit in fich gegründet und der inneren Be⸗ rechtigung fi konſequent bemußt if. Bon allen Ländern Europas tft Preußen nad feiner Anſicht das vom NRouffeaufhen Atomismus und von der Herrſchaft der Lehre von der Hälfte + 1 am meiften entfernte. Und ganz Deutichland hat ſchon die am vollendetiten ausgebauten Berufsinterefjenorganifationen, Die Grundlage für die pofitive Politit und Nechtsformung der Zukunft nach Über— mindung des parlamentariihen Syitems. Es laſſen fi) aber nad) Labbertons Auffaffung für die Behauptung, daß das deutfhe Voll auf einem ganz ungewöhnlich hoben fittlihen Niveau fteht, auch noch verfchiedene andere Beweiſe erbringen. Zunächſt fieht er einen foldhen in der von Haufe aus vorwiegend fontemplativen, nicht aktiven, mehr ethiſchen als äfthetiichen Veranlagung des Volles, die in eriter Reihe nicht nah) Form, fondern nad Inhalt, nach Ver— innerliung ftrebt, die die Form auf Koften des bon got oft geradezu vernadhläffigt.. Kommt dann ein folches Volk zu fpäter, aber großer Aftivität, fo tut es dies nicht aus Außerlichen, egoiftiichen Motiven, fondern aus innerftem Pflichtgefühl Heraus, einer innerlich erlebten fittlichen Berufung folgend. Dafür, daß heute im deutſchen Wolfe diefer Geift lebt und wirkt, bürgt gerade die fo un- gewöhnlich Iange fontemplative, nicht Formen fchaffende, fondern Inhalt dentende Zurüdgezogenheit dieſes „Volles der Dichter und Denker“, das man draußen beute fo verändert glaubt und jo ungern verändert fieht. Gerade aus dieſer eigenartigen Veranlagung der deutſchen Volfgfeele heraus erklärt der Verfafler denn auch die Tatjache, daß es im Auslande ſich nicht beliebt oder auch nur begreiflich zu machen verfteht, fo jehr auch gerade fein tiefes Gemütäleben es dazu drängt, Verſtändnis und Sympathie zu fuhen; dann aber beißt ber Deutſche aufpringli, und zieht er fi verfannt zurüd, fchilt man ihn ver- ſchloſſen. Im übrigen, fügt Labberton hier gelaffen hinzu, iſt das Schelten über den deutſchen „Boche“ oder „Moff“ (mie die freundſchaftliche Bezeichnung

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für den Deutſchen in gewiſſen Kreifen Hollands lautet) nachgerade einfad) Mode geworben, die gedanfenlos mitgemadt wird. . . . „nichts als ein Symptom für die ©eiftlofigleit der Maſſe“.

Der Dentihe fol ferner, heißt e8 immer, feine Achtung vor anderer Berfönlichkeit, kein Verſtändnis für anderer Menſchen Wert haben, ftet3 nur „mit dem SKorporalftod” arbeiten ufw., wie er denn aud fein Glüd babe in der Behandlung feiner Gebiete mit fremder Bevölkerung und feiner Kolonien. Zabberton meint, dies alles befage nichts anderes, als daß der Deutſche als Kolonifator feine Aufgabe eben zu ernft, zu tief auffaßt, daß er mehr will als eine oberflächliche „Zinilifterung” fremder Gebiete mittels einer ganz äußerlichen Drgantfation, mittels einer poliifhen und ölonomifhen Mafchinerie ohne wahren Kulturinhalt mie die berühmten englifhen „Kolonifatoren”, die allerdings damit fchneller zum Ziele fommen. Die Deutſchen verfallen in ihrer etwas jchulmeifterlihen Gründlichkeit leicht in zwei Fehler. Erſtens ftreben fie zu fehr danad), andere nad) ihrem eigenen Vorbild zu erziehen, und zweitens überfchägen fie nicht jelten ihr Kolonifationsobjelt. Aber fehlt ihnen auch noch häufig das richtige Verftändnis für die Wahrheit des Wortes „Eines ſchickt fi nicht für alle,“ fo find fie dafür auch nicht der blinden Loſung jenes bedenklichen Grundſatzes „Right or wrong, my country“ verfallen. Der Berfaffer widmet hierbei auch dem berühmten deutſchen „Militarismus“ einige Beratungen. Im Gegenfab zu dem banalen und törichten Geſchwätz von ertötendem Kadavergehorfam und von Unfreibeit, fieht er das Wefen des Militarismus einfach darin: wirklich und tief gefühlte Bereitſchaft der übergroßen Mehrheit eines ganzen Volkes zur Aufopferung von Gut und Leben für die Gemein- Ihaft, wobei Zwang zu freiem Willen wird; eine Bereitichaft, die num ſchon mehr als zehn Monate unerhörten Anforderungen und Verhältniſſen gegenüber ftandhält, eine Leiftung, die man nicht anders bezeichnen kann als „ein Wunder geradezu von feftem Willen, von ernfter und unbegrenzter Opferfreudigkeit“.

Einen weiteren berebten Beweis für den hohen ſittlichen Ernft der Deutfchen erblidt der Verfaſſer in der diefem Volke eigenen Objektivität gegenüber feinen eigenen Fehlern und in feiner offenherzigen Bereitwilligleit, feine Schuld, und wäre e8 auch nur eine tragiiche, anzuerlennen, eben in der ausgeprägten Betonung des Gemifjens in feiner Bruſt. In diefem Lichte vor allem verdienen auch die viel zitierten Worte des Reichslanzler8 am 4. Auguft vor dem Forum des deutſchen Reichſstages und damit der ganzen Welt, die Worte vom „Umecht gegenüber Belgien“, gewürdigt zu werden. Diefe Worte, fagt Labberton, ftelen man denke fi die bitterernften Umftände, in denen das deutſche Bolt ih befand geradezu ein „Summum von fittlidem Ernſt“ dar, wenn aud die geifernde Welt der Schreier fie zyniſch ſchilt; ja fie find fo fehr ein Summum, daß es faſt ein Zuviel geweſen zu fein ſcheint, wiemohl die Nicht⸗ anerkennung wieder eine fittliche Unterlaffungsfünde geweſen wäre. Über den Begriff der dummen Maße oder über ihren Willen zum Begreifen gingen dieſe

Dentfhland und die belgifche Heutralität in ethifcher Beleuchtung 867

Worte natürlich weit hinaus; nie tft fo viel und fo töricht geſchmäht worden. Aber die Frage der Utilität beifeite gelaffen meint der Verfaſſer, das deutfche Bolt muß nun mal fo genommen werden, es tft nicht zum Lügen geboren. Ein Bergleih der Sprache der deuten Staatsmänner und Diplomaten und derjenigen des Dreiverbandes, fowie eine Gegenüberftellung der amtlichen Ver⸗ öffentlihungen der beiden Parteien kann nur zugunften des fittlihen Geiſtes der dentichen Diplomatie ausfallen. Woraus aber erflärt fi, fragt Labberton, dann der allgemeine Deutihenhaß? Tugend in der Welt wird nun einmal immer gehaßt, und die Wahrheit tft von jeher gefreuzigt und verbrannt worden. Haß kann man fi} zuziehen durch ein Manko oder durch ein Plus an Sittlichkeit; wie e8 mit Deutichland damit fteht, das wird ja wohl im Schmelztiegel diejes Weltkrieges zum Vorſchein kommen. Immerhin, fo fehließt dieſes dem eigent- Iihen Thema eingefügte Stapitel, a priori Tann der Beweis von fittlicher Benialität nicht erbracht werden, in einem aber wird man ihn erfennen müſſen: in der großen Nachgiebigkeit Deutichlands, die vielleicht nur zu weit gegangen it. Nur ein Genie kann fie fi erlauben in allem, was feine Berufung nicht in Gefahr bringt; erft dann kommt feine Perfönlichleit zus Geltung. Der Reichskanzler hat in feiner Rede vom 4. Auguft nicht gefagt, Deutfchland kämpft um feine Eriftenz, fondern es kämpft um fein Höchites, und Labberton deutet dies: um feine fittlide Berufung ...... „das Leben ift der Güter Höchſtes nicht —“.

In Verfolgung des eigentlichen Themas „Lag für Deutſchland im Falle Belgiens eine hoͤhere fittliche Pflicht vor?“ nimmt Labberton nun alſo die Hypotheſe an: Deutſchland ftellt eine ethiſche Genialität dar, e8 handelte im Dienfte eines fittliden Stantenideals, nämlich für die Erneuerung des Rechts, für die Schaffung neuer Bedingungen zur Entfaltung der freien Sittlichkeit. Hierzu muß der Staat zunächſt überhaupt beftehen, ferner aber muß er aud beftehen können unter Umftänden, die für die Durchführung feiner fittlichen Miffton unerläßlih find. Diefer Verwirklichung eines fittlichen Ideals der großen Völkergemeinſchaft müſſen auch die anderen Staaten dienen, auch fie möüfjen unter Umftänden zu Opfern .bereit fein, nötigenfalls müſſen fie dazu gezwungen werden, wobei der Zwang fittlich berechtigt erfcheint, weil er ihrem eigenen Heile dient; berechtigt indes nur in der Hand eines ethiich- genialen Staates, nicht bloß eines ftärkeren. Iſt diefe Pflicht ſittlich-genialer Berufung nun abjolut? lautet die weitere Frage. Nein, denn auch das genial ver- anlagte Individuum, bier Staat, darf felbft im Dienfte feines Ideals ein anderes Individuum oder einen anderen Staat, der ihn nicht bedroht, nicht vernichten. Deutſchland durfte deshalb in Belgien, wenn es fi nicht aktiv feindlich zu ihm ftellte, nicht einmarfchieren, eine Vorausfebung, die ja das befannte deutfhe Ultimatum auch Mar zum Ausdrud bradite.

Wie ftand nun für Deutfchland die Sache? Sein Höchftes ftand auf bem Spiel, e8 durfte und mußte den großartigen Vorteil feines vollendeten

368 Dentſchland und die belgifche Neutralität in ethifcher Beleuchtung

Mobilifterungsfgftens, in dem allein fi ſchon ein Reichtum an fittlichen Qualitäten birgt, ausnugen; die Pflicht der Ehrerbietung vor einer anderen ftaatliden Perſönlichleit trat zurüd vor der Pflicht gegen fich felbft, das heißt gegen die eigene höhere fittlihe Berufung. Hierbei erinnert Xabberton noch daran, wie ſchwer fi) Deutſchland zur Verlegung der Neutralität des belgifchen Königreichs entfhlofien Hat; er erinnert an die Zuſicherung in dem eriten Ultimatum, an die noch größer einzufchähende weitere Konzeſſion, wie fie das zweite Ultimatum nad) dem Fall Lüttih, alſo in einer Zeit, als Belgiens militärischer Widerftand gebrochen war, darftelt. Auch Belgien befand fih in einem ethiſchen Konflift amifchen der Pflicht, feiner ftaatlihen Perfönlichleit die Unabhängigkeit zu bewahren, und der höheren Pflicht der Nachgiebigleit als Glied der Staatengemeinſchaft gegenüber dem eine ftaatlidhe Genialität dar⸗ ftellenden Deutfhland. Wir müfjen eben, fagt ber Verfaſſer, erft verftehen und fühlen lernen im Sinne einer höheren Moral, die Deutſchland durch feine Handlungsweife de facto inauguriert hat, da uns noch zu fehr die alten ftarren Begriffe vom Recht der Individualität beherrichen, die gegen den neuen Begriff von Dpferpflicht gegen das höchſte fittliche Intereſſe ftreiten wollen. Daher ſpricht denn auch jebt immer noch das „Gefühl“ zugunften Belgiens.

Zabberton ftreift hierbei die Frage, mie fich diefer Gedanlengang mit dem Böllerredht vereinbaren läßt. Das Völlerrecht kann nad feiner vorhin ſchon gefennzeichneten Auffafjung eben nicht als ein eigentliches abfolutes Hecht gelten, fondern nur als ein Moralloder, deffen Regeln auf eine abfolute Gültigkeit nicht Anſpruch machen lönnen. Weil dieſe Regeln, ähnlich wie diejenigen bes nationalen Rechts, insgefamt von einer der Wirklichkeit widerſprechenden Filtion ausgehen, nämlich der Filtion der Gleichheit aller ftaatlihen Perfönlichkeiten, denen das Völkerrecht eine Richtſchnur für das, was als fittli anzufehen tft, vorfchreibt. Die Staaten find aber eben nicht alle gleichwertig, fie ftehen nicht alle auf dem gleichen fittlichen Niveau, nicht alle in gleihem Maße im Dienfte eines fittliden deals, wie fie auch nicht gleihe Machtfaltoren darftellen.

Hat Labberton feine Ausführungen, von denen mir im vorftehenden die Hauptpunfte wiedergegeben haben, bis hierher mehr theoretifh, im Rahmen einer ethiſchen Beleuchtung der deuten Sache im Falle Belgien gehalten und darzuftellen verfucht, daß man auch bei Anlegung eines ftrengen fittlihen Maß⸗ jtabe8 nicht zu einer Verurteilung sans phrase, fondern hödjftens zu einem „non liquet“ gelangen muß, fo erſcheint es ihm fernerhin doch unerläßlich, die Betrachtungen doch auch noch auf das Gebiet der politifden Tatjachen ſelbſt zu eritreden, um die von Deutſchland zu feiner Rechtfertigung angeführten mildernden Umftände äußerer Art zu würdigen. So kommt er zu ber. beutichen Behauptung aggrefiiver Abfihten von fetten Frankreichs unter Benutzung belgiſchen Gebietes und zu den befannten Brüffeler Dokumenten.

Was die erftere Behauptung anlangt, fo ift fie, meint ber Berfafier, nit volllommen bewieſen, und wenn fie auch bewiefen märe, ift e8 nicht

Dentfchland und die belgifche Neutralität in ethifcher Beleuchtung 869

völlig überzeugend, daß Frankreich beabfichtigt hat, durch Belgien gegen Deutſch⸗ land aufzumarſchieren, alfo felbft die belgiſche Neutralität zu verlegen. Er ift der Meinung, daß Frankreich warten konnte, vielleicht auch, ſchon mit Rückficht auf den von England angeblich ernfthaft vertretenen Grundſatz, die Berlegung unter allen Umftänden als einen casus belli zu betrachten, warten wollte. Deutſchland aber konnte nicht warten, mit der drohenden ruſſiſchen Gefahr im Dften. Die von verſchiedenen Seiten, unter anderem auch vom Staatsredht3- lehrer Kohler, für Deutichland in Anſpruch genommene Entſchuldigung durch „Notwehr“ will Labberton indes nicht gelten laffen. Hierzu gebricht es nad) feiner Auffafjung an der Borausfegung der Provokation durch widerrechtlichen Angriff. Es Handelt fi) bei Deutichland um eine Präventivmaßnahme, die wohl ſittlich verftändlidh, aber juridiſch nicht als direlte Notwehr anzuſprechen if. Auch die Hilfstheorie für die Notwehrbemweisführung, die Benubung des Gebietes eines, wenn auch felbit unfchuldigen Dritten (Belgiens) als Hilfsmittel zu einem feindlichen Angriff, ift hier nicht ftichhaltig. Die Frage müfle vielmehr lauten: wenn ber Angreifer fi hinter einen Dritten verftedt, welches Recht hat dann der Angegriffene diefem Dritten gegenüber? Darauf antwortet Labberton: ift diefe dritte Perſon unfchuldig, fo muß fie gefhont werben.

Damit fommt er zu dem zweiten Punkte, der Frage der belgifch-franzöfifch- englifchen Konnivenz, inſoweit fie fi) aus den in Brüffel gefundenen Dokumenten ergibt. Sie ftellen, nad) feiner Anficht, für Belgien auf jeden Yal den Beweis einer allgemeinen Verwahrlofung feiner neutralen Pflichten dar, indem ſich das Königreihd mit Händen und Füßen der Gegenpartei Deutfchlands dermaßen verband, daß es vom Regen in die Traufe fam und nicht mehr als Opfer eines Irrtums, fondern eigener Schuld bezeichnet werben muß, fo daß das allgemeine Mitgefühl mit dem Schidfal dieſes Landes angefichtS feiner mangelnden Selbſtachtung eine erhebliche Trübung erfahren muß. Für die Beurteilung bes Berhaltens Deutfchlands gegenüber der belgifchen Reutralität können die Brüffeler Dokumente indes doch nur als indifferent bezeichnet werden. Es kommt hier ja nicht auf die für Deutſchland objektiv gegebenen Umftände an, fondern allein darauf, wie fie fih ihm ſubjektiv darftellten. Man muß annehmen, daß die deutfche Regierung im Auguft ohne diefe Kenntnis von den durch die Dokumente enthüllten Dingen handelte; daß fie dieſe ſchon früher kannte, ift aber vor der Hand nicht bewiefen. Kann Deutfchland fpäter diefen Beweis einwandfrei erbringen, fo iſt e3 ohne weiteres freizufpreden. Bis dahin aber fann das Urteil nur lauten: Non liquet. Das Bertrauen in Deutſchlands höhere fittlihe Berufung redit- fertigt aber wohl die Hoffnung, daß die Zukunft eine völlige Verföhnung bringen und die Geſchichte ſchließlich doch zu einer Freiſprechung gelangen wird.

Aber auch dies darf nach Labbertons Auffaffung nicht das legte Wort über die belgiſche Frage fein. Es gibt im Leben Zuftände, die fi uns als nicht direlt Beteiligten verbergen, wo wir feine objektive Kenntnis haben, wo wir uns aber auf eine Art von intuitiver, praltiſcher Erfahrung, auf

Grenzboten II 1915

870 Deutſchland und die belgiſche Ueutralität in ethifcher Beleuchtung

eine inftinktive Sicherheit, eine innere [Überzeugung ftüben. In ſolchen Lebens⸗ lagen ſchlägt dann die genial-freie Hand, der Stimme bes Gewiſſens folgend, hart zu, felbft auf die Gefahr Hin, ein Unrecht zu begehen. Das Geniale liegt dann eben darin, daß man bie ehrliche innere flberzeugung bat, fo handeln zu müflen, „man tut eben bas rechte und läßt bie Welt teden“ (H. St. Cham⸗ berlain).

Der DVerfaffer berührt zum Schluß noch bie viel befprochene Frage, die in den Rahmen diefer vorwiegend ethiſchen Betrachtung zu paſſen fcheint, ob biefer Krieg überhaupt fittlich berechtigt tft, und ob fpeziell dieſer Krieg für Deutſchland eine fittlide Pflicht war. Hierbei ſtreift er mit geiftvollen und beachtenswerten kritiſchen Bemerkungen das Gebiet ber Ethik bes Srieges im allgemeinen, um dann zur Frage ber ethiihen Beurteilung bes gegen- wärtigen Krieges mit befonderer Betonung der Rolle Deutſchlands, und damit zugleich. zu ber Frage der eigentlichen tieferen Urſachen des Konfliktes überhaupt überzugehen. Den Ausführungen, die von einer reichen Kenntnis bes Ber- faſſers auf dem Gebiete der großen Politik der allerjüngften Zeit und ber Zeit der „Vorgefchichte”, und von einem ebenfo tiefen Verſtändnis für bie politiſchen Wirflichleiten wie für bie fittliden Triebfräfte im Leben der Staaten zeugen, lönnen wir bier nur einige Worte widmen. Es genüge hervorzuheben, daß auch Labberton in England und in der durch biefes eingefädelten Ententen- politit den eigentlichen Angreifer, wiewohl nicht in biplomatifddem, fo doch im politiihen Sinme fieht, wenn auch in biologiſcher Beziehung Deutichland als der angreifende Faktor erjcheinen mag, nämlich durch feine zunehmende wirt- ſchaftlichen Entfaltung und Macht. In jedem Kalle, ob nun Angreifer aus gutem Recht oder im Yrrtum oder !betrogen, der deutſche Wille zum Striege ift nicht als unfittlich zu bezeichnen. Sollte Deutſchlaud nur um bes Friedens willen Mein”, beigeben, wäre es ſittlich geweien, zu weichen, wo bie Ber- wirklichung eines ſittlichen Ideals es direlt gebot,;diefem Volle mit feiner hohen eibifhen Berufung und Veranlagung, mit feinem ReichtumT;an leben- fpendender Kraft Raum und Geltung zu verfhaffen? Es wäre Kloftermoral gewefen, die Moral unmwahren Ghriftentums. „Die biologiſche Angreiferichaft erhält bier eben ben tieferen Charalter ber fistliden Angreiferſchaft. Echte Sittlichlett ift immer expanſiv, fie muß und darf ſich ausleben, fie kam nicht „Amboß fein“; das fittlid Wertvolle als das Pofitive muß früher oder fpäter bem fittlih Wertlofen, dem Negativen, gegenüber von felbft und unbewußt in die Nolle des Angreifers Tommen.

Das fittliche Recht, To ſchließt das Bud, kann in ber Welt nie unter- gehen, vergehen muß nur ber eitle Schein. Auch der beutiche Geift, der heute gegen eine gewaltige Macht der Feinde ringt, er kann nicht unterliegen, aus der Nacht der Leiden wird er nur geläutert hervorgehen und zum Segen bes Guten neu ſchaffen zu feiner Zeit „das ſchnellſte Tier, das euch trägt zur Vollkommenheit, ift Leiden” (Edhart) —.

Die Krifis des deutfhbaltifhen Menſchen 371

Das Labbertonſche Buch wird hoffentlich im neutralen Auslande zur Auf Hörung beitragen, mindeftens doch zum Nachdenken anregen. Wir Deutiche haben jedenfalls Grund zu danfbarer Genugtuung, daß auch im Auslande ſolche Bücher gefchrieben werden. Und wenn bei der Unmöglichkeit, vorläufig hand⸗ greifliche Beweiſe zu erbringen und die Leute von unſerer inneren fittlichen Beredtigung zu „Überzeugen“, die belgiſche „Trage“ zunächſt Gefühlsfadhe, Anſichtsſache bleiben wird, jo wollen wir uns mit der Philoſophie Reuters „Wert ni) mag, dei mag’t jo woll nid) mögen” abfinden und uns an dem Bewußtſein, das rechte getan zu haben, und an der Zuverſicht, dab die Geſchichte uns doch einmal recht geben wird, genügen lafien.

Die Hrifis des deutfchbaltifchen Mlenfchen

Don Dr. Maz Hildebert Boehm (Schluß)

Es ift mir bier verfagt, in gleihem Eingehen auch die bauende Kraft aller anderen Kulturftrebungen aufzuzeigen. Die Kunſt trat dabei nicht fonderlich hervor. Hier war das Baltilum in ftärlerem Maße dem Mutterlande gegen- über nehmend. Übrigens tritt auch auf diefem Feld die parallele Entwidlung des Iiterarifhen Lebens mit dem großdeutihen deutlich zutage”). Auch ift mit Burchard Waldis, Lenz und Seyferling das baltiihde Land der deutſchen Dichtkunſt ihren Beitrag immerhin nicht ſchuldig geblieben. In der Mufil und bildenden Kunft hat es dagegen bisher kaum Weſentliches geleiftet. Die Ardjiteltonit des Landes gibt einem berben nordiſchen Kunftwillen Ausdrud. Daß von einer foldden überhaupt noch geiprochen werden kann, will etwas beißen in einer Gegend, wo bie Sriegsfadel fo fürchterlich gehauft hat, wie an wenigen Punkten Europas. | Aber an der fozialen Strultur des baltifchen Lebens können wir nicht ganz vorbeigehen, zumal fie in erfter Linie wohl den heimeligen Eindrud be ftimmte, den der Gaft aus dem alten Livland nad) Haufe brachte. Des Einfluffeg, der dem Haufe innerhalb des baltiihen Gemeinjchaftslebens zugewiefen war, wurde ſchon gedacht. Wenn fich diefe Form für das Land von felbft zu ver

*) Bergleihe die Hiftorifhe Mberfiht in der Einleitung zum „Baltifhen Dichterbuch“. Herausgegeben von Jeannot Freiherr von Grotthuß. Neval 1894. 24*

372 Die Krifis des deutfhbaltifhen Menſchen

ftehen ſcheint, obſchon das Fehlen des dörflichen Siedlungstyps ben Urjprung biefes umfriedeten Einzeldafeins in ber wehrhaften mittelalterlihen Burg deutlich offenbart, fo bleibt es doc ſehr auffällig, daß auch in der Stadt der außer- häusliche Verlehr, wie etwa der Wirtshausftammtiich oder das Café, eine gang geringe Bedeutung bat. So konzentrierte ſich fogar das ftubentifche Leben durchaus auf das „Konventsguartier” (Korpshaus) und auf die „Burgen“, die eine große Zahl von Studentenbuben in fich vereinigten. Die Folge diefer berrihenden Form bes gejelligen Verkehrs war die außerordentliche Saftfreiheit des baltiichen Haufes. Seine Breiträumigleit und fein auf das Halten größerer Borräte angemiefener Wirtihaftstyp*) machten der Hausfrau Unterbringung und Berpflegung felbft einer größeren Zahl unerwarteter Säfte möglid. So waren nit nur Gutshaus und Paftorat, fondern auch die ſtädtiſche Bürger⸗ wohnung Brennpunkte eines regen Verkehrs. Diefer Zuftand war zugleich Ausdrud und Folgeerfheinung des dur die Folonifatorifch- ariftolratifche Abhebung der Tleinen Oberſchicht geichaffenen Zufammenhalts. Einmal kannte jedermann faft alle Namen der im Lande anfäffigen Familien. Dann aber erzeugten der Landtag, zu deffen Beſuch nad) altgermanifcher Sitte der grund- fäßige Adel bei hoher Strafe verpflichtet war, und die anderen Funktionen der Selbftverwaltung einerfeits, zum anderen Teil die gemeinfame Landesuniverfität mit ihren Korporationen”*) eine weitausgebreitete perfönlicde Bekanntſchaft und Freundſchaft, die dur Häufig erneute Berührung warm gehalten wurde. Freilich darf demgegenüber nicht überfehen werden, daß die ſtändiſche und landſchaftliche Gliederung den gut deutſchen Partitularismus gu üppiger Wucherung bradte. Nicht nur fchlofien fich die drei Territorien, die oftmals durch die großen politiiden Mächte getrennt waren, durchaus voneinander ab, fondern der alte Gegenfat von Stadt und Land, der ſchon binter dem Antagonigmus zwifchen Biſchof und Orden geftanden hatte, erwirkte auch der Stadt Riga eine ausgeſprochene Sonderftelung. So verteilte fi urfprünglich auch die forporelle Studentenſchaft auf die vier landsmannfchaftlicden Verbindungen Livonia, Guronia, Eftonta, Fraternitas Rigenfis. Erft nad) ber Mitte des neunzehnten Jahr⸗ hunderts, al8 die auffeimende nationaliftifche Bewegung der Unterfchicht eine ftärlere Befinnung des Deutichtums auf feine nationale nnd foziale Geſchloſſenheit zur Folge batte, fonnten Gründungen wie die Neobaltia den baltiſchen Gemeinfinn ins Licht rüden. Aber auch innerhalb der einzelnen Landichaften bot der zeitweife ſchroff zutagetretende Gegenſatz zwifchen Adel und Bürgertum Anlaß

Als bezeihnendes Kuriofum führe ih eine Stelle an, die aus einem älteren Koch⸗ und Hausbuch des Landes überliefert wird: Wenn plöglih Gäfte kommen und es tft nichts im Haufe, dann gebe die Hausfrau in die Schafferei (Handlammer) und ſchneide Talten Kalbebraten auf.

Der Einfluß der Korporationen erfiredie fi früher auf die gefamte beutfche Studentenfhaft. Alle deutihen Kommilitonen dugten fi) untereinander und zwar oft noch ihr ganzes ferneres Leben.

Die Krifis des deutfchbaltifhen Menſchen 9878

zu mancherlei Mißhelligleiten. Das alademiſch gebildete Bürgertum, der „Literatenftand“, kam zwar urfprüngli in der großen Gilde der Stäbte zu angemefjener Geltung, war aber dem Adel gegenüber in feiner Einflußiphäre doch Thon ſtark benachteiligt, infofern er auf dem die Geſchicke der Landſchaft leitenden Landtag nur eine indirelte Vertretung fand, die noch dazu fpäter in Wegfall kam (außer für Riga). Auch artete adliger Standesgeift nicht felten in Standesdünkel aus und führte fo zu gegenfeitiger Erbitterung. Trotz alledem muß aber feftgeftellt und aufs fchärfile betont werben, daß gerade das baltifche Bürger⸗ und Literatentum der Gefchichte einen befonderen Dank fchuldet, Die ihm bier einmal den lebendigen Anteil am edelmänniſchen Pathos in feltener Weife vergönnt bat. Denn alles im allem fiel eben doch auch die Haltung diefer in der neuzeitlich-Liberalen Lebensordnung der Gefahr der Verproletarifierung befonders ausgefegten Gruppe innerhalb der Schichtung, die das baltiiche Leben beitimmte, durchaus auf die Seite des Herrenftandes. Mit einer gewiſſen Härte ftanden fih eben, wie in einem Soloniftenlande natürlih, Ariftofratie und Plebs gegenüber. Der Mittelftand fonft leicht eine Entipannung der foztalen Gegenſätzlichkeit herbeiführend wirkte bier, ſoweit er überhaupt vorhanden war, vielmehr als Iſolierſchicht. Die Mifhung unterbliedb. So nahm der baltiſche Charalter nicht wie etwa der oftpreußifche die biftorifch gewiß Außerft frudtbare Richtung auf eine wohldisziplinierte Untertänigfeit, wie fie Preußen groß gemacht hat, fondern nährte die Herrentugenden des unabhängigen Stolzes”), der leiht in Hochmut ausartet, der feigneuralen Läſſigleit in wirtfchaftlichen Dingen, des nicht immer gezügelten wilden Draufgängertums, zugleich aber der ariftofratifch gehaltenen Lebensform, die auf Neferve, Takt und Diskretion, zumal aber auf unbebingte perfönliche Zuverläffigfeit und Anſtändigleit der Sefinnung das denkbar größte Gewicht legt. Es verdient in diefem Zufammenhang Erwähnung, daß von der Univerfität Dorpat ber ſchon feit der Mitte des vorigen Jahrhunderts ſich eine Regelung der Chrenftreitigfeiten in der: ganzen Geſellſchaft des Landes durchgeſetzt hat, die auch dem grundfählicden Gegner des Zweilampfes eine volllommen befriedigende Genugtuung Durch ehrengerichtlichen Schiedsſpruch ſichert.

Wenn auch die Tatſache keineswegs verſchleiert werden ſoll, daß die ganze Verfaffung des Landes, ſoweit fie nicht von außen aufgenötigt war, auf dem Prinzip der Schichtung aufbaute, derzufolge die deutſche Geburts⸗ und Bildungs ariftofratie die im mefentlichen bäuerliche Iandesbürtige Plebs, die ihr zahlen- mäßig um das Bielfache überlegen war, volllommen beberrichte, fo wäre es doch ganz verfehlt, diefe Herrihaft als befonders ausgeprägte Tyrannei anzu- jehen, wie es die junglettifche Intelligenz mit begreiflicher Tendenz darzuftellen

*) Seinen intelleftuellen Ausdrud hat diefer deutiche Stolz des baltiihen Menſchen in der pradtvoll männlichen „Livländiihen Antwort an Herrn Yuri Samarin” (Leipzig 1869) gefunden, in der ein panflawiftifhes Pamphlet durch den Dorpater Hiftoriter Earl Schirren eine vernichtende Abfertigung erfährt.

874 Die Krifis des deutfchbaltifchen Menſchen

liebt”). Selbftverftändlich hat es, wie zum Beifpiel zur Zeit des niedergebenden Drdenslebens, an Bebrüdungen der Bauern fo wenig gefehlt, wie fonft im Deutſchland. Dagegen hat im DVergleih zum übrigen Rußland das baltiiche Deutihtum dem unterworfenen Boll eine ganz wejentlich beffere Bildung und Ziviliſation vermittelt. Auf eigene Snitiative bat fogar der Adel gegen den Widerftand der Regierung die Aufhebung der Leibeigenihaft vierzig Jahre früher als im Innern des Neiches durchgeſetzt. Yerner ſchlug er Ende der achtziger Jahre der Regierung vergeblich Reformen vor, die. eine ftärkere Be- teiligung des Bauernftandes in den unteren Organen ber Selbftverwaltung bezweckten. Der ftändifche Verwaltungsapparat war noch nicht ſoweit verhärtet, daß er den veränderten Zeitumftänden nicht in gewiſſem Ausmaß fich hätte anpafien können. Freilich fanden diefe Fortbilbungsbeftrebungen ihre Grenze an dem unverrüdbaren Grundfage, daß dem Land fein kulturelles Deutichtum erhalten bleiben müſſe. Demgegenüber fuchte die rufflihe Regierung ein böbniiches Vergnügen darin, durch Einführung nivellierender Reformen etwa in den Stadtverwaltungen mit Hilfe des Majoritätsprinzips der politiih und wirtſchaftlich unreifen Unterſchicht das Übergewicht, ja an manchen Drten wie der alten SHanfeftadt Reval die volle Herrſchaft in die Hand zu fpielen. |

Die nähere Darlegung der ſtändiſchen Verfaſſung des baltifchen Landes, feiner reditlihen und Tommunalen Berhältniffe vor der „tatarifden Invafton“ dieſen launigen Ausdrud prägte ein ruſſiſcher Kultusminifter anf bie Auffifizierung der achtziger Jahre! muß ich mir hier verfagen. Ich möchte diefen Abſchnitt mit dem Verſuch fchließen, die vitalen Grundlagen dieſer fulturellen Ausformungen, die in einigen bezeichnenden Richtungen veranfhaulicht wurden, nun als tragende Stüße der baltiſchen Geiftigleit aufzuzeigen. Es war ſchon von dem eigentümlichen Verhältnis die Rede, in das die Elemente der ausgeiprocden hiſtoriſch gefärbten Bildung des baltifhen Menſchen feinem Gemeinſchaftsleben gegenüber gerüdt waren. Dan könnte von einer volunta- riſtiſchen Gerichtetheit aller Bildungsbeftrebungen ſprechen; aber man müßte dann doch noch die Einſchränkung Hinzufügen, daß die Richtung auf das Edle nit in fentimentalem, fondern einem viel Lörnigeren Sinne alle Päda⸗ gogil, aber auch alle perjönlide Wertihägung und foziale Anerlennung beftimmte. Das ſtrupellos Durchſetzeriſche des pfiffigen Berftandes, das im modernen Europa fo breiten Einfluß gewonnen hat, fand bier weber öffentliche noch geheime Biligung. Die Nushaftigleit beherrſchte noch nicht das Leben,

°) Ein beſonders ſchamloſes Pamphlet biefer Art, einen geradezu mit hiſtoriſchen Ent⸗ ſtellungen wirtenden Brief eines Jungletten, hat fi Herr Romain Rolland bemüßigt gefehen, im Journal de Gentve (12. Oftober 1914) mit anertennendem Begleitſchreiben zu veroͤffent⸗ Uchen. Es ift ein eigenartiges Schaufpiel, den Vertreter der alten ftolzen franzöſiſchen Nation einen Tleinen reffentimenterfüllten Leiten als Kronzeugen in ihrer welthiftoriichen Auseinanber- fegung mit dem Deutſchtum Beranfchleppen zu fehen.

Die Nrifis des dentfhbaltifhen Menden 375

no war e8 jo reid) und treibender Kräfte fo übervoll, daß es fich verſchwenden konnte. Wieviel geiftige Yäbiglelt, wieviel Willenskraft hat im baltiichen Land einen unendli viel engeren Wirkungskreis geſucht und gefunden, als fie Hätte ausfüllen können! Auch darin lag noble Verſchwendung, fo gut wie im wöften Schuldenmaden und im vitalen Raubbau alloholifher und andere Ausihweifungen im ſtudentiſchen Leben Dorpats. Indem fo nicht felten ber Wille zur weitreihenden Macht und zur Werkſchöpfung refignierte, der bie fähigften Kräfte dem engen heimiſchen Lande entzogen hätte, wurde eben das moͤglich, was ber Fremde als die gebiegene Größe des baltifchen Lebens empfand. Ein reich begabter deutſcher Stamm begnügte fi, einem eng umgrenzten Bezirk das Gepräge feines Geiftes aufzudrücken. Statt ins Weite und Weiteſte zu ſchweifen, baute er mit ftiller Liebe, mit forglicder Hand das Nächſte bis ing einzelne aus. Der im welthiſtoriſchen Betracht Heine Zwed wurde nicht als zu geringfügig angefehen, die ganze Kraft des Kopfes und bes Herzens an ihn zu wenden.‘) Zudem wuchs ertdurd) die Berantwortung, die das Vertrauen des Mutterlandes dem Borpoften feiner Kultur anf die Schultern legt. Ebenſo verpflichtete der Adel, der dem undeutfchen Volk 'gegenüber in jeder Gefte, in jeder Handlung das fiberlegene Herrentum zu bewähren hatte.

Wenn aber der engumgrenzte Wirkungskreis die Dichtigleit fozufagen der Kraftentfaltung vermehrte, jo war doch auch wieder durch die Geſchichte bes Landes dafür geforgt, daß der Kraft eine größere Weite der Möglichkeiten, ein Seringeres an Schranken und Bindungen zuteil wurde, als es im Mutterland möglid war und mögli if. So entftehen ja Kolonien, daß eingeprehte Fühigleiten aus der Enge ins Weite ftreben. Aber auch als das Land auf- hörte deutſche Mark zu fein und ſchließlich zu einer ruffifhen Provinz wurde, gewöhrleiftete ber Anſchluß an das Rei der „breiten Naturen“ doch immer noch einen unbekhräntteren, einen bemmungsfreieren Boden für junge Kräfte, Die fi austoben müflen, als das durch ‚feine Zufammendrängung auf eine übermäßige Betonung des Drdnungsprinzips bingeftoßene weitlihe Europa. Wo gibt e8 bei uns folde Jagden in unermeßlichen Wäldern, diefe Schlitten. fabrten oder Ausritte in polizeiwidrigftem Qempo, dieſe unbeforgte Läffigkeit in Zeit und Raum? Wir haben einen Platz, wir haben entfehliche Eile allefamt! Wir find zur Sparfamleit, diefer Tugend des Meinen Mannes, verurteilt. Das empfindet der Balte, der nach Deutichland kommt, auch heute noch wie einen Drud auf der Bruft. Er fühlt, wie bier bei uns die Inſtinkte zurüdgedrängt, die Grpanfivität verftaut und verquält, der Werkwille an Spesielle8 und Speziellftes verloren if. Darum hängt er jo an feiner Heimat, weil dort dem Bollmenichentum, das das Vitale, meinetwegen das Animalifche im Menſchen noch nicht den entwurzelten Zweden bat zum Opfer bringen möäffen, ein breiteree Raum gegönnt if. Es ift etwas von der ewigen Jugend Des Dftens im baltifhden Land: das trennt es von dem neuen Deutfchen Heid), das bilder ein geheimes Band mit dem weiten Rußland.

876 Die Krifis des deutfchbaltifhen Menſchen

1. Die Krifis

Alles Koloniſtenſchickſal drängt von innen ber auf eine Arifis hin. In feiner Tiefe iſt fein Herrentum lebten Endes Lehrherrentum. Aus bieler Sendung fommt ihm bie ideale Würde. Dann aber muß mit großer biftorifcher Notwendigkeit der Augenblid eintreten, wo der Schüler zur Mündigkeit heran- reift und fi gegen die Bevormundung auflehnt. Dem Schichtungsprinzip ftemmt fi der Gleichheitsgedanfe entgegen. Und was das Wejentlidhe ift: das Herrentum felber muß fi) in fich felbft entzweien. Die aufbegehrenden Forderungen der NRiedergebaltenen müfjen es einerfeitS in das Ertrem eines verhärteten Konfervativismus treiben, anderfeits ihm bie Einſicht in das abitralte Recht des gegnerifchen StandpunftS aufnötigen. So gerät es in Zwieſpalt mit fi felbft. Sein Verftand rebelliert gegen die ererbten Inſtinkte. Gin Tontretes Gefühl des eigenen Selbitbehauptungsredhts ſtößt auf Widerftände von jeiten abftrafter BilligleitSermägungen. Die Reſignation fällt unendlih ſchwer. Soweit die abftrafte Formel diefes Prozeſſes. Auf die tatſächlichen baltifchen Berhältniffe angewandt, Läuft der Vorgang mit der fortfchreitenden Liberalifterung in den nationalen Einheitsftaaten Weftenropas überein. Aber was ſich dort vollzieht, ift doch nur eine durch das Majoritätsprinzip berbeigeführte Um- Yagerung in der Rangorbnung der Stände und ihrem politifden Einfluß. Die Kontinuität der ererbten nationalen Kultur ift nicht gefährdet, jondern aus dem Aufftieg unverbrauchter, national gleichartiger Kräfte erwachſen ihr Verjüngungs- Doffnungen und neue reihe Möglichkeiten, in denen kein letzter Verrat an den Wurzeln des Überlommenen zu befürchten if. Im baltifhen Land dagegen verlangt der neuzeitlihe Gedanke, daß die Oberſchicht, die dem Land feine ganze bisherige Kultur gegeben, freilich aber ihm feine urfprüngliden Sprachen gelafien Hat, nunmehr abtrete und den Heinen emporlömmlingshaften Natiönchen den Pla räume um desmillen, daß fie ihnen zahlenmäßig weit unterlegen it. Der Verzicht auf ftändifche Vorrechte wächſt fi zu nationaler Selbftaufgabe aus. Dreifte Ideologien wagen ſich bei den Einheimiſchen hervor, wonach bie Herren ihnen das Land „geitohlen“ haben, welches es nun wiederzugemwinnen gilt. Und der Ruffe gar wird als Erlöfer vom unerträglicdden junferifchen Druck bingeftelt, da er in durdficätiger Berechnung durch einſtweilige Bevorzugung der Unterfhicht das gefährlichere, weil in Zulturellem Betracht allein wejenhafte Deutfchtum zunächſt zu befeitigen fucht, um dann nachher mit den Heinen Nationen leichtes Spiel zu haben.

Dies alfo ift die Krifis. Und niemand wird den beutigen baltifchen Menſchen verftehen Tönnen, der nicht die klare Einfiht in diefen Zwieſpalt gewinnt. In ihm find die Schroffheiten, der Dünkel auch begründet, der in Deutichland vielfach zurüditoßend wirkt. Unter der Dorpater Studentenſchaft der lebten Jahre fcheint die nationale Exrflufivität der Deutſchen eher zu- als abgenommen zu haben. Der Stolz einer herrenhaft behaupteten eigenwüchfigen Kultur rennt wider Hinderniffe, deren Wefenbaftigkeit er fühlt. Und er ver-

Die Krifis des deutfchbaltifhen Menſchen 877

bärtet fih in diefem Damiderrennen. Denn die ganze Geſchichte des Baltentums, die es zu einer Zulturellen Überbauung der bloß junferifch-fendalen Bital- inftinktte zwang, hat es ihm unmöglid gemacht, an den tbeellen Mächten der mobdernften Welt des Weftens nun völlig vorbeizufehen, zumal es an deren Entwidlung bis zur beginnenden politifchen Konfolidierung des Deutſchtums vollen Anteil nahm. Gewiß bildete in der Auseinanderfegung mit biefen weftlichen been, denen fi die ruſſiſche Intelligenz würdelos in die Arme warf, der ererbte Traditionalismus, die Stübe deutſchbaltiſcher Selbftbehauptung, ein ftärleres Gegengewicht, als e8 bei den vielfach bourgeoishaft-refjentiment-

bedingten Trägern diefer Ideen im Welten, zumal in Frankreich der Yall war.

Aber der geiftige Einſtrom febte nie aus. Baltifche Studenten ftubieren nad) wie vor in großer Zahl an deutichen Hochſchulen, wie überhaupt der Balte faft jeden Sommer ins „Ausland“ reift, baltiide Profefjoren nehmen am geſamtdeutſchen Geiftesleben teil und werben in ihrer Heimat bewundert, aber aud) gelefen”). So find die reichsdeutſchen Streitigleiten der letzten Jahre um das Apoftolitum, der Yal Jatho und alle die andern Anzeichen einer Krifis des deutſchen Proteitantismus auch im Baltenland beachtet, eifrig, ja beftig diskutiert worden und haben eine Spaltung in bie Theologenſchaft hinein- getragen. Das literarifche Leben des Landes nimmt an allen Bewegungen Deutihlands Anteil. Bemerkenswert ift die Hinneigung junger baltifcher Dichter zu Stefan George. Es wäre nicht vermunderlih, wenn deſſen Doltrin den gegenwartSabgewandten Snftinkten, die im modernen Baltentum Ichlummern, fih als verlodende Stübe anböte. Wenn jo von der Theorie, vom Geiſt ber die neue Zeit ind Land dringt, fo kann fih die foziale Braris unmöglich deſſen Konfequenzen entziehen. Es Tann bier nur angedeutet werden, welchen Einfluß dabei die ökonomiſche Ummandlung der Verhältnifie ausübt. Die erftaunlidde Billigleit der gefamten Lebensbebingungen, die fih noch bis vor etwa fünfzehn Jahren bielt, ift in reißendem Schwinden begriffen. Der unjelige moderne Komfort dringt dur) Vermittlung der größeren Städte ins Land ein. Die noble SKampflofigleit der fozialen Konkurrenz hört auf. Das mag die los⸗ gelöfte Leiftung fteigern, die Perfon leidet dabei Schaden. Die Induſtrie bringt fi) zu immer ftärlerer Geltung und befördert die Verproletarifierung der bisher weſentlich bäuerlichen Unterfchicht, die durch Vermittlung der unter ruffifchem Einfluß vermwilderten Volksſchullehrerſchaft mit den ſozialdemokratiſchen Theorien des Weſtens verjeucht wird. Zumal wird ber bemofratifierende Bettelftolz großgegogen und vergiftet die lebten Nefte patriarchaliicher Beziehungen auch auf dem Lande, die natürlich ſchon durch die Revolution aufs ſchwerſte gelitten haben. Der Tapitaliftiide Geift Hält unter den fchnell emporgelommenen Sungletten und Jungeſten feinen Einzug. Während die wirtfchaftlihen Grün⸗ dungen der erfteren vielfach ſchwindelhaft emporgetrieben werden, um bald

*) Dem deutſchen Buchhandel find die Oſtſeeprobinzen als guter Abſatzmarkt wohl belannt.

878 Die Uriſis des deutfchbaltifhen Menſchen

zufammenzuftürzen, fcheint unter den Eften ein ſoliderer Gefchäftsgeift zu herrſchen. Die MäpigleitSbewegung macht unter ihnen wie unter den ihnen nahe verwandten Finnen gute Fortfchritte, während unter den deutſchen Studenten Dorpats der herkömmliche Alkoholismus wie auch das Echuldenweien beträdtlih im Schwange find. So kann es leicht fommen, daß bier bei uns dem neuzeitlich- gerechten, abwägenden Sinn, dem bie bürgerlich⸗liberalen Mapftäbe in Fleifch und Blut Äbergegangen find, die wader aufftrebende, rührige, die Hilfsmittel bes pfilfigen Berftandes gefchidt brauchende Unterſchicht weiensverwandter und- ſympathiſcher eriheint als das „rhdftändige”, orthodor-ariftofratifehe Deutichtum, das noch die Perſon über die abftralte Leiftung, die Kraft über die Branheit, bie breite LZäffigfeit über die peinlihe Ordnung zu ftellen geneigt tft.

Es wäre gewiß fehr unglücklich, die zivilifatorifhe und organiſatoriſche Reiftungsfähigleit unferes Baterlandes in dieſem Augenblid anzuflagen, wo wir ihr jo berrlihe Erfolge zu danken haben, wo auch wir Zweifler ihren großen Sinn fo leibhaft fehen. Immerhin mag gerade jebt in den Tagen des fiegbaften artftofratiiden Militarismus der unentwegte Glaube an bie alleinfeligmachende Kraft von majoritätsausfchlachtenden und ſtändiſche Stufung zerrüttenden Inſtitutionen bei manchem ins Wanken gelommen fein. Den romantifchen gegenwartSverärgerten Ablehnern alles „Fortichritts” Kat freilich die hiſtoriſche Stunde in gleicher Weile die Betätigung verſagt. Dennoch aber wird nad) bem Krieg eine breitere Gemeinde kulturſchöpferiſcher Geiſter nach politifchen Möglichkeiten ſuchen, die eine Bindung bes fchweifenden zivtlifatorifchen Fort ſchritts in übergreifenden politifch-fulturell-nattionalen Zweckſetzungen verbürgen, die ber Überrennung bes Edlen durch das Gefcheite innerhalb der fozialen Sphäre entgegenwirken. Bielleiht daß mancher unter ihnen doch etwas wie eine Wahlverwandiſchaft mit dem empfinden wird, was id) als das urtümlide deutſchbaltiſche Pathos dem Leſer nahezubringen ſuchte. Um ihre Anteilnahme: an ben Röten und Wirren bes baltifhen Geiſtes war ich bemüht. Noch einmal: das baltiſche Geſchick wirb nicht ans den Intereſſen dieſes Hänfleins deutſcher Menſchen fit enticheiden. Sollten die makropolitiſchen Tendenzen der Geſchichte es fügen, daß die alte Ordensmark wieder deutſch würde, dann erft wird fi} die Aufgabe öffnen, den durch die ruffiiche Brutalität abgebroddenen Traditionen der deutfchen Eelbftverwaltung ein organifches Hinein- wachſen in die Forderungen ber neueften Zeit zu ermöglichen. Der jentimentalem Anficht, daß e8 die Heilige Aufgabe Deutſchlands ſei, Die Überheblichleiten von fremd» ſprachigen Miniaturnationen großguziehen, Tann ich mich nicht anſchließen. Bielmehr müßte darauf gefonnen werben, wie bem Land der Eharalter der Kolonie zu erhalten wäre, die manchem in unferen fefteren Drbnungen Unzeitgemäßen und Unorts⸗ gemäßen weiterhin fruchtbare Betätigung ermöglichte, freilich unter Einfügung in die dort herausgebildeten Traditionen, die dem Fremden fi) niemals ſpröde verſchloſſen haben. Alle diefe Dinge zur Erörterung zu ftellen, wäre heute verfrũht.

Die Krifis des deutfchbaltifchen Menſchen 379

Denn vielleiht fommt es anders. Vielleicht bleibt die ruffiiche Knute im Sande berrfhend. Dann ift es für alle Zeiten dem deutſchen Geifte verloren. Es ift fein Zweifel, daß drakoniſche Ruffifizierungsmaßnahmen nad) dem Kriege einjegen würden. Durch Vermittlung der ruffiiden Staatlichleit würde dann die ruſſiſche Kultur in nicht zu langer Zeit den Steg im Lande des Deutichen Ordens davontragen. Hat erit einmal das verrußte Schulmefen die Doppel- ſprachigkeit zum Sieg gebradit, iſt aus allen offiziellen Einrichtungen des Baltenlande8 das Deutfche entfernt, wird durch Hin- und Herverſetzen der Beamten der Ausgleih der Bevölkerung beichleunigt, dann wirb das Deutjchtum des Landes, ebenfo wie das Letten- und Eftentum in nicht zu langer Zeit der Vergangenheit angehören. Alle Tataftrophalen Erſchütterungen der lebten Jahre lönnen dann nur als Segnungen gebeutet werden. Wo Euthanafie das einzige ft, mas zu wünfchen bleibt, da ift alles zu begrüßen, was ein langſames Hinſiechen verbiütet.

Kommt es fo, dann find wir Zeugen des Endes des baltiſchen Menſchen. Dies ift freilih gewiß: in jedem Fall muß die Krifis zu einem fo radilalen Umſchwung führen, daß das, was man in hundert Jahren Balten nennen mag, mit dem alten ſcheinbar kaum mehr als den Namen gemeinfam haben wird. Unſerem Altbaltentum ift nicht zu helfen. So wenig wie dem mittelalterlichen Semeinichaftsgeift zu helfen war, als der neuen Zeit voraneilend die runden Bögen ſich zu brechen begannen und die ungeheure Dynamik ber Strebe- pfeiler den Gläubigen unmittelbar zur Höhe hinanriß, fo wenig der NRofolo- sterlichleit der franzöfiſchen Seigneurs zu helfen war, als der dritte Stand die Baftille ftürmte. Und troß alledem: wenn die Geſchichte e8 wollte, daß der alte deutſche Boden wieder deutſch, die verfprengte Schar in die Mannſchaft des neuen Reiches eingegliedert würde, bei aller grundftürzgenden Umwandlung würde doch noch jene unfaßliche Kontinuität des gemeinfamen Blutes das neue Baltilum mit dem alten verbinden. Die Krifis Tönnte zu einer Verjüngung, zu einer Entwidlung führen, die vorauszuberechnen vermeflen wäre, die nur unfere Ahnung, unjer Glaube vorgreifend abtaftet.

Das baltiide Geſchick Itegt, wie fchon fo oft, in den Händen der großen hiſtoriſchen Mächte. Wir müflen warten und ums ihrem Spruch fügen.

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Charafterbild eines altrömifchen Seldarztes

Don Dr. Wilhelm Shonad

Waſſer, zu ebener Erde und hoch in den Lüften lenkt durch die zahlreichen, ſchmerzlichen Verlufte, die es von Tag zu Zag fordert

re und ftetS erneut fordern wird, unfere Aufmerkſamkeit auf die Tätigkeit des Arztes im Felde. Das Wort Homers von dem „Danne, gleich viel wert als viele andere“, ein Hinweis auf Machaon, der mit dem greifen Neftor zugleich den Streitwagen bejteigt und fo einer befonderen Auszeihnung teilhaftig wird, gilt in feiner Zeit fo viel wie gerade in unjeren Tagen. Kommt es doch jetzt nicht nur darauf an, die Erkrankten und Berwundeten forgfam zu unterjuchen, ihre Leiden und Berlegungen verftändnisvoll zu be- handeln und, wenn irgend möglich, zu heilen. Groß find vor allem bie Auf- gaben, die zugleich mit denen der Diagnoftil, Pathologie und Therapie an bie Charaktereigenfchaften der Ärzte geftellt werden; hängt doch von ihrer gefamten Berufsauffafiung und ihrer feeliichen Beſchaffenheit fehr viel ab, ob der Kranke genefen wird oder nicht. Nicht nur mebdiziniiche Fachleute, jondern noch in höherem Grade echt menſchlich empfindende Berfönlichleiten werden bier gefordert, gewiß, Männer mit bewußtem Willen und fefter Hand, aber zugleich befeelt von warmem und weichem Empfinden, furz Leute, für die der ärztliche Beruf nit nur praltiide Bedeutung, ſondern ethiſchen Wert bat.

An folden mangelt e8 uns auch durchaus nicht. Sie haben in der Geſchichte des beilenden Standes nie gefehlt, auch nicht in den früheiten Zeiten, fo auch nit im Haffiihen Altertum. Kann ung unfer Wiffen von der Antike auch nicht helfen, den Steg zu erringen, fo ermöglicht es uns Doch wenigitens, Ärzte in ihr aufzuzeigen, deren idealer Charakter allen Lobes wert ift, und die mithin auch ihren heutigen Standesgenofien ein Vorbild fein können. Zu diefen als Arzt wie als Menſch gleich vortrefflihden Männern gehört Scribonius Largus, der zur Zeit des Kaiſers Claudius (41—54 n. Chr.) als Hofarzt in Rom und vorher als Militärarzt im Felde tätig war. Die Anſchauungen diejes Mannes, defien faft ganz in Dunkel gehülltes Leben durch die wenigen vorhandenen

Charakterbild eines altrömifchen Feldarztes 881

Zeugniffe nur fpärlich erhellt wird, finden fi inmitten feiner „Nezepte” (Compositiones), der erften größeren derartigen Sammlung aus bem alten Rom. Diefes nicht nur für die Geſchichte der Medizin oder die Realienjchrift- ftelleret innerhalb der römiſchen Literatur, fondern aud für die Vollsfunde und die allgemeine Kulturgefchichte recht bedeutfame Werk ift außergewöhnlich lange ganz ungebührlih vernadjläffigt worden, wie ſchon daraus bervorgeßt, daß es bis auf unfere Tage troß der fo außerordentlich großen Zahl von Überfegungen aus den beiden alten Sprachen in feine einzige moderne Kultur⸗ ſprache übertragen worden war. Die erfte vollftändige Verdeutſchung, ſamt Einleitung und ausführlidem Arznetmittelregiiter, tft von dem Verfaſſer dieſes Aufſatzes ausgegangen (Jena: Guftav Fiſcher, 1918); ihr entftammen die Auszüge, die in den folgenden Betrachtungen mitgeteilt werden.

Auf den Inhalt oder die Form der eigentlichen Rezepte näher einzugeben, erübrigt fi für den beabfichtigten Zweck. Genug, daß die Genauigleit ber Dofterung, die forgfältige Zufammenfegung aller für ein Heilmittel in Betracht fommenden Beitandteile und die fundigen Angaben zur Bereitung von Salben und Pflaftern den gewiegten Praltiler verraten, den viele Erfahrungen bei leicht Angegriffenen und ſchwer Dantederliegenden, bei akuten und chroniſchen Leiden, bei Vergiftungen und Körperſchäden zu einem der gejuchteiten Mediziner des Taiferlichen Rom hatten werden laffen. Wichtiger ift es für uns, Einblid in feine ärztliche Ethik zu gewinnen, die Pflichtenlehre, von der er ausging, die Deontologie, von der er ſich leiten ließ, Tennen zu lernen. Neben einzelnen, in die Rezepte eingeftreuten Bemerkungen bietet uns bierfür die Vorrede das beſte Material.

Wenn wir bei ihm lefen, die Heillunde ſei „die Wiſſenſchaft vom Heilen, nit vom Schaden“, fo fol das kein Scherz fein. Denn abgefehen davon, daß bier vielleicht die Erinnerung an ein Wort des Hippofrates nachklingt, defien Schriften ſchon früh Tanonifche Geltung gewannen, man babe bei Krankheiten zweierlei zu beobachten, „nüben oder wenigſtens nicht ſchaden“ (Eptvem. 9. c. 11), fo liegt darin doch wohl für die Berufsgenoffen bie Mahnung zur Vorfiht und die Empfehlung, nicht vorfchnell zu verorbnen. Hält er es doch „für etwas Großes und über die menfchlihde Natur Hinaus- gehendes, daß jemand die eigene Geſundheit oder bie eines jeden fchüben oder wiederberftellen fönne“. Womit aber fol der Arzt diefen Erfolg erzielen? Richt mit Schneiden und Brennen, wozu man nur in höchfter Not fchreiten darf, fondern mit Arzneien, von deren Wichtigfeit für die gefamte Medizin er feit überzeugt it. „Was die Berührung eines Gottes zu bewirken vermag, das Ieiften geradezu die Arzneien.“ CS ift leicht einzufehen, daß diefes Bertrauen des Scribonius auf die Heilkraft der aus den verfchiedeniten Zutaten beftehenden Medilamente zwar durch Kenntnis erprobter, von früheren und zeitgenöffiihen Kollegen ftammenden Heilmittel, ja fogar von Volke⸗- und Zaubermitteln entftehen, aber dennoch kaum zu folder Höhe ſich entwideln

382 Charafterbild eines altrömifchen Seldarztes

tonnte, daß er ihnen göttliche, alfo übermenſchliche Wirkung zuerlennen mußte. Jene Äußerung erflärt fi eher aus der dem Südländer eigentämlichen Hinneigung zu übertreibender Nedemweife, die fih ja in der lateiniichen Sprache in den vielen Superlativen fundtut, wo wir mit dem Poſitiv zufrieden find; ihre tiefere Wurzel aber hat fie meines Erachtens in dem hohen Selbitgefühl, das er von feiner Fähigkeit, wirkſame Heilmittel herzuftellen, beſaß. Er bat nit nur viele fremde durch befonderes Gewicht oder andersartige Mifchung zu eigenen gejtaltet, er verfihert jogar gegen Ende der Sammlung an bejonders auffallender Stelle, nämlich im legten Kapitel, nachdrücklich, er babe „die meiften diejer Rezepte ſelbſt zufammengefegt und kenne ihre Wirkung bei den angegebenen Leiden“.

Schon aus dieſer tüchtigen Beherrſchung der vom Altertum bis zum Aus- gange des Mittelalter und noch darüber hinaus eine wefentliche Sonder- disziplin der Medizin bildenden Pharmakologie, ohne deren Kenntnis ein damaliger Arzt, weil auf felbftändige Bereitung der Arzneien angemwiefen, hilflos geweſen wäre, ergibt fi, wie ernjt er es als junger Anfänger oder „Arztlehrling” mit ihrer Aneignung genommen haben muß. Er bat ficher bei den nambaften Mebizinern, deren praltiicher Unterweifung er fi) anvertraut hatte, über die den pflanzlichen, tieriſchen und mineraliſchen Beftandtellen der Arzneien innemwohnenden Kräfte Unterſuchungen angeftelt und ſchon früh an Patienten ihre weitere Wirkung erforſcht. Seiner Meinung nad) liegt dies nur dem geſchulten Fachmann ob, nit dem „ganz verfluchten Duadfalber”, wie er fih an einem sürxte deutlich genug ausdrüdt, ein Ausruf, der uns zugleich die Gemwißheit gibt, daß das Kurpfuſchertum wentigftens in den Großftädten ſchon dazumal in Blüte ftand. Mit feiner Grundanfhauung, daß der Arzt alles kennen und lönnen müſſe, wefien er bei Ausübung der Praxis bedarf, hängt auch feine Warnung vor der Hingabe an das Spezialiftentum zufammen, wofür die folgenden Worte Harakteriftiich find: „Wir haben von Anfang an dem rechten Weg eingefchlagen und nichts für wichtiger gehalten, als das Begreifen der gefamten Wiſſenſchaft, foweit e8 dem Menſchen ermöglicht ift, weil wir daraus alle Vorteile zu erreihen glaubten“. Um aber bei dem Ausdruck „Vorteile“ Teinen Miß—⸗ verftändnifien ausgeſetzt zu fein, fügt er glei darauf Hinzu: „wobei wir uns, bei Gott, nicht durch Geldgier oder Ruhmſucht, als vielmehr durch das Wiſſen von der Kunft felbit leiten ließen.” Scribonius, der bier fo energifch den Gedanken an diefe unedlen Beweggründe ablehnt, von denen der zuerft genannte nod) heutigen Zages in dem mittelalterlihden Versanfange „dat Galenus opes“ weiterlebt, ift ganz und gar von der Überzeugung durchdrungen, daß die Medizin ein einziges, unteilbares Fach fei, eine Meinung, die ſchon damals troß ihres im Verhältnis zur Gegenwart beſchränkten Umfanges keineswegs gang und gäbe war. Er Hat fie für einen befonderen Fall folgendermaßen formuliert: „Daß die Zeile der Medizin miteinander verflochten und fo verbunden find, daB fie auf feine Weile ohne Schaden für das ganze Fach getrennt werben

Charafterbild eines altrömifchen Seldarztes 383

Tonnen, erfiebt man daraus, daß weder die Chirurgie ohne die Diätetil noch diefe ohne die Chirurgie . . . fertig werden können, fondern daß bie eine von dieſer, die andere von jener unterftügt und gleihjam vervollftändigt wird.” Wem diefe Anfhauung in Fleiſch und Blut übergegangen war, bei dem ift der Zorn über ſolche Berufsgenoffen, die infolge falider Behandlung die Kranken „gleihfam hinmorden“, ebenfo verſtändlich wie der teils bedauernde, teils veraͤchtliche Hinweis auf denjenigen Arzt, der nur danach tradjtet, was er „ohne Anftrengung erreichen und mas ihm Icheinbar ebenfoviel Anjehen und Nutzen gewähren kann“, kurz bie wahrhaft ideale Auffafjung feiner Berufspflichten. Gemildert werben die zulest zitierten Zeilen durch des Autors eigene Hindeutung auf den Beitgeift, infolge defien „der Gute und der Schlechte für gleichwertig gehalten werden“ oder durch den ſicherlich auf Erfahrung beruhenden Einblid in den Leichtfinn, mit dem manche Patienten ſich blind- lings in bie Behandlung eines Arztes begeben, von deſſen Geſchicklichkeit und Fähigkeiten fie nichts Näheres willen, während doch „niemand fein Bild einem Künſtler zu malen anvertraut, der ſich nicht zuvor durch einige Proben bewährt bat”. 88 foll eben, wie biejer gefchidt gewählte Vergleich andenten will, aur fol ein Arzt herangezogen werden, der ſchon einige glüdlihe Kuren aufzuweifen und dadurch einen Namen gewonnen bat. Daß er damit nicht einem blinden Autoritätenglauben das Banner tragen will, gebt aus der energiſchen Abwehr hervor, die er fich nicht ſcheut, gegen bochberühmte, aber Hisweilen anders urteilende Vorgänger verlauten zu laffen: „Ich laſſe mid nicht dur eine Perfönlichkeit abſchrecken, wenn ich ſehe, daß die Sache fo offenbar von Ruben iſt“.

So beaditenswert für alle Zeiten auch die im vorhergehenden Abfchnitte mitgeteilten Gedanken des bedeutenden Mannes fein mögen, diejenigen Außerungen ftehen noch auß, die feinen Idealismus, die hohe Auffaffung von den Pflichten feines Berufes ins bellfte Licht ſetzen. Zuvörderſt verlangt er von jedem Arzte einen „rechtſchaffenen und unfträfliden Sinn“, wohl gegenüber den Geſetzen und dem Ärzteeide. Über die zumeift zu wünſchenden Eigenſchaften der Mediziner bat er fih kurz zuvor dahin ausgefproden, daß fie, „wenn ihnen nicht ein Herz voller Mitleid und Menfchenliebe ... . innewohnt, allen Göttern und Menſchen verhaßt fein müflen.“ Der göttlichen Strafe alfo wird von dem frommen Römer, für den die „waltende Macht der Gottheit” eine greifbare Weſenheit, fein blaſſer Schemen ift, für fein frevelhaftes Beginnen derjenige Arzt anbeimgegeben, der ohne Herz zu handeln pflegt. Was aber foll, fo fragt er, im Kriege geſchehen, wenn einem ein Zandesfeind in die Hände fält? Dad patriotiide Empfinden des „guten Soldaten und Bürgers“ gebietet, ihn zu verfolgen, die Obliegenheiten des Arztes dagegen verlangen eine ganz ent- gegengefehte Handlungsmweife: „Wer ſich auf den ärztlichen Eid verpflichtet hat, wird nicht einmal den Staatsfeinden eine ſchädliche Arznei reichen, weil bie Heiltunde die Menfhen nicht nad ihren Verhältniffen noch nad) ihrer

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Perſon einſchätzt, ſondern verſpricht, fie werde in gleicher Weiſe allen, die fie um Hilfe anfleben, beiftehen“. So überflüffig die laute Verkündigung dieſes Grundſatzes heute erfcheinen mag, wo jeder Kranfe, ob Freund oder Feind, dieſelbe forgfältige Behandlung und dieſelbe aufopfernde Pflege findet, für das Altertum, wo rüdfichtslofe Vernichtung auch des verlekten und kampf⸗ unfähigen Gegners erftes Geſetz war, befundet gerade diefer Sat das ſtarke Humanitätsgefühl des Scribonius, der bier wohl einer Erinnerung an eigene milttäriihe Erlebniſſe nachgibt.

Mit kriegeriſchem Auftalt hatten wir begonnen, mit friegeriihem Schluß- aflord wollen wir enden. Servorragende Eigenſchaften des Kopfes und des Herzens, eiferner Fleiß, gründliche praltiſche Durchbildung, ehrliche Begeiſterung für feine Wiſſenſchaft und feinen Beruf, ein warmes Mitgefühl und edle Sinnesart, alle diefe Tugenden fanden wir in dieſem Feldarzte, deifen Andenken felbft in den engeren Fachlreifen der Medizinhiftorifer und Altphilologen faft gänzlich erlofchen ift, in bemunderungsmwürdiger Fülle vereint. So beiteht fein Zweifel, baß feine Perfönlichlett auch den heutigen Standesgenofien als leuchtendes Bor- bild dienen kann. Der Feldzug des Jahres 48, auf dem er in militärifcher Stellung feinen Haiferliden Herrn begleitete, hatte als Ziel Britannien. Das Ergebnis des fon vor Ende 44 beendeten Streifzugeß, welches im weſentlichen dem römifhen Admiral Plautius verdankt wurde, war befriedigend genug; es glückte breierlei: die Zerfplitterung der keltiſchen Stämme, bie Blockade und Bejegung der Küſte, als Krönung des Erfolges fogar die Romanifierung bes Landes. Wer wollte bei der Erinnerung an dieſe gefchichtlihen Vorgänge, deren mittlere8 Endziel heute jeden vaterlandsliebenden Deutichen frohloden ließe, noch beftreiten, daß ſelbſt in unferer eifernen Zeit ein Rückblick auf bie verjunlene Welt des klaſſiſchen Altertums eine gewiſſe Genugtuung und ben aufrichtigen Wunſch gleichen Gelingens hervorzurufen imftande tft.

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ae er Muffe nennt ben gegenwärtigen Krieg ben zweiten vater- eV ländiichen Krieg, gibt ihm alfo eine ähnliche Bedeutung, wie fie

RR I der Krieg 1812 gegen Napoleon der erjte vaterländiiche

Pod Krieg für Rußland gehabt hat. Der Krieg ift in allen = Schichten der ruffifchen Gefellihaft populär oder war es wenigſtens bei feinem Ausbruche. Jeder Ruſſe fühlte, daß diefer gewaltigfte aller Kriege das ganze Land bis in feine tiefiten Tiefen berührte, daß fein Aufgang für den Staat die ſchwerwiegendſten Folgen haben muß, daß er unter Umftänden alle alten Ideale des Ruſſentums erfüllen kann. Aus dem Empfinden des ruffifhen Volles heraus ift daher die Bezeichnung „der zweite vaterländifche Krieg“ geboren.

Wir haben in wenigen Ländern vor dem Kriege größere Gegenjäbe zwiſchen Regierung und Volk gefehen, wie gerade in Rußland, wir ſahen Gefellichafts- Ihichten den ganzen Haß, deſſen fie fähig waren und der Ruſſe haßt temperamentvol gegen die Regierung fi wenden. Und nun auf einmal mit dem Beginn des gemwaltigen Ringens gegen den Deutſchen diefe ungeheure Wandlung. Das Volk tut fih zufammen genau wie bei ung radifale Abgeordnete halten es für eine Ehre in das Heer einzutreten, das Volf organifiert fi für die großen Aufgaben, die dem Land im Innern bevorftehen: für die Krankenpflege, die Unterftühung der zurüdgebliebenen Witwen und Samilien der Kriegsteilnehmer und die Hinterbliebenen der Gefallenen. Die tüchtigen Kräfte, die Rußland auf dem Gebiete der Semftmoverwaltung bat, fehen fich bier vor neue Aufgaben geftellt, paden fie energiſch an, und find froh, diesmal Arbeit tun zu können, die vom Willen des ganzen Volfes getragen ift. Seinerlei Kritit an den paar Leuten in der Regierung, an der Großfürftenclique, die den Krieg herbeigeführt hat, ertönt zunädft. Es gibt fogar Sozialdemokraten, die die Anficht ausfprechen: man müſſe zuerjt den Deutfchen ſchlagen und dann den Zaren befämpfen. Wir fehen den Zaren felbjt mit feiner Familie im ganzen Lande

Grenzboten II 1915 25

386 Die ruffifhe Gefellihaft und der gegenwärtige Krieg

umberreifen, die Provinzſtädte befuchen, frei wie feit langem fein Zar es gewagt batte, mit feinem Volfe verlehrend. In Moskau im Kreml, dem althiftorifchen Barenpalafte, nimmt er die Huldigungen der begeifterten Maſſen entgegen.

War e8 der Haß gegen einen hiſtoriſchen Erbfeind, der alle Diefe widerftrebenden Glieder zufammenjchmeißte? Man möchte e8 annehmen, wenn man bie ruffifchen Zeitungen lieft, in denen die Vernichtung alles Deutfchen im Lande, des deutfchen Koloniften, des deutſchen Gutsverwalters, des deutſchen Handwerkers und Werk⸗ meifters, des deutſchen Kaufmanns und Fabrikherrn immer wieder mit neuer Wucht verlangt wird. Man möchte e8 glauben, wenn man auf die Maßnahmen der ruſfiſchen Regierung zurüdblidt, die die deutichen Unternehmungen liquidiert, die deutichen Anſiedler von ihrer feit Katharina Zeiten angeftammten Scholle vertrieben hat, fie al3 Bettler nad) Sibirien und in die öſtlichen Gouvernements jagend, wenn man fieht, wie Rußland jet mit eiferner Yolgerichtigfeit daran geht, die deutſche Bevölkerung ber Dftfeeprovinzen ein für allemal ihres deutſchen Charakters zu entlleiden.

Ich leſe in einer ruffifchen Zeitfchrift in einem Mrtifel, der die bisherigen Beziehungen Deutfchlands zu Rußland behandelt, folgende Worte:

„Wir irren uns faum, wenn wir fagen, daß unfere Beziehungen zu den Deutfchen niemals bejonders gut gemwefen find und daß der gegenwärtige Krieg mit Deutfchland und Lfterreich der lange und ftändige Traum aller ruſſiſchen Geſellſchaftsſchichten geweſen tft, denn niemand hat Rußland foviel Böſes zugefügt, wie diefe beiden Reiche einzeln oder getrennt, deren anmaßende Untertanen überall im Antlit der ruffiihen Erde fich breit madten. Es gab einmal eine Zeit, wo die teutonifhen Sprößlinge bei uns für irgendwelche Übermenfhen gehalten wurden, die ſich einer Ausnahmeftelung erfreuten, unter dem befonderen Schuge der Negierung ftanden . . . ja im Boll hatte ſich die Überzeugung feftgefegt: ‚Der Deutfche Tann alles.“ Sehr draftifh hat dieſe Lage der belannte kaukaſiſche Held A. P. Jermolow in feiner Unterhaltung mit dem Raifer Nikolaus dem Erſten gelennzeichnet, der ihn für feine militärifche Verdienfte belohnen wollte und von Jermolow die Antwort erhielt: Majeftät, bitte maden Sie mi zu einem Deutſchen.“

Die Gedankengänge, die wir bier finden, zeichnen fi) durch eine gewiſſe Einfachheit des Denkens aus, und find vielleicht gerade deshalb ein Ausdrud des Denken: und Fühlens breiter ruſſiſcher Volksſchichten. Der Deutſche hat in Rußland Erfolg gehabt und er hat fich feine Stammeseigenart bewahrt, tft nit wie in anderen Ländern in das ihn umgebende Milieu aufgegangen beides aber find Umftände, die ihn gewiß dem Ruſſen nicht als einen angenehmen Gaſt haben empfinden lafjen. Der Unterfchied in der Wefensart des Deutſchen und Ruſſen ift oft betont worden die Willensnatur des Deutfchen im Gegenfat zur Gefühlsnatur des Slawen ift von ruſſiſchen Dichtern mit Vorliebe hervor⸗ gehoben worden. Wir dürfen uns auch nicht verhehlen, daß der Herr (der Deutfhe war in Rußland vielfadh der Herr) bei feinen Untergebenen niemals

Die ruſſiſche Geſellſchaft und der gegenwärtige Krieg 387

beliebt iſt. Der deutſche Adel der Oſtſeeprovinzen iſt dem Ruſſen ſtets verhaßt oder lächerlich geweſen, ſoweit er nicht ganz im Ruſſentum untergegangen iſt, dem deutſchen Kaufmann wurden feine Erfolge auf Grund eines für Rußland angeblih ungünftigen KHandelSvertrages, dem deutfchen Anſiedler das gute Gedeihen feiner Wirtſchaft beneidet. ES iſt daher nicht wegzuleugnen, daß in Rußland eine ſtarke Gegnerfehaft gegen alles, was deutſch war, ſchon lange Zeit vorhanden mar, es geht aber wohl zu weit, wenn man annehmen wollte, daß der Ruſſe wirklich das Empfinden hatte, der Deuiſche fei fein Erbfeind, der vernichtet werden müſſe und daß dieſer Krieg von feinem Beginnen an im Volk als Befreiungstrieg gegen den Deutfchen begrüßt worden ift. Das Gefühl des Haſſes ift erft im Laufe des Krieges unter dem Eindrud der Kriegsereigniſſe und durch den Verleumdungäfeldzug der gemillenlofen Brefje entjtanden. In der Tat bat fih doch der Deutiche feit den Tagen Aleranders des Dritten in Rußland viel mehr in der DVerteidigungsftellung als in der Angriffsftellung befunden. Wir alle erinnern uns der rüdfihtslofen und gewaltfamen Ruſſifizierungs⸗ politit dieſes „echt ruffiihen Mannes”, defjen Charakter und Natur fo gut in dem befannten Denkmal des Fürften Trubebloi auf dem Snamenfliplas in Petersburg dargejtelt find. Sein Kampf gegen daS baltiihe Deutſchtum, gegen den deutſchen Grundbefig in den Weftprovinzen des Reiches war vorbildlich auh für die Anſchauungen des ruſſiſchen Beamten, der überall, wo er es fonnte, die doch gewiß nicht übermäßigen Rechte befchnitt und anzmeifelte, Die dem Deutſchen auf Grund der Verträge in Rußland eingeräumt waren; die Gefegesvorlagen von Stolypin gegen die beutfchen Koloniften in Südrußland waren nur der legte Ausläufer der von Alerander begonnenen Politik. Die Zeiten waren längjt vorüber, wo in jeder vornehmen ruſſiſchen Familie fich ein deutſcher Hauslehrer befand, auf jedem ruſſiſchen Gut ein deutſcher Verwalter. Der deutſche Kaufmann trat [don lange in Rußland mit einer Zurüdhaltung auf, - die ihm gleih am der Grenze gelehrt wurde, wo er mehr oder weniger der Willkür der ruffiihen Gendarmen und Zollbeamten ausgeliefert war.

Nein, ein gefährlicher Feind im Innern war der Deutfche nicht mehr, der Ruffe hatte ihm gegenüber faum ein Gefühl des Haſſes, viel mehr ein Gefühl des Neides und de3 Unbehagens. Man wäre froh geweſen, wenn man bie Deutfchen losgeweſen wäre, wenn fie fi damit begnügt hätten, wie Franzofen und Engländer ihr Kapital nad) Rußland zu geben und die Ruſſen damit halten und walten zu laffen. Die Stimmung breiter Geſellſchaftskreiſe gegen den Deutichen bot aber wohl ein günftiges Feld für die Negierung, die hier jederzeit, wenn es ihre politifhen Intereſſen geboten, eine vollstümliche Unter- lage für eine Aktion gegen Deutichland finden konnte.

Wir kennen die Popularität, die das franzöfifche Bündnis feit Aleranders des Dritten Zeiten in Rußland gehabt hat, wir haben es miterlebt, daß alle Berjude der Berliner Diplomaten, ein günftiges Verhältnis zu Rußland zu \haffen, in Rußland felbft ohne Widerhall blieben, die fühle fogar feindliche

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388 Die ruſſtſche Geſellſchaft und der gegenwärtige Krieg

Aufnahme, die die Potsdamer Beiprechungen in der ruffiichen öffentlichen Meinung fanden, konnten den Unbefangenen erkennen laffen, daß fi bier allmählich ein fteinerner Wal des gegenfeitigerm Miktrauens zwifchen den beiden benachbarten Reihen aufgerichtet hatte, den zu überbrüden von Jahr zu Jahr ſchwieriger wurde. An diefem Walle hatten nicht zum wenigjten die Engländer mit bauen helfen, die fi der Partei um die Nowoje Wremja herum verfichert hatten, um die ruſſiſche Geſellſchaft vor den Wagen der englifhen Politik zu fpannen. Das Gefühl des Mibtrauend und Unbehagens, da8 in ber ruffiihen Gefelihaft dem Deutſchen gegenüber beitand, madte fie blind gegen die wahren Abfihten der englifchen Politi. Die Zufammenkunft von Reval, die bosnifhe Krife, die Gründung von Albanien hatten alle Wohl- taten vergeflen laffen, die die deutſche Politil Rußland zur Zeit des ruffiich- japanifden Krieges erwieſen hatte. Jeder Schritt, den Deutichland zur Ent- widlung feiner Handelsinterefien in Berfien, in der Türkei tat, wurde mit Mißtrauen beobachtet, Hinter der Gründung jeder neuen Fabrik witterte man imperialiftifcehe Ausdehnungsgelüfte Deutſchlands. Der öfterreicheruffiiche Gegen- fa auf dem Ballan, fo fühlte man, erhielt nur dadurch überhaupt eine Bedeutung für Rußland, daß Deutichland Traft der beftehenden Bünpnis- verträge ſchützend Hinter Lfterreich - Ungarn ftehen mußte. Ale Be mühungen Deutfchlands, Hier ausföhnend und vermittelnd zu wirken, blieben obne Anerkennung, denn ſchon die Vermittlung mußte einem Lande, das um ieden Preis, nad) der Liquidation aller feiner Unternehmungen im Often, die alten ruſſiſchen Ballanträume verwirklichen wollte, unmwilllommen fein. Es war die Macht Deutſchlands, die bier den ruſſiſchen allſlawiſchen Beftrebungen bindernd in den Weg trat und deshalb Hatte fich bei der ruſſiſchen Geſellſchaft allmählich der Gedanke feitgefegt, wie ihn uns Profeflor Mitrofanom in jenem befannten Briefe an Delbrüd gefähildert hat, der Gedanke, daß Berlins Macht vernichtet werden muſſe, wenn man Wien zerfeymettern wolle.

Zu biefen Anfhauungen kam das Bemwußtfein der eigenen Macht und ftaatlihen Fähigkeit, das fi) der ruffifhen Gefellichaft feit dem japanijchen Kriege bemädhtigt hatte. Die guten Erntejahre, der beifpiellofe Aufſchwung in Handel und Wandel hatten Rußland nit nur ermöglicht, die ſchlimme Erbſchaft des japaniihen Abenteuer ohne Schwankungen zu Tiquidieren, jondern auch bei immer wachſenden Staatsausgaben ohne große ausländiſche Anleihen allein aus eigener Kraft die NReorganifation von Heer und Flotte vorzunehmen und auch einen guten Zeil von Kulturaufgaben zu verwirklichen, an bie beranzugehen noch vor einem Jahrzehnt ein frommer Wunſch geweſen wäre. Stolypins großer Gedanke, die Agrarreform, wurde von dem ſympathiſchen Kriwoſchein mit ganzer Energie und Liebe angepadt und das Land war auf dem beiten Wege, den Grundſtein zu einem allfeitigen künftigen Gedeihen zu legen. Man kann es wohl fagen, daß faum je ein Land fi nad) einem unglüdlichen Kriege und nad) einer Revolution trotz oder vielleiht wegen der Handelsverträge

Die ruffifhe Sefellfhaft und der gegenwärtige Krieg 389

mit Deutſchland wirtſchaftlich und finanziell fo fehnell erholt Hat, wie Rußland nad dem japanifhen Kriege. Aber der glänzende Stand von Wirtihaft und Sinanzen mußten zugleich für eine Megierung, in der ſich nicht mehr die Männer befanden, die ihre ganze Mühe feit Jahrzehnten für dieſe wirticaftlichen Ideale eingefegt hatten, eine ungeheure Verſuchung fein.

Der gute Stand der Wirtihaft, das Vorhandenfein eines gewaltigen Bar- vorrats in den Kafjen des Neiches hat den ruffiichen Staatsmännern das Rüdgrat zu der aggreffiven Politik geftübt, die fie während der großen europäifchen Krifis vom Beginn ab gegen die Zentralmächte fonfequent duchführten. Natürlich fann man das ruffifche Volk, die ruffiihe Geſellſchaft nicht für die Politik feiner CStaatSmänner während der Krife fchledhtweg verantwortlid machen. Genau wie in dem demofratifchen England und dem republifanifhen Frankreich ift es das Werk weniger Männer geweſen, das fchließlich den Krieg herbeigeführt bat, aber man kann wohl fagen, daß die Aufnahme der angeblichen deutſchen Heraus⸗ forderung fo wurde dem ruffifden Voll das deutſche Ultimatum dargejtellt durchaus ned dem Sinne der ruffifhen Intelligenz war.

Es wer ein Krieg nah dem Herzen der ruffiihen Intelligenz; ein voterländifcher Krieg. Aber nicht nur Widermwille gegen bie Deutfchen oder außerpolitifde Gegenfähe allein waren für ihre Haltung maßgebend. Die zuffiihe Intelligenz wies noch) aus anderem Grunde den Gedanken eines Krieges mit Deutſchland nicht zurüd. Diefe Intelligenz war immer weſtlich demokratiſch orientiert. Sonderbar mutet e8 uns an, zu denken, daß der Krieg der flawifhen rauen, ber Großfürftenpartei zugleich ein Krieg der demokratiſchen ruſſiſchen Gebildeten oder Halbgebildeten if. Aber die Tatfache ift nicht zu beitreiten. Deutſchland hatte im Grunde nur noch wenige politifhe Freunde in Rußland: wir müſſen fie bei den Vertretern des realtionären Großgrund- beſitztums, des feudalen Sonfervativismus fuchen. Die Intelligenz fühlte fi) ihrem politifhen Denlen nad) den demokratiſchen Idealen des Weſens viel näher. In dem Preußentume ſah der ruffiihe Kadett etwas feiner eigenen Regierung MWefensverwandtes, dazu famen die allzuguten Beziehungen zwiſchen der ruffijchen Regierung und der deutichen ftetS ihren Wünfchen gefälligen Polizei, die für viele Ruſſen den Aufenthalt in Deutfchland mit unangenehmen Erinnerungen belafteten, während auf der andern Seite die freie englifhe Tradition und franzöfifches Republilanertum ihn mächtig anzogen. Es beitanden aljo feine Fäden der Sympathie, die hätten zerriffen werden müffen, um den Gedanlen eines Waffenganges mit Deutihland den Gemütern vertraut zu maden. Im Segenteil, gerade an dem Beifpiel Brofefjor Mitrofanows fieht man, wie felbit ein Mann, der feine ganze wiffenfhaftliche Ausbildung der deutſchen Wiſſenſchaft verdanlt, den enge Freundſchaft mit deutichen Gelehrten verband, diefen Gedanken nicht nur nicht abmwies, jondern ihn mit logiſcher Konſequenz entwidelte.

Schlieklich darf man neben allen anderen GefichtSpunften bie innerpolitifchen Sedanlengänge des liberalen Rußlands nicht außer acht laſſen.

890 Die ruffifhe Gefellfhaft und der gegenwärtige Krieg

Rußland war feit der Zeit der Revolution politifh im Innern zu einer volllommenen Stagnation gelommen. Das Ditobermanifeit, das beftimmt geweſen war, den Ruſſen jene Grundfreiheiten zu geben, die im übrigen Europa bie Völker ſchon feit Dienfchenaltern befaßen, war durch die reaktionären Map- nahmen Stolypins und feiner Nachfolger zur Bedeutungslofigleit zufammen- geſchrumpft. Kein einzige8 der großen Ausführungsgefege, die den einzelnen Beitimmungen der Verfaſſungsurkunde das eigentlihe Leben einhauchen, ihnen Weſen geben follten, war aus dem Schoße der Dumalommiffionen heraus⸗ gekommen, die Adminiſtrativwillkür berrfchte nach wie vor, bie Selbſtherrſchaft verftand es fich überall mit dem Verfaffungsleben fo abzufinden, daß fie mit oder gegen den Buchftaben der Geſetze genau fo ihren autofratiihen Willen durchlebte, wie vor der Revolution. Die Duma arbeitete mit großer Sad) kenntnis auf dem einzigen Gebiete, das ihr wirklich überlaffen mar, auf dem der Budgetbemwilligung, war aber auh da von fo vielen Beichränkungen, Panzerungen und Gefeheshintertären gehemmt, daß das Bolt fi im Grunde einer Syfiphusarbeit gegenüber fa. Man arbeitete alfo jo, wie es Tolſtoi nit wünſcht, daß man arbeitet, man ließ die höheren großen Ziele beijeite und begnügte fih damit, daß es dem Volle wirtſchaftlich anfing gut zu geben die Regierung hatte e8 verftanden, die Geiſter durch die Materie zu töten.

Diefer Zuftand hatte wiederum die Führer der politifhen ebenfo wie der Itterarifhen Intelligenz in eine gewiſſe ftumpfe Verzweiflung gebracht, aus der fie feinen Ausweg mehr fahen. Der führenden Geifter hatte ſich entweder Efel oder Überdruß vor ſolchem politifchen Treiben bemädtigt diejenigen Kreife, deren Ideale oberflächlicher waren, hatten fih nad ber Enttäufhung in ber Politik den Idealen eines Artzybaſcheff zugewendet.

Hier nun ſchien der große Krieg einen Ausweg eine Rettung zu bieten, die man freudig ergriff. Man follte es nicht für möglich halten, es iſt aber nicht zu leugnen, daß die ruffifche Sntelligenz von der Durchführung eines fiegreihen Krieges die endliche Realifierung der großen Liberalen Gedanken erträumte, die die Revolution nicht hatte bringen fönnen. Dan lefe die Vorträge eines Winogradow in England, man verfege fi in die Gebanfengänge eines Burtzew, Gorli, einer Vera Figner, fie alle find von den gleichen been befeelt: die union sacrée wird die Regierung dem Volle nähern, die Regierung wird nicht anders können, als die großen Dienfte, die die Geſellſchaft ihr geleiftet bat, anzuerlennen, und dem Volle großmütig jede Freiheit gewähren, bie fie ihm bisher vorenthalten hat. Der Krieg ift daher nad) ber dee der ruffiihen Intelligenz nicht nur ein Vefreiungstrieg nad außen für die flawifchen Brüder völfer vom teutoniſchen Koch, ſondern auch ein Befreiungstrieg nach innen, ein Befreiungsfrieg für das eigene Voll.

Einem kühlen Beobachter wird e8 nicht entgangen fein, daß auf viele Blütenträume, deren Gedankengang von Anfang an hinkte, ſchon mancher Raubreif gefallen ift. Cine tühlere Überlegung hätte den liberalen Schichten

Die ruffifhe Befellihaft und der gegenwärlige Krieg 891

Rußlands jagen follen, daß die herrſchende Autofratie und Hierachie nicht daran denkt, auch nur ein wefentliches Titelchen von ihrer Macht anders als der Not gehorchend dem Volle abzugeben, daß aber gar ein flegreidher Krieg ihr im Gegenteil neue Macht geben muß. Die lebten hochintereſſanten Ereigniffe find dafür durchaus Tennzeichnend. ES bedurfte des Falles von Przemyſl und der Schwierigfeiten in der inneren Drganifation des Landes, um der Regierung die Wünfche der Gefellihaft verftändlih zu maden. Dffenbar haben dieſe Spannungen, die vielleicht durch eine Einberufung der Duma ein Sicherbeit3- ventil finden werden, zum Sturze von Maklakow beigetragen.

Die Zulunft wird zeigen, wie die ruffifhe Gefellihaft ſich meiter zum Kriege flellen wird, ob die wie es feheint bevorftehende Einberufung der Bolls- vertretung zu einer ftrafferen Organifation des Krieges im Sinne der Lloyd Georgeſchen Ideen führen wird, oder ob in die ruſſiſche Geſellſchaft die Erkenntnis eindringen wird, daß fie im Grunde in ihrer Begeifterung für den Srieg, bei der gewiß viele edle Gefühle neben chauviniftiihen und Haßgedanken zum Aus» drud gekommen find, fi) einer ungeheuren Täuſchung bingegeben hat. Eine beginnende Reviſion der Geſichtspunkte deuten gewiſſe Gedanken an, die ſich in der letzten Zeit mehrfach in der ruffifchen Prefie fanden, Gedanken darüber, daß im Grunde Rußland bei feinen Verbündeten nicht ganz das gefunden bat, was es ſuchte. Ale Koffrefhen Durchbruchsverſuche haben die große Dffenfive der Deutfhen im Dften nicht hindern können, die befcheidenen Anftrengungen, die England an den Dardanellen und in Frankreich macht, haben die Erfüllung: defien, was Rußland von diefem Sriege erträumte, nicht um einen Schritt näher gebracht, und es ift keine Ausficht dafür vorhanden, daß das anders wird. Rußland Hat in gewiß tüchtig geſchlagenen Schlachten ungeheure Opfer an Menſchen und Material gebradt pour le roi d’Angleterre. Als Rußland finanzielle Unterftüßung von England wünſchte, mußte es Gold nad England erportieren, jegt muß es feine großen Anleihen im Lande felbft unterzubringen verfuden. Auch die Träume einer wirlfamen englifch-franzöfifhen Finanz- unterftügung find zu Schaum geworden.

So wird auch für die ruffifche Intelligenz dieſer Krieg ſchließlich ein großer Lehrmeifter fein. Die äußere Entwidlung der Weltereigniffe ebenfo wie die innere Entwidlung des politiſchen Lebens in Rußland wird die alten Ideale prüfen, beftätigen oder verwerfen.

Sollte das letztere eintreten, jo wird die gewaltige Enttäuſchung bie Platz greifen muß, für die äußere Politik des ruffifhen Neiches und für das innerpolitiihe Leben des Landes nicht ohne tiefſteinſchneidende Folgen bleiben können.

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Die Zukunft der Jugendpflege Von Dr. W. Warſtat

ll. Die Einigung der erzieheriſchen Jugendpflege und das „Mittelamt für Jugendpflege“

8 iſt im erſten Teil dieſes Aufſatzes, in Heft 23 der Grenzboten, ausdrädli darauf hingewiefen worden, daß bei einer etwaigen Verftaatlihung desjenigen Teiles der körperlichen Fugendpflege, 4er die Erziehung zur Wehrtüchtigleit gemährleiften will, den I vielen und verſchieden gearteten freiwilligen Jugendpflegevereinen und hen ihre Selbftändigfeit gewahrt bleiben müßte. Das tft nicht bloß deshalb nötig, weil ihre tatfächlichen Leiftungen an der Jugend außer- ordentlich wertvoll find, fondern auch weil fie zum Zeil auf eine ſchon ziemlich alte Geſchichte zurüdiehen und während dieſer langen Jahre ihres Wirkens fi) eine fo ausgezeichnete Drganifation und eine jo tiefgreifende Erfahrung auf dem Gebiet der Yugenderziehung errungen haben, daß ihre Befeitigung oder auch bloß die Behinderung ihrer Freiheit gleichbedeutend wäre mit ber Aufopferung gar nicht abſchätzbarer Werte.

Was von den verfhhiedenften Stellen aus auf dem Gebiete der Jugend⸗ pflege ſchon feit vielen Jahren, lange vor dem preußiſchen Iugendpflegeerlaß von 1911 geleiftet worden ift, ift zum größten Teile heute noch weiteren Streifen unbelannt. Es fei daher hier ein kurzer Überblick über die verſchiedenen Gruppen der erzieheriſchen Jugendpflege vorausgeichidt*).

Am älteften, am meiteften verzweigt und vielleiht auch mit am beiten organifiert find unftreitig die kirchlichen Jugendvereine. Die Geſchichte der firhlicden Yugendpflege reicht zurüd in die zweite Hälfte des achtzehnten Jahr⸗ hundert. Unter den Drgantfationen, die von evangelifher Seite ausgehen, heben fi) als die bedeutendften heute drei Gruppen hervor: die Evangelifchen Sünglingsbündniffe, die zur „Nationalvereinigung der evangelifhen Süngling®- bündniffe Deutſchlands (E. V.)“ zufammengefchloffen find und dem „Weltbund evangelifher ünglingsvereine” angehören; ferner die Chriſtlichen Vereine Sunger Männer, die auch der „Nationalvereinigung” angehören. Beide Ver-

*) Einen bortrefflihen kurzen Üiberblid über die Gefchichte der Yugendpflege gibt Adolt Wendelin, Gefhichte und Probleme der Yugendpflege. Dresden 1918.

Die Zukunft der Jugendpflege 393

einigungen treiber Jugendpflege auf entfchieden religiöfer Grundlage. ALS britte Gruppe find tie von Paftor Clemens Schulz in Hamburg begründeten „Kirchlichen Lehrlings- und Gefellenvereine“ zu nennen, die, im „Bund Dentfcher Yugendvereine“ zufammengefchlofien, den religiöfen Gefihtspunft mehr in den Hintergrund treten laſſen und das Hauptgewicht auf bie fittlich-erzieherijche Beeinfluffung der Jugend legen. Dieſe Vereine berüdfichtigen alle in erfter Reihe die volfsichulentlaffene Jugend. An den höheren Schulen haben fid) neuerdings die „Bibelkreiſe für Schüler höherer Lehranftalten” gebildet. Auf fatholifcher Seite hat man am energifchften den Grundſatz der Standesorganijationen durchgeführt. Die erwerbstätige Jugend vom vierzehnten bis fiebzehnten Lebens» jahre, alfo die Lehrlinge, wird erfaßt von den Sünglings-Sodalitäten oder Kongregationen. Für die Gefellen von achtzehn bis zweiundzwanzig Jahren beftehen die Geſellen- und St. Joſephsvereine, für die jungen Arbeiter „Vereine junger Arbeiter”, für die faufmännifchen Berufe kaufmänniſche Vereinigungen. Diefe Bereine find zu Bezirksverbänden, diefe zu Diözeſanverbänden, diefe wieder zum Zentralverband zufammengefdloffen, an deffen Spike als Zentralfomitee oder als Zentralvorstand der Vorfigende, der Generalfefretär und die Diözefanpräfides ftehen*). Die kirchliche Jugendpflege für die weiblide Jugend iſt in ent- ſprechender Weiſe organifiert”*).

Die erwähnten evangeliſchen Organiſationen umfaßten 1913 3177 Vereine mit etwa 180000 Mitgliedern, die katholiſchen Vereine hatten 1912 etwa 350000 Mitglieder. Dazu fommen die Mitglieder der Vereine für die meibliche Jugend. An allen diefen Organifationen ftügt fich die interne Vereinsarbeit auf eine große Anzahl von Jugendheimen, Jugendzeitichriften und ähnliche Peröffentlihungen. Überall ſucht man die Jugend zu möglichſt felbfttätiger Mitarbeit am Vereinsleben heranzuziehen.

Die weitverzweigte und gut organifierte kirchliche Jugendpflege, die über einen großen Schab von erzieherifcher Erfahrung verfügt, verdient ed, daß man ihr überall mit Hochachtung begegnet und von ihr lernt.

Wir haben ſchon im erften Aufſatz darauf hingewiefen, daß im Anſchluß an Sportvereine, beifpielsweife an die Deutfche Turnerſchaft, aber auch an andere Vereine: Fußball-, Radfahrer, Schmimmoereine und andere nicht bloß törperliche, fondern auch mehr oder weniger intenfive erzieheriſche Jugendpflege getrieben wird. Auch Berufsorganifationen wie der Deutihhnationale-Handlungs- gehilfenverband haben in befonderen Jugendvereinen mit Geſchick Jugendpflege getrieben. Sa, felbit einzelne großinbuftrielle Unternehmungen find mit Jugend- . pflegebeftrebungen felbftändig vorgegangen, beiſpielsweiſe die Yarbenfabrifen Friedrich Bayer u. Co. in Cöln-Leverfufen. Auch fonft find Jugendpflege⸗ organifationen dank der opferfreubigen und begeifterten Arbeit einzelner ent-

*) Vergleiche: Die Zugendpflege der katholiſchen Kirche. Flugſchrift, Herausgegeben vom Generalſekretariat der Tatholifchen Yugendvereine Deutſchlands, Düfieldorf.

*°) Vergleiche Handbuch für YJugendpflege Seite 527 fi.

394 Die Sufunft der Jugenöpflege

ftanden, wie zum Beifpiel die Einrichtungen des Hamburger ee dant der LZebensarbeit Walther Elafjens.

Auch im Anſchluß an die Schule, namentlih an die Sortbilbungsfänte, hat man mit der AJugendpflege in Jugendvereinen begonnen. Den Zufammen- hang mit der höheren Schule hat die Jugendwehr⸗, Wehrkraft⸗, Pfadfinder- und Sungdeutfchlandbewegung immer aufrecht zu halten gejucht. Der Jugendpflege- erlaß von 1911 hat alle diefe Beftrebungen neu angeregt und unterftüßt. Man fpricht in der Folge wohl von diefer „nationalen Jugendpflege“ als von einer „ſtaatlichen Jugendpflege“, obwohl von einer Verftaatlihung der Jugend⸗ pflege in dem Erlaß von 1911 auch noch nicht im entfernteften die Rede tft. Der Name „nationale Jugendpflege“ ift treffender.

Im übrigen ift es unmöglid, auch nur einen annähernd erſchöpfenden Überblid über die Sugendpflegebeftrebungen zu geben. Wir wollen bier neben der Tirchlichen, beruflichen und der „ſtaatlichen“ nur noch zwei weitere wichtige Gruppen nennen: die fozialdemofratifhe Jugendpflege und die felbftändige Jugendbewegung.

Auch die Sozialdemokratie faßt ihre Jugendpflegebeſtrebungen gern unter dem Namen „Jugendbewegung“ zuſammen, um dadurch anzudeuten, daß fie aus den Kreiſen der foztaldemofratiiden Jugend felbft hervorgegangen jei. 1903 und die folgenden Fahre entftanden in Süddeutſchland die erften ſozial⸗ demofratifchen Jugendvereine, die fi 1906 zum „Verband jugendlicher Arbeiter Deutichlands“ zuſammenſchloſſen; 1906 entitand auch in Norddeutſchland ein „Verband der arbeitenden Jugend“. Als nach Erlaß des Reichsvereinsgeſetzes die fozialdemofratifhen Jugendvereine als politifde Vereine angejehen und den Jugendlichen unter achtzehn Jahren die Teilnahme daran unmöglich gemacht wurde, gründete man überall örtliche „Jugendausſchüſſe“ Erwachlener, die die Augendbewegung vertraten und aufrecht erhielten (1912 beftanden ſolche an 574 Drten). Zufammengeiäloffen find diefe Ortsausſchüſſe in der „Zentralftelle für die arbeitende Jugend“ in Berlin. Diefe gibt feit 1908 als fozialdemofratifche Augendzeitfchrift die „Arbeiterjugend“ heraus, deren Leferfreis 1912 85000 Bezieher umfaßte.

Wenn man die Yahrgänge der „Arbeiterjugend“ durchblättert, fo muß man zugeitehen, daß fie ihren Lefern ganz außerordentlich viel Bildungsmwerte vermittelt und zwar in einer Form, die fehr glüdlih dem jugendlichen Leſer⸗ freife und feiner Vorbildung angepaßt if. Man Tann ber ſozialdemokratiſchen Jugendbewegung überhaupt die Anerkennung nicht verfagen, daß fie die beiten Methoden der Augendpflege: Jugendvereinsarbeit, Jugendheime, Vorträge, fportlide Beranftaltungen uſw. in geradezu vorbildlicher Weile anwendet. Die Durchſicht der vor dem Sriege erſchienenen „Arbeiterjugend“ bemeift aber aud), daß nebenbei der ganze erzieheriſche Einfluß einmal in antimilitarifhem Sinne ausgenutzt wurde Bolemilen gegen die Jugendwehr⸗, Wehrkraft-, Pfabfinder- vereine finden fich faft in jeder Nummer und baß ferner das letzte erzieheriſche

Die Zukunft der Jugendpflege 395

Ziel der ſozialdemokratiſchen Jugendbewegung die Erzielung des ſozialiſtiſchen Klaſſenbewußtſeins war. Zu dem Zwecke wurde die ſozialiſtiſche Jugend plan⸗ mäßig als die Märtyrerin der Polizei und der ſtaatlichen Gewalt hingeſtellt.

Mir wiefen ſchon im erften Aufſatz darauf bin, daß fih auch auf dem Gebiete der Jugendbewegung in der Stellung der Sozialdemokratie erfreulicher- weife ein gewaltiger Umfchwung vollzogen hat, und daß auch nach) dem Kriege diefe Erfcheinungen zu den überwundenen gehören mögen, dazu will ja dieſer Auffab an feinem Zeile mithelfen.

Als jüngfte Gruppe wollen wir endlich die fogenannte „Freideutiche Jugendbewegung“ ſchildern. Aus der Wanderbewegung, namentlich dem „Wandervogel“ hervorgegangen, bat fie Anfchluß gefunden an reformalademifche, lebensreformerifhe und reformerzieherifche Kreife, an die Abftinenzbemegung ufw. So haben fi heute im Verbande der „Freideutichen Jugend” eine ziemliche Anzahl ſehr verfchiedenartige Jugendvereine und auch alademiſche Vereine, in erfter Reihe die „Alademifhe Freiſchar“, zufammengefchlofien, um Selbft- erziehung zu einem neuen Lebensideale und zwar zu einem neuen Perſoönlichkeits⸗ ideale zu erjtreben. Da dieſes neue Lebens⸗ oder Perfönlichkeitsidenl fi noch nicht einheitlich beftimmen läßt, fo hat leider der felbfterzieherifhe Grund- gedanke, das Selbitbemußtfein, das fih im Zufammenhang mit ihm in ber Jugend entmwidelt hat, auf einem extremen Flügel der „Freideutſchen Jugend“ zu einer ſtark übertriebenen Kritik an der Autorität von Familie und Schule geführt. Der von Erwachſenen geleiteten Jugendpflege fteht aus diefem Grunde diefe felbftändige Yugendbemegung mit Miktrauen und Ablehnung gegenüber”).

AS das gemeinfame Ziel aller diefer Jugendpflegebeftrebungen und aud) der Jugendbewegung Tann man Binftellen: die erzieherifche Beeinfluffung der Jugend nad der Schule oder neben Familie und Schule. Man fucht diefen erzieherifhen Einfluß auf die Jugend gerade in der Zeit zu gewinnen, in der Schule und Familie bei der Geftaltung unferes modernen Lebens, wie fie nun einmal ift, verfagen oder verfagen müſſen, und in der doch die erzieherifche Beeinfluffung auf das fruditbarfte Feld ftößt, weil in diefer Zeit ſich Die Grundlage des Charakters, der Perfönlichkeit im Jugendlichen entwidelt: es ijt die Pubertäts⸗, die Entwidlungszeit. |

Bei dem Überblid über die Jugendpflegearbeit muß es nun Mar geworben fein, daß dieſe erzieherifehe Einwirfung von den allerverfchiedeniten Grund⸗ lagen, von ben verſchiedenſten Weltanfhauungen aus erfolgt: auf der Firchlichen, auf einer national-fittliden, auf einer Perſönlichkeitsweltanſchauung, endlich auf bem Boden ber ſozialdemokratiſchen Weltanfhauung erheben ſich Die verjchiebenen Gruppen der Fugendpflegeorganifationen.

Es iſt verſtändlich, aber keineswegs erfreulich, daß der Kampf biefer Weltanſchauungen fi) auch auf bie Sugendpflege übertragen bat und baß er

*) Heute haben ſich allerding® in der „Freideutſchen Jugend“ die Geifter geklärt, und jener radiale Flügel ift abgeftoßen worden.

396 Die Zukunft der Sugehdpflege

bier vielfach zu einem Kampfe um die Jugend geworben ift. In diefem Kampfe um die Jugend ift in Ton und Form des Kampfes von allen Seiten gefündigt mworben. Heute aber ift nicht die Zeit dazu, den einzelnen Parteien ihre Sünde vorzurechnen. Vielmehr muß man heute, unter dem Gindrud bes Weltkrieges, in ber Freude über die einheitliche Verſchmelzung unferes Volles, aufs neue laut und nachdrücklich die Forderung erheben, daß auch auf dem Gebiete der Yugendpflege jene Einigung durchgeführt werden möge, bie uns al8 Bolt heute beglüdt, daß e8 auch bier beißen möge: „ch Tenne feine Parteien mehr,” und daß man dann fortfahren möge: „sch fenne nur noch Jugend!“

Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß dieſe Einigung nicht etwa dadurch geſchehen kann, daß einige oder alle Richtungen der Jugendpflege ſich dazu verpflichten, ihre Weltanſchauung nicht mehr zur Grundlage ihrer Beſtrebungen zu machen und ſo gewiſſermaßen „neutrale“ Jugendpflege zu treiben. Die Weltanſchauung iſt die unumgänglich nötige Gefühlsgrundlage für die erzieheriſche Beeinfluſſung der Jugend, ohne fie wäre jede Jugendpflege unmöglich; denn ohne fie würde fie die werbende Sraft in der Jugend verlieren. Die Jugend, namentlich die Jugend in den Entmwidlungsjahren verlangt Betätigung für ihr ermachendes Gefühlsbedürfnis, fie verlangt Gefühlswerte, Ydeale, mit einem Wort „Welt⸗ anſchauung“. Je mehr man fi mit der Pſychologie des Entwidlungsalters beſchäftigt, um fo deutlicher erfennt man dies „tomantifche Bedürfnis” der Sugend*).

Eine Einigung der verfchiedenen Zweige der Jugendpflege iſt nur möglich in der Form friedlichen Nebeneinanberarbeitens, das getragen ift von dem gegenfeitigen Berftändnis und dem Bemußtfein, einem einzigen und gemein- jamen Ziele zuauftreben: dem Wohle der Jugend und damit des gefamten Vollkes.

Es ſind ſchon einzelne Verſuche gemacht worden, um ein ſolches gegen⸗ ſeitiges Verſtändnis in der Jugendpflege herbeizuführen. Die „Deutſche Zentrale für Jugendfürſorge E. V.“ in Berlin hat 1912 einen Erörterungsabend über das Thema „Der Kampf der Parteien um die Jugend“ veranftaltet, an dem die Führer der Yugendpflege, Vertreter von Behörden, Vereinen ujm. teil- nahmen, um „in freier Ausfprache führender und fachverftändiger Perjönlichkeiten neue Mittel und Wege zur Eindämmung der unbeilvollen Wirkungen wachſender Zerfplitterung im Bereich der Jugendpflege zu ſuchen“ und das gegenfeitige Berftändnis und gemeinfame Arbeit anzubahnen. Eine derartige gelegentliche Veranftaltung kann aber ihren Zwed nur fehr wenig erfüllen. Es ift vielmehr durchaus nötig, daß eine Vermittlungs- und Berftändigungsftelle für Jugend- pflege als eine dauernde Einrichtung geihaffen wird und zwar am beften

*) Bergleihe meinen Auffag „Das romantiihe Bedürfni® unferer Zeit”. Grenz Boten 1914, Heft 5.

Die Zukunft der Jugendpflege 397

diesmal nicht vom Staate wenn auch nicht ohne ftaatliche Unterftügung fondern durch die ugendpflegeorganifationen felbft oder von irgendeiner neutralen Stelle. Nur wenn das „Mittelamt für Jugendpflege“ auf völlig neutralem Boden ſteht, ift die Entftehung von Mißtrauen auf irgendeiner Seite von vornberein ausgeſchloſſen.

Aus diefem Grunde hat fi} der „Bund für Schulreform“*) als eine ſolche neutrale, weil rein erzieheriſche Macht auf meine Anregung entſchloſſen, zunächſt in Hamburg ein rein lolales Vorgehen anzubahnen. Er hat Anfang 1915 die Vertreter der verſchiedenen ugendpflegerichtungen zu Beratungen zufammen- berufen, bei ihnen allen, auch den Sozialdemokraten, Zuftimmung und Billigung für feinen Vorſchlag gefunden und die Gründung eines Iofalen Mittelamtes für Jugendpflege in die Wege geleitet. Ahnliche Gründungen an anderen Orten follen dann durch die verfchiedenen Drtsgruppen des Bundes angeregt werden. Wuünſchenswert wäre e8, wenn dann dieſe Mittelämter ſich fpäter zu einem Berbande zufammenfchließen würden. Die Aufgaben der Iofalen Mittel⸗ ämter und des Gefamtverbandes wären diefelben und würden fi) nur durch die Weite ihres Wirkungskreiſes unterfcheiden.

Im einzelnen könnte man diefe Aufgaben etwa in folgender Weiſe beftimmen:

J. Die lokalen Mittelämter für Jugendpflege haben in erſter Reihe an den Orten ihrer Wirffamleit das gegenfeitige Verftändnis und das lebendige Einandernähertreten der verjchiedenen Richtungen der Yugendpflege anzubahnen und zu fördern und zwar dur die PVeranftaltung von Diskuſſions⸗ und Vortragsabenden unter den Bertretern der einzelnen Richtungen, von gemein- famen Beratungen grundjäglider und praktiſcher Fragen, Vermittlung bei Streitfragen, Vermittlung von gelegentlichen Zufammenarbeiten uſw.

ll. Das Hauptmittelamt (Verband der Mittelämter) veranftaltet in regel- mäßiger Folge allgemeine Kongrefje oder Tagungen für Jugendpflege.

II. Das Hauptmittelamt trifft (mit ftaatlicher Unterftägung) Einrichtungen, die das wiſſenſchaftliche und praktiſche Studium der Jugendpflege und ihrer Methode erleichtern: es gibt eine Zeitichrift heraus, legt ein Archiv für Sugendpflege an;' e8 trifft auch fonft Anftalten, welche die Ausbildung von ugendpflegern in die Wege leiten.

Anſätze zur Durchführung der unter III genannten Aufgaben des Mittelamtes find auch heute fchon vorhanden. Die „Zentralftelle für Volks⸗ wohlfahrt“ in Berlin, Augsburger Straße 61, befigt ein Archiv für Jugend⸗ pflege, mit dem eine Auskunftsjtelle verbunden ift, und gibt aud) eine Zeitjchrift, die Monatsihrift „Ratgeber für ugendvereinigungen” beraus. Auch bier könnte man alfo an Vorhandenes in irgendeiner Weife anknüpfen.

*) ‚Bund für Schulreform, Allgemeiner Deuifcher Berband für Erziehungs. um) Unterrichtsweſen,“ Zentralftelle Hamburg 24.

398 Belgiens Derfaffung und Staatsleben

Bei der großen Bedeutung, bie die Tätigfeit der Mittelämter nicht nur für die Einigung der Jugendpflege, fondern auch für die praltiſche Arbeit in der Jugendpflege haben würden, darf man mohl erwarten und hoffen, daß die Beftrebungen, die auf Schaffung folder Mittelämter gerichtet And, Die ftaatliche Biligung und Unterftüßung finden werden. Wollen fie doch lebten Endes auch zugleih mit dazu beitragen, daß der Schab an reicher erzieberijcher Erfahrung, der in den verfchiedenen Zweigen der Yugendpflege bisher erworben worden ift, allgemeiner und intenfiver, ohne die Hemmungen, die durch Zer- iplitterung und Feindſchaft dabei hervorgerufen werden, verwertet wird, zum Segen unferer Jugend und damit des kommenden großen Deutichland.

Belgiens Derfaffung und Staatsl:ben Don Profeflor Dr. Conrad Bornhaf

Man vergleihe die Auffäge aus der Feder desjelben Verfaſſers über „Die Stellung Belgiens zum alten Rei” in Heft 6 d. J. und über „Die Begründung des Königreichd Belgien“ in Heft 12 d. J.

a] ie innere Entwidlung eines Staates Tann durch nationale, foziale und religiöfe Faktoren bejtimmt werden und erſcheint obne Kenntnis diefer Grundlage vielfach gar nicht verftändli. Die betreffenden Verbältniffe Belgiens meiden nun von dem uns geläufigen deutſchen Staatsleben fo erheblih ab, daß ſich dadurch von jelbft eine befondere Entwidlung der inneren Politik ergeben mußte. Belgien iſt zunächft ein national gemifchter Staat. Nach der Statiftif von 1910 fpraden nur franzöfifh 2833334, nur vlämiſch 3220662, nur deutſch 31415, franzöſiſch und vlämiſch 871288, franzöſiſch und deuiſch 74993, vlämii und deutſch 8652, alle drei Sprachen 52547. Die Sprachgrenze hat ſich jeit 1830 nicht verſchoben, fomit wird das Verhältnis unter der erheblich ge tingeren Bevölferung ſchon damals dasfelbe geweſen fein. Da die MWallonen nicht vlämifch lernen, wird man bie franzöfifh und vlämiſch fprechenden Be- völferungselemente fait durchweg dem vlämiſchen Stamme zurechnen können. Damit ergeben ſich etwa 4000000 Blamen und 2900000 Wallonen, alſo ein ganz erhebliches Übergewicht der Niederdeutſchen. Trotzdem erwies fi) das franzöſiſche Element als das ftärkere, einmal dadurch, daß die Wallonen die franzöfiiche Schriftfpradhe annahmen, während das Vlämifche nur ein vereinzelter

Belgiens Derfaffung und Staatsleben 399

Dialet war, und dann vor allem dadurch, daß feit der Herrſchaft der burgundifchen Herzöge franzöftfch die Sprache der Offentlichfeit und der gebildeten Klaffen war. So war denn auch das vlämifche Sprachgebiet mit einem dicken franzöftfchen Firnis überzogen. Hatte doch gerade das Streben ber holländifchen Regierung, der niederdeutfhen Sprache mehr Eingang zu verſchaffen, einen ber Gründe des Abfalls gebildet. So erſchien denn Belgien äußerlich als ein rein franzöfifhes Staatsweſen. Erſt allmählich fehte immer ftärfer die vlämifche Bewegung ein und brachte damit den Zmiefpalt der Nationalitäten. Aber bis zulegt haben die Vlamen auch nicht eine von den vier Univerfitäten des Landes für fi) erringen können.

Sozial war Belgien ſchon im ausgehenden Mittelalter das Land der Städte und bürgerlichen Gewerbefleißes. Schon in der berühmten Sporenſchlacht bei Kortryk am 11. Juli 1302 erlag die Blüte franzöfifcher Ritterſchaft den Streihen der Weber von Brügge. Mit ihren Städten hatten die burgundifchen Herzöge wie Kaifer Maximilian der Erfte ihre politiihen Machtkämpfe aus- zufechten gehabt. Der Grundadel hatte bier immer nur wenig zu befagen. Nirgends fand daher außerhalb des eigentlichen Franfreih die EgalitE der franzöfiſchen Revolution einen fo wohl vorbereiteten Boden wie in Belgien. Unter der ſchützenden Hand der Kontinentalfperre entmwidelte fi dann die belgifche Induſtrie. Der bedeutungslofe Adel wur in der allgemeinen Rechts» gleihheit untergegangen, die Forderungen der Arbeiterfchaft ruhten noch in der Zukunft Schoße. So mar Belgien gleich dem Frankreich Louis Philippes, mit dem es die größte Ähnlichkeit hatte, das klaſſiſche Land der Bourgeofie. Der Adel war zu ihr berabgezogen, bie unteren Schichten waren durch einen hoben Zenſus von allen politifchen Rechten ausgefchloffen. Aber die allgemeine Rechts— gleihheit ſchien gewahrt. Denn niemand war verhindert, foviel Einfonmen und Vermögen zu erwerben, um den Zenſus zu erreichen. Das Ergebnis war jedenfalls: die reichen Bourgeofie herrſchte allein, ſoziale Gegenfäte fpielten politiſch feine Rolle.

Auf religiöfem Gebiete hatte es die fpanifch-öfterreihifche Herrichaft ver- itanden, die Alleinherrihaft des Katholizismus feftzubalten. Die Aufflärungs- zeit des achtzehnten Jahrhunderts hatte einem großen Zeile der gebildeten Klaſſen die Voltairefhe Philoſophie gebraddt und fie damit vom Glauben der Kirche losgeriſſen. Diefe Einflüffe verftärkften fi” noch durch die franzöftiche Nevolution. Aber in romanifher Weife war dies die reine Negation, ber PBroteftantismus gewann durch diefe Kirchenfeindfchaft feinen Fuß breit Boden. Je nach ihrer Stellung zur katholiſchen Kirche ſchied fih nun die herrfchende Bourgeoifie mit franzöfifher Umgangsiprade in die beiden Parteien ber Katholifen und Liberalen, mobei aber wohlgemerkt die Liberalen der Tatholifchen Kirche angehörten. Das war der einzige politiiche Parteigegenfah, den es in Belgien zur Zeit feiner Gründung gab und ahrzehnte hindurch allein gegeben bat.

400 Belgiens Derfafiung und Staatsleben

Die belgifhe Revolution und die belgifche Verfaſſung wurden nun dadurch ins Leben gerufen, daß die beiden Parteien der Katholifen uud Liberalen fich auf Grund wechfelfeitiger Zugeitändniffe vereinigten. Die Katholiken erhielten die Kirchen- und Unterrichtsfreiheit-unter Niederreißung aller ftaatlichen Hoheit$- rechte, die Liberalen die Prebfreiheit. Auf diefem Boden erftand die Verfaflung vom 7. Februar 1831, das Hauptwerl des Nationallongrejfes und fpäter eigentümlicherweife das Vorbild für die preußifche Verfaſſungsurkunde.

Wenn man auch die franzöſiſchen Verfafjungen von 1814 und 1830 als Borbilder der belgiſchen hatte, fo find doch die in ihnen enthaltenen Sätze felbftändig weiter entwidelt, namentlich durch folgerichtige Durchführung der Grundfäge der Bollsfouveränität und der Teilung der Gewalten und durch die Ausgeftaltung der Freiheitsrechte.

Das Boll, durch die Revolution gewiſſermaſſen in den Naturzuftand zurücdverfegt, Tonftituiert fi durch die Verfaffung zum Staate. Diefe ift daher erlafjen: „Au nom du peuple beige“ und an die Spiße ihrer organifatorijchen Beitimmungen ftellt fie den Sat: „Tous les pouvoirs &manent de la nation.“ Die erſte dieſer Gewalten bilden die Kammern, die beide, Senat und. Deputiertenlammer, aus Wahlen, wenn aud nach verſchiedenen Wahligitemen, der herrſchenden Bourgeoifie mit hohem Aktiv- und Paſſivzenſus bervorgeben. Für eine befondere Vertretung ariftofratifcher Elemente wie für die Arbeiterſchaft iſt daneben fein Pla. Erft das zweite Staat3organ ift der König, der, durch die Berfaffung erblich berufen, feine anderen Rechte hat als die, weldde ihm Ver⸗ faffung oder beſondere Ausführungsgefege zur Verfaffung ausdrüdlich beilegen. Träger der richterlichen Gewalt find endlich unabhängige Gerichte, die fi zum Zeil felbit ergänzen. Dazu lommen ausgedehnte Freibeitsrechte, wie fie fich in den meiften Berfaffungen fanden, aber als beſonders charalteriſtiſch die volle Kirchen⸗ und Unterrichtsfreiheit im Intereſſe der katholiſchen Kirche.

Schon durch die Verfaffung war das Parlament und die allein in ihm vertretene Bourgeoifie almädhtig. Denn die Kammern bewilligen alljährlich im Budget nad) freiem Ermeſſen alle Einnahmen und Ausgaben und geben damit dem Minifterium erft die Möglichkeit, die Verwaltungsgeſchäfte zu führen. Die Kammern bewilligen alljährlich das Heerestontingent, ohne ſolche Bewilligung müßte das Heer entlaffen werben. Das Heer beruht zwar auf der allgemeinen Mehrpflicht, aber mit Loskaufsrecht der reichen Bourgeois, die wohl die echte im Staate für fi in Anfprud nehmen, aber die Pflichten gern anderen über- laffen. Dagegen gönnen fie fi die unfchuldige Soldatenfpieleret in der Bürger⸗ wehr oder Garde civique.

Die an fih ſchon vorhandene Allmacht des Parlaments wird durch bie Praris des Stantslebens verftärtt. Dem Namen nad) bat der König die voll- ziehende Gewalt und übt die gefebgebende gemeinfam mit den Sammern. Aber diefe Befuguiffe entgleiten feinen Händen, da er fie ausüben muß durch ver- antwortlihe Minifter, und diefe nad) dem parlamentariiden Syitem aus ber

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jeweiligen Mehrheit der zweiten Kammer, der fi) auch der Senat fügen muß, beftellt werden. Die Aufgabe des Königs befchränfte fi) daher darauf, die ihm vom Minifterium unterbreiteten Vorlagen zu unterjhreiben und, wenn das Zünglein der parlamentarifhen Wagichale ſchwankte, den Führer der neuen Mehrheit mit der Kabinettsbildung zu beauftragen.

Der Herrſchaft der Bourgeoifie in Kammern und Minifterium und damit im ganzen Staate ftand fomit Teinerlei Hindernis mehr im Wege. Lediglich nad ihrer Stellung zur Kirche zerfiel die herrſchende Klaſſe in die beiden Barteien der Katholilen und Xiberalen, deren Vereinigung fi) bald nad dem Gelingen der Revolution und dem AZuftandelommen des Verfaſſungswerkes wieder löſte. Die Verfaffung hatte zwar mit der grundreditlichen Kirchen- und Unterrichtsfreiheit alle weſentlichen Streitpunfte zu befeitigen geſucht. Doch blieben immer noch Lüden in der Richtung des ftaatlihen und kirchlichen Unterrichtsweſens, um die fi der Parteilampf drehte.

So begann denn die Entwillung, nachdem die Union der Parteien gelöft mar, 1834 mit einem katholiſchen Minifterium. Ihm folgte 1840 ein liberales. Und fo ging es weiter im anmutigen Wechjelipiele der Parteien, einmal die‘ Katholiken, das andere Mal die Liberalen, einmal die einen etwas länger, die anderen etwas kürzer am Ruder, das andere Mal gerade umge- fehrt, wie es gerade der Zufall mit fi brachte. So war es bis zum Tode König Leopold8 des Erften, der 1865 ftarb, jo au im weſentlichen noch in den eriten Jahrzehnten König Leopold8 des Zweiten. Auf Einzelheiten näher einzugeben, wäre ohne jedes Intereſſe. Das Ganze pflegt man euphemiftifch belgifche Geſchichte zu nennen.

Eigentümlichermweife galt diefe Verfaſſung und dieſes politifche Leben Belgiens mit feiner allein berechtigten, aber pflichtenlofen Bourgeoifte den deutfchen Mittelflaffen um 1848 als deal, weshalb man auch die belgifche Berfafjung der preußifchen zugrunde legte, allerdings ohne Bollsjouveränität und ohne fo weitgehende Beichneidung der Töniglichen Rechte. Preifend rühmte man, Belgien babe infolge feiner vortrefflihden Verfaſſung alle Stürme des Jahres 1848 ruhig überftanden, worauf Bismard allerdings erwiderte, bei Rußland fei genau dasfelbe der Fal. Und als man binfihtli der Steuer- bemilligung in der preußifchen zweiten Kammer immer auf Belgien verwies, entgegnete Bismard, ber belgiihe König habe feine Stellung als Gefchent aus den blutigen Händen der Revolution entgegengenommen und mit einem ge- ſchenkten Gaule habe es eine befondere Bewandnis, beim preußifdhen Könige dagegen liege die Sache doch etwas anders *).

Da wurde das Stilleben der franzöfifhen ober wenigſtens verwälſchten Bourgeoifie Belgiens, das fi bisher allein um die Kirche als Angelpunft ge-

*) Rede in ber zweiten Kammer am 24. September 1849. Spemannſche Sammlung, Band 1, Seite 78 ff.

Grenzboten II 1915 26

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dacht hatte, gegen Ende des Jahrhunderts mehr und mehr aufgeftört, einerfeits durch eine ftetig anwachſende foziale, und anderfeits Durch eine an Kraft zunehmende nationale Bewegung, durch Sozialdemokratie und Vlamentum. Beide ftanden untereinander in leinerlei Zufammenbhang, bedrohten doch aber immer mehr die Grundlagen der bisherigen ftaatlicden Entwidlung.

Mehr und mehr fühlte die Arbeiterfchaft eines der erften Induſtrieländer der Welt ihre innere Kraft und ihre äußere Ohnmacht. Sie trug alle Laften bes Staates mit, insbefondere die Wehrpflicht, von der die Bourgeoifie ſich losfaufte, war aber durch den Zenfus von allen politticden Rechten ausge- gefchloffen. Auf die Intereſſen der Arbeiter wurde daher von ber ftaatlichen Geſetzgebung feinerlei Nüdficht genommen; die belgiſche Fabrikgeſetzgebung war eine der am meiften zurüdgebliebenen der Welt, von einer Arbeiterverfiherung waren faum Anfäge vorhanden. Dabei ſah die belgifche Arbeiterfchaft, wie in den Nachbarländern Deutſchland und Frankreich der Arbeiter vermöge des allgemeinen Stimmrechte gleiche politifche Rechte mit anderen Klaffen genofien, wie namentlich in Deutihland eine bahnbrechende Sozialgefeßgebung den Intereſſen der Arbeiter gerecht zu werden fuchte. Kein Wunder, wenn auf diefem Boden die Sozialdemokratie Boden fand und zwar bei der durch die Kirche vernadjläf figten Bollsbildung in der roheſten, an Anardismus ftreifenden Form. Die Arbeiter verlangten feit Anfang der neunziger Jahre immer entſchiedener das allgemeine Stimmredt zur Geltendmadung ihrer Intereſſen und fuchten ihre Forberungen durch Arbeitseinftellungen, Die wegen der damit verfnüpften Gewalttätigkeiten an Aufruhr grenzten, durchzuſetzen.

Da zeigte die herrſchende Klaſſe eine neue Eigenſchaft, die fie mit der franzöfifhen Bourgeoifie gemein bat, die politiiche Feigheit. Denn Weisheit war es gewiß nicht, erft unter dem Eindrude des Aufruhrs auf eine einfeitige Klaſſenherrſchaft zu verzichten. So entſchloß man fi zur Verfaffungsrevifion, deren Ergebnis am 9. September 1893 im Moniteur verlündet wurde.

Freilich fo weit wie Deutſchland und Frankreich konnte man nicht geben und den Arbeitern das allgemeine Stimmrecht gewähren. Denn in dem reinen Snduftrielande hätte das allgemeine Stimmrecht bei der verfaflungsmäßigen Allmacht der zweiten Kammer einfach die Preisgabe von Staat und Geſellſchaft an die revolutionäre Sozialdemokratie bedeutet. So entfhloß man fi für bie zweite Kammer zum Pluralitimmrecht, feit 1899 ergänzt durch die Verhältnis- wahl. Feder Belgier von fünfundzwanzig Jahren erhielt zwar das Wahlrecht, aber höheres Alter, die igenfchaft eines Familienvater und eine gemiffe Gteuerleiftung und ein gewifler Befit, aud höhere Bildung und amtliche Stellung gewährten Zufagftimmen, fo daß ein Wähler bis zu drei Stimmen in ſich vereinigen fonnte. Die Mitglieder des Senates wurden auf die Doppelte Zeit zum Zeil in ähnlicher Weife, aber mit höherem Paſſivzenſus, zum Teil von den Provinzialräten gewählt. Dagegen mißlangen Verſuche des Königs Zeopold des Zweiten dur das fogenannte Köntgsreferendum, das beißt die

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Befugnis des Königs, ſich über die Köpfe der Minifter hinweg mit einer Bor- lage unmittelbar an das Volk zu wenden, die Kronrechte zu verftärken. Hinfihtlih der Stellung des Königs ließ alfo die Verfaflungsrevifion alles beim alten.

Der Erfolg der Berfafjungsrevifion war zunädft der, daß die Sozial- demokratie in der Volfsvertretung ihren Einzug hielt, die Alleinherrichaft der Bourgeoifte war aljo gebrochen. Vermöge des Pluralftimmrecht3 hatte fie ſich aber immerhin noch eine erhebliche Mehrheit geſichert. Nun war aber die Bourgeoifie felbft in die beiden Parteien der Katholifen und Liberalen geipalten. Da die Katholilen vorwiegend aus den ländlichen vlämifchen, die Liberalen aus den induftriellen wallonifchen Gegenden jtammten, brachte e8 die Natur der Dinge mit fi, daß die Sozialdemokraten ihre Erfolge wefentli auf Koften ‘der Liberalen errangen. Aber gerade darum mußten die Liberalen mit den Sozialdemokraten in ein Bündnis treten. Zunächſt hatten die Katholifen noch die Mehrheit und behaupteten diefe die beiden erjten Jahrzehnte hindurch, wenn aud in ſchwankendem Umfange, aljo länger, als es fonft im Schaufelipiele der beiden Parteien üblich gewejen war. Die geſchwächten Liberalen konnten nicht daran denfen, aus eigener Kraft wieder ans Ruder zu gelangen, mußten ſich alfo gerade mit der Partei, durch die fie fo beruntergelommen maren, mit den GSozialdemofraten, verjtändigen. Liberale und Sozialdemokraten bildeten ge- meinfam die Oppofition, die, wenn es das klerikale Parteiregiment zu toll trieb, gelegentlih auch wohl nad) nieberländifcher Weile zu Straßendemonftrationen unter Sympathie der liberalen Bürgermeifter und Polizetverwalter ihre Zuflucht nabm.

Freilih, einen Giegespreis bedang ſich die Sozialdemokratie von den verbündeten Liberalen aus, falls es ihnen gelingen follte, gemeinfam die Mehrheit, die Einführung des allgemeinen Stimmrechts zu erlangen. Die Liberalen, an fih unfähig, allein das Elerifale Regiment zu ftürzen, mußten auf diefe felbit- mörderifhe Bedingung eingehen, deren Erfüllung fie tn erfter Linie von ber Bildfläche verſchwinden laſſen würde. Und der Sturz der fatholifchen Mehrheit lag gar nicht außerhalb der Möglichkeit. Im Jahre 1911 zählte das Abgeorbneten- haus 86 Katholilen, 43 Liberale, 35 Sozialiften, 1 chriftlichen Demokraten, der Senat 63 Katholifen, 39 Liberale, 8 Sozialiften, fett 1912 das Abgeordnetenhaus 101 Katholiken, 44 Liberale, 39 Sozialiſten, 2 chriftlide Demokraten, feit 1913 der Senat 70 Katholilen, 35 Liberale, 15 Soztaliften*). Die katholiſche Mehrheit der zweiten Kammer, die 1911 nur noch fieben Stimmen betrug, bat ſich alfo ſeitdem wieder auf ſechzehn verftärtt. Aber ein Wechſel der Mehrheit lag keineswegs außerhalb des Bereich! naher Möglichkeit.

Stellte aber erft einmal eine Mehrheit der Linken, unter der die Sozialiften die Führung gehabt hätten, die neue Regierung, dann wäre auch durch Straßen

*) Angaben des Gothaer Hoffalenderd 1911 und 1915. 26”

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demonftrationen und Ausftände unter Vegünftigung des Minifteriums bafür geforgt worden, daß ſich die für eine Verfaffungsrevifton erforderliche Zweibrittel- mehrheit zufammenfand. Dann hatte man den fozialiftifden Zulunftsftaat in feiner reinften Form. Denn das allgemeine Stimmredt bedeutet für Belgien einfach die Herrſchaft der Sozialdemofratie in der zweiten Kammer, und bie Mehrheit der zweiten Kammer die Herrihaft im Staate. Dahin war man alfo mit dem parlamentarifhen Syftem gelommen, daß der bei jeder Neuwahl mögliche Wechfel der Mehrheit die foziale Revolution bedentete.

An dieſer ZTatfahe konnte auch der Umftand nichts ändern, daß die Tatholifche Mehrheit unter dem Drude des Soztalismus ſich endlich zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, wenn aud in ſehr verflaufulierten Formen, hatte verftehen müffen. Denn der Einfluß der menigen Angehörigen der höheren Klaffen auf das Heer war viel zu gering. Und außerdem wäre ja die Auf- forderung zum Umfturze von oben, durch das fozialiftiiche Minifterium, erfolgt.

Belgien ftand vor der fozialen Revolution. Gleichzeitig vollzog fih die nationale Zerſetzung.

Zur Zeit der bolländifchen Herrfhaft und des Abfalls war unter den allein maßgebenden gebildeten Klaffen franzöſiſche Sprade und Bildung aud in den vlämifchen Landesteilen Mode. Belgien war ein franzöfifer Staat. Bergebens fuchte Jan Frans Willems (1793 bis 1846) die vlämiſche Spradhe wieder zu beleben. Er verlor fogar 1831 al3 Anhänger der Holländer fein Amt in Antwerpen. Aber unermüdlid) war er weiter für fein Bollstum tätig. Sp wurde er der Schöpfer der vlämifchen Bewegung mit dem Ziele, die vlämifche Sprache zur ebenbürtigen Schrift-, Volks- und Staatsſprache der Mehrheit der Bewohner Belgiens zu erheben. Es entftand eine reiche vlämiſche Literatur, von der in Deutſchland namentlich die gefchichtlichen Romane von Gonfcience aus Flanderns großer Pergangenbeit befannt gemorben fein dürften. Seit dem Sprachkongreſſe von 1849 war eine gemeinfame nieberländiiche Schriftſprache feitgeftellt, während holländiſch und vlämiſch fih in der Aus- fprache weniger voneinander unterfchieden als hannöverfches und thüringifches Deutfch, zumal auch die einzelnen Gegenden des holländifchen und vlämifchen Sprachgebietes Verſchiedenheiten aufmeifen.

Schrittweiſe wurden auch gegenüber dem Staate Erfolge errungen. Es entſtand keine beſondere vlämiſche Partei. Im Gegenteil rühmten es die Vlamen als einen Vorzug ihrer Bewegung, daß ſie in jeder Partei von den Katholiken bis zu den Sozialiſten am wenigſten wohl unter den hauptſächlich aus den walloniſchen Landſchaften ftammenden Liberalen Anhänger befäßen, und daß jede Partei mit ihnen rechnen müſſe. Aber e8 war ein Stellungs- fampf, wobei eine Stellung nad der andern errungen werden mußte. Die beiden erjten Könige verftanden nicht einmal die Sprache der Mehrheit der Belgier. König Albert war der erfte König, der auch des Vlämiſchen mächtig mar. Bon den vier Univerfitäten haben die Vlamen bis zum Untergange des

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Staates feine einzige errungen, obgleich fie nur Gent verlangten und Die freien Univerfitäten Löwen (fatholifh) und Brüffel (liberal) auch im vlämifchen Spracdgebiete, nur Lüttich im franzöfiichen lag.

Die Beitrebungen der Vlamen beichränkten fid nur auf das vlämiſche Sprachgebiet und auf Gleichberechtigung beider Sprachen bei den oberiten Drganen des Staatee. Die Alleinherrfchaft des Franzöſiſchen im wallonifchen Gebiete taftete fein Menid an. Trotzdem erregte jede neue Forderung der Vlamen, die doch nur die franzöfiihe Sprache aus dem niederdeutichen Sprachgebiete verdrängen follte, bei den Wallonen einen Sturm der Entrüftung. Offen ftellten fie die Gegenforderung der adminiftrativen Trennung des Staates in zwei Zeile auf, wenn die Wünfche der Vlamen erfüllt würden, alfo diejelbe, mit der man den Abfall Belgiens von den Niederlanden begonnen hatte. Das Leben in einem halbolämifchen Staate, in dem das Franzöfifche nicht allein berrichte, erfchien den Wallonen einfach unerträglid. Hinter der abminiftrativen Trennung ftand natürlich noch mehr, man fdhielte nicht, man ſchaute über die franzöfifhen Grenzen.

Die Forderungen der Vlamen, die fi als Teil eines niederdeutichen Zehn- millionenvolfes fühlten und die belgifche Revolution von 1830 als eine politifche Torheit erlannten, waren nicht mehr zurüdzudrängen. Für die Wallonen war bie reftlofe Erfällung unannehmbar. Damit ftand die englifch-franzöfifche Kunftihöpfung von 1830 vor dem nationalen Zufammenbrud.

„Gewogen, gewogen und zu leicht befunden! Das war das Ber . dammungsurteil für Belgiens nächſte Zukunft. Bon fozialer Revolution und nationalem Auseinanderfallen gleichzeitig bedroht, wäre der belgifhe Staat über furz oder lang an innerer Zerfegung untergegangen. Die deutſche Er- oberung verſchaffte ihm wenigſtens das, worauf er allein noch boffen konnte: eine anftändige Todesart unter den Mächten der Erde, obgleih er nie zu ihnen gehört hatte.

Oitpreußenhilfe Don Profeffor Dr. Mar 3. Wolff

m vierten Heft des beurigen Jahrgangs diefer Zeitfchrift hat A. ©. Jäger „Srundzüge für den Wiederaufbau Dftpreußens” aufgeftellt. Wenn auch der Auffat ſchon zu einer Zeit gefchrieben ift, da noch weite Streden der Provinz von den Ruſſen beſetzt waren, die vorhandene Notlage ſich alfo in Teiner Weile über- fehen ließ, fo enthält er doch viele beachtenswerte Vorſchläͤge und Anregungen. Manche von Jägers Befürchtungen find nicht eingetroffen. Die Flüchtigen zum Beiiptel haben größtenteils ihre Heimat wieder aufgefucht, fo daß am 1. April von 300000 bereit3 drei Viertel zurüdgelehrtt waren, obgleih Die Heeresleitung damals noch zahlreihe Kreife gefperrt hielt. Auf der anderm Seite ift der angerichtete Schaden weſentlich größer, als man damals vermuten durfte. Cine Ergänzung des ftaatlihen Hilfsmwerkes ift daher dringend geboten. Schon im Auguſt des vorigen Jahres, als der erfte ruſſiſche Einfall in Dftpreußen drohte und dann zur Ausführung gelangte, ſchloſſen fi) in allen Orten begeifterte und opferbereite Bürger zufammen, um der bevrängten Provinz zu helfen. Die Fürforge galt zunächſt den Flüchtigen, die mit Geld, Kleidung und Lebensmitteln unterftügt wurden, und dehnte ſich fpäter nach der Befreiung des Landes auf die Zurüdgebliebenen aus, deren Beſitz zerftört war. In welcher Form dies auch geihah, das Ziel war immer und das war ja zunädft auch das wichtigſte die Linderung der augenblidlihen Not; Dftpreußen - wird aber au) nad) dem Kriege neben dem ftaatlichen Unterftügungsmwerk noch für eine Reihe von Jahren eine befondere Fürforge nötig haben, wenn es ſich nur einigermaßen von dem erlittenen Ungemad erholen fol. Diefe Aufgabe bat ſich die „Dftpreußenhilfe” geftellt, die mit gutem Erfolg bemüht ift, ihre Drganifation über das gefamte Reichsgebiet zu verzweigen.

Die Provinz Dftpreußen hat an dem großen wirtfchaftlihen Aufſchwung Deutſchlands in den lebten Jahrzehnten geringen Anteil gehabt. Eine Groß- induftrie gibt e8 nicht und kann e8 dort nicht geben, da alle natürlihen Bor- ausfegungen für eine foldde fehlen. Das Beilpiel von Weftpreußen, mo man ih trogdem an induftrielle Gründungen größeren Stils gewagt hat, wirkt in

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diefer Hinficht abfchredend. Erhebliche Geldmittel wurden aufgewendet und die Förderung der Regierung fehlte nicht, aber die einzelnen Unternehmungen bradden raſch zufammen, als die Hochkonjunktur von einer wirtfchaftliden Ebbe abgelöft wurde. Oſtpreußen Tann nicht „induftrialifiert” werden und wird fi ftet8 auf feine befcheidene Hplzverarbeitung befchränfen müffen. Auch dem Groß- handel find enge Grenzen gezogen. Ungünftige Handelsverträge fchlieken das ruffifde Hinterland ab, deffen Abſatz Lünftli nad) Libau geleitet worden: ift, da8 man unter großen Koften zu einem aud im Winter brauchbaren Hafen ausgebaut hat. Königsberg befigt dank den hohen Schußzöllen und dem Syftem der Ausfuhrfcheine einen zwar fpelulativen, aber gewinnbringenden Getreide- handel, jedoch iſt auch diefer Erwerbszweig von untergeoroneter Bedeutung für den Gefamtmwohlitand Dftpreußens. Die Provinz trägt einen ausgefprochenen ländliden Charakter. Abgeſehen von Königsberg befigt fie feine größere Stadt, nur noch eine von etwa 40000 und zwei von fnapp 30000 Einwohnern, aber ſchon dieſe find gleich den zahlreichen Tleineren Drtfchaften reine Landftädte. Die Bewohner find Aderbürger oder Kleingewerbetreibende, die von der Land⸗ wirtihaft völlig abhängig find. Diefe felbft hat in den lebten zehn Jahren gute Fortfchritte gemacht; die Pferdezucht ift mit Umficht gepflegt und der fonftige Viehſtand vermehrt und verbeffert. worden. Trotzdem nimmt die Bevöllerung dauernd ab, die in den unteren Klaſſen durch höhere Löhne, in den oberen dur) größeres Behagen und geringere Kommunalfteuern nach dem Weiten gezogen wird. Auch der Umftand, daß die Landiwirtichaft in fteigendem Mape menfchliche Arbeit durch) Mafchinen zu erſetzen fucht, trägt zur Abwanderung bei. Der Boden jelbft ift in den meiften Gegenden vorzüglich, aber der Sommer ift furz und die Arbeit drängt fih auf wenige Monate zufammen, fo daß der größere VBefiter eine übermäßige Zahl von Leuten halten muß, die den längeren Zeil des Jahres ohne Beichäftigung find. Diefer Umftand, fowie die Ab- wanderung der landesbürtigen Bevölkerung drängt dazu, ſich mit Saifonarbeitern zu bebelfen, die nach eingebradhter Ernte abgejchoben werden lönnen. Der Kleinbefis, der ohne fremde Kräfte auskommt, wird durch diefe Schwierigleiten weniger betroffen; es entſpricht daher nur dem natürlien Bedingungen ber Provinz, daß er bei der bevorftehenden Neuentwidlung möglichit geftärkt, der Großgrundbefiß dagegen zurüdgedrängt wird, obgleih er in Ditpreußen bei weiten nicht fo vorberfcht wie in Bommern, Medlenburg oder einzelnen Zeilen Schlefiens.

Der Ruſſeneinfall hat unſäglichen Schaden angerichtet, er bietet aber auch Gelegenheit, Reformen von Grund auf durchzuführen, beſonders manche durch eine verkehrte Agrargeſetzgebung künſtlich erzeugte Übelſtände zu beſeitigen. Aus eigener Kraft würde Ditpreußen das nicht vermögen, aber hinter der verheerten Provinz fteht der preußifche Staat, ja das gefamte Deutiche Reich, deſſen Opferwilligkeit in der „Uftpreußenhilfe” zufammengefaßt werben foll. Der Plan ihrer Organtfation ift aus den Tageszeitungen bekannt. In allen

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Großftädten follen Dftpreußenhilfsvereine gegründet werden, von denen jeder die Sürforge für eine der zerftörten Kleinftädte übernimmt. Auf dieſe Weife kann für deren individuelle Bedürfniffe geforgt werden, die gerade in den Heinen Landftädten außerordentlich verſchieden find, weit verfchiedener als in mehr oder weniger gleichgearteten Großftäbten. Über biefen örtlichen Hilfsvereinen fol fih der Gefamtverband erheben, teils um die Tätigkeit der Gruppen zu über- wachen, teil$ um den ſchwächer Bemittelten materielle Beihilfe zu gewähren, befonder8 aber um größeren, die ganze Provinz betreffenden Aufgaben nach⸗ zulommen. Dank der Tatkraft der führenden Männer und der Opferbereitichaft der Bevölferung bat die „Oftpreußenbilfe” ſchon gute Fortichritte gemacht. Für Gumbinnen, Domnau, Gerdauen, Nordenburg, Soldau, Drtelsburg, Goldap, Lyck, Angerberg, Darkehmen, Pillfallen, Hobenftein find die Hilfsvereine ent- weder ſchon gegründet oder gefichert, wegen anderer Drte ſchweben ausfiht3- zeihe Verhandlungen. Mit einem Kapital von 100000 Marl kann ein Orts⸗ verein ſchon vieles leiften, aber einzelne haben fo erheblide Mittel zufammen- gebracht, daß fie über den urſprünglichen Plan hinausgehen und neben der Stadt auch den ganzen Kreis in ihre Fürforge einbeziehen fonnten. Immerhin bleibt noch vieles zu tun, wenn man bedenft, daß allein 43 Städte ber ruffifhen Zerftörungswut zum Opfer gefallen find. Ein Vorteil ift es, daß es fih um ein rein agrarifches Land handelt. Der Ader bleibt und wird über den Gräbern von Giegern umd Beſiegten wieder Früchte tragen, dagegen iſt es mehr als zweifelhaft, ob ver feit zehn Mommten von Schübengräben und Geſchoſſen durhmwühlte Boden der Champagne jemals wieber für Die frühere hohe Weinkultur geeignet fein wird.

Melden Zwed verfolgt nun die „Dftpreußenhilfe"? Cs find vielfach Bedenken aufgetaucht, daß die reichen freiwilligen Sammlungen zu einer Ent⸗ laftung des Staates dienen würden, daß bdiefer fparen werde, was durch private Wohltätigkeit geleiftet wird. Solche Befürchtungen, die felbft auf dem preußiſchen Städtetage laut wurden, entbehren jeder Unterlage. Weder wird Rh der Staat den Pflichten entziehen, die ihm rechtlich und moralifch obliegen, noch beabfichtigt die „Dftpreußenhilfe” foldhe Aufgaben zu übernehmen. Die Wirkungskreiſe beider find ſcharf getrennt, wenn fie fi) auch ergänzen und bie verſchiedene Tätigkeit einem gemeinfamen Ziele gilt. Wenn ber Staat den angerichteten Schaden erjeht, jo will die „Dftpreußenhilfe” darüber hinaus gehen, wenn jener die Mittel zum Wiederaufbau gewährt, fo will dieje dafür forgen, daß der Wiederaufbau nicht nur eine Wiederherftellung des Alten, Jondern eine Verbeſſerung bedeutet. Den Dftpreußen muß Freude im eigenen Haus und Behagen an der väterlichen Scholle bereitet werden. Nur unter dieſer Dorausfegung werden die Flüchtigen zurüdtehren, wird es möglich fein, neue Giebler zu gewinnen und vor allen aus der Provinz gebürtige, aber längft abgewanderte Sriegsteilnehmer, befonders unter den Invaliden, wieder ſeßhaft zu maden.

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Eine Hebung des Wohnungsweſens iſt, wie auch Jäger in ſeinem Aufſatz betonte, dringend geboten. Die Bautätigleit iſt in den kleinen Landſtädten ſtark zurüdgeblieben. Trotzdem die Bevölkerung nicht zunahm, beitand ein Mangel an Heinen Wohnungen. Was vorhanden war, war in den meilten Orten eng zufammengepferdt, ohne Licht und Luft, und entiprach oft nicht den befcheidenften gefundheitlihen Anforderungen. Das enge Weichbild muß durchbrochen werden. Einfamilienhäufer von drei bis vier Räumen follen entftehen, mit Gärten, die den Bedarf des Befibers an Kartoffeln, Obft und Gemüſen deden und ihm die Möglichkeit geben, ein Schwein oder eine Kuh zu halten. Solche Anweſen im -Umfange von einen halben bis einen Morgen Iafjen fi bei den verhältni3- mäßig billigen Bodenpreifen mit Einſchluß aller Baulichleiten für etwa 3000 Mark beichaffen, größere, die ſchon Gelegenheit zu eigener Aderwirtichaft bieten, alfo von etwa zwei bis fünf Morgen, zu einem Geftehungspreis von 9000 Marl. Eine erſte Hypothek bis zu 60 Prozent des Wertes ift von den öffentlichen Geldgebern bei mäßigem Zins und Tilgungsfähen jederzeit zu haben, die zweite in der Höhe von 30 Prozent würde von dem Hilfsverein gewährt werden, jo daß der Erwerber nur eine Anzahlung von zehn Prozent zu leiften bat. Dieſe zweite Hypothek fol zunächſt zinslos bleiben und erft wenn das Grundftüd zu vollem Ertrage gelangt, zu zwei Prozent verzinit und zu derfjelben Rate getilgt werden. Wenn man bedentt, daß der invalide Soldat mit Kriegs- und Ber- ftümmelungszulage eine Jahresrente vom 1368 Mark erhalten foll, fo ift eg ihm ein leichtes, ein derartiges Anweſen zu erwerben und die zweite Hypothek in furzer Zeit abzulöfen. In der Hebung des Wohnungsweſens fieht die „Dft- preußenbilfe”" ihre Hauptaufgabe, fie ift in allen Zeilen der Provinz unter geringen örtlichen Verfchiedenheiten die gleihe. Daneben aber bleibt in ben einzelnen Orten noch genug zu tun. Ym Anbau fol der alte Schlendrian aufhören; wo e3 der Boden erlaubt, follen die Kartoffeln durch Gemüſe erſetzt werden. Freilih Yein- und Frühgemüſe wird die Provinz niemals liefern, aber was ein guter eigener Beitand an Bohnen, Erbfen und Linfen wert ift, haben wir in diefem Stiege erfahren. Das Land ift flußreidh, aber aus den Gewäfjern wird faum der richtige Nuten gezogen. Fiſchkulturen gibt es höchſtens auf größeren Gütern, Krebfe, die in den Gropftädten erhebliche Preiſe erzielen, find in den abgelegenen Dörfern nur Spielzeug für Kinder. Auch der Obitbau Tann wefentlich gefördert werden, befonders für einzelne Arten Apfel dürfte das rauhe Klima recht geeeignet fein.

Das Handwerk hatte bisher in Dftpreußen keinen goldenen Boden, auch dies liegt zum großen Teil an der vorgejchobenen Lage der Provinz. Um fo banfbarer iſt es zu begrüßen, daß die Stadt Münden ſich erboten hat, bie Oſtmark mit Fünftleriich vollendeten, aber darum doch gebraudsfähigen Möbeln auszuftatten. Daraus wird ſich reiche Anregung ergeben und auch die wohl- babenderen Kreiſe werden ihren Bedarf nicht mehr einzig in Berlin deden. Auch die Hausinduftrie Tann belfend eingreifen. An Weiden ijt fein Mangel,

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aber wenn auch bier und dort die Korbflechterei ſchon betrieben wird, jo fehlt es ihr an geſchmackvollen Muftern, um ihre Erzeugniffe mit Gewinn abzuſetzen. Kleine Induftrieausftellungen, die womöglich nur ein paar Kreife oder einen Negierungsbezirt! umfaffen, können viel Gutes ftiften und neben materiellen Nuten zu einer Bereicherung bes geiftigen Lebens führen. Denn biefe Seite darf die „Oſtpreußenhilfe“ nicht vernadhläffigen. Sie muß darauf bedadht fein, die Schulen mit guten Lehrmitteln zu verſehen, Hausbaltungsfchulen für die weibliche Jugend einzurichten und die kleinen Städte mit brauchbaren Bibliothelen zu verforgen. ft das für jeden einzelnen Ort nicht möglich, fo können zunädjft Wanderſchulen und Wanderbüchereien die Lüde ausfüllen. Auch ein WBander- ibeater würde fegensreich wirken. Die „Dftpreußenhilfe" müßte dafür einen Zuſchuß bemilligen, da den Städten, troß der hohen Kommunalfteuern, Mittel für Lurusausgaben nicht zu Gebote ftehen. Viele haben es, ungeachtet der Zuſchläge von 300 Prozent und darüber noch nicht einmal zu Gas, Wafler- leitung und Sanalifation gebracht. Die Kommunalfteuern find das fchwerfte Hindernis für eine gedeihlihe Entwidlung der Provinz, da fie gerade Die wohlhabenderen Kreife zur Abwanderung veranlafien. Der Staat wird fi der Verpflichtung einer gleichmäßigen Verteilung der Kommunallaften dur die ganze Monarchie nicht entziehen können, aber ehe eine ſolche durchgeführt wird, ift Oſtpreußen fich felber und der ihm gefpendeten freiwilligen Hilfe überlafjen. Gelingt e8 den allgemeinen Wohlitand zu heben, fo wird die auch zu einer Erleichterung der örtlichen Steuerlaften dienen. Und noch ein Mittel bietet fi), Geld in das Land zu ziehen. Dftpreußen ift rei an landſchaftlichen Schön- beiten, ſowohl die Meerestüfte als die maſuriſchen Seen. Die Reifegebiete, die der Deutſche nach dem Kriege mit Vergnügen aufſuchen wird, find ſpärlich, das Ausland fällt beinahe ganz weg, da wäre es von befonderer Wichtigfeit, den Strom der Vergnügungsreifenden und Ausflügler nad Dftpreußen zu Ienten, wo neben Meer, Wäldern und Seen die Erinnerungsftätten der großen Hinden⸗ burgfchlachten Ioden. Mancher beliebte Badeort bringt es auf 50000 Fremde im Sommer, wenn jeder von ihnen auch nur die beicheidene Summe von 100 Marl ausgibt, fo wäre das ein jährlicher Zufluß von fünf Millionen, der den armen Dftpreußen ſchon zu ftatten fäme.

Nach dem Treubrud

Am Rheinftrom ging ich mit heißer Stirn Durch Wogen, darinnen die Sichel Klang; Mas fonniger Himmell Was filbriger Firn! In Weizen und Neben Trubgefang!

Kaiſer, der legte Mann tft Dein!

Heute gilt fein Sagen und Fragen!

Gott fiebt die Ernte in unfern Tagen.

Alle wollen wir Hüter fein!

Ohne Treue und Glauben bie Welt?

Dbne beide fein deutiches Land!

Mir laffen nicht, was uns alle hält!

Deutſcher Kaifer, nimm jede Hand!

Vorwärts! Was Franzmann, was welfcher Sproß: Wahrheit foll bleiben, für die wir ftreiten; Ehrliches Wort fol uns ferner leiten.

Dafür der Iekte Soldat auf's Roß!

Und tut uns die Welt, was nie geſchah: Deutſche Herzen, empor, empor! Alle find ſich einander nah: Wir behalten, was Deutichland nie verlor! Immer will unfer Auge frei Dem lebten Feinde in's Antlitz ſchauen; Zreubruch mögen die Andern brauen. _ Uns bleiben Männer, dies eine feil Mar Bittrich

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Kriegstagebuch

4. Juni 1915. Ein Vorſtoß bei Sawdyniki bringt 8650 gefangene Ruſſen ein.

4. $uni 1915. Ein ruffiiher Minenfreuger der Amurklaffe vor Baltifchport verjentt.

4. $uni 1915. Beppelinangriff auf die engliihe Oſtküſte, die be- feftigte Humbermändung und der Flottenftügpuntt Harwid mit Bomben belegt.

5. $uni 1915. Kämpfe um Souchez und bei NReuville. Calais und der Flughafen St. Clement bei Luneville bombardiert.

5. Juni 1915. In Galizien den Brüdentopf bei Zurawno geftürmt. Am Dujeſtr 10900 Gefangene gemacht, ſechs Geihüge, 14 Maſchinen⸗ gewehre erbeutet.

6. Juni 1915. Türkiſcher Sieg bei Sedd ul Bahr, 17 Maſchinen⸗ gewehre erbeutet.

5. Juni 1915. Für die Staliener fehr verluftreihe Gefechte am Fern.

6. Zuni 1915. Abgewieſene franzöfiihe Angriffe an der Loretto⸗ höhe, füdöftlih Hebuterne, nordiweftlih Moulin ſous Touvent und bei Vauquois. | 6. Juni 1915. Südöſtlich Kurtowiany und öftlid Sawdyniki weitere 8340 Gefangene gemacht, zehn Mafchinengewehre erbeutet.

6. Juni 1915. Bei den Kämpfen um Praemyfl 83000 Gefangene gemadt. Die Ruſſen nordweſtlich Mofiiffa auf die Wiſznia zurück⸗ geworfen. Die Linfingen » Armee erlämpft fi den Übergang über den Drijeftr bei Zurawno, die Zahl der Gefangenen fteigt bier auf über 18000.

6. Juni 1915. Unfere Rarineluftidhiffe greifen erfolgreich die Docks bon Grimsby und Kingſton an der englifhen Ofttüfte an.

6. $uni 1915. An der Kärmergrenze erobern die Ofterreicher den Freikofel zuräd, im Krn⸗Gebiet mußten die Ktaliener die Ortſchaft Krn räumen.

7. $uni 1915. Die Linfingen-Armee ſchlägt die Ruſſen ermeut bei Zurawno. Südlich des BDnijeftr den Liwkaabſchnitt überfchritten. Myſlow, Wognilow, Seredna, Kolodziegow erreidht. 42000 Gefangene, vier Geſchütze, zwölf Mafchinengewehre erbeutet.

7. Sunt 1915. Das italienische Luftſchiff „Citta di Ferrara” vom öfterreihifchen Flugzeug L 48 in Brand geſchoſſen und vernichtet. Flugzeug 247 bombardiert Venedig.

Kriegstagebud

7. Suni 1915. Der amerifaniihe Staatsjefretär Bryan tritt zurüd.

8. uni 1915. Abgeſchlagene franzöfiihe Angriffe an der Loretto- höhe, füdlih Neupille, füdöftlid Hebuterne und im Prieiterwald.

8. Juni 1915. Kubyli am öftlihen Bindauufer genommen, an der Dubifla der feindliche Nordflügel geiworfen, ſüdlich des Njemen die Ruſſen auf Kowno zurüdgeworfen.

8. Juni 1915. Staniglau genommen, 4500 Gefangene gemadit, 18 Maſchinengewehre erbeutet.

8. Juni 1915. Angriffe der Italiener gegen den Görzer Brüden- kopf unter den ſchwerſten Berluften für den Feind abgeſchlagen.

9. Juni 1915. Kämpfe bei Souchez, Neuville, Hebuterne; in der Champagne bei Souain, Hurlus mehrere feindliche Gräben beſetzt, nördlich Le Mesnil franzöfifhe Stellungen geftürmt, ein Mafchinengewehr, vier Mineniverfer erbeutet.

9. Juni 1915. Südweſtlich Szawle 2250 Ruſſen gefangen, zwei Mafchinengeivehre genommen. Südlih des Riemen feit dem 6. uni 8020 Gefangene gemacht, zwei Fahnen, zwölf Majchinengeivehre, viele Feldküchen und Fahrzeuge erbeutet.

9. Juni 1915. Das öfterreichifche Unterſeeboot 4 verfentt in der Adria einen engliihen Kreuzer vom Typ Liverpool.

10. $uni 1915. England gibt befannt, daß es die unterjchiedliche Behandlung der gefangenen Unterfeebootsbefagungen aufgibt.

10. uni 1915. Ein Zeppelin verjentt in der Nordſee zwei Fiſchdampfer.

10. Juni 1915. Franzöſiſche Angriffe an der Lorettohöhe, bei Reuville, Hebuterne und Beaumont und in der Champagne nördlich Le Mesnil abgewiefen.

10. $unt 1915. Die engliihen Torpedoboote Nr. 10 und 12 durch ein deutfches Unterfeeboot an der Oſtküſte Englands verfentt.

10. Juni 1915. Ein öſterreichiſches Unterfeeboot verjentt das italienifche Unterfeeboot „Medufa“ in der Rordadria. „Midille” verjentt einen ruſſiſchen Xopedobootözerftörer im Schwarzen Meer.

10. Juni 1915. Die deutſche Regierung kündigt Nepreffalien an wegen der jchledten Behandlung der deutihen Gefangenen feitend der Franzoſen in Afrifa.

10. Juni 1915. Amerila überreiht der deutihen Negierung die zweite Lufitania-Rote.

11. $uni 1915. Rördlich Ecurie franzöſiſche Angriffe unter ſchwerſten Berluften für den Feind abgeichlagen.

11. $uni 1915. Nördlich Praadnyfz eine ruſſiſche Stellung geftürmt. 150 Gefangene, einige Mafchinengewehre und Minenwerfer erbeutet; an der Rawla ſüdlich Bolimow 500 Ruſſen gefangen.

11. Juni 1915. Zwiſchen Dnjeftr und Pruth die Orte Jeziergany und Niezwiſka erjtürmt, auch Zaleſzezyki eingenommen, 6000 @ejangene gemadt.

12. Zuni 1915. Kuze, nordweftlih Szawle, im Sturm genommen, 8350 Mann, aht Offiziere gefangen, acht Mafchinengewehre erbeutet. Die Beute füdlih Bolimow auf 1660 Gefangene, at Gefüge, darunter zwei ichwere, und neun Mafhinengewehre erhößt.

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12. Juni 1915. Der Brückenkopf von Sieniawa wiedergenommen, 5000 Gefangene; Miyniffa von der Linfingen-Armee genommen. In Süd» oftgaligien die Orte Tyfimenica und Tlumacz genommen, in der Bulowina die Ruſſen über die Neichögrenze geworfen und mehrere Orte Beſſarabiens befegt.

12. uni 1915. Die Italiener verlieren bei einem abgetviejenen Angriff auf Plawa über 1000 Tote.

18. Juni 1915. Schwere Niederlage der Franzoſen zwiſchen Lievin und Arrad.

18. Juni 1915. Bei Kuzowinia nordweftlih Szawle und ſüdöſtlich der Straße Mariampol— Kowno ruffifhe Stellungen geftürmt, 600 Gefangene gemacht.

18. Juni 1915. Die Armee Madenfen ftürmt auf einer $ront bon 70 Kilometern zwiſchen Ezerniawa und Sientawa die feindlidden Stellungen, 16000 Gefangene gemadt.

14. Juni 1915. Ermeuter Durchbruchſsverſuch der Franzofen an der Front Lievin— Arras unter ſchwerſten Berluften für den Feind gefceitert.

14. Juni 1915. Die offene Stadt Karlsruhe durch ein feindliche Slugzeuggeihwader mit Bomben beivorfen; zwei Flugzeuge wurden berab- geichoflen.

14. uni 1915. Weſtlich Szawle das Dorf Daukſze geftürmt, 1660 Gefangene gemadt; an der Front Lipowo Kalwarja ruffiiche Stellungen erobert, am Orzyc dad Dorf Sednorogec und die Ezerwona Gora geftürmt.

14. uni 1915. Moſzisca und die Höhen weftlih Jezupol erftürmt.

15. $uni 1915. Heftige Kämpfe bei Ypern und bei La Baflee, wo engliihe Angriffe blutig abgewiefen werden, mehrere Naſchinengewehre und einen Minenwerfer erbeutet.

15. $uni 1915. Un der Front Lipowo— Kalwarja mehrere Ort- Thaften genommen, 2040 Gefangene, drei Mafchinengewehre erbeutet.

15. Yuni 1915. In Galizien die ruffiihen Armeen weiter zurüd- geworfen, feit dem 12. über 40000 Dann gefangen genommen, 69 Mafchinen- gewebre erbeutet. Bom 1. biß 15. in Galizien über 122000 Mann gefangen, 53 Geihüge, 187 Majhinengewehre, 58 Munitiondwagen erbeutet.

15. Juni 1915. Bei den griechiſchen Kammerwahlen erlangten die Venigeliften die Mehrheit.

16. Juni 1915. Neue Niederlage der Engländer und Franzoſen am Kanal von La Baſſée und bei Soudez. Bei Moulin » fouß » Toupent 300 Franzojen gefangen. Schwere Kämpfe in den Vogeſen zwiichen Fecht⸗ und Lauchtal.

16. Juni 1915. In Galizien Dachnow und Vubaczow, fowie Weſt⸗ Grodek geftürmt.

16. Yuni 1915. Die NRordoftlüfte Englands dur unfere Marine⸗ luftſchiffe erfolgreich angegriffen.

17. Juni 1915. Gefdeiterte Durchbruchsverſuche der Engländer und Franzoſen nördlich Arras, 17 Offiziere, 647 Mann gefangen.

17. Suni 1915. Cieſzanow im Sturm genommen, Tarnogrod befegt._ Sturmangriffe der Ruſſen zwiſchen Bnieftr und Pruth blutig abgemwiefen, 1000 Mann gefangen.

Kriegstagebucdh

18. $uni 1914. NRordöftlih Luneville den befeftigten Ort Ember- menil genommen.

18. Juni 1915. Güdweitlih Kalmarja dad Dorf Bollowizna geftärmt.

18. $uni 1915. In Galizien Grodel und Komarno erftürmt.

19. uni 1915. Der ruſſiſche Miniſter des Innern, Maklakow, tritt zurüd; fein Nachfolger wird Schterbatow.

19. Juni 1915. Die öfterreihifhe Flotte beſchießt Rimini und Befaro an der italienischen Adriaküfte.

19. $uni 1915. In Galizien alle feindlichen Stellungen auf der 85 Kilometer langen Yront nördlih don Janow bis Huta—Obedynilfa füdweftlih Rawa⸗Ruſta geftürmt.

20. Zuni 1915. Der: engliide Panzer „Roxburgh“ dur ein deutſches Unterſeeboot öſtlich de Firth of Forth Iorpediert.

20. Juni 1915. Im Weſtrand der Argonnen auf zwei Kilometer Frontbreite mehrere Verteidigungdlinien erftürmt, auf den Maashöhen und in den Vogeſen ftarle franzöfifhe Angriffe abgeiwiefen, Megeral zur Ber- meidung unnötiger Berlufte geräumt.

20. Juni 1915. Rawa⸗Ruſta nördlid Lemberg genommen. Zwiſchen Janow und nördlid Magierow in zwei Tagen 9500 Ruſſen ger fangen, acht Geihüge, 26 Maſchinengewehre erbeutet. Kaiſer Wilhelm befindet fi bei den deutihen Truppen auf dem galizifhen Kriegs⸗ Thauplag.

20. $uni 1915. Am Krn die Italiener aus ihrer Sattelftellung geworfen.

21. Juni 1915. Im Beten an verſchiedenen Stellen feind- fihe Angriffe abgewiefen, auf den Maashöhen 130 Gefangene gemacht.

21. Juni 1915. Seit dem 12. Juni machten die in Galizien kämpfenden deutſchen Truppen 58800 Mann, 237 Offiziere zu Gefangenen und erbeuteten neun Geſchütze und 186 Maſchinen⸗ gewehre.

21. Juni 1915. Infolge der großen fortdauernden Unruhen in Moskau tritt der Stadthauptmann Adrianoff von feinem Poſten zurüd.

22. Juni 1915. Dünfirden beſchoſſen, Angriffe der Franzoſen auf den Maashöhen abgeichlagen, 280 Gefangene, fieben Mafjchinengewehre, 20 Minenwerfer erbeutet. In den Vogeſen Höhe 681 bei Ban-de- Sapt erftürmt, 243 Gefangene, drei Maſchinengewehre, ein Minenwerfer erbeutet.

22. Juni 1915. Lemberg im Sturm genommen, ebenfo die Szczerek⸗ Stellung zwiſchen Mitolajow und Lembarg.

22. Juni 1915. Im Kaukaſus nehmen die Türlen den 2900 Meter hoben Karadagh.

28. Juni 1915. Auf den Maashöhen weitere 150 Franzoſen ge- fangen, in den Bogefen feindliche Angriffe abgewiejen.

28. Juni 1915. Die Linfingen- Armee überfchreitet den Bnjeftr. Im San —WBeichſelwinkel gehen die Ruſſen Hinter den Sanabſchnitt zurüd, vom linten Weichſelufer nad) Norden.

28. Juni 1915. Die Serben befegen Durazzo, Albanien.

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416 Kriegstagebud,

24. Juni 1915. Abgewiejene franzöfiihe Angriffe ſüdlich Souchez, im Labyrinth, in den Argonnen, wo dem Feinde noch ein Graben, jowie drei weitere Mafchinengewehre und drei Mineniverfer abgenommen werden, und auf den Maashöhen.

24. Nuni 1915. In Galizien Chodorow bejegt.

24. Juni 1915. Dad franzöfiihe Moratorium für Wechſel uw. wird um Weitere 90 Tage verlängert.

Allen Danuflripten ift Borto hinzuzufügen, da andernfall® bei Ablehnung eine Rüdjendung nicht verbürgt werden Tann. a

Nachdruck fämtlicher Auffäte nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlags geftattet. Berantwortlidh: der Herausgeber Georg Eleinom in Berlin. Lichterfelde Weft. Manujtriptiendungen und Briefe werden erbeten unter ber Adreſſe:

Un den Herausgeber ber Greuzboten in Berlin - Lichterfelde Weit, Sternftraße 56.

Fernſprecher bed Herausgeber: Amt Lichterfelde 498, des Berlagd und der Schriftleitung: Amt Lützow 6510, Berlag: Verlag der Grenzboten &. m.b.H. in Berlin SW 11, Xempelbofer lifer 35a.

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