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BERKELET

LIBRARY

unıversity Of CALIFORNIA

RN A| ame u ER Bücherei 2

Gsasellschaft de Freunde

dez vaterländischenschul-u.Erziehunggwegens

Eu QrAmbura

Digitized by Google

Die Tat Monatsſchrift für die Zukunft deutſcher Kultur

herausgegeben von

Eugen Diederichs

18. Jahrgang 1926/27

Band I. April / September

Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1926

LOAN STACK

aus“ es mieten aus der Bücherei d. Jes. d. Freunde d. vaterl. Schul- u. Erzienungswesens Hamburg

Inhalt des achtzehnten Jahrganges I Ill

Inhalt des achtzehnten Jahrganges I. Salbjahrband

Bluaͤher, Sans, Eine mediziniſche Steeitfchrift -. - - - . - .. . Zeite 231 Booth, Meyrid, Das England von heute 8 304 Braun, Felix, Frankreich und Deutfhland - -. - - - > 2 22... = 349 Braunthal, Alfred, Die Seimvolkshochſchule cin 3186 Buͤbler, Fritz, Die Runftfituation des Films = 486 Buſſe⸗Wilſon, Eliſabeth, Zur National - Pſychologie des Bolſche · wismuiu s * 181 Delius, Rudolf von, Das Geheimnis Segels 448 Drews, Arthur, Georg Brandes, Sauptſtrömungen der Literatur des neunzehnten Jahrhundert᷑t es 5 145 Ebrentreich, Alfred, Die neue Sachlichkeit in der Schule 5 234 Ernſt, Paul, Doſtojewſti und wir - - » 2 2 220 ne nen N 161 Everth, Erich, Goethes Lebens ideea 5 150 moderne Charakterforſchun gu jr 23 Joelkerſahm, Samilkar von, Organiſche RAultu ert 5 140 Fraenkel, Ernſt, Die Wirtſchaftsſchule des Deutſchen Metallarbeiter · verbandes in Bad Duͤrren berg 333 Fraͤnzel, Walter, Geſolei · Eindruͤckke nn 163 Freytag, Aarl Ferdinand, Paul Ernſ tt. 1 III Fricke, Fritz, Die Berliner Gewerkſchaftsſchulñlnñle 1 320 Sußboeller, Leo, Kulturzentren der Groß · State u 129 Seminar für Spredhkunde . - » - 2 2.2. 0. " 482 Gerloff, meta, Marg. NMaumanns ſchoͤpferiſche handwerkliche Er · ebhun sd We 5 492 Gleis ner, Martin, Elemente des Laienſpiels 3 204 Graf, Georg Engelbert, Arbeiterbildungskurr eee. " 279 Grau, G., W. Wilfons Worte.. 236

Grave, Friedrich, Die vierzehn Punkte von der Freiheit des Willens S6 5 An der Schwelle des vierdimenſionalen Jeitalters 5 475 Gumbel, Sermann, Vom Weſen des nordiſchen Nenſ chen " 195

1 Bünder des Weges 5 216 en Valtin, Arbeiter bildung 5 24] 15 Die Funktionaͤrſchule des Arbeiter Bildungs - Inſti⸗ tuts in Leipzig u 335 R Üöerſicht Aber die Organifation des Arbeiterbil dungsweſen-ꝰ”nÖ nenn... 5 336 Zartmann, Sans, Der Menſchen ſuchende Gott 5 233 1 X Reiſeeindruͤcke aus Frankreich 5 355 Kirche und Volksbildung, Leitſ atze 5 410

e Otto, Zur Metaphyſit des kuͤnſtleriſchen Tanzes . . . = 237

5 2 1

IV Inhalt des achtzehnten Jahrganges I

Seller, Sermann, Die Leipziger Volks hochſchulbe inne 5 Arbeit und Bildung in der Arbeiterbewegung Beine: Fritz, Chaotica ac Divine Sermberg, P., Die Wirtſchafts ſchule Leipzig o Zofmann, Walter, Methodiſche Grundlagen zur Arbeiterbildung

Soͤrdt, Philipp, Deutſche Schickſ alle pr Von der Alaſſe zum Sande

Bapff; Rudolf, Vom ſchwaͤbiſchen Volkstum und feiner Pflege.

Bern, Sans, Die Wiederentdeckung der biozentriſchen Romantik

Klages, Ludwig, Die Bedeutung von C. G. Carus für die Pſycho

ISS.... er. ir es Bloß, Heinz, Sprengelſiedlung und. ‚Zeimarheblung ee Le Seur, Eduard, Schloß Elmau und feine kulturelle Bedeutung ; Lieblich, Aarl, Über die rechte Befolsfhaft - - - - - > 2... Cukscs, Georg, L’art pour l’art und proletariſche Dichtung

de Man, Sendrik, Arbeiterbildung in der Welt |

Meß, Friedrich, Serzog Georg in Widersborf -. - - » 2... meyer ⸗Benfey, Seinrich, Menſch und Ubermenſ o 2 Michel, Ernſt, Die Akademie der Arbeit u, mödel, Barl, Das heilige Reich der Deutfhben - - - 2...

N ch, Ernſt, Geiſtige Elemente und geiſtige Arbeit der freien Ge ·

werkſc haften Yin, Martin, Johann Jakob Bachofen und das Naturſymbol Obe nauer, Barl Juftus, Ju RB. Chr. Plancks Teſtament A. Chr. Plancks Naturphiloſophie papeſch, Joſepb, Oſterreichiſche Sentimentalitaͤten pee, Julius, Conſcience Sorfbung - gs Peters, Richard, Stufen der Jugendbewegung Plaßmann, J. O., Voͤlkerbuͤnde im Mittelalteeeeeee % Dloum, Seinz, Eine urchriſtliche Gemeinde im . Jahrhundert Prellwitz, Gertrud, Paul Muͤbhſau - - - - 22 ne Schulz, Seinrich, Phaſen der Arbeiterbildung x Schürer, Oskar, Einige Geſichtspunkte zur entwicklung PR In- duſtrialism uns Seelbach, 3. Grundfragen der Organiſation der Staatlichen Fach- ſchulen für Wirtſchaft und Verwaltung Sonneborn, Marliſe, Offener Brief an Serrn Corw eg

Staͤbler, F., Chriſtoph Schrempf l / f1llllll .. |

Steinhauſen, Georg, Die Ungeiftigfeit der deutſchen Geſellſchaft im letzten Menſchenaltttt ua Struͤnckmann, Karl, Die „Coueismus - Pſychoſſ e

1 Der neue Reichsbund für Lebens · und Seil

Tal hoff, Albert, Farbe und Daſ ein. er e Wilhelm, Der Darwinismus und der deutſ che Geiſt Pr Bacheſenan2nan

e Erich, Der Sprachſtreit in Norwegen |

Inhalt des achtzehnten Jahrganges |

Trummler, Erich, Worwegiſche Volks hochſchu le Wegwig, Paul, Gott · Natur 7 Das Ehebuc hh

5 Friedrich Gundolf, Cäſar, Geſchichte feines Ruhms.

5 Bemerkungen zu Bal za,

5 Dichtung und Dichter der J eit Wilhelm, Richard, Spaniſche Eindruͤckke Willige, Wilhelm, Deutſche Myſtik und Romantiee Winkler, Erich, Bildungs fragen der Sozialdemokratie Wohlbold, g., Goethe als Naturforſcher in feiner Bedeutung für die Gegenwart

* Ein Weg zur Erforſchung des Lebendigen

5

2 2

V

IV Inhalt des achtzehnten Jahrganges

Seller, Sermann, Die Leipziger Volks hochſchul beine Mr Arbeit und Bildung in der Arbeiterbewegung 8 Fritz, Chaotica ac Divine Sermberg, P., Die Wirtſchafts ſchule Ceip zig Zof mann, Walter, Methodiſche Grundlagen zur Arbeiterbildung Soͤrdt, Philipp, Deutſche Schickſ alle u Von der Klaſſe zum Stad 22. . Bayff; Rudolf, Vom ſchwaͤbiſchen Volkstum und feiner Pflege. Bern, Sans, Die Wiederentdeckung der biozentriſchen Romantik.

Seite

Blages, Ludwig, Die Bedeutung von C. G. Carus für die pſycho u

/ 1 Aloß, Heinz, Sprengelſiedlung und 0

Ce Seur, Eduard, Schloß Elmau und feine kulturelle Bedeutung. 5

Cieblich, Karl, Über die rechte Gefolgſchaf t... Cukscs, Georg, L'art pour Fort und proletariſche Dichtung

de Man, Sendrik, Arbeiterbildung in der Welt. f

Meß, Friedrich, Serzog Georg in Wickersdoerrr rr meyer · Benfey, Seinrich, Menſch und Übermenfb ohhh michel, Ernſt, Die Akademie der Arbeietetetet 2... ee mödel, Karl, Das heilige Reich der Deutfden - - - - 2... N ch, Ernſt, Geiſtige Elemente und geiftige Arbeit der freien Ge⸗ werkſc haften Kind, Martin, Johann Jakob Bachofen und das ne ; Obenauer, Karl Juftus, Ju RA. Chr. Plands Teſtament AJ. Chr. Plancks Naturphiloſophie papeſch, Joſepb, Oſterreichiſ che Sentimentalitàͤa ten Dee, Julius, Conſcience⸗Forſchunn uus Peters, Richard, Stufen der Jugenbbewegung - ggg Plaß mann, J. O., Voͤlkerbünde im Mittel alten 3 Ploum, Seinz, Eine urchriſtliche Gemeinde im XX. Jahrhundert Prellwig, Gertrud, Paul Mübfem. - - - - 2 22mm. Schulz, Seinrich, Phaſen der Arbeiterbildung S Schuͤrer, Oskar, Einige Geſichtspunkte zur Entwicklung des In- duſtrialismunnnu sss Seelbach, 5., Grundfragen der Organiſation der Staatlichen Fach- ſchulen für Wirtſchaft und Verwaltung Sonneborn, Marlife, Offener Brief an Seren Cor weg

Staͤbler, F., Chriſtoph Schrempf l / fl. |

Steinhauſen, Georg, Die Ungeiſtigkeit der deutſchen Geſellſchaft im

letzten Menſchenaltt nu

Struͤnckmann, Karl, Die „Coueismus · Pſpchoſ e

5 Der neue Reichsbund für Lebens · und Seil⸗

, a ee ei Br

Talhoff, Albert, Farbe und Daſe˙in . Er zen Wilhelm, Der Darwinismus und der deutſche Geiſt

* J. J. Bachefenngn.

. Erich, Der Sprachſtreit in Norwegen. |

329

Inhalt des achtzehnten Jahrganges! V

Trummler, Erich, Norwegiſche Volks hochſchule Seite 397

Wegwitz, Paul, Gott Natuer 0 nennen. 7 68

5 Das Ehebunc̃ hh 1 143

5 Friedrich Gundolf, Caͤſar, Geſchichte ſeines Ruhms. 1 146

2 Bemerkungen zu Balzaõ.;ſ qa + 392

* Dichtung und Dichter der J eit * 480

Wilhelm, Richard, Spaniſche Eindruͤ cke 1 337

Willige, Wilhelm, Deutſche Myſtik und Romantik 1 405

Winkler, Erich, Bildungsfragen der Sozialdemokratie . . . - . 1 264 Wobhlbold, 5., Goethe als Naturforſcher in ſeiner Bedeutung für

die Gegenwart 8 17

= Ein Weg zur Erforſchung des Lebendigen 1 85

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: 8 * .

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® * 8 11 . .

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Monatsſchri

für die Zufunft deut ſcher Rultur

18. Jahrgang Heft 1 April 1926 —᷑ͤ(᷑᷑.':ñ᷑᷑᷑!!.;Z̃ mç—üBp ͤ᷑—....... ͤwœ!—T—T ᷑w—ññ ? :::.: b]!ln——ʃ ͤ ͤ———

Wilhelm Troll / Der Darwinismus und der deutſche Geiſt

In memoriam R. Ch. Planck Darwin neben Goethe ſetzen beißt: die Majeſtät verlegen me estatem genii! Wietzſche „Iſt auch ſchon ihre Erfahrungsweiſe ganz reſpektabel, fo konnen fie beim Uberdenken ſich von mechaniſchen und atomiſtiſchen Vorſtellungen nicht los machen, und werden ſie eine Idee gewahr, ſo wollen ſie ſolche zur Sintertuͤr hereinbringen, welches ein fuͤr allemal nicht geht.“ Goethe über unſere weſtlichen Nachbarn

Die Tragödie des deutſchen Geiſtes

eit alters ſtehen ſich zwei fundamental verſchiedene Naturan⸗; Stier gegenüber, die aͤußerlich ⸗mechaniſtiſche und die inner⸗

lich⸗ ideelle. Die erſtere iſt vor allem dem Denken der weſtvoͤlker eigentůmlich. Ihren glaͤnzendſten Serold fand fie in Bacon von Verulam, der in ſeinem Novum Organum den Grund zu einer rein empiriſtiſchen Auffaſſung der Natur legte. Von nun an ſollte nur mehr als wirklich und wahr gelten, was den Sinnen zugänglich iſt und Objekt der ſinnlichen Er⸗ fahrung werden kann. Nur mehr der aͤußeren Erſcheinung ſollte Realität zukommen; was vergangene Zeiten hinter ihr ſuchten als ihr Weſen und als tragende Idee, wurde als Zutat des Subjektes aus dem Bereiche des Weltbildes verwieſen. In ungehemmter Entfaltung verbreitete ſich dieſe aͤußerlich · empiriſtiſche Weltanficht zunaͤchſt uͤber Weſte uropa und eroberte ih das Denken der Weſtvoͤlker um fo vollſtaͤndiger, je mehr es ſich im Laufe Tat xv 1

2 Wilhelm Troll

von drei Jahrhunderten entleerte und entgeiſtigte, bis fie im I8. und 19. Jahrhundert in flachen Materialismus ausartete.

Umgekehrt: genau im Widerſtreben gegen die empiriſche Außerlichkeit und die Sinnenfaͤlligkeit beſteht der Zauber der deutſchen, der innerlich⸗ ideellen Denkweiſe. was das deutſche Denken und Vorſtellen von dem weſtlichen hauptſaͤchlich unterſcheidet, das iſt: daß es „tief“ iſt, daß es zu den „Muͤttern hinabſteigt. Es ſucht nach dem „Orgelpunkt“.

Die deutſche Naturanſchauung, innerlich ideell wie die platoniſche und ihr zutiefſt verwandt, erkennt der Natur nicht bloß toten Mechanismus, ſondern auch Geiſt und Leben zu, eine Entwicklung aus irrationalen Tiefen, eine produktive, ſchoͤpferiſche Kraft. Sie verlegt das Schwerge⸗ wicht in das Innere und betrachtet das Außere, die Erſcheinung, als „ſymboliſche Vermummung, wohinter ein hoͤheres geiftiges Leben ſich verbirgt” (Goethe). Die Erſcheinung iſt Ausdruck und Geſtaltung eines Geiſtigen, von ſchaffenden Ideen.

Dieſer Naturanſchauung haben die größten Beifter des Deutſchtums gehuldigt und ſie waren ſich bewußt, hierin ein hohes Erbe zu wahren, namentlich gegenüber dem drohenden Einbruch des flachen weſtlichen Den- kens. Goethe ſah es genau, wenn er meinte, daß es in der neueren Zeit „unſeren weſtlichen Nachbarn niemals zum Schaden gedieh, wenn fie von deutſchem Forſchen und Beſtreben einige Kenntnis nahmen! . In Goethes Geſtalt iſt uͤberhaupt all das Beſte deutſchen Weſens und deutſcher Natur⸗ anſchauung wie in einer letzten glänzenden Verkoͤrperung zuſammen⸗ gefaßt. Aber in ſein Alter reichen bereits dunkle Schatten herein wie von kommender Nacht, die denn auch, laͤngſt an den Grenzen lauernd, über den deutſchen Geiſt herein brach.

Die Entwicklung des deutſchen Geiſteslebens ſeit dem Seimgange Goe⸗ thes iſt dadurch gekennzeichnet, daß das weſtliche Denken den Sieg uͤber das urfprünglich deutſche davontrug und es vergewaltigte. Der deutſche Geiſt wurde zuruͤckgedraͤngt, ſo daß er von nun ab in Bettlersgeſtalt wie weiland GOdyſſeus an der Schwelle des eigenen Sauſes darben mußte. Das iſt eine Schmach, der gegenuber alle politiſche Demuͤtigung verblaßt, und doch: von wie wenigen wurde fie gefeben! Deren klagende Stimme aber ver⸗ klang in eiſiger Einſamkeit. Damals ſchrieb Nietzſche: „Die Deutſchen man hieß ſie einſt das Volk der Denker: denken ſie heute uͤberhaupt noch? Die Deutſchen langweilen ſich jetzt am Geiſte, die Deutſchen mißtrauen jetzt dem Geiſte .. Deutſchland gilt immer mehr als Europas Flachland.“

In dieſe Eiszeit deutſchen Geiſteslebens faͤllt das Wirken eines Mannes, der, ſchon zu Lebzeiten kaum erkannt, faſt gaͤnzlich in Vergeſſenheit geraten iſt: des Philoſophen Karl Chriſtian Planck. Es iſt ein bitteres Geſchick, welches das Werk dieſes Mannes den Blicken ſeiner Zeit und der Nachwelt entzog. Aber war es nicht natürlich, daß ein Künder wahrhaft deutſcher Tiefe wie Planck ůberhoͤrt werden mußte in einer Periode, in welcher nach

Der Darwinismus und der deutſche Geiſt 3

feinen eigenen Worten „bei dem inneren Abſterben der alten IJdealform die traurigſte Ernuͤchterung und Veraͤußerlichung des ganzen Bewußtſeins, die tiefſte Erſchlaffung des ſchaffend⸗ idealen Sinnes“ allgemein wurde? Das „Teſtament eines Deutſchen“, ſein letztes poſthumes Werk, in dem er die Rerngedanken feiner „Philoſophie der Natur und der Menſchheit“ noch einmal zuſammenfaßt, iſt heute noch fo gut wie uneroͤffnet “. Und dennoch wird es, wenn erſt die Zeit erfuͤllt iſt, dem unverlierbaren Beſitz des deutſchen Schrifttums zugerechnet werden; nur „die Ungunſt und Stumpf: beit einer am hoͤchſten Berufe deutſchen Geiſtes irre gewordenen Zeit“ konnte die Beachtung einer prophetiſchen Stimme verſagen, welche die innere Sohlheit des neuen Deutſchland ſchon am Beginne der ſiebziger Jahre ausſprach und feinen unvermeidlichen Zuſammenbruch vorausſagte.

Serder ſchrieb in ſeinen Briefen zur Befoͤrderung der Sumanitaͤt: „Auf dieſem demuͤtigen Wege wollen wir bleiben und nicht erwarten, daß man uns verſtehe und ehre. Der Nationalruhm iſt ein taͤuſchender Verfuͤhrer. Zuerſt lockt er und muntert auf; hat er eine gewiſſe Soͤhe erreicht, ſo um⸗ Hammert er den Kopf mit einer ehernen Binde. Der Umſchloſſene ſieht im Nebel nichts mehr als fein eigenes Bild, keiner fremden neuen Eindruͤcke mehr faͤhig. Bebüte der Simmel uns vor ſolchem Nationalruhm.“ Darin iſt das politifche Ideal aller großen univerſellen Deutſchen ausgedruͤckt. So ſah es auch Planck; er ſah es aber im Lichte der großen nationalen Einigung, welche in die Bluͤte ſeines Schaffens fiel, jedoch nur allzubald in engſtirnigen Nationalismus ausartete. „, Deutſchland, Deutſchland uͤber alles‘, ich fürchte, das war das Ende der deutſchen Philoſophie fo nahm Nietzſche dieſe Spottgeburt deutſchen Weſens auf und gab die Lofung, nach der ſich die feineren Köpfe zu ihm ſtellten: „National zu fein in dem Sinne, wie es jetzt von der Öffentlichen Meinung verlangt wird, würde an uns geiſtigeren Menſchen, wie mir ſcheint, nicht nur eine Abgeſchmacktheit, ſondern eine Unredlichkeit ſein, eine willkuͤrliche Betaͤubung unſres beſſeren wiſſens und Gewiſſens.“ Planck aber verkuͤndete ſchon 1878 dieſem Na⸗ tionalismus fein unvermeidliches Ende: „Welch blutig trauervolle Srüchte feines bloß nationalen Strebens wird dieſes heutige Deutſchland noch ern- ten möffen, bis es aus dem Stumpfſinn erwacht, mit dem es ſich heute gegen alles tiefere Wort der Wahrheit verſchließt.“ Seine Mahnung verballte ungebört ; es fehlte ihr der mächtige Reſonanzboden in der Nation, die um das goldene Kalb tanzte, indes ihr Schickſal ſich erfuͤllte.

Die alten Goͤtzen ſanken in Staub zuſammen, die glänzende Faſſade, die ſich der Deutſche nach außen hin gegeben hatte und die ihn über feine innere Schmach hinwegtaͤuſchen mußte, iſt zuſammengebrochen. Aus dem Schutt und der Aſche aber glimmt hell der unverlierbare Funken des deutſchen weſens zu neuem Leben empor, genaͤhrt an der tiefſten Tradition der Ver Planck, A. Ch., Teſtament eines Deutſchen. br. M J2.50, Keinen M 16.—. Jena 1925, Eugen Diederichs Verlag.

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2 Wilbelm Troll

von drei Jahrhunderten entleerte und entgeiſtigte, bis fie im I8. und 19. Jahrhundert in flachen Materialismus ausartete.

Umgekehrt: genau im wWiderſtreben gegen die empiriſche Außerlichkeit und die Sinnenfaͤlligkeit beſteht der Zauber der deutſchen, der innerlich⸗ ideellen Denkweiſe. Was das deutſche Denken und Vorſtellen von dem weſtlichen hauptſaͤchlich unterſcheidet, das iſt: daß es „tief iſt, daß es zu den „Muͤttern hinabſteigt. Es ſucht nach dem „Orgelpunkt“.

Die deutſche Naturanſchauung, innerlich ideell wie die platoniſche und ihr zutiefſt verwandt, erkennt der Natur nicht bloß toten Mechanismus, ſondern auch Geiſt und Zeben zu, eine Entwicklung aus irrationalen Tiefen, eine produktive, ſchoͤpferiſche Kraft. Sie verlegt das Schwerge⸗ wicht in das Innere und betrachtet das Außere, die Erſcheinung, als „ſymboliſche Vermummung, wohinter ein hoͤheres geiſtiges Zeben ſich verbirgt” (Goethe). Die Erſcheinung iſt Ausdruck und Geſtaltung eines Geiſtigen, von ſchaffenden Ideen.

Dieſer Naturanſchauung haben die groͤßten Geiſter des Deutſchtums gehuldigt und ſie waren ſich bewußt, hierin ein hohes Erbe zu wahren, namentlich gegenuͤber dem drohenden Einbruch des flachen weſtlichen Den- kens. Goethe ſah es genau, wenn er meinte, daß es in der neueren Zeit „unſeren weſtlichen Nachbarn niemals zum Schaden gedieh, wenn fie von deutſchem Forſchen und Beſtreben einige Kenntnis nahmen“. In Goethes Geſtalt iſt uberhaupt all das Beſte deutſchen Weſens und deutſcher Natur⸗ anſchauung wie in einer letzten glänzenden Verkoͤrperung zuſammen gefaßt. Aber in ſein Alter reichen bereits dunkle Schatten herein wie von kommender Nacht, die denn auch, laͤngſt an den Grenzen lauernd, über den deutſchen Geiſt hereinbrach.

Die Entwicklung des deutſchen Geiſteslebens ſeit dem Seimgange Goe⸗ thes iſt dadurch gekennzeichnet, daß das weſtliche Denken den Sieg über das urſpruͤnglich deutſche davontrug und es vergewaltigte. Der deutſche Geiſt wurde zuruͤckgedraͤngt, ſo daß er von nun ab in Bettlersgeſtalt wie weiland Odyſſeus an der Schwelle des eigenen Sauſes darben mußte. Das iſt eine Schmach, der gegenuber alle politiſche Demätigung verblaßt, und doch: von wie wenigen wurde fie gefeben! Deren Hagende Stimme aber ver⸗ klang in eiſiger Einſamkeit. Damals ſchrieb Nietzſche: „Die Deutſchen man hieß fie einſt das Volk der Denker: denken fie heute überhaupt noch? Die Deutſchen langweilen ſich jetzt am Geiſte, die Deutſchen mißtrauen jetzt dem Geiſte .. Deutſchland gilt immer als ᷑uropas Flachland.“

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Der Darwinismus und der deutſche Beift 3

feinen eigenen Worten „bei dem inneren Abſterben der alten Jdealform die traurigſte Ernuͤchterung und Veraͤußerlichung des ganzen Bewußtſeins, die tiefſte Erſchlaffung des ſchaffend · idealen Sinnes! allgemein wurde? Das „Teſtament eines Deutſchen“, fein letztes poſthumes Werk, in dem er die Rerngedanken feiner „Philoſophie der Natur und der Menſchheit“ noch einmal zuſammenfaßt, iſt heute noch fo gut wie uneröffnet*. Und dennoch wird es, wenn erſt die Zeit erfuͤllt iſt, dem unverlierbaren Beſitz des deutſchen Schrifttums zugerechnet werden; nur „die Ungunſt und Stumpf: beit einer am hoͤchſten Berufe deutſchen Geiſtes irre gewordenen Zeit“ fonnte die Beachtung einer prophetiſchen Stimme verſagen, welche die innere Sohlheit des neuen Deutſchland ſchon am Beginne der ſiebziger Jahre ausſprach und ſeinen unvermeidlichen Zuſammenbruch vorausſagte.

Serder ſchrieb in ſeinen Briefen zur Befoͤrderung der Sumanitaͤt: „Auf dieſem demuͤtigen Wege wollen wir bleiben und nicht erwarten, daß man uns verſtehe und ehre. Der Nationalruhm iſt ein taͤuſchender Verfuͤhrer. Zuerſt lockt er und muntert auf; hat er eine gewiſſe Soͤhe erreicht, fo um⸗ Hammert er den Kopf mit einer ehernen Binde. Der Umſchloſſene ſieht im Nebel nichts mehr als fein eigenes Bild, keiner fremden neuen Eindruͤcke mehr faͤhig. Bebüte der Simmel uns vor ſolchem Nationalruhm.“ Darin iſt das politiſche Ideal aller großen univerſellen Deutſchen ausgedruckt. So ſah es auch Planck; er ſah es aber im Lichte der großen nationalen Einigung, welche in die Blüte feines Schaffens fiel, jedoch nur allzubald in engſtirnigen Nationalismus ausartete. „‚Deutfchland, Deutſchland über alles‘, ich fürchte, das war das Ende der deutſchen Philoſophie fo nahm Nietzſche dieſe Spottgeburt deutſchen Weſens auf und gab die Lofung, nach der ſich die feineren Köpfe zu ihm ſtellten: „National zu fein in dem Sinne, wie es jetzt von der oͤffentlichen Meinung verlangt wird, wuͤrde an uns geiſtigeren Menſchen, wie mir ſcheint, nicht nur eine Abgeſchmacktheit, ſondern eine Unredlichkeit ſein, eine willkuͤrliche Betaͤubung unſres beſſeren wiſſens und Gewiſſens. Planck aber verkuͤndete ſchon 1878 dieſem Na⸗ tionalismus fein unvermeidliches Ende: „Welch blutig trauervolle Srüchte feines bloß nationalen Strebens wird dieſes heutige Deutſchland noch ern; ten muͤſſen, bis es aus dem Stumpfſinn erwacht, mit dem es ſich heute gegen alles tiefere Wort der Wahrheit verſchließt. Seine Mahnung verhallte ungehoͤrt; es fehlte ihr der maͤchtige Reſonanzboden in der Nation, die um das goldene Kalb tanzte, indes ihr Schickſal ſich erfuͤllte.

Die alten Goͤtzen ſanken in Staub zuſammen, die glänzende Faſſade, die ſich der Deutſche nach außen hin gegeben hatte und die ihn uͤber ſeine innere Schmach hinwegtaͤuſchen mußte, iſt zuſammengebrochen. Aus dem Schutt und der Aſche aber glimmt hell der unverlierbare Funken des deutſchen Weſens zu neuem Leben empor, genaͤhrt an der tiefſten Tradition der Ver⸗ Planck, RB. Ch., Teſtament eines Deutſchen. br. M 12.50, Keinen M 16.—. Jena 1925, Eugen Diederichs Verlag.

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gangenheit. Der deutſche Geiſt iſt daran, ſich ſelbſt wiederzufinden und einer neuen Zukunft entgegenzugehen. In dieſer deutſchen Renaiſſance aber, in der wir trotz des gegenteiligen äußeren Anſcheines ſtehen, darf Planck nicht vergeſſen bleiben. Er, der wie wenige um den Kern deutſchen Weſens in Leben und Lehre wußte, kann mit den Gipfeln deutſcher Vergangenheit den Suchenden und Ringenden voranleuchten in die werdende Jukunft.

K. Ch. Planck und der Darwinismus

K.. Chriſtian Planck wurde geboren am 17. Januar 1819 in Stuttgart, er iſt geſtorben am 7. Juni 1880 in Maulbronn. In dieſen zeitlichen Rahmen iſt fein Daſein eingeſpannt, das unſcheinbar verlief und voll der herbſten Entſagung war. Mehr iſt hier über feinen aͤußeren Lebenslauf nicht zu berichten. Seine Studien nahmen den in feinem Seimatlande uͤblichen Verlauf. Nachdem er die mittlere Schule abſolviert hat, finden wir ihn in Tuͤbingen dem Studium der Theologie und Philoſophie ergeben. Dort gebörte Reiff, der Schüler Fichtes, zu feinen Cehrern.

Vielleicht bezeichnet dieſe Tatſache den bedeutſamſten Punkt in ſeinem geiſtigen Daſein. Don hier aus empfing er die wichtigſten Impulſe feines Schaffens, das darauf hinzielte, die idealiſtiſche Einſeitigkeit des logo⸗ zentriſchen Syſtems des alten Fichte zu überwinden. Planck fand vielmehr den Anſchluß an das objektive Weltbild Goethes, und zwar geſchah dies im Gefolge einer umfaſſenden Auseinanderſetzung mit der Naturwiſſenſchaft feiner Zeit, deren Erkenntniſſe er in ihrer ganzen Breite ſich aneignete, ohne aber ihrer empiriſtiſchen Außerlichkeit zu verfallen. Dem Materialis⸗ mus einerſeits, dem ſubjektiven Idealismus Fichtes und feines ehemaligen Zehrers Reiff und dem abſoluten Idealismus Segels und feiner Anhänger anderſeits beiden ſetzte er den „wahren Realismus entgegen, wie er ihn zur Grundlage zahlreicher Schriften gemacht hat. Mit ſouveraͤner Beftalter- kraft ergriff er die ihm von der Wiſſenſchaft dargebotene Tatſachenfuͤlle, um ſie im Geiſte deutſcher Naturanſchauung auszudeuten. Der deutſche Geiſt ſaß ihm zu tief, als daß er irgendwo haͤtte aufhoͤren koͤnnen deutſch zu emp⸗ finden und zu denken.

Ihren konzentrierteſten und reinſten Ausdruck hat Plands Naturan ; ſchauung in ſeiner Schrift gegen den Darwinismus gefunden. Sie ſei des⸗ halb den folgenden Ausfuͤhrungen zugrunde gelegt, die dazu beſtimmt ſind, den Namen unſeres Denkers der Vergeſſenheit zu entreißen und ſein naturphiloſophiſches werk einer ſpaͤten Auswirkung zuzuführen. Keine ſeiner Schriften duͤrfte ſich ſo dazu eignen wie die von der Wahrheit und Flachheit des Darwinismus, „ein Denkſtein zur Geſchichte heutiger deut- ſcher Wiſſenſchaft“, wie die Zeit keinen zweiten aufzuweiſen hat.

will man den Darwinismus recht verſtehen, fo muß man zuruͤckgehen bis auf Kant, in dem das wiſſenſchaftliche Streben der Neuzeit zum erſten Male feiner ſelbſt bewußt wurde, zugleich aber eine bedenklich ein ſeitige

Der Darwinismus und der deutſche Beift 5

Richtung annahm. Nach Kant kann als wiſſenſchaft nur die Bemeiſterung der in der ſinnlichen Erfahrung gegebenen Tatſachen durch allgemeine Be; griffe und Geſetze gelten; was nicht ſinnlich gegeben iſt, kann nicht Gegen · ſtand der Wiſſenſchaft fein, fo ſehr Rant feine Realitaͤt anerkennt. Er ſpricht von dem „uͤberſinnlichen Subſtrat der Natur“, betont aber gleich ; zeitig, daß wir davon nichts „bejahend beſtimmen konnen“. Wiſſenſchaft iſt gleichbedeutend mit Erfahrungswiſſenſchaft, die in der mathematiſch⸗ exakten Theorie der Naturforſchung gipfelt. Ohne den Mechanismus der Natur kann es nach Kant keine Naturwiſſenſchaft geben; die Natur er⸗ Mären heißt, fie mechaniſch erklaͤren. Die ſtrenge Scheidung Kants zwiſchen dem überfinnlichen Subſtrat der Natur und den Erſcheinungen, in denen es ſich darbietet, ſollte für die Zukunft ſehr verhaͤngnis voll werden, indem fie Veranlaſſung zu einer Kantſcholaſtik gab, die dem Meiſter ſelbſt fremd war. Man uͤberſah ſehr bald „das uͤberſinnliche Subſtrat der Natur“ voll ſtaͤndig und behielt allein die Materie in Saͤnden.

Der Kantiſche Wiſſenſchaftsbegriff aber wurde zunehmend der Begriff von Wiſſenſchaft uberhaupt und inſonderheit die Naturwiſſenſchaft uͤbernahm ihn reſtlos. Selbſt auf dem Gebiete der Biologie, auf dem Kant über eine hoͤchſt merkwürdig anmutende Zwitterſtellung nicht hinauskam, wurde er maßgebend und der Darwinismus iſt nichts anderes als eine der letzten Auszweigungen des Mechanismus in der Naturforſchung. Wir muͤſſen in ihm den grandioſen Verſuch ſehen, auch für den Urſprung und die Ausbildung des organiſchen Daſeins die ausnahmsloſe Geltung der mechaniſchen Naturgeſetze zur Erkenntnis zu bringen, das heißt nach Kant ſo viel, wie die Entwicklung des Organiſchen zu erklaͤren. Und eben darauf beruht fein ungeheurer Erfolg. Er ſchien in zwangloſer Weife, ja geradezu mit ſpielender Zeichtigkeit, das undurchdringliche Dunkel, das bisher über dem organiſchen Entwicklungsprozeß lag, aufzubellen.

Bei der wiſſenſchaftlichen Betrachtung lebender Körper drängte ſich von jeher unabweislich die Überzeugung auf, daß der Mechanismus der Natur zur Erklaͤrung derſelben nicht ausreiche. Selbſt Kant ſagt, es ſei „ganz gewiß, daß wir die organifierten Weſen und deren innere Moͤglichkeit nach bloß mechaniſchen Prinzipien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklaͤren koͤnnen, und zwar ſo gewiß, daß man dreiſt ſagen kann, es iſt fuͤr Menſchen ungereimt, auch nur einen ſolchen Anſchlag zu faſſen, oder zu hoffen, daß noch etwa dereinſt ein Newton auf: ſtehen koͤnne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Natur⸗ geſetzen, die keine Abſicht geordnet hat, begreiflich machen werde; ſondern man muß dieſe Einſicht dem Menſchen ſchlechterdings abſprechen “. Die organiſchen Produkte der Natur Fönnen nicht als nach bloß mechaniſchen Geſetzen moͤglich beurteilt werden. Vielmehr iſt man gezwungen anzuer⸗ kennen, daß hier eine Geſtaltung vorliegt, die aus einer Idee kommt; die Beurteilung der organiſchen Körper führt alſo unmittelbar an das „über:

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ſinnliche Subfirat” der Natur heran, zu ihrer Erklaͤrung reicht die „reale“ Urſachenverknuͤpfung nicht mehr aus, es treten „ideale Urſachen in den Bereich der Erfahrung. Dieſe aber kann die mechaniſtiſche Naturwiſſen⸗ ſchaft nicht brauchen, ſie muß verſuchen dieſelben auszuſchalten und eine mechaniſche Erklaͤrung des Zebensgeſchehens zu geben, das heißt eine Erklaͤrung nach „realen Urſachen“. Auch das Zebensgeſchehen läuft, fo lautet die Forderung, nach den bloßen, auch in der anorganiſchen Materie wirkſamen Geſetzen ab, es ſieht nur ſo aus, „als ob“ in ihm ideelle Fakto⸗ ren wirkſam waͤren; in Wahrheit ſind ſolche nicht vorhanden und wir unterliegen einer Taͤuſchung, wenn wir glauben auf ſie ſchließen zu koͤnnen. Die exakte Analyſe findet davon nichts.

Dem Darwinismus ſchien es gelungen zu ſein, eine mechaniſche Er⸗ klaͤrung des Lebens und feiner Entwicklung zu geben. Darwins Selek⸗ tionstheorie, das heißt die Theorie von der natuͤrlichen ZJuchtwahl, geht von dem Gedanken aus, daß alle lebenden Geſtalten zweckmaͤßig ſind, und daß die Entwicklungsgeſchichte der Organismen ein einziger Fortſchritt von minder zweckmaͤßig gebauten zu vollkommeneren Formen ſei. Dieſer Fortſchritt erklaͤrt ſich nach der Selektionstheorie aus vier entſcheidenden punkten. Der erſte iſt die ſog. Variabilitaͤt der Organismen, das heißt die Erſcheinung, daß die Nachkommen eines Elternpaares ſich nicht gegen; ſeitig bis in die Einzelheiten gleichen, ſondern in beſtimmten Merkmalen ſich voneinander unterſcheiden. Unter dieſen Abweichungen ſollen ſich ſolche befinden, die der Erhaltung des Individuums foͤrderlich, die alſo nuͤtzlich und zweckmaͤßig ſind, und ſolche, die ihm nachteilig ſind. Die Variationsmerkmale werden auf die Nachkommen vererbt; es macht ſich eine Uberproduktion von Individuen geltend, die ſich gegenſeitig Raum und Nahrung ſtreitig machen, was den vielgenannten Kampf ums Daſein zur Folge hat, in dem ſich Träger zweckmaͤßiger Merkmale erhalten, wäb- rend die Traͤger ſchaͤdlicher Merkmale ausgemerzt werden, von jenen wegen des Beſitzes zweckmaͤßigerer Bildungen bei Nahrungserwerb und Sort- pflanzung uͤbervorteilt. Ihre Vererbung und neue Variationen ſollen dafuͤr ſorgen, daß ſich dieſe zweckmaͤßigen Strukturen erhalten und im Laufe der Zeit noch ſteigern, und fo ſollte fie die ganze Entwicklungs⸗ geſchichte der Organismen, das ſukzeſſive Auftreten der verſchiedenen Tier; und pflanzengeſchlechter und zuletzt des Menſchen erklaͤren.

Man ſieht: innere oder ideelle Faktoren ſind bei der darwiniſtiſchen Er⸗ klaͤrung der organiſchen Entwicklungsgeſchichte vollſtaͤndig ausgeſchaltet. Die Formen der Lebewefen verdanken ihr Daſein dem mechaniſchen Walten naturgeſetzlichen Geſchehens. Der Darwinismus braucht keine inneren oder ideellen Faktoren und bleibt ganz im Rahmen der mechaniſtiſchen Natur; erklaͤrung. Alles iſt von außen erklärt durch die „natürliche Zuchtwahl“. Seute freilich lernt man allgemein einſehen, daß es ſich dabei um eine ſehr kuͤnſtliche ( Zuchtwahl gehandelt hat, daß der Darwinismus nicht entfernt

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imftande iſt das Auftreten auch nur der Sauptſtufen des Tier- und Pflan⸗ zenreiches verſtaͤndlich zu machen. Auf die naturwiſſenſchaftliche Kritik des Darwinismus, die mit Naegelis mechaniſch⸗phyſtologiſcher Theorie der Abſtammungelehre einſetzte, koͤnnen wir hier nicht eingehen. Wichtig iſt uns, daß mehr als ein Jahrzehnt vor dem Erſcheinen der erſten fachwiſſen⸗ ſchaftlichen Kritik Planck dem Darwinismus mit entſcheidenden Argu⸗ menten entgegentrat.

Sucht der Darwinismus feine wahrheit darin, daß er gegenuber den alten dualiſtiſchen Schoͤpfungsanſichten ganz innerhalb der Natur und ihrer Geſetze ſteht, daß er in dieſem Sinne eine „moniſtiſche“ Naturan⸗ ſchauung vertritt, ſo zeigt Planck, daß eben die wahrhafte Natur ſchon eine Tiefe des Gegenſatzes in ſich ſchließt: die Polaritaͤt eines innerlich beherrſchenden und geſtaltenden Zentrums und einer ſelbſtaͤndig aͤußer⸗ lichen Teilbildung oder Peripherie Entwicklung. Die darwiniſtiſche Anſicht bringt nur eine Seite der Natur zur Geltung, die andere, tieferliegende, aber uͤberſieht oder unterdrädt fie. „Denn indem fie alles auf die von außen, von der Peripherie her auf den Organismus einwirkenden Ein⸗ fluͤſſe zuruͤckfuͤhrt, und fo auch ſchon den erſten Urſprung des Grganiſchen aus einem bloßen Zuſammenwirken von Stoffen der Erdperipherie (Erdoberflaͤche) erklaͤren will, fo läßt fie dabei das, was doch erſt das Eigentümliche des Grganiſchen iſt, die innerlich bildende und beberr- ſchende Macht eines Zentrums, dieſe Abhaͤngigkeit der Teile von der inneren Einheit ihres Ganzen, und die Stufenunterſchiede der fortſchrei · tenden inneren Konzentrierung, in welcher der Kern der organiſchen Fortbildung und Vervollkommnung liegt, noch nicht zu wirklichem Rechte kommen und vermag dies alles in wahrheit nicht zu erklaͤren.“ „Nur des halb, weil ſchon die ganze uͤbrige Naturanſchauung derzeit von jener Grundlage der geſamten Naturentwicklung und dem inneren Gegenſatz derſelben nichts weiß und vielmehr uͤberall nur ein ſelbſtaͤndig aͤußerliches und mechaniſches Verhaͤltnis der Stoffteile zueinander vorausſetzt, nur deshalb mußte auch auf dem Gebiete des Grganiſchen die darwiniſtiſche Anſchauung ſolchen Boden gewinnen. Die Frage nach dem Urſprung und Entwicklungsgeſetz des Organiſchen haͤngt immer unzertrennlich zuſammen mit der Naturanſchauung im Ganzen.“

In dieſen Worten taucht das alte große Thema deutſcher Naturanſchau⸗; ung wieder auf und „bier, in der Erklaͤrung der innerlich zentralen Ent · wicklung, welche das Weſen des Organiſchen ausmacht, liegt noch die echt de ut ſche Aufgabe, während die Geiſtesrichtung engliſcher Wiſſenſchaft von jeher und ihrer Natur nach die verſtaͤndig aͤußerliche und von der Peripherie herkommende Seite vertreten hat. Und wenn ſchon einmal, durch Kant und feine Nachfolger, gegenuͤber einem Summe, Locke uſw., der deutſche Geiſt feine Urſpruͤnglichkeit gezeigt und gegenüber der empi- riſtiſchen aͤußerlichen Ableitung jener die ſelbſtaͤndig zentrale Natur der

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Denk ⸗- und Bewußtſeins formen zur Geltung gebracht hat, fo wird ein Gleiches auch mit dem Darwinismus ſich wiederholen. Saͤtte nicht gerade jetzt, im natuͤrlichen Gegenſatz und Ruͤckſchlag zu unſerer idealiſtiſchen Ver⸗ gangenheit, auch bei uns Deutſchen das verſtaͤndig Empiriſche ſo einſeitig das Übergewicht (fo wie ja auch ſonſt das verſtaͤndig Praktiſche und das äußere nationale Daſein, ähnlich wie bei anderen Voͤlkern, bei uns zur Sauptſache geworden iſt), fo haͤtte der Darwinismus ſchon bisher keinen fo uͤberwiegenden Einfluß bei uns erlangen koͤnnen.“ Das klaͤgliche Miß⸗ verhaͤltnis, in welchem dieſe empiriſtiſche Abhaͤngigkeit unſerer jetzigen Wiſſenſchaft zur Groͤße unſerer geiſtigen Tradition ſteht, „mag uns darauf hinweiſen, daß auch aus der Tiefe deutſcher Wiſſenſchaft erſt wieder ein neuer ſchoͤpferiſcher Quell hervorbrechen und das, was der Darwinismus zunaͤchſt nur von der aͤußerlichen Seite angeregt hat, erſt zu ſeiner wahren geiſtigen Ergaͤnzung bringen muß“. plancks Widerlegung des Darwinis ; mus richtet ſich naturgemäß gegen die beiden Sauptpunkte desſelben, ein- mal gegen die darwiniſtiſche Anſicht vom Urſprung des GOrganiſchen über- haupt, dann gegen die Erklaͤrung der Entwicklungsgeſchichte der Zebe⸗ weſen im Verlaufe der Erdentwicklung einſchließlich der Abſtammung des Menſchen. Daran ſchließt ſich eine Kritik der Theorie vom „Rampf ums Daſein“.

Der Urſprung des Organiſchen

Oba, wie ſchon bemerkt, die darwiniſtiſche Anſicht ſich anfaͤnglich

noch nicht auf den Urſprung des Organiſchen bezog und Darwin ſelbſt von dieſer Grundfrage abgeſehen hat, fo liegt doch darin, daß aller Fort⸗ ſchritt in der inneren Ronzentrierung des Organiſchen, die erſte Entſtehung eines Nervenlebens, die Ausbildung des Wirbeltiercharakters mit ſeinen verſchiedenen Stufen, und endlich die der menſchlichen Organiſation ſelbſt, nur aus der fortſchreitenden Anpaſſung und ihrer naturlichen Juchtwahl, alſo aus dem Einfluſſe der umgebenden aͤußeren Natur · und Lebensver- haͤltniſſe erklaͤrt wird, notwendig auch die Ronſequenz, daß das Organiſche ſchon ſeinen erſten Urſprung nur in einem Zuſammenwirken von unorga⸗ niſchen Stoffen der Erdoberflaͤche gehabt habe. Denn weiß man in der ganzen Fortentwicklung des Organiſchen nichts von einem tieferen Ent⸗ widiungsprinzip, als es der Rampf ums Daſein iſt, fo iſt es natuͤrlich, daß man ſchon für den erſten Urſprung des Grganiſchen kein derartiges Prinzip anerkennt, ſondern in demſelben nur eine kombinierte Wirkung der unorga⸗ niſchen Stoffe ſieht. Der Urſprung des Organiſchen aus dem Anorganiſchen iſt die konſequente Forderung des Darwinismus. Darnach waͤre das alte „Vorurteil“ von der weſentlichen Verſchiedenheit des Organiſchen und des Anorganiſchen dadurch ganz beſeitigt, daß man teils der Analogie des Orga⸗ niſchen mit den Kriſtallbildungen eine moͤglichſt große Ausdehnung gibt, teils ſich auf die Serſtellbarkeit ſog. organiſcher Verbindungen auf nicht

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organiſchem Wege beruft. In dieſer einfachen Form ſah die damalige Zeit das Problem. Im Grunde hat ſich daran bis heute nichts geaͤndert, wenn ſich die Fragen auch vielfach detailliert haben.

Dem gegenüber betont Planck: „Das Organiſche iſt und bleibt eine ganz neue Stufe des inneren Verhaͤltniſſes der Teile zu ihrem Ganzen, und darum iſt es, wenn es auch nur dieſelben ſtofflichen Elemente enthaͤlt, wie die unorganiſche welt, doch eine Widerſinnigkeit, dieſe ganz neue Stufe der Naturentwicklung aus einem bloßen Zuſam⸗ menwirken ſolcher Elemente zu erklären, deren Produkt ihrer eigenen Natur zufolge immer wieder nur ein totes und aͤußerliches Teildaſein bleibt.“

Schon Goethe hat in dieſem Sinne den Unterſchied zwiſchen anorgani- ſchen und organiſchen Körpern formuliert und in klaſſiſche Worte gefaßt: „Das Sauptkennzeichen der Mineralkoͤrper iſt die Gleichguͤltigkeit ihrer Teile in Abſicht auf ihr Juſammenſein, ihre Ro oder Subordination Wie ſehr unterſcheiden ſich dagegen organiſche Weſen, auch nur un voll; kommene! Sie verarbeiten zu verſchiedenen beſtimmten Grganen die in ſich aufgenommene Nahrung, und zwar, das uͤbrige abſondernd, nur einen Teil derſelben. Diefem gewaͤhren fie etwas Vorzůgliches und Eigenes, in- dem fie manches mit manchem auf das innigſte vereinen und fo den Glie ; dern, zu denen fie ſich hervorbilden, eine das mannigfaltigſte Leben be⸗ zeugende Form verleihen, die, wenn fie zerſtoͤrt iſt, aus den Überreften nicht wieder hergeſtellt werden kann.“

Allen Verſuchen, den Unterſchied des Organiſchen von den unorganiſchen Stoffen aus der chemiſch ⸗phyſikaliſchen Natur der Eiweißſtoffe heraus zu beſtimmen, ſetzt Planck treffend entgegen: „wohl iſt die eigentuͤmliche chemi · ſche Natur der Rohlenſtoff verbindungen die unumgaͤngliche und weſentliche Bedingung der organiſchen Prozeſſe, aber ſie iſt eben nur Bedingung. Das Leben ſteht über dem chemiſch · phyſikaliſchen Geſchehen, es geht nicht in ihm auf, ſondern benutzt es vielmehr, um an ihm in die Erſcheinung zu treten“. Planck ſpricht auch einmal von der „bloßen Leibes huͤlle und dem „eigentlichen Leibe”, für welchen jene nur die Unterlage abgibt. Und fo iſt es ſchon dem erſten Urſprung der organiſchen Formen nach „ein anderes hoͤheres Prinzip, eine der unorganiſchen Außerlichkeit und Selbſtaͤndigkeit der Stoffteile entgegengeſetzte und auf ihre innere Beherrſchung durch das Ganze hingerichtete oder innerlich konzentrierende Macht, welche die indi⸗ viduellen Stoffe und deren Kräfte erſt in ihren Dienſt genommen und fie zu ſolcher Einheit verbunden hat, obgleich fie eben hierin erſt Lebenskraft wurde und innerhalb des einmal vorhandenen Lebens nur gemäß den chemiſch⸗phyſikaliſchen Geſetzen ſelbſt wirken kann“.

So haben auch die mannigfachen Verſuche, welche fo vielfach über die Möglichkeit einer Urzeugung aus unorganiſchen Stoffen angeſtellt worden find, keine endgültige Entſcheidung bringen koͤnnen; ja fie find ſaͤmtlich in

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ihr Gegenteil umgeſchlagen und haben die Autonomie des Lebensgefche- hens nur um fo uͤberzeugender dargetan. Man braucht ihre Bedeutung als Wege exakter Forſchung nicht zu verkennen; „traurig iſt es nur, wenn man, wie jetzt fo vielfach geſchieht, von ſolchen Experimenten die Ent; ſcheidung über eine allgemeine Grundfrage des menſchlichen Geiſtes, über das Weſen des Lebensgrundes erwartet, und ſich der Unwuͤrdigkeit und Klaͤglichkeit, die hierin liegt, nicht bewußt iſt“!

Welches iſt nun der allgemeine Lebensgrund, aus dem ſich der Urſprung des Grganiſchen überhaupt, wie ſchließlich der von Tier und Menſch ber- leiten ſoll? „Unmittelbar empiriſcher Art kann er nicht fein. Denn empiriſch ſind uns nur die individuellen Stoffe unſerer Erdoberflaͤche gegeben, und eben in dieſen iſt vielmehr jene unorganiſche Außerlichkeit und Selbftändig- keit der Teile gegeneinander zu Sauſe. Bei der jetzigen Zeitrichtung freilich kommt eben das dem Darwinismus zugute, daß ſeine Erklaͤrungsweiſe bloß im empiriſch Gegebenen wurzelt. Allein der tiefere wiſſenſchaftliche Sinn erkennt vielmehr nur eine traurige Schwaͤche und Gberflaͤchlichkeit darin, da am aͤußerlich Empiriſchen feſthalten zu wollen, wo es ſeiner Natur nach nicht zureichen kann. Denn die empiriſchen Stoffe ſind nun einmal ihrer Natur nach das Reich des einſeitigen Teildaſeins, während das Grganiſche vielmehr in der inneren Serrſchaft des Ganzen (oder eines Zentrums) über die Teile ſein weſen hat, und je mehr es ſich vollendet, deſto vollſtaͤndiger auch dieſe Unterordnung des Teillebens unter die innere Einheit des Gan⸗ zen ſich vollzieht.“

In dieſen Sägen iſt Plancks ganze Naturphiloſophie im Kern enthalten. Er ſieht in der Natur ein großes Prinzip, das ſich ſchon im Bereiche des Anorganiſchen ankuͤndigt, um ſich dann in der welt der Organismen ſtufen · weiſe reiner und immer reiner auszupraͤgen; es iſt ein „innerlich zentrales Entwicklungsgeſetz, ein Entwicklungsſtreben aus dem individualitaͤts· loſen Teildaſein der bloßen Materie nach individueller Zentrumsform“. Aus ihm heraus begreift Planck ſowohl die unorganiſche Erdentwicklung wie die Entſtehung und Fortbildung des Organiſchen als analoge, nicht gleichartige, aber gleichgerichtete Erſcheinungen.

Wir ſtehen in dieſen von hohem Schwung getragenen Gedanken vor dem Derfuche einer Naturdeutung, wie fie in ähnlicher Form Goethe vertrat: einem Verſuche, den inneren Sinn der Naturerſcheinungen zu verfteben, dem der Mechanismus der Natur gleichſam als Werkzeug unterſteht. Die exakte Naturwiſſenſchaft kann hier nicht mehr folgen. Jede Deutung geht über das bloß empiriſch Gegebene hinaus. Die exakte Wiſſenſchaft jedoch muß ihren Praͤmiſſen zufolge im Bereiche der Materie als dem allein finn- lich Gegebenen bleiben, deſſen Geſetze fie nach Maß und Zahl verfolgt. Sie kann nur Quantität handhaben, für Qualitaͤt und alles, was ins uͤber⸗ ſinnliche Subſtrat der Natur weiſt, ift fie blind. Heißt das aber, daß der menſchliche Geiſt uberhaupt dafuͤr blind iſt? Und welche Philoſophie iſt es

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denn, welche ihm die Berechtigung abſtreiten koͤnnte, nach dem Sinn des Naturgeſchehens, das dem entgeiſtigten Auge des exakten Forſchers als blinder Mechanismus erſcheint, zu fragen?

Die Abſtammung der Örganismen

Man hat bei der kritiſchen Wuͤrdigung des Darwinismus vielfach nicht auseinandergehalten zwiſchen der Abſtammungslehre oder Deſzen ; denztheorie, der Entwicklungsgeſchichte der Organismen und der Selek⸗ tionstheorie Darwins, das heißt eben jener Lehre von der natürlichen Juchtwahl, den treibenden Faktoren der Entwicklung. Gerade dieſe letztere aber iſt der weſentliche Teil des Darwinismus, naͤmlich die Erklaͤrung des Entwicklungsgeſchehens, das laͤngſt vor Darwin angenommen, durch die⸗ ſen und durch die Verquickung mit der Selektionotheorie erſt zur ee nen Anerkennung gelangte.

Auch Plancks Kritik richtet ſich nicht gegen den Entwicklungsgedanken oder die Abſtammungelehre, nur über das Wie dieſer Entwicklung gerät er mit dem Darwinismus in ſcharfen Gegenſatz. Glaubt dieſer die organiſche Entwicklungsgeſchichte auf die magere Schnur einer leeren Formel auf. reihen und damit mechaniſieren zu koͤnnen, was dem vertieften Blicke als ein von aller Außerlichkeit losgelöfter autonomer Vorgang erſcheint, fo verlegt Planck das Schwergewicht der Entwicklung in das „uͤberſinnliche Subſtrat“ des Organismus, auf welches die peripheren Einfluͤſſe nur modi⸗ fizierend wirken koͤnnen. Er faßt fie auf als eine Folge von geſteigerten Akten innerer Konzentrierung, als ein Zosſcheidungsſtreben des Zentrums, als Steigerung der Polarität, der polaren Spannung zwiſchen Zentrum und Peripherie, zwiſchen innen und außen, die ſich in drei Sauptſtufen voll zieht: im Urſprung eines Nervenſyſtems, im Urſprung der Wirbeltiere und endlich im Urſprung des Menfchen.

„Es iſt eine Widerſinnigkeit, daß aͤußere Einfluͤſſe das Organiſche auf eine andere und hoͤhere Stufe innerer Konzentrierung heben follen, wie fie der Urſprung eines Nervenſyſtems zweifellos bedeutet. Denn fo mannigfach und weitgehend innerhalb der einmal vorhandenen Stufe die quantitative Steigerung und Ausbildung derſelben ſein kann, alſo 3. B. innerhalb des Nervenſyſtems die Ausbildung beſonderer Sinnes⸗ und Bewegungsorgane, fo widerfinnig bleibt der Sprung in eine quali- tativ verſchiedene Stufe hinuͤber, wie er bei jener Anſicht vom Urſprung des Nervenſyſtems ſtattfaͤnde. Wir werden daher den gleichen Fehler auch bei der letzten Sauptfrage, bei dem Urſprunge des Menſchen finden, indem auch hier der qualitative Unterſchied, der zwiſchen dem Menſchen und Affen beſteht, in einen bloß quantitativen verkehrt wird.“

„In wahrheit alſo läßt ſich der Urſprung eines pſychiſchen zentrums oder, was dasſelbe heißt, eines Nervenſyſtems, nur ebenſo erklaͤren, wie ſchon der des Organifchen überhaupt. Er iſt ein Entwicklungsakt des all⸗

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gemeinen irdiſchen Zentrums, das befeelend in die Erdperipherie und ihre Stoffe eingriff. Denn nur im Entwicklungsſtreben dieſes Zentrums, nicht aber in der ſchon vorhandenen, beſtimmten und beſchraͤnkten Stufe des Grganiſchen ſelbſt, lag die Ronſequenz, die zur immer vollſtaͤndigeren Be- herrſchung des leiblichen Peripherielebens durch das Zentrum, alſo zur voll ſtaͤndigeren inneren Scheidung des letzteren hinging. Die Urform jeder Stufe verhaͤlt ſich wie die unentwickelten embryonalen Zentraltypen zu ihrer ſpaͤteren Abartung und Verzweigung, ihrer allmaͤhlichen peripbe- riſchen Fortbildung in den durch den Urtypus feſtgelegten Grenzen, die nur ein neuer „ſchoͤpferiſcher Akt“, der aus dem Innern der Natur her⸗ vorbricht, uͤberſchreiten kann.

So allein iſt auch der Urſprung der wirbeltiere zu verſtehen. Mit ihnen erſcheint eine neue Form, eine hoͤhere Stufe der inneren Konzentrie- rung und Abloͤſung des organiſchen Zentrums von der Peripherie; mit ihrem Erſcheinen ereignete ſich ein erneutes Servortreten des ſchoͤpferiſch · zentralen Entwicklungsſtrebens des Erdganzen, das von den bisher vor- handenen Stufen tieriſcher Entwicklung abbrechend, einen neuen aus den äußeren Verhaͤltniſſen feiner Lebensfpbäre nicht zu erklaͤrenden Anſatz nahm.

Das ganze Prinzip der von außen her angeregten Anpaſſung und ihrer Zuchtwahl paßt gar nicht hierher. „Der Darwinismus hebt den wahren ſchoͤpferiſch originalen Charakter dieſer Entwicklungsſtufen gänzlich auf, gerade fo wie ſchon den des Organiſchen überhaupt” und dies „zugunſten einer oberflaͤchlichen Formel, welche eben hier keinen Sinn hat und zu den Tatſachen paßt wie die Fauſt auf das Auge.“

Am deutlichſten und ſchaͤrfſten aber tritt die Unzulaͤnglichkeit und Flach · heit des Darwinismus hervor am Unterſchied der menſchlichen geiſtigen Bewußtſeins formen und ihrer Grganiſation vor der des Tieres. „Daß der Unterſchied von Menſch und Tier nur ein quantitativer ſei, nur in einem verſchiedenen Grade von Ausbildung einer und derſelben Grundorganiſa ; tion beſtehe, dies iſt der allgemeine Grundſatz, in welchem ſich hier die dar; winiſtiſche Anſchauung zuſammenfaßt. Und deshalb will fie auch geſchicht⸗ lich nur einen fließenden Unterfchied von Menſch und Affe anerkennen.“

In laͤngeren, vielfach ſehr tief ſchuͤrfenden Darlegungen entwickelt planck die Un haltbarkeit der darwiniſtiſchen Anſchauungen von der Ent- ſtehung des Menſchen. „Das unſinnlich Geiſtige der menſchlichen Selbſt⸗ unterſcheidung beruht darin, daß ſie nicht mehr unmittelbar auf das Nervenleben bezogen iſt“ und an ihm feinen „ausſchließlichen Inhalt hat, ſondern an ſich felbft von diefer Beziehung auf das finnliche Teilleben ge- ſchieden und frei iſt, und nur noch mittelbar, durch Beziehung auf die Zwiſchenſtufe des ſinnlichen Bewußtſeins, ſich darauf zuruͤckbezieht, wäh- rend das Tier, und fo auch der am hoͤchſten organifierte Affe, noch un- mittelbar und unfrei in jene Beziehung auf das Nervenleben (und damit

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auf das ſinnliche Teilleben) verſenkt bleibt, ganz dadurch beherrſcht iſt und eben deshalb auch ohne Möglichkeit, ſich durch irgendwelche Ausbildung darüber zu erheben. Und dieſe „unſinnlich geiſtige Selbſtunterſcheidung beruht eben darauf, daß im Menſchen erſt jener Grundcharakter des Orga⸗ niſchen zu ſeiner letzten Ronſequenz durchgefuͤhrt iſt. Denn hier erſt hat ſich die innere Einheit des Ganzen oder das Zentrum von der unmittelbaren Beſtimmtheit durch ſein leibliches Teilleben, d. h. von der unmittelbaren Beziehung auf das Nervenleben ganz frei gemacht” und „ſteht als geſchie ; dene und reine Einheit des Ganzen (oder als reines Zentrum) über dieſer unmittelbaren Beziehung auf das Nervenleben “. „Nicht weniger wider⸗ finnig als die uͤbrige Vorſtellungsweiſe des Darwinismus erſcheint nun nach dem allen auch die Behauptung eines bloß fließenden Überganges aus dem Affen zum Menſchen.“ Das Servortreten des Menſchen iſt feiner gan⸗ zen Natur nach „nur als ein bei dem erſten Urſprung ſchon zur vollen Verwirklichung gekommener Entwicklungsakt zu denken“ und die um⸗ bildenden und zuͤchtenden Einfluͤſſe der Umwelt zu feiner Erklaͤrung gel- tend zu machen, erſcheint Planck als Gipfel der Flachheit.

Daß zum Beiſpiel die Sprache „auch in der Natur der Sprachorgane, in der Eigentuͤmlichkeit des menſchlichen Rehlkopfs uſw., ihre Vorausſetzung hat, verſteht ſich zwar von ſelbſt. Allein dies nun zum urfpränglichen Aus · gangspunkt zu machen und in einer derartigen aͤußerlichen Fortbildung den erſten Anſatz zum Geiſtigen zu ſuchen, dies iſt wieder die ganz gleiche Ver⸗ kehrung, wie die Ableitung des Organiſchen aus einem bloßen Zuſammen ; wirken der empiriſchen Stoffe. Was bloß eine Bedingung iſt, wird auch hier wieder zum Grunde gemacht“. „Überall liegt dieſelbe traurige Verflachung der Unterſchiede in einen bloß quantitativen Brad- unterſchied zugrunde.“

„In ſchreiendſter Weiſe alſo zeigt ſich auch hier wieder der Grundfehler des Darwinismus und zugleich der jetzigen Zeitanſchauung uberhaupt, die aͤußerlich mechaniſche Auffaſſung, die alle Eigentuͤmlichkeit und alle Ge⸗ ſetze des Organiſchen ſchließlich aus aͤußerlichen Einwirkungen der Stoffe oder bedingender aͤußerlicher Cebensverhaͤltniſſe der Organismen ableitet. Die darwiniſtiſche Auffaſſung „mag wohl engliſch und ein rechter Aus⸗ bund äußerlich empiriſtiſcher und mechaniſcher Auffaſſung fein, allein deutſch iſt fie auch mit keiner Ader mehr!.

Der Kampf ums Daſein

ie wir ſchon einleitend ſahen, iſt die treibende Kraft des ganzen Ent- wicklungsgeſchehens nach darwiniſtiſcher Anſchauung der ſog. Rampf ums Daſein. Übervölferung, Konkurrenz, Überleben des Tuͤchtig⸗ ſten, während das minder Tuͤchtige ausgemerzt wird: das find die Saupt ; faktoren, die der Darwinismus zur Erklaͤrung dieſes Entwicklungsprozeſſes einfuͤhrt. Es iſt bezeichnend genug, daß Darwin die beiden Sauptgedanken

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feiner Theorie, Ubervoͤlkerung und Rampf ums Dafein, den Lehren des Nationalòtonomen Malthus entnahm. Darwin übertrug Verhaͤltniſſe, wie ſie in dicht bevoͤlkerten engliſchen Induſtriebezirken herrſchen, auf die Natur; er hat Malthus mit der Natur verwechſelt. Man koͤnnte kein treffenderes Wort ſagen, als es Nietzſche fand: „Um den ganzen engliſchen Darwinismus herum haucht etwas wie engliſche Ubervoͤlkerungs · Stick luft, wie Kleiner · Ceute ⸗Geruch von Not und Enge.“ |

Auch Planck wendet ſich in beſonderer Weife gegen dieſes „formelle Prin⸗ zip“ des Darwinismus, den Kampf ums Daſein, jenes „vielgehoͤrteſte und bis zum Überdruß angewendete Lofungswort”. „Es wiederholt ſich bier nur von umgekehrter Seite dieſelbe Widerſinnigkeit, daß aͤußerlich peri⸗ pheriſche Cebenseinfluͤſſe eine fo einſeitig innerliche und zentrale Umaͤnde⸗ rung hervorgebracht haben ſollen. Der Rampf ums Daſein iſt deshalb ganz unzulaͤnglich, „weil gerade die wichtigſten Weiterbildungen, die der inneren Zonzentrierung und Geſamtanlage des Grganismus, für den Kampf ums Daſein viel weniger in Betracht kommen, daher ja auch jede der hier in Betracht kommenden Stufen, die der nervenlo ſen Tiere, die der wirbelloſen Nerventiere, wie endlich die verſchiedenen Stufen der Wirbel⸗ tiere, neben den andern in einer Menge von Klaſſen und Arten fort⸗ dauern, und jede ſich im ganzen ſo gut wie die andern zu erhalten vermag. Die wirkung des Kampfes um das Daſein und die hierdurch hervor⸗ gebrachte fortſchreitende Anpaſſung iſt daher auch nach dieſer Seite hin gerade fuͤr die wichtigſten organiſchen Sortſchritte großenteils nur eine Formel und Phraſe.“

Ein gaͤnzlich unwuͤrdiger und erniedrigender Anſchlag iſt es, den ur. ſprung des Menſchen aus der Wirkung des bloßen Kampfes um das Daſein erklaͤren zu wollen. „Es gehoͤrte die ganze Stumpfheit und einſeitige Außerlichkeit jetziger Zeit dazu, damit ein ſolches Prinzip ſolchen Anklang finden konnte.“ Aber es paßt „zu der Anſchauungsweiſe einer Zeit, die auch rechtlich und nationaloͤkonomiſch noch die bloße freie Konkurrenz aller, ihr bloßes ſelbſtiſches Teil und Sonderſtreben und in letzter Form den ſelbſtiſchen Rampf der Nationalitaͤten gegeneinander zum Prinzip der buͤrgerlichen Geſellſchaft macht. Denn dies iſt ja eben der bloße Rampf ums Daſein, in welchem jetzt ebenſo ganze Erwerbsklaſſen, Arbeiter und Unternehmer u. dgl., wie gewaffnete Nationen ſich gegenuͤberſtehen. Und von dieſen Anſchauungsweiſen iſt die eine ſo faul und verwerflich wie die andere.” Es fehlt eben dem Darwinismus gaͤnzlich „jenes tiefere, allein wuͤrdige und allein wiſſenſchaftliche Bewußtſein, wonach auch die Erdoberflaͤche im ganzen nur als der aͤußere Zeib eines innerlich wirk⸗ ſamen und in feiner hoͤchſten Entwicklung organifierenden Jentrums zu betrachten iſt, welcher daher auch die Grundzuͤge ſeiner aͤußeren Geſtalt der . Entwicklung feines Innern verdankt“.

Der Darwinismus und der deutſche Geiſt 15

Der Darwinismus und die deutſche wiſſenſchaft

A Schluſſe ſeines Buches nimmt Planck das Thema der Einleitung

wieder auf und führt es in einem unſterblichen Kapitel, voll von fernhin leuchtenden Sägen, zu Ende, indem er nun auch die beiden größten deut · ſchen Denker der Vergangenheit, Goethe und Kant zu Zeugen beruft. Noch mehr als im vorausgehenden ſoll hier der Philoſoph ſelbſt ſprechen, da = Verarbeitung feiner Worte eine Schmaͤlerung ihrer Kraft bedeuten müßte.

„Es iſt durchaus charakteriſtiſch, daß die Darwinſche Theorie, welche aus- ſchlie ßend den empiriſch · aͤußerlichen Faktor, die bloßen Stoffe und Ver⸗ haͤltniſſe der Erdoberfläche, zum Beſtimmenden ihrer Geſchichte macht und auch die Urſache des Grganiſchen und ſeiner Entwicklung in ihm ſucht, engliſchen Urſprunges iſt, „ſowie von jeher, auch in der Geſchichte der pbiloſophie, einem Lode, Sume u. a., der engliſche Geiſt die verſtaͤndig aͤußerliche und empiriſtiſche Richtung vertreten hat. Unſere deutſche wi ſſenſchaft aber, in ihrer derzeit herrſchendſten und am meiſten das Wort führenden Richtung, ſteht ſo nach ganz unter engliſchem Einfluß. An dieſer Tatſache mag man ermeſſen, wie es auf tieferem geiſtigen Gebiete mit unſerer ſonſt ſo geprieſenen und ihrer ſelbſt ſo bewußten deutſchen Gegen⸗ wart ſteht. Gerade die Zeit unſerer nationalen und verſtaͤndig praktiſchen Erhebung iſt auch die unſerer undeutſcheſten und aͤußerlichſten Wiſſenſchafts⸗ form. In ihrer Affentheorie haͤlt ſie ſich eben das Spiegelbild ihrer ver⸗ zerrten Außerlichkeit vor. Was ſonſt das fpezififch Deutſche war, was z. B. noch Kant und die von ihm ausgehende philoſophiſche Entwicklung gegenüber der empiriſtiſchen Außerlichkeit engliſcher Auffaſſung fiegreich vertrat, als er das ſelbſtaͤndig Zentrale und innerlich Spontane in den Denk und Anſchauungs formen, wie im ſittlichen Bewußtſein, geltend machte, kurz alles das, was unſere deutſche Bildungsgeſchichte von jeher zum innerlichen Zentrum der Geiſtes entwicklung gemacht bat, gegenüber der einſeitigeren, nach irgendeiner beſonderen Seite der Peripherie hin⸗ ausgewendeten anderer Voͤlker, das alles iſt in dieſer jetzigen Rich; tung unſerer Wiſſenſchaft verſchwunden und uͤberall, auch fuͤr die Erklaͤ⸗ rung des Organiſchen und Geiſtigen, nur das empiriſch Außerliche, die bloßen Stoffe und Verhaͤltniſſe der Erdoberflaͤche (oder Peripherie), an die Stelle geſetzt. Sowie die Deutſchen derzeit auch in praktiſcher Sinſicht ge⸗ worden ſind wie andre Nationen, wie bei ihnen die nationale Einheit und Macht und deren militaͤriſche Sicherung die innerlich zentralen und menſch⸗ lich univerſellen Aufgaben zuruͤckgedraͤngt hat, ſo hat leider auch auf wiſſenſchaftlichem Gebiete verſtaͤndig aͤußerlich engliſche Denkweiſe die deutſche uͤberwuchert. Man findet Darwin „groß und erhaben wie die Natur ſelbſt“, und man fühlt nicht, wie er in allen Grundfragen, d. h. überall, wo es ſich um einen ſelbſtaͤndig neuen zentralen Entwicklungs anſatz handelt, und am meiſten bei der Auffaſſung des Menſchen bis zur

16 wilbelm Troll, Der Darwinismus und der deutſche Geiſt

Unertraͤglichkeit flach und kleinlich aͤußerlich iſt, aber freilich nicht flacher und ſtumpfer als dieſe ganze Naturanſchauung ſelbſt, von der er ein not; wendiger Ausfluß iſt, und die, wenn fie konſequent fortwirken konnte, allen idealen Kern unſres Volkes ertöten wurde. Doch noch iſt dem deut ſchen Volke der ideale Sinn nicht erſtorben; gerade in der ſchaͤrfſten und nuͤchternſten Realität, in der noch unfreieſten und ſelbſtloſeſten Natur⸗ grundlage, erkennt er ſeine eigene Wurzel!“

„Vergebens bemüht ſich darum auch der Darwinismus für feine aͤußer⸗ lich mechaniſche Erklaͤrung des Organiſchen, und für deſſen nur aus den peripheriſchen Einfluͤſſen abgeleitete Fortentwicklung, bei den Vertretern unſerer großen Literaturperiode Anhaltspunkte zu fuchen. Wie nichtig 3. B. find die Folgerungen, die Saeckel aus Goetheſchen Ausſpruͤchen nieht! ... Die Wahrheit iſt, daß Goethe wohl ein allgemeines inneres Geſetz der Fortentwicklung des Organiſchen bis zum Menſchen hinauf vor ; ſchwebte, daß er aber uͤber eine damals noch unvermeidliche Unbeſtimmt ; heit in betreff des Weſens dieſes Geſetzes nicht hinauskommen konnte. Am wenigſten aber haͤtte er jene widerſinnig aͤußerliche Erklaͤrung vom Ur⸗ ſprung des Menſchen, dieſes innerſten Zentrums der Natur, gebilligt.“

„Was Goethe vorſchwebte, war vielmehr jenes wahrhafte Entwicklungs; geſetz, das aus der noch unentwickelt zentralen Anlage und aus ihrer ge⸗ meinſamen Grundform erſt die beſtimmte und ausgepraͤgte Scheidung und Sonderung der Seiten und den mannigfachen Reichtum der leiblichen Pe; ripherie hervorgehen laͤßt. Und wie weit er von der mechaniſchen Natur; auffaſſung, die auch der Darwinismus teilt, entfernt war, das zeigt ja nichts deutlicher als feine Licht und Farbentheorie, die ihre wahre Be⸗ gründung und Verdeutlichung nur aus dem Grundbegriffe der organiſchen Naturanſicht erhaͤlt, aus der unmittelbaren innerlich univerſellen Einheit und Zuſammenfaſſung der Peripherie und aus der demgemaͤßen innerlich offenen und in die Peripherie hinausbezogenen Einheit des Zentrums mit ihr. Kurz, die ganze Denk und Geiſtesweiſe Goethes, fo ſehr fie realiſtiſch iſt und auf volle Natur hindringt, hat ja doch nicht weniger in der Natur überall das Ideale, zentral von innen heraus geſtaltende Entwicklungs ; ſtreben zum Gegenſtand.“

„Nun kennt allerdings die Wiſſenſchaft als ſolche keine Nationalitaͤt; fie iſt ein univerſelles Gebiet, in welchem die Geiſtestaͤtigkeit der einzelnen Nationen ſich gegenſeitig ergänzen ſoll. Allein nur zu ſehr übt doch der einſeitig nationale Geiſt ſeinen Einfluß aus, auch auf die Wiſſenſchaft, vor allem gerade da, wo es ſich um die hoͤchſten und letzten Fragen, um den Urſprung alles organiſchen und geiſtigen Daſeins handelt. Und in dieſem Sinne haben wir bei dem Darwinismus geſehen, wie er im vollſten Maße, von Anfang bis zu Ende, jene Einſeitigkeit teilt, welche ſich auch ſonſt in der engliſchen Entwicklung zeigt, obgleich feine letzten Konfequenzen, die urſpruͤngliche Erklaͤrung des Organiſchen ſelbſt uſw., zuerſt von deutſcher

S. Woblbold, Goethe als Naturforſcher in feiner Bedeutung f. d. Gegenwart 17

Seite gezogen worden find. Kein Denkender, der ſich über die Natur und Entwicklung deutſcher wiſſenſchaft klar geworden iſt, kann darum glauben, daß ſie mit dieſem grellen Gegenſatze gegen ihre eigene Natur und Vergangenheit, mit dieſer Außerlichkeit engliſcher Anſchauungsweiſe endigen werde. Es iſt dies ebenſo widerſinnig, als daß unſere jetzige ſcharf nationale Stellung, durch die wir zum Gegenſtand der Eiferſucht für andere Nationen und zum Anlaß ge ſteigertſter allgemeiner Bewaffnung geworden find, das Bleibende fein und darüber jene hoͤchſte und umfaſſendſte Beſtimmung, auf die eine tau⸗ ſendjaͤhrige Geſchichte uns hinweiſt, .. nämlich die zu einem geiſtig er- neuenden und menſchlich univerſellen Zentrum des Voͤlkerlebens, daruber aufhoͤren Pönnte.”

„Und die deutſche Wiſſenſchaft, fie, die jetzt dieſe hoͤchſte Aufgabe zu voll bringen hat, wird auch zuerſt jenen Bann brechen, der jetzt einer ſtarren aͤußerlichen Rinde gleich auf dem tieferen idealen Leben des deutſchen Gei⸗ ſtes zu liegen ſcheint. Sie wird mit der augenfaͤlligen Nichtigkeit, in welcher fie alle empiriſtiſche aͤußerliche Erklaͤrung des organiſchen und geiſtigen Lebensgrundes erkennen läßt, auch den Sinn oͤffnen für die wahrhafte Natur, fuͤr das innerlich durchſichtige zentrale Entwicklungsgeſetz alles Daſeins. Und dies Servorbrechen einer innerlich erneuten, lebendig orga⸗ niſchen Naturanſchauung mit ihrer nach allen Seiten hin befruchtenden macht wird auch die Entſcheidung bringen für die uͤbrige Wiſſenſchaft.

H. Wohlbold / Goethe als Natur⸗ forſcher in ſeiner Bedeutung fuͤr die Gegenwart

oethe war bis in fein hoͤchſtes Alter um die Erkenntnis der Natur

bemuͤht. Die Ergebniſſe ſeiner Studien hat er in einer Reihe von

Schriften niedergelegt. Vieles davon blieb fragmentariſch. Die Unterſuchungen über die Metamorphoſe der Pflanzen und über die Farben; lehre ſind, im Weſentlichen, zu einem Abſchluß gekommen. Sie geben ein Bild feiner biologiſchen und phyſikaliſchen Anſchauungen. Ihre Bedeu⸗ tung liegt weniger in Einzelentdeckungen, als in der Problemſtellung und in der beſonderen Forſchungsmethode Goethes, die ſich durchaus von der des modernen Naturforſchers unterſcheidet. Die Wiſſenſchaft lehnt Goethe ab. Zwar Saeckel iſt für ihn eingetreten aber er hat das, was er aus ihm herauslas, zuerſt ſelbſt in ihn hineingelegt. Er ſtimmt ihm zu, weil er ihn falſch verſteht. Aus ihren Prinzipien heraus muß die Gegenwartswiſſen ;

»Goethes Morphologiſche Schriften. Serausg. v. W. Troll. br. M 15. —, geb. M 18.50. Eugen Diederichs Verlag in Jena. Tat XVIII 2

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ſchaft Goethe ablehnen, wenn ſie auch nur einigermaßen begriffen hat, was er will. Es handelt ſich ja keineswegs nur um eine naturwiſſenſchaft⸗ liche Frage. Auch nicht, wie das gerne ſo hingeſtellt wird, um den Gegenſatz zwiſchen der poetiſch⸗phantaſie vollen Naturauffaſſung eines in der wiſſen⸗ ſchaft dilettierenden Dichters und exakter Sorfhung und Methode fon- dern Weltanſchauung ſteht gegen weltanſchauung. Der Rampf um den Naturforſcher Goethe muß heute deshalb aufgenommen und durchgefuͤhrt werden, weil von Goethes richtiger Einſchaͤtzung ſehr weſentlich die weitere Entwicklung des mitteleuropaͤiſchen Geiſteslebens und damit der abendlaͤndiſchen Rultur abhaͤngt. Der Intellektualismus verliert ſich immer mehr in mechaniſtiſchen und materialiſtiſchen Abſtraktionen. Damit hat er die Kultur Europas zugrunde gerichtet. Goethe zeigt den Weg zur Spiri⸗ tualiſierung des Denkens und damit die Moglichkeit zur Überwindung der fortſchreitenden Mechaniſierung und Barbariſierung Europas.

Die Naturwiſſenſchaft beherrſcht die Zeit. Sie hat die aͤußere Sorm der weſtlichen Ziviliſation geſchaffen. Aber ſie war bisher nicht faͤhig, aus ſich heraus eine Weltanſchauung zu begründen. Was man „naturwiſſenſchaft⸗ liche Weltanſchauung“ nennt, verdient dieſen Namen nicht.

Materialismus und Mechanismus waren als ein Refervat einzelner Per ſoͤnlichkeiten und auch noch beſtimmter, ſogenannter „gebildeter! Kreiſe intereſſante Theorien. Eine Flut populärer Literatur trug fie in die breiten Maſſen, vor allem des Proletariats. Dort wurde mit den Theorien ernſt ge- macht, man feste fie in die Praxis um. Es zeigte ſich, daß ſich mit ihnen nicht leben laͤßt; ſie zerſtoͤrten zwar, aber ſie koͤnnen nicht Neues aufbauen. Deshalb ſagt 3. B. Sarnack einmal, die Naturwiſſenſchaft ſei nicht faͤhig, dem Leben einen Sinn zu geben. So denken heute ſehr viele. Wer nach einem Sinn des Lebens ſucht, der wendet ſich der Myſtik des Mittelalters oder der Weisheit Aſiens Indiens, Chinas, zu. Dort liegen allerdings hoͤchſte geiſtige Werte, aber fie entſtammen einem dem modernen Europaͤer fremden Bewußtſein und koͤnnen deshalb nicht im Großen in unſere Zeit verpflanzt werden. Jede Epoche hat die ihr eigentuͤmliche Bewußtſeins⸗; form und demgemaͤß auch ihre beſonderen Ideale. Weltanſchauungen koͤnnen einer Zeit nicht aufgepfropft werden, ſie muͤſſen organiſch aus ihr wachſen.

Der Menſch des zwanzigſten Jahrhunderts iſt enger mit der Erde ver⸗ bunden als der fruͤherer Generationen. Er lebt ganz hingegeben an die Sinneswelt. Nur Erfahrung und Beobachtung laͤßt er als Grundlage ſeiner Erkenntniſſe gelten. Deshalb kommt fuͤr die Gegenwart alles darauf an, aus der Sinneswelt, aus der naturwiſſenſchaftlichen Erfahrung und durch fie den Weg zu hoͤheren Erkenntniſſen zu finden. Die Naturwiſſen⸗ ſchaft iſt entweder agnoſtiziſtiſch oder im Widerſpruch zu ihren eigenen erkenntnistheoretiſchen Grundlagen materialiſtiſch. Sie transformiert in dieſem Hall das Weltbild des naiven Beobachters bei dem der Agnoſti zismus ſtehen bleiben müßte in das Gebiet des Unerfahrbaren. Man

Goethe als Naturforſcher in feiner Bedeutung für die Gegenwart 19

rann weder hier noch dort wirklich von einer „Weltanſchauung“ ſprechen. Aber es iſt doch denkbar, daß man die materialiſtiſch mechaniſtiſche Vor⸗ ſtellungsart nur erſt in die Naturwiſſenſchaft hineingetragen bat.

Zu Goethes Zeiten wirkten die „Naturphiloſophen“, die in mehr oder weniger enger Fuͤhlung mit Schelling waren. Sie ſtellten gerade den Na⸗; turforſcher Goethe beſonders hoch, zu dem die Kathederwiſſenſchaft ſchon damals kein Verhaͤltnis fand. Die Naturphiloſophie brach ab, ehe ſie ſich richtig entfaltet hatte. Sie kam ſehr oft nicht uͤber die Problemſtellung hin; aus und verlor ſich zuletzt in einem fruchtloſen Spiel mit Analogien und Symbolen. Aber in ihr lagen Keime zu einer geiſtgemaͤßen Naturanſchau⸗ ung. Nur findet ſie die Kraft nicht, ſie zur Reife zu bringen. So erliegt ſie, als in der zweiten Saͤlfte des I9. Jahrhunderts die geiſtige Welle Aber Deutſchland hinflutet, die aus dem weſten heruͤberkommt.

Darwin tritt auf und Saeckel wird ſein Prophet. Wie er meint, iſt er auch der Prophet Goethes. Der wird zum „Vorlaͤufer darwiniſtiſcher Gedan ; kengaͤnge geſtempelt. Auch Serm. v. Selmholtz hat ja einmal auf einer Generalverſammlung der Goethegeſellſchaft in Weimar, im Jahre 1882, uͤber „Goethes Vorahnung kommender naturwiſſenſchaftlicher Ideen“ ge⸗ ſprochen.

Auf der SS. Verſammlung deutſcher Naturforſcher und Arzte in Eiſe⸗ nach, im Jahre 1882 hielt Saeckel einen Vortrag, in dem er auch auf Goe⸗ thes Metamorphoſe der Pflanzen zu ſprechen kam. Er führte aus, wie Goethe „den ganzen Sormenreichtum der Pflanzenwelt von einer einzigen Urpflanze“ ableite. „Er läßt” ſagt Saeckel „alle die verſchiedenen Gr⸗ gane derſelben durch mannigfache Umbildung und Ausbildung eines ein- zigen Grundorganes entſtehen, des Blattes.“ Saeckel führt einige Zeilen aus dem Gedicht Goethes uͤber die Metamorphoſe der Pflanzen an, in dem der Dichter von dem „geheimen Geſetz“ ſpricht, auf welches der „Chor deutet“. Dann faͤhrt er fort:

„Dieſes geheime Geſetz“, dieſes „heilige Kaͤtſel“ iſt die gemeinſame Ab⸗ ſtammung aller Pflanzen von jener Urpflanze, waͤhrend ihre ſpeziellen Unterſchiede durch Anpaſſung an die verſchiedenen Umſtaͤnde ihrer Exiſtenzbedingungen bewirkt werden.“

Goethes „Urpflanze” erſcheint hier als die erſte, primitive Pflanze der Urzeit. Durch Vererbung und Anpaſſung ſoll ſich aus ihr die ganze Pflan- zenwelt nach und nach „entwickelt“ haben.

In Wirklichkeit nennt Goethe die „Urpflanze“ das „Muſter“, nach dem alle Pflanzen gebildet ſeien. Sie iſt das „Modell und ein Schluͤſſel“, mit dem man noch „Pflanzen ins Unendliche erfinden“ kann, die „konſequent“ fein muͤſſen, das heißt, die, wenn fie auch nicht exiſtieren, doch exiſtieren koͤnnten und nicht etwa maleriſche oder dichteriſche Schatten und Scheine ſind, ſondern eine innere Wahrheit und Notwendigkeit haben. Die Ur⸗ pflanze iſt ein „Typus“, eine „Entelechie“, eine Idee. Saeckels erſte Pflanze

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iſt eine Theorie. Sie iſt erfunden. Goethes Urpflanze iſt „geſchaut“, wenn auch „mit den Augen des Geiſtes“.

Darwinismus und Goetheanismus ſtehen auf verſchiedener erkenntnis · theoretiſcher Grundlage. Sie unter ſcheiden ſich außerdem vor allem durch ihre Auffaſſung des Organismus.

Der Entwicklungs gedanke als ſolcher wird kaum mehr ernſtlich beſtritten. Aber die Tatſache der Entwicklung kann durch die geltenden Theorien nicht erklaͤrt oder bewieſen werden. Die Anſicht, daß im Kampf ums Dafeln der- jenige am beſten vorwaͤrts kommt, der ſich den Verhaͤltniſſen anzupaſſen verſteht, mag als Maxime fuͤr Geſchaͤftsleute brauchbar ſein. Aber es iſt doch ſehr naiv, damit die Entwicklung des Menſchen aus Einzellern er klaͤren zu wollen. Die Entwicklungslehre iſt eben heute noch immer ein Problem und nicht eine erweisbare Tatſache. Was Darwin und Saeckel richtig geſehen haben, iſt die Wandelbarkeit der organiſchen Form. Aus den Komponenten einerſeits vererbter Faktoren, andererſeits der Anpaſſung, der Milieuwirkung follte die ganze organiſche Natur wie die Refultante im Kraͤfteparallelogramm entſtanden fein. Die Entwicklung wäre demnach ein wenn auch noch nicht in ſeinen Einzelheiten durchſchaubarer mechaniſcher Vorgang. Er iſt der „Gott, der nur von außen KÖRBE” und eben nicht einmal ein Gott.

Saeckel war ſo in ſeinen Theorien befangen, daß er das zunaͤchſt vor Augen liegende nicht ſah. In dem ſchoͤnen phyletiſchen Muſeum in Jena iſt die außerordentliche Beweglichkeit des Organismus eindringlich und uͤberzeugend demonſtriert. In nebeneinanderſtehenden Reihen von Grga⸗ nismen oder von Einzelgliedern wird nicht wie Saeckel glaubte die Entwicklung, aber die Metamorphoſe, der „Proteus“, offenbar. Die Natur bildet ein Bein, eine Gliedmaße. Sie hat dazu zahlloſe Möglichkeiten. Das Modell, die Idee, nach der fie ſchafft, wird als ſolche nie oder immer Erſcheinung. In vielen verſchiedenen Formen ſpricht ſie ſich aus, je nach den Moͤglichkeiten, die ihr innerhalb der Erſcheinungswelt dazu gegeben find. Aller Sormenreichtum der Natur iſt alſo zunaͤchſt nichts anderes als vielfach verwandelter Ausdruck eines Urbildes.

Der phylogenetiſche Geſichtspunkt ſteht in naher Beziehung zum mor⸗ phogenetiſchen.

Wie ſich alle Pflanzen von der ideellen Urpflanze ableiten laſſen, ſo ſind die einzelnen Teile des Pflanzenorganismus wieder Metamorphoſen des „Blattes“. Auch in dieſem Punkt hat Saeckel Goethe mißverſtanden. Die Botanik ſpricht ja von der Metamorphoſe. Stacheln ſind metamorphoſierte Blätter, Ranken metamorphoſierte Sproſſe uſw. Irgendein Organ erfährt durch äußere Urſachen dazu gehoͤren auch Klima, Naͤhrboden einen Anreiz zur Umbildung. Die vererbte Form wird dadurch umgewandelt, ab- geaͤndert. Das Geſetz von Urſache und Wirkung gilt hier wie in der lebloſen Natur.

Goethe als Naturforſcher in feiner Bedeutung fuͤr die Gegenwart 21

Das allzu Primitive dieſer Dorftellungsart iſt vielfach empfunden worden. Deshalb hat man von gewiſſer Seite noch eine beſondere, nur dem Grga⸗ nismus eigentumliche Geſetzmaͤßigkeit angenommen. Die Lebensvor⸗ gaͤnge ſollen „zweckmaͤßig“ verlaufen. Wohl folgt auch, fo wird angenom- men, im lebenden Körper auf die Urſache die Wirkung, aber fie liegt not; wendig in beſtimmter Richtung. Nach teleologiſcher Anſicht folgt auf A nicht ein nur durch dieſes A beſtimmtes B, ſondern ein ſolches B, daß da⸗ mit ein beſtimmter, vorweggenommener Endzweck, ein Endziel C erreicht wird. So iſt das organiſche Geſchehen in ſeinem Ablauf durch ein myſtiſches Element beſtimmt, durch etwas Außer · oder Ubernatuͤrliches. Geht man den Dingen auf den Grund, ſo findet man uͤberhaupt, daß die angeblich nur ſtreng auf der Erfahrung fußende Naturwiſſenſchaft von aͤhnlichen myfti- ſchen Elementen uͤberall durchſetzt iſt. Um den Grganismus zu erklaͤren, phantaſieren „exakte Naturforſcher von atomiſtiſchen Cebenstraͤgern oder ebensteilchen, Biophoren, oder von beſonderen Chemismen und was ſonſt alles in die Zelle hineinphantaſiert wird. Sier gilt ſchon das Wort vom „Kerl, der ſpekuliert“ und von der „grauen Theorie“. Goethe hat nie et- was zur Natur hinzu erfunden. Das Phaͤnomen ſelbſt iſt ſchon die Theorie ſagt er. Er wollte nur „ſchauen“. Denn er wußte, daß der tief genug dringende Blick weſenhaftes in den Erſcheinungen ſieht, das realer iſt als ausſpintiſierte Vorſtellungen, als Begriffe, die man erſt in die Welt hinein⸗ konſtruiert und dann in ihr findet als ein metaphyſiſches Etwas, das die Urſache von allem wahrgenommenen iſt. Es ſei dahingeſtellt, ob die Er⸗ finder ſelbſt ernſthaft an ihre Theorien glauben.

weil es ihm nicht darum zu tun war, etwas anderes als Tatſachen feſt⸗ zuſtellen, lehnte Goethe auch die teleologiſche Auffaſſung der organiſchen Natur ab. „Die Frage nach dem Zweck die Frage warum? iſt durch⸗ aus nicht wiſſenſchaftlich ( ſagt er zu Eckermann, und er fügt hinzu: „Weiter kommt man mit der Frage Wie?“

Noch deutlicher druͤckt er ſich im erſten „Entwurf einer Einleitung in die vergleichende Anatomie“ aus. „Man wird“ fo heißt es dort „künftig von ſolchen Gliedern, wie 3. B. von den Eckzaͤhnen des Sus Babirussa nicht fragen: wozu dienen ſie? ſondern: woher entſpringen ſie? Man wird nicht behaupten, einem Stier ſeien die Soͤrner gegeben, daß er ſtoße, ſondern man wird unterſuchen, wie er Hörner haben koͤnne, um zu ſtoßen.“ Das Reſultat einer Bo Unterſuchung deutet Goethe in dem Gedicht ABPO- LO an:

„Denn fo hat kein Tier, dem ſämtliche Jaͤhne den obern

Kiefer umzaͤunen, ein Horn auf feiner Stirne getragen, Und daher iſt den Löwen gehoͤrnt der ewigen Mutter

Ganz unmöglich zu bilden und bote fie alle Gewalt auf;

Denn ſie hat nicht Maſſe genug, die Reihen der Jaͤhne

Völlig zu pflanzen und auch Geweih und Hörner zu treiben.“

22 3. Wohlbold

Die organiſche Form iſt im Zuſtand eines labilen Gleichgewichtes. Ein Mehr auf der einen bewirkt ein Weniger auf der anderen Seite. Eine „be⸗ wegliche Ordnung herrſcht im Organismus. Der Typus, die Idee, im beſonderen Fall die Urpflanze, nimmt wechſelnde Geſtalten an, durch aͤußer⸗ lich wirkende Wefen” ; ſelbſt verwandelbar, in ſich vollendet, iſt fie „im heiligen Kreiſe lebendiger Bildung beſchloſſen “. Die Idee als das Wefen des Organismus iſt urſpruͤnglich, ſie iſt vor der Erſcheinung und in ihr. Aber aͤußere Faktoren machen ihre Verwirklichung in der Erſcheinung nur bedingt moͤglich. Nie deckt ſich die Form mit dem „allgemeinen Schema“. Ein ſolches iſt auch das, was Goethe das „Blatt“ nennt. Er meint nicht das Laubblatt. Ausdruͤcklich ſagt er: „Es verſteht ſich hier von ſelbſt, daß wir ein allgemeines Wort haben mußten, wodurch wir dieſes in fo ver⸗ ſchiedenen Geſtalten metamorphoſierte Organ bezeichnen und alle Erſchei⸗ nungen ſeiner Geſtalt damit vergleichen koͤnnten.“ Alſo das Wort, das notwendig wäre, fehlt der Sprache. So nennt er das Grgan, das meta⸗ morphoſiert in allen Teilen der Pflanze auftritt, ein „Blatt“. Das Laub- blatt iſt ſchon eine ſeiner Metamorphoſen.

Es wirkt alſo nicht Form auf Form, Natur auf Natur, ſo wie bei phyſikaliſchen Vorgängen. Sondern das nur Natuͤrliche nennen wir es, wenn das Wort in umfaſſender Bedeutung verſtanden wird, das Milien gibt dem ideellen Urbild beſchraͤnkte und verſchiedenartige Ausdrucks⸗ möglichkeit. So wird aber das Phänomen zur Phyſiognomie der Idee, es verbirgt und offenbart ſie zugleich.

Sor die phyſiognomiſche Naturbetrachtung Goethes iſt die Frage nach dem Weſen, nach der „Urſache“ des Lebens bedeutungslos. Sie iſt falſch geſtellt. Das „Leben“ iſt weder ein phyſikaliſch⸗chemiſcher Prozeß, noch eine beſondere Kraft. Ein abſtraktes „Leben“ gibt es nicht nur lebende Organismen. Man darf nicht fragen: was iſt das Leben? Sondern: wann nennen wir ein Naturweſen lebendig? Wodurch unterſcheidet ſich der Organismus vom unorganiſchen Körper? Was iſt das weſentliche des organiſchen Geſchehens? Es liegt darin, daß phyſikaliſche Vorgänge von außen, organiſche von innen heraus veranlaßt ſind. Der Organismus iſt ideell ein Ganzes, die Teile wirken im Sinn der Entelechie zuſammen. Das Ganze ſteht uͤber den Teilen. Bei mechaniſchem Geſchehen ergibt es ſich erſt aus den Einzel wirkungen.

Goethe denkt dynamiſch. Die moderne wWiſſenſchaft iſt atomiſtiſch und kann deshalb niemals zur Erkenntnis von weſenhaftem kommen. Nicht nur das iſt gemeint, was man im engeren Sinn in der Chemie „Atomis- mus” nennt. Ob es tatſaͤchlich Atome gibt oder nicht, ſpielt hier keine Rolle. Atomismus iſt jeder Verſuch, das Ganze aus der Zuſammenwirkung feiner Teile zu erklaͤren feien dieſe Teile nun makroſ kopiſch oder mikroſ kopiſch oder ſchlie lich nur erdacht. Die ganze Welt loͤſt ſich für den Atomismus in ein Spiel kleinſter Entitaͤten auf. Sie ſollen die Urſache des Geſchehens

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Goethe als Naturforſcher in feiner Bedeutung für die Gegenwart 23

bilden, die objektive Weltwirklichkeit, die wir ſubjektiv als Farbe, Klang, Subſtanz uſw. wahrnehmen. Aber alle diefe Jonen, Elektronen, Ather⸗ ſchwingungen oder was immer es ſei, ſie liegen im Unterſinnlichen, mit ihnen loͤſcht man die Wirklichkeit aus. Man hat aus dem Weltbild der modernen wiſſenſchaft einerſeits den wahrnehmenden und empfindenden Menſchen hinausgeworfen, aber man hat auch die Natur ſelbſt ausgetilgt, um an ihre Stelle nicht nur eine nicht wahrgenommene, ſondern eine fuͤr immer un wahrnehmbare Welt zu ſetzen. Ein Nichts iſt das Monon, das alles Daſeiende verurſachen ſoll und das die „lebendige Natur, da Gott den Menſchen ſchuf hinein“ erſetzt.

Goethe ſucht keine verurſachende hinter der wahrgenommenen Welt. Er ſucht das Bedingende und das weſen der Phaͤnomene. Es offenbart ſich durch die Erſcheinung. Blau ſagt etwas anderes als Rot, Gold anderes als Blei. Atherwellen von verſchiedener Länge oder Atommodelle ſagen gar nichts. Deshalb kann eine Naturanſchauung, die zum Erlebnis des Wirklichkeitsgehaltes der Welt fuͤhren will, nicht atomiſieren. Den Men; ſchen dadurch verſtehen zu wollen, daß man ihn für einen „Jellſtaat“ er- Plärt, iſt ein Unſinn. Jedes Individuum iſt etwas für ſich und hat etwas zu ſagen. Dann aber muß es ſich zur Welt erweitern. Wirklich zu verſtehen iſt es erſt, wenn man es in feiner Bedeutung ſieht, die ihm innerhalb eines hoͤheren Ganzen zukommt. Nicht ins Kleine, ins Große muß man gehen. man muß die Einzelheiten zuſammenſchauen. Elne Pflanze iſt, für ſich be- trachtet, eine Abſtraktion. Zu ihr gehoͤrt die Erde, auf der ſie waͤchſt, die Sonne, wie fie durch den Tierkreis wandert. So iſt die Erde ſelbſt als Mineralkugel unwirklich. Sie iſt ein Organismus. Pflanzen, Tiere, Men; ſchen, meteorologiſche Prozeſſe, Sonnen und Monden wirkung gehoren zu ihr. Erſt das alles zuſammen iſt wirklich „die Erde“, aus der Idee der Erde iſt auch der Menſch bewirkt. Die Stufenfolgen der Naturreiche bedingen oder verurſachen ſich nicht. So wenig als etwa hiſtoriſch das, was heute geſchieht, oder in dieſem Jahr, die Urſache des Geſchehens im naͤchſten Jahre iſt. Die Dinge tragen ſich gegenſeitig, ſtrahlen gewiſſermaßen von einem ideellen Mittelpunkt aus.

Durch Atomiſieren, durch kauſal⸗mechaniſche Erklaͤrungsverſuche kommt die moderne Naturwiſſenſchaft zu ganz falſchen Vorſtellungen. Sie ſtellt nebeneinander das Skelett eines Menſchen und das eines Affen. Dann vergleicht fie Anochen mit Knochen. Sie mögen einmal länger, einmal kuͤrzer, breiter oder ſchmaͤler fein. Ein weſentlicher Unterſchied beſteht für eine ſolche atomiſtiſche Auffaſſung nicht. Vergleicht man die Skelette als Ganzes, fo fällt ſofort der durchaus verſchiedene Sabitus auf. Man ſieht, wie etwa bei dem Affen die Schwere überwiegt, wie dagegen das Mienfchen- ſkelett allgemein nach Aufrichtung tendiert. Der Geſamteindruck wir wollen nicht auf Einzelheiten eingehen iſt ein ganz anderer. Nimmt man die Idee der „Entwicklung“ ernſt, ſo kann dieſe fuͤr einen Affen doch

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immer nur darin beſtehen, daß er das, was ihn zum Affen macht, deutlicher, vollkommener ausbildet. Er wird nie zum Menſchen, ſondern entfernt ſich nur immer weiter von ihm. Im Sinne Goethes kann man ſagen, daß ſich die Idee des Menſchen nicht aus der Idee des Affen ableiten laͤßt. So ergibt ſich ein ganz anderer Geſichtspunkt, wenn man auf das Wefen der Dinge eingeht, bei dem Organismus alſo auf das ihn von innen heraus geſtaltende Prinzip, auf ſeine Idee als das Wirkliche. Wirklich iſt das Wirkende und Be⸗ wirkende.

Sieht man ſo zunaͤchſt im Organismus den Ausdruck der Idee, die ſich metamorphoſiert, fo kommt dazu noch der ebenfalls von Goethe gefundene Begriff der „Steigerung“. Damit wird das Entwicklungsproblem geloͤſt, das in der mechaniſtiſchen Entwicklungstheorie nur ſeine Scheinloͤſung finder.

Wenn die Erſcheinung wir deuteten das bereits wiederholt an als Ausdruck der Idee dieſe vollkommener oder unvollkommen zum Ausdruck bringt, ſo ergibt ſich daraus ſchon eine Abſtufung der Organismen. Ge⸗ wiß hat die Umwelt einen Einfluß auf die Geſtaltung. Aber nur inſofern, als die bildende Kraft der Natur von ihr abbängig iſt, fo etwa wie der bil- dende Künftler von feinem Material. Die Metamorphoſe kommt dadurch zuſtande, daß Inneres und Außeres zuſammenwirken. Sie wird einmal als ein Weltprinzip von umfaſſender Bedeutung erkannt werden, wenn ſie erſt richtig verſtanden wird. Nicht blind und ziellos wirkt ſie. Aber ihr Ziel liegt in der Idee ſelbſt, es wird nicht von außen an ſie herangebracht und iſt nicht metaphyſiſch oder myſtiſch. Durch die „Steigerung“ wird die Form ge⸗ laͤutert und geklaͤrt, ſie wird immer mehr Ausdruck der Idee.

Goethes Darſtellung der Metamorphoſe der Pflanzen zeigt ſeine Auf⸗ faſſung in den Einzelheiten. Dort ſpricht er von „Blatt“ und „Knoten“. Darunter verſteht er zwei Tendenzen, die in der Pflanze und nicht nur in ihr wirkſam find, die Tendenz der Ausbreitung und des Zufammen- ziehens. Es iſt der Rhythmus des Lebendigen, den er ſieht, der Rhythmus des Werdens. Denn nicht als ſtarre Form iſt der Organismus aufzufaſſen. Das Gewordene iſt bereits tot. Er ſteht im Fluſſe des Werdens und die Entelechie geſtaltet ſich in Syſtole und Diaſtole, im Einziehen und Aus⸗ breiten. Goethe zeigt, wie die Pflanze in drei Intervallen ſich vom Groben, wie es noch in den unteren Zaubblättern, weniger bereits in den oberen, auftritt, verfeinert, wie ſie zarter wird, ſich in der Bluͤte in leuchtende Farben kleidet und im Duft ſich aͤtheriſtert, fo daß hier alles Stoffliche auf- gelöft, uͤberwunden wird. Sand in Sand damit verläuft der innere Rhyth⸗ mus wie ein Atemholen. „Dasſelbe Organ, welches im Stengel als Blatt ſich ausdehnt und eine hoͤchſt mannigfaltige Geſtalt angenommen hat, zieht ſich nun im Kelche zuſammen, dehnt ſich im Blumenblatt wieder aus, zieht

, Ab in den Geſchlechtswerkzeugen zuſammen, um ſich als Frucht zum letzten mal auszudehnen.“

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waͤhrend Goethe die Pflanzenmetamorphoſe im weſentlichen geſchloſſen darſtellte, blieb ſeine Darſtellung des Tieres fragmentariſch. Die Pflanze iſt immer nur „Blatt“. Ein dementſprechendes Grundorgan gibt es für das Tier nicht. Es laͤßt ſich auch nicht ein „Urtier“ entſprechend der „Urpflanze“ aufſtellen. Auf das Tierreich wird erſt dadurch Licht geworfen, daß man es in richtiger Weiſe zum Menſchen in Beziehung bringt.

Goethe ſucht nach einem „anatomiſchen Typus“, einem „allgemeinen Bild“, worin die Geſtalten ſaͤmtlicher Tiere der Moͤglichkeit nach enthalten waͤren, aber, ſagt er, „ſchon aus der allgemeinen Idee eines Typus folgt, daß kein einzelnes Tier als ein folder Vergleichs kanon aufgeftellt werden koͤnne “. Wo der Vergleichskanon zu ſuchen iſt, das geht aus einer anderen Außerung hervor, wo es heißt „daß der Menſch dergeſtalt gebaut ſei, daß er ſo viele Eigenſchaften und Naturen in ſich vereinige und dadurch auch ſchon phyſiſch als eine kleine Welt, als ein Repraͤſentant der übrigen Tier gattungen exiſtiere . Den gleichen Gedanken findet man bei den Natur⸗ philoſophen. Oken beſonders hat ihn ſeinem Syſtem zugrunde gelgt. „Das Tierreich iſt nur ein Tier”, ſagt er, „das heißt die Darſtellung der Tierheit mit allen ihren Organen, jedes für ſich ein Ganzes. Ein einzelnes Tier ent- ſteht, wenn ein einzelnes Organ ſich von dem allgemeinen Tierleib abloͤſt und dennoch die weſentlichen Tierverrichtungen ausübt. Das Tierreich iſt nur das zerſtuͤckelte hoͤchſte Tier Menſch“. Ofen unterſcheidet Darmtiere, ungentiere uſw. In jeder Tiergruppe herrſcht ein Organſyſtem vor und drängt die anderen zuruck. Das Idealtier haͤtte in ſich alle Organe gleich⸗ wertig und in Sarmonie gebracht. Aber erſt im Menſchen tritt das Lebens ; zentrum auf, das den Organismus barmonifiert. So wie das Denken das Triebleben, uͤberragt das Gehirn die Organe. Im Tierreich dominiert das Gehirn noch nicht, der Kopf iſt, ſagt Goethe, „nur angehaͤngt“. Das primi- tive Denken des Tieres iſt ebenfalls triebhaft.

Die Welt des Lebendigen entwickelt ſich nicht durch Reize von außen, fie entfaltet ſich aus dem Inneren in Metamorphoſe und Steigerung.

Die Idee des Organismus iſt bei der Pflanze Leben, beim Tier Empfin⸗ dung, beim Menſchen wird fie Bewußtſein. Er waͤchſt über das nur Leben; dige, uͤber das Triebhafte hinaus. Der Menſch iſt Pflanze und Tier und mehr als beide. Die Natur wird ſich in ihm ihrer ſelbſt bewußt. Was auf den tieferen Stufen des organiſchen Daſeins im Stoff und in der Form, im Trieb zur Selbſterhaltung und zur Erhaltung der Art aufging, das erſcheint im menſchlichen Bewußtſein als Idee. Der Menſch bringt zu dem natür- lichen Daſein etwas Neues hinzu, er vollendet die Natur erſt, in ihm ſtellt ſich „das ſonſt Undarſtellbare“ dar. Was ſonſt nur in der Erſcheinung daſtand. wird Idee. Aus der Sinfternis der Natur gebiert ſich das Licht des Geiſtes.

An dieſer Stelle dürfen vielleicht einige Worte uͤber Goethes „Farben ·

lehre gefagt werden. Die Phyſiker wiſſen nichts mit ihr anzufangen. Sie , iſt auch nicht eigentlich eine phyſikaliſche Angelegenheit, obwohl fie von den

mund

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Phänomenen der phyſikaliſchen Optik ausgeht. Durch die Nonſtruktion von Strahlen und von Brechungswinkeln kann man ſie weder beweiſen noch auch widerlegen. Auch ihre Vorausſetzungen find dynamiſch, während die Newtonſche Lehre atomiſtiſch iſt. Die Phyſik behauptet, das ſogenannte weiße Licht ſei aus den ſieben oder wieviel Sarben des Spektrums zu⸗ ſammengeſetzt. Nach Goethes Auffaſſung ſind die Farben im Lichte nicht materiell, ſondern der Möglichkeit nach enthalten. Die Sarben find Meta; morphoſen des Lichtes. Dieſes ſelbſt iſt eine Entitaͤt, die, wie die „Ur- pflanze“, nur mit den „Augen des Geiſtes“ geſehen werden kann. Denn auch das Licht, von dem Goethe ſpricht, iſt eine Idee. So, wie die Ur⸗ pflanze mit dem Stoff, ringt das Licht mit der Sinfternis und dadurch ent ſtehen die Farben. Sie find „Taten und Leiden des Lichts“.

Goethe ſucht das Urphaͤnomen. Gewiſſe Saktoren find für das Zuftande- kommen einer Erſcheinung nebenſaͤchlich und wirken nur modiſizierend auf ihren Verlauf. Andere bedingen ſie ſchlechthin. Mit dem Urphaͤnomen, ſagt Goethe, ſei der Naturforſcher „an die Grenzen ſeiner wiſſenſchaft gelangt“ und hier nimmt der Philoſoph „aus des Phyſikers Sand ein Letztes, das bei ihm nun ein Erſtes wird“. Farben gibt es nur dort, wo durch Licht und Sinfternis die Bedingungen für ihr Auftreten gegeben find. Die Bedin⸗ gungen fuͤr das Zuſtandekommen eines Phaͤnomens weiſt Goethe nach, er ſucht nicht deſſen Urſachen. Schwingungen im Ather oder wo es ſonſt ſei koͤnnen nie Urſache des Lichtes oder der Farbe fein. Sie find hoͤchſten⸗ falls Wirkungen. Vorausgeſetzt, daß fie wirklich fo, wie die Phyſik an⸗ nimmt, exiſtieren wurden, daß es das gäbe, was die Phyſik den Ather nennt und dieſer die ihm beigelegten Eigenſchaften haͤtte ſo wuͤrde er auf das, was wir als Licht, als Farben wahrnehmen, eben durch Schwingungen re⸗ agieren. Sür Goethe wäre das von untergeordneter Bedeutung. Die Dar⸗ ſtellung der Farbe im menſchlichen Bewußtſein iſt ihm ungleich wichtiger als die Art ihrer Wirkung in einem hypothetiſchen Medium, wie es der Ather der Phyſik iſt. Nach phyſikaliſcher Auffaſſung entſteht das Licht durch das Zuſammenwirken der Spektralfarben. Dieſe ſind Atherſchwin⸗ gungen von verſchiedener Wellenlänge. Damit wird das Licht zur Sinfter- nis. Das gleiche gilt natuͤrlich auch von der Quantentheorie oder von an⸗ deren Zypotheſen. Goethe blickt durch das Prisma auf die weiße Wand. Sie bleibt weiß. Nur dort, wo ein Selles an ein Dunkles grenzt, entſtehen Farben. Damit iſt eine Tatſache feſtgeſtellt. Damit Farben auftreten, iſt notwendig das Selle, das Dunkle und das Prisma die Truͤbe. Das Ur⸗ phaͤnomen liegt in der Polaritaͤt Licht —Finſternis. Dieſe iſt der Ausdruck eines Gegenſatzes, der allen Erſcheinungen zugrunde liegt. Goethe kam es darauf an, in ſolcher Weiſe Elnſicht in das Weſen der Farben zu gewinnen, daß ihre „ſinnlich⸗ſittliche Wirkung! verſtaͤndlich wird. Weshalb iſt blau eine kalte, rot eine warme Farbe? Weshalb wirken die verſchiedenen Farben jede in anderer Art auf das dafuͤr empfaͤngliche menſchliche Gemuͤt? Die

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Optik Newtons, die moderne theoretiſche Phyſik kann auf ſolche Fragen keine Antwort geben. Sie will das auch nicht. Im Gegenteil. Die Natur ſoll von dem menſchlichen Bewußtſein, von der Form, wie ſie in dieſem er⸗ lebt wird, losgeloͤſt werden. Goethe will fie gerade mit dem Menſchen ver⸗ binden. Die theoretiſche Phyſik hat die Tendenz, ihr Syſtem zu vereinheit · lichen wir zitieren Worte eines der bedeutendſten Gelehrten auf dieſem Gebiet „durch eine gewiſſe Emanzipation von den anthropomorphen Elementen, ſpeziell den fpesififchen Sinnesempfindungen . Goethe ſagt: „Der Menſch an ſich ſelbſt, inſofern er ſich ſeiner geſunden Sinne bedient, iſt der größte und genaueſte phyſikaliſche Apparat, den es geben kann.

Der Menſch iſt eins mit der Natur. Aber er iſt nicht nur Stoff von ihrem Stoff. Wenn er erkennend vor fie hintritt, fo „ſpricht ein Geiſt zum anderen Geiſt“, es iſt der Rern „der Natur Menſchen im Serzen“.

Nicht darum handelt es ſich, daß die gleichen chemiſchen Elemente ſich im menſchlichen Organismus nachweiſen laſſen, die ſich auch in der übrigen Natur finden. Der „Menſch“, von dem die moderne Phyſtologie ſpricht, iſt nur der Leichnam. Der wahre Menſch iſt ein geiftig-feelifches Weſen. Er wird nicht nur durch die Naturgeſetze beſtimmt und beherrſcht, ſondern er iſt in das Sinnlich · Sittliche, in die moraliſche Weltordnung im weiteften Sinn bineingeftellt. Fůr das in der Gegenwart geltende kantiſche Denken faͤllt das ſpezifiſch Menſchliche, von der einfachen Sinnes wahrnehmung und Empfindung bis zum reinen Denken aus der Natur heraus.

Goethe wollte gewiß keine Phraſe hinſchreiben, als er ſagte: „Im far- - bigen Abglanz haben wir das Leben.“ Die Farbenlehre, die „fo alt wie die Welt" iſt, weiſt auf die hoͤchſten Fragen hin. Das Schema, worin ſich die Farbenmannigfaltigkeit darſtellen laͤßt, deute fo ſagt Goethe „Ur- verhaͤltniſſe an“. Durch Verdoppelung und Verſchraͤnkung der beiden Tri⸗ angeln der dem Licht und der dem Dunkel verwandten Farben ge- langt man „zu dem alten geheinmisvollen Sechseck und man kann, indem man dieſen beiden getrennten, einander entgegengeſetzten Weſen eine gei- ſtige Bedeutung“ unterlegt, ſich kaum enthalten, „wenn man ſie unterwaͤrts das Gruͤn und oberwaͤrts das Rot hervorbringen ſieht, dort an die irdiſchen hier an die himmliſchen Ausgeburten der Elohim zu gedenken“. Bis in religiöͤſe Tiefen verfolgt Goethe gerade auch in der Farbenlehre die Pro⸗ bleme. Wie aus allen Pflanzen dem geiſtigen Auge die Urpflanze hervor⸗ leuchtet, als die Idee, deren Entfaltung und Ausgeſtaltung die Pflanzen⸗ welt iſt, wie die Natur im Geiſte des Menſchen ihren Gipfelpunkt erreicht, die Idee des Menſchen allem Erdenweſen zugrunde liegt, ſo will ſich die Idee des Lichtes in der Natur herausringen „das ſtolze Licht, das nun der Mutter Nacht den alten Rang, den Raum ihr ſtreitig macht“.

„icht und Geiſt“ fo lieſt man in den Sprüchen in Proſa „jenes im phyſiſchen, dieſer im Sittlichen herrſchend, find die hoͤchſten denkbaren, unteilbaren Energien.“

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Die Vorſtellungsart der Phyſik findet nicht den Zugang zu Goethes Sar- benlehre. Jene der Naturphiloſophen ſtand ihr ſehr nahe. In einem um- fangreichen Aufſatz in Okens Iſis referiert 1819 B. S. Blaſche uͤber den damaligen Stand der Naturphiloſophie. „Das Licht“ ſchreibt er „ſpielt nicht eine der erſten Rollen in der Natur, wie Schelling meint, fon- dern es ſpielt ſchlechthin die erſte Rolle. Es muß daher auf eine richtige und vollſtaͤndige philoſophiſche Grundlage zur Theorie des Lichtes ungemein viel ankommen, ja alles von ihr abhaͤngen.“

Im Geiſt des Menſchen geht das Licht der Natur auf. Die Idee wird Bewußtſein. Der Menſch, indem er ſeine Wahrnehmungen und Vor⸗ ſtellungen mit Ideen durchdringt, reproduziert die Natur damit nicht, er produziert, ſchafft etwas Neues, das in ihr vorher nicht da war. Die Pflanze iſt in der Natur auch ohne den Menſchen vorhanden, aber der Begriff, die Idee der Pflanze, die „Urpflanze“ ſchafft erſt der denkende Menſch. Und auch fie gebört zum Naturganzen.

Die Bedeutung des ſchoͤpferiſchen Denkens, das etwas anderes iſt als das, was man im Alltagsleben „Denken“ zu nennen pflegt, charakteriſtert Au- dolf Steiner in der „Philoſophie der Freiheit“ mit folgenden Sägen: „Mit welchem Recht erklaͤrt ihr die Welt fuͤr fertig ohne das Denken? Bringt nicht mit der gleichen Notwendigkeit die Welt das Denken im Ropfe des menſchen hervor wie die Bluͤte an der Pflanze? Pflanzt ein Samenkorn in den Boden. Es treibt wurzel und Stengel. Es entfaltet ſich in Blaͤttern und Bläten. Stellt die Pflanze euch ſelbſt gegenuber. Sie verbindet ſich in eurer Seele mit einem beſtimmten Begriffe. Warum gehoͤrt dieſer Begriff weniger zur ganzen Pflanze als Blatt und Bluͤte? Ihr ſagt: Die Blätter und Blüten find ohne ein wahrnehmendes Subjekt da; der Begriff erſcheint erſt, wenn ſich der Menſch der Pflanze gegenuͤberſtellt. Ganz wohl. Aber auch Blůten und Blätter entſtehen an der Pflanze nur, wenn Erde da iſt, in die der Reim gelegt werden kann, wenn Licht und Luft da ſind, in denen ſich Blaͤtter und Bluͤten entfalten koͤnnen. Gerade ſo entſteht der Begriff der Pflanze, wenn ein denkendes Bewußtſein an die Pflanze herantritt.“

Goethes naturwiſſenſchaftliche Vorſtellungsart ſteht allerdings im Ge⸗ genſatz zu den erkenntnistheoretiſchen Grundlagen der modernen Natur⸗ wiſſenſchaft.

Seit dem Aufgang der griechiſchen Philoſophie ſucht das menſchliche Denken eine Vereinigung der Urgegenſaͤtze, in denen uns die Welt gegen- uͤbertritt. Die Auf loͤſung des Dualismus Menſch und Natur, Subjekt und Objekt, Beift und Materie in eine Einheit iſt das Ziel alles Philoſophierens. Es fuͤhrt zum Materialismus oder zum Idealismus, je nachdem es das eine oder das andere Prinzip uͤberſpannt.

Seit dem 15. und 16. Jahrhundert hat ſich das europaͤiſche Gedanken leben in der Weiſe entwickelt, daß es nur noch der Materie objektive Wirk⸗ lichkeit zuſpricht. Der Begruͤnder der modernen Denkweiſe iſt Baco von

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Derulam. „Bacos Philoſophie“ ſchreibt ein Siſtoriker der Philoſophie , iſt bis heute das unuͤbertroffene Muſterſtatut des realiſtiſchen Natura⸗ lismus.“ Von Baco geht die Entwicklung weiter zu Hobbes und Locke, vom Realismus das Wort iſt hier nicht im Sinn der Scholaſtik, ſondern modern gemeint und Nominalismus zum Materialismus und Senſua⸗; lismus und zu den franzoͤſiſchen Enzyklopaͤdiſten, die ſich ausdruͤcklich auf Baco berufen. D' Alembert nennt die „Magna instauratio“ den „catalogue immense de ce qui reste A découvrir“. Sie enthalt das Programm der Naturwiſſenſchaft auf Jahrhunderte hinaus. Der theoretiſche wird zum ethiſchen Materialismus, ſchließlich zum Nihilismus. Andererſeits ent wickelt ſich aus der gleichen Strömung die flache common sense Philofo- phie und die Philiſtroſitaͤt des Aufklaͤrungszeitalters. Kant ſchafft die theoretiſchen Vorausſetzungen des wiſſenſchaftlichen Denkens im 19. Jahr⸗ hundert. Als die zweite Welle aus England heruͤberkommt, verbindet ſich der Darwinismus mit dem Atomiemus. Auch bier iſt Nihilismus das Er⸗ gebnis. Das Reſultat des Baconismus iſt ein ſeelenloſer Menſch in einer toten, un wahrnehmbaren Welt.

Iſt für Baco alles Wiſſen nur durch „Erfahrung“, d. h. wie dann Locke betont, durch die ſinnliche Wahrnehmung möglich, und wird fo die Materie alles, fo iſt fie für die andere, auf Plato zuruͤckgehende Geiſtesſtroͤmung nach deſſen Wort un zy, das nicht Seiende. Sie iſt nur Schein, die Phänomene der Sinneswelt haben, nach dem bekannten, oft zitierten Satz, nur die Bedeutung von Schatten an der Wand. Nur der Welt der ſinnlich⸗ keitsfreien Ideen kommt wahre Wirklichkeit zu. Kant hat den Gegenſatz zwiſchen Platonismus und Baconismus feſtgelegt. Seine Erkenntnis- theorie mit ihrem Gegenſatz zwiſchen der reinen und der praktiſchen Ver⸗ nunft, zwiſchen Wiſſen und Glauben hat verheerend gewirkt. Die menſch⸗ liche Erkenntnismoͤglichkeit wird auf die phyſiſch ſinnliche Welt beſchraͤnkt, das Ding an ſich, das ard xad ard, liegt jenſeits aller möglichen Erfahrung. Damit iſt die theoretiſch dogmatiſche Grundlage des Mate⸗ rialismus gegeben. Der wahre Menſch als ein geiſtiges, freies Weſen bleibt der wiſſenſchaftlichen Einſicht ebenſo unzugaͤnglich wie die transzendentale Realität der welt. So muß der einſeitig betonte Idealismus automatiſch den Materialismus auslöfen. Fuͤr die kantiſche Denkweiſe gibt es nur die Wahl zwiſchen dem Materialismus und dem Dogma der Kirche. Die eigent⸗ lichen Begruͤnder der materialiſtiſchen Naturwiſſenſchaft waren teilweiſe orthodox katholiſche Gelehrte. Was koͤnnte der Kirche lieber fein als ein wiſſenſchaftlicher Standpunkt, der ihr zugibt, „daß wir nichts wiſſen koͤnnen “. Wir muͤſſen alſo glauben. Goethe kennt nicht wiſſen und Glau⸗; ben, Natur und Idee, Diesſeits und Jenſeits. Das Unerkennbare iſt als ſolches nur ein relativer Begriff. Am Menſchen ſelbſt liegt es, ob und in⸗ wieweit er die weltwirklichkeit erkennt. Goethe iſt überzeugt, daß wir ſchließlich doch etwas „wiſſen konnen“, denn „es wäre nicht der Muͤhe

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wert, ſiebzig Jahre alt zu werden, wenn alle Weisheit der Welt Torheit wäre vor Bott”.

Goethes Weltanſchauung ruht auf der Vorausſetzung, daß der menſch⸗ lichen Erkenntnis faͤhigkeit keine abſoluten Schranken geſetzt find. Damit wird er zum Befreier und gibt dem Menſchen ſeine Menſchenwuͤrde wieder. Wohl iſt es bei ihm nur erft der Anfang eines zukuͤnftigen Menſchheits⸗ weges, aber das fauſtiſche Wort gilt:

„Die Geiſterwelt iſt nicht verſchloſſen, Dein Sinn iſt zu, dein Serz iſt tot.“

Hätte Kant recht, fo wäre es wirklich nicht „der Muͤhe wert, ein Menſch zu fein”.

Der Menſch der Gegenwart fucht nach einem neuen Wiſſen und nach tieferen Erkenntniſſen, zu denen er aus innerer Freiheit eine Beziehung finden kann, die vor feiner Vernunft beſtehen koͤnnen. Er will die Welt mit der Kraft des bewußten Gedankens durchdringen um Alarheit uͤber fein eigenes Weſen und über den Sinn des Lebens zu bekommen. Die Wiſſen⸗ ſchaft gibt, fo wie fie iſt, keine Cebens werte. Sie mechanifiert das Denken. Es läuft neben der Weltwirklichkeit her, regiſtriert Relationen zwiſchen den Sinnes wahrnehmungen oder erfindet abſtrakte welthintergruͤnde. Be- danken find das Reſultat chemiſcher Vorgaͤnge im Organismus, wenn nicht, ganz grotesk „Gehirnſchwingungen “. Die Ethik hat im naturwiſſenſchaft⸗ lichen Weltbild keine Begründung, fie iſt ihm nur aufgeklebt.

Der Materialismus und Mechanismus kann den Menſchen nur in oͤko⸗ nomiſche Juſammenhaͤnge hineinſtellen. Er macht ihn Ich⸗los. Denn fein Ich hat entweder einen metaphyſiſchen, weltfremden und unwirklichen In. halt, oder er iſt im Denken, Fuͤhlen und Wollen nur erfüllt und getrieben von den Gewalten der Umwelt. Er kann Anarchiſt oder Bolſchewiſt werden. Sein ſoziales Milieu wird entweder zum Unſinn oder zur Fabrik. Der Zu⸗ ſammenbruch der europaͤiſchen Ziviliſation ſchreitet unaufhaltſam weiter. Wie er in Erſcheinung tritt, als wirtſchaftlicher Niedergang und politiſches Chaos iſt er nur ein Symptom des Verſagens der geiſtigen Kultur. Was irgendwo geſchieht, das iſt immer zuerſt einmal gedacht worden. Verkehrte Gedanken zerſtoͤren das Leben. Nur ein neues, wirklichkeitsgemaͤßes Den⸗ ken kann eine neue Kultur begründen.

Don der Uberwindung des Materialismus und von ihrer Notwendigkeit wird viel geredet. Aber er kann nicht mit Abſtraktionen, nicht mit phan⸗ tafievollen Idealismen überwunden werden, die über der Erde ſchweben. Das Denken muß das materielle Sein durchdringen und vergeiſtigen. Auch hier gilt der Gedanke der Metamorphoſe und Steigerung. Goethe leugnet die Materie nicht wie der Platonismus. Sie iſt, wie ſchon bei Ariſtoteles, dvudxue öv. Hier knuͤpft die Vorſtellungsart Goethes an deshalb ſtellt er die Empirie ſo hoch, und will von Spekulation und von Metaphyſik

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Goethe als Naturforſcher in feiner Bedeutung für die Gegenwart 31

nichts wiſſen. So ſympathiſch Goethe vieles bei den Naturphiloſophen war, fo ſehr hoch er Schelling ſchaͤtzte, es blieb ein ihm peinlicher Reſt. „Was hab ich denn an einer Idee“ ſchreibt er an Schiller nach der Zek⸗ türe von Schellings, Ideen zu einer Philoſophie der Natur die mich nötigt, meinen Vorrat an Phänomenen zu verkümmern.“

Spinoza, unter deſſen Einfluß Goethe vor der roͤmiſchen Reife ſtand, iſt im hoͤchſten Grade unperſoͤnlich. Er beobachtet, regiſtriert rechnet. Er wendet die mathematiſche Methode auf die Philoſophie an. Die Ethik wird bei ihm „ordine mathematico demonstrata“. Er iſt nur Denker, der ſich ſelbſt im Denken aufgibt und ſich hingibt an das Böttliche. Scharf, klar, kuͤhl iſt er ohne Saß und ohne Liebe, ohne Antipathie oder Sympathie. Allerdings nennt Goethe noch 1816 einmal Spinoza feinen „Seren und Meiſter“. Aber im Gegenſatz zu ihm ſucht er immer mehr das Konkrete und ſtrebt nach einer phyſiognomiſchen Naturanſchauung. In Amenau ſucht er „das Göttliche in herbis et lapidibus“. Iſt es zwar immer das „ewig Eine, das ſich vielfach offenbart“, fo ſoll doch andererſeits „das goͤtt⸗ liche Wefen ... nur in und aus den rebus singularibus“ erkannt werden. Der entſcheidende Schritt vom pantheiſtiſchen Naturerlebnis zum Schauen der Idee iſt lange vorbereitet. Er vollzieht ſich dann, als Goethe die Ur⸗ pflanze geſtaltet, in Italien.

Der Gedanke wandelt ſich zum Bilde. Bei der Betrachtung der griechiſchen Aunſtwerke wird es Goethe offenbar, daß die Natur nach den gleichen Ge⸗ ſetzen ſchafft wie der bildende Nuͤnſtler.

Goethes eigenes kuͤnſtleriſches, dichteriſches Schaffen iſt von feiner Na⸗ turanſchauung nicht zu trennen. In den Annalen ſpricht er einmal von der ihm „eingeborenen Methodik“, die er „gegen Natur, Aunft und Leben wendet”.

Sermann Grimm fagt in feinen ausgezeichneten Boetbe-Dorlefungen in einem befonderen Fall, Goethe ſchildere ein Ereignis feines Zebens fo, daß er „die Affäre aus dem Bereich des Faktiſchen in den des Moͤglichen“ ver- fee. Damit iſt überhaupt das weſen des kuͤnſtleriſchen Schaffens ausge ; ſprochen. Der Nuͤnſtler fiebt in dem beſonderen Fall nur die Metamorphoſe des Urphaͤnomens und er geſtaltet das Ereignis als Typus, indem er es in ſeiner Idee, der hoͤheren Wirklichkeit, erfaßt. So wird die Dichtung immer zur wahrheit nicht trivial, als Naturkopie, ſondern ideell. Es iſt nichts anderes, als wenn man mit der Urpflanze ſoferne man ſie einmal ge⸗ ſchaut hat „Pflanzen ins Unendliche erfinden” kann, die, „wenn ſie auch nicht exiſtieren, doch exiſtieren koͤnnten !.

KAunſtſchaffen und Naturanſchauung find fuͤr Goethe eines. Die Wiſſen · ſchaft wird zur Kunſt, indem ſie nicht regiſtrierend, reproduktiv oder theo- retiſierend verfaͤhrt, ſondern die Erkenntnis kraft als Schoͤpferkraft im menſchen aufruft. Die Gegenwartswiſſenſchaft iſt unproduktiv, ſie hat ſeit RR dem 16. Jahrhundert Feine neuen Begriffe geſchaffen. Goethe erſt hat dass

DIE 4 Gr 4

32 5. woblbold, Goethe als Naturforſcher in feiner Bedeutung f. d. Gegenwart

getan. Denn ſeine Begriffe der Metamorphoſe, der Urpflanze, des Typus, des Lichtes find vSllig neu. Darin liegt feine große Bedeutung.

In den naturwiſſenſchaftlichen Schriften hat Goethe wie nirgends ſonſt ſeine Methode des Anſchauens entwickelt und dargeſtellt. Deshalb bahnen dieſe erſt eigentlich den Weg zu ihm. Der Dichter, der Menſch Goethe iſt ohne die naturwiſſenſchaftlichen Schriften nicht zu verſtehen. Und erſt dann, wenn dieſe in ihrer vollen Bedeutung erkannt und anerkannt werden, wird Goethe für unſere Lebensgeftaltung im weiteſten Umfang fruchtbar werden. Seute wird nur zerſtoͤrt, nicht aufgebaut. Es fehlen die ſchoͤpferiſchen Gedanken, die das Neue, das wir auf allen Gebieten erwarten muͤſſen, bringen koͤnnten. Alle Programme und Theorien über ſoziale, wirtſchaftliche, politiſche Probleme ſind abſtrakt und praktiſch wertlos. Sie laufen neben dem Geſchehen her, das ſeiner eigenen Geſetzmaͤßigkeit folgt und der menſchlichen Einwirkung ſich entzogen hat. Das Chaos waͤchſt von Tag zu Tag. Die Naturwiſſenſchaft weiß nichts vom freien Menſchen. Sür ſie gibt es nur noch materielles Geſchehen. Der Menſch iſt eingeſpannt in die wirtſchaftlichen Zuſammenhaͤnge. Das Geiſtesleben hat als ſolches feine Bedeutung verloren. Es wird ſie in dem Augenblick wieder gewinnen, in dem es den Menſchen wieder fo mit der Natur, allgemein geſprochen mit dem äußeren Leben verbindet, daß er es in feinem Ablauf durchſchaut und auch hier die Urphaͤnomene erkennt. Dann kommt er zu wirklichkeitsgemaͤ⸗ ßen Ideen und zu ſchoͤpferiſchem Sandeln. Er findet die verlorene Menſchen⸗ würde wieder, wenn er nicht mehr willenlos in das Getriebe eines Zebens- mechanismus eingefpannt iſt, ſondern erkennend und aus Erkenntnis han; delnd uͤber der bloßen Naturgeſetzlichkeit ſteht. Die Naturwiſſenſchaft hat dem Menſchen ſein wahres, geiſtiges Weſen genommen. Er muß erſt ſich ſelbſt wieder finden. Damit findet er auch das Weſen der welt wieder, er uͤberwindet die Phraſe durch die Wirklichkeit. Darauf kommt es heute an. Die Spiritualiſierung des Denkens iſt die Aufgabe der Gegenwart. Die Naturwiſſenſchaft kann den Weg zu ihrer Löfung bahnen, wenn fie das rechte Verhaͤltnis zu Goethe findet und durch ihn zur Natur

Denn die Natur iſt aller Meiſter Meiſter! Sie zeigt uns erſt den Geiſt der Geiſter, Caͤßt uns den Geiſt der Rörper ſehn, Kebrt jedes Geheimnis uns verſtehn.

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Sans Bern, Die Wiederentdeckung der biozentriſchen Romantik 33

Hane Kern / Die Wiederentdeckung der biozentriſchen Romantik

ie exakte Naturforſchung hat es nach herkoͤmmlicher Auffaſſung der Klaſſe der „Empfindungen zu tun, welche fie in „objektive“ und „ſubjektive Beſtandteile zerlegt, um unter radikaler Ausſchal⸗ tung der letzteren zu einer allgemeinen, beſtimmten, vollkommenen Geſetz⸗ maͤßigkeit alles „Gegebenen“, zu einem „geſetzmaͤßigen Weltbegriff“ ge- langen zu koͤnnen. Die unendliche Mannigfaltigkeit der (erlebbaren) Quali täten der Welt bemůht fie ſich auf die allen ſolchen Qualitaͤten zugrunde liegenden „gemeinſamen Beſtandteile zu reduzieren. Somit verfaͤhrt die exakte Naturwiſſenſchaft des techniſchen Zeitalters transphaͤnomenal, zer⸗ legt das den Sinnen ſich bietende Reich der Geſtalten, um die Natur als Mafchine begreifen und konſtruieren zu koͤnnen. Bei ihrer Bemuͤhung, von den Sormen und GQualitaͤten der Phaͤnomene abzuſehen, um zur Beſtim⸗ mung irgendwelcher rein quantitativer Verhaͤltniſſe zu kommen, die rech · neriſch faßbar find, ůberſieht aber die exakte Naturwiſſenſchaft gefliffent- lich, daß Konſtruktionen, welche ein quantitativ beſtimmtes, mechaniſches Zuſammenwirken von Elementen als Grundvorgang annehmen, niemals verſtaͤndlich zu machen vermögen, wie die menſchliche Seele zum Erlebnis der konkreten, qualitativ unendlich verſchiedenen, Erſcheinungen uͤber⸗ haupt gelangen konnte; denn es geht natürlich nicht an, die farbige, to. nende, duftende, kurz: be ſeelte Welt der lebendigen, immerfort ſchoͤpferiſch ſich wandelnden Erſcheinungen als ein bloß „ſubjektives Blendwerk der Sinne hinzuſtellen, demgegenuͤber in den „Energien“, „Atomen oder „Elektronen“ das wahrhaft Wirkliche zu finden ſei!

Der Grundfehler der exakten Naturwiſſenſchaft iſt es nun, daß ſie in der Natur ein Lebendiges uberhaupt nicht mehr zu ſehen vermag, daß fie mit ihrer Auffaſſung der Natur als eines großen Maſchinenhauſes der Phyſik jeden Glauben an einen Sin nzuſammenhang des Alls in der Wurzel ab⸗ ſterben läßt. So iſt es kein Zufall, daß die Kenntniſſe, die fie aufzuhaͤufen weiß (denn wirkliche Erkenntniſſe = Wefenseinfichten liefert fie nicht), vorzugsweife der Technik zugute kommen; man will das praktiſche Sandeln an den Erwartungen orientieren koͤnnen, welche die wiſſenſchaftliche Er fahrung an die Sand gibt. Wie aber die Maſchine mit vernichtender Gewalt in die Natur eingreift, die Oberflaͤche der Erde furchtbar verwuͤſtet, die Organismen in riefiger Zahl vertilgt, fo dürfen wir uns auch nicht ein · bilden, daß die Mechaniſation der Natur der Kronzeuge echter „Natur⸗ wiſſenſchaft“ ſei! Das Leben iſt kein Quantum, das in einer Energieform verbraucht, in der anderen wieder zum Vorſchein kaͤme. Es beſteht kein Verhaͤltnis der Aquivalenz zwiſchen dem Leben und weben R

Tat XV

3$ Sans Bern

Sochwaͤlder z. B. und den Rieſenmaſſen von 3eitungspapier, die man aus ihnen berftellte. In der Gegenwart gibt es gluͤcklicherweiſe wieder eine Reihe von Naturforſchern, die in der mechaniſchen, bzw. energetiſchen oder elektro dynamiſchen Weltauffaſſung keineswegs mehr die Betrachtungs⸗ weife ſehen, ſondern ſogar folgenden Saͤtzen eines deutſchen Spätroman- tikers Zuſtimmung ſchenken wuͤrden: „Wir haben bei allen Natur · und Geiſtesvorgaͤngen zweierlei Wahrheiten zu unterſcheiden; die eine, welche an Zahlen und Formen gemeſſen oder durch das phyſikaliſche Experiment bewieſen werden kann, oder uberhaupt im Geiſte den mathematiſchen Be⸗ weis zulaͤßt, die andere, welche unmittelbar im Gefuͤhl erkannt wird und gleichſam als Blůte der geſamten ſeeliſchen Anſchauung hervortritt. Beide haben ihren eigentuͤmlichen Bereich im geiſtigen Daſein, beide ſtreiten zu⸗ weilen auch miteinander um die größere Söͤhe ihres Erkennens, und beide verhalten ſich zueinander wie die Quadratur zum Zirkel. Wer von der einen Art der Wahrheit verlangt, daß fie durch die Mittel der anderen bewieſen werden ſoll, beweiſt eigentlich, daß er ſelbſt über beide nie ernſtlich nach⸗ gedacht hat, und er wird im gelindeſten Falle denen verglichen werden koͤnnen, welche die Quadratur des Zirkels doch irgendeinmal durch fort · geſetzte Anſtrengungen zu entdecken hofften. Viele der geringſten Wahr; nehmungen und Entſcheidungen der Seele gehören vor das Forum der zweiten Gattung, allein (wir duͤrfen es ungeſcheut ausſprechen) auch alle die hoͤchſten Aufgaben des Beiftes, fie koͤnnen nur auf jenem Wege erkannt werden. (Carl Guſtav Carus, „Über Cebensmagnetismus“)

Man beginnt heute bereits wieder einzuſehen, daß das Lebensganze des Univerſums von feiner Totalitaͤt her verſtanden werden muß, nicht aber von irgendwelchen Reduktionsbeſtandteilen, die der Analyſe ſich ergaben; man lernt wieder verſtehen, daß das Leben ein ununterbrochenes, fließen des Schaffen von Neuem, ſo noch nicht Dageweſenem iſt, daß es ſich aber nicht erſchoͤpft in der Form von Urſache und wirkung, die immer nur Gleiches aus Gleichem entwickelt, daß fein zeitlicher Wandel nicht umge⸗ kehrt werden kann wie die „energetiſchen Vorgänge”, jene zeitentzogenen Scheine des Geſchehens. Mit einem Wort: man ahnt wieder, daß das Leben eine urſpruͤngliche, ſchoͤpferiſche Bewegung darftellt, die jedenfalls nicht berechnet werden kann wie ein Mechanismus.

Die geſchilderte neue Einſtellung gewiſſer zeitgenaͤſſiſcher Forſcher iſt der von der Philoſophie der deutſchen Romantik geuͤbten Betrachtungsweiſe immerhin fo ähnlich, daß es ſehr an der Zeit wäre, auf die romantiſche Naturphiloſophie und ihre mannigfaltigen Befunde ſich ein wenig zu be⸗ ſinnen, und das um ſo mehr, als jene, zumeiſt von Bergſon orientierten Denker (wie auch Bergſon felber) noch weit davon entfernt find, die Er; kenntnistiefe der romantiſchen Naturphiloſophie irgendwie erreicht zu haben. Allerdings beſtehen von dieſer ſog. „romantiſchen Naturphilo⸗ ſophie in der Meinung der Gebildeten wie nicht minder der Gelehrten recht

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Die Wiederentdeckung der biozentriſchen Romantik 35

falſche Vorſtellungen, weil man von der Naturphiloſophie der Roman; tił ſprechend gemeinhin Schelling im Auge hat. Gerade dieſen halten wir aber nicht fuͤr einen echten Lebensphiloſophen !

Schelling (hierhin an Fichte und Kant anknuͤpfend und von dem Pan⸗ logiften Segel fortgeſetzt) geht nämlich von einem Bewußtſeinsprinzip aus, welches er ins Abſolute erhebt. Das Bewußtſein (die Vernunft, der „Geiſt“ iſt aber ein vom Kosmos aus geſehen durchaus Peripheriſches, daher es nie zum Zentralbegriff der Metaphyſik werden darf. Fur Schelling 3. B. find die einzelnen Naturerſcheinungen, in welchen wir zweifelsohne Indi vidnalitaͤten, lebendige Einmaligkeiten anzuerkennen haben, lediglich „quantitative Differenzen“ einer „abſoluten Indifferenz“, die Schelling auch als „abſolute Vernunft“ (1) bezeichnet. Ahnlich tat ſchon Schellings weſentlichſter Lehrmeiſter Spinoza den Ausſpruch: „omnis determinatio est negatio“, verſuchte alſo alle Individualität aus der bloß quantitativen Einſchraͤnkung eines indifferenten Abſoluten zu begreifen! Wie aber vermochte die abſolute Indifferenz, das leere Nichts der Quell alles fird- menden Lebens zu fein! (Schelling hat in einer ſpaͤteren Periode feines Denkens, angeregt von Eſchenmeyer, dieſes verzwelfelte Problem feiner philoſophie geſehen und die Sintergruͤnde feiner metaphyſiſchen Ein ; ftellung verratend die mannigfaltige Welt der individuellen Erſcheinun⸗ gen, das „hie et nunc“, als einen Suͤndenfall, einen Abfall von der ab» ſoluten Indifferenz betrachtet!)

Das Leben aber, ſo glauben wir zu wiſſen, ſteht in jedem Augenblick im ſchoͤpferiſchen Neubeginn und bietet ſich in unreduzierbaren Einmalig · keiten dar. Das Meer gibt jeder Woge ihre einmalige Form, das All⸗Ceben jedem Gebilde fein unvertauſchbar Individuelles. Kein Blatt gleicht dem anderen, nichts iſt genau ſo noch einmal in der welt. Wie alſo ſollte man der ſchoͤpferiſch⸗webenden Natur gerecht zu werden vermögen, wenn man ihre milliardenfaͤltigen Exſcheinungen als lediglich quantitative Differenzen einer abſoluten Indifferenz auffaßt!

Es hat nun jedoch eine Richtung in der romantiſchen Naturphiloſophie gegeben, die im Gegenſatz zu Schelling (zum Teil ihn offen bekaͤmpfend) von der Anſchauung des Konkret Individuellen ausging und damit einen Grundzug des Lebens zum erſten Male ſeit den Tagen Seraklits wieder⸗ entdeckte: wir meinen den Rhythmus! Zum Beweiſe mögen hier nur die folgenden Ausſprůche der unterſchiedlichſten Denker dienen:

„In allem Grganiſchen, Gliedbaulichen, iſt dasſelbe in fortwaͤhrender Entwicklung irgendeiner Individualitaͤt beſtehende Leben anzuerkennen, gleichviel ob von werdenden Sonnenſyſtemen oder einer werdenden Pflanze die Rede iſt; und nicht minder .. zu einem größeren Organismus gebörig iſt der Fels zu nennen mit feinen kriſtalliniſchen Fuͤgungen oder die Quelle mit ihren rhythmiſchen Stroͤmungen in Beziehung zum Erdganzen, als das Anochengebilde mit feinen Kriſtallfaſern oder der Blutſtrom mit feinem

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pulſierenden Wellenfchlag in Beziehung auf das Leben des Tieres. (Carl

Guſtav Carus) |

„Wie die Lebendigkeit der Weltkörper in einem ne alien Geſetzen erfolgenden Umlaufe fi aͤußert, fo iſt das bewußtloſe bildende Leben der eigentliche Gerd des rhythmiſchen Wechſels.“ „Weil eben die ſchoͤpferiſche Weltkraft in ihrem Weſen unendlich iſt, iſt ſie es auch in ihren Außerungen: unerſchoͤpflich in ihren Rombinationen, bringt die Natur in alle Ewigkeit fort nur Neues hervor; immer kehrt nur Ahnliches, niemals dasſelbe wieder. (Karl Friedrich Burdach)

„In der Richtung iſt alles lebendig; die Welt ſelbſt iſt lebendig und erhaͤlt ſich nur dadurch, daß ſie lebt; wie ein organiſcher Leib ſich nur erhaͤlt, in · dem er durch den Lebensprozeß ſich immer neu erzeugt.“ (Lorenz Gken)

„Die Natur exiſtiert in jeder Weltgegend verſchieden .. Die Fruͤchte fallen, die Reime ſtehen auf; dies iſt das Bild des Geſetzes, welches lebendig im Univerſum waltet; nur in ihm koͤnnt ihr es faſſen, woher alles N und wohin alles geht. 1 (J. p. V. Troxler) |

Solche Säge und fie ließen ſich beliebig vermehren geben uns das Recht, die zitierten Romantiker neben anderen mit einem ſchoͤnen Wort von Ludwig Klages als „Biozentriker“ den „Logozentrikern“ Fichte, Schelling und Segel, vor allem aber den mechaniſtiſchen Naturwiſſenſchaftlern ent gegenzuſtellen.

Im Rhythmus erkannten unſere Romantiker ein weſenemerkmal des Lebens, und es ging ihnen eine bedeutſame Ahnung auf von der Gegen; ſaͤtzlichkeit von Leben und Bewußtſein, denn nur das Leben als abſolut unbewußtes kann wahrhaft ryhthmiſch fein, da es nicht (wie beim Men; ſchen) vom bewußten Regulierungswillen des Ichs getroffen werden kann. In der Tat begründeten 3. B. Carus und Burdach eine unerhoͤrt tiefe Auf: faſſung des „Unbewußten“ (als einer magiſchen Macht), wie fie vorher nicht da war und nachher verloren ging, denn der Leibnizſche Begriff des „Unbewußten“ meint in Wahrheit ein verſchwindend kleines Bewußtſein, ein Bewußtſeins differential, und der gleichnamige Schellingſche Begriff hat ein Vorbewußtes im Auge, das zum Bewußtſein ſich zu ſteigern ver mag. Von dem von Carus reichlich beeinflußten Eduard von Sartmann ſchweigen wir hier, da er deſſen tiefſinnige Gedanken ungehenerlich ver; flachte.

So waren denn alle Vorbedingungen gegeben zum verſuch einer groß; zůgigen weltdeutung. Den kosmiſchen Rhythmus des „Unbewußten“ oder den des Lebensftromes zu verfolgen, war für die biozentriſch gerichteten 5 die erſte und wichtigſte Aufgabe, und ſie ſahen in den Dingen

oder „Tatſachen nicht wie die „exakte Naturforſchung Urſachen wieder anderer Tatſachen, ſondern Signaturen der Entwicklung des Weltlebens. Naturphiloſophie wurde gleichbedeutend mit kosmiſcher Phyſiognomik. Man fragte alfo 3. B., was denn der Rhythmus von Entſte hen und Ver;

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Die Wiederentdeckung ber biegentrifchen Romantit 8 37

gehen fur das All oder den Planeten Erde (Sommer und Winter, Tag und Nacht, Ebbe und Slut), was Geburt und Tod für die epitelluriſchen Lebe weſen zu bedeuten habe. Oder man verfolgte die Metamorphoſe der Ur⸗ formen im Reiche der Kriſtalle, der Welt der Pflanzen und der tieriſchen Organismen. Serner ſtellte man die Frage auf nach dem Sinn der Polaritaͤt der Geſchlechter, dem Sinn der Wachstumsrichtungen der Pflanzen, der horizontalen Struktur der Tiere oder der vertikalen des Menſchen uſw. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß mit dieſem großartigen Umſchwung in der metaphyſiſchen Betrachtungsweiſe einherging eine völlige Neubegruͤn⸗ dung der Pſychologie. Im Mittelpunkte der Pſychologie ſtanden jest im ſtrengſten Gegenſatze zur mechaniſtiſchen Seelenerklaͤrung die Be⸗ griffe des Lebens und des Organismus. Die Seele wurde nicht mehr zerlegt und aus Elementen aufgebaut, ſondern follte als Ganzes in ihrer Ent; wicklung, ihrer zeitlichen Entfaltung, aufgefaßt werden. Das fuͤhrte zur Vertiefung in die Formen verwandtſchaft der ſeeliſchen Typen in der Reihen · folge der Tierwelt. Vor allem aber: als das eigentlich Seeliſche wurde das „Unbewußte“ erkannt, dem das Bewußtſein gegenuͤberſteht. Die heute „okkult“ genannten Phaͤnomene kamen dadurch in eine neuartige und auf ſchlußreiche Beleuchtung. Gotthilf Seinrich von Schubert bemerkt: „Von Elementen der Seele zu reden, wuͤrde ſelbſt der kuͤhnſte wahnſinn eines Sieberkranken nicht wagen.“ Und bei Carus lefen wir die bedeut ſamen Saͤtze: „Lange Zeit war die Wiſſenſchaft in die Irre gegangen, indem ſie von dem eigentlichen Urweſen unſeres Seins und werdens, d. h. von der Seele geradezu loszuloͤſen verſuchte alle jene Strebungen des Unbewußten, auf denen ebenſo die geſamten Myſterien des Bildungslebens ruhen, wie nur von ihnen die wunderbare Anziehung und Abſtoßung der Gefuͤhle, ja, ſelbſt die oft noch wunderbarere eigene Seilkraft unſerer Natur in Krankheiten abhaͤngt; ſie verſuchte dagegen unter dem Namen der „Lebenskraft“ oder irgendeinem aͤhnlichen, alles dies als ein Nicht ⸗See⸗ liſches darzuſtellen, ohne zu ahnen, daß gerade hier das tief innerlichſt See⸗ liſche nie haͤtte verkannt werden ſollen. Da, wo ſomit Ariſtoteles ſchon ſo richtig die Wahrheit erfaßt hatte, indem er ſagte: „die Seele ſei die erſte Wirklichkeit eines natuͤrlichen gegliederten Körpers”, da taſteten die Spaͤ⸗ teren oft vielfältig im Ungewiſſen, ja, im Abſurden herum, indem fie zuletzt ſogar dahin gelangten, den uberhaupt nur als eine Einheit begreiflichen Organismus geradezu wie eine Maſchine, d. h. als ein aus verſchiedenen Kraͤften und Teilen Zuſammengeſetztes zu deuten und zu erklaͤren. („Ulber Cebensmagnetiamus“

Aus diefen Sägen wird deutlich, daß man den „Sitz der Seele” nicht mehr ſuchte im Gehirn, fondern in der Totalitaͤt des Leibes überhaupt als der Erſchein ung der Seele. So gelangte man dazu, der Phyfiognomif des Univerſums eine Symbolik der menſchlichen Geſtalt anzugliedern, indem man den verſchiedenen moͤglichen Formen des menſchlichen Körpers eine

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charakterologiſche Deutung zu geben verſuchte, denn, ſo ſagte Novalis, „das Außere iſt ein in Geheimniszuſtand erhobenes Innere.“

Bei allen derartigen Sorſchungsbemuͤhungen haben die biozentriſchen Romantiker, wiewohl oft irrend, doch ebenſo oft fo bedeutende Befunde zu Tage gefördert, daß jeder innerlich noch nicht gänzlich Vermorſchte der Bewunderung anheimfallen muß, weil er fühlt, daß er an die Pforten uralter Geheimniſſe geführt wurde.

Daß nun Männer wie Carus, Burdach, Schubert, Ofen, Troxler, Tre viranus, Paſſavant, Eſchenmayer, Ennemoſer, Keil, Ritter und andere ganz oder faſt ganz in Vergeſſenheit geraten konnten, iſt auch ein „Zeichen der Zeit!“ Um fo mehr begrüßen wir die Tatſache, daß in allerjuͤngſter Jeit hierin eine Wandlung bewirkt wurde, an der wir ſelbſt zu unſerer Freude einigen Anteil nehmen durften. Der Anſtoß ging ohne Zweifel von Ludwig Klages aus, der nicht nur als der eigentliche Entdecker von Carus anzuſehen iſt, ſondern uberhaupt in feinen Schriften das philoſophiſche Růſtzeug zu einer tieferen Auffaſſung der Romantik lieferte. So war er auch der Berufenſte zur Neuherausgabe der „Pſyche“ des Carl Guſtav Carus. Im unmittelbaren Anſchluß an Klages haben Chriſtoph Ber · noulli und Sans Kern die Werke der biozentriſch orientierten Romantiker in umfangreicheren Auswahlen in einem ſtarken Bande zuſammengefaßt und zu kommentieren verfucht*. Daneben ließen fie erſcheinen oder bereite; ten als Neuausgaben vor: Troxlers tiefſinnige Schrift „lber das Leben und fein Problem“, Carus’ „Briefe uͤber das Erdleben“, „Über Zebens- magnetismus“, „Natur und Idee“, „Briefe uͤber Landſchaftsmalerei“ und eine Schriftenauswahl von G. 3. v. Schubert. Sodann erſchienen zwei Monographien: „Die Pſychologie des Carl Guſtav Carus und deren geiſtesgeſchichtliche Bedeutung! von Chriſtoph Bernoulli und die „Phi; loſophie des Carl Guſtav Carus; ein Beitrag zur Metaphyſik des Lebens“ von Sans Kern. Ferner hat Theodor Leſſing das großartige charakterolo⸗ giſche Werk „Die Symbolik der menſchlichen Geſtalt“ von Carl Guſtav Carus mit ausfuͤhrlichen Rommentaren und Ergaͤnzungen neu heraus gegeben.

Die erſten Schritte zur Sebung des verſunkenen romantiſchen Sortes find ſomit getan; zu deſſen reſtloſer Bergung durfte indeſſen die Arbeit einer ganzen Generation nicht ausreichen.

Romantiſche Naturphiloſophie. Serausgegeb. v. E. Bernoulli und A. Bern. br. m I1.—, geb. m 14.—. Eugen Diederichs Verlag. Bernoulli, Ch., Die Pſycho⸗ logie von C. G. Carus und deren geiſtesgeſchichtliche Bedeutung. kart. M 2.50. Ebenda. 5

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Ludwig Klages / Die Bedeutung von C. G. Carus fuͤr die Pſychologie

ein Naturforſcher, der tiefer in ſeinen Gegenſtand eingedrungen, wird es unterlaſſen, ſich mit der Geſchichte ſeines Wiſſensgebietes vertraut zu machen; aber auch kein Naturforſcher der Gegenwart wird ſich uber Chemie oder Phyſik oder Aſtronomie unterrichten wollen aus noch fo vortrefflichen Schriften, die etwa um das Jahr 1840 erſchienen waͤren; denn inzwiſchen find Chemie und Phyſik und Aſtronomie in dem Sinne allerdings fortgeſchritten, daß aus den Kenntniſſen wie auch Er⸗ kenntniſſen, die man damals zu beſitzen glaubte, die probehaltigſten aus · geſondert und um nicht wenige vermehrt wurden. Der Zeitſtrahl des Den; kens zwar verſchiebt ſich fortwährend, und es gibt auch in der Phyſik Pro- bleme, die zu Unrecht vergeſſen wurden, und daneben jederzeit zahlreiche Coͤſungeverſuche, die kuͤnftig mit Recht der Vergeſſenheit anheimfallen werden; allein davon kann auf dem Gebiete wenigſtens vorderhand nicht die Rede ſein, daß man einmal errungene Wiſſensſchaͤtze hernach wieder preisgegeben und bloßen Scheinbildern der Erkenntnis geopfert haͤtte. Ganz anders in der Pſychologie oder Seelenkunde!

Sie hat ſich in der zweiten Saͤlfte des 19. Jahrhunderts an den hoheren Bildungsſtaͤtten mehr und mehr eine dienſtliche Sonderſtellung erkaͤmpft, hat allem „Spekulieren“ abgefagt, hat nach naturwiſſenſchaftlichem Muſter das Verſuchemachen gepflegt, hat ein ſchier unüͤberſehliches Schrifttum gezeitigt und ſchien eine Zeitlang der Behandlung ſonſtiger Geiſteswiſſenſchaften Vorſchriften erteilen zu wollen, wie fie ſich neuer dings anſchickt, in der Form von Begabungsforſchung, „Pſychotechnik“, Charakterdeutung der Praxis des Lebens unter die Arme zu greifen. Wir laſſen es auch dahingeſtellt, ob es mehr in ihr ſelber begruͤndet liege, daß es kaum eine Frage noch ſo elementaren Charakters gibt (wie etwa die nach der Entſtehung unſerer Raumanſchauung), in deren Beantwortung ihre Vertreter einig wären, oder mehr in der Einſichtsloſigkeit vieler jener Ver; treter; merkwuͤrdig aber und recht geeignet, uͤber vermeinte Erkenntnis; fortſchritte nachdenklich zu machen, iſt dieſe unumſtoͤßliche Tatſache: Wer, mit den Begriffen, Methoden und mannigfachen Lehrmeinungen heutiger Pſychologie umfaſſend vertraut, zum erſtenmal die ſeelenkundlichen Werke der Spaͤtromantiker aufſchlaͤgt, inſonderheit die „Pſyche von Carus, die 1846 zuerſt und fuͤnf Jahre ſpaͤter in zweiter Auflage erſchien, der muß ſich ſagen, daß angeblich bahnbrechende Befunde neueſten Datums damals be · kannt waren, nein, beſſer bekannt und tiefer begruͤndet, und er wird, je weiter er vordringt, deſto mehr die Uberzeugung gewinnen, daß der roman Carus, C. G., Pſyche. Serausgegeben v. . Blages. br. M 9.—, geb. M 12.—

> ı > Kubwig Alages

tiſche Seelenforſcher einen unvergleichlich größeren Geſichtskreis hatte, an welchem gemeſſen die heutigen Leiftungen Gberwiegend ſogleich ihre Ser- kunft aus einer gewiſſermaßen kleinleutemaͤßigen Enge des Geiſtes verraten!

Nicht verſchwiegen ſei, daß dank den vornehmlich bewußtſeinswiſſen · ſchaftlichen oder, wie es gemeinhin zu eng gefaßt heißt, „erkenntnistheo⸗ retiſchen Bemühungen der Zwiſchenzeit an Strenge und Straffheit der Gedankenfuͤhrung manches gewonnen und zumal etwas abgeſchuͤttelt wurde, was die Lektüre der Werke aus jenen Tagen oft unerfreulich be- buͤrdet: wir meinen eine gewiſſe lehrhafte und erbauliche Breite und die durchaus nicht nur zum leide der Sache gehoͤrige paſtorale Feierlichkeit, von der ſich ein Nietzſche dermaßen abgeſtoßen fühlte, daß er Darüber feine eigene VDerwandtſchaft mit der Romantik teils ironiſch bedauerte, teils tat⸗ ſaͤchlich verkannte. „Man ſehe ſich“, ſchreibt er in der „Morgenröte“, „heute einmal nach Schiller, wilhelm von Sumboldt, Schleiermacher, Segel, Schelling um, man leſe ihre Briefwechſel und fuͤhre ſich in den großen Kreis ihrer Anhaͤnger ein: was iſt ihnen gemeinſam, was an ihnen wirkt auf uns, wie wir jetzt find, bald fo unausſtehlich, bald fo ruͤhrend und bemit⸗ leidens wert? Einmal die Sucht, um jeden Preis moraliſch erregt zu er- ſcheinen; ſodann das Verlangen nach glänzenden, knochenloſen Allgemein heiten, nebſt der Abſicht auf ein Schoͤner · ſehen · wollen in bezug auf alles (Charaktere, Ceidenſchaften, Zeiten, Sitten)... Es iſt ein weicher, gut⸗ artiger, ſilbern glitzernder Idealismus, welcher vor allem edel verſtellte Ge⸗ baͤrden und edel verſtellte Stimmen haben will, ein Ding, ebenſo anmaßlich als harmlos, beſeelt vom herzlichſten Widerwillen gegen die , kalte oder trockene Wirklichkeit, gegen die Anatomie, gegen die vollſtaͤndigen Leiden⸗ ſchaften, gegen jede Art philoſophiſcher Enthaltſamkeit. , zumal aber gegen die Naturerkenntnis, ſofern fie ſich nicht zu einer religiöfen Symbolik gebrauchen ließ.“ Saͤtte er Carus gekannt, er haͤtte ihn trotz feinem natur- wiſſenſchaftlich umfaſſenden Wiſſen nicht ausgenommen; und es muß zu⸗ geſtanden werden, daß die geſamte denkeriſche Romantik durch Voreinge- nommenheiten des Glaubens verhindert wurde, von dem Erkenntnis baume, den fie felber verſucheriſch gepflanzt, die eben reifenden ] Fruͤchte zu brechen. Sie begnuͤgte ſich mit einem prachtvollen Strauß feiner Blůͤten.

Auch das Weltanſchauungsſchema des Carus voller Widerſpruͤche, die teils von ihm uͤberſehen werden, teils ihm zu ſchaffen machen iſt ein ins Chriſtliche gebogener Platonismus. Die außerzeitliche göttliche Weſenheit traͤgt in ſich die ſeienden, ſomit ewigen und veraͤnderungsloſen „Ideen“, die in der zeitlichen Welt des unablaͤſſigen Werdens immer von neuem zur Erſcheinung kommen. Damit verknuͤpft ſich aus tieferen Schichten em; porgetrieben die ein wenig ariſtoteliſch getönte Wertſchaͤtzung des Indi · viduellen und der Entwicklung, weshalb der Akzent bald auf die Ewigkeit der Ideen fällt, bald entſchiedener auf ihr fortſchrittsartig gedachtes Sich⸗ offenbaren in der Folge der Generationen. Wieder und wieder wird der ·

Die Bedeutung von C. G. Carus für die Pſychologie 41

geſtalt Carus zu grůbleriſchen Betrachtungen uͤber die recht eigentlich un · mögliche Frage gefuͤhrt, was der Weltprozeß für die außerzeitliche Gottheit bedeute und wie er in ihre Ewigkeit hinůͤberzuwirken vermoͤge. Wir erlaſſen uns eine breitere Ausmalung dieſes auf Sarmoniſierung des Un vereinbaren zugeſchnittenen Schemas um fo mehr, als es diejenigen Weſenselemente unferes Denkers gerade nicht enthält, denen er fein folgenreichſtes Er ſchauen der Welt verdankte. Man wird es aus dem Buche ſelbſt hinreichend entnehmen und in einigen anhangsweiſe beigegebenen Anmerkungen teil⸗ weiſe kritiſch beleuchtet finden. Unſere immerhin nicht ganz unbetraͤcht⸗ lichen Nuͤrzungen allzu haͤufiger Wiederholungen, entbehrlicher Zuſam⸗ menfaſſungen und abſchweifender Einſchiebſel dienen lediglich einer ſchaͤr⸗ feren Markierung der Gliederung des Ganzen und laſſen nicht nur die ſprachliche Formgebung, ſondern auch alle weltanſchaulichen Ableitungen unangetaſtet. Wir glaubten deshalb auch nicht verzichten zu durfen auf vollſtaͤndige Wiedergabe des wunderlichen Schlußkapitals „Von dem, was im Unbewußtſein und Bewußtſein der Seele vergaͤnglich und was darin ewig iſt“, obſchon es den ſeelenkundlichen Aufſchluͤſſen des Buches nicht das geringſte hinzufůͤgt. Dieſes vorausgeſchickt, verſuchen wir jetzt, durch knappſte Kennzeichnung ihres bleibend Weſentlichen dem Leſer das Eindringen in eine Gedankenwelt zu erleichtern, die nach langer Vergeſſen ; heit in mehr als einem Stůcke ſoeben eine glaͤnzende Auferſtehung zu feiern berufen iſt. |

ruͤge man, worin die von uns behauptete Derwandtfchaft Nietzſches mit

der Romantik und, was danach wohl unvermeidlich wäre, die gemein⸗ ſame Verwandtſchaft beider mit dem Altertum beſtehe, fo haͤtte die Ant · wort zu lauten: in der Wiederaufnahme des antiken Begriffes vom Leben, aber ohne die antike Neigung, ibn zu logifieren. Ein einziger Überblick über die neuzeitliche Geiſtes geſchichte etwa ſeit Descartes lehrt, daß bei noch fo außerordentlichen Verſchiedenheiten ſaͤmtliche Denker und Denkergrup⸗ pen zum Erſtaunen übereinftimmen in der teils ausdruͤcklich betonten, teils und noch oͤfter ſtillſchweigend vorausgeſetzten Verſelbigung der Seele mit dem Bewußtſein. (Auf die ſcheinbare Ausnahme Leibniz kommen wir als- bald!) Ob wir vom cartefifchen „cogito sum“ ausgehen oder von Berke⸗ leys „esse percipi“: immer wird die Welt zum Bewußtſeinserzeugnis und ſomit die Seele zur Grundlage des Erkennens gemacht. Zwar wurden beide Ausſpruche in ideologiſcher Abſicht getan; allein Berkeley bleibt nichts⸗ deſtoweniger ein Sauptzeuge des inſularen „Senſualismus“ und ſchon Pa⸗ lagyiꝰ hat darauf hingewieſen, daß man fein Schluͤſſelwort ja nur um: gekehrt zu leſen brauche: percipi esse, und man habe das Glaubensbekennt · N en Vorleſungen“, 2. Aufl., Barth, Leipzig. Dies bervor-

ragende Werk ſteht unter den een Grunslegungsverfuchen der N Jeit weitaus an erſter Stelle. |

12 Ludwig Blages

nis des „Materialismus“ . Beide Saͤtze, weſentlich inhaltsgleich, konnten freilich fuͤr richtig gelten, waͤre nur mit dem „Sein“ nicht die Wirklichkeit ſelber gemeint! Das aber iſt fo ſehr der Fall, daß man nicht übertreibt, wenn man den Satz aufftellt, kein Ideen · oder Vernunftbekenner und ebenfo kein Erfahrungsbekenner habe Sein und Wirklichkeit auch nur ver- ſuchsweiſe auseinandergehalten ! Maͤßen wir ſolche Unterlaſſung nun aber an der heute verfügbaren, obſchon erſt ſpaͤrlich geſaͤten Koͤpfen zur Kennt · nis gelangten Einſicht, daß Wirklichkeit ausſchließlich erlebt und nur das Sein auch begriffen werde, fo wurde uns ihre verborgene Sinterabſicht als dahinzielend verſtaͤndlich, die Wirklichkeit in bloße Denkgegenſtaͤnde zu ver- flůchtigen und das Innenleben zu verdrängen mit dem bald mehr willens- artig (voluntariſch, aktualiſtiſch, funktionaliſtiſch), bald mehr verftandes- artig (intellełtualiſtiſch) gefaßten Geiſt. Die „Pſychologie ohne Seele“, auf die man ſich ſeit einem halben Jahrhundert viel zugute getan, bildet vom fraglichen Denkfehler nur eine unausweichliche Folge. | |

Unverkennbar allerdings hatte ſchon die eleatiſch⸗platoniſche Sorfchungs- richtung denſelben Irrweg betreten. Allein, da ihr bis zuletzt der Begriff einer Selbſttaͤtigkeit des Bewußtſeins fremd blieb, war fie weit davon ent · fernt, im Bewußtſein den Beſtimmungsgrund des Welterlebens zu ſuchen, und hat vielmehr Schritt fuͤr Schritt zu immer klarerer Ausprägung ge ; bracht die Verſchieden heit der Beſeeltheit des Leibes vom weſentlich gei- ſtigen Urſprunge ſcharfen Erkennens ſowie auch des überlegten Wollens. Es wird ſtets eine der denkwuͤrdigſten Tatſachen bleiben, daß die Romantik dieſe Überzeugungen mit einer Entſchiedenheit wiederaufgriff, die in der Zwiſchenzeit von rund zwei Jahrtauſenden nicht ihresgleichen findet, und es ſei denn ein für allemal ausgeſprochen, daß Carus es, wenn nicht am kůhnſten, fo doch am beſonnenſten getan und mittels ſorgfaͤltig feſtgehal · tener Ceitgedanken eine lebenswiſſenſchaftliche Bearbeitung des gegen die Antike unvergleichlich gewachſenen Naturwiſſens feiner Zeit geliefert hat, die heute fo wenig uͤberholt iſt, daß man noch einiges zu tun haben wird, bis man gewiß ſein darf, ſeine fruchtbarſten Befunde unverlierbar zu be⸗ ſitzen. Damit wir uns aber um fo ſchneller Gber die Lage des zu betretenden Wem die philoſophiſchen Runftwörter fremd und die Is men wenig geläufig find, kann ſich für ſeelenkundliche Jwecke die Sache dadurch ungemein vereinfachen, daß er fie ſamt und ſonders in zwei Gruppen teilt mit Silfe etwa der Stichwoͤrter Idealis mus“ und „Realismus“. Auf die Seite des Idealismus kaͤmen: Ratio⸗ nalismus, Aritizismus, Subjektivis mus, Illuſionis mus, Logis mus, Fiktionalis - mus, Solipſis mus uſw.; auf die Seite des Realismus: Senfualismus, Empiris mus, Atomis mus, Materialismus uſw. Stets wird er die Vertreter der ideali ſtiſchen Seite in irgendeiner Weiſe bemüht finden, das Innenleben und ſomit das Leben ſelbſt aus dem Geiſt zu verſtehen, die Vertreter der realiſtiſchen Seite, es aus Eindrucken und Erfahrungen und ſomit zuletzt aus dem Sein zu verſtehen. Da aber Geiſt und Sein zufammengebören wie Subjekt und Objekt, iſt der weltanſchauliche Gegenſatz der beiden Jomengruppen pſychologiſch unerbeblich; außer für den beute jedoch obſolet gewordenen Streit um das Daſein oder Nichtdaſein „an⸗ geborener Ideen“.

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Die Bedeutung von C. G. Carus für die Pſychologie 43

Ortes auskennen, ſei es vorweg erwogen, in welcher Sinſicht auch hier in · folge der oben erwähnten Chriſtlichkeit der Romantik die Ausſicht gewiſſe Beſchraͤnkungen erleide.

Die ſoeben ſcharfkantig umriſſene Einſicht bildet im weſentlichen erſt eine Errungenſchaft Nietzſches, der fie mit ihr die Nachfolge Seraklits an- tretend ſofort dazu benutzte, um den nur menſchenmaͤßigen (anthropo⸗ morphen) Charakter des Seinsbegriffes ſowohl allgemein als auch in ſeinen zahlloſen Sondergeſtalten aufzudecken. Damit wird er in einer zuvor noch nicht dageweſenen Bedeutung zum Kritiker des Bewußtſeins. Er wirft von allem Anfang an die Frage auf, ob in Anſehung des Lebens und der Fulle des Lebens das Bewußtſein für eine Lebensnotwendigkeit, Lebens. ſteigerung und ſomit für wertvoll gelten muͤſſe oder etwa für eine Ent artung, Abartung und Lebensbeeinträchtigung zu halten ſei; und es geht durch die Mannigfaltigkeit der wendungen, Saͤtze, Formeln, mit denen er in Einzelzůgen immer wieder wechfelnd darauf Antwort zu geben unternimmt, bald kaum vernehmlich, bald maͤchtig anſchwellend der Ton hindurch, der uns am unvermiſchteſten und gewaltigſten entgegenſchlaͤgt aus feinen fruͤhen Geheimaufzeichnungen „lber wahrheit und Lüge im außermoraliſchen Sinne“ (1873), die erſt aus dem Nachlaß ans Licht ge⸗ foͤrdert wurden: „In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahlloſen Sonnenſyſtemen flimmernd ausgegoſſenen Weltalls gab es einmal ein Ge⸗ ſtirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmůuͤtigſte und verlogenſte Minute der , Weltgeſchichte : aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzuͤgen der Natur erſtarrte das Geſtirn, und die klugen Tiere mußten ſterben. So koͤnnte jemand eine Gabel erfinden und würde doch nicht genugend illuſtriert haben, wie klaͤglich, wie ſchattenhaft und flůchtig, wie zwecklos und beliebig ſich der menſchliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt.“ Ferner: „Was weiß der Menſch eigentlich von ſich ſelbſt !.. Verſchweigt die Natur ihm nicht das allermeiſte, ſelbſt uͤber feinen Börper, um ihn, abſeits von den windungen der Gedaͤrme, dem raſchen Fluß der Blutſtroͤme, den verwickelten Faſererzitterungen, in ein ſtolzes gauk⸗ leriſches Bewußtſein zu bannen und einzufchließen ! Sie warf den Schluͤſſel weg: und wehe der verhaͤngnis vollen Neubegier, die durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtſeinszimmer heraus und hinabzuſehen vermochte, und die jetzt ahnte, daß auf dem Erbarmungsloſen, dem Gierigen, dem Unerſaͤttlichen, dem Moͤrderiſchen der Menſch ruht, in der Gleichguͤltigkeit feines Nichtwiſſens, und gleichſam auf dem Ruͤcken eines Tigers in Traͤu⸗ men haͤngend.“ was ſelbſt die Griechen auf ihre Weiſe zwar unterſchieden, nicht aber zu trennen gewagt hatten, Nietzſche reißt es auseinander: das Bewußtſein und das Leben. Beileibe nicht auf dem Baume des Lebens, ſondern auf dem Baum der Erkenntnis find die gefährlichen Srüchte der Weisheit gewachſen, und dieſer Baum der Erkenntnis iſt er nicht viel⸗ mehr das unheimliche Geſpenſt eines Baumes?!

44 WE Ludwig Blages wWir haben bier nicht Nietzſches Meinungen wie Ergebniſſe, nicht feine methoden und Begriffe zu verfolgen. Vergegenwaͤrtigt man ſich aber nur die obige Frageſtellung, fo ſieht man leicht, daß erſt fie den Erforſcher der vitalen Ermoͤglichungsgruͤnde des Bewußtſeins von der Verpflichtung entbinde, in die Bewußtſeinsbedingungen Wertbedingungen bineinzutra- gen, und ihn dergeſtalt nicht nur gegen Verfaͤlſchungen feit, ſondern vor allem ihm auch erlaubt, aus keinen anderen Gruͤnden ſich Salt zu gebieten als aus ſolchen entweder ſachlicher Schwierigkeiten oder den des perfön- lichen Lrlahmens.

Demgegenůber bleibt Carus, wie wir ſchon hörten, durchaus im Glauben an die Wirklichkeit des Seins und damit nun aber auch in der Uberzeugung befangen, das Bewußtſein muͤſſe „die hoͤchſte Blüte der Seele“ fein, um ſeine eigenen mehrfach wiederholten Worte zu gebrauchen. Davon die Folge iſt, daß er zunaͤchſt ber einen beſtimmten Kreis biologiſcher Fragen nicht mehr hinaustrachtet, ferner mehr als einmal Antworten gibt, die gar keine ſind, endlich aber in allen fuͤr ihn mehr peripheren Problemen ſich nicht zu befreien vermag von den Sinterlaſſenſchaften des engliſchen Senſualismus; wovon wir ebenfalls in einer Anmerkung genauere Rechenſchaft geben. Um fo bewunderungswůrdiger iſt es und für die innige Lebens verbunden⸗ heit feines Geiſtes zeugend, daß er in den ihm zentralen ragen unbeirrt nicht nur von der geſamten Kathederpſychologie ſeit Descartes, ſondern teilweiſe unbekuͤmmert ſogar um wie ſich verſteht, nicht bemerkte widerſpruͤche der eigenen Metaphyſik feinen Weg bis weit hinein in wirk liches Neuland verfolgt; womit wir zur Kennzeichnung ſeines Baugrundes uͤbergehen.

Es möchte uns nach allem bisher wenigſtens andeutungsweiſe von feiner Weltanſchauung Vernommenen in voller Breite und Tiefe ſchwerlich ver · mutbar werden, nach wie vielen Seiten hin der eine leitmotivartige Satz ausgreift, mit dem er fein Werk eröffnet: „Der Schluͤſſel zur Erkenntnis vom Weſen des bewußten Seelenlebens liegt in der Region des Unbe- wußtſeins. Entnehmen wir aus ihm zwar das ja nicht Unerwartete, daß die Seele ſelbſt als unbewußter Sachverhalt begriffen werde, ſo ſcheint es uns indeſſen nicht uͤberfluͤſſig zu fein, ſogleich mit Nachdruck zur Kenntnis zu bringen: dieſes Unbewußte därfe unter keinen Umſtaͤnden verwechſelt werden mit dem Unbewußten des Leibniz, das im weſentlichen noch heute den Plan beherrſcht. Vielmehr iſt hier derſelbe Name auf zwei dermaßen verſchiedene Tatbeſtaͤnde verwandt, daß wir ein leiſes Bedauern daruͤber nicht unterdruͤcken koͤnnen und wuͤnſchen möchten, Carus habe die negative Bezeichnung vermieden und dafür unumwunden bewußtloſes Leben” ein- geſetzt. Wir verhehlen uns nicht, wie vieles gegen unſere Scheidung zu ſprechen ſcheint So etwa naͤmlich, wie wir an paſſenden Beiſpielen das Feſte durch eine beliebige Stufenfolge von Erweichungen, kurzer, durch ganz allmaͤhliche

Die Bedeutung von C. G. Carus für die Pſychologie 45

Schmelzung ſtetig ůbergefuͤhrt denken koͤnnen in das vollkommen Släffige, fo mag man von Leibnizens unbewußt bloß „perzipierenden” Monaden über Serders Konzeption des aus dem Dunklen ins Selle ſtrebenden Lebens und endlich uͤber Goethes ſchon völlig romantiſches „Unbewußte “, von dem ſogleich genauer zu reden fein wird, eine ſchier luͤckenloſe Reihe zum „Un- bewußten ! des Carus verlaufen ſehen. Rechnen wir hinzu, daß Carus drei organiſche Syſteme unterſcheidet: das bewußtlos erfuͤhlende, das em · pfindend weltbewußte und das ſelbſtbewußt denkfaͤhige Syſtem, ſcheinbar genau analog Ceibnizens Dreigliederung in ſchlafende Monaden mit ledig · lich unbewußten Vorſtellungen, Seelenmonaden engerer Bedeutung mit klaren, aber undefinierbaren und inſofern „verworrenen Vorſtellungen (= Empfindungen) und ſelbſtbewußte Geiſtmonaden mit deutlichen, d. i. definierbaren Vorſtellungen (= Apperzeptionen); endlich, daß auch der Gott des Leibniz der Ort der ewigen Wahrheiten, die regio idearum, iſt, fo ſcheint die Verwandtſchaft uber jeden Zweifel erhoben und die Identität der beiden gleichnamigen Begriffe geſichert zu ſein. Dennoch haͤtten uns alle Gleichniſſe und Gleichungen in die Irre geführt!

Wie die Möglichkeit ſtetigen Überganges vom vollkommen Seften zum vollkommen Siöffigen nicht das mindeſte an der Weſensgegenſaͤtzlichkeit der beiden Aggregatzuſtaͤnde ändert, fo beweiſen Übergänge zwiſchen ver- ſchiedenartigen Endgliedern deren Weſensgleichheit um deswillen grund; ſaͤtzlich nicht, weil fie ja ebenſogut aus ihrer beliebig abſtufbaren Miſchung erklaͤrt werden könnten: ein Satz von Bedeutung, gegen den in der wiſſen · ſchaft nur allzu Häufig geſuͤndigt wird! Die tatſaͤchliche Ver ſchiedenheit der beiden Unbewußtſeinsbegriffe ergibt ſich aber aus dem einfachen Sinweis darauf, daß Leibniz jenen Spitzenſatz umkehren muͤßte und es auch zwei · felsohne unbedenklich getan haͤtte: der Schluͤſſel zur Erkenntnis vom Wefen des unbewußten Seelenlebens liegt in der Region des Bewußtſeins! Sein „Unbewußtſein“ naͤmlich und ebenſo das der Schulen bis auf den heutigen Tag iſt, ſtreng genommen, das Bewußtſein noch einmal, aber nach Analogie des Differentialbegriffes bis zum „unendlich kleinen“, ge⸗ nauer bis zum verſchwindenden Bewußtſein vermindert gedacht. Daher die vielgenannten petites perceptions!* Nur indem man den Stoff des Die Parallele: Bewußtſein Licht, Unbewußtſein Dunkelheit, deren Wur⸗ zeln bis in die Mythengeſchichte und religidſe Symbolik reichen, wird immer etwas uberredendes haben dank der mitgedachten Polarität zweier Lebenszuſtaͤnde, des Wachens und Schlafens, zu denen der Gegenſatz von Tag und Nacht nicht bloß aͤußerlich in Beziehung tritt. Woͤrtlich verſtanden aber und ohne Seitenblid auf Cebenszuſtaͤnde iſt der Gegenſatz „Bewußtſein Unbewußtſein“ ein ſog. kontra⸗ diktoriſcher und die Annahme von Bewußtſeinsgraden völlig unhaltbar. In jedem Ausmaß klar und unklar, deutlich und undeutlich, gegliedert und verworren uſw. find die Gegenſtaͤnde des Bewußtſeins; aber das mit ihnen verknuͤpfte Bewußtſein iſt immer nur entweder vorhanden oder nicht vorhanden. Man weiſt vielleicht darauf hin, daß man doch manchmal ſich ganz beſonders wach, friſch und aufgeweckt füble und dann wieder hindaͤmmernd, traͤumend und wie im Salbſchlaf (3. B. in

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vermeinten Unbewußten ganz und gar aus dem Bewußtſein, ja aus der Tätigkeit des Denkens bezog und dergeſtalt aus allen Seelenin halten gleichſam verſchattete Begriffe, aus allen Seelenvorgaͤngen verſchattete Urteile machte, konnte es geſchehen, daß man Anſchauungen, Empfin ; dungen, Gefuͤhle, kurz Erlebniſſe uberhaupt mit noch ungeklaͤrten und konfuſen Gedanken verwechſelte. Daß aber davon Carus unzweifelhaft genau das Gegenteil meint, wird uns vollends aus einem Zuge ſeiner Metaphyſik gewiß, mit dem, obzwar in ſchmerzhaftem widerſpruch zu feinem Glauben an die unzeitliche regio idearum, erſtmals er, namlich weit entſchiedener als Schopenhauer, jene von Nietzſche fortgefuͤhrte Richtung des europaͤiſchen Denkens eröffnet, deren ihm allerdings noch unerfaß⸗ liches Ziel die Verneinung der Praͤmiſſen des Beiftes im Grunde der Wirk: lichkeit wäre**.— Iſt naͤmlich bei Ceibniz die oberſte und naturgemäß durch

großer Erſchoͤpfung). Das trifft auch zu; aber, obwohl wir bier auf den Beweis dafuͤr aus Raummangel verzichten müͤſſen, fo ſei es doch ausgeſprochen: das Be- wußtfein ſcheint etwas Stetiges zu fein, iſt aber in Wahrheit etwas Intermit⸗ tierendes, alſo unaufbörlid Abſetzendes; weshalb der Wachzuſtand fortwährend unterbrochen wird von bewußtſeinsleeren Intervallen, die bald kurzer, bald länger dauern. Das find nun freilich grundlegende Neubefunde. Will ſich jemand davon genauer unterrichten, fo verweiſen wir ihn an die Werke Palsgyis oder an un⸗ fere programmaͤßig zuſammenfaſſende Schrift „Vom Weſen des Bewußtſeins“. man knuͤpft die fragliche Wende gern an den Namen Schopenhauers, inſofern dieſer zum Weltgrunde einen blinden, alſo unintelligenten Willen macht und alle Zwedtbeorien durchaus verwirft. Jweifellos hat denn auch fein Stimmungspeſſi · mis mus einer Seite im Lebensgefühl jener Zeit denkeriſch ebenſo kraͤftig und eigen · willig Ausdruck verlieben, wie es dichteriſch etwa Byron getan, und dadurch die Befuͤrwortung der wir mochten ſagen nominellen Irrationalitàt des Welt: grundes erſt eigentlich in Schwung gebracht. Allein in etwas ſchaͤrferer Beleuch · tung zeigt ſich feine Philo ſophie ungleich verſtandesabhaͤngiger, alſo rationaler und flacher als die des Carus (und der Romantik überhaupt, wenn man dabei nur nicht gerade an die glänzende Attrappe Schelling denkt l). Schopenhauer ſtellt be kanntlich die Gleichung auf: Wille = Trieb = Bewegungsurſache. Indem er dabei aber durchaus nicht vom Trieb, wie er meint, ſondern vom Bewußtſeins inhalt der Wollung ausgeht, bege iſtet er den Weltgrund nicht weniger als andere Ideologen, nur daß er den Primat des Wollens vor dem Erkennen lehrt, wie es vor ihm ja bereits die voluntariſchen unter den Scholaſtikern getan. Die Menſchenmaͤßigkeit ſeiner Auffaſſung tritt grell hervor, wenn das allgemeine Geſchehen des halb aus Unrube und Mangel ftattfinden muß, weil unſer Juſtand des Wollens freilich ſtets ein Entbehren anzeigt; und feine verborgene Vernunftglaͤubigkeit verrät ſich vol · lends mit der ſonderlich unvorſichtigen Wendung, daß es von beſagter Unruhe des Dichtens und Trachtens immerhin gewiſſe Erlöſungen gebe, darunter auch die durch das reine Erkennen! Es könne ſcheinen, als ſei das von alters her die Meinung folgerichtiger Materialiſten, zumal alfo eines Demokrit, Bpikur, Cucrez geweſen. Dieſer Schein jedoch tröge zwiefach. Einmal naͤmlich hat es nie einen Materialiſten gegeben, auch der Neuzeit nicht, der nicht darauf aus geweſen wäre, aus den von ihm angenommenen Weltgrundlagen, 3. B. bewegten Atomen, den Geiſt abzuleiten, ſei es im Sinne einer Funktion der Atome, ſei es aus eigens dafur beſtellten Seelenatomen. Sodann aber wurde man nach den beſche iden · ſten Unfägen eines Wiſſens um die Weſensverſchiedenheit von Leben (Seele)

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Die Bedeutung von C. G. Carus fur die Pſychologie 47

und durch taͤtige Monas folgerichtig ein abſolutes Bewußtſein oder denn eine außerweltliche Intelligenz, im Verhaͤltnis zu der die naturierten Mo naden als ihre Gedanken erſcheinen, aus allwiſſender Weisheit nach Maß gabe beſtmoͤglicher Vollkommenheit in den Zuſtand des Exiſtierens verſetzt, fo bildet für Carus den welt · und wirklichkeitsgrund ein univerſelles Un · bewußtes, im Verhaͤltnis zu dem bewußtloſe wie auch die bewußtſeins⸗ faͤhigen Geſtaltungen voruͤbergehend aus ihm auftauchende und unaus⸗ weichlich wieder darein verſinkende Erſcheinungen ſeines Weſens ſind und welches gedanklich durchdringen zu wollen ebenſo hoffnungslos wie ver⸗ meſſen wäre”. Dort alſo iſt der hervorbringende Grund der welt die Tat an ſich (parus actus), ausgezeichnet durch das Merkmal grundſaͤtzlicher Berechenbarkeit ihrer Wirkungen; bier ein mit Carus geredet vom „Iſisſchleier den Blicken entzogenes Geheimnis, deſſen Offenbarungen in der Form der Notwendigkeit des Geſchehens erſchaubar, nie berechenbar find dort fällt die Indi vidualitaͤt mit den unvermeidlichen Schranken zuſammen, denen die Denkmoͤglichkeiten des Geiſtes ſich ausgeſetzt finden durch Übergang in das wirklichſein; hier iſt fie für dieſe der naͤhrende Boden dort find die Dunkel heiten und farbigen Daͤmmerungen der Seele den Abſchwaͤchungen des ſchattenloſen Lichtes gleichzuachten; hier iſt der Tag der Sohn jener Nacht, „die ſich das Licht gebar“, das „ſtolze Licht“, das unfehlbar in ihr zuletzt wieder verloͤſchen wird. Ohne Zweifel, Carus war auf dem wege zu den „Muttern“, und er haͤtte ihnen feinen Ideengott preisgegeben, wäre dem nicht entgegen geweſen fein chriſtlicher Fromm · finn. -

Freilich nicht nur mit den beruͤhmten Verſen des zweiten Fauſt, auf die wir ſoeben angeſpielt, ſondern mit zahlreichen Außerungen in gebundener und ungebundener Rede iſt ſein hochbewunderter Goethe ihm wie der

und Geiſt gerade auf materialiſtiſcher Seite vergeblich ſuchen. Jwar unter ſcheidet 3. B. CLucrez anima und animus, aber durchaus nur graduell. Wenn der Materialismus als ſein nicht gering anzuſchlagendes Verdienſt buchen darf, der Gegenſeite jederzeit ihre Verſtiegen heiten angeſtrichen zu haben, fo pflegt er dieſe dagegen durchweg noch zu uͤbertrumpfen in langweiliger Anbetung der Moniſtik! Von wem E. von Sartmann ſich zu feiner „Philoſophie des Unbewußten“ in- ſpirieren ließ, dürfte nach folgenden Sägen auf der zwoͤlften Seite der achten Auf lage feines Buches nicht länger zweifelhaft fein: „In die neuere Maturwiſſenſchaft bat der Begriff des Unbewußten noch wenig Eingang gefunden. Eine ruͤhmliche Ausnahme macht der bekannte Phyſiologe Carus, deſſen Werke Pſyche und Phyſis weſentlich eine Unterſuchung des Unbewußten in feinen Beziehungen zum leiblichen und geiftigen Leben enthalten. Wie weit ibm dieſer Verſuch ge lungen ift und wieviel ich bei dem meinigen von ihm entlehnt haben konne, uber laſſe ich dem Urteil des Leſers. Jedoch füge ich hinzu, daß der Begriff des Unbe · wußten bier in feiner Reinheit frei von jedem unendlich kleinen Bewußtſein Har bingeftellt iſt.“ Daß aber dieſer typiſche „Amalgamiſt“ und noch typiſchere Bourgeois den großen Gedanken, kaum daß er ihn anruͤhrte, auch ſchon bis zur Unkenntlichkeit verpfuſcht hatte, durch Sineinfaͤlſchung namlich einer Weltzweck · lehre gruͤndlich ſenilen Bepräges, ſollte heute keines Wortes mehr bedhrfen |

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ganzen Romantik in der Entdeckung des echten Unbewußten vorausge- gangen; dabei bezeichnend genug keineswegs an Zeibntz, ſondern an den, wie febr immer mißverſtandenen und umgedeuteten Spinoza . ! Der Pblloſopb, dem ich ſo gern vertraue, Lehrt, wo nicht gegen alle, doch die meiſten, 823 unbewußt wir ſtets das Beſte leiſten; | Das glaubt man gern und lebt nun friſch ins Blaue

In ſolchen Verſen kuͤndet ſich die noch unabſehliche Wende des Denkens an, derzufolge nicht im Bewußtſein, nicht in der Vernunft, nicht im Geiſte, ſondern im tief bewußtlos bildenden Leben der Grund aller vollkommen · beiten des Daſeins geſucht werden mußte.

All unſer redlichſtes Bemuͤhn

Blädt nur im unbewußten Momente.

Wie mochte denn die Roſe blühn, ö

| Wenn fie der Sonne Serrlichkeit erkennte!

„Wo das bewußte Denken ſchwankt“, fagt Carus, „und zweimal viel leicht das Falſche und einmal das Wahre trifft. , da geht das unbewußte walten der Idee mit größter Entſchiedenheit und .. Weisheit feinen ganz gemeſſenen Gang und bietet fein Weſen oft dar mit einer Schönheit, die in ihrem ganzen Umfange von dem bewußten Leben nie erfaßt, geſchweige denn nachgeahmt werden kann.“ Inmitten ſolcher Weis heitsworte fühlen wir uns dem Jahrhundert des Barock und der mathematiſchen Überfhwän- ge ebenfo gewiß weit enträdt, wie wir uns in enger Nachbarſchaft Nietz · ſches fühlen, deſſen Mißtrauen gegen die Dignitaͤt des Bewußtſeins ſogar in manchen Ausſpruͤchen Goethes leiſe vorklingt. „Denn in allen angeneb- men und guten Zuſtaͤnden verliert die Seele das Bewußtſein ihrer felbft . . und wird nur durch unangenehme Empfindungen wieder an ſich erinnert.“

„Niemand weiß, was er tut, wenn er recht handelt; aber des Unrechten find wir uns immer bewußt.“ „Die Sinne trugen nicht, aber das Urteil truͤgt. „Der Menſch kann nicht lange im bewußten Juſtande . verhar⸗ ren; er muß ſich wieder ins Unbewußeſein ſtuͤrzen; denn darin lebt ſeine Wurzel.“

Das Unbewußtſein die Wurzel des Bewußtſeins und demgemaͤß das, wodurch jedes Einzellebendige geſpeiſt wird aus dem Allgemeinleben des Alls, in das es naͤherungsweiſe periodiſch im Schlafzuſtande, endguͤltig aber mit dem unabwendbaren Tode zuruͤcktaucht, das iſt, lapidar geſprochen, der Gedanke, aus dem die Seelenkunde des Carus geſchoͤpft hat, was an ihr ſich als unvergaͤnglich und weiterzeugend bewaͤhren wird. Sammeln wir im Fluge ihren Ertrag an Alaͤrungen, Deutungen, Aufſchluͤſſen, Wei- ſungen, Einſichten, ſo ſind es folgende Punkte zumal, die ſich der Aufmerk⸗ ſamkeit des verſtaͤndnisbereiten Ceſers empfehlen.

J. Die Erforſchung der Wachstums und welktumsvorgaͤnge des lebendi- gen „Bliedbaues” (ein ſchoͤnes Deutſchwort von Carus für „Organismus“)

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fällt völlig im Geiſte des Altertums größeren Teils der Seelenkunde zu; und wenn auch Carus aus den hinlaͤnglich bekanntgegebenen Grunden verhindert wird, vom Leben das Bewußtſein des Erlebten ſtreng zu unter⸗ ſcheiden, in der Bewußtloſigkeit eine Erlebniseigenſchaft zu erkennen und demgemäß es auszuſprechen, daß Lebensvorgänge entweder gar nicht oder nur als Erlebnisvorgaͤnge gedacht werden koͤnnen, fo läßt er doch daruͤber nicht den leiſeſten Zweifel, daß die elementaren Bildungs hergaͤnge, 3. B. der Entwicklung des eben befruchteten Eis im Mutterleibe, genau nur inſoweit begreiflich ſeien, als es uns durch Abbau des Bewußtſeins ge⸗ linge, in ihnen Vorformen des bewußten Erlebens wiederzufinden und dergeſtalt aus dem gleichen Geſichtspunkt zu erklaͤren die Geſtaltungen, die eiſtungsfaͤhigkeiten, den Verfall der Organe des Lebensträgers und feine Eindruͤcke, Vorſtellungen, Gefuͤhle. Oder: „Seele und Bildungsprinzip des lebendigen Zeibes find eines und dasſelbe. Da aber der lebendige eib nicht gleich der Maſchine von außen her zuſammengeſetzt werden kann, ſondern von innen her ſich auseinandergliedert, fo beſteht in aͤußerſtem Gegenſatz zur üblichen Auffaſſung die Aufgabe der Seelen⸗ kunde darin, Entfaltungen, Gliederungen und Bewußtwerdungen zu ver- folgen und nicht etwa im unmoͤglichen Unterfangen, aus vermeinten de: wußtfeinselementen die Seele zufammenfügen zu wollen!

2. Jeder Lebensträger vom Protoplasma an bis zum hochentwickelten Zellenbau des fertigen Menſchen iſt ein zeitlicher Sachverhalt; das Weltall ſelbſt, falls lebendig, desgleichen; womit geſagt fein will: fein je augenblicklicher Zuſtand ſei Erzeugnis feiner Vorgeſchichte und Erzen gungsgrund feiner Zukunft. Gegenſtand der Seelenkunde iſt das Sich⸗ wandeln, niemals ein Seiendes. Die damit eröffnete genetiſche Forſchungs⸗ methode bedeutet Nuͤckkehr zur antiken Urſachenauffaſſung, aber entſchie⸗ denſte Abkehr von der neuzeitlich formaliſtiſchen, die lediglich Bedingungen kennt.

Über Carus hinausgehend fuͤgen wir zur Verdeutlichung an: die bisher fo genannte Phyſik hat es zwar mit zeitbezogenen, nicht aber mit zeitlichen Tatſachen zu tun. Ihre „Urſachen“, „Wirkungen“, „Kraͤfte“ find ſamt und fonders geſchichtslos; und die Weltereigniffe hoͤren auf, ihr zugänglich zu ſein, ſobald ſich am Bilde ihrer Gegenwart Momente ihrer Vorgeſchichte oder ihrer Zukunft beteiligen. Die phyſikaliſche Zeit it ein raumanalogiſches Meß werkzeug, die vitale Zeit dagegen eine Seite des wirklichen Geſchehens oder im Sinblick auf die Abfolge der Vorgänge und Zuftände deren Aus einanderhervorgehen.

3. Den Zuſtand des Lebendigen, ſofern es Erzeugnis feiner Vorgeſchichte, nennt Carus den epimetheiſchen; ſofern es Servorbringungsgrund feiner Zukunft, den prometheiſchen. Ausgehend von der uns bewußten Erxinne⸗ rung und Vorausſicht enthüllt er durch Abbau im Epimetheiſchen ein bewußtloſes Nachgefuͤhl des Geweſenen („Innerung“), im Promethei ; Tat xVnl 4

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ſchen ein bewußtloſes Vorgefuͤhl des Rommenden („Ahnung“). Um- gekehrt beſteht nun die Faͤhigkeit des Erinnerns im Erwachen der bewußt: loſen Innerung, die Sähigkeit zur Vorausſicht im Erwachen der bewußt; loſen Ahnung. Wenn dergleichen Betrachtungen einer Lehre von den Inſtinkten, vom Gedaͤchtnis und vom ZJielbewußtſein auch nur praͤludieren, fo wird man doch nicht nur ihre außerordentliche Überlegenheit uͤber die Perzeptionsatomiſtił der Senſualiſten anerkennen, ſondern auch alsbald ſich belehren, wie weit neuere Verſuche aͤhnlicher Art an weitblick und Tiefſinn hinter Carus zuruͤckſtehen muͤſſen.

4. Sandle es ſich um Bildungshergaͤnge oder um äußere oder innere Nei⸗ zungen, allemal finden dadurch Umſtimmungen des man vergeſſe nie- mals: befeelten! Zebensgrundes ſtatt, und dieſe find es, die dem Be⸗ wußtſein Gefuͤhle anmelden; eine Anſchauung, die mit einem Griff den innerleiblichen Urſprung aller Gefuͤhle und ihre Untrennbarkeit von phyſiſch beſchreiblichen Körperzuftänden wie aber auch die Tatſache ins Licht ruckt, daß kein Sinneserlebnis ohne Gefuͤhlsbetonung ſtattfinden könne. Wer die hilfloſen Rontroverſen um die James · Cangeſche Theorie der Affekte kennt, wird einigermaßen verwundert ſein, deren haltbaren Beſtandteil, des Narrengewandes entkleidet, mit aller nur wuͤn ſchbaren Klarheit von Carus vorgetragen zu hoͤren: „So iſt es alſo falſch zu ſagen: die Trauer wirkt einen langſamern Serzſchlag, ein Bleichen der Saut durch Zuruͤckziehen der Blutſtroͤmung aus den feinſten Netzen der Gber flaͤche , ein langſameres Atmen.. uſw., ſondern es ſoll heißen: die Trauer it teilweiſe eben alles dieſes ſelbſt. Auf die immer noch nicht ent- woͤlkte Frage aber nach der beſonderen Natur derjenigen Umſtimmungen der Ceibesſeele, die uns als Sinneserlebniſſe Bunde geben von einer wirk⸗ lichen oder vermeinten Außenwelt, bleibt die erſcheinungswiſſenſchaftliche Antwort allerdings auch Carus ſchuldig, wenn er gleich metaphyſiſch mit dem beziehungs vollen Gedanken vortaſtet, der Grund alles Erkennens liege im Konflikt der „Ideen“ (d. i. der Urbilder).

5. Wie die Seele das Bildungsprinzip des lebendigen Leibes, ſo iſt der lebendige Leib Erſcheinung und Offenbarung der Seele. Damit fallen als finnleer dahin die nicht enden wollenden Meinungskaͤmpfe, die ſich ſeit Descartes, Spinoza, Leibniz an die Frage nach Art und Denkbarkeit des Juſammenhanges beider geſchloſſen. Was man zumal in den letzten fünfzig Jahren Über „wWechſelwirkung“ und „pſychophyſiſchen Parallelismus“ vorgebracht, wird ſich jedem, der einem Carus zu folgen vermochte, als das, was es iſt, enthuͤllt haben: als Ausſchwitzungen verbiſſenen Unver⸗ mögens. An Stelle der Deklamationen uͤber die angeblich beklagenswerte Abhaͤngigkeit der Seele vom Leibe, wie fie etwa im tollen Vergnuͤgtſein des Weinberauſchten zutage trete, oder den entgegengeſetzten Deklamatio⸗ nen uͤber die angeblich bejubelns werte Abhängigkeit des Leibes von der Seele, für die es denn freilich auch nicht an allerhand gegen wertigen Bei⸗

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ſpielen mangelt, ſo wenn etwa anhaltendes Veraͤrgertſein gallenkrank machen würde, hoͤren wir fo ſchlicht als unmittelbar uͤberzeugend: niemals habe dergleichen ſtattgefunden, ſondern immer nur ein Verkehr der un; bewußten Regionen mit der Bewußtſeinsregion oder zuletzt der unbe⸗ wußten Regionen untereinander. Man kann das anders und vielleicht noch naͤherkommend, noch treffender ausdrucken: der gemeinte Sachverhalt ſelbſt beſteht ebenſo gewiß zu Recht, wie er von obigen Lehrmeinungen karrikiert wird. „Dunkle Erfuͤhlungen“ des bewußtloſen Zellen verbandes beeinfluſſen unaufhoͤrlich die Gefuͤhle und mittels ihrer die Gedanken und Entſchluͤſſe, wie umgekehrt dieſe umſtimmend in das bewußtloſe Syſtem hineinwirken. Die mythiſche Rede vom „Geiſt des Weines“ erfaͤhrt ihre wiſſenſchaftliche Rechtfertigung; denn Nerven und Blut ſind beſeelt, und jede chemiſche Wandlung im Grganismus iſt unfehlbar eine Anderung des Juſtandes der durch ihn zur Erſcheinung kommenden Seele. | Es verſteht ſich von ſelbſt, ift aber zu lehrreich, um mit Stillſchweigen uͤbergangen zu werden, daß dieſer ausgepraͤgteſte und noch von keinerlei Seitenblicken auf Energieerhaltungsgeſetze geſtoͤrte Vitaliſt der neueren Geiſtesgeſchichte jede Gelegenheit wahrnimmt zur Abweiſung der feit Wolff und Blumenbach oft wiederholten und auch neuerdings teilweiſe be⸗ liebten Verſuche, dem phyſtkaliſch Entſeelten hinterdrein die Seele wieder zuſchenken mittels eines nisus formativus, einer vis vitalis, vis essentialis und wie die ſcholaſtiſchen Formeln ſonſt noch lauten. Kein Unvoreinge⸗ nommener wird den Carus ſtudieren, ohne die Überzeugung davonzutragen, daß es nicht bloß erfahrungswidrig, ſondern ſogar denkunmoͤglich fei, lebendige Weſen hervorgehen laſſen zu wollen aus einem unlebenden Uni⸗ verfum! (Eine andere Frage iſt es, ob man deshalb auf dieſes, wie es die Romantik und mit ihr Carus tut, den Begriff des Organismus uͤbertragen duͤrfe; was wir, beilaͤufig gefagt, für irrig halten. Unnoͤtig, hinzuzufügen, daß gerade dieſer Irrtum von allen ſich romantiſch gebaͤrdenden Literaten der Gegenwart mit Eifer wiederholt wird!) 6. Das von Carus bevorzugte Anwendungsgebiet vorſtehender Erkennt niſſe ſind die Wechſelbeziehungen zwiſchen Bewußtſein und Unbewußtſein, unter denen in erſter Reihe die periodiſche Exmuͤdung des Bewußtſeins und ſein periodiſches Wiederverſinken im nie ermuͤdenden Unbewußtſein ihn zu tieffuͤhlenden Betrachtungen einlädt. Er hat den Wechfel von Wa⸗ chen und Schlafen zutreffend mit der Rhythmik aller Lebenserfcheinungen in Verbindung gebracht, kommt aber in feiner Kennzeichnung der Ver⸗ ſchiedenheit beider Lebenszuftände uͤber allgemein gehaltene Andeutungen nicht hinaus. Dagegen fuͤhrt ihn die gleichläufige Auffaſſung des Verſin ; kens und Wiederemportauchens der Bewußtſeinsinhalte zu folgenreichen Betrachtungen über das geheime Wachstum und welktum unſeres unbe- wußten Erfahrungsſchatzes. Weil jeder entſchwindende Bewußtſeinsinhalt jogleich den Bildungsvorgaͤngen des Organismus und damit einem Be⸗

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reich lebendiger Wandlung anbeimfällt, fo kann keine einzige „Vorſtellung“ jemals identiſch wiederkehren und wird vielmehr, ſo oft ſie genoͤtigt oder von ſelbſt abermals zum Bewußtſein kommt, geringere oder größere Ab- änderungen erfahren haben, die uns weſentliche Aufſchlůſſe zu erteilen ver⸗ ſprechen uber die verborgene Geſchichte des individuellen Lebens. Saͤtte man dieſen Gedanken nachdrädlich weiterverfolgt, welche Aufſchluͤſſe wären uns ſicherlich ſchon zuteil geworden über die bewußtſeinsbeſtimmende Rolle des Charakters, ber das Derbältnis der Triebfedern zu den geiſtigen Begabungen, über die Reichweite wie auch die Grenzen der Übung uſw., ſtatt daß wir uns heute mit „Pſychologien“ herumſchlagen muͤſſen, die ihr ſogenanntes Unbewußtſein ſozuſagen bis in die Knochen rationa⸗ liſtert und die arme Seele bis an den Rand aufgefüllt haben mit den Saar · ſpaltereien und Rechenkuͤnſten der eben wie niemals zuvor triumphierenden Schlauheit!

7. Typiſch romantiſch, aber gerade von Carus vor Überfpannungen forg- ſam behůtet, iſt die grundſaͤtzlich richtige Anſchauung, das Unbewußte fei das die Sonderweſen ſowohl untereinander als auch mit der Landſchaft, dem Klima, der Erde uſw. verknuͤpfende allgemeine und verallgemeinernde Mittel des Lebens. Don dieſem Gedanken ſtrahlen die Radien nach den verſchiedenſten Richtungen aus, neue Moͤglichkeiten des Verſtehens wei ſend: der Fortpflanzungsvorgaͤnge und der Liebesgefuͤhle, der Beziehungen des werdenden zum muͤtterlichen Organismus, der „magnetiſchen Rap- porte“, der Sern wirkungen, Wabrträume, Sellſehereien. Wie ſehr es gerade bier bei Anlaͤufen, Vermutungen, zwielichthaften Ahnungen bleibt, fo ſehr doch fühlt man fi von ihnen wunderbar erfriſcht, und mancher vielleicht, der ſich mit dem beſten Willen durch heutige Okkultismen hin; durchgequaͤlt, wird ſich mit Staunen geſtehen, daß es nicht an der Sache, ſondern an ihren Verwaltern lag, wenn fie bisher ihm im Lichte lebens⸗ fremder Gaukeleien erſchienen war.

Das find die wichtigſten wegweiſer in der zwar nicht uͤppigen, aber ſehr mannigfaltigen Seelenlandſchaft, durch die ein Carus uns fuͤhrt, gemeſſen und langſam voranſchreitend, aber niemals ſtehen bleibend. Denn im Gegen⸗ ſatz zu den tektoniſchen Syſtemen „Syſtem“, nebenbei erinnert, heißt „das Juſammengeſtellte des mittelalterlichen wie auch des neuzeitlichen Denkens vor 1800 ſteht die ganze Romantik und mit ihr Carus im Zeichen der Idee des Prozeſſes. Wie ſehr daher ſie bewußt auch ſich immer wieder bemuͤhen mag, den neuen wein in alte Schläuche zu füllen: im Lebens gefuͤhl dieſer Maͤnner iſt das heraklitiſche Geſchehen Serr geworden uͤber das eleatiſche Sein, die Polaritaͤt uͤber die Unitaͤt, und heimlich immer, oft aber auch mit aufleuchtender Beſonnenheit trachten ſie, die Forderung zu erfuͤllen, die wir herausleſen duͤrfen aus einem der ſchoͤnſten Worte Goethes an Eckermann: „Die Gottheit .. iſt wirkſam im Lebendigen, aber nicht im Toten; ſie iſt im Werdenden und Sichverwandelnden, aber nicht

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im Gewordenen und Erſtarrten. Deshalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum Goͤttlichen es nur mit dem werdenden, Lebendigen zu tun, der Verſtand mit dem Gewordenen, Exſtarrten, daß er es nutze. Alles löͤſt ſich jetzt auf in Werden und Vergehen, in Entwicklung, „Geſchichte“. „Zur Entwicklungsgeſchichte der Seele” lautet deshalb der Untertitel auch dieſes Buches mit hoͤchſtem Recht! Vorgelegt wird uns die Geſchichte des allmaͤhlichen Erwachens der Seele in der Stufenleiter der Weſen die Be- ſchichte ihres helleren Erwachens im eben des Menſchen die Geſchichte der Freude, der Trauer, des Saſſes, der Liebe!

Sinter Carus lebenswiſſenſchaftlicher Bedeutung bleibt feine bewußt ſeinswiſſenſchaftliche weit zuruck. Auch hier zwar fehlt es nicht an Tief. blicken, fo wenn er nachdruͤcklich feſtſtellt, daß im ewigen Fluß der Erſchei⸗ nungen nur der Geiſt eine Gegenwart zu finden vermöge! Allein teils war feine Begabung eine uͤberwiegend biologiſche, teils ſtand ihm hindernd im wege fein chriſtlich · platoniſches Schema, über das wir uns ja genuͤgend verbreitet haben. Würde ſchon deshalb die Rennzeichnung und Krit ik feiner erkenntnistheoretiſchen Meinungen nur geringen Ertrag liefern, ſo waͤre fie ůberdies auch nicht ohne weitgehende Bezugnahme auf die ſpaͤtere Ent · wicklung, eingerechnet die Sauptſtroͤmungen der Gegenwart, und ſchließ lich nicht ohne Zuhilfenahme eigener Forſchungsergebniſſe durchzufuͤhren . Iſt doch das Wiedererwachen der Teilnahme für Carus nicht zum wenigſten den Sinweiſen zu verdanken, die wir zuerſt 19 Jo in unſeren ſeither ver⸗ griffenen „Prinzipien der Charakterologie““ und inzwiſchen wiederholt, fo zumal in unſerer Schrift „Vom weſen des Bewußtſeins“ (Barth, Leipzig) gegeben haben. So ſei es in der Beziehung bei dem belaſſen, was ſich unſchwer daruͤber entnehmen laͤßt aus unſeren eingangs gebotenen Bemerkungen über die nnen zwiſchen der Romantik und Wiiesſche.

ie nachſtehend gebotenen Daten aus dem Leben unſeres Philoſophen

verfolgen keinen anderen Zweck, als einen Überblick über fein Sor- ſchungsgebiet und feine wichtigſten Leiſtungen zu geben, und beſchraͤnken ſich angeſichts der außerordentlich großen Jahl feiner Schriften gefliſſent lich auf Anfuͤhrung feiner Sauptwerke. Carus, von Beruf Mediziner, wurde 1789 in Leipzig geboren und ſtarb in Dresden 1869. Schon 1811 habilitierte er ſich und ging 1814 als Profeſſor der Entbindungskunſt und Direktor der geburtshilflichen Klinik nach Dresden, wo er 1827 Leibarzt des Königs wurde. Aus der großen Reihe feiner mehr oder minder fach⸗ wiſſenſchaftlichen Veroͤffentlichungen find hervorzuheben: Lehrbuch der

Auch konnen wir erfreulicherweiſe auf die im gleichen Verlage erſchienene vor⸗ treffliche Studie von Dr. C. Bernoulli uber „Die Pſychologie von C. G. Carus und pe geiſtesgeſchichtliche Bedeutung“ verweiſen. Die 4. Auflage en in Vorbe ; reitung.

54 Ludwig Blages

300tomie (J8) Lehrbuch der Gynäkologie (20) Von den dußern Lebensbedingungen der warm- und kaltbluͤtigen Tiere (24) Liber den Blutkre slauf der Inſekten (27) Erlaͤuterungstafeln zur vergleichenden Anatomie (26—55) Grundzüge der vergleichenden Anatomie (28) Syſtem der Phyſiologie (3840). Zu den organphyſiognomiſchen Forſchungen eine wichtige Überleitung und Unterlage bilden die „Brund- zuge einer neuen und wiſſenſchaftlich begründeten Kranioſ kopie (4) und der „Atlas der Kranioſkopie“ (43—45).

Fuͤr jeden, der unſeren obigen Darlegungen aufmerkſam gefolgt iſt, wird es naͤherer Erlaͤuterung nicht bedürfen, warum Carus im Vollbefis aller anatomiſchen und phyſiologiſchen Kenntniſſe feiner Jeit ſich ver⸗ ſucht fühlen mußte, auf neuer Grundlage und mit neuen Mitteln die feelen- rundliche Deutung des menſchlichen Gliedbaues oder denn reformatoriſch das zu unternehmen, was bisher teils unter der Marke „Phyſtognomik“, teils als „Phrenologie“ hervorgetreten war und am treffendſten Organ⸗ phyſtognomik zu nennen wäre. Es iſt weder Zufall noch neuerungsſuͤch⸗ tiges Belieben, wenn Carus fein Sauptwerk darüber „Symbolik der menſchlichen Geſtalt“ (53) betitelt, dem die Sonderunterſuchungen uͤber „Proportionenlehre der menſchlichen Geſtalt“ (54) und „Über Grund und Bedeutung der verſchiedenen Formen der Sand bei verſchiedenen Per⸗ fonen” (46) ergänzend zur Seite treten. Er wuͤnſchte damit ſchon in der Aufſchrift zum Ausdruck zu bringen, daß er nicht etwa nur in den Ergeb⸗ niſſen, ſondern zumal auch im Leitgedanken und in den Methoden von feinen Vorgaͤngern durchgreifend abweiche; und es muß zugeſtanden wer den, daß durch die Anwendung des Entwicklungsgedankens auf den frag⸗ lichen Tatſachenkreis verſteht ſich, ſowohl im Sinne phylogenetiſcher wie auch monogenetiſcher Entwicklung die Morphologie der Organe von ihm zuerſt in das Licht einer möglicherweife verſtaͤndlichen Zeichen · ſprache des Innenlebens geruͤckt worden iſt. In der Beziehung wird zu⸗ mal ſeine „Symbolik“, daneben auch die am beſten hier zu erwaͤhnende „Phyſis, Zur Geſchichte des leiblichen Lebens“ (51) ihren geiſtesgeſchicht⸗ lichen Wert behalten. Inwiefern wir gleichwohl die Grundfrage der Phy⸗ ſtognomik damit noch nicht für geloͤſt erachten, haben wir in unferen Schriften mehrfach zum Ausdruck gebracht.

Nach unſerem Dafuͤrhalten fein Bedeutendſtes und Bleibendſtes find aber feine ſee lenkundlichen Werke, von denen außer der im Mittelpunkte ſtehenden „Pſyche“ zu nennen find: „Vorleſungen über Pſychologie (3 J), „Über Lebensmagnetismus” (57) und „Vergleichende Pſychologie der Ge⸗ ſchichte der Seele in der Reihenfolge der Tierwelt“ (66). Dem Beduͤrfnis,

»Im Verlage von Niels Bampmann (Celle) iſt ſoeben, wie wir hören, auch die „Symbolik neu herausgekommen. Vgl. „Ausdrucks bewegung und Beftaltungs- kraft oe „Einführung in die Pſychologie der Sandſchrift“ (Seifert-Per- lag, Seilbronn).

Die Bedeutung von C. G. Carus für die Pſychologie 35

von feiner Forſchungsweiſe die Prinzipien herauszuſtellen, entſprang fein „Organon der Erkenntnis der Natur und des Geiſtes“ (56).

Aber auch damit haben wir die geſtalteten Niederſchlaͤge dieſes Geiſtes bei weitem noch nicht erſchoͤpft, der in feiner ſtoffgeſaͤttigten Univerfalltaͤt an ſein großes Vorbild Goethe gemahnt! Wenn heute von romantiſcher Naturphiloſophie die Rede iſt, fo pflegt man an den (weit Gberfchägten) Blender Schelling und allenfalls an Maͤnner wie Oren, Riefer, Ritter, Steffens zu denken. Aber ebenſo wie unter den ſpaͤtromantiſchen Seelen⸗ forſchern noch ein Schubert feiner Auferſtehung harrt, fo unter den ſpaͤt⸗ romantiſchen Naturphiloſophen Carus, der nicht nur mit feinen ſchoͤnen „Zwoͤlf Briefen über das Erdleben“ (4 J), ſondern auch mit dem ſyſtematiſch zuſammenfaſſenden „Natur und Idee (61) eine heute entfernt noch nicht ausgeſchoͤpfte Weltdeutung geboten hat.

Zu alledem greifen manche feiner Schriften in das Gebiet der Weisheits⸗ lehre, der Kunſtwiſſenſchaft und der Literaturwiſſenſchaft Aber. Wie be⸗ kannt, war Carus, teilweiſe angeregt durch den ihm befreundeten Land- ſchafter Caſpar David Friedrich, auch Landſchaftsmaler von nicht zu unter · ſchaͤtzender Begabung. Schon 1835 gab er feine noch heute hoͤchſt leſens · werten „Briefe über CLandſchaftsmalerei“ heraus. Dazu geſellen ſich ſpaͤter feine „Betrachtungen und Gedanken vor auserwaͤhlten Bildern der Dresdner Galerie“ (67). Der Weisheitslehre angehoͤrt fein Buch uͤber „Die Lebenskunſt nach den Inſchriften des Tempels zu Delphi“ (63) und am paſſendſten ebenfalls dorthin rechnet man feine Schriften Aber Goethe: Briefe über Goethes Fauſt (35) Goethe (43) Goethe und feine Be⸗ deutung für dieſe und kuͤnftige Zeit (49).

Wir heute inmitten einer Zeit der gluͤckloſen Saft, die mehr oder minder jeden in ihren zermalmenden Malſtrom reißt, ſtehen zaghaft und kaum es faſſend vor ſolcher Fruͤchtelaſt eines einzigen Lebens, das keiner Einſtedelei und Abſonderung bedurfte, um ſich dennoch gleich einem Rieſenbaum nach allen Seiten zu verzweigen, ohne deshalb zu verflachen, und moͤgen uns an dergleichen Monumenten der Vergangenheit darauf beſinnen, daß die Menſchheit jeden Gewinn an machthungriger Tatkraft unfehlbar bezahlt mit ſchwerer wiegenden Verluſten an Seele und Bildnertum! |

56 Friedrich Grave

Sriedrich Grave / Die vierzehn Punkte von der §reiheit des Willens Eine naturphiloſophiſche Studie

„Bis endlich in die rinnenden Gewebe

einſchlaͤgt des Willens grollende Gewalt

und eins ergreift inmitten ſeiner Schwebe Cbriſtian 5

Fi an!“ dieſe Bitte, gerichtet an die Philoſophen unſerer Tage,

ſcheint aus den Blicken jener uͤber die Lande verſtreuten Schar zu | ſprechen, in der ſich der gegenwärtige Bildungs · (Umbildungs-, Neu; bildungs · wille am edelften verkoͤrpert.

„Fanget endlich an! ſtatt geſchichtliche Revuen zu veranſtalten oder Programme zu ſchreiben. Fanget an irgend einer ‚Stelle an mit dem, was nach fauſtiſcher Auffaſſung immer am Anfang ſtehen muß (zumal wenn ihr für eine JZeitſchrift ſchreibt, deren Titel es euch, heilſam zwingend, unaufhoͤrlich zuruft). Wahrlich, wir glauben es: am Anfang war die Tat und nicht das Programm, und erſt recht nicht die Revue!“ Solchen Worten, wer immer ſie aͤußern mag, ſtimme ich herzlich zu und waͤhle als „Anfang“ die Tat ſelbſt, oder vielmehr das, woraus fie ent- ſpringt: die Freiheit des Willens. Daß ich in ihr einen Bau⸗ und Eckſtein zur Begründung einer neuen Naturphiloſophie fand, verdanke ich einem fruͤheren Schulkameraden, der ſich inzwiſchen als Biologe Forſcherruf er- worben hat und von mir vor zwei Jahren mit Überreichung meiner meta⸗ phyſiſchen Schrift „Das Chaos als objektive Weltregion” bedacht wurde. Die Schrift fand nicht feinen Beifall. Er wollte alle Metaphyſik prinzipiell ablehnen, indem er es eine „Kleinigkeit“ nannte, das geſamte Geſchehen der Welt kauſal⸗analytiſch zu erklären —, da wir doch zum Kauſalprinzip ein aͤhnliches Verhaͤltnis der Unentrinnbarkeit haͤtten wie die Boldfifche zum Aquarienglas. Ich ſchoß empor und fandte ihm eine feurige Garbe zuruck, in der die Behauptung vorkam, die Kaufalitär ſei die Nanaille unter den zeitlichen Verknuͤpfungsformen, deren Ochlokratie in der Ge ; ſchichte der wiſſenſchaft etwa um dieſelbe Zeit begonnen haͤtte, in der auf ſozialem Gebiete das Wort von der Gleichheit aller Menſchen zum erſten Mal erklungen wäre. Es ergab ſich bald Gelegenheit zu muͤndlicher Ausſprache, und nun folgte eine nächtliche Debatte im Freundeskreiſe, in der gegen mein werk alle Argumente eines naturwiſſenſchaftlichen Po⸗ ſitivismus losgelaſſen wurden.

„Aber der Menſch legt oft die Eier, die man ihm an den Kopf wirft“ ſagt Jean Paul (in „Des Luftſchiffers Giannozzos Seebuch“, Erſte

Sahrt).

Die vierzehn Punkte von der Freiheit des Willens 57

Aus jener Auseinanderſetzung ging eine andere, größere hervor, die in Materialien abgeſchloſſen vorliegt und die ich in der Einfuͤhrung zu „Cha- otica ac Divina“ S. 270 als die Auseinanderſetzung mit dem Ewigen rechten und dem Ewigen linken Slügel des Geiſtes bezeichnet habe. Aus ihr bildet das Folgende einen Ausſchnitt, der einerfeits die ſehr vorläufige Begruͤndung der Willensfreiheit in „Chaotica ac Divina“ S. 248 ff. be- deutend vertieft, anderfeits nur den allerengſten Bern des Befamtpro- blems auf bricht auf den freilich am Ende alles ankommt.

Nun ſcheint einem Verſuch, das Problem der Willensfreiheit auf dem Boden theoretiſch“ bleibender Naturphiloſophie und ohne Sinblick auf eine Ethik loͤſen zu wollen, durch Kant von vornherein das Urteil ge- ſprochen zu fein. Nicht freilich deshalb, weil nach Kant die Willensfreiheit uͤberhaupt kein Erfahrungsbegriff iſt. Denn das iſt die gemeine Kauſalitaͤt auch nicht. Aber Kant glaubt einen Unterſchied beider darin zu ſehen, daß der Begriff von RNauſalitaͤt durch die Erfahrung beſtaͤtigt, ja durch dieſe gefordert werde, der Begriff von Willensfreiheit hingegen durch die Er⸗ fahrung niemals beſtaͤtigt werde und dennoch ſich behaupte (vergl. „Grundlegung zur Metaphyſik der Sitten”, Abſchnitt „Von der aͤußerſten Grenze uſw. “). Deshalb nennt Kant die Kauſalitaͤt einen Verſtandes⸗ begriff (Kategorie), die Willensfreiheit „nur eine Idee der Vernunft.“

Der folgende Verſuch unternimmt es nachzuweiſen, daß ein biologiſcher Begriff von Willensfreiheit durch die Erfahrung nicht nur beſtaͤtigt, ſon · dern ſo ſehr gefordert wird, daß ohne ihn Erfahrung im Umkreis des Joologiſchen ſchlechtweg unmoͤglich wäre. Ich behaupte, daß wir nicht die geringſte tieriſch⸗menſchliche Regung, nicht das Sinuͤberlaufen eines undes über die Straße erfahren koͤnnen, als tieriſche Selbſtbewegung er- fahren koͤnnen, ohne Willensfreiheit vorauszuſetzen —, genau wie wir „phyſiſche ! Geſchehniſſe nicht erfahren koͤnnen, ohne Kauſalitaͤt voraus⸗ zuſetzen. Wille oder was notwendig dasſelbe iſt: freier Wille ruht auf der allgemeinen Sorm der Aktivitat, in der ich eine Kategorie im Sinne Kants, eine Bildeform im Sinne der eigenen Metaphyſik erblicke. |

Die Naturphiloſophie fragt nicht, was „bätte geſchehen follen, ob es

gleich nicht geſchehen ift” ; fie zieht den Blick der Tranſzendentaliſten aus der hohen Sphäre ethiſcher Forderungen zur Erde nieder, um ihnen das y naturliche Wurzelreich des Willens zu zeigen. Sie hofft das zu leiften, was Kant (vergl. Fußnote im 3. Abſchnitt der Grundlegung d. M.) als wuͤnſchenswert empfunden, aber als menſchliche Erkenntniskraft über- ſteigend von ſich abgehalten hat: „die Freiheit auch in ihrer theoretiſchen Abſicht zu beweiſen / und damit eine N „Laſt“ zu heben, „die die Theorie druͤcktꝰ. 2 | u dieſem Zweck wird die Naturphiloſophie zunaͤchſt über die Enge des Gegenſatzes „Kauſalitaͤt Willensfreiheit“ hinauskommen und einen

58 | Friedrich Grave

Abriß ſaͤmtlicher moͤglichen Verknuͤpfungstatbeſtaͤnde geben muͤſſen, in denen Freiheit ſtattfinden kann. Das philoſophiſche Arbeitsfeld wird ſich hierdurch in unerwarteten Richtungen dem Umfange nach erweitern, aber die Problematif wird ſich, nunmehr aus einem Ganzen ſtatt aus heraus; geriſſenen Teilen ſchoͤpfend, ebenſo unerwartet vereinfachen.

Im vorgeſchriebenen Rahmen dieſes Aufſatzes kann dergleichen nicht unternommen, ſondern nur inſoweit angedeutet werden (ſub 3), als es erforderlich iſt zur Vermittlung des Verſtaͤndniſſes dafür, daß die Frucht barkeit des Vergleiches von „phyſiſchem Geſchehen“ und Wollen haupt; ſaͤchlich von der Wahl der richtigen Anſaͤtze abhaͤngt.

Da die Behauptung, der wille ſei frei, wegen der Mehrdeutigkeit des Ausdruckes „frei“ mancherlei Miß verſtaͤndnis zulaͤßt, erſetzen wir fie durch folgende Theſe: „Der Strom eines konkreten kauſalen Geſchehens bricht ſich an einem konkreten Akte des Wollens.“

3 | |

Aoethe fagt einmal: hundert graue Pferde machen noch keinen Schim⸗

mel. Man koͤnnte auch ſagen: hundert kleine Banknoten ergeben noch keine große Banknote. Oder allgemeiner: hundert a ergeben noch kein A. Um den Sinn dieſes einfachen Satzes dreht ſich der ganze Streit Gber das Kauſalprinzip. Der Kauſaliſt iſt ein Menſch, der ſich zutraut, ein A in hundert a, ein B in hundert b, ein C in hundert c auflöfen zu koͤnnen; ein Menſch, der nur einen Reihen aber keinen Rangunterſchied der Tatſachen anerkennt. Und keinen Rangunterſchied der Geſchehniſſe. Ihm beſteht alles Geſchehen aus Kettengliedern mit dem einzigen Range a, oder vielmehr aus Gliedern ohne jeden Rang. Eine ſolche Optik hat etwas poͤbelhaftes. Man kann ihr entgegenſetzen: wie es verſchieden geſtufte Raumſtrukturen, wie es insbeſondere vier uͤbereinander aufſteigende Naturreiche (Stoff, Kriſtall, Pflanze, Tier,) gibt, fo gibt es Soͤhenlagen des Geſchehens. Alle Kauſalitaͤt gehoͤrt der niederſten Soͤhenlage an: fie iſt die ſchlichte Verknuͤpfung ſtofflicher Daſeins · Elemente. Über ihr erheben ſich die Höhenlagen kriſtalliſcher Derwachſung (Coeno⸗ und Synkriſtalle), pflanzlicher Fortpflanzung und animaliſcher Willens ſchoͤpfung. Jede 3oͤ⸗ henlage ruht auf ſaͤmtlichen niederen, ihr „unterliegenden“, und über- lagert fie mit einer neuen ſpezifiſchen Jeitform (Superpoſition), die in ſich ein einfaches, unzerlegbares Element iſt, das jeder Analyſe trotzt.

Im Gebiete der Raumſtrukturen, ja ſchon der einfachen Raumgeſtalten (Figuren) leuchtet es ohne Muͤhe ein, daß ein Ganzes mehr iſt als die Summe feiner Teile, fo oft es auch in der Anwendung überfeben wird. Suͤr die Zeitgeſtalten kann man ſich einer entſprechenden Einſicht nicht ver ſchließen, ſobald man fie zeichneriſch ſymboliſiert (durch Kurven, muſika⸗ liſche Noten u. dergl.) oder auch, ſoweit man fie als Melodie zu hoͤren ver; mag. Das, was insbeſondere eine Tonfolge zur Melodie macht, iſt ein

Die vierzehn Punkte von der Freiheit des Willens 59

herrſchendes Geſtaltelement, das ſowohl objektiv, wie auch ſubjektiv, im „Ohr“ des Bomponiften zwar auf ſich anbietende Töne angewieſen iſt, aber nicht von ihnen ergriffen wird, vielmehr ſie ergreift, ſich ihrer be⸗ dient! Dies Geheimnis wie dergleichen moͤglich iſt! iſt auch das Ge⸗ heimnis des freien Wollens.

4

De Tatbeſtaͤnde der Umwelt kommen unmittelbar als kauſale Glieder

eines Wollensverlaufes nicht in Betracht. Sie bedürfen vielmehr erſt erkenntnismaͤßiger Ergreifung und „Verarbeitung“ zu Vorſtellungen und erleiden ſchon bei dieſem Prozeß durch die Spontaneitaͤt des ihnen ent · gegentretenden Willens eine „Daͤmpfung“ (worauf näher einzugehen der Raum nicht erlaubt). Als kauſale Glieder eines Wollensverlaufes koͤn⸗ nen alſo nur Vorſtellungen oder noch vorſichtiger ausgedruckt innere Tatbeſtaͤnde in Betracht kommen: wir nennen fie gewöhnlich Motive. Man It nun vielfach der Meinung, daß jeder Willensakt auf irgendwelche Mo⸗ tive Beſtimmungsgruͤnde des Sandelns reſtlos zuruͤckgefuͤhrt werden koͤnne und daß ſelbſt da ein häufig unbewußtes Motiv den Ausſchlag gegeben habe, wo es ſich vor der Bewußtheit des Willens gerade um die Niederringung von irgendwelchen Motiven gehandelt habe. Dieſer Über- zeugung ſteht eine andere gegenüber, die die letzte Auswahl des beftimmen- den Motives als freie Tat des ſouveraͤnen Ich in Anſpruch nimmt: als Indeterminismus ſteht fie dem Determinismus gegenüber.

Objektiv war der Streit bisher nicht los bar, und zwar deshalb, weil über das Wefen von Kaufalitdt und alles deſſen, was damit zuſammenhaͤngt, Dunkel herrſchte. Man ſah dieſe Verknuͤpfungsform nicht im Zuſammen⸗ hang der welt, man ſah ſie nicht „organiſch“. Man griff aus einem kau⸗ ſalen Verlauf irgend etwas heraus, was man ſtimmungsmaͤßig fuͤr we⸗ ſentlich hielt, und ſchuf Definitionen, die eine „logiſche Bearbeitung der naiven Dorftellungen” fein ſollten, aber in Wahrheit ein Treubruch gegen den ſicher und gut fuͤhrenden Genius unſerer Sprache waren. Der Genius der Sprache ſagt: Urſache, das iſt eben eine Ur ⸗Sache, eine Sache. Der ogiker iſt kluger: bewahre! Urſache iſt ein vorhergehender Vorgang (3. B. Wundt) oder ein 3uftand (3. B. Schopenhauer). Nicht minder find die Gelehrten unter ſich verſchiedener Anſicht uͤber das Verhaͤltnis von Urſache und Bedingung. So iſt beim Fall eines Steines nach Wundt die Erdanziehung bloße Bedingung und feine vorhergegangene Sebung die eigentliche Urſache; nach Sigwart iſt es umgekehrt. Beide Männer find aber wohl darin einig, daß die Erdanziehung uberhaupt in den Baufal- nexus hineingehoͤrt: was m. E. nicht der Fall iſt. So iſt die allgemeine Unklarheit ziemlich heillos; der Leſer der großen werke wird klug, aber nicht innerlich hell gemacht.

Ich glaube eine Exklaͤrung der angedeuteten Dinge vorlegen zu koͤnnen,

60 Friedrich Grave

die vor allem Selligkeit verbreitet. Sie findet ihre naͤchſte Stuͤtze in der Theorie von den Strukturen (Befeelungsformen) der vier Naturreiche, die ich in den beiden anfangs erwaͤhnten Schriften“ aufgeſtellt habe. Insbe⸗ ſondere ergaͤnzt fie ſich mit meinen Definitionen von Stoff und Tier (Menſch) zu einer harmoniſchen Geſchloſſenheit.

As Zeitverknuͤpfungen ſpielen ſich an Mikrokosmen, alſo raͤumlichen Subſtraten ab und bedeuten Bearbeitung einer in die Subſtrate einge⸗ gangenen Bewegung in eben dieſen Subſtraten, eine Bearbeitung, die bloße weiterleitung oder Transformation ſein kann. Dieſer einzige Satz gilt fuͤr die Kauſalitaͤt wie für das Wollen gemeinſam. Alle anderen Ausſagen über dieſe beiden Formen und die ihnen unterliegenden Subſtrate zeigen eine Gegenſaͤtzlichkeit und doch wieder Entſprechung, weshalb es ratſam iſt, ihren Parallel verlauf auch ſichtbar zum Ausdruck zu bringen. Dies ſoll ge; ſchehen in den folgenden

Vierzehn Punkten J A. Das vorbildliche, vom Determi- I B. Das Wollen fpielt ſich an und in

nismus als Muſter benutzte Baufalge- ſchehen ſpielt ſich an und in einem Stoff; komplex ab. In einem Stoffkomplex geht etwas vor, wenn gewirkt wird, vermöge einer ſeeliſchen Form, die von mir a. a. St. mit dem Terminus „Be⸗ ſtaͤndigkeit“ belegt wurde („Chaotica“ Seite 139).

2 A. Der Stoffkomplex iſt irgend ein molekulares Aggregat. Er ſei im Fol- genden repraͤſentiert durch einen be- ſtimmten Stein beliebiger Große.

3 A Der angenommene Stein bat keinen naturlichen (weſensnotwendi · gen), ſondern immer nur einen zufaͤlli⸗ gen oder künſtlichen Umfang. Er tritt ſtets als „Stück“ auf. Indem man

einem Individuum ab. Ein Indivi- duum tut etwas, wenn gewollt wird, vermöge einer ſeeliſchen Form, die Wille beißt („Chaotica“ S. 143).

2 B. Das Individuum iſt die nervoͤſe maſſe eines Tieres oder Menſchen ( „Chaos“ S. 44). Es ſei im Folgenden repräfentiert durch das Modell eines menſchlichen Gehirns (mit nervoͤſem Anhang), in dem das Auftreten jedes bewußten wie unbewußten Motivs phyſiologiſch wahrgenommen werden konne. ä

3 B. Die nervdfe Maſſe hat einen natürlichen (weſens notwendigen) Um⸗ fang. Sie tritt ſtets als geſchloſſene Naturbildung auf. Als Vermittler von Willens ſetzungen heißt fie Schöpfer.

» Auf diefe Schriften wiederholt Bezug zu nehmen, ift unerläßlich, da die Löfung eines Problems, wie des gegenwärtigen, nur aus einer großen Pbilofopbie als ibre Frucht herausfallen kann. Die „Chaotica ac Divine“, Eugen Diederichs Verlag 1926, br. N 10o.—, geb. M 13.—, find im folgenden als „Chaotica“ zitiert, „Das Chaos als objektive Weltregion“, Walter de Gruyter & Co. 1924, als „Chaos“.

Die vierzehn Punkte von der Freiheit des Willens 61

in Stucke den Schein einer geſchloſſenen Naturbildung durch Einfuͤhlung hin; eintraͤgt, macht man aus Stücken „Sachen“. Auch der Stein, als Ver mittler kauſalen Geſchehens, heißt Sache, und zwar Ur ⸗Sache („Chaotica“ S. IG.

4 A. Man darf die Aauſalität nie · mals in der „Sache“ als ſolcher, d. h. als einer Ganzheit ſuchen, ſondern nur in ihren kleinſten Stoffteilen (wenn auch nicht in Einzel molekuͤlen), die nur durch „kubiſche Jentrierung“ aneinan ; der gebunden find. „Aubiſche Jen trierung“ will befagen, daß Jentrum und Umfang eines Stückes zufammen- fallen, oder daß die Seele („Beſtaͤndig keit“) in jedem Teile gleich maͤßig wirkt, und zwar als Robäfion innerlich und als Elaſtizitaͤt aͤußerlich („Chaotica“ S. IG).

5 A. Der angenommene Stein befin- det ſich in einer unbegrenzten Um⸗ gebung; das ſelbe mit anderen Worten: der urſaͤchliche Stoffkomplex ruht in einem Bedingungs komplex. Infolge einer aͤußeren Veranlaſſung bringt jener in ihm, dem Bedingungskomplex, eine Wirkung hervor.

Urſache und Bedingung find Raum · begriffe; Veranlaſſung und Wirkung ſind Jeitbegriffe.

6 A. Die Veranlaſſung geſchieht ſtets durch einen anderen Stoffkomplex, der an ſich auch als Urſache behandelt wer⸗ den konnte. Urſaͤchlicher und veranlaſ · ſender Komplex find alſo objektiv mit · einander vertauſchbar; Beiſpiel: Ju⸗; ſammenſtoß zweier Steine. Dies be⸗ ruht darauf, daß man vermoͤge der Re · lativitaͤt der aͤußeren Bewegung jeden Stein als ruhend und wechſelweiſe den anderen als bewegt ſetzen kann. Die Setzung beruht auf einer Konvention, die im allgemeinen die mit der Erde ver; bundenen Dinge als ruhend behandelt. Für einen fliegenden Stein exiſtiert die ſe

4 B. Man darf das Wollen, und da ; ber auch die angebliche Baufalität des Wollens, niemals in einzelnen Gehirn; oder Nervenfaſern ſuchen, ſondern nur in ihrer Verbindung zu einem punk. tuell zentrierten Ganzen, eben dem In · dividuum. Dieſes iſt es, das will; nicht

die Safer. „Punktuelle Jentrierung“

will beſagen, daß die Beziehungen zwiſchen innen und außen und den Tei len unter ſich als zentripetale und zen · trifugale in einem Punkte ihre Ba⸗ lance finden.

5 B. Die nervòſe Maſſe befindet ſich in einer begrenzten Umgebung (Bör- per); das ſelbe mit anderen Worten: das ſchoͤpferiſche Individuum ruht in einem Komplex koòͤrperlich⸗techniſcher Mittel. Infolge einer Eingebung (inneren „Veranlaſſung“) oder Motivſetzung bringt es in ihm, dem Mittelkomplexr, eine Sandlung hervor.

Schöpfer und Mittel komplex find Raumbegriffe; Motivfegung (Motive: tion) und Sandlung find Jeitbegriffe.

6 B. Die Motivation geſchieht ſtets durch einen nervoͤſen Teilkomplex, der niemals als Schöpfer behandelt werden konnte. Schöpfer und Motiv find daher nicht vertauſchbar. Die innere Be⸗ wegung der Motivation iſt infolge ihrer feſten Orientierung am mikrokos · miſchen Jentrum keine relative Be wegung.

62 Friedrich Grave

feine aͤußere Bewegung als ſolche über- haupt nicht, er „weiß nichts davon“ und kann deshalb auch nichts an ihr aͤn⸗ dern (gewöhnlich Prinzip der Trägbeit genannt).

7 A. Der Baufalvorgang fpielt ſich ſo ab:

Der Stoff komplex, 3. B. der geſtoßene Stein, läßt nichts in ſich hereinkommen, er haͤlt es ab, leitet die Bewegung des Störers durch ſich (obwohl nicht durch fein „Inneres“ „Chaos“ S. 31) bin⸗ durch und gibt ſie als Druck oder Stoß nach außen zuruck bzw. weiter, um ſchnellſtens wieder zur Ruhe zu kom⸗ men. Er iſt ſozuſagen einzig auf ſei⸗ nen Beſtand (Molekuͤlbeſtand) bedacht; der Leitſatz feiner „Beſtaͤndigkeit“ lau; tet wie der des Lindwurms in den Ni⸗ belungen : „Ich lieg’ und beſitze: laßt mich ſchlafen !“ Der Geiſt des Drachen iſt der Geiſt des Stoffes und der Aau⸗ felität.

Ein Gleichnis zum oben geſchilderten Vorgang: eine Ariegsarmee als Sol daten ⸗Aggregat. Abwehr der feind; lichen Macht um ſeden Preis. Prinzip des „Dichthaltens“.

8 A. Demgemaͤß iſt der Stoff phyſi ; kaliſch undurchdringlich. Denn dies will befagen: er laßt Angriffe „abprallen“ zum Schutze feiner Molekule, die „un⸗ ter ſich“ bleiben „wollen“.

7 B. Der Willensakt ſpielt ſich ſo ab:

Das Individuum laͤßt etwas in ſich hereinkommen (zentripetal), nimmt es auf, um ſich ſelbſt mit ſeiner Silfe in Bewegung zu ſetzen, in eine Bewegung, die erſtens wieder nicht relativ iſt, die zweitens in den Mittelkomplex zentri⸗ fugal ausſtrahlt, und die drittens dem Individuum die Ruhe nimmt. Das Individuum iſt ſozuſagen einzig auf ſeinen Selbſtverbrauch bedacht, der Ceitſatz des Willens lautet wie das Siegfried - Wort: „Schaff ſt du ein leich; tes Lager zum Schlaf der Schlum- mer wird mir da ſchwer “. Und ein an ; deres Siegfried Wort (ſich beziehend auf den erbeuteten Nibelungenſchatz) „Was ihr mir nuͤtzet, weiß ich nicht“ verkündet die Feindſchaft gegen den Stoff. (Ju beiden Worten finden ſich Parallelen bei Fauſt, dieſem Siegfried einer Sochkultur, nämlich: „Werd' ich beruhigt je mich auf ein Saulbett legen uſw.“; „Was man nicht nützt, iſt eine ſchwere Laſt, nur was der Augenblick erſchafft, das kann er nutzen.“) Der Geiſt Siegfrieds (Fauſtens) iſt der Geiſt des Individuums und des Wollens.

Ein Gleichnis zum oben gefchilder- ten Vorgang: eine Briegsarmee als militär. Inſtanzenorganiſation. Ser⸗ einnahme wichtiger Botſchaften, Ein; fangen von Spionen, ihre Benutzung; Dispoſitionen über die Armee, Einſetzen von Truppen durch die oberſte Seeres · leitung. Prinzip des „Lockerhaltens“.

8 B. Demgemaͤß iſt das Individuum aktiv durchdringlich. Denn dies will be fagen: es läßt manches in ſich herein ; kommen, um es dann, felber angrei- fend, als Bahn feines Schoͤpferlaufs, als Cauf - Bahn zu benutzen.

Die vierzehn Punkte von der Freiheit des Willens 63

9 A. Wie iſt das moglich?

Einerſeits dadurch, daß der Stoff elaſtiſch iſt, das heißt: einem Angriffe außerlich nachgibt, durch Erſchutte rung, Dehnung (wie eine angegriffene Armee), kurzum: durch Bewegtheit;

anderſeits dadurch, daß er kohaͤrent iſt, das heißt: feinen Molekuͤlverband nicht zerreißen laͤßt.

Auf beiden Momenten ruht ſeine ſog. „koͤrperliche Feſtigkeit, die einen Ver · gleich mit der ſeeliſchen des Indivi duums heraus fordert.

9 B. Wie iſt das moglich?

Einerſeits dadurch, daß das Indivi⸗ duum Paſſivitaͤt (kriſtalliſche Emp- faͤnglichkeit) beſitzt, vermoͤge deren es Fremdkomplexe zu Teilen von ſich ſel⸗ ber, zu nervoͤſen Teilkomplexen, machen kann („Chaotica“ S. 134, 146);

anderſeits dadurch, daß es ſich, dank ſeiner animaliſchen Aktivität, von ihnen nicht benutzen läßt, ſondern fie ſelber benutzt.

Auf beiden Momenten ruht ſeine ſeeliſche „Feſtigkeit“, die einen Ver⸗ gleich mit der „körperlichen“ des Stof ; fes herausfordert.

„Stehen wie Felſen doch zwei Männer gegeneinander!“ (Goethe, Sermann und Dorothea) . Vgl. auch die Ausdrucke: trotziger Fels; Sartkòpfigkeit, Dickſchaͤdel.

Jo A. Die Seftigkeit des Stoffes hat verſchiedene Grade, die feine Tüchtig⸗ keit begruͤnden. Dieſe ſchwankt zwiſchen idealer Viormerfüllung und aͤußerſter Normabweichung.

aa Eine Abweichung bezüglich der Elaſtizitaͤt zeigt ſich darin, daß der Stoff, 3. B. der geſtoßene Stein, nicht liegen bleibt, ſondern ausweicht. Weni⸗ ger tuͤchtig find Küſſigkeiten, am un⸗ tůchtigſten Gaſe. Sie leiten die Be wegung am wenigſten weiter, weil ſie am wenigſten erſchuͤttert werden. Ihr aͤußerer Ortswechſel iſt am größten, iſt für fie jedoch ein mikrokosmiſches Ni bil (vgl. oben 6 A.). Die Heinften Teile von Gaſen verhalten ſich etwa wie ein ſtarres, nahezu unelaſtiſches Lineal, das man in der Richtung der Laͤngs⸗ achſe weiterſchiebt: es erſchůttert auch ſeine Umgebung nicht oder kaum, ſon⸗ dern ſchiebt fie weiter. Es würde, ge fragt, jede Bewegung beſtreiten, un- geachtet der „Stimmenmajoritaͤt“ der in ſeiner Umgebung befindlichen Dinge.

bb) Eine Abweichung bezüglich der

30 B. Die Feſtigłeit des Individuums hat verſchiedene Grade, die feine Tuͤch ; tigkeit begründen. Dieſe ſchwankt zwi⸗ ſchen idealer Normerfuͤllung und dußer- ſter Normabweichung.

aa) Eine Abweichung bezuglich ſei⸗ nes Moti vations komplexes zeigt ſich darin, daß das Individuum kein als Bewegungsbahn ſeines Willens ge⸗ eignetes Motiv befigt und in Ruhe ver barrt. Weniger tuͤchtig iſt der ſozial niedrig Stehende (weil weniger „orien⸗ tiert“, weniger „gebildet“ in einem Sinne, der die chaotologiſche und die landlaͤuſige Bedeutung des Wortes „Bildung“ wunderbar vereinigt); am wenigſten tuͤchtig iſt der Proletarier. Dieſer verarbeitet die Fremdkomplexe am wenigſten innerlich und wird am meiſten durch aͤußere Bewegungen yſtoffartig“ (ſuggeſtiv) erſchuͤttert. Sei⸗ ne innere Bewegtheit (Labilität) iſt am größten, er bält fie aber für Selbft- bewegung und würde, gefragt, fein „Geführtſein“ beſtreiten, ungeachtet der Majoritaͤt der Bompetenten.

bb) Eine Abweichung bezuglich der

67 Friedrich Grave

Bobäfton zeigt ſich darin, daß der Bompler, 3. B. der geſtoßene Stein, zwar liegen bleibt, aber ſich unter dem Angriffe chemiſch, elektriſch uſw. zer⸗ ſetzt. Auch dieſen Vorgang wuͤrde der Stoff felber, konnte er reden, eben in ; folge ſeiner „Schwaͤchung“, nicht an⸗ erkennen.

II A. Von bier aus ergeben ſich die intereſſanteſten Ausblicke auf eine kuͤnftige vergleichende Pſychologie der Stoffe und des Menſchen (der Tiere). Vgl. „Cbaos“ S. 55. So ſei nur kurz hingedeutet auf den Vorgang der kinetiſchen Erwarmung, der in einer Revolutionierung der Molekule be⸗ ſte ht und herbeigefuͤhrt wird aa) durch uͤbermaͤßige Erſchůtterung als plöy- liche Aataſtrophe; bb) durch heimlich langſame Bearbeitung der feinſten Teile mittels Waͤrmezufuhr. In beir den Faͤllen werden die Molekule „ner vs“ u. wollen die Aohaͤſion ſprengen. Je nach der „Anfälligkeit“ der Mole⸗ küle find die verſchledenen Stoffe gute oder ſchlechte Wärmeleiter. Fur die meiſten Stoffe gibt es ein in bezug auf Rhythmus und Seftigkeit der Erſchuͤt⸗ terungen mittleres Maß, das gleichſam „als angenehm empfunden“ wird und als Norm die größte Bedeutung in der Architektur hat. Jedes Saus, jede Brucke beruht auf einem „Bonzert” ſtoffſeeliſcher Tatbeſtaͤnde.

12 A. Auch Ausblicke ins Metaphy⸗ ſiſche fehlen nicht: der Stoff erſcheint als Unterlage eines erſt im Menſchen ſich vollendenden Atmungsprozeſſes der Gott · Natur. Vergl. „Chaos“ S. 26.

13 A. Die Feſtigkeit des Stoffes iſt

Motivbenutzung zeigt ſich darin, daß ein vorhandenes Motiv, infolge ner ; voͤſer Störung, nicht benutzt wird; fon- dern das Individuum feinerfeits „be- nutzt“. Das Individuum aber merkt auch ſeine Geſtoͤrtheit nicht, ſondern modelt die ganze Welt nach den Mo⸗ tiven um, von denen es ſelbſt beherrſcht wird. ö

II B. Von hier aus ergeben ſich die intereſſanteſten Ausblicke auf eine kuͤnftige vergleichende Pſychologie des Menſchen und der Stoffe. So ſei nur kurz hingedeutet auf den Vorgang des „Nervöswerdens“, der in einer Revo⸗ lutionierung der Motivations komplexe beſteht und genau umgekehrt wie beim Stoffe herbeigeführt wird durch die dort als „Ideal“ geltenden mittleren Grade. Der Menſch empfindet ſie im allgemeinen als Juſtaͤnde dauernden Geſtoͤrtwerdens durch Tatbeſtaͤnde, die er einerſeits nicht überſehen, anderſeits nicht genugend ſchnell bearbeiten kann: ihm wird „ganz heiß“ (I). Von den meiften Menſchen werden die beiden Extreme als angenehm oder „richtig“ empfunden: aa) eine wenn auch ſtarke, ſo doch klare Affektion, zu der er, ſich zuſammenraffend, Stellung nehmen kann; bb) milde, milieuhafte Affek⸗ tionen. Menſchenerziehung und Menſchenbe handlung ſollten auf ge naueſter Benntnis dieſer Verhaͤltniſſe ruhen.

12 B. Ausblick ins Metaphyſiſche: der zu 9 B. geſchilderte Vorgang des Serein und Sinaus iſt eine ſeeliſche At mung des Individuums, die ihr Gegen · ftüäd hat in der des ebenfalls punktuell zentrierten Serzens. Atmoſphaͤriſches wie ſeeliſches Alima haben gleich wich · tige Bedeutung in ganz verwandtem Sinne, naͤmlich im Sinne eines Quali- taͤts anſpruches. („Chaotica“ S. 215, 229)

I3 B. Die Freiheit des Individuums

Die vierzehn Punkte von der Freiheit des Willens 65

auch eine Art Freiheit: Freiheit von iſt Freiheit von der Baufalität durch der Vagabondage geringerer Bildungs fein Wollen.

ſtufen (Feinbauelemente) und von der

Widerſtandsloſigkeit des „Unſoliden“.

Auch die Raufalitdt iſt Freiheit

zul generis. 14 A. Der Stoff iſt der bewegte Un⸗ 14 B. Das Individuum iſt der un ; beweger (MNichtbeweger). bewegte Beweger.

urch die ausführliche Gegenůuberſtellung der Bewegungsvorgaͤnge, wie

fie ſich einerſeits in ſtofflichem, anderſeits in animaliſchem Gebilde ab- ſpielen, iſt m. E. die Entſcheidung zum Problem der Willensfreiheit klar gegeben. Um aber mit dem „ewigen Zweifel“ gruͤndlichſt fertig zu werden, will ich noch einmal beſonders den Satz herausſtellen, an deſſen Richtigkeit zuletzt alles haͤngt. Es heißt zu 8 B und 9 B, daß das Individuum ein Motiv nicht leidend, ſondern angreifend heraushebt und benutzt.

Der „ewige Iweifel“ ſieht nur das Empiriſche am und im Gehirn: Motivkomplexe auf der einen und motoriſche Zentra auf der anderen Seite; und ihm ſcheint nichts natuͤrlicher, als daß das kraͤftigſte Motiv fein ent ; ſprechendes motoriſches Jentrum kauſal affiziere.

Verſteifen wir uns nicht darauf, daß dieſer Argumentation bereits durch die Bemerkung zu 4 B die Möglichkeit abgeſchnitten iſt, ſondern verſuchen die Löfung noch einmal durch unmittelbare „Schau“!

Stehen ſich das Motiv und fein motoriſches Zentrum nicht ahnlich gegen; über wie die Speiſe dem Munde, wie das weibliche Sexualorgan dem männlichen, wie die Töne der Melodie, ja wie eine Ware dem Käufer? Welche Symbole des Umſturzes ſind es, wenn der Mund nicht mehr eſſen, ſondern nur noch ſich ſtopfen laſſen kann, wenn die Rollen der Sexual ; organe ſich vertauſchen, wenn die Ware ſich dem Käufer aufzudraͤngen beginnt! Und wenn die Toͤne anfangen, die Melodie zu verzehren, um ſelber „unendliche Melodie zu werden, ein Sinnbild des Rauſalgeſchehens, wie es im Stoffe (als einem ungeſchloſſenen Rom plex) von kleinſtem Teil zu kleinſtem Teil kontinuierlich verläuft! Welche Symbole des Um⸗ ſturzes, eines Erloͤſchens ſtatt einer Erklaͤrung des Wollens

Das iſt ja alles nur „dynamiſcher Schein“!

Aber nicht minder waͤre es dynamiſcher Schein, das Prius, die Urſache, das Ergreifen, Jeugen, Kaufen, muſikaliſche Geſtalten in den Mund, in das Jeugungsorgan, in die Sand des Käufers, in die Geſtalt zu verlegen!

Nur Eines kann das geſuchte Prius fein: der „Nontaktſchluß“ zwiſchen Motiv und motoriſchem Zentrum. In der Pſychologie als „Impuls“ wohl bekannt, iſt er ein Pulsſchlag des Wollens ſelbſt. Dieſes alſo, das Wollen nun aber nicht im pſychologiſchen, ſondern im metaphyſiſchen Sinne iſt letzter Grund aller Willens Akte oder Sandlungen. Es hat keine em- piriſche Urſache, ſondern tranſzendente „Gruͤnde“, aus denen es quellend Tat Vu 5

66 Friedrich Grave

in die empiriſche Welt hinaustritt, wie die Waſſerquelle ins Tageslicht aus dem dunklen Schoß der Erde. Aber das Wollen iſt auch nicht „Urſache“, fondern „Grund“ des Handelns, ewig neuen Sandelns, auch darin der Waſſerquelle vergleichbar, die ewig neue Wellen emporwirft. Am Anfang war die Tat, aber auch: in jeder Tat ſteckt ein „erſter Anfang“. „Etwas tun“ iſt im Sprachgebrauch in weitem Maße gleichbedeutend mit „etwas anfangen“.

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95 das Handeln der Menſchen iſt doch prinzipiell berechenbar! Ganz

gewiß! Doch wir ſprachen bislang vom Wollen, und an ihm iſt nichts zu berechnen. Denn es wird in feinem weſen nicht davon beräbrt, ob man dies will oder das will wie auch Erkenntnis als reine Form nicht davon beruͤhrt wird, ob man dies erkennt oder das erkennt.

Handeln hingegen „muß“ jedes empiriſche weſen gemäß feinem empiriſchen Wefen. Doch dieſes Muͤſſen, das man auch „ſubjektive Not⸗ wendigkeit“ nennen kann, iſt nun kein kauſales, ſondern ein logiſches. Es verknuͤpft nicht zwei zeitliche Tatbeſtaͤnde, ſondern faltet den Bern des Wollens ſelber ins Empiriſche auseinander. Jedes Wollen iſt ja ein Sich⸗ aͤußern · wollen. Sich äußern kann man nur an techniſchen Mitteln. Das Beziehungeverhaͤltnis dieſer auf das Wollen heißt „Zweck“, und die Be⸗ ziehung als ausgeführter Akt „Teleologie oder Logik des Jweckes. „San⸗ deln muͤſſen“ iſt nur ein anderer Ausdruck dafür, daß der vor einer Sand⸗ lung Stehende nicht blind, und gleichſam aus dem Nichts, ſondern aus der wahren oder für wahr gehaltenen Logik des Zweckes feine Entſcheidungen trifft. Er waͤhlt feine Motive nicht fo, wie ein Lotterieſpieler Coſe zieht, ſondern wie ein Käufer eine Ware auswaͤhlt. Aus einer Fulle von Angebot waͤhlt dieſer das richtige Kleid, die richtige Brille, die richtige waffe. So ergeht an den Sandelnden die Mahnung: Pruͤfe alles, und das Beſte be⸗ halte! Das Biologiſche wandelt ſich beim Menſchen zum Ethiſchen.

6 De Einwand der Berechenbarkeit läßt ſich noch tiefer widerlegen gewiſſermaßen mit einem argumentum ex universo. Und da alle wahre Naturphiloſophie in weltanſchauung eingebettet ruht, ſei es er- laubt, die gegenwaͤrtige Betrachtung ſo ausklingen zu laſſen, wie ſie an⸗ gehoben hat: weltanſchaulich.

Auch Gott iſt „berechenbar“. Auf die „Rechnung“ mit ihm kann man ſich verlaſſen wie auf nichts anderes. Nicht nur die Cogik und die Mathe⸗ matik find getragen von einem Sich⸗Verlaſſen auf Gott, ſondern auch die moraliſchen Dinge. Sagt jemand: „ich mußte in dieſem Falle ſo handeln“, ſo hat er unbedingt recht. Nur folgt daraus nichts. Er ſoll das Vergangene ruhen laſſen, denn die nach ruͤckwaͤrts gerichtete Reue iſt eine Abkehr vom

Die vierzehn Punkte von der Freiheit des Willens 67

zukunftgerichteten Wollen, das allein „felig machen kann“, ſelbſt noch am Vorabende des Todes. Nicht fuͤr ſein Vergangenes als ſolches verliert oder gewinnt der Menſch die Seligkeit, ſondern für fein So-fein in „eben dieſem Augenblick“. Dem reinen Wollen entſpringt die Welt immer neu, „ſoeben“ hat fie ihm angefangen. Sagt nun jemand: „ich werde fo handeln muͤſſen“, fo übt er Verrat an Welt und Gott. Denn: „was weiß er davon!” Liegt ihm die Frage nach einer etwaigen Praͤdeſtination nicht als theoretiſches Problem vor, ſondern liegt ſie ihm als Sorge am Serzen, fo kann er beruhigt ſein: nichts zu fürchten braucht, wer um fein Seelen- heil „noch“ ernſthaft beſorgt iſt. Und was für den Einzelnen gilt, das gilt nicht minder fuͤr eine ganze Menſchengeneration. Wohl kann heute einmal wieder der Eindruck uͤbermaͤchtig werden, daß Zeiten allgemeinen Niederganges Reflexe größerer Weltvorgaͤnge fein möchten. Fuhren fie die Menſchen zur Selbſtbeſinnung, fo erwecken fie Sehnſůchte, und aus Sehn; füchten werden Taten erwachſen und ein neuer Aufſtieg.

ieſer aber pflegt ſich in den Gemuͤtern der Menſchen auf ſo merkwuͤrdige

Weife zu ſpiegeln, daß man faſt von einer Freiheitsparadoxie fprechen kann. Sie kommt aͤußerſt prägnant z. B. in folgendem Satze zum Ausdruck, der einem Aufſatz von Eugen Diederichs (im Weihnachts katalog feines Ver⸗ lages 1925) entnommen iſt und ſich auf die Entwicklung der Jugend⸗ bewegung bezieht: „An Stelle freier Selbſtbeſtimmung trat jetzt innerhalb der Jugend wieder die Forderung: Sich unterordnen koͤnnen, damit Grd⸗ nung werde, in den Vordergrund.“ In dieſem Satze iſt der Begriff der Sreiheit bezogen auf das Verhaͤltnis nicht zwiſchen dem Individuum und ſeinen Sandlungsmotiven, ſondern zwiſchen dem Individuum und einem Verbande, dem es zugehoͤrt. Wir finden nun zu jeder Zeit, daß dieſelben Menſchen gruppen, die „freie Selbſtbeſtimmung“ politiſch fordern („Libe⸗ ralismus“ ), als Kauſaliſten eine Willensfreiheit verneinen; und nicht minder, daß ihre Gegner, die in politifcher Sinficht Unterordnung fordern, als Indeterminiſten größten Wert auf Bejahung perſoͤnlicher Verant⸗ wortlichkeit legen.

Es kann nicht anders ſein. Denn die ſcheinbar in ſich widerſpruchsvollen Bekenntniſſe jeder der beiden Gruppen ſind nichts anderes als mehrfache Brechungen einer jeweils ganz beſtimmten Weltanſchauungs⸗Romponente. Während fie für die „Liberalen“ ſich in die Formel faſſen läßt: „Wir glauben an keine Rangordnung der Dinge“ lautet die Formel bei ihren Gegnern genau entgegengeſetzt: „Wir glauben an eine Rangordnung.“

Und dieſes letzte Bekenntnis moͤchten wir, zur Naturphiloſophie uns zuruůͤckwendend, auch zu dem unſeren machen. Die Natur, ausgebreitet in vier übereinander ruhenden Reichen, gibt uns das herrlichſte Beiſpiel einer ariſtokratiſchen Stufenordnung, und dieſelben Augen einer heranwachſen ; den Generation, die jetzt wieder empfaͤnglich werden für eine Auf bauſtruk⸗

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68 umſchau

tur der menſchlichen Geſellſchaft, werden in naher Zeit bemerken und als Wunder anſtaunen, woran ſie bisher gleichguͤltig voruͤberſtreiften. Und dann mögen, leiſe erinnernd, jene Dierzebn Punkte von der Freiheit eine Mahnung an fie fein, ſich mit der Sage von Siegfried und dem Lind⸗ wurm und ihrem tiefen Sinn auch ihrerſeits und in ihrer weiſe ausein · anderzuſetzen.

Umſchau

Rz Es iſt eine der nachdenklichſten Tatſachen des menſchlichen Geiſtes, daß in ihm eine Urentzweiung angelegt erſcheint, die allem, was durch ihn hindurchgeht, einen unverkennbaren Stempel aufdruͤckt, oder, wenn man will, es mit dieſem zweideutigen Kennzeichen erbarmungslos brandmarkt. Selbſt dort, wo die Vernunft ihrem verein heitlichenden Trieb raſtlos und ausſchließlich zu folgen ſcheint, bei der Bildung immer hoherer und allge meinerer Begriffe, tritt durchaus nicht, wie die Scholaſtik meinte, die Aulmination in einem oberſten und legten Begriffe ein; ſondern mit einem geradezu erſchrecken⸗ den Jynismus bricht am Gipfel der Abgrund wieder auf: kein hoher und erſt recht nicht der hochſte Allgemeinbegriff, der nicht ſofort auf feinen Gegenbegriff an- gewieſen wäre, ohne den er ſchlechthin ſinnleer und bedeutungslos fein müßte.

Dieſem Schickſal zeigt ſich auch der Begriff „Natur“ verfallen. Der Natur als Summe aller Wirklichkeit genommen hat man geſagt, entfällt nichts; und ebenſo entfällt ihrem Begriff nichts. Aber dieſer allumfaſſende Naturbegriff enthalt ebenfo nichts. Wenn alles Natur iſt, dann iſt nichts Natur. Wie alle Dinge und Erſcheinungen der Natur eingeklemmt erſcheinen zwiſchen den beiden Polen Null und Unendlich, wie alle Dinge nur Daſein haben, indem ſie eingeſchraͤnkt, be⸗ grenzt, geſtaltet, geformt find, genau fo gewinnen nur an ihren Einſchraͤnkungen die Begriffe Daſein, und die hoͤchſten erzeugen ſozuſagen von innen her ihr Außer halb, an dem fie ſich geſtalten. Nur an feinen Entgegenſetzungen, die er doch alle übergreifen will, gewinnt der Begriff Natur einen Inhalt.

Natur: das iſt das primär Schoͤpferiſche. Sie ſchafft Geſchoͤpfe, die ihrerſeits die Schaffenskraft der großen Mutter geerbt haben und an ihr mitſchaffen. Sie iſt cr&atrice, alles in ibr iſt Kreatur.

Natur: das iſt das urſpruͤnglich Gewordene gegenuber allem durch Menſchen Gemachten, Bewirkten, Geaͤnderten. Sie iſt dennoch indirekt Wirkerin auch aller der Werke, die ihr eignes Angeſicht verändern, der Kultur.

Natur: das iſt das Bewußtloſe, Unbewußte, iſt Da Sein, und erhebt ſich in einigen ihrer Geſchoͤpfe zum Bewußt ⸗Sein.

Natur: das iſt Alleinheit. Und ihr bewußtes Geſchoͤpf ſondert ſich in ihr von ihr zum Individuum.

Natur: das iſt nicht Chaos, ſondern Ros mos, zur Ordnung „geſchmückt“. Aber weiß fie ibre Ordnungen? Sie tut fie. Sie iſt fie. Aber ihr Teil, ihr Geſchoͤpf, das menſchliche Bewußtſein will das Ganze wiſſen. Der Spiegel will feine ſaͤmtlichen Bilder und deren Geſetze und das Geſetz ſeiner Spiegelung wiſſen und vergißt, daß die Geſetze ſeiner Bilder Geſetze ſeines Spiegelns ſind und dieſe zwar Geſetze in der

umſchau &

Natur, aber nicht Geſetze der Natur. Das iſt Natur ⸗Wiſſenſchaft und Erkenntnis der Natur unſeres Wiſſens, Erkenntnistheorie.

Natur iſt immer „natürlich“. Aber der Menſch will urteilen, daß eine Erſchei⸗ nung oder ein Ding der Watur mehr als das andere dem Willen und Begriff ent ſpraͤche, den die Natur in dem Dinge befolgt habe, und nennt eines widernatürlich, ein anderes unnatürlich.

Natur: das iſt das Ungewordene, Seiende, deſſen Sein ein Werden ift; als Ban- zes iſt Natur nicht geworden, ſondern ſie iſt, nur ihre Teile werden und entwerden in ihr. Aber der Menſch meint, Sein fei nicht im Werden und Werden nicht im Sein, ſondern Werden folge aus Sein. Und er will noch etwas hinter dem Schoͤpfe · riſchen, ein Ungeſchaffenes, Allerſchaffendes, das dem Einzelnen zugrund lage (die „Idee“) oder dem Ganzen (der „Gott“).

Aus dieſen Aufſpaltungen des Begriffs Natur geht hervor, daß ſie alles dies iſt und ſtets auch noch das Andere, immer über JIweien, oder als Einheit leer: natura naturens und natureta, Erſcheinung und Idee, physis und psyche, hyle und nus, Urfrübe und Tiona. Sie iſt der Umkreis, dem auch begrifflich nichts entfällt, ob» gleich eben dieſer letzte Inbegriff über allen nur in allen zu faſſen iſt:

sphaera intelligibilis eulus centrum ubique, circumferentia nus quam

Einem Naturbegriff, fo widerſpruͤchlich und widerſaͤtzlich, aber darum eben fo voll, dazu bezaubernd und uͤberwaͤltigend, weil er nicht dialektiſch wie hier um ; ſchrieben iſt, ſondern hymniſch geſungen, einer ſolchen unfaßbar großen Natur be- gegnen wir in dem Goethe zugeſchriebenen Fragment, von dem er ſpaͤter nicht an- geben konnte, ob es von ihm ſei, zu dem er ſich aber inhaltlich bekannte und, was weſentlicher iſt, deſſen Gegenſtand der von ihm zeitlebens ſo verehrte und ge⸗ liebte geweſen iſt:

„Natur l Wir find von ihr umgeben und umſchlungen unvermoͤgend, aus ihr berauszutreten und unvermögend, tiefer in fie hineinzukommen. Ungebeten und ungewarnt nimmt fie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf und treibt ſich mit uns fort, bis wir ermüdet find und ihrem Arm entfallen

Man muß ſich dieſen ganzen Symnus gegenwärtig halten, deſſen Einſichten Goethe ſelbſt modiſizierte (An den Kanzler v. Müller, 24. Mai 1828) und der durch ; aus nicht Goethes Stellung zur Natur und zur Erkenntnis der Natur ganz aus; zudruͤcken vermag, der aber bier als deſſen Symbol fteben kann, damit man vorerſt erkennt, um wieviel enger und aͤrmer der Naturbegriff der über die Natur trium- phierenden Naturwiſſenſchaft des letzten Jahrhunderts (oder der letzten vier Jahr hunderte ſeit Galilei) iſt. Der Triumph und der Erfolg iſt dieſer Wiſſenſchaft nicht abzuſtreiten und ſoll ihr nicht geſchmaͤlert werden. Es ſoll aber gezeigt werden, daß ihre Natur nicht die Natur und ihre Erkenntnis nicht die Erkenntnis der Natur iſt. Es iſt letzten Endes die Natur von gnaden der Vernunft im Sinne Bants, die Na; tur, der die Vernunft erſt „ihre Geſetze vorgeſchrieben hat“; d. h. die Geſetze, die die Vernunft Eonftituieren, das find auch die, die dieſe Natur konſtituieren. So gewiß Bant fein Apriori der Vernunft von der ihm als Paradigma einer unanfechtbaren Wiſſenſchaft geltenden Diſziplin, der mathematiſchen, abnahm, fo gewiß ihm nur ſoviel wirkliche Erkenntnis in jeder NWaturwiſſenſchaft war, als Mathematik in ihr anzutreffen ſei, ebenſo gewiß bezieht ſich dieſe ganze Wiſſenſchaft nur auf eine matbe- matiſch⸗mechaniſche Natur. (Man leſe hier in Jieglers „Geſtaltwandel der Böt- ter“ im Myihos atheos der Wiſſenſchaft über das titaniſche Bemuͤhen der Phy⸗

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ſiker Selmholtz und Sertz nach, auch die Baufalität noch los zu werden und nur noch mathematiſche Differenzen im phyſikaliſchen Geſchehen wirkſam zu erweiſen.) So gewiß die menſchliche Vernunft in ihrer mathematiſch ⸗mechaniſchen Ein⸗ ſtellung nichts außer der Natur iſt, ſo gewiß ihre Geſetze alſo nicht außer der Natur ſind, ſo gewiß geht in ihre Maße etwas von Natur ein, und wir erfahren durch ſie etwas von ihr. Wur daß dieſes Wiſſen nicht alles und dieſe Natur nicht die ganze iſt. i

Die Natur verlor in dieſem Prozeſſe, einem der erſtaunlichſten und in gewiſſem Sinne bewunderungs würdigen, viel, im Guten wie im Schlimmen: ihre Schreckniſſe milderten ſich, ihre Macht erſchien gezaͤhmt, ihre Grenzen wurden klein ſozuſagen und ihre Schranken dennoch unabſehlich binausgeruͤckt. Aber fie verlor mehr: ihr Geheimnis, nicht im Sinne des noch nicht Wißbaren, ſondern eines Seiligen Aber allem Wiſſen, eines Myſteriums, wovon Wiſſen ſelbſt nur ein gewiß auch hei⸗ liger Teil iſt. Aus dem Ungeheuren Natur war ein Wiſſen fo folgerechten Sy ſtems geworden, deſſen Brundsäge klar und eindeutig waren, ein fo feſtes Gebaͤude, deſſen Fundamente ſo tief und ſicher lagen, man hatte ein Werkzeug zu ſo ſtolzen Errungenſchaften ſich bereitet, daß man daruber das Ungeheure ſelbſt vergaß.

Dieſes aber kann nicht auf die Dauer weder gebaͤndigt noch vergeſſen werden. Es iſt nicht einfach feſtzuſtellen, wo die Grunde für das Erwachen des Gefuͤhls der Unzulaͤnglichkeit der wiſſenſchaftlichen Naturbetrachtung liegen. Und ſicher be⸗ ruͤhren alle bemerkbaren Gründe den eigentlichen Grund nicht, aus dem dieſes im; mer ſtaͤrker werdende Gefuͤhl emporwuchs.

Man kann ſagen, ein neues Naturgefühl habe die Seelen ergriffen, und es iſt zweifellos etwas an der Theſe Joels, „man müſſe die Natur fühlen lernen, ehe man fie denken lernt“, „immer wieder muͤſſe die myſtiſche Urein heit erlebt oder nachgrfuͤhlt werden, um in aller fortſchreitenden Sonderung die Einheit der Er⸗ kenntnis wachzuhalten, die organiſche Ganzheit des Menſchen, der nicht bloß er kennend iſt; immer wieder muͤſſe das Denken eintauchen in das Grundgefuͤhl des Cebens, um die Kraft zu ſchoͤpfen zu immer lebensfremderen Abſtraktionen, zu immer gefuͤhlsfremderen Naturentdeckungen; immer wieder müfle aus zentralen Tiefen der myſtiſche Geiſt aufſteigen, um überwunden zu werden in der peripheriſch ſondernden Wiſſenſchaft “. Woher aber dieſes neue Naturgefuͤhl kommt, kann man nicht angeben. Es ſteigt aus dem grundloſen Grunde. Nur eins iſt zu ahnen, daß ſolches Eintauchen in das Grundgefuͤhl des Lebens demſelben rhythmiſchen Ge · ſetz unterliegt, nach dem jedes Lebendige im Schlafe periodiſch ins Unbewußte ver- ſinkt und ſich darin mit neuer Araft ſpeiſt. Und ein anderes iſt ſelbſtverſtaͤndlich: daß dieſes neue Naturgefuͤhl zuerſt in der Dichtung durchbrach. Die Natur wurde nicht mehr nur lyriſch und ſtimmungshaft erlebt, ſondern die Dichtung der letzten Jahrzehnte wies plotzlich einige große Verſuche zu kosmiſcher, mythiſcher Weltbildung auf. Es iſt ein Unterſchied, ob in der Lyrik, ſelbſt der tiefſten und zar · teſten Storms und Moͤrikes, Liliencrons und Dautbendeys die Seele ihre Er⸗ regungen vor der Natur oder durch die Natur ausſpricht, oder ob man das Weſen der Welt, der ganzen, ungebeuern, in mythiſchen Bildern ausfagen will, wie in den Dichtungen Momberts, Daͤublers, in den „Mythen“ von Rudolf Pannwitz.

Es ſoll und kann kein urſaͤchlicher Juſammen hang zwiſchen dieſen Erſcheinun⸗ gen (und etwa dem neuen Naturgefuͤhl, wie es in der Jugendbewegung einen weſentlichen Jug darſtellt) und dem immer ſtaͤrker anwachſenden Empfinden des

Umſchau 71

Mangels der Naturwiſſenſchaft konſtruiert werden. ft hier ein Juſammenhang⸗ fo iſt er nicht kauſaler Art, ſondern in ibrer Gleichzeitigkeit weifen beide auf dun; kelſte Wurzeln und Grunde bin, aus denen immer das Lebensnotwendige ſich emporringt.

Gleichzeitig traten innerhalb der Wiſſenſchaft Strömungen auf, die den ſtolzen Bau unter hoͤhlten. Immer breiter machte ſich eine Erkenntnis von der Irrationa ; litaͤt alles Rationalen bemerkbar (Müller ⸗Freienfels „Irrationalis mus“, Nikolai Sartmann „Metaphyſik der Erkenntnis“); die Relativitätstheorie brachte, wenn nicht ein Wanken und Einſtuͤrzen, fo doch eine ſtarke Erſchuůtterung der erkenntnis · theoretiſchen Fundamente unſerer Naturwiſſenſchaft; eine tiefe Beſinnung Aber die eigentliche Armut unſerer intellektualiſierenden Weltbetrachtung rief die Philo ſophie Bergſons hervor, und gewiſſermaßen eine Entlarvung des wahren We⸗ ſens unferes Verſtandes betrieb eine Forſchung, die man mit der Parole „Wider den Geiſt“ kennzeichnen konnte (Blages: „Weſen des Bewußtſeins“, Theodor Keffing: „Untergang Europas am Geiſt“), fo daß als ein weſentliches Problem unſerer geſamten Aultur, als das, „was uns not tut“, Reyſerling die Wiederver⸗ knüpfung von Seele und Geiſt bezeichnen konnte.

Dazu kam etwas, was man den Aufbruch beinah vergeſſener oder rational uber deckter Tiefen nennen konnte oder das Aufdraͤngen der Geſtalt, des urtuͤmlichen Bildes als eines Letzten, vor dem jede kauſale Betrachtung und erſt recht jede ma the matiſch⸗mechaniſche verſagt. Das urtuͤmliche Bild in den Mythen: Plötzlich ge- wannen die Forſchungen J. J. Bachofens über das pelasgiſche Jeitalter ebenſo Bedeutung, wie Schellings mythographiſcher Verſuch Aber „Die Gottheiten von Samothrake“, und nicht zuletzt beruht hierauf das Intereſſe, das man den Lei ſtungen von Frobenius entgegenbringt (vgl. Jiegler: Das heilige Reich der Deut- ſchen). Das urtuͤmliche Bild in unſerer eigenen Seele: Die Forſchungen Jungs, Adlers, Freuds, bei aller Einſeitigkeit und Schiefbeit, die z. B. Theodor Leſſing bloßſtellt, haben doch dieſes eine gezeigt: in welchen dunklen Tiefen unſer See liſches beheimatet iſt. Und zwiſchen dieſen beiden Tiefenwelten, Bilderwelten er⸗ (diem ein ſeltſamer und erſtaunlicher Parallis mus. Das urtumliche Bild in der Bio⸗ logie: Sier hat ſich am erſten und auffaͤlligſten das Verſagen der naturwiſſenſchaft⸗ lichen Aategorien offenbart, fo daß reſtlos und radikal die Autonomie des Lebens vor der mathematiſch · mechaniſchen Geſetzmaͤßigkeit erkannt und anerkannt wer- den mußte (Drieſch).

Buͤndig zuſammengefaßt : ein neuer Begriff der Natur tat ſich auf, der nicht nur auf der einen Polariſation des Naturbegriffs: bewußte Erkenntnis ihrer „Be- ſetze contra Chaos aufgebaut war, auch keine Naturphiloſophie nach Saeckels oder Oſtwalds Muſter und Methode, ſondern der auch alles primär Schoͤpferiſche, ulles urſpruͤnglich Seiende, alles Unbewußte, alles kosmiſch Ganze, alles ideen haft Jugrundeliegende mit umfaſſen wollte, ein Ganzheitsbegriff der Natur in faſt ver · wegenem Verſtande, dem keine Naturwiſſenſchaft engen Sinns genügen konnte, ſondern nur eine „neue Naturphiloſophie“.

Das Grundlegende über dieſen neuen Naturbegriff auszufuͤhren, iſt bier nicht der Raum; es genugt auch auf fo Bekanntes und Vorzuͤgliches hinzuweiſen wie Ernſt Michels „Goethes Weltanſchauung und Naturdeutung“ (E. Diederichs), dem man ergänzend zur Seite ſtellen möge, was in A. J. Obenauers vorzuͤglichem Soͤlderlin · Novalisbuch (E. Diederichs 1925) über die „magiſche Naturanſchau ;

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ung” des Novalis geſagt iſt. Oder es ſei die etwas zu allgemeine, aber das Wefent- liche umſchreibende Stelle aus dem Nachwort erwähnt, mit dem Gunther Ipſen die Aus gabe der Naturwiſſenſchaftlichen Schriften Goethes beſchließt, die der In ſel verlag eben erſcheinen läßt (innerhalb feiner ruͤhmlichſt bekannten Ausgabe der ſaͤmtlichen Werke Goethes, der vollſtaͤndigſten, die es außer der zum Teil vergriffe · nen großen Weimarer Ausgabe zur Jeit gibt). Dort heißt es:

„Es iſt aber nicht ſchwer zu ſehen, daß in unferer Zeit des Übergangs der Geiſt ſich anſchickt, eine neue Wendung zu nehmen; daß in der Gegenwart des Alten Unruhe, Langeweile, Verzagen und ein böfes Gewiſſen einreißen; daß da und dort ein Neues, noch un vergoren, aufſchaͤumt. Dieſe Wendung läßt ſich, ſoweit die Wiſſenſchaft daran teilhat, bezeichnen durch drei Züge: die Wiſſenſchaft ſieht ihr yphiloſophiſches Ingrediens“ nicht mehr als ſchaͤdlichen Rückſtand an, ſondern weiß wieder, daß fie ohne dies nichts iſt, weiß, daß dies ihr feſter Boden, ihre wahr haft bewegende Araft und ihre letzte Rechtfertigung iſt. Und die Philoſophie ſelbſt bat den Mut wiedergewonnen, das „Abenteuer der Vernunft“ zu beſtehen; jenes Abenteuer, das trotz aller Gefahren von Anbeginn ihr Weſen ausmachte, ihren Rang beſtimmte und ihre Bedeutung erwirkte.

Jum andern hat der Gedanke ſich wiederum dem Gegenſtaͤndlichen zugewendet; erkennend, daß der Blick nach innen in einem bloßen Jwiſchenreich von Schatten und abgeleiteten Erſcheinungen verweilte. Dem neuen Blick aber ſteht auch die Welt neu und wunderbar entgegen; und alle Dinge und Bräfte find ihm voll eige- nen Weſens.

Zum dritten iſt die Zeit des duͤnnfluͤſſigen Verſtandes und feiner Untiefen, feiner leeren Weite und Breite überbräffig geworden. Sie hat in allen Dingen eine eigene Tiefe wiedergefunden und Rang und Ordnung unter ihnen; beglädt und erfchät- tert iſt fie der unzerſtoͤrbaren Ganzheit innegeworden, die allem Wirklichen ein; wohnt, feiner lebendigen Bildung, der ſeligen Ruhe und des bacchantiſchen Tau- mels feiner Wandlungen. Allůͤberall umgibt uns nun ein uͤberſchwang von Ge- ſtalt und Sinn.

In alledem begegnet ſich das neue Streben mit Goethes Wiſſenſchaft: in der Be; jahung des metaphyſiſchen Gehalts, in der Wendung zum Gegenſtaͤndlichen, in der Entdeckung der Geſtalten.“

Über die moͤglichkeit einer ſolchen „zuſammenſchauenden Naturdeutung“, die weit davon entfernt iſt, das Odium einer ausſchweifenden naturphiloſophiſchen Begriffsdichtung und einer zuchtlos · ſchwaͤrmeriſchen nebelhaften Naturklitterung zu verdienen, über die methodiſchen Grundlagen und ihre erkenntnistheoretiſche Berechtigung und Klarung orientiert vorzüglich ein Aufſatz Ernſt Caſſirers „Goethe und die mathematiſche Phyſik“ (in „Idee und Geſtalt“, Bruno Caſſirer 1921), dem zur Ergaͤnzung binzugefägt werde: Wilh. Troll, „Geſtalt und Geſetz“, Verſuch einer geiſtesgeſchichtlichen Grundlegung der morphologiſchen und phyſio · logiſchen Forſchung (in „Flora oder Allgemeine botaniſche Jeitung“, Verlag Guſtav Fiſcher, Jena 1925). Ferner muß immer wieder hingewieſen werden auf Keopold Jieglers „Geſtaltwandel“ und „Das heilige Reich der Deutſchen“, vor allem, damit man die letzten weltanſchaulichen Bonfequenzen dieſer Einſtellung erkennen und wuͤrdigen lernt. Dort iſt auch mit tiefſter philoſophiſcher Beſinnung die Gegenüberſtellung der beiden moglichen Welterkenntnis hemiſphaͤren voll zogen, die des mechaniſchen und des organiſchen Weltbildes, die geeignet ſind, nicht

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einander zu verdrängen, ſondern zu ergänzen. Bei der heutigen Geiſteslage und der noch beſtehenden Vorberrſchaft kauſal⸗mechaniſcher Betrachtungsweiſe iſt natur lich zunaͤchſt eine Betonung der ungewohnten und vernachlaͤſſigten Weltanſicht unbedingt von Noten, und es iſt eine mit aufrichtiger Freude zu begruͤßende Er⸗ ſcheinung, daß im Verlag von E. Diederichs gerade jetzt eine Schriftenreihe heraus kommt, die zur „Neubegründung der Naturphiloſophie“ helfen ſoll, indem fie an die älteren vergeſſenen Schriften verwandten Geiſtes anknuͤpft und dieſe mit neue⸗ ren verbindet: Die Sammlung „Gott - Natur“, herausgegeben von Dr. Wilh. Rößle.

Es iſt nur naturlich und gerecht, aber auch von hoher und beglückender Symbo⸗ li, daß dieſe Sammlung in ihrem J. Bande mit „Goethes morphologiſchen Schrif⸗ ten“ beginnt. Alles, was ſich im oben nur angedeuteten Sinne mit der Natur⸗ erfaſſung und deutung beſchaͤftigt, findet, wenn auch Wurzeln und Analogien weiter nach ruͤckwaͤrts verfolgt werden konnen, in Goethes Morphologie fein Ur⸗ bild. Er hat Namen und Begriff dieſer Wiſſenſchaft und man kann ſagen auch ein Haffifches Beiſpiel ihrer Methode geſchaffen. Es iſt andern Orts in dieſer Jeitſchrift bereits darauf hingewieſen, daß alles, was ſich heute in dieſer Richtung bewegt, letzten Endes auf Goethe zuruͤckgeht. Die Ausgabe dieſes Bandes der morpholo · giſchen Schriften iſt von Wilh. Troll aufs gruͤndlichſte und liebevollſte eingeleitet, ausgewählt und kommentiert worden und bat den großen Vorzug, mit einem Schatz von Abbildungen verſehen zu ſein, die teils von Goethe ſelbſt herruͤhrende Tafeln, teils Stiche aus Werken der Jeitgenoſſen, aber auch viel eigene Jeichnungen des Serausgebers zeigen. In den hundert Seiten der Einleitung wird aus reicher Kenntnis und mit großem Geſchick die wiſſenſchaftliche, weltanſchauliche und re · ligidfe Bedeutung der Arbeit Goethes dargeſtellt.

Eine erfreuliche und erſtaunliche Uberraſchung wird für viele der Name C. G. Carus bedeuten, aus deſſen hberreihem Schaffen hier die „Pſyche“ aufgenommen iſt. Cudwig Klages, der Carus wiederentdeckt hat und ſelbſt an dem Ausbau des neuen Weltbildes hervorragend beteiligt iſt, bat dieſes Buch eingeleitet und kom; mentiert, feine Schwaͤchen nicht verbergend es find hier weltanſchauliche Gem- mungen in einem „ins chriſtliche gebogenem Platonis mus“ zu ſpüͤren —, aber feine ungeheure Bedeutung fuͤr eine wahre Seelenkunde, eine „Entwicklungsgeſchichte der Seele“, wie der Untertitel des Buches lautet, ins Licht ſtellend. „Sonderbar”, beißt es bei Novalis, „daß das Innere des Menſchen bisher nur fo dürftig betrach · tet und fo geiſtlos behandelt worden iſt. Die ſogenannte Pſychologie gehort auch zu den Larven, die die Stelle im Seiligtum einnehmen, wo echte Bötterbilder ſtehen follten”. (Fragmente) Die „Pſyche“ des Carus gehört nicht zu den Larven. Sier iſt Pſychologie eine wirkliche Morphologie des Seeliſchen, und was das Be⸗ deutſamſte iſt: eine Einordnung des Seeliſchen ins Organiſche und Bosmifche, die wunderbar befreit und beruhigt. „Das Unbewußtſein die Wurzel des Bewußtſeins und demgemaͤß das, wodurch jedes Einzellebendige geſpeiſt wird aus dem All⸗ gemeinleben des Alls, in das es naͤberungsweiſe periodiſch im Schlafzuſtande, end⸗ gültig aber mit dem unabwendbaren Tode zuruͤcktaucht, das iſt, lapidar geſprochen, der Gedanke, aus dem die Seelenkunde des Carus geſchoͤpft hat“. Die Seele lebt ſich dar im Leibe. Dieſem fundamentalen Satz des Carus, der die Trennung von Leib

Goethes „Farbenlehre“ wird, herausgegeben von 3. Wohlbold, als weiterer Band der Sammlung „Gott Natur“ gegen Ende des Jahres 1926 erſcheinen.

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und Seele, Materiellem und Immateriellen und ihre problematiſche Verbindung (Parallelismus oder Wechſelwirkung) aufbebt, dieſem eminent ſynthetiſchen Satz, der nicht zulaͤßt, daß eine gegebene Einheit erſt analyſiert und dann ſynthetiſiert, erſt differenziert und dann integriert wird, braucht man nur den übergreifenden anzu- fügen : Gott lebt ſich dar in der Natur und man hat den hoͤchſten Naturbegriff, von deſſen „Polariſationen“ am Anfang geſprochen worden iſt, der der aus hun⸗ derten von Ausſpruchen zu belegende Natur und Gottes begriff Goethes war, und man verſteht den ſymboliſchen Titel dieſer ganzen Schriftenreihe : Gott Natur. An dem engeren Beifpiel der Seelenkunde iſt hier das Beſtreben dieſer „Natur⸗ pbilofopbie” im Ganzen zu erfaſſen, ihre Vereinigung des Auseinandergebroche⸗ nen in der lebendigen Geſtalt, ihre kosmiſche „Phaͤnomenologie“, die eine kos · miſche Symbolik, eine Bild und Sinnbild wirklichkeit im Größten und Kleinſten darſtellen fol, nicht eine Vernunftwirklichkeit abgezogener Geſetze, nicht eine Wirk. lichkeit der die Erſcheinungen tranſzendierenden Atome, Energien, Quanten, nicht eine Wirklichkeit der die Erſcheinungen ebenſo tranſzendierenden Geiſt⸗, Ideen ;, Abfolut- oder Gottheitsſphaͤre: ſondern eine Wirklichkeit ideendurchwirkten, gott- durchwirkten Daſeins in der Geſtalt, im Bild und Symbol.

In dem Sinne des Goetheſchen Satzes, daß Morphologie auf der Überzeugung

beruhe, daß alles, was ſei, ſich auch andeuten und zeigen mäfle, hat Carus auch eine „Symbolik der menſchlichen Geſtalt“ geſchrieben (erſchienen bei Niels Bamp- mann, Celle 1925), die Theodor Leſſing mit einem ausgezeichneten Vorwort be- gleitet und bis auf die typologiſche und charakterologiſche Forſchung unferer Zeit fortfuͤͤhrt. (Soͤchſt bedeutſam hierbei eine Polemik gegen den Gebrauch des Wortes Phaͤnomenologie für ideologiſche (Spenglers Aulturmorphologie) und logoma ; thiſche (Suſſerl) Vernunftſchau, feine ſtrenge Scheidung von Geſtalten · Formen ;, und Ideenſchau). Was für Carus eine umfaſſende Symbolik bedeutet und dieſe für eine „neue Naturphiloſophie“, das geht aus folgendem Satze dieſes Buches ber- vor: „Im böchften Sinne ſtreben wir dahin, die Welt überhaupt als das Symbol des hoͤchſten ewigen Myſteriums der Gottheit und den Menſchen als das Symbol der göttlichen Idee der Seele anſchauen und verſtehen zu lernen, und indem in die ſem Sinne unermeßliche und unendliche Aufgaben ſich herausſtellen, zieht die Sym⸗ bolik eigentlich das ganze Gebiet des Ros mos einerſeits, wie anderſeits das Gebiet der Morphologie und Phyſiologie in ihren Bereich. Man kann fagen, die Symbo- lik werde auf dieſe Weiſe uͤberſinnlicher und ſinnlicher zugleich, gegen die der ver⸗ gangenen Jeiten. . .. So erkennt das rechte Schauen der Wiſſenſchaft unſerer Jeit in den myſtiſchen Spiralbewegungen der Geſtirne das Symbol der Unendlich⸗ keit der Welt, es erkennt in dem Verhaͤltnis von Sonne und Planet ein unmittel- bares Symbol der wunderbaren Wechſelwirkung eben jener hoͤchſten maͤnnlich be · fruchtenden und begeiſtigenden, ſowie der weiblich empfangenden und geſtaltenden MNaturkraͤfte, ibm iſt die Pflanze mit ihrer geheimnis vollen Entwicklung das Sym :; bol der unbewußt ſich darlebenden Seele, und der Menſch hinwiederum, in der vollen Unergruͤndlichkeit, Weisheit und Unermeßlichkeit feiner Organiſation, wird ibm als Mikrokosmus zum Ebenbilde der Welt und Weltſeele überhaupt.“

Eine ganz gründliche und klare Einfuhrung in „die Pſychologie des C. G. Carus“ von Chriſtoph Bernoulli erſcheint gleichzeitig bei E. Diederichs (1925). Sier wird Carus in die Juſammenhaͤnge des romantiſchen Denkens uͤberbaupt eingeſtellt,

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ſeine genetiſche Methode gezeigt, die eine Erfaſſung der ſeeliſchen Erſcheinungen durch die Beobachtung der fruͤheſten Regungen und letztlich ihrer Analogien im unbewußten organiſchen Vorgang erſtrebt, wird die Entſtehung des Bewußtſeins nach Carus geſchildert, und vor allem wird die Linie ſeiner Forſchung bis zu Ludwig Klages verfolgt. Wer die Flare und reife Beftalt des Carus, die fo goethe · nahe Luft feiner Schriften lieben gelernt bat, findet in Bernoullis Heiner Arbeit einen willkommenen Deuter.

Daß Carus neben Goethe die geradezu klaſſiſche Perſoͤnlichkeit der Epoche war, an die die vorliegende Sammlung anzuknüpfen ſucht, wird aufs ſchaͤrfte deutlich durch den Band „Romantiſche Naturphiloſophie“, ausgewählt und eingeleitet von Chr. Bernoulli und Sans Bern. Er enthalt Auswahlen aus den Schriften völlig vergeſſener oder nur dem Gelehrten bekannter romantiſcher Naturphilo⸗; ſophen. Söchſt intereſſant iſt dieſer Band durch die Darſtellung einer nahezu gleichen Grundrichtung in den Medien verſchiedenſter Charaktere und Tempera mente. Da ſtehen die eigenwilligen, faft gewalttätigen, paragrapbierten Saͤtze Okens, des Serausgebers der „Iſis“, des Gründers der Verſammlung deutſcher Naturforſcher und Arzte in Leipzig, des Heinen, bageren, impulfiven, ſchwarz haarigen Mannes mit dem ſüdlaͤndiſchen Teint, Säge, die ftellenweife verbläffen, widerſinnig anmuten, und dann wieder Gedanken wie CLichtblitze, wie Entladun⸗ gen ungeheuer geſpannter intuitiver Energie. Man vergleiche den Satz: „Jede Jeugung fängt mithin von vorn an. Die organiſche Maſſe muß wieder in das ur · ſpruͤngliche Chaos aufgeldft werden, wenn wieder etwas Neues entſtehen fol” mit Drieſchs „barmonifcdh-aequipotentiellem Syſtem!“ Neben Ofen ſteht die ruhige Geſtalt Friedrich Sufelands, die welt maͤnniſche Dietrich Georg v. Biefers, die paſto⸗ rale Gotthilf Seinrich v. Schuberts, die wild genialiſche des ſtreitſuͤchtigen Ignatius Paul Vital Trorler und die vornehme des Carl Guſtav Carus. Es find außer dieſen vertreten, um auch die ubrigen Namen noch zu nennen: Job. Baptiſta Friedreich, Wilh. Butte, Aarl Friedrich Burdach, Giovanni Malfatti, Gottfr. Reinhold Treviranus. Es iſt unmoglich, den reichen Inhalt gerade dieſes Bandes zuſammenzufaſſen; alle großen Themen einer Naturpbiloſophie werden hier be · ruͤhrt, vor allem die Grundprobleme des Organiſchen in feinem Verhaͤltnis zur Pſyche einerſeits und zum Kosmos andererſeits, des Bewußten zum Unbewußten, die große kosmiſche Symbolik, des Waſſers, des Feuers 3. B., die Grundzuͤge einer organiſchen Betrachtung auch des Anorganiſchen: die „Lebens bewegungen der Erdveſte, der Erdatmoſphaͤre, des Erdgewaͤſſers, des Erdfeuers ! (Carus): letzten Endes ein Bemuͤhen um die Einheit der Welt, eine Geſtalteinheit, eine rieſige Phaͤnomenologie und Phyſiognomik des Ros miſchen, Verſuche gewiß und Bruch; ſtuͤcke, aber in ibrem Fragmentcharakter dennoch Anregungen und vielleicht Bau⸗ ſteine einer neuen Welt.

Endlich ſei noch des Bandes „Der Urſprung der Naturphiloſophie aus dem Geiſte der Myſtik“ von Barl Joel gedacht (bereits fruher erſchienen, jetzt in die Reihe aufgenommen). Sier wird der Nachweis gefuhrt, daß in dem myſtiſchen Allein heits gefühl die philoſophiſche Einheitsdeutung der Welt ihren Urſprung babe. Um begreiflich zu machen, daß wirklich die erſte europaͤiſche Naturphiloſo⸗ phie, die der Vorſokratiker, myſtiſcher Wurzel ſei, wird zunaͤchſt an der Naturphilo ; ſophie der Renaiſſance gezeigt, daß die hohe Jeit der Myſtik, die Gott ins Innere zieht, auch die Welt vergoͤttlicht und Gott verweltlicht; im myſtiſch erfaßten Gott

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fei dem Menſchen zuerſt die Totalität der Welt ans Serz gelegt, die Naturferne zur Forſchung nahegebracht worden. Ebenſo ſei eine myſtiſch lyriſche Subjektivität, ein orphiſcher Uberſchwang mit dem Erwachen der antiken Naturphiloſophie gleichzeitig. Das Waſſer des Thales, das Unendliche des Anaximander, die Luft des Anaximines, das Feuer des Seraklit: das alles iſt das myſtiſche Unendlich Eine, immer mehr verfeinert, von immer heißerem Lebensgefühl gebrängt, immer lei denſchaftlicher ausgeſagt. Die myſtiſche Einheit eines Allgefähls iſt die Wurzel des kosmiſchen Denkens. Den Schluß bildet eine Parallele zwiſchen dieſen erſten und den vorläufig letzten Naturphiloſophen, den Romantikern.

Mag dieſe geiſtreiche Deutung berechtigt ſein oder nicht „alles Vergangene iſt preisgegeben“, heißt es bei Nietzſche mag der Urſprung der Naturphiloſophie bier oder dort liegen, mag es wenig bedeuten, hier nach Urfprängen uberhaupt zu fragen, das Jiel iſt dies wirklich und wahrhaftig: eine verlorene Einheit wieder⸗ zugewinnen, die Einheit von Seele und Leib in der beſeelten Geſtalt zu erleben, die Einheit von Erſcheinung und Idee im lebendigen Bild zu ſchauen, der Einheit vom Unbewußten und Bewußtſein im Leben inne zu werden und zuletzt und zu ; hoͤchſt: die Natur in Gott, Gott in der Natur immerfort gewahr zu werden und offenbar zu haben. paul Wegwig

: 1772 Wie oft baben wir es bei Geſpraͤchen erlebt, daß die Grenzen der begrifflichen Gangbarkeit erreicht wurden, und der Ausruf: „Das tft das Chaos“ vor jedem weiteren Schritte zuruck hielt. Die Empfindung, daß es ſich um eine Grenze und jenſeits die ſer Grenze um eine Region handele, war alfo bereits immer innerhalb dieſer Situation vorhan ; den und war in dieſer Weiſe wirklich gegenwaͤrtig.

Doch wie es mit allen wegloſen und bedrohlichen Regionen iſt, wie es einſt beim meere war, vor einigen Jahrzehnten noch bei der Luft, fo iſt es auch bier, der menſchliche Geiſt ſucht Wege in das ſcheinbar Unwegſame zu legen, feien dieſe Wege nun Gedankengaͤnge oder wirkliche, konkrete Wegbahnen. So ſehen wir das Chaos als eine Region an die Welt der bereits uns moglichen Gangbarkeiten gren · zen, wobei die logiſch begriffliche Weglegung (Idee) lediglich als ein vorauseilender Entwurf für die ſpaͤter nachfolgende konkrete Weglegung zu denken wäre.

Dieſe Region des Chaotiſchen von der wir nicht wiſſen können, ob aus ihr über die Bewältigung durch Gedankengaͤnge nicht eines Tages wirklich beſchreit⸗ bare und konkrete Wege in die noch ungangbare, ungeordnete Grundmaterie hinein ſichtbar werden (etwa in Art von Erfindungen und Entdeckungen) ſehen wir als ein neues unerforſchtes Reich vor uns liegen.

Ganz bewußt, das Chaos in dieſem komplexen Sinn direkt anſprechend, verſucht Friedrich Grave in feinem Buche „Chaotica ac Divine“ Stufen in eine Region zu legen, die man bisher als das eigentlich Stufenloſe anſah. Ein tieferes Reich iſt es und kein Hlaſſiziſtiſch ſtarrer Begriff der Wegloſigkeit, den wir vor uns ſehen. So wie etwa Goethe bereits das „Reich der Muͤtter“ unterweltlich chaotiſch ſab, in dem die Geſtalten dieſer Welt ihren Urſprung nehmen, und von wo aus ſie be⸗ dingt ſind.

Das alfo, was im 2. Teil des Fauſt die Erſcheinung der Selena ermöglicht, das Vorhandenſein einer urbaften Region unter der Ebene unſerer raum zeitlichen Eugen Diederichs Verlag in Jena. br. M Jo.—, geb. M 13.—

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Tage, wird hier als chaotiſches Reich abgegrenzt. Bei dieſem Vorgange aber zeigt ſich ſchon, daß eine chaotiſche Region ſchon „tiefer“, nicht aber prinzipieller „Miſch⸗ maſch“ iſt, ſo daß es dem ſchoͤpferiſch Denkenden und ſicher Schreitenden moglich tft, hier noch Wege zu geben.

So finden wir in Graves Buch das Chaos feiner myſtiſchen Verdunkelung ent- ruckt, fo etwa wie die Chemie der Alchemie gegenuber den chemiſchen Stoff ent; růͤckte, ohne doch dieſen Stoff an ſich zu leugnen oder abzulehnen. Der im Fauſt ge ; gebene zauberiſche Weg iſt hier begrifflich ausgelegt und erweiſt ſich als eine gang · bare Ordnung unterſter Weltenftufen. Sier liegen: Gehalt, Ordnung, Geſtalt und Bildung.

Der innere, geheime Baugedanke der „Chaotica ac Divina“ wird gleich zu Be⸗ ginn des Buches deutlich. Auf das Erlebnis wird zugunſten der philoſophiſchen Erkenntnis nicht verzichtet. Beine reine Syſtemphiloſophie tritt uns entgegen, ſondern der Denker formt das Werk als Geſtalter einer tieferen Realität. Im Goe⸗ theſchen Sinne einigt ſich hier Erleben und Erkennen.

Die Möglichkeit, Stufen in ein unbekanntes und nie betretenes Gebiet zu legen, wird ſo dem Erlebnis der „Inſtanz“ entnommen. Dieſes Wort, gebraucht wie alle Worte, zeigt bei genauerem Eingehen auf feinen inneren Sinn, eigenartige r⸗ ſchließungskraͤfte. So läßt es der Autor ſelbſt zu Wort kommen und, als weibliche Erſcheinung perſoniſiziert, enthüllt es fein eigentliches Weſen. In einem nächt- lichen Iwiegeſpraͤche erleben wir es gleichzeitig mit, fo daß über ein Erlebnis das Wort feinen Begriff uns Abermittelt. Dieſe „Inſtanz“ iſt die Möglichkeit und das Wefen jeder „Stufe“, iſt eine baſis hafte und periphere Funktion, die fo die „Tiefe“ gangbar machen kann, indem man ſich auf ſie verlaͤßt. Von dieſem Erlebnis aus koͤnnen ſich beſtimmte Begriffe als baſis hafte Ebenen und Stufen erweifen, die das Beſchreiten einer unbekannten Region, bier die der Chaotica, ermöglichen.

Dieſes Buch der erſtaunend Haren Erkenntniſſe liegt alſo auf einem Erlebnis und in dieſem Erlebnis liegt gewiſſermaßen das Volumen, aus welchem der ſpaͤtere Er⸗ kenntnisweg diſtanziert wird. Daß dies Erlebnis eines funktionellen Momentes ge zeigt und als Erlebnis betont wird, iſt weſentlich und führt uns den lebendigen menſchen vor, wie er ſich mäht und vorwärts ſtrebt, im Gegenſatz zu dem vom Batbeder verkündigten abſtrakten Syſtem einer Welt. Sier wird der periphere, menſchliche, blutwarme Anſchluß an die Welt und an das Leben nicht geleugnet, ſondern zur Debatte geſtellt.

So folgen wir dem Denker mit dem Gefühle, daß er menſchlich⸗ſinnlich, wie geiſtig · logiſch zulaͤnglich den Weg zu faſſen vermag und ſchreiten mit ihm auf der Folge von Stufen, die er von den Chaotica durch die Region der Concreta und Ab- ſtracta zu den Divina gelegt hat. Wohl mögen die Stufen nicht jedem einzelnen perſoͤnlich wie koͤrperlich ganz gerecht liegen, über die Tatſache, daß es gangbare Stufen find, wird man kaum ſtreiten konnen, denn fie find belegt und gefeſtigt durch die Aus ſpruͤche unſerer größten Denker und Dichter. Sie alle, die heran gezogen werden, ſagen aus, daß ſie an eben dieſen Stellen aͤhnlich empfunden und über fie aͤhnlich gedacht haben.

So bietet ſich uns die ſichere und erſtaunlich geſpannte Stufenfolge als eine Vierteilung dar, die in weitere Viertel und Unterviertel zerlegt iſt. Dieſe „Vier einigfeit” ergibt: Chaotica, Concreta, Abſtrakta und Divina als eigentliche Re; gionen; Gehalt, Ordnung, Geſtalt, Bildung, als Stufen des Chaos; Stoff, Ari ·

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ſtall, Pflanze, Tier, als Stufe der Concreta; Beziehungen, Vorgänge, Beſchaffen · heiten und Gegenſtaͤnde als Stufen der Abſtrakta und ſchließlich das Gute, das Schöne, das Wahre und die Ewigkeit als Stufen der Divina. In dieſem Sinne des numerus mysſicus gegliedert, vermögen wir es die Welt zu überblicken.

Dies waͤre das Buch.

Die Philoſophie, welche Grave vertritt, iſt einer ganzen Bewegung, welche in voller Entwicklung iſt, zuzurechnen. Sie iſt viel konſequenter als es der Autor ſel⸗ ber zu vermuten wagt. Es ſei aber geſagt, daß ſich aus feinen Gedankengaͤngen die volle Bonfequenz der Bewegung entwickeln läßt. Diefe Bewegung iſt nicht nur die Neubegruͤndung einer auf letzten wiſſenſchaftlichen Erkenntniſſen ruhenden Na⸗ turpbilofopbie, ſondern zielt auf die Erweiterung des Raumes ſchlechthin, der dem ſuchenden Menſchen ftets fo viel aus feiner Fülle als Lebens platz zukommen läßt, als eben dieſer vertragen und ertragen kann. Wir ſehen, blicken wir genauer hin, Naturerkenntnis und Naturbeherrſchung auf das innigſte verknuͤpft und durfen ſehr wohl von einer Erweiterung des Raumes dort ſprechen, wo es uns gelingt, ihn tiefer zu erkennen und zureichender zu beherrſchen.

Das Euklidiſche Raumbild, wie wir es in der dreidimenſionalen Bewältigung des Raumes haben, hat fein Moͤglichſtes innerhalb einer Lebensſtilſtufe bereits ge⸗ leiftet und in unſerer Zeit ſpüͤren wir nur zu deutlich, daß die Kulmination bereits uͤberſchritten iſt. Wir fteben in der Vollendung einer Raumbewaͤltigung, welche in unzähligen Euklidiſch⸗kaſten haften Regiſtraturen (konkret wie abſtrakt) die Orga · niſation für einen beſtimmten Lebensſtil bereits geleiftet hat. Hier ſehen wir Jim⸗ mer neben Zimmer, Schrank neben Schrank, Baften neben Baften und Begriff neben Begriff und haben eine muſeen hafte Ordnung der Weltphaͤnomene vor uns. Ja die Form felber, oder, beſſer geſagt, daß, was wir in dieſem Lebensſtile als For⸗ men empfinden, ift Euklidiſch wandhaft feſtgelegt. Stolz halten die Formenkom⸗ plexe ihre Oberflaͤche als Begrenzung nach außen, weil an dieſe geglaubt wird. Doch ſchon taucht aus der ungeheuren, wiſſenſchaftlichen Regiſtratur, ja aus dem Komplex der Formen felber die Frage nach einem zulaͤnglicherem Formenbegriff auf, oder, anders ausgedrückt, nach einem neuen Raumbild. Die Struktur iſt es, welche ihren Platz in der Form, wie neben der Form verlangt. Es iſt keine Form ohne Struktur moglich, fo heißt die Parole unſerer augenblicklich modernſten Sor- ſchung. Ob wir die Elektronen · Theorie, die Atomzerfallreihe, das elektromagne : tiſche Schwingungsfeld oder die Pſychoanalyſe und den Expreſſionismus nehmen, überall iſt ein Durchbruch durch die Euklidiſch⸗ wandhafte Grenze der Form die bis her als zulaͤnglich empfunden wurde hin zur Innenſtruktur zu ſpuͤren.

Eben dieſer Forderung wird auch Grave in ſeiner Philoſophie, gewiſſermaßen von der Metaphyſik her, gerecht. Er ſieht eine Struktur der Welt noch in allen den Komplexen, die wir als konkret oder abſtrakt, ſtets aber hoͤchſt wandhaft · begrenzt handhabten. Durch die Erkenntnis aber, daß allen konkreten Weſenheiten, wie auch allen abſtrakten Weſen heiten chaotiſche Strukturprinzipien innewohnen, oder anders ausgedruckt, daß unſere Welt auf einer tieferen Region objektiver Chaotica liegt, wird die Sandhabung und die Erkenntnis unferer Welt erweitert.

Der Blick, der gleichſam bisher nur bis zur Oberflache der konkreten und abſtrak⸗ ten Bomplere drang, wird, tiefer dringend, die Form allein unter Einbeziehung der Struktur anerkennen.

So ſehen wir dieſe Philoſophie aktuell in der Gruppe neuzeitlichſter Bemuͤhun⸗

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gen ſtehen. Allen denen, die nicht erſt dann, wenn hoͤchſt oberflaͤchlich die Dinge ihren Dienſt verfagen, ſich bilfeſuchend an die Umwelt wenden, ſondern daran arbeiten, die Möglichkeiten und den Grund, eben dieſes Verſagens in die Sand zu bekommen, wird Graves Buch von größter Wichtigkeit fein. Sier iſt wieder ein Weg gezeigt, der ſubalternen Einſtellung, den Ereigniſſen gegenuber zu entſprin⸗ gen und aktiv durch Tiefe der Erkenntnis und daraus entſpringender Moͤglichkeit einer Sandhabung, die Fäden in die Sand zu bekommen, welche das große Spiel des taͤglichen Lebens dirigieren. Fritz Senning

Die heranwachſende Generation lebt und leidet ſich

Sarbe und Daſein mit „vertauſchter Seele“ in ihr Jeitbild ein. Sie iſt unentrinnbar einem anderen, heraufdaͤmmernden Gotte börig, einer anderen fie wirkenden Ordnung, einem anderen Sein und Werden. Sie hat mit den Erleb⸗ niſſen, Erfahrungen, Geſtaltungsprozeſſen, Idealen und Symbolen des von ihr abfallenden Geſtern und Vorgeſtern nichts mehr zu tun. Sie iſt ausgeſtoßen und doch wieder ins neue Bildnis eines ungeheueren Anfangs eingeſetzt. Sie iſt Opfer und heroiſcher Auftakt zugleich. Der von Oswald Spengler uͤber ſie verhaͤngte „Untergang“ ift für fie ein ſchmerzliches Gericht. Doch fie gibt ſich dieſer Suͤhne willig hin. Sie laͤutert ſich am Zweifel, an der Nacht ihrer Stunde hoch. Auch fie ſpuͤrt dunkel eine gewaltig und unbezwingbar fie draͤngende Miſſion. Sie fühlt ſich von anderen Stimmen angerufen und von anderen Geſichten bewegt, als ſolche ſich auftun in den Untiefen einer allzu rationaliſtiſch⸗peſſimiſtiſchen Weltbetrach · tung. Auch fie will den tieferen, außer / und uͤberzeitlichen Sinn ihres Lebens er- fahren: Auch fie will bejahen konnen, auch fie iſt ein Ich, das ſich in bitteren Bämpfen ins Du einruft, auch fie iſt eine Sehnſucht, ein Wille, und ein Jiel. Und eine Gemeinſchaft.

So ſehr die verſchiedenen Gruppen und Fuͤhrerſchaften auseinander zu gehen ſcheinen, ſo eindeutig und einzielig ſind ſie nach einer Richtung hin in Bewegung, es iſt ein und dieſelbe Stimme, die ſie ſpricht, es iſt ein und derſelbe magiſche Jug, der ſie antreibt, praͤgt und ſammelt.

Aber es iſt auch ein und derſelbe Daͤmon, der fie anfällt und bedroht, es iſt ein und derſelbe Rhythmus, der ſie durchſtampft und ſie „verzeitlicht“, es iſt ein und das ſelbe raſende Ungeheuer, das in ibre Welt eingebrochen iſt: die Maſchine.

Wo und wie auch immer der heutige Menſch ſich herauszuſondern vermag aus den Taten und ſchreienden Wirklichkeiten ſeiner Jeit, wohin und wo hinauf er ſich immer zu flüchten imſtande ift, ob hinein in feine eigene innere grund / und gott · ſichtige Tiefe, oder hinauf in die Sphaͤren einer noch in unberuͤhrter Klarheit ſich ſpiegelnden Natur: immer iſt es dieſer eine, Flirrig vorſtoßende, aufbeulende Takt, der bereintönt in die fernſte Abgeſchiedenheit der Seele: die Maſchine.

Sie iſt das ſinnlich⸗dinglichſte Symbol unſerer Jeit. Sie iſt der Seros, der „un⸗ beswingbar ſtuͤrmende Geld”. Sie iſt die tragiſche Geburt einer aus ſich ſelber mächtig gewordenen Technik, fie iſt der aus Eiſen und Kupfer getuͤrmte Luzifer unſerer in Ohnmacht ſich duldenden Welt. Ihre Rotation iſt der Rhythmus unſerer Sprache, unſeres „juͤngſten“ ſchoͤpferiſchen Ausdrucks, unferer „dionyſiſchen

* W. Steinfels, „Farbe und Daſein“ (Grundzüge zu einem ſymboliſchen Weltbild). Verlag von Eugen Diederichs in Jena.

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Mmuſit und unſeres unſaͤglich vernaͤchtigten, ſeeliſchen Ablaufs. Was anderes iſt denn der Kubismus als der magiſch⸗ vollzogene Akt, der über ſich lebendig gewordenen maſchine? : die Maſchine als geiſtig bildneriſche Diktatur? Die Maſchine als „ros; miſches Geſchehen?“ die Maſchine als eine im oberen Jeichen wirkſam gewor · dene und gegen den ſchoͤpferiſchen Menſchen vorbrechende okkulte Beſchwoͤrung?

Wo immer ſich ein Leben in asketiſcher Verſenkung bereitet, immer wird es uͤberfallen und geſchreckt von dieſem naͤchtlichen Geſicht: von der Maſchine, die ſich zum gigantiſchſten Aampfe aller Bämpfe rüftet das zum eigenen Bewußtſein aufſtrebende Eiſen wider Menſch, Tier und Nat ur.

Groß iſt dies Geſchehen. Unermeßlich und ſpontaner Anlaß zur Eroͤrterung vieler ſich bildender Probleme.

Auch die Wiſſenſchaft weiß ſich dieſer tragiſchen Wendung verantwortlich. Auch fie dringt mit immer ſchaͤrferen, genialeren Prognoſen und Sypotheſen in ihre Umwelt vor. Auch ſie iſt ergriffen von jenem Geiſte, der ſich aus „anderen“ Tiefen und Vordergruͤnden ruft. Auch fie beſinnt ſich auf die Terminologie neuer, die kreiſenden ARätfel einfangenden Begriffe. Auch fie ſchickt ſich an, neue Methoden an Stelle veralteter Syſtematik zu ſetzen, auch fie iſt mit dem zertruͤmmerten Atom dem „Rosmos“ verſchmolzen, auch fie muß über das Operationsbereich ihrer „zu Tode erperimentierten” Materie hinaus.

Auch in ihr wirkt eine neue Generation. Aber auch dieſe iſt im Banne der „Mmaſchine“. (Gegen den Andersinſpirierten marſchiert geſchloſſen die „ſchlag⸗ fertige Formation“ .)

Der Bosmos wird auf feine „Motore“, „Trans miſſionen“ und „Gewichte“ unterſucht. Selbſt der „Gott“ wird zum ſchizophrenen Automaten, und wo ſich die Bilder „magiſcher Wirklichkeiten“ nicht mehr an „Riemen“ und „Aäber” ſpannen laſſen, die Pbiole nirgends mehr die Verdunſtung eines „Stoffes“ zeigt, da iſt die obere und hintere Welt fuͤr alles ſpekulative Denken erloſchen. Da kommt der Punkt! Warum nicht das Fragezeichen? Da kommt die uneingeſtandene Kata; ſtrophe vor der „geſpenſtigen Wand“, an Stelle einer Antitheſe für eine binfällige, laͤngſt geſtorbene Behauptung.

Man loͤſt ſich von den Inhalten vergreiſter Begriffe ab, um neue Suͤllen über ſich ſelbſt tuende und wirkende „Werte“ zu ftülpen. Man fragt nicht nach dem Weſen, ſondern nur nach ſeiner Funktion. Man entzieht ſich mit der ſchlagfertigſten Rhe⸗ torił der Gefahr: das zu demonſtrieren, was man urſpruͤnglich in ſich ſelbſt be · deutet, um nur das bleiben zu dürfen, was zum zunftmäßigen Anſtand eines „vor ſichtig und nirgends entſtatutlicht beberrfchten Aatheders“ gehort.

Doch auch hier lauert die Maſchine vor den Toren. Aus ihr wird noch fruͤh genug jener Daͤmon lebendig werden, den man noch allzugeringſchaͤtzig in ſchillern · den Abſtraktionen deduziert und ſchweigend „uͤberſieht“. Auch das Weſen der Maſchine gehoͤrt zur inneren „tiefenſichtigen Naturwiſſenſchaft“, wie das „Geld“ zur praktiſchen Magie.

Die „Maſchine“ iſt des Abendlandes untergängeriſchſtes Schickſal, fie iſt des Un · geiſts hoͤchſter Triumph und des „fauſtiſchen Menſchen“ gefaͤhrlichſter Wider ſacher.

Vor allem aber bedeutet die aus der Maſchine heraus wirkende Mechaniſtik des Denkens, des ſich „Fuͤhlens“ und Erlebens die unuͤberſchaubare Gefahr. Auch in

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den Bezirken unſeres geiſtigen Lebens hat ſich die Maſchine verbegrifflicht und in den Aſpekten des Schauens und Sörens konſiguriert. Sie hat die Pupille und das Obr bereits bezwungen. Sie baut ſich im Sehen und Sören des Menſchen ihr inneres Geſicht. Sie ſpricht ſich in der Sprache, fie handelt ſich im ſpontanen Ver halten und im taglichen Tun. Die Maſchine projiziert ſich an die Formen · und Be ſichterebenen der Seele, ſie iſt es, die der heranwachſenden Generation die „Ge⸗ ſtalt“, auch die innere beſtimmt. Sie iſt es, die an den Rändern unſeres auch geiſtigen Daſeins kreiſt, und einſchickt ibre rhythmiſch · dynamiſche Beſchworenheit ins „Ober · Unter · und Tiefenbewußtſein“ des heutigen Menſchen.

Darum verfällt die heraufwachſende Jugend fo raſch und widerſtandslos dieſem alles regierenden, „techniſchen Phänomen”, darum wird fie eben dem Radio fo raſch als einer neuen Welterfahrung hoͤrig, darum iſt fie fo willenslos bebert von der „Telepathie des wellentönigen Apparates“, darum verwechſelt fie fo leicht die ſes rein phyſikaliſche Experiment mit dem Erlebnis einer „fuͤnfdimenſional“ aufgetanen und durch Antennen einzufangenden „oberen“ Welt. Darum verſinkt ſie aus der Erfahrung des wahren Wunders in das Bereich der Ehrfurchtsloſig · keit.

Sie ift dem mechaniſchen Begriff an und für ſich, dem mechaniſtiſch ſich verſinn⸗ bildlichenden Weltbilde verfallen. Die Maſchine hat ſich in ſie eingedacht. Und mit dieſem Denken vergewaltigt, ordnet ſich auch ihr Schauen ihre Vorſtel lungswelt und die Ausſprache der ihr adaͤquaten, expreſſiven Mittel und Formen.

In feinem Buche: „Farbe und Daſein“ hat ſich W. Steinfels dieſer zeitlich bedingten Ur und Tatſache bemaͤchtigt und es verſtanden, geiſtige Diſziplinen durch das mechaniſche Darſtellungs mittel zu veranſchaulichen und ſo dem mechaniſtiſchen Denken zu offenbaren. Das iſt der große Vorzug, aber auch der yaͤdagogiſche Wert der Steinfelsſchen Methodik. Steinfels treibt die Mechaniſtik durch die Mechanik aus. Seine Schau gehort mehr dem Intuitiv ⸗Viſionaͤren, als dem Reflexiv⸗; Doftrinären. Aus dem Erlebnis vor dem inneren Geſicht im ſchoͤpferiſchen Banne magiſcher Weſensintenſitaͤt baut ſich feine Welt.

Ganz im Gegenſatze zu den ublichen Publifationen moderner Exploſionswiſſen · ſchaft, die ihre Ahnungen bereits als unumſtoͤßliche Poſtulate ſetzt, die aus einem zeitbeſchworenen Erregungszuſtand heraus Phantasmagorien als Fosmifche Ma⸗ nifeſtationen, Welterlöfungs- und Welterneuerungsideale definiert ; ganz im Unter- ſchiede zu dieſer undiſziplinierten, mehr felbftgefälligen, erfolgsſuchtigen, als ziel · richtigen Wiſſenſchaft, ringt ſich Steinfels in maͤhlichem Anſtieg zu den errungenen Poſitionen auf, bis ſich in der erſchoͤpfenden Ausgießung dieſes Welterlebniſſes das Weltbild zu einer bezwingenden Klarheit formt und ſich aus ſpricht. Es geht bier nicht mehr um eine fanatiſche Verteidigung des empiriſchen Wiſſens; die ſchoͤpferiſche Intuition, das im inneren Schauen aufgebrochene Gebeimnis wird bier Form, Jahl und Jeichen. Steinfels bringt die Mechanik der Vielfalt in die entmechaniſierte Einheit, ins „Abſolute“, in den „Logos“ (Gott) zurück und laͤßt von dieſem in ſich ſelbſt drehenden Braftzentrum aus die Welt ihre Syſteme und „Erſcheinungen“ bewegen, innerhalb einer eigens dazu demonſtrativ konſtruierten, farbig plaſtiſchen Kugel, aus deren Achſen und Romponenten, farbigen und hiera⸗ tiſch gegliederten Bezirken und Kategorien Steinfels feine Schluͤſſe ablieſt und er» ſchaubar macht. Aus der zweipolig gerichteten Seele ſteigt der Geiſt in die Einheit feiner überwundenen Dualitaͤt auf. Aber immer bleibt die Einheit von der Iwei⸗ Tat XVII 6

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beit und dieſe wiederum von ber fie tragenden Einheit durchdruntzen und durch⸗ ſchienen: Das Bild bleibt immer Widerbild. Die Idee erfährt ihre Indivi · duation in konkreter Daſeinsform, die geiſtigen Diſziplinen erklaͤren ſich in der Kinematik des bewegten und „rotierenden“ Bildes. Alles iſt in dinglichſte Nahe gerädt, und der viſuell beſtimmbaren Form eingegoſſen.

In der Wahl feines Demonſtrationsmittels iſt dies Buch von überragender Genialitaͤt. An Sand eines „mechaniſchen Getriebes“ werden die abſtrakteſten Be griffswelten dem Schauen Ereignis. Das Auge erobert in dieſem Buche das „abſtrakte Ding“. Aus der zweipolarigen Gerichtetheit der Seele zwingt ſich der Menſch in den Logos, in Gott, in den Raum feiner Räume auf.

Auch die Farbe iſt Symbol. JIwiſchen · Weiß Schwarz durchfaͤhrt der „Geiſt“ alle

Regionen feiner ſchoͤpferiſchen Tat, wobei die innere Achſe, die der Rugel Oberſtes und Unterſtes halt, den jeweiligen Grad der materiellen und ſpirituellen „Farb und Weſenskategorie“ beſtimmt. Die Farbe wird hier verfündigtes Licht —: Geiſt · Cicht in feinen Taten, Leiden und Vermaͤchtniſſen. Der „Begriff“ wird im Sarb- wefen lebendig und übermittelt ſich fo nicht nur dem „Verſtande“, ſondern in ſpontaner Aktivität dem „Gefuͤhl“, dem Nichtmehrwiſſen, dem Werden des inneren Bildes. Im Steinfelsſchen Weltbild iſt die Farbe pſychologiſch und philoſophiſch · meta · phyſiſch graduiert und geſtuft. Sie ſtellt in ſich praͤziſierte und ſelbſtaͤndig regierte Sierarchien dar, die uber · , in · und gegeneinander gelagert, immer Formationen geiſtiger Tatbezirke und Organiſationen verſchiedenen Ranges und verſchiedener Wirkungen (Impulſe) find. In dieſem Sinne dringt das Buch bis zu einer Meta · phyſik der Farbe und bis zu einer philoſophiſch · inſpirierten Pſychologie ihrer Funktionen und inneren Prinzipien vor.

Immer wird das Gedachte Bild. Und auch in den uͤberſinnlichſten Gebieten des Buches wird der Leſer zum ſtetigen Betrachter der hier de monſtrierten, abſtrak ·

ten, doch immer in der Beftalt ſich wiederſindenden geiftigen Welt.

Farbe, Bewußtſein, Weltbild, das find die drei Teile, aus denen das Buch ſpricht. Albert Talhoff

Karl Chriſtian Plancks Denken fällt

Zu K. Chr. Dlands Teftament in die Jeit der erſten Wirkung Scdo- pen hauers und Darwins, in die poſitiviſtiſchen Jahre 1850 —80; fein Sauptwerk, das „Teſtament eines Deutſchen“, das das geſamte Gebiet der Natur und Sozial; philoſophie nach einem univerſalen Prinzip genial zuſammenſchauend behandelt, in das erſte Jahrzehnt nach der Reichsgruͤndung: es erſchien zuerſt J88J, ein Jahr nach feinem Tode. Mitten in diefer gottfernſten Jeit, die ja auch jeder tieferen Naturphiloſophie von Grund aus abgeneigt war, ſetzt es die idealiſtiſche Auf⸗ faſſung der Natur fort, indem es die geſamten Maturphaͤnomene vor uns ent- fteben läßt, zwar nicht aus einem wirklichen Ideenkos mos, aber doch aus einem einzigen großen Prinzip dem der ſtufenfoͤrmigen konzentrierenden Verſelbſtung bis zur finſter · kalten, verſchloſſenen Materie und von da in ebenfo ſtufenweiſe fortſchreitender Entſelbſtung bis zum lichten hinauswirkenden ſelbſtbewußten Beift. Es wahrt alfo in dieſer boͤſen Jeit durchaus eine tiefere Tradition; aber durch eben dieſe Jeit, in der er ſchreibt, kann ſich doch das geiſtige nn das er

3. Auflage 1925, Eugen Diederichs Verlag in Jena. N

Umſchau 83

feiner Maturdeutung zugrunde legt, nur bis zu dieſem abſtrakt pantheiſtiſchen Prinzip entwickeln. Der Aampf gegen die geiftlofe, mechaniſch⸗empiriſtiſche Natur · auffaſſung, den er führen muß, gegen dieſe „ſinnlos äußerliche, entwürdigende und verzerrende Auffaſſung der Natur“, die er überwinden will, gegen dieſen „elenden abſtoßenden Mechanismus“, den er fo gluͤhend haßt, nimmt ihm zu viel Braft, man fühlt, wie dieſer Geiſt der gerade ihre größten Triumphe feiernden Empirie ihn von allen Seiten einengt. Dazu werden ihn in dem anderen Rampf, den ihm die Zeit ebenſo auferlegt, dem gegen einen ſchal und kraftlos gewordenen Idealismus, in deſſen Weltabgewandtheit er die eigentlichſte Urſache der materia liſtiſchen Veraͤußerlichung erkennen muß, doch viele alten echten Quellen religidſen Idealismus und tieferer Naturphiloſopbie zweifelhaft, fo daß die Welt, aus der ſein Geiſt die Nahrung zieht, an Boͤhme, an Goethe oder der romantiſchen Natur⸗ pbilofopbie gemeſſen, faſt nüchtern und begrenzt erſcheinen konnte. Aber es wäre trotzdem grundfalſch, ihn nur als Epigonen romantiſcher Naturpbiloſophie und pantheiſtiſch⸗idealiſtiſcher Syſteme zu faflen oder gar fein Sauptwerk, das Teſta⸗ ment, nur als eine wirkungslos gebliebene, weil allzuſehr außer der allgemeinen Denkentwicklung ſtehende philoſophiſche Buriofität abſchaͤtzend zu werten. Wenn Planck geiſtesgeſchichtlich einer der vorangegangenen ſyſtematiſchen Philoſophien nicht gut „angehaͤngt“ werden und man ſich doch nicht entſchließen kann, feiner eigentuͤmlichen, in feiner Art großartig wahren Erſcheinunz in den Sandbüuchern der Philoſophie des 19. Jahrhunderts ein beſonderes Bapitel zu widmen: wäre es nicht vielleicht doch deshalb, weil er zu denen gehort, die in ihrer Zeit einfach nicht gehort werden koͤnnen, weil fie geheime Brücken zum Rommenden zu ſchlagen baben? Die weniger von der Vergangenheit als von der Jukunft her erſt richtig, gerecht und zureichend zu deuten find? Ju den prophetiſchen Geiſtern alſo, zu den Vorverkündern und Vorlaͤufern mehr als zu den letzten Ausläufern der alten MNaturphiloſopbie, die von der Renaiſſance über Boͤhme, Goethe und die Ro⸗ manti? ſich entwickelt und die er tatſaͤchlich auch mitten in dieſer nüchternften und myſterienloſeſten aller Jeiten auf ſeine Art fortzuleiten hatte, wenn er alle Stoffe aus verdichtetem Licht und verdichteter Wärme vor uns entſtehen laͤßt? Satte dieſer tiefblickende Schwabe, der feiner Zeit unbekannt und fo gut wie ver- graben in Blaubeuren und zuletzt in Maulbronn lebte und den ſie noch weniger porte und verſtand als den in Baſel und Bayreuth geiftig beheimateten unzeit- gemäßen Nietzſche, ſeinem Volk nicht auch ein wichtiges und wirkliches Teſtament binterlaſſen, das nur langſam, langſam erſt in feiner ganzen Bedeutung erkannt werden kann?

Die weihevolle Feierlichkeit zwar, mit der er die Einleitung dieſes 700 Seiten ſtarken Teſtaments ſchreibt, mag zunaͤchſt im Ton heute irgendwie befremdlich Hlingen. Planck fühlte ſich als Verkünder vor allem auch neuer ſozialer Gedanken, die, weil fie jenſeits aller liberaliſtiſcher und ſozialiſtiſcher Hachheiten und Irr⸗ tümer ſtanden, am meiſten hatten gehoͤrt werden follen. Aber das pantheiſtiſche Fundament, auf dem er ſtand, und das ibn alle ſchaffenden, goͤttlich geiſtigen Beäfte über dem Menſchen mit höheren Bewußtſeins formen beſtimmt negieren ließ, konnte doch das Innerſte, Lebendigſte der Seele nicht ergreifen: daher dieſe Art feines Pathos, das uns zuweilen weniger überzeugt als feine Ideen. Kieft man fein Werk aber dann bis zum Ende durch, dann ſieht man allerdings, daß er tat · ſaͤchlich prophetiſchen Geiſtes war, und daß fein Ungehoͤrtwerden von ihm mit

IS

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Recht als etwas Tragiſches empfunden werden mußte. Planck hat namlich um J880 ſchon den Weltkrieg vorausgeſagt, und zwar nicht etwa in vagen Ahnungen kommender Aataſtrophen und Einſtürze, ſondern in klar vorſehenden Erkennt⸗ niſſen der welthiſtoriſchen Situation, in der wir dann wirklich in den Weltkrieg eintraten. Planck hatte den böchften Begriff von der auf feiner zentralen Lage beruhenden, zwiſchen allen Völkern des Oſt und Welt, des Word und Süd ver- mittelnden, wahren Miſſion des deutſchen Volks, er glaubte, daß Deutſchland, das beilige Ser der Volker, ſich nicht wie die ubrigen europätfchen Staaten natio⸗ naliſtiſch verſelbſten dürfe, daß es in der europaͤiſchen Familie das geiſtig einigende Band bleiben muͤſſe. Er war der Meinung, daß nur von Deutſchland und von ſeiner geiſtigen Arbeit her die wirkliche Einheit Europas bewahrt werden könne. Von dieſer hohen Miſſion ſchien ihm das Deutſchland der Bründerjabre abgefallen, indem es ſich dem Taumel eines feſſelloſen Erwerbsgeiſtes hingab. Sieraus ging ihm die Erkenntnis auf, daß der Deutſche nur durch ein Schickſal voll Blut und Tränen von dieſem Abfall zu feiner wahren zentralen Natur zuruͤckſinden konne. Aus der tiefen Einſicht alſo in die Anarchie der europaͤiſchen Staaten, die ohne gemeinſchaftbildendes geiſtiges Prinzip, mit der nationalen Erhebung und waffen⸗ ſtarrenden Abſchließung des neuen Reichs erſt in das gefährliche kritiſche Sta⸗ dium trat, ergab ſich ihm zunaͤchſt die Vorſicht in den kommenden europäifchen Bankrott; aber er ſah zugleich, neben dieſem Abfall Deutſchlands in feiner Ver · aͤußerlichung jener Jeit, zugleich ſeine relative Schuldloſigkeit: er wußte, daß der Weltkrieg ſelbſt nicht von uns, ſondern von Rußland begonnen würde. Ja, er ſah voraus, daß wir „zum Seile Europas“ dazu auserſehen waͤren, in dem kommenden Bampf das zum Untergang reife Jarentum Rußlands zu vernichten, er ſah aber nicht, und konnte es noch nicht feben, daß wir Rußland an Stelle dieſer alten Form nichts zu geben haben wuͤrden als den Marxismus, und daß dies eine neue welthiſtoriſche Schuld darſtellen wurde, die erkannt werden muß, wenn wir uns beute dem Rommenden gegenüber richtig einftellen wollen.

Planck war alfo, wir wiederholen es, wirklich prophetiſchen Geiſtes. Ich ver weiſe auf den Schluß des Buches, wo er folgendes ausſpricht: „Beine politiſche Blugbeit, Feine Sriedensliebe von ſeiten Deutſchlands vermag innerhalb der jetzigen bloß nationalen Ordnung dieſen feindlichen Juſammenſtoß (mit dem Oſten) zu ver- bindern. Denn maͤchtiger als alle Klugheit iſt die Natur der Verhaͤltniſſe. Und kommt es dann einſt zum Aampfe, fo wird derſelbe, fo ſehr wir ihn auch zum Beſten Europas auszufechten haben, dieſes doch nicht an unferer Seite finden, ſondern wie im Oſten, fo werden wir zugleich auch im Weſten und im Suden uns verteidigen muͤſſen; nach allen Seiten wird die feindlich nationale Eiferſucht ſich genen das neue, in ihrer Mitte geſetzte Reich erheben. Doch eben die Erkenntnis, daß in dieſem letzten und ſchwerſten Kampfe das völlig Unzureichende aller bis⸗ herigen bloß nationalen Ordnung zu Tage kommt, daß vor allem die univerſelle, mit einer Reihe fremder Elemente verknuͤpfte Stellung der deutſchen Yration da⸗ mit völlig unvertraͤglich iſt und nur zu unaufbörliden Kaͤmpfen binfuͤhren müßte fie wird dieſem blutigſten Rampfe auch feine für immer entſ cheidende Bedeutung geben, wird den Geiſt der Nation, der jetzt noch in ſtumpfer Außerlichkeit gefangen iſt, öffnen für feinen letzten und bleibenden Beruf. Aufgehen wird unter Blut und Traͤnen die Einſicht uff... Solche Säge im Teſtament eines Deutſchen find Einſichten eines Haren, in keinen Jeitſtimmungen befangenen Geiſtes und ven

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dienen eben des halb auch heute noch, und heute erſt recht, gehort und bedacht zu werden. Und ein Mann, der ſo Har in die Jukunft ſab, ſollte nicht auch auf ſeinem eigenſten Gebiete, dem der Ylatur- und Sozialphiloſophie, weſentliches zu ſagen baben? Man wird jedenfalls, nachdem man erſt dieſen Schluß des Teſtaments einmal bedacht hat, an die Prüfung dieſer Philoſophie vielleicht mit mehr Ernſt und Geduld herangehen als man bis jetzt bewies. So gut er ſich in der Erkenntnis der Jukunft und der kommenden ſozialen Probleme als ein ſeiner Jeit weit uͤber⸗ legener Geiſt bewies und Einſichten hatte wie keiner der beruͤhmten Empiriker, die feinen Ruhm verdunkelten, fo war er auch in der Naturphiloſophie nicht nur Epigone, ſondern tatſaͤchlich ein um ein weſenhaftes neues Naturbild ringender Geiſt, den wir heute nur von der rechten Stelle aus ſehen mäflen, um feine Be. deutung zu erkennen. Da hier nicht mehr Raum iſt, werde ich dies im naͤchſten Tat- heft ausführlicher zu begründen verſuchen. Aarl Juſtus Gbenauer

Die moderne Wiſſen · Ein Weg zur Erfor ſchung des Lebendigen e

turge ſchehen in feinem aͤußeren Ablauf nach kauſalen Juſammenhaͤngen zu er faſſen. Sie transformiert die Sinneswahrnehmungen in ein theoretiſches Gebiet und löft fie in Bewegungen kleinſter Entitaͤten auf, welche die „Urſachen“ des natürlichen Geſchebens einſchlie lich der Lebens vorgaͤnge fein ſollen. Auch das, was fonft nicht in Maß und Zahl beſtimmbar iſt, laßt ſich nach die ſer Methode mathe matiſch formulieren. Werden die Ergebniſſe der Rechnung in die urfpräng- lichen Naturqualitàͤten zuruͤckuůͤberſetzt, fo ſtimmt das Reſultat mit der Sinnes erfahrung überein. Aber damit, daß das Exempel ſtimmt, iſt nichts Aber die objek⸗ tive Wirklichkeit der myſtiſchen Welt von Jonen, Elektronen, Quanten ufw. ge⸗ fagt. Denn es wird aus der Matur nur das wieder herausgeholt, was man vorher in ſie hineingelegt hat. Daß dem phyſikaliſchen Weltbild eine urſaͤchliche Bedeutung

gegenuͤber der wahrgenommenen Welt zukommt, iſt eine hypothetiſche Annahme, die nicht erwieſen und nicht erweisbar iſt. In juͤngſter Zeit gewinnt innerhalb die · ſes Weltbildes der „Ather“ immer größere Bedeutung für die theoretiſche Phyſik. Materie und Ather find 3. B. nach Lenards Auffaſſung die Grundprinzipien oder wie man es nennen will der welt. Über den Ather iſt viel geſchrieben worden, Intereſſantes und, im akademiſ chen Sinne, Geiſtreick es. Aber fo Klug das alles äußerlich genommen erſcheint, der Ather läßt ſich nicht faſſen, er gewinnt kein Leben und bleibt abſtrakt, tot und geſpenſtig. Dr. Wachsmuth geht in feinem Buch über „die aͤtheriſchen Bildekraͤfte“ von ganz anderen Vorausſetzungen und Vorſtellungen aus als die Gegen wartsphyſik. Der Begriff der „Bildekraͤfte“ iſt der anthropoſopbiſchen Terminologie Dr. Rudolf Steiners entnommen. Dort verſteht man darunter nicht mechaniſtiſche „Urſachen“ der Lebens vorgaͤnge, auch nicht das, was die Vitaliſten als „Lebenskraft“ bezeichnen, ſondern es handelt ſich um das, was als ein Tätiges, als innere Aktivität im Organismus auftritt und weiterhin in der ganzen Natur. Alle materiellen Erſcheinungen find fo, wie fie zunaͤchſt wahr⸗ genommen werden, nur Phyſiognomie und Ausdruck eines ſich aus ſich ſelbſt Bewegenden; der Organismus insbeſondere ift eine Entelechie, wie Ariſtoteles und nach ihm Goethe ſagte und da in der Natur nichts wirklich tot und leblos ift, fo

»Dr. Guenther Wachsmuth, Die aͤtheriſchen Bildekraͤfte in Ros mos, Re und Menſch. Der kommende Tag A. G. Verlag, Stuttgart.

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laßt ſich der Begriff der Entelechie über das Naturganze ausdehnen. Alles iſt be« wirkt aus inneren Bildekraͤften. Bei Goethe, bei Schelling und den Naturphiloſo⸗ phen iſt verſucht, zu einem Verſtaͤndnis der Bildekraͤfte zu kommen. Goethe ſpricht vom organiſchen „Typus“, den er in der „Urpflanze“ fuͤr ein beſtimmtes Gebiet genau dargeſtellt bat. Er weiſt nach, daß die Pflanze in dem Spiel und Gegen ſpiel von Syſtole und Diaſtole, Ausdehnung und Juſammenzie hung emporwaͤchſt. Ihr Geſtaltwerden, wenn ſie aus dem Samen, in dem ſie nur der Idee nach vor⸗ handen iſt, vom Unraͤumlichen in den Raum übergeht, iſt ein Rampf zwiſchen den Tendenzen von Raumentfteben und Raumverneinung, „Blatt“ und „Anoten“. In ahnlicher Weiſe, wie in dieſem beſonderen Fall die Bildekraͤfte wirken, ſieht Wachsmuth fie im geſamten Naturleben tätig, in Kosmos, Erde und Menſch. Alles Naturdaſein geht aus der Idee über in den Raum und dort, wo es zur Er⸗ ſcheinung wird, laſſen ſich gewiſſermaßen vier Urphaͤnomene alles Werdens auf: zeigen. Die Urpolarität, die Goethe der Entelechie der Pflanze zugrunde liegend ſieht, teilt ſich bei Wachsmuth noch einmal. Er unterſcheidet zwei zentrifugal wir · kende Atherarten oder Bildekraͤfte Wärmeätber und Lichtaͤther und zwei zentripetale, chemiſchen und Kebensätber, die abwechſelnd am einen Pol des Be ſchehens nach Aufldfung, am anderen nach Verdichtung ſtreben. So entſteht wir zitieren Goethe das „ewige Leben, Werden und Bewegen“ der Natur aus dieſen „wenigen Triebfedern“ des „immerwährenden Anziebens und Abſtoßens“. Was Goethe nur erſt anzudeuten begann, das entwickelt Wachsmuth mit ſchoͤner Klarheit in umfaſſender Weiſe. Er führt hinein in das Innere, regſam Tätige der Natur, aus dem die Erſcheinungen heraustreten, um es zu offenbaren, indem ſie die Welten harmonien zur Wahrnehmung bringen. Der ganze Bosmos iſt erfüllt von lebendiger Tatigkeit. Lebendige Bildekraͤfte ſtroͤmen aus dem Weltenraum, von der Sonne, dem Monde, den Planeten auf die Erde herab, ſie begegnen ſich mit dem Eigenleben der Erde, das mit ihnen in Wechſelwirkung tritt, wenn der Erdorganis⸗ mus feine Bilde kraͤfte aus der Tiefe empor ausatmet und wieder in ſich zurückzieht. Die Probleme der Meteorologie werden in ein neues Licht geftellt, der Rhythmus der atmoſphaͤriſchen Erſcheinungen findet ſeine Erklaͤrung in allen Einzelheiten. Das Wort Goethes von den „Simmelskraͤften“, die „auf und niederſteigen“, ge: winnt Wirflichfeitsbedeutung. Es geht ein großer Jug durch Wachsmuths Buch, das die Welt aus der Erſtarrung löoſt, in welche fie die Wiſſenſchaft bannte, die es fo mephiſtopheliſch weit gebracht hat. An die Stelle des Wiſſens nur um die erſtarrte Form tritt ein ſolches um die Taͤtigkeit der Natur, um ein Wirkliches, Wirkendes. Wachsmuth zeigt, wie durch die Annahme der vierfachen Wirfungsart der aͤthe riſchen Bildekraͤfte alles das, was heute noch als Problem diskutiert wird und in einem Wuſt von Theorien erſtickt, feine einfache Deutung finden kann Schwer ; kraft und Erdmagnetis mus, Radioaktivität, die Phänomene von Licht, Farbe und Ton, um nur einiges anzufuͤhren. Auf der Baſis der aͤtheriſchen Bildekraͤftewir⸗ kung wird eine Rosmogeneſis entwickelt, die zeigt, wie dieſe ſich aus einander ent wickelt haben und heute noch entwickeln, ſo daß das biogenetiſche Grundgeſetz umfaſſende Bedeutung gewinnt. Noch ſei darauf hingewieſen, daß er ſchließlich zeigt, wie auch der Menſch nicht nur womit man heute zufrieden iſt aus den gleichen chemiſchen Elementen beſteht wie die uͤbrige Natur, wie er vielmehr mit feinem ganzen Weſen als lebendiger Organismus hinein verwoben iſt in den Rhythmus von irdiſchen und kosmiſchen Bräften. 5. Woblbold

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„Nietzſches, Geburt der Tragödie bedeutet den Anfang

2. J. Bachofen einer neuen Auslegung der ſeeliſchen Grundlagen des Altertums, fomit der geſamten Vorgeſchichte Aberbaupt und muß fuͤrder von jedem gekannt und verarbeitet fein, der ſich irgend an die Erforſchung ſymbo⸗ liſchen Denkens und mythiſchen Traͤumens heranwagen will. . . Bevor aber noch Nietzſche durch feine großartige Erneuerung des Wiſſens um die Metaphyſik des Dion yſiſchen am Urzuſtande der Seele hervortreten ließ deſſen Gegenſaͤtzlichkeit zur Tageswelt der Olympier, hatte ſich im Geiſte eines anderen Forſchers voll. endet, was die, niedere Mythologie und mit ihr die philoſophiſche Sehnſucht der ganzen Romantik ſuchte, ohne doch es zu finden : die Einſicht naͤmlich, daß ſicher im mittellaͤndiſchen Voͤlkerkreiſe, hoͤchſtwahrſcheinlich aber in der Geſamtmenſch⸗ beit dem ‚Uranismus‘ des Tagesbewußtſeins ein „Chthonismus des Nacht bewußtfeins vorangegangen und jenem überall erſt nach ſchwerem und teilweiſe blutigem Ringen gewichen ſei.“ |

Es war J. J. Bachofen (1815-1887), deſſen einzigartiger Belebrtenperfön- lichkeit Ludwig Klages in dieſen Worten gedenkt. Er iſt auch der Wiederentdecker des gewaltigen Werkes Bachofens, das eine liebende Macht bis in unfere Tage herein umgab und vor der bornierten Kritik ſubſtanzloſer Menſchen ebenſo be⸗ wahrte wie vor dem unflätigen Gebaren nichtswuͤrdiger Marktſchreier. Wir ſelbſt wurden durch die angeführten Worte von Klages, welche in feinem Buche vom „kosmogoniſchen Eros ſtehen, erſtmals auf den Namen Bachofens auf⸗ merkſam und zur Lektüre der bis vor kurzem ſchwer zuganglichen „Graͤberſpmbolik der Alten“ veranlaßt, die fuͤr uns ein mit ſeltener Ergriffenheit aufgenommenes Ereignis bedeutete.

Es muß dankbar begrüßt werden, daß der Verlag Selbing & Lichten hahn in Baſel es nunmehr unternommen hat, gerade dies Werk Bachofens neu heraus · zugeben (J. J. Bachofen, Verſuch über die Graͤberſymbolik der Alten. Zweite, unveränderte Auflage. Baſel 1925. Br. M. 7,50). C. A. Bernoulli hat dem Werke ein kurzes Vorwort beigefügt, Ludwig Klages eine ebenſo gedraͤngte Würdigung der Geſamterſcheinung Bachofens. Die Darſtellung umfaßt zwei große Abhand- lungen, „Die drei Myſterien⸗Eier“ und „Oknos der Seilflechter“.

Der letztere der beiden Verſuche Bachofens iſt in einer handlichen Ausgabe ſchon vorher bei C. 5. Beck erſchienen (Bachofen, Oknos der Seilflechter. Serausgegeben und eingeleitet von Manfred Schröter. Geh. M. 2,40, geb. M. 3, o). Jedem, dem andersgerichtete Tätigkeit die Lektüre der großen Bachofenſchen Werke unmoglich macht, ſei dieſes Buch empfohlen, zumal in genannter Abhandlung letzlich der ganze Bachofen in nuce enthalten iſt. Manfred Schröter hat eine umfaſſende Ein leitung zu dem Verſuche geſchrieben, die einen uͤberblick über das geſamte Werk und die Perſoͤnlichkeit Bachoſens vermittelt.

Bachofens koͤſtliche leine Schrift über „Das lykiſche Volk und feine Bedeu⸗ tung für die Entwicklung des Altertums“, in der ſich feine Gedankenwelt in fel- tener Rundung zuſammenſchließt, wurde in juͤngſter Jeit ebenfalls von Manfred Schroͤter neu und gekürzt herausgegeben (5. Saeſſel Verlag in Leipzig. Geh. M 1.40, geb. m 2.—). Die Grundſaͤtze der Rürzung, die ſich der Sauptſache nach auf das philologiſche Beiwerk beſchraͤnkt, waren dabei die ſelben wie bei der Neu⸗ ausgabe des „Ornos“. Sier in dieſer für den Liebhaber beſtimmten Auswahl find all dieſe Anmerkungen weggelaſſen und der Text iſt von manchem weniger

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wichtigen, dem allgemeinen Verſtaͤndnis zu weit abliegenden Beiwerk befreit, da · für aber durch Abſatz · und Bapitelgliederung, die nur das vorhandene deutlicher hervorzuheben hatte, leichter zugaͤnglich gemacht.

Wer aber tiefer in die Welt, die ſich mit dem Namen Bachofens auftut, ein- dringen und die aus der Lektüre der Werke des großen Meiſters geſchoͤpften Pro; bleme in ihrer reichen geiſtesgeſchichtlichen Verzweigung verfolgen will, der greift mit größtem Vorteil zu dem Buche C. A. Bernoullis über Bachofen und das Naturſymbol, wofelbft er auch ein Porträt Bachofens findet (Johann Jakob Bachofen und das Naturſymbol. Ein Wüͤrdigungsverſuch von Carl Albrecht Bernoulli. Benno Schwabe & Co., Baſel 1924. Geh. M 12.—). Der gleiche Werfaſſer hat in einer Heinen Schrift Bachofen auch als Religionsforſcher ge · würdigt (C. A. Bernoulli, J. J. Bachofen als Religionsforſcher. GH. Saeſſel Verlag in Leipzig. Geheftet M J. 40, gebunden m 2.—.) Gerade Bachofens Derfönlichkeit iſt es, Aber die man bier umfaſſenden Aufſchluß erhalt. Bei Bachofen iſt die Perſoͤnlichkeit unzertrennlich mit dem Werk verbunden. Denn „primaͤr bei ihm iſt nicht die Wiſſensleidenſchaft des Religions forſchers, ſondern die religioͤſe Leidenſchaft des mythiſch Empfindenden ſelbſt“ (Manfred Schroͤter) In feiner autobiographiſchen Ruͤckſchau, die feinem Lehrer F. A. von Savigny gewidmet iſt (erſchienen als vierundzwanzigſtes Buch der Rupprecht ⸗Preſſe zu Münden, C. 5. Beckſche Verlags buchhandlung), legt er folgendes große Bekennt⸗ nis ab: „Ich hatte eine Jeit gehabt, wo die mittelalterlichen Prozeſſualiſten mich beglädten. Später hatte ich über einer ſchoͤnen Pandektenſtelle alles vergzeſſen. Nach und nach waren alle dieſe Reize verſchwunden. Was ich las, was ich ſtudierte, es ſchien mir, bei Lichte beſehen, ein ſo wenig wiegendes Beſitztum, ſo geringe Nahrung fuͤr die Seele, fuͤr die Vervollkommnung unſeres unſterblichen Teiles im ganzen fo gleichgültig. Ich ſtand in einer Zeit des Übergangs, wie fie jedem ſtrebenden Wefen aufbehalten find. Was fie herbeigeführt, wer kann tief genug in die Gründe der menſchlichen Seele hineinſchauen? Der Übergang war peinlich, jetzt ſegne ich ibn. Es muß die Jeit kommen, in welcher der Gelehrte feine Studien über ihr Verhaltnis zu den hoͤchſten Dingen ernſtlich zur Rede ſtellt, und ſie hierzu in eine richtige Stellung bringt. Dann wird auch der Wunſch er⸗ wachen, ja ein dringendes Beduͤrfnis ſich geltend machen, dem ewigen Gehalt der Dinge doch wenigftens um ein kleines naͤherzutreten. Die Schale allein genügt nicht mehr. Martervoll iſt der Gedanke, ſich fo lange ſchon mit bloßen wertloſen Formen herumzuſchlagen. Da tritt rettend der Glaube dazwiſchen, daß man auch in dieſen Dingen ‚den unſterblichen Fußtapfen entdecken kann.“ Und in Bach; ofens Vorwort zur „Graͤberſymbolik der Alten“ leſen wir ergänzend: „Dadurch bin ich vor allem einem Beduͤrfnis meiner eigenen Natur gerecht geworden, viel · leicht aber auch dem hoͤchſten Jiele aller Altertums forſchung, die Ideen fruͤherer Geſchlechter einer Zeit, die der Erfriſchung gar ſehr bedarf, in ihrer hohen Schoͤn · heit zu erſchließen, naͤhergekommen, als es einer an der Form und der Oberflaͤche der Dinge haftenden Betrachtung erreichbar iſt.“ Ein Bommentar zu dieſen wahren, hoben und ſchoͤnen Worten konnte ihre eindringliche Sprache nur ver- dünnen. Man greife nach dem Werk. Wilbelm Troll

Schriftleiter: Dr. . e. Eugen Diederichs, Jena, Cari-Jeiß - Platz 5. Bei unverlangter Zufendung von Manuſ kripten IR Porto für Rück ſendung beizufügen. Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena Druck von Radelli & Sille in Leipzig

14 „Meer Monatsſchrift für die Zukunft

deutscher Rultur

Is. Jabrgang Seft 2 Mai 1926

Georg Steinhauſen Die Ungeiſtigkeit der deutſchen Ge⸗ ſellſchaft im letzten Menſchenalter

nter Ungeiſtigkeit ſoll hier nicht ſchlechthin das verſtanden werden,

was man Materialismus nennt: denn es gibt auch eine Ungeiſtig ·

keit durchaus nichtmaterialtſtiſcher Natur, eine geiſtige Schlichtheit und Anſpruchsloſigkeit, die keineswegs ideallos iſt (das Zeichen des Materi⸗ alismus), ſondern etwa religiöfen oder ethiſchen Idealen zugewandt fein kann. Anderſeits braucht der Materialismus nicht immer ungeiſtig zu ſein. Mit dem modernen Intellektualismus iſt vielmehr der Materialismus eng verbunden: das Streben nach materiellen Guͤtern, der wirtſchaftliche Egoismus arbeitet ſogar ſehr mit den Kräften des berechnenden Verſtan · des, und der wirtſchaftliche Egoismus weiß auch die Errungenſchaften der Wiſſenſchaft zu ſchaͤtzen, ſoweit ſie ihm produktiv erſcheinen und er ſie in feinen Dienſt ſtellen kann. Selbſt Runft und Literatur braucht eine materialiſtiſch geſinnte Geſellſchaft nicht zu verachten; aber dieſe bedeuten dann nur ein Stuͤck verfeinerter materialiſtiſcher Genußſucht, dienen dem Luxus, der Unterhaltung, der Dekoration des Lebens.

Eine uͤberfeinerte Ziviliſation kann ſogar und wir haben das ja in den letzten Jahrzehnten erlebt trotz ihrer materialiſtiſchen Grundhaltung eine betonte Geiſtigkeit in fein ſein wollenden Schichten hervorbringen. Es iſt dies aber eine unechte, ungeſunde, unnatuͤrliche und blutleere Geiſtig⸗ keit weſentlich aͤſthetiſierender Art, zum Teil bloße Spielerei. Keineswegs beſchraͤnkte ſich dieſer Typus der „Geiſtigen“ oder „Intellektuellen“ auf literariſche oder eigentlich geiftige Kreiſe, er war vielmehr ein geſellſchaft · licher Typus, beſonders in großſtaͤdtiſchen reichen, namentlich auch juͤ. diſchen Kreiſen vertreten, aber auch in der jüngeren Generation der re be >

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ziellen Welt und ſonſt. Verabſcheut war immer das Gewoͤhnliche, aber auch das Einfache und Natuͤrliche, vor allem jedoch das Nuͤckſtaͤndige, geſchaͤtzt immer das Beſondere, Außergewöhnliche. Eine gewiſſe kuͤnſtleriſche, lite⸗ rariſche, philoſophiſche Bildung war tatſaͤchlich vorhanden, aber ſie war meiſt oberflaͤchlich, Mittel zu dekorativem Zweck. Die ganze Erſcheinung war wohl eine Art Ruͤckſchlag gegen den groben, plebejiſchen Materialismus, aber ſelbſt ein Erzeugnis verfeinerter materialiſtiſcher Geiſteshaltung, weil ſie ohne ethiſche Grundlage, ohne Innerlichkeit, ohne Ideale war. pflege und Schaͤtzung der wahren geiſtigen und idealen Werte lagen dieſen „Geiſtigen“ durchaus fern.

Trotz der eingangs gemachten Einſchraͤnkung iſt nun aber in noch groͤ ßerem Maße die Ungeiſtigkeit, wie ſie in Deutſchland in den letzten Jahr- zehnten in die Erſcheinung trat, ein Ausfluß der feit Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr ſich verbreitenden materialiſtiſchen Geiſtes · haltung, im Zuſammenhang mit dem zunehmenden Übergewicht der Inter; eſſen über die Ideale, der wirtſchaftlichen über die geiſtigen Intereſſen. Der Vorgang äußert ſich nach zwei Seiten, einmal in einer Wiaterialifierung des geiſtigen Lebens ſelbſt, ſodann in der Minderung und Zurůͤckdraͤngung der geiſtigen Intereſſen im Geſamtleben der Nation.

Die Materialiſierung des geiſtigen Lebens liegt zunaͤchſt in feiner zu · nehmenden „Mechaniſierung“ und Bureaukratiſierung, d. h. in der Über: ſchaͤtzung des äußeren Apparates, der Technik und der Organiſation, Mo⸗ mente, die den ſchoͤpferiſchen Menſchen, den frei gerichteten Geiſt in den Betriebsmenſchen, den Nurfachmenſchen verwandeln. Methode und Rou⸗ tine wurden das weſentlichſte. Die Materialiſierung liegt weiter in der immer ſtaͤrkeren Richtung auf das materielle Ergebnis der geiſtigen Taͤtig · keit, im Juſammenhang mit der allgemeinen Schaͤtzung der wirtſchaft lichen Intereſſen. Einerſeits ſoll die wiſſenſchaft mehr wie je dem all gemeinen praktiſchen Nutzen dienen und fie hat der Induſtrie und Tech⸗ nik die glaͤnzendſten Dienſte geleiſtet, man hat auch die praktiſche Nuͤtzlich⸗ keit des Nationalökonomen, des Juriſten uſw. im Auge, ſchaͤtzt den Lehrer nach dem Nutzen der Schule für das praktiſche Leben, während Kunft und Dichtung immer ſtaͤrker den Charakter des Luxus oder der bloßen Unterhaltung gewinnen ; anderſeits betrachtet der geiſtige Menſch feine Tätigkeit auch immer mehr vom Standpunkt feines perſoͤnlichen wirt- ſchaftlichen Nutzens, alſo auf gut deutſch vom Standpunkt des Geldver⸗ dienens. Das geiſtige Leben gewinnt wie alles in den letzten Jahrzehnten immer mehr den Erwerbscharakter: man kann von einer zunehmenden Vergeſchaͤftlichung des geiſtigen Lebens ſprechen, ganz entſprechend der immer ausgepraͤgteren Vorherrſchaft des geſchaͤftlichen Menſchen in der jetzigen Welt.

man darf auch hier freilich die Gegenwart nicht zu hart im Verhaͤltnis zu fruheren Jeiten beurteilen. In der großen Bluͤtezeit unſerer Runſt vor

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und nach dem Jahre 1500 war der Kuͤnſtler nicht nur in hoͤherem Grade Berufsmenſch als etwa in neueren Zeiten, nämlich ausgeſprochener gand⸗ werker und gerade darin lag zum Teil ein großer Gewinn , ſondern auch oft ein ſehr guter Geſchaͤftsmann; der Dichter aber und, was ſich da⸗ mals noch vielfach deckte, der Gelehrte ſuchten durch ſchweifwedelnde Dedi- kationen ihrer Werke von Fuͤrſten, Magnaten und Staͤdten eine klingende Belohnung zu erlangen, und bei den ſich allmaͤhlich ausbildenden gelehrten Berufen blieb der Charakter des Brotſtudiums doch dauernd man kennt Schillers Klage das Servorſtechende. Anderſeits wird man auch für die juͤngſte Vergangenheit großen Teilen der geiſtigen Welt doch nicht einen oft ſehr hohen Idealismus abfprechen dürfen. Aber worauf es ankommt, iſt dieſes. Wir urteilen eigentlich nur im Vergleich zu der zeitlich nicht allzu weit zuruͤckliegenden Bluͤtezeit des deutſchen Geiſteslebens im ſpaͤteren 18. und beginnenden Jo. Jahrhundert wir Deutſche find ja ſpaͤt zu einer ſolchen Blütezeit gelangt und entnehmen dieſer von idealen Beſtre · bungen erfüllten Zeit geiſtiger, von der übrigen Welt anerkannten Große, die wir als eine Grundlage unſerer Zukunft feftbalten wollen, die Maß ſtaͤbe für die Einſchaͤtzung auch der Gegenwart. Und da muß gerade für die eigentlichen Werte unſeres Beifteslebens die große Wendung verhaͤngnis voll werden, die ſich eben im Io. Jahrhundert vollzogen hat, die Wendung vom Geiſt zur Wirtſchaft. Sie mindert nicht nur die Entwicklung des geiſtigen Lebens an ſich, ſondern fie laßt nur allzu haͤuflg für die geiſtige Welt ſelbſt das Geiſtige nicht mehr das die Seele eigentlich Beſtimmende ſein. Der Geiſt gilt im Grunde nur noch als Diener der Wirtſchaft, der Technik.

Erſt recht gewann im allgemeinen Bewußtſein der Nation das Geiſtige immer weniger Bedeutung. Mit dem gewaltigen Aufſchwung und den greifbaren Erfolgen der induſtriellen und kapitaliſtiſchen Wirtſchaft wandten ſich immer mehr gute Köpfe den wirtſchaftlichen Berufen zu und von den geiſtigen Berufen ab, die fo an Nachwuchs von foͤrderlichen Be gabungen einbüßten. Auch aus der beamteten Welt wanderten tuͤchtige Leute, ſcharfe Juriſten oder geſchickte Derwaltungsbeamte, zur Induſtrie und den Banken ab; Kunſtgelehrte zogen vor, im Kunſthandel tätig zu fein und fo fort. Ganz im Sinne der Arbeits verherrlichung im Zeitalter der Technik und Induſtrie ſchaͤtzte man geiſtige Menſchen nicht nach dem geiſtigen Gehalt ein, ſondern ſprach von „Kopfarbeitern“ oder „geiftigen Arbeitern“. Anderſeits waltete vor dem Kriege noch ein gewiſſer äußerer Reſpekt vor der geiſtigen Welt vor. Aus der großen Blütezeit des deutſchen Geiſteslebens war die freilich bald ſehr veraͤußerlichte und mechaniſterte pflege der „Bildung“ als ein faſt geheiligtes Gebot auch fuͤr die dem „Ge⸗ ſchaͤft / und dem Tanz um das goldene Kalb Ergebenen uͤberkommen, und um des äußeren Anſehens wie der Mode willen pflegte die hoͤhere Ge⸗ ſchaͤftswelt, wie gute Beziehungen zur Ariſtokratie der Geburt, fo auch

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ſolche zur Ariſtokratie des Geiſtes, und die mittleren Schichten achteten an den Traͤgern der Bildung etwas, was ſie ſelbſt nicht hatten, und was aͤußerlich von Staat und Geſellſchaft bevorzugt wurde. Zu dieſer aͤußer⸗ lichen Schaͤtzung der gebildeten Berufe trug damals deren immer guͤnſtigere äußere Poſition und zunehmender Wohlſtand gegenuber dem frůher fo haͤufigen Sungerleiderdafein im erheblichen Maße bei.

Der Univerſitaͤtsprofeſſor gewann beſonders an Anſehen: einmal hatte man die Erfolge der angewandten Wiſſenſchaft fuͤr Induſtrie und Technik von jenem Standpunkt des allgemeinen und geſchaͤftlichen Nutzens vor Augen und ſah auch manche Chemiker, Phyſiker uſw. nicht nur mit Ruhm und Auszeichnungen, ſondern auch mit reichen Einnahmen begluͤckt; man ſah ferner die glaͤnzenden Einnahmen vieler Mediziner von Ruf; auch fuͤr manche Nationalòkonomen gab es vorteilhafte Beziehungen zu Wirtſchaft und Kapital. Unter den Trägern der Geiſteswiſſenſchaften bezog mancher bekannte Philoſoph oder Siſtoriker reiche Einnahmen aus gut einfchlagen- den Werken, die in breitere Schichten drangen, wenn man in dieſer Be⸗ ziehung auch weit hinter den franzoͤſiſchen und engliſchen Verhaͤltniſſen zuruͤckblieb. Alles dieſes führte auch der gelehrten Welt manchen Novizen aus kapitaliſtiſchen Kreiſen zu, wie uberhaupt Reichtum und wohlſtand fuͤr die akademiſche Karriere bedenklich an Bedeutung gewannen. Freilich, das geſteigerte Anſehen des Univerſitaͤtsprofeſſors, der ja auch ſelbſt mehr und mehr zum Mann der welt geworden war und nur in einem immer kleineren Teile an den zur ſtereotypen Figur der ſogenannten „Witzblaͤtter“ gewordenen zerſtreuten und ſchlecht angezogenen Profeſſor von ehemals erinnerte, beruhte, wie geſagt, weſentlich auf aͤußerlichen Faktoren: ein wirkliches Verſtaͤndnis fuͤr die Wiſſenſchaft beſtand ſelbſt in gebildeten Reifen nur bei ſehr wenigen, wobei natuͤrlich nicht von einem Verhaͤitnis zu den ſtrengen Fachwiſſenſchaften die Rede iſt. Am meiſten Intereſſe be · ſteht für die exakten Wiſſenſchaften ſowie für die Kunft- und Literatur wiſſenſchaft, waͤhrend dasjenige fuͤr die hiſtoriſchen, philoſophiſchen und ſonſtigen Geiſteswiſſenſchaften gegen fruher ſtark zuruͤckgegangen iſt. Auch bei den Fuͤrſten und ihren Soͤfen ließ ſich ähnliches beobachten. Am preußi- ſchen Koͤnigshofe waren die geiſteswiſſenſchaftlichen Intereſſen, wie fie in lebhafter Weiſe Friedrich Wilhelm IV. gezeigt hatte, unter dem alten Kaiſer Wilhelm bei deſſen ausgeſprochener militaͤriſcher Einſeitigkeit ſtark zuruͤckgetreten, waren aber bei der Raiſerin Auguſta, der Trägerin weima · riſcher Traditionen, und vor allem am kronprinzlichen Sofe ſehr lebendig: unter Kaiſer Wilhelm II. ſpielten geiſtige und kuͤnſtleriſche Dinge zwar eine gewiſſe Rolle, aber eine vSllig dekorative und oberflaͤchliche: zur Wiſſen⸗ ſchaft und ihren Problemen hatte der Naiſer kein Verhaͤltnis; die Naͤher⸗ bringung der Sarnack, Schmoller u. a. durch Buͤlow hatte keinen ernft- haften Sintergrund; eher fand wieder die exakte und techniſche Wiſſenſchaft wirkliche Teilnahme. Die Berliner Univerſitaͤt hat, ſoviel man weiß, der

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Baifer erſt beſucht, als ein amerikaniſcher Austauſchprofeſſor dort las. Ein viel ſchrofferes Gegenbild zu dem beſſeren Einſt unter Karl Alexander bot etwa der Weimariſche Sof unter feinem völlig amuſiſchen Enkel. Ahnlich it der Gegenſatz etwa zwiſchen dem König Johann von Sachſen, der frei lich eigentlich ein Gelehrter war, und dem letzten König dieſes Landes. Jedenfalls iſt in den letzten Jahrzehnten von einer ſo einflußreichen und bewunderten Rolle, wie fie einſt Leibniz an mehreren Soͤfen oder wie ſie im 19. Jahrhundert Alexander v. Sumboldt am Berliner Sof ſpielte beides freilich weltmaͤnniſche Gelehrte und auch keine Univerſitaͤteprofeſ · foren im Sinblick auf die deutſchen Höfe nicht entfernt die Rede. Immer: hin iſt bei dieſen das Anſehen, das hervorragende Univerfitätsprofefforen genoſſen, auch in neuerer Zeit nicht gering geweſen, aͤußerlich und auf den Reſpekt vor dem Gelehrtenſtand angeſehen.

Die erwaͤhnte aͤußere Schaͤtzung des akademiſchen Gelehrten in der All⸗ gemeinheit zeigte ſich gerade neuerdings in der Inanſpruchnahme mancher feiner Attribute durch andere Kreiſe (wie durch die der Technik: Dr.⸗Ing.; Profeſſortitel durch die Oberlehrer, heute wieder abgeſchafft) und der An⸗ eignung der Bezeichnung „Sochſchule! durch alle moglichen Sadhinter- eſſenten. Die naivſte Zeiftung war wohl die Errichtung einer „Sotel⸗ hochſchule ! in Düffeldorf im Gktober 1914.

Neben dem Gelehrten, der ſeinerſeits in der offiziellen Schaͤtzung freilich hinter dem Offizier, dem Grundbeſitzer, dem hohen Beamten und in der allgemeinen Schaͤtzung hinter den Geldleuten und den Großinduſtriellen zurůcktreten mußte, fpielte der freie Schriftſteller ein weit weniger an; geſehene Rolle, ganz im Gegenſatz zu der erſten Saͤlfte des 19. Jahrhun ; derts. Freilich hatten die erfolgreichen Schriftſteller ihre, oft begeiſterten, Gemeinden; hin und wieder fanden fie auch Fuͤrſtengunſt, aber in weit geringerem Maße als noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts; dagegen begönnerte fie mit Vorliebe die haute finance der Großſtaͤdte, und bei ihren Diners und Soupers durften gefeierte Autoren ſo wenig fehlen wie be⸗ ruͤhmte Ruͤnſtler, um den Nimbus des oft nicht allzu gebildeten Gaſt⸗ gebers zu erhoͤhen. Die ſonſtige geſchaͤftliche und auch die große beamtete Welt hatte kaum ein tieferes Verhaͤltnis zur Literatur. Dieſen Kreiſen imponierte der Schriftſteller meiſt erſt, wenn fie von großen Einnahmen aus Tantiemen für erfolgreiche Schauſpiele oder aus immer neuen Auf: lagen von Romanen etwas hoͤrten; für fie wuchs die Geltung des Schrift ſtellers mit deſſen Wohlſtand.

Im ganzen hing der ſchon oben angedeutete günftige aͤußere Stand der Bildungsſchicht, die ſich ſelbſt ihrer eigentlichen Aufgabe und gegebenen Weſensart durch die kapitaliſtiſch gefärbten Verhaͤltniſſe mehr und mehr entfremdete, im Grunde lediglich von der guͤnſtigen Entwicklung der Wirt · ſchaft ab, die die Wiſſenſchaft teilweiſe in ihren Dienſt ſtellte, das Anwach⸗ fen der Beamten und Zehrerſchichten geſtattete und Kunſt und Dichtung,

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auch, ſoweit Inſtitute und Reifeunterfiänungen in Frage kamen, die For⸗ ſchung als eine Art Luxus wohlwollend förderte. Ein inneres Bedürfnis für ſolche Dinge lag bei dieſen Foͤrderern ſelten vor. Jetzt, nach dem Krieg, unter dem Zeichen der ſtaͤrkſten Zerruͤttung aller Verhaͤltniſſe, iſt der aͤußere Nimbus der geiſtigen Schichten dahin. Jetzt zeigt ſich klar und deutlich, daß nicht der Geiſt bei uns regierte, ſondern die Wirtſchaft, und daß heute, trotz allen Geſchreis, daß uns der Geiſt allein retten koͤnne, ſich alles mehr wie je um die Wirtſchaft dreht, daß das Geiſtige, für das ſich kein wirkliches Beduͤrfnis als vorhanden erweiſt, verfümmert und mit ihm fein Träger, der gebildete Mittelſtand. Zu dem Übergewicht der nur auf das Geſchaͤft und den Gelderwerb gerichteten Kreiſe kommen nun noch der vordringliche Anſpruch des Sandarbeiters, der ſich für das Maß aller Dinge haͤlt, und die häufige Selbſtuͤberſchaͤtzung der kleineren Beamten und Angeſtellten, die ſich heute über geiſtige Menſchen erhaben duͤnken “.

Jetzt zeigt ſich auch in nackter Offenheit, daß der überwiegende Teil der Nation kein inneres Verhaltnis zum Geiſtigen beſitzt, daß die Schaͤtzung desſelben in der Vorkriegszeit weſentlich aͤußerlich war, daß die Intereſſen und Ideale der Nation vornehmlich nichtgeiſtiger Natur waren. Aber, freilich, es war fruͤher, von der Epoche der einſeitig geſteigerten Geiſtig keit vor und nach 1800 abgeſehen, auch nicht anders. Um 1800 nahm auch der deutſche Adel an dem neuen Zeben ſtaͤrkeren Anteil; vorher war er den geiſtigen Intereſſen zumeiſt doch recht abhold; denn der hoͤfiſche Minneſang war mehr eine geſellſchaftliche Erſcheinung, und die Beteili⸗ gung von Adligen an dem roͤmiſchen Juriſtentum und dem humaniſtiſchen Gelehrtentum des 16. Jahrhunderts, den ſprachlichen und poetiſchen Be⸗ ſtrebungen des 17. Jahrhunderts mehr Ausnahme. Als die literariſche Mode gegen 1850 wieder abflaute, zeigte der Adel wieder ſtark feine un- geiſtige Seite. Der auch geiſtig weit uͤberlegene Bismarck hat ſich oft daruͤber luſtig gemacht. Und in jungen Jahren hat er einmal in einem Briefe an feinen Freund Scharlach (Aniephoff, 7. April 1834) ein ſpoͤttiſches Bild von einem Landjunker, in heiterer Ironie auf ſich ſelbſt bezogen, gezeichnet. Er wolle feine großen Pläne aufgeben, „das Land bauen und die Sitten feiner Bauern durch unmaͤßige Branntweinfabrikation unter · graben . . Wenn Du alſo in zehn Jahren einmal in die hieſige Gegend kommen ſollteſt .. Du wirſt hier einen fettgemaͤſteten Landwehroffizier finden, einen Schnurrbart, der ſchwoͤrt und flucht, daß die Erde zittert, einen großen Abſchen vor Sranzofen hegt und unde und Bediente auf das Brutalſte prügelt, wenn er von feiner Frau tyranniſiert worden. Ich werde lederne Soſen tragen, mich zum Wollmarkt in Stettin auslachen laſſen . Zu Könige Geburtstag werde ich mich befaufen und Vivat ſchreien, übrigens mich häufig anreißen, und mein drittes Wort wird fein:

Es gibt freilich gerade in dieſen Areiſen auch viele nach Soͤherem duͤrſtende Menſchen, die viel leſen, auch „dichten“ ufw.

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Auf Aehre! ſuperbes Pferd!“ Eine Karikatur naturlich, aber gewiß nicht ohne realen Sintergrund und nicht ganz ohne Gultigkeit auch für neuere Jeiten. Man kann freilich gerade aus jenen Kreiſen auch ganz andere Bilder zeichnen, und manche Schloßbibliotheken, deren Bluͤtezeit freilich im I7. und namentlich 18. Jahrhundert liegt, legen nicht nur in den Älteren, ſondern auch in den neueren Beſtaͤnden Zeugnis für die geiſtigen Inter⸗ eſſen der maͤnnlichen wie der weiblichen Schloßinſaſſen ab. Es gibt aber auch Schloͤſſer ohne Bibliothek oder mit einer nur dekorativen. Daß der Zandjunker in der Regel auch heute keine beſonderen geiſtigen Intereſſen hat und feine geiſtige Nahrung zumeiſt aus der Zeitung, und auch meiſt nicht aus deren geiſtigerem Teil nimmt, das teilt er mit den ZLandbewoh⸗ nern uberhaupt, mit vielen bürgerlichen Gutoebeſitzern. Weit geringer find noch die geiſtigen Intereſſen des beſſeren Bauerntums (Ausnahmen be ſtaͤtigen die Regel). Wann kaufen dieſe Kreiſe wohl ein gutes Buch? Aber wenn wir von der ſpeziſiſch laͤndlichen Atmoſphaͤre einmal abſehen, es ſpielt in die oft wenig lebhafte Anteilnahme der ariſtokratiſchen Schicht an geiſtigen Intereſſen noch etwas anderes hinein: die alte Anſchauung, daß eine volle Singabe an dieſe nicht eigentlich ſtandesgemaͤß ſei; beſten · falls könne dergleichen als Ziebhaberei getrieben werden. 1855 ſchreibt Seinrich von Treitſchke an Aud. Schelske (Briefe I, 300): „Wenn ich dieſe frivole Borniertheit ſehe, womit mir 3. B. neulich ein Verwandter (eine Zierde vornehmer Kreiſe) riet, ſtatt der Dozentenkarriere, die ſich für Leute ‚von Erziehung nicht paſſe, doch lieber die Stallkarriere zu ergreifen, wenn ich bedenke, wie ſelbſt der beſſere Teil dieſer reife zwar zuviel Takt hat, um dieſem Seroismus der Dummheit beizuſtimmen, aber im Stillen doch keine andere adlige Beſchaͤftigung anerkennt als den Miſtwagen und den Exerzierſtock; wenn ich dieſen kindlichen Eifer ſehe, womit man jeden Schritt und Tritt der, Serrſchaften vergoͤttert . , dann habe ich. alle Urſache empört zu fein.” Es kam hinzu, daß man ſeit der franzoͤſiſchen Revolution und mit dem Aufkommen der demokratiſchen und liberalen Beſtrebungen in Gelehrten und Schriftſtellern auch oft Träger „ſtaats ; gefährlicher” Ideen ſah und, ebenſo wie die ſtreng kirchlichen Kreiſe, von der Verbreitung der „Bildung“ gewiſſe Gefahren fuͤrchtete. Wenn Varn⸗ hagen in feinem Tagebuch 1840 (28. September) die Saͤupter der reaktio⸗ naͤren Partei fo charakteriſiert: „Im ganzen dem Geiſt und den Ideen ab- gewandt, aber voll Alugheit und Weltkunde, fo iſt vielfach auch weiter bin bei Piugen Sof · und Staatsmaͤnnern und in konſervativ⸗ariſtokrati · ſchen politiſchen Kreiſen eine bewußte Juruͤckhaltung gegenüber den geiſtigen Bewegungen und den geiſtigen Intereſſen und Idealen geuͤbt worden. Aber die ſozialen und politiſchen wie die allgemein kulturellen wandlungen ließen doch ſolche Saltung mehr und mehr ruͤckſtaͤndig er ·

ſcheinen. | An literariſch und wiſſenſchaftlich produktiv taͤtigen Gliedern iſt der

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Adel in neuerer Zeit überdies eben mit der Angleichung der ſozialen und ebeneverhaͤltniſſe an das Bürgertum immer reicher geworden. Eine Aus; nahmeerſcheinung iſt immerhin der auf feinem Serrenſitz Klein ⸗Gels ſtrengen wiſſenſchaftlichen, vor allem philoſophiſchen Studien ſich er- gebende Graf Paul Norck von Wartenburg, ein ſtrenger Denker mit einer bei bürgerlichen Gelehrten nicht immer vorhandenen ariſtokratiſchen Über- legenheit des Urteils fein Briefwechſel mit dem Philoſophen Dilthey läßt dieſe herbe Erſcheinung naͤher kennen lernen. Einen unter der Ariſto⸗ kratie weniger ſeltenen Typus kuͤnſtleriſcher und ſchoͤngeiſtiger Bildung ſtellt Graf Philipp zu Eulenburg dar: immerhin fand er ſich, wie aus manchen Stellen feines Nachlaßmaterials hervorgeht, von den un⸗ geiſtigen und feineren Geſchmacks entbehrenden Teilen der preußiſchen Sofgeſellſchaft nicht ſelten abgeſtoßen, und ſehr unguͤnſtig urteilte er uber die Sfterreichifche Ariſtokratie, die er gelegentlich mit dem Epitheton „einer wirklich hervorragend ungebildeten Menſchheit“ bedenkt. Die traditionelle Aufgabe einer Ariſtokratie, die Pflege einer feineren geſellſchaftlichen Aul · tur, hat der deutſche Adel, wenn auch mit landſchaftlichen Differenzie rungen, nicht außer acht gelaſſen. Aber fein Einfluß auf weitere Kreiſe der Nation in dieſer Beziehung iſt nicht ſehr groß geweſen. W. Wittich (Saupt · probleme der Soziologie II, 299 f.), darin Mar Weber folgend, meint, die Betaͤtigung des Adels im Staatsdienſt habe ihn durch die Verwicklung in das buͤrokratiſche Syſtem feinem wahren Wefen entfremdet. Von der Buͤrokratie habe er (wie Weber ſagt) „die jeder hoͤheren Kultur und Lebensart ſpottenden, akademiſchen Sitten und Umgangsformen dieſes Be- rufsſtandes akzeptiert, die ihm fein koſtbarſtes Gut, die ‚perfonelle Aus bildung’, beeintraͤchtigte. Ungleich den romaniſchen und angelſaͤchſiſchen Aulturgebieten, wo die „adlige! Sitte richtunggebend für die Umgangs; formen des ganzen Volkes geworden ſei, ſei in Deutſchland nicht ein „hoͤſi⸗ ſcher“ oder „adliger Verkehrston, ſondern ein „akademiſcher“ Pennalis⸗ mus maßgebend geworden, der ſich als ganz ungeeignet erwieſen habe, er- chend und veredelnd auf die unteren Klaſſen zu wirken. Nicht ganz un- richtig, aber doch einſeitig!

Im ganzen genommen gilt von den geiſtigen Intereſſen des Adels, was von denen der geſellſchaftlichen Oberſchichten uberhaupt gilt. Ahnliches laͤßt ſich vom Ofſtzierſtand ſagen, immer ohne zu ſehr verallgemeinern zu wollen. Mit der zunehmenden Geiſtigkeit des hoheren Mittelſtandes ſeit Ende des 18. Jahrhunderts waren auch bei einem großen Teil des Offizier ſtandes geiſtige Intereſſen ſtaͤrker, hier und da auffallend ſtark geworden. Aber die Zunahme der realen Intereſſen, auch der materialiſtiſchen Geiſtes · haltung iſt dann neuerdings in Teilen des Offizierſtandes ebenſo ſichtbar geworden. General von Freytag ⸗Loringhoven (Menſchen und Dinge) meint, daß feine Bemühungen, die Offiziere mehr zum Studium zu bringen, ohne „durchſchlagenden Erfolg“ geblieben ſeien. In der preußi-

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ſchen Armee ſei „die Erziehung ausſchließlich auf die Tat gerichtet“ ge» weſen (wie dies ja auch, wenigſtens vorwiegend, der Fall fein muß). Aber Graf Schlieffen habe die Mißachtung des Studiums uͤbel empfunden. „Die Routine allein tue es nicht, wie viele im Generalſtab glaubten.“

So ſehr der gebildete Mittelſtand, dieſe Neubildung des 19. Jahrhun⸗ derts, der Saupttraͤger der geiſtigen Intereſſen geblieben iſt, ſo wenig darf man für das durchſchnittliche Buͤrgertum überhaupt, zumal dasjenige des letzten Menſchenalters, eine beſondere Anteilnahme am geiſtigen Leben und feiner Forderung annehmen. Dieſes Buͤrgertum iſt aͤhnlich wie das Bauern; tum (nur in ſtaͤrkerer Verknupfung mit der feineren Ziviliſation [„ Ver bůͤrgerlichung“] und infofern auch mit gewiſſen höheren geiſtigen Inter · eſſen) vorwiegend von egoiſtiſch wirtſchaftlichen Intereſſen beſtimmt und geleitet. Je mehr mit dem Anbruch des induſtriell⸗techniſch⸗kapitaliſtiſchen Zeitalters die geſchaͤftlichen Schichten zunahmen und ihre Auffaſſung zur ſtark vorherrſchenden wurde, um fo mehr näherte ſich die geiſtige Saltung der bürgerlichen Sauptmaſſe bis in die buͤrgerliche Oberſchicht derjenigen, wie fie ſeit längerem für die Angelſachſen, insbefondere für die Amerikaner, nicht allgemein, aber doch vorwiegend bezeichnend geworden iſt. Der Typus des Geſchaͤftsmannes iſt dort zum herrſchenden geworden, und er wurde es immer mehr auch bei uns. Das Geiſtige liegt dieſem Typus nicht. Wenn G. Frenſſen kuͤrzlich in feinen Briefen aus Amerika (S. 93) meinte: „Den reinen Geiſteswiſſenſchaften ſteht das ganze (amerikaniſche) Volk noch zu jung, eilig und hochmuͤtig gegenuber; es kann noch nicht begreifen, daß ſich einer, mit Geiſt beſchaͤftigt',, Geiſt betreibt !, fo liegt dieſe Saltung doch nicht an der Jugend dieſes Volkes, an einer gewiſſen Unentwickeltheit, ſondern lediglich an ſeinem abſchreckenden Eingeſtelltſein auf die geſchaͤft · lichen Intereſſen. Es iſt das typiſche Volk der egoiſtiſchen bürgerlichen Menſchen geworden. Und die Abneigung diefes Bourgeoistume, das mit einem innerlich freien, gebildeten und aufrechten Bürgertum nicht zu ver · wechſeln iſt, gegen das Geiſtige iſt auch bei uns laͤngſt bemerkbar geweſen und heute immer ſtaͤrker geworden. Der ſcharf urteilende Th. Fontane ſagt bereits 189 I] (Briefe II, 268 f.): „Wir erheben uns jetzt fo ſehr über die Chineſen, aber darin find dieſe doch das freieſte Volk, daß das Wiflen am hoͤchſten geſtellt wird. Bei uns kann man beinah fagen, es diskreditiert. Das Bourgeoisgefuͤhl iſt das zur Zeit maßgebende.“

Gerade die immer breitere Schicht der Reichgewordenen verſagte am meiſten, ob ſich ſchon dieſe gutgekleideten Barbaren im Theater und in Konzerten breit machten. Sehr bemerkenswert iſt das Urteil ZLichtwarke in feiner Schrift: „Der Deutſche der Zukunft“ aus dem Jahre 1905. Er meint zwar, die Gefahr, „daß das deutſche Volk von nun an in der Anhaͤufung und im Genuß weltlicher Guter den Zweck feiner Arbeit und feines Daſeins ſehen werde”, ſei nicht mehr vorhanden, aber fie habe ſtark gedroht. „Dasſelbe Geſchlecht, das die neuen Guͤter erwarb, war nur in

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einzelnen Ausnahmefaͤllen in der Cage, fi) die Kultur zu erwerben, der fie zu dienen beſtimmt find. Auch der Reichtum braucht Überlieferung, um ſich auszudrucken, und Überlieferung gab es in Deutſchland nicht. Wir hatten keinen über das ganze Land verteilten Stand mit ererbtem Reich; tum und überliefertem Kulturleben, dem der neue Reichtum haͤtte nach⸗ ſtreben koͤnnen. So kommt es, daß er keinerlei Verpflichtung zu fühlen oder anzuerkennen braucht. Man kann in Deutſchland ſehr reich, ſehr un- gebildet, zu keinerlei Opfer für irgendeinen Rulturzweck bereit fein, ohne der Verachtung anheimzufallen. Das geſellige Leben hat dieſer neue Reich; tum auf eine rein materielle Baſis geſtellt und dadurch zu einem Fluch ge⸗ macht fuͤr die, die ſich ihm nicht entziehen koͤnnen. Es hat wohl bisher noch nie eine geſellſchaftliche Oberſchicht fo ohne Kulturbedeutung ge- geben wie die deutſche der Gegenwart. Sie ſteht an geiſtiger Regſamkeit und Teilnahme hinter den Mittel und ſelbſt den Unterklaſſen im Durch⸗ ſchnitt zuruck. Es wäre ſchlimm, wenn die Peſſimiſten recht haͤtten, die dem Vertreter von Zunft und Wiſſenſchaft, ſoweit er nicht mit eigenen Guͤtern geſegnet iſt, eine Art ſozialer Soͤrigkeit im Kreis der Beſitzenden weisſagen. Man braucht dem Urteil dieſes Vorkaͤmpfers fuͤr eine feinere deutſche Kultur, der den Kreiſen der Reichen an ſich keineswegs mit Ab⸗ neigung gegenuͤberſtand, nichts hinzuzufuͤgen. Oder nur dies, daß eine leiſe Wendung zum Beſſeren, die vor dem Kriege wohl zu beobachten war, durch den Einbruch der Kriegs und Nachkriegsgewinnler und die Bil⸗ dung einer innerlich völlig plebejiſchen Schicht neueſter Reichen völlig aufgehoben worden iſt. Die Schilderung Lichtwarks würde heute noch viel ſchwaͤrzer ſein. Erfuͤllt iſt das ſchon vor langer Zeit geſprochene Wort Nietzſches: „Die gebildeten Stände und Staaten werden in eine großartig veraͤchtliche Geldwirtſchaft fortgeriſſen. Niemals war die welt mehr N nie aͤrmer an Liebe und Büte.”

Nun hat freilich der Anſteckung der gebildeten Schichten durch den ge- ſchaͤftlichen Ungeiſt und ihrer, auch durch die neue „realpolitiſche Geiſtes · haltung herbeigefuͤhrten Abwendung von geiſtigen Zielen und Inter eſſen anfangs noch ein Teil der gebildeten Geſellſchaft widerſtanden, und dieſer oder jener Einzelne tat es bis heute. Die aͤlteren Maͤnner und Frauen der Zeit nach 1870 verſtanden noch die alten geiſtigen Traditionen mit dem Stolz auf die neue politiſche Machtſtellung Preußens und Deutſchlands und dem Intereßſe an feiner aufſteigenden wirtſchaftlichen Entwicklung zu verbinden. Dieſe Maͤnner und Frauen waren keine blaſſen Ideologen mehr wie die vorhergehende Generation. Sie waren ja ſchon durch ein reges und kampfreiches politiſches Leben gegangen, das freilich noch von großen politiſchen Ideen, denen der Einheit und Freiheit, beherrſcht wurde. Sie erwarteten im neuen Deutſchen Reich nach 1870 ein großes freiheitliches, politiſches Leben, das die geiſtigen Jutereſſen aber keineswegs zuruͤck⸗

draͤngen, ſondern noch ſtaͤrker und wirkſamer machen ſollte. Dieſe geiſtigen

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Kreiſe der guten Geſellſchaft, aus Adel und hoͤherem Bürgertum vielfach gemiſcht, ſahen die Dinge von hoͤheren Geſichtspunkten aus an. Groß war das geſchichtliche Intereſſe, und die werke der damals beruͤhmten Siſto · riker wurden eifrig geleſen. Die Politik trieb man als etwas Geiſtiges. Rege war die Teilnahme an der Literatur, freilich einer etwas gegaͤngelten, und der Kunft, freilich im Banne der Renaiffance. Charakteriſtiſch moͤchte für dieſe Intereſſenſphaͤre etwa der Kreis um Sedwig von Olfers in Berlin ſein, in den ja deren Briefe einen Einblick gewaͤhren, und der zuletzt als ein Reſt alter Vergangenheit nur noch von wenigen aufrechterhalten wurde. Allem Materiellen waren dieſe gebildeten Kreife von Gelehrten, Rünftlern, böberen Beamten uſw. noch durchaus abhold; anſprucholos, aber geiſtig vornehm war ihre Geſelligkeit; das neue geſchaͤftliche Treiben war ihnen unverſtaͤndlich.

Aber dieſe Geſinnung und Geiſtes haltung ſchwand mehr und mehr. Einer, der, ſchon durch verwandtſchaftliche Beziehungen, einſt als auf⸗ ſtrebender Dichter dem Olfersſchen Kreiſe nahegeſtanden hatte, eine ideale Natur im alten Sinne, Ernſt von Wildenbruch, glaubte in hoͤherem Alter in Erinnerung an die großen Weimarer Traditionen in Weimar den Wohnſitz in der geiſtig gehobenen Umgebung zu finden, die er ſich wuͤn · ſchte. Er war bitter enttaͤuſcht von der Reſidenz des erwaͤhnten ungeiſtigen Enkels Karl Alexanders.

Die Anderung der Menſchen, auch der oberen Schichten, der Geſellſchaft war, wie oben angedeutet, nun nicht allein durch das Übergewicht der wirtſchaftlichen Intereſſen, durch Geſchaͤfts · und Geldgeiſt herbeigefuͤhrt, ſondern auch durch eine realpolitiſche Reaktion gegen die „Ideologie“, gegen „weltfremde und unpraktiſche ! Geiſtigkeit. Ein in manchen Bezie⸗ hungen heilſames, ja notwendiges neues Tatmenſchentum war herrſchend geworden. Paulſen, der Berliner Philoſoph, hat in feiner Philosophia mili- tans als Signatur des endenden 19. Jahrhunderts den Glauben an die Macht und den Unglauben an die Idee hingeſtellt. Aber ganz richtig ſchrieb 1895 der Samburger Buͤrgermeiſter Moͤnckeberg feinem Sohn: „Deine Klagen uͤber den nüchternen, geifl- und phantaſieloſen Realismus, der Deutſchland beherrſcht, find in vielen Beziehungen durchaus begruͤndet. Du mußt nur nicht vergeſſen, daß es der ganz natuͤrliche, unvermeidliche Ruͤckſchlag iſt, der eintreten mußte, nachdem das, idealiſtiſche, traͤumeriſche, romantiſche, unpraktiſche deutſche Volk... endlich zu Macht, aͤußerem Anſehen, relativem Reichtum gelangt war. Aber die Aufgabe war, die neue Einſeitigkeit, zu der dieſer natuͤrliche Ruͤckſchlag führte, wieder zu uͤberwinden, Macht mit Geiſt zu verbinden, den Ideen, den Idealen, der echten, innerlichen Kultur (nicht der aͤußerlichen „Bildungs“ pflege) den Platz einzuräumen, den fie haben muͤſſen, wenn ein Volk wahrhaft ge⸗ e ſoll. er Aufgabe iſt nicht nn erkannt und noch weniger gel

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Friedrich Meß Herzog Georg in Wickersdorf

Eine moderne Sage

Vorbemerkung: Im Jahr 909 entzog der als freiſinnig bekannte Serzog Georg IE von Sachſen Meiningen dem Begründer der Freien Schulgemeinde Wickersdorf Dr. Guſtav Wyneken die Genehmigung zur weiteren Leitung ſeines in der neuen Jugend- und Erziehungs bewegung bedeutungsvollen Unternehmens und zwar, wie man jetzt weiß, aus hoͤchſtperſoͤnlichem Entſchluß. Das Ereignis konnte uns heute nach 17 Jahren gleichgültig fein, wenn es nicht finnfällig den Gegen ſatz der beiden Aulturanſchauungen an den Tag ſtellte, an deren Ausgleich zu arbeiten gegenwartig eine deutſche Lebensfrage erſcheint. Die viel zu wenig in ihrer Ganz · heit gewuͤrdigte, einen ſtarken Aulturwillen verkoͤrpernde Perſoͤnlichkeit des großen Serzogs, deſſen hundertſter Geburtstag am 2. April 1926 gefeiert wurde, muß bei jeder Eroͤrterung der Staatsform als typiſcher Grenzfall in Rechnung geſtellt werden. Übrigens bat es faft ſymboliſche Bedeutung, daß der ſechsundachtzig · jaͤhrige Ränftler auf dem Thron als letzter der Monarchen, die an der Aaiſer ; proklamation mitgewirkt hatten, an demſelben Tage zu Grabe getragen wurde, an dem der Mord von Serajewo die europaͤiſche Umwaͤlzung einleitete. Mit erſtaunlichem Ahnungsvermoͤgen hat ſeinerzeit Maximilian Sarden beide zu- ſammenfallende Ereigniſſe in einem Aufſatz . Principes“ in dem von Kaſſanbra ; Geſichten erfüllten „Jukunft“ - Seft vom 4. Juli 1914 in Beziehung geſetzt.

yneken hatte dem Serzog geſchrieben: „Mein Werk und mich kann kein Oberſchulrat beurteilen, ſondern nur ein Menſch, der entweder durch keine moderne Schule gegangen iſt oder unfäg- lich unter ihr gelitten hat. Ew. Soheit, als ein Mann, deſſen ganze und reine Kindheit von keinem Schulmartyrium zerſtoͤrt worden iſt, moͤgen felber ſehen und richten oder einen vertrauten Menſchen von ſtarker Seele ſchicken, deſſen innere Freiheit weder Schule noch Zwang haben ſtumpf machen koͤnnen.“

Da kam der Serzog ſelbſt. Un vermutet. Mit feinem Sohn, dem Prinzen Ernſt, der mit dem Serzen des Ruͤnſtlers und des Vaters mehrerer ſchlanker, blonder, ſchulpflichtiger Söhne und Töchter, die Erziehung in der Freiheit hatte lieben lernen und dem Lebenswerk von Sermann Lietz ein dauernder Freund geworden war. Und mit Paul Graue, einem Öberbofprediger nach dem großen Vorbild Serders, der im Eifer um das Soͤchſte immer anderer und edlerer Meinung war und in ſolchem Eifer einmal das herzhafte Wort gewagt hatte: „Der Teufel hole alles Pfaffentum in der Schule und in der Kirche u _

Auf einer Waldwieſe übte ſich das junge Volk, zu dem ſich auch Abe und Lehrerinnen zaͤhlten, in Wettkaͤmpfen und dann ſprang ein Mädchen mit fpielgeröteten Wangen auf einen Baumſtumpf und friſch, als kaͤme es

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urſpruͤnglich aus ihr ſelbſt, erzaͤhlte fie in tanzendem und Hingendem Rede fluß, wie Zeus ſich zur Weltherrſchaft emporfhwang :*

„Inzwiſchen ſtanden Seras Saus und Sallen leer.

Und nur des Schickſals Fuße ſchlichen leis umher.

Doch durch den ſtillen Schloßwald, wo allein das Saͤmmern Des Spechtes ward gehoͤrt und durch der Tannen Daͤmmern Das Licht in goldnen Trauben drang vereinzelt nur,

Jog Jeus geſenkten Sauptes die Gedankenſpur.“

Und wie alle, die im Gras umherlagen, Alte und Junge, lauſchten, bald der Maͤdchenſtimme, bald dem Raufchen der Tannen, bald dem Saͤmmern des Spechtes, trat ein einſamer Wanderer auf die Waldbloͤße heraus. Einen Augenblick ſtand er am waldſaum ſtill, uͤberſchaute das lebende Bild, nahm den Sut ab und ließ die Sonne ſeine gefurchte Stirn, das duͤnne Saupthaar, den grauen Anebelbart beſcheinen. Dann ging er mit gemeſſe ; nen Schritten gerade auf die jugendliche Derfammlung zu. Niemand kann⸗ te ihn. Nur Wyneken. Es war Carl Spitteler. Seinen jugendlichen Freunden wollte Wyneken die unbeſchreiblich ſchoͤne Uberraſchung bereiten, ihren geliebten Dichter über alles Hoffen in ihrer Mitte zu ſehen. Von Jena kam er, hatte Eugen Diederichs, ſeinen Verleger und Freund, beſucht und ſtand nun unerkannt unter ihnen, auf den Stock geſtuͤtzt und ſchaute laͤchelnd und feuchten Auges das Maͤdchen an, das, ſelbſtvergeſſen in hoͤch⸗ ſtem Eifer, auf ſchoͤnen Lippen feine unverklingbaren Worte ſchwang. Mit luſtiger Bosheit ließ Wyneken feine Blicke von dem hohen Gaſt auf die abnungslofen Freunde ſchweifen. Da ward auch ihm eine Uberraſchung. Denn plotzlich auf der anderen Seite loͤſten ſich vom Schatten der Tannen die Geſtalten dreier Maͤnner, die ſich naͤherten. Der eine, lange hagere, mit dem ſchwarzen Ziegenbart, der kam ihm bekannt vor, ja, das war der Ober⸗ hofprediger Graue und damit kam ihm blitzartig die Gewißheit, wer die beiden anderen waren. Ruhig die Schhlerin weiterſprechen laſſend, naͤherte ſich Wyneken dem mittelſten und aͤlteſten der Maͤnner, aber der hob ab- winkend den derben Anotenſtock, auf den er feine mächtige, von der Zaſt des Alters gebeugte Geſtalt ftüsste, und ſchuͤttelte mit dem Kopf, daß der gewaltige weiße Bart hin und her wallte und die Gamsbuſch auf dem gruͤnen Jaͤgerhut.

„Willſt du, von Ruhm umſtrahlt, in Prunk und Pracht Die Burg befigen und die koͤnigliche Macht,

Gebietend über den Olymp und über Erden?

Ich harre deiner Antwort. Sprich, fo ſoll dir s werden.“ Gluthitze uͤberſiel ihn, drauf ein eiſig Schaudern.

„Greif zu!“ jauchzte die Gier. Entſetzen ließ ihn zaudern. „will du, o Zeus“

Carl Spitteler, 5 Frühling, Zweiter en VII. Er l Diederichs, Jena 191

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Sier blieb fie ſtecken, denn das Adlerauge des fremden alten Mannes durch; bohrte ſie. Dieſen Augenblick benutzte Wyneken, um ſie ſanft von ihrem erhöhten Standort herabzuziehen und ein Schüler, der geiſtesgegenwaͤrtig feine Abſicht erriet, breitete fein Cape über den Baumſtumpf, auf dem das Maͤdchen geſtanden hatte, und lud den Serzog mit einer anmutig ſtolzen Verneigung zum Sitzen ein. Inzwiſchen hatte Spitteler guͤtig die Aufre⸗ gung des Maͤdchens bemeiſtert, indem er ihr die naͤchſten Worte der Dichtung zuraunte, und vom Geiſt des Dichters wunderbar ermutigt, fuhr fie fort, erzählte mit geflugelten Worten, wie Zeus durch Sinterliſt und Verrat, durch Blutopfer unſchuldigen Lebens, aus raſender, alle Feigheit ver geſſenmachender Zeidenſchaft ſich der weltherrſchaft bemaͤchtigte.

„Und alfo ftieg er blutig jetzt und ſuͤndenſchwer Treppan die koͤnigliche Burg, verwaiſt und leer.

Wohin er trat, nur ftillee Aammern ſtumme Grüße, Und drohend donnerte der Sall der frevlen Süße.

In einem ſtaubigen Saale gaͤhnt ein alter Thron.

‚Das alfo‘, ſann er, ‚it des Lebens böcdhfter Lohn. Sier ſchliefen Aron und Mantel, die er gierig faßte. Und fieb, der Mantel ſaß ihm und die Arone paßte. Das Jepter wog er und behaͤndigte das Siegel.

Doch wie fein Blick durch Zufall traf den Senfterfpiegel, Schwirrte das Erdenleben, wie's dem Menſchen wird, Voruͤber durch den Spiegel, planlos und verwirrt.

Und alſo ſtetig ſteigend, kam er nach und nach

Durch eine Luke auf des Schloſſes Jinnendach.

Da lag vor ſeinem Aug' die unbegrenzte Welt

Tief ibm zu Fuͤßen, feiner Prüfung unterſtellt. Aufmerkſam machte fein enttaͤuſchter Blick die Runde, Und ſeufzend ging das Urteil endlich ihm vom Munde: Wie iſt's doch auf dem Weltendach fo kalt und ſchaurig! Und ſieh, der Sauch der Erde ſchmeckt ſo herb und traurig.

Und wie an ſein Ohr der Notſchrei der leidenden Geſchoͤpfe dringt, er ent⸗ fest fluͤchtet. „Doch Gorgo packte barten Griffs des Neulings Arm.

‚Man kauft, erhabner Zeus, die Serrſchaft nicht im Stück, Und auf der Welten hoͤhe gibt es kein Juruͤck.

Wie fie ihm das froſtige Mal des Ruhmes auf die Stirn druͤckt und ihn zur Größe verdammt. Und er ſich aufrichtet, „feine Arme weit Ausbreitend, rief er weltwärts: Jetzt und alle Zeit Weiß ich von eignen Wünſchen nicht und eignem Leid. Der Welt und ihren Noͤten weiß ich mich geweiht. Er ſchwur s, und Wahrheit rief 's aus tiefſtem Serzensgrunde.“

Sie verſtummte und alles verharrte in ehrfurchte vollem Schweigen. Der Serzog preßte feine Lippen auf den Stab, man wußte nicht, ob zornig, ob

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erſchůttert. Ploͤtzlich ſah er unwillig auf, denn Spittelers große, pruͤfende Augen ruhten auf ihm. Zwiſchen beide Maͤnner trat Wyneken, verband Sänger und König im Geſpraͤch, lud die hohen Gaͤſte ins Saus und, von ihm gefuͤhrt, gefolgt von der jugendlichen Freiſchar, traten fie in die Räume der Zukunftsſchule ein.

„Einer aus meinem Geſchlecht“, ſagte der Zerzog zu Spitteler, als fie gingen, „hat einmal ſeinen Vater zum Thronverzicht gezwungen. Seine Mutter beſchwor ihn unter Traͤnen, davon abzulaſſen, und was ihren Tränen nicht gelang, das ſollten die geiſtlichen Waffen ihres Beichtvaters bewirken, den ſie mit ſeiner gefaͤhrlichen Predigtgewalt und ſeiner ein · ſchmeichelnden menſchlichen Milde ihm auf den als ſchickte. Aber die Macht des Sauſes ſtand auf dem Spiel. Da war er taub gegen Frauen und Blerus. Derſelbe jagte am Anfang feiner Serrſchaft eine ganze Anzahl Leute aus feinem Dienſt, weil fie ein ganz Hein wenig unſchuldig gemogelt hatten. Sie flehten fußfaͤllig um Gnade. Er verachtete das unwuͤrdige Ge⸗ winſel. Wieder ſollte die Geiſtlichkeit vermitteln. Er winkte ab: Wenn man weiß, daß ich mich betrugen laſſe, fo bin ich nicht mehr Serr.“

Spitteler ſah ihn von der Seite an, erriet und nickte. Das erſte, was der Serzog zu ſehen begehrte, war zu Wynekens größtem Erſtaunen der Ort, wo ſonſt auch ein Serzog ſich ohne Gefolge hinbegibt. „Daruͤber verlangt Ceubuſcher Bericht und er hat Recht, denn für die Schulhygiene iſt auch das Unausſprechliche von Bedeutung und in Saubinda ließ es an; faͤnglich zu wůnſchen übrig.”

Dann durchging er die Schlafzimmer, fragte nach der Tageseinteilung, bemerkte, daß die Schlafenszeit der älteren Schüler viel zu lang fei. Wyne · ken verſprach Abhilfe. „Warum haben Sie ſich übrigens hier oben auf dem Wald eingeniſtet, wo ſich die Fuͤchſe und die Saſen Gute Nacht fagen. Iſtꝰs hier nicht im Winter erbaͤrmlich kalt? / „Wir find abgehaͤrtet. Sröb gleich nach dem Aufſtehen machen wir nuͤchtern Waldlauf, unbekleidet oder mit dunner Sporthoſe. Der Serzog ſchuͤttelte mißbilligend den Kopf. „Ich bin nicht pruͤde, aber mit Rindern ſollte man vorſichtig ſein, zumal bei Roedukation. Wir find keine Griechen. „Was find wir denn, wenn wir nicht fein wollen wie die Griechen, fprudelte Wyneken hervor. „Daß fie einfach Menſchen waren, das iſt das Geheimnis helleniſcher Art.“ „Was in Jahrtauſenden unter dem Einfluß des Chriſtentums zur Über · lieferung geworden iſt, kann man nicht als einzelner Menſch um werfen.. „Aber ich kann als ſouveraͤne, nur meinem Gewiſſen verantwortliche Per⸗ ſoͤnlichkeit nicht die Serrſchaft der Maſſe uber die fortgeſchrittenſten Geiſter anerkennen. ‚Warum ereifern Sie ſich über etwas fo Nebenſaͤchliches? „Dies iſt uns wahrhaftig Sauptſache, denn wir glauben an Nietzſches Wort: „Der Leib iſt eine große Vernunft. Werkzeug deines Leibes iſt auch Prof. Dr. Leubuſcher, Medizinalreferent im ehemaligen Serzoglich Sachſen⸗ Meiningiſchen Staats miniſterium.

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deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du, Geiſt nennſt, ein Heines Wert: und Spielzeug deiner großen Vernunft. Nur in tätiger Andacht zu unſerer gefunden Koͤrperlichkeit finden wir die Stimmung, die alles geiſtige Leben aus gedanklichen Bruchſtuͤcken zu einer vollen Sarmonie unſeres Weſens macht. „Man muß auch die Lehrer vor Verſuchung ſchuͤtzen, wenn fie ſo ſchwaͤrmeriſch veranlagt find wie Sie, Serr Doktor.“ Nach einer Pauſe der Verſtimmung fragte der Serzog: „Sind nicht dieſe Prokruſtes⸗ betten viel zu kurz für lange Primaner? Ich möchte mich da nicht hinein legen." Dann wuͤnſchte Prinz Ernſt zu willen: „Wie erhalten Sie die Ordnung aufrecht? Ich meine, in einer freien Schulgemeinde, wo ſo viel Freiheit herrſcht, müßte es auch mancherlei Grdnungsſchwierigkeiten geben, denen gegenüber Sie doch ſelbſt auf alle üblichen Schulſtrafen ver achten.“

wyneken: Wo der Beift feine natuͤrliche geſetzmaͤßige Entwicklung nimmt, da iſt die eigentliche wirkliche, natürliche Ordnung, nicht eine durch Zwang kuͤnſtlich erhaltene Nicht · Unordnung. Und fo auch, wenn man den werdenden Menſchen die feinem perſoͤnlichen Weſen entſprechende koͤrper⸗ liche, ſeeliſche und geiſtige Entwicklung nehmen laͤßt, immer ihm nur hilft bei der Löfung der Probleme in der Erfaſſung der Welt, die ſich ihm ganz von ſelber aufdraͤngen, ihn aber mit unverdaulichem fertigen Wiſſen ver · ſchont. Dennoch, da. wir alle Menſchen find, kommen, ſelten freilich, Ord ; nungswidrigkeiten vor, derart, daß ein Glied ſich mit Abſicht nicht in unfere Gemeinſchaft einfügen will und die Gemeinſchaft ſchaͤdigt. Dafur bedingt ſich die Gemeinſchaft ſelbſt eine Entſchaͤdigung aus; der Name Strafe waͤre unangemeſſen; der Schaͤdiger muß den Schaden durch eine Sonderarbeit im Dienſt der Gemeinſchaft ausgleichen. Am beſten nach ſeiner Wahl, fo wie ſich in der Zukunftsmenſchheit, die Goethe im Spiel „Pandora“ gegenwärtig macht, der Frevler ſelbſt feine Strafe beſtimmt.

Der Zerzog: „Jedenfalls liefern Sie den Beweis, daß man ganz ohne Pruͤgel auskommen kann. Und das freut mich, denn ich bin ein abgeſagter Feind des Pruͤgelns. Es ſtumpft alles menſchliche Gefuͤhl ab und nimmt dem Geſtraften die Menſchenwuͤrde. Vor einer Reihe von Jahren hat einmal ein Teil von jener Kraft, die ſtets das Boͤſe will und ſtets das Gute ſchafft, in Geſtalt des ſozialdemokratiſchen Redakteur Boshardt Miß⸗ ſtaͤnde im Gefaͤngnis zu Ichtershauſen an den Tag gebracht. Dort waren die jugendlichen Gefangenen feſte gepruͤgelt worden. Das habe ich mir für die Meininger ZLandeskinder ſehr entſchieden verbeten. Und als die Gotha⸗ iſche Regierung meine Worte dahin deutelte und drehte, ich haͤtte nur Strafprägel, nicht Erziehungspruͤgel gemißbilligt, da habe ich dieſen Ra⸗ buliſten eine Antwort gegeben, die ſie nicht hinter den Spiegel geſteckt haben u. .

Der Zerzog wandte ſich den kleineren Schülern und Schülerinnen zu. Mit feinen immer wie zornig funkelnden Augen und der ihm eigenen barſchen

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wohlwollenden Stimme fragte er: „Wie heißt du denn?" machte ſich und den Kindern ein Vergnügen daraus, zu erraten, welche Gegend Deutſch⸗ lands oder Europas fie ihre Seimat nannten. Einen größeren Schüler, der die ſilberne Weltkugel der Guttempler trug, fragte er nach der Bewandtnis dieſes ihm noch unbekannten Zeichens. „Was haben Sie denn da?“, dann zu allen: „Ich habe gehoͤrt, ihr ſpielt auch Theater. Was gebt ihr denn?“ was ihr wollt”, erwiderte laͤchelnd die Spitteler - RAhapſodin. „Schön, Heine Viola! Sie haben vorhin ihre Sache gut gemacht!“ Alles lachte, denn wirklich hatte die Angeredete in dem genannten Shakeſpeareſchen uſtſpiel die bezeichnete zierliche Rolle gefpielt.

Nun wohnten die Gaͤſte einer Unterrichtsſtunde bei. Wyneken gab Auf: ſaͤtze zuruck, die das Thema behandelten: „IR Monarchie oder Republik die beſſere Staatsform?! Alle hatten ſich für die Republik entſchieden bis auf einen, und dieſen einen bat Wyneken, ſeinen Aufſatz vorzuleſen, denn es war der beſte von allen. Mit glübenden Wangen trat der junge Mann hervor, griff zitternd nach ſeinem Seft, reckte ſich dann empor und las:

„Ob Greiſtaat oder Koͤnigtum die beſſere Staatsform iſt, das kann ich nicht ſagen. Es kommt bei ihnen beiden auf die Menſchen an. Mit großen Republikanern geht es, glaube ich, beſſer als mit kleinen Königen. Und umgekehrt. Wie iſt s nun wohl heutzutage? Ich habe mir geſtern das Buͤ⸗ chelchen mit den Bildern der Reichstagsabgeordneten angeſehen. Da find wenige, die wie ein Cato ausſehen. Der alte Bebel hoͤchſtens. Aber die Könige? Sie find alle in Uniform. Und das iſt vielleicht gut. Aber wenn heute ein ganz großer Koͤnig wäre, wuͤrde der in Uniform gehen? In den blauen Buͤchern, da iſt eins mit modernen Bildwerken. Darunter iſt eine Buͤſte des Serzogs Karl Theodor von Bayern, ich glaube von Sildebrand. So ſieht ein großer König aus. Oder er müßte ausſehen wie Fridtjof Nanſen und müßte im Zuftſchiff den Nordpol entdecken, denn wer die Naturgewalten beherrſcht, der kann auch Menſchen beherrſchen. Es gibt auch ein Reiterſtandbild vom Kaifer Friedrich in Bremen, wo er als roͤmi⸗ ſcher Imperator dargeſtellt iſt und eigentlich nichts an hat. Ein Kaiſer, der nichts an hat und doch ſo ausſieht, als haͤtte er was an, naͤmlich eine unſichtbare Majeſtaͤt, der iſt nicht wie der Kaiſer mit neuen Kleidern in Anderſens Maͤrchen, ſondern er taugt zu ſeinem Beruf.

wenn heute ein großer König wäre und fein Miniſter legte ihm eine Verordnung zur Bekaͤmpfung der Viehſeuchen vor, wuͤrde er ſagen: Was? Bin ich ein Profeſſor der Tierheilkunde? Ich bin ein König. Das mag der Regierungsveterinaͤr unterſchreiben, der’s verſteht. Ich verſtehe nichts da⸗ von und Sie auch nicht, Serr Miniſter. Aber eins verſtehe ich: Es ſollen nicht mehr die Kinder der armen Leute in Rlaffen von achtzig bis hundert zuſammengepfercht werden, wo ſie nichts lernen und kaum atmen koͤnnen vor Stickluft. Und es ſoll nicht mehr fein, daß die Kinder armer Leute ohne Fruͤhſtůck in die Schule kommen und müde und hungrig daſitzen und Tat vm 8

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Pruͤgel kriegen, wenn fie nicht aufpaſſen koͤnnen wie die Kinder, die ſatt und friſch find. Es follen für alle Kinder, arme und reiche, auf dem Land freie Schulgemeinden eingerichtet werden, damit eine geſunde und ſtarke Jugend heranwaͤchſt. Machen Sie fo eine Geſetzvorlage! Wenn aber der Miniſter antwortet: ‚Das kann ich nicht, denn der Landtag verwilligt keine Mittel dazu, ‚Dann werde ich den Landtag auflöfen‘, wird der König antworten. Der Miniſter zuckt mit den Achfeln. ‚Das koͤnnen Sie nur mit meiner Gegenzeichnung, Majeſtaͤt, und die kann ich nicht geben, denn es iſt wider meine Überzeugung. Sie koͤnnen mich entlaſſen. Aber Sie werden keinen neuen Miniſter finden, der gegenzeichnet, er ſei denn Sozial demokrat.“ Da wird der große Aönig auffahren: „Was? Zum Unterſchrei⸗ ben von Reblausſchutzverordnungen, die mich nichts angehen, bin ich gut genug, aber ich darf nicht tun, was meines Roͤnigsamtes iſt, nicht un⸗ mittelbar zu meinem Volke ſprechen, wenn ich will? Nicht anders ſoll ich mein Volk anrufen koͤnnen als durch Vermittlung eines Feindes des Koͤnigtums ? Da iſt was faul im Staat. Ich will dem Lande eine neue Der- faſſung geben. Das Volk ſoll ſich ſelbſt regieren durch einen freigewaͤhlten Praͤſidenten. Was geht den Rönig die Verwaltung an? Aber ich will der oberſte Richter ſein in meinem Volk, das iſt mein Rönigsamt. Richten will ich aus freier Überzeugung, ohne Miniſter. Über Anklagen gegen die Staateleiter wegen Geſetzverletzung will ich richten. ber den Landtag will ich richten, indem ich die Entſcheidung des Volkes über das Ergebnis feiner Arbeit herbeifuͤhre. Und alle Richter im Land will ich ernennen, nach freier Wahl ohne Gegenzeichnung des Juſtizminiſters. Und nicht will ich allein richten. mit zwei von mir berufenen alten Staatsmaͤnnern. So bilden wir drei den oberſten Staatsgerichtshof. Und ich will auch nicht mehr König heißen, ſondern es nur fein. Obervolksrichter will ich heißen oder Obmann des Volksgerichts. Und eines Tages werde ich herunterſteigen vom Kichterſtuhl und zum Volke ſagen: Wähle dir einen neuen Richter. Und Gluck dem Volk, wenn fie mich wiederwaͤhlen! Groͤßeres Gluck, wenn fie einen bef- ſeren finden. Und ich will nicht mehr Saupt der Kirche fein. Die Vertreter der Kirche will ich verſammeln und fagen: Es ziemt nicht der evangeli⸗ ſchen Kirche, daß ſie ein angeſtammtes Oberhaupt hat. Frei muß ſie ſein, aber auch frei im Geiſt. Sie muß ſich erweitern zur Allgemeinde der nach Chriſti Vorbild leben wollenden, indem fie ſich ſelbſt aufgibt und ihr Be⸗ kenntnis. Sie muß alle Bekenntniſſe verwerfen, weil ſie nur ſchmutzige getůnchte Scheidewaͤnde find, die den herrlichen gewoͤlbten Raum der Kirche Chriſti ſchaͤnden. Ihre Arme ſoll fie oͤffnen allen Menſchen, die das Goͤttliche ſuchen, um ihnen zu dienen, nicht um ſie zu beherrſchen. Sie erhält ſich nur aus der Freigebigkeit derer, die ihr angehoͤren wollen, nicht aus erzwungenen Abgaben und Steuern der Andersglaͤubigen und Un⸗ glaͤubigen. Wenn aber der Landtag ein Geſetz macht: aus den Steuern vou Katholiken und Juden und Freidenkern foll die evangeliſche Kirche unter⸗

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halten werden, ſo werde ich die Entſcheidung des Volkes anrufen gegen dieſes Geſetz, denn es verſtoͤßt gegen die unumſtoͤßlichſten Saͤtze des Natur⸗ rechts, gegen das heilige unveraͤußerliche Recht auf Glaubens und Ge⸗ wiſſensfreiheit. Wollt ihr eine ſolche freie Rirche? Wohlan, ich will ihr Fuͤhrer fein. Denn es iſt Rönigsamt, des Gewaͤhlten wie des Geborenen, die unſterblichen Gůter des Volkes zu ſchuͤtzen, vor allem die Volkskraft und die Freiheit des Geiſtes. Der Staatsleiter oder Praͤſident mag fuͤr die täglichen Lebens bedůͤrfniſſe des Volkes forgen.

Zu ſolchem Koͤnigsamt aber muß man geboren fein, auch wenn man ge- waͤhlt wird. So ſpricht der große König und hat keine Sorge, daß fein Sohn, der ſich unter dem Volk verliert, nicht einſt von ihm gefunden und gekroͤnt wird.“

Wyneken eroͤffnete eine Ausſprache. Er lenkte ſie geſchickt von der Frage: Monarchie oder Republik ? fort, weil er hieruͤber in Gegenwart des fuͤrſt lichen Gaſtes nur befangene Außerungen von den Schlern zu bekommen fuͤrchtete. Aber er ließ die utopiſche Monarchie des jugendlichen Aufſatz · verfaſſers von allen Seiten unter ein Kreuzfeuer der Kritik nehmen und jede Kritik aus Schuͤlermund warf er mit einem haarſcharf geſpitzten Ge⸗ gengrund um, nicht ohne gleichzeitig einen noch viel ſchaͤrferen Angriff hervorzulocken. Dabei kam es, daß das Geſpraͤch ſchließlich im Eifer der jungen Leute noch viel peinlicher wurde als ein Geſpraͤch über Republik geworden wäre, fo daß Prinz Ernſt, der feinem Vater gegenüber von junger Leute Seite nur ſchweigende Ehrfurcht für angemeſſen hielt, un- willig vom Stuhl aufſtand und Oberhofprediger Graue mehrmals im Be⸗ griff war, Wynekens Sand zu ergreifen und zu ſagen: „Lieber Serr Dok⸗ tor, es iſt genug!“ Da ergriff unerwartet der Serzog das Wort und gab uͤberraſchend ſchoͤn dem Augenblick feine Würde wieder: „Soͤrt mir zu! Ich will eine wahre Befchichte* erzählen. In den Tagen der Voͤlkerwanderung waren die Seruler, ein germaniſcher Stamm, hoch oben vom Norden aus der Inſel Thule bis ans Mittellaͤndiſche Meer gekommen. In dem oſt⸗ roͤmiſchen Reich kaͤmpften fie ſich von Land zu Land. Und in einer blutigen Schlacht mußten fie ihren König auf der wWalſtatt laſſen. Sübrerlos konnten fie nicht bleiben, es galt einen neuen König zu wählen. Aber unter ihnen war keiner von dem alten thulitiſchen Koͤnigsgeſchlecht. Da ſandten fie eine Geſandtſchaft nach Thule durch vieler Voͤlker Lande, um einen neuen König von koͤniglichem Stamm einzuholen. Die Geſandten gelangten nach langer mühfamer Irrfahrt über Länder und Meere zur Inſel Thule, uͤberbrachten die Botſchaft und nahmen einen Koͤnigſohn mit ſich, der bereit war, ihr König zu werden. Unterwegs aber ftarb dieſer Erkorene. Da kehrten fie um, fuhren noch einmal über die See nach Thule und nahmen gleich zwei Roͤnigſoͤhne mit ſich, für den Fall, daß einem wieder etwas zuſtieße. So kehrten ſie nach Ablauf von drei Jahren mit Vgl. Felix Dahn, Die Bönige der Germanen.

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einem neuen Volkskòͤnig zu ihren Stammesgenoſſen im roͤmiſchen Reich zuruͤck. Die aber waren inzwiſchen in ſchwere Not geraten und da ihnen die Geſandtſchaft zu lange ſaͤumte und fie fuͤrchteten, fie werde nicht wieder⸗ kommen, hatten fie einen Edlen oder Freien aus dem Volk auf den Koͤnigs⸗ ſchild erhoben, der hatte die Feinde in mehreren Schlachten geſchlagen und feinem Volk gute Landfine gewonnen. Als aber der neue König aus Thule kam, von altem thulitiſchen Koͤnigsgeſchlecht, da fiel ihm alles Volk zu. Der erwaͤhlte ſiegreiche König von geringer Serkunft aber, verlaſſen vom Seer, wich mit wenigen Treuen ins Elend und iſt im Kampf mit uͤber⸗ legenen Feinden bald danach umgekommen.“

Der Serzog erhob ſich. Die Schuͤler ſprangen auf und Wyneken entließ fie. Als die fünf Männer unter ſich waren, begann der Serzog: Sie er- warten vielleicht, Herr Doktor, daß ich Sie frage: Warum haben Sie dies Thema gewaͤhlt? Das wollte ich auch, aber nachdem ich den Aufſatz und die Ausſprache gehoͤrt habe, iſt mir eine andere Frage viel wichtiger. Was haben die jungen Leute daraus gelernt? Sollen fie Republikaner, follen fie Monarchiſten fein? Sollen fie ſich von ihrem Gefuͤhl oder von Gruͤnden leiten laſſen? Sollen fie nur einer großen Perſoͤnlichkeit folgen? Alles hat Ihre Kritik ihnen problematiſch gemacht. Und vor allem: ſie wiſſen gar nicht, was ihr Lehrer ſelber für eine Meinung hat. Ich fürchte, fie find in dieſer Unterrichtsſtunde dummer geworden, als fie vorher waren.

Wyneken: Daß ich es offen geſtehe, Hoheit: Im Grunde bin ich mit dieſem Aufſatz in tiefſter Seele einverſtanden. Nicht, weil ich der gleichen Meinung bin. Alle Einzelheiten laſſen ſich ſachlich widerlegen. Aber weil der Schüler nicht angelernte Weisheit von ſich gibt, ſondern ein inneres Exlebnis offenbart. Er hat in Wickersdorf erfahren, daß der Lehrer dann am ſtaͤrkſten iſt und ſeine Wirkung auf die Schuͤler am unwiderſtehlichſten, wenn er ſich aller aͤußeren Macht begeben hat. Und das wendet er auf den Staat an und findet, daß der König, der auf alle Zwangsgewalt verzichtet, der maͤchtigſte König iſt.

Prinz Ernſt: Und Sie ſchließen: So wenig der Lehrer, der den Bakel verbrennt, aufbört, Lehrer zu fein, fo wenig verlöre der König von feiner Macht, wenn er vom Throne ſteigt. Ein gefaͤhrlicher Vergleich! Ich glaube, er hinkt auf beiden Seiten. Denn ſollte nicht dieſer großmuͤtige König ſich nur deshalb halten, weil er ein Demagog iſt, und jener Lehrer mit der großen Geſte nur dadurch, daß er ſtatt eines Fuͤhrers der Jugend ihr Verfuͤhrer iſt?

Graue: Nicht wahr, lieber Herr Doktor, Sie erkennen in den ſcheinbar harten Worten Seiner Hoheit nur das gequaͤlte Serz des Jugendfreundes und ehrlichen Wahrheitſuchers, der ſich um die Jugend ſorgt, der Sie ſcheinbar keine Ziele zu ſetzen vermoͤgen. Denn ſo wie der Serzog fuͤrchtet, daß durch dieſe Uberkritik die Jungens nur noch mehr verwirrt worden find, fo möchte auch ich die bange Frage an Sie richten: Zu was und auf

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welchem Wege wollen Sie Ihre Schüler führen, wenn Sie auf allen Seiten fie nur vor ungeloͤſte Probleme ftellen?

Wyneken: Das Erlebnis, das der Schuͤler gehabt hat, iſt ſo ſtark, daß es der Sturmwind der Kritik nur feſter verwurzeln kann. Und ich glaube, alle anderen Schüler haben dasſelbe Erlebnis, nur daß einer allein es hat in Worte fallen koͤnnen, und deshalb fühle ich als Lehrer, was einer, der nicht in unſerer Gemeinſchaft ſteht, nicht gewahr wird, was alles die Schuler in dieſer Stunde gelernt haben, nicht von mir, ſondern von ihrem mitſchuͤler. Zu welcher Weltanſchauung meine Schüler ſich durchringen werden, das weiß ich nicht, das iſt mir gleichguͤltig. Ich lehre ihnen keine feſte Meinung, ſondern helfe ihnen, ihr eignes geſundes Urteil ſtaͤrken und entwickeln. Ich ſetze ihnen kein Ziel, ſie ſelber ſetzen es ſich.

Prinz Ernſt: Jeder einzelne ſetzt es ſich? Ganz nach eigener Willkuͤr? Aber fie ſollen einmal Bürger fein im heutigen Staat. Nicht in einem beliebigen Staat. Sondern im Deutſchen Reich, ihrem Vaterland, und einem der dieſes Reich bildenden geſchichtlich gewordenen Gliedſtaaten. Und dieſe Staaten find ſeit Jahrhunderten, ja Jahrtauſenden auf die Monar ; chie gegruͤndet. Die Erziehung mag noch ſo ſehr zur Freiheit fuͤhren, aber die Überzeugung vom wert der Grundlagen des vaterlaͤndiſchen Staates muß ſie in der Jugend zu bilden beſtrebt ſein.

Graue: Dem kann ich nur hinzufuͤgen: die religiöfe Erziehung mag noch ſo frei ſein und wenn ſie es kann, ſo ſoll ſie es auch, das Kind an kein Dogma binden —, aber die Geſinnung Jeſu muß ſie dem heranwachſen⸗ den Geſchlecht mitteilen, die ſteht über aller Kritik.

Wyneken: Die Geſinnung kommt nur aus der Freiheit. So wahr ich mich als Chriſt fuͤhle in dem Sinn, daß ich vom Chriſtentum nichts habe als das Streben nach der Geſinnung Chriſti, ſo ſicher bin ich, daß meine Worte nichts vermoͤgen, wenn mein Beiſpiel nichts vermag, und daß Worte uͤber ſolche Dinge nicht nur unnoͤtig, ſondern ſogar ſchaͤdlich ſind. Und ſo brauche ich keine koͤnigstreue Geſinnung in meinen jungen Freunden zu wecken, wenn fie mit mir erlebt haben, daß man nur im Lande des großen Könige von Serzen Monarchiſt fein kann.

prinz Ernſt: Eines Königs, deſſen Wahlſpruch iſt: Der wahre König iſt der wahre Bettler!

Spitteler: Laſſen Sie mich meinen Freund verteidigen! Ich bin ein Re- publikaner, aber ein Dichter. Jeder kommt zu den Serrſchenden mit einem anderen Notſchrei. Die wenigſten koͤnnen Erfuͤllung finden, denn das Schickſal iſt karg und der Machthaber hart.

Der Serzog: Und wie lautet der Notſchrei des geiſtigen Menſchen?

Bpitteler : Silf uns, König, die rohen Gewalten in Staat und Wirtſchaft in edlere menſchliche Kraͤfte umzuſetzen!

Graue: Geſtatten Sie mir ein Bekenntnis! Denn ich bin auch ſo ein Geiſtesmenſch, wenn auch keiner von denen, vor denen ich mich ſelbſt in

119 Friedrich Meß, Serzog Georg in Wickersdorf

Ehrfurcht beuge, die Könige zu erziehen und mit Königen Freundſchaft zu ſchlie en würdig find wie Goethe, aber ich trage an den ſeeliſchen Laſten der geiſtigen Menſchen wie irgendeiner. Mir iſt aber das große Erlebnis geworden, daß ich ſelbſt mithelfen durfte, die Gewalt des Staates zum Werkzeug geiſtiger und ſeeliſcher Befreiung zu machen. Schule und Kirche wurden aus einem unnatuͤrlichen Zwangeverhaͤltnis, das beide beengte, losgelöft und beide, Schule wie Kirche, empfangen die Freiheit, ungehemmt und in freier, freundſchaftlicher Verbindung jede ihre eigene hohe Aufgabe zu erfuͤllen. Eine Wiedergeburt religioͤſer Muſik haben wir in den werken der Meiſter Brahms und Reger erlebt. Eine Wiedergeburt der Schauſpiel⸗ kunſt hat uns die Schaubuͤhne zur moraliſchen Anſtalt gemacht, die ſogar uns Gottſuchern auf unſerem Wege weiterhilft. Und das hat ſich alles zur Zeit der weltſtaͤdte in einer kleinen, vom weltverkehr abgelegenen Stadt ereignet. Oh, dieſe Meininger! Daß ſie gar nicht dankbar ſind den großen Meiſtern, die unter ihnen gewirkt, und ihrem Herzog, der ſelbſt ein Schaf fender und ein Befreier iſt.

Wyneken: Es iſt gewiß kein kleines Verdienſt, ein nuͤchternes Geſchlecht, das in den Sorgen des Alltags aufging, durch Erſchuͤtterung der ſchlum⸗ mernden ſchoͤnheitſehnenden Seele emporgeriſſen zu haben zu einer neuen religiöfen Stimmung. Aber ſchließlich muͤſſen wir alle nachleben, was Nietzſche uns vorlebte: von der dionyſiſchen Luft am kuͤnſtlichen Weltſpiel und der furchtbar ſchoͤnen Tragoͤdie des Lebens fortzuſchreiten zu der welt; umgeſtaltenden Tat. Wir religiös Bewegten wurden wieder jung. Nicht aus Narrheit oder Laune trage ich dieſelbe Muͤtze wie meine jungen Freunde. Unſer Zeitalter verjüngt ſich und fliegt mit neuen Gefuͤhlen zu neuen Zielen. Aber Jugend verneint mit ſichrem Gefuͤhl allen Zwang ohne Sinn, alle Autorität ohne Geiſt. Sie lehnt die Schule ab, aber liebt den maͤnnlichen Rameraden. Sie beſeitigt auch in Staat und Geſellſchaft alle Scheinwerte, die, mit dem Sammer angeſchlagen, keinen Klang geben. Welcher neue Karl Auguſt leiht dieſem jugendlichen Geiſte Herz und macht? Ich ſpreche nicht von mir, aber wo iſt der König geweſen, der Nietzſches Gefaͤhrte haͤtte ſein wollen oder koͤnnen? Warum nicht? weil er ein Empoͤrer war? Saben nicht große Könige Klopſtock den Republi- kaner und Voltaire den Freigeiſt beherbergt? Wir haben unfere Europaͤer · würde in die Luft geworfen und erhoffen von einem großen Könige aͤhnliches. i

Der Herzog : Saben Sie mit Ihrem Sammer vielleicht die Entdeckung ge⸗ macht, daß auch die Familie keinen Klang mehr gibt und in der menſch⸗ lichen Geſellſchaft kuͤnftig keinen Wert mehr hat? Ich frage, weil ich mich des Eindrucks nicht erwehren kann, daß Sie ſich in einem wohl⸗ bekannten Fall zwiſchen Eltern und Kind geſtellt und das kindliche Ver⸗ trauen von den Eltern auf ſich abgelenkt haben.

Wyneken: Wenn dies noͤtig iſt, um das Kind zu retten?

Barl Ferdinand Freytag, Paul Ernſt III

Der Serzog: wohl oder wehe Ihnen, wenn Sie dieſe Verantwortung übernehmen. Ich merke, daß Sie die Inſtitutionen zerſtoͤren und durch Perſoͤnlichkeiten erſetzen wollen. Es ſcheint mir auch fo, als liebten Sie den ſozialdemokratiſchen Zukunftsſtaat mehr als den Gegenwartſtaat. Das mögen Sie halten wie Sie wollen. Aber das eine glauben Sie mir: wenn einmal der Zukunftsſtaat kommt, dann wird er dauernd ebenſowenig auf Perſoͤnlichkeiten gegründet fein wie der alte, ſondern auf Inſtitutionen. Da Sie mich aber zum Richter aufgerufen haben, fo will ich mein Urteil ausſprechen. Nicht Über Ihr Werk, das iſt vielleicht nicht ſchlecht. Auch nicht uͤber Ihre Perſoͤnlichkeit, denn wie kann ein Menſch des anderen Richter fein! Aber über Ihre Wirkſamkeit. Sie gefaͤhrdet den Staat und die Zebensordnung, an der ich in beſcheidenem Maße mitgebaut habe. Übrigens wuͤnſche ich Ihrer Schule einen Nachfolger, der Ihnen nicht unebenbůttig iſt.

Der Serzog ſchied mit ſeinen Begleitern. Zu Wyneken ſagte Spitteler: „Er hat nicht Unrecht, aber Sie haben Recht.“

Karl Serdinand Sreytag / Paul Ernſt

Erinnerungen eines Jugendfreundes zu ſeinem 60. Geburtstage, 7. Maͤrz 1926

m Sommer 1883, als ich 19 Jahre alt war, vertauſchte ich das Gymnaſium zu Wernigerode noch als Oberprimaner mit dem zu Klausthal.

Beides waren kleine Sarzſtaͤdte, nicht viele Meilen von einander entfernt,

aber verſchieden wie Tag und Nacht. Wernigerode war eine ſchoͤne alte

Kefidenz und ein moderner Kurort und Penſionopolis zugleich. Es hatte

ein praͤchtiges Schloß mit vielen „hohen Mauern und Zinnen“, ein herr⸗

liches Rathaus und viele ſchoͤn geſchnitzte Privathaͤuſer aus dem Mittel alter, prachtvolle Gaͤrten und Alleen kurz, es war ein Fleines Paradies.

Dagegen war Klausthal nichts als ein großes Dorf, in dem die Saͤuſer

eigentlich nur Bretterbuden waren, faſt alle mit haͤßlicher gelbgruͤner

Farbe geſtrichen, und ſich fo aͤhnlich wie ein Ei dem anderen. Das Gym;

naſium in Wernigerode war ein Prachtbau aus weißem Sandſtein, mit

ſchoͤn bemalten Kreuzgaͤngen, hohen, gut ventilierten Räumen und allen modernen Einrichtungen; das in Klausthal ein baufaͤlliger alter Kaſten. Und doch glaͤnzen die neun Monate, die ich in Klausthal verlebte, in meiner Erinnerung als die ſchoͤnſte und die gluͤcklichſte Zeit meines Lebens, waͤhrend die ſieben Jahre, die ich in Wernigerode zugebracht hatte, da⸗ gegen faſt verblaſſen. Ich war gluͤcklich in Klausthal, weil ich frei war von allen Beſchraͤn

112 Barl Ferdinand Freytag

kungen, die mich vorher gedruͤckt hatten, und weil ich einen Freund fand, der mir fuͤr viele lange Jahre mehr ſein ſollte, als es je ein anderer Freund geweſen iſt. Und dieſer Freund war Paul Ernſt, dem dieſe Zeilen zu fei- nem 60. Geburtstage gewidmet ſind.

Die Prima hatte nur zwei Baͤnke; auf der einen ſaßen die „Alten“, zu denen ich gehoͤrte; auf der anderen die „Neuen“, und ſo kam es, daß Paul Ernft feinen Sitz gerade vor mir erhielt. Daraus ergaben ſich allerlei kleine freundſchaftliche Beziehungen wie von ſelbſt. Ich bat ihn oft, ſich ja gut anzulehnen, wenn ich hinter feinem Rüden die franzoͤſiſche Auf⸗ gabe etwa während der Religionsftunde anzufertigen hatte, weil ich fie am Abend vorher vergeſſen oder verſchoben hatte. Aber ach, fein Rüden war nur ſehr ſchmal, und manchmal drehte er ſich naiver Weife auch noch um, mir zuzuſehen, und dann gab es tragiſche Szenen mit den Lehrern. Aber da ich der erklaͤrte Liebling des „Tory“ war, wie man aus irgendeinem Grunde den Direktor nannte, und auch bei dem franzoͤſiſchen Lehrer einen Stein im Brett hatte, ſo lief die Sache immer glimpflich ab.

Als Gegendienſt für ſolche neue Art von „Ruͤckendeckung“ hatte ich Ge⸗ legenheit, den ſchwaͤchlichen, kurzſichtigen und weltfremden Mitſchuͤler gegen die Saͤnſeleien und Taktloſigkeiten der Klaſſengenoſſen zu ſchuͤtzen, was ich mit Behagen und Erfolg in Szene ſetzte, ſo daß weitere Verſuche bald als ausſichtslos aufgegeben wurden, da ich in dieſer Sache aber auch gar keinen Spaß verſtehen wollte.

So knuͤpften wir allmaͤhlich eine immer waͤrmer werdende Freundſchaft an; Paul holte mich auf dem Schulwege ab, oder ich ihn, und noch ehe der geſtrenge Sarzer Winter hereinbrach, tranken wir auf einem der idylliſchen Zechenhaͤuſer Brüderfchaft. Zwar nur in Milch, da das ſtilgemaͤßere Bier leider nicht zu haben war, aber deſto inniger und, wie ſich in 42 Jahren ge⸗ zeigt hat, fuͤr um ſo laͤngere Dauer.

Ich wurde bei Pauls Eltern eingeführt. Sein Vater, der Aufſeher (Steiger) in einem ſtaatlichen Pochwerk war, hatte durch den fortwaͤhren · den Lärm der Saͤmmer fein Gehoͤr faſt ganz eingebüßt. Aber er hatte gar nichts von dem mißtrauiſchen Charakter, der Tauben und Schwerhoͤrigen oft eigen iſt, ſondern die Serzensguͤte und Menſchenfreundlichkeit leuchtete ihm nur fo aus den guten Augen, wenn er einem zum Willkommen oder zum Abſchied die Sand druͤckte. Die Mutter freilich meinte, daß der Vater mit großer Verſchlagenheit und Fineſſe behandelt werden muͤſſe, nament- lich wenn es fuͤr Paul etwas anzuſchaffen galt, was bei dem winzigen, aber ſehr genau verwalteten Einkommen nur ſchwer zu erſchwingen war. Als vertrauter Freund wurde ich oft in dieſe Heine Diplomatie eingeweiht, und

mußte wohl auch ſelbſt ein wenig mit helfen, obwohl ich leicht erkannte, daß der Vater alles wohl durchſchaute, aber in feiner freundlichen und mil-

»So werden im Sarz die Heinen Saͤuſer (meiſt tief im Walde) genannt, in denen die Grubenaufſe her wohnen und meiſtens eine Heine Gaſtwirtſchaft betreiben.

paul Ernſt IIʒ3

den Geſinnung den Seinen die Freude eines unſchuldigen Spieles nicht verderben wollte.

Ein groͤßerer Gegenſatz als der zwiſchen Vater und Mutter Ernſt ließ ſich kaum denken. Der Vater groß, ſtattlich, aber ſchon etwas gebädt, mit ſpaͤrlichem, weißem Saar und ergrautem Vollbart; die Mutter klein, viel jünger, mit friſchen Wangen, kohlſchwarzen Augen und leicht gekraͤuſel⸗ tem, ganz dunklem Saar. Die beiden erinnerten mich immer an Goethes Eltern: er ein wenig pedantiſch und ſteif, ſie voller Leben und reger, frei⸗ lich ungeſchulter Phantaſie.

Zuweilen durfte ich auch den Großvater muͤtterlicherſeits begruͤßen, der

war ein kleiner, lebhafter, penfionierter Volksſchullehrer mit einem Räpp- chen und der langen Pfeife, dem die Tochter wie aus den Augen geſchnitten war. Neben dem großen, freundlichen Wohnzimmer lag Pauls Heines Stüb- chen, uͤber der Sausflur und im Winter grimmig kalt. Dort ſaß er, wenn das Wetter es irgend erlaubte, leſend oder gar dichtend. Nie vergeſſe ich den Wintertag, an dem er mir zuerſt feine Sammlung von ſelbſtgeſchrie⸗ benen Gedichten und Maͤrchen zeigte und vorlas, waͤhrend draußen die dicken Schneeflocken langſam und feierlich herabrieſelten. Wie war ich ſtolz einen Freund zu haben, der wirkliche Gedichte ſchreiben konnte, nicht für den Schulgebrauch, wie ich fie manchmal für Schulfeiern machen mußte, par ordre du mufti, ſondern wirkliche Gedichte, die gedruckt wer- den konnten, wie die meiner damaligen Goͤtter und Salbgoͤtter: Lenau, Geibel und Storm, die ich privatim las und um ſo mehr bewunderte, je trauriger ihre Motive waren. Und Maͤrchen ! Ich las fie immer mit Ent zuͤcken; aber daß man es wagen koͤnnte, ſelbſt derartiges zu ſchreiben, er- ſchien mir undenkbar.

Begeiſtert erzaͤhlte ich meiner Mutter von dem neuen Freunde. „Bring ihn doch naͤchſten Sonnabend mit,” fagte fie. Denn Sonnabends ging ich ſtets nach Sauſe, um die Mutter in Altenau zu beſuchen. Nie konnte ich die Zeit abwarten, bis die Schule am Samstag zu Ende war. Dann aber lief ich ſpornſtreichs die 9 Kilometer, oft ohne auch nur etwas gegeſſen zu haben, und blieb oft, mit jeder Stunde geizend, bis Montag fruͤh, obwohl es mir herzlich ſauer wurde, vor ſechs Uhr an eiſig kalten Wintermorgen aufzuſte hen, um rechtzeitig wieder in der Schule einzutreffen. Schularbei⸗ ten für Montag leiſtete ich grundſaͤtzlich nie, und die meiſten Lehrer fanden ſich mit dieſer Tatſache ab. Sie fragten mich am Montag gar nicht mehr,

hatte, die ich erfolgreich als Blitzableiter benutzte. Er hatte naͤmli Kirche zu Zellerfeld eine echte Sandſchrift Martin Luthers entde in einer hiſtoriſchen Fachzeitſchrift zu publizieren und damit ewige zu ernten gedachte. Brachte man ihn darauf, ſo vergaß er ſofort

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Großen, die Schlacht bei Cannaͤ, und alle ſieben Plagen der Weltgeſchichte.

Und ich war der Einzige, der ihn darauf bringen konnte. Es gelang mir je⸗ desmal, aber ich hielt ſorgfaͤltig mit dieſer Gottesgabe Saus, um ſie Mon⸗ tags zu gebrauchen, und nie ließ ich mich bewegen, fie an andere leicht; ſinnige Mitſchuͤler zu verſchleudern, obwohl ich damit oft einen ſchweren Stand hatte. Aber ſo iſt einmal der Menſch, und Jugend hat keine Tugend.

An dem Samstag, da ich meinen neuen Freund zum erſten Male nach Altenau nahm, ging es nicht fo wie ſonſt. Zuerft mußten wir bei der be- ſorgten Frau Ernſt ein gutes warmes Mittagsbrot eſſen, und dann feſt verſprechen, daß wir am Sonntag Abend fieben Uhr zuruͤck fein wurden, „ſonſt verginge ſie vor Angſt“. Und das haben wir denn diesmal auch puͤnktlich gehalten.

ie Schönheit des Gberharzes läßt ſich ſchwer beſchreiben; man muß darin geboren ſein und ſie dann lange entbehrt haben. Dann erſt erkennt man ſie und ſehnt ſich nach ihr, mag man auch in weiter Ferne wohnen.

An jenem Wintertage war es herrlich uͤber die Maßen. Tief lag der Schnee auf den Wieſen, ſauber und ohne Makel wie ein friſch gewaſchenes Leintuch, und man ging leicht und lautlos Über die Pfade, die von Berg⸗ leuten und Pochjungen feſtgetreten waren. Die hohen Fichten trugen ſchwere Laften von Schnee; wie Wolken lagen fie auf den dunkelgruͤnen Aſten. Das Pochhaͤuschen im Polſtertal ſah aus wie ein Maͤrchenbild mit feinem Schneedach, feinem verſchneiten Garten und den Zaunpfoſten mit weißen Rappen. Und über allem ſchien die grelle warme Winterſonne vom klaren, blauen Simmel.

Begeiſtert zeigte ich dem Freunde die vielen Herrlichkeiten. Aber der hatte damals wenig Sinn für Natur, ſondern war ein rechter Buͤcherwurm und erzaͤhlte mir nur immer von Jean Paul, von dem ich noch nie das geringſte gelefen, ſondern nur wußte, was ich in der Citeraturſtunde über ihn gehoͤrt hatte. Einige Tage ſpaͤter ſchenkte er mir auch den „Titan“; aber ſo redlich ich mich auch mübte, es iſt mir bis zum heutigen Tage ganz unmöglich ge⸗ blieben, durch den Dornenwald ſeiner Formloſigkeit in ſein Maͤrchenſchloß einzudringen und ſeine Schaͤtze zu heben.

Auch ſonſt hatte er unendlich viel geleſen, von dem ich keine Ahnung hatte. In feinem Zimmer ſtanden eine Menge alter Schmoͤker mit Stock⸗ flecken und anderen Zeichen einer ehrwuͤrdigen Vergangenheit. Er hatte in allen geleſen, ſo jung er war, und mit ſicherem Blick uͤberall das Beſte herausgefunden. Daß ich fortwährend in Zeitungen und Zeitſchriften las, ſah er mit Entruͤſtung für mich und Verachtung für das „dumme Zeug“, das darin ſtand. Statt deſſen empfahl er mir ſchon damals Jakob Boehme und andere Myſtiker, die ich erſt 30 Jahre ſpaͤter verſtehen und würdigen lernte.

Immer wenn wir zuſammen waren, hatte er fuͤr mich Neues und Inter⸗

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eſſantes in Fulle, und meine Bewunderung und neidloſe Liebe für ihn wuchs von Tag zu Tag.

Meine Mutter empfing ihn mit aller der Freundlichkeit, die eine gute Frau dem Freunde ihres Sohnes entgegenbringt, und mit der Fuͤrſorge, die fein zarter Geſundheitszuſtand zu fordern ſchien. Sie tiſchte das beſte auf, was das Saus zu bieten hatte, und nachdem wir „die Begierde nach Speiſe und Trank vertrieben hatten!, ſetzten wir unſere Debatten über alle Pro⸗ bleme, die uns bewegten, fort, ich auf dem ledernen Zotterbett mich behag⸗ lich ſtreckend, Paul erregt im Zimmer auf und nieder gehend, waͤhrend die Stricknadeln der Mutter eine gemuͤtliche Muſik dazu machten. Ich inter effierte mich damals ſchon lebhaft, aber in ſehr dilettantiſcher Weiſe für Politik, die mein Freund als unwichtig für die Seele mit Entruͤſtung bei- ſeite ſchob. Einige Jahre ſpaͤter hat ſie ihn dann freilich doch erfaßt und nie wieder ganz freigelaſſen, wenigſtens in der Theorie, denn die praktiſche Betaͤtigung auf dieſem dornigen Felde war nichts für ihn, wie er ſchon aus der Apologie des Sokrates haͤtte lernen koͤnnen.

Solche Beſuche wiederholten ſich noch vielmals in unſerem Leben, bald in Altenau, bald in Klausthal, und ſpaͤter in meinem Sauſe, als meine Frau an Stelle der Mutter getreten war.

Bald lernte ich auch die Quelle kennen, der die meiſten der Buͤcher meines Freundes entſtammten. Am Zellbach, zwiſchen Klausthal und Zellerfeld, hauſte ein Sammler von Lumpen, Anochen und ſonſtigen Altertümern mit dem füßen Namen Sonig, und dieſer Mann hatte auch in einer Scheu⸗ ne ein beſcheidenes Buͤcherlager, in dem mein Freund mit großem Scharf ſinn das wenige wertvolle aus dem Wuſt des Wertloſen herausſuchte. Serrn Sonig lag nichts daran, was man waͤhlte; er kaufte die Ware beim Zentner, und ſoweit es Bücher waren, rechnete er denſelben Preis für das Pfund. Das war eine ſehr einfache Rechnung, und als guter Geſchaͤfts⸗ mann konnte er auch keinen Schaden dabei erleiden. Das uͤbrige verkaufte er als Makulatur. Später, als Student in Gottingen, fand Paul eine Frau Eyſelen, mit der er ähnliche Geſchaͤftsbeziehungen anknuͤpfte. Auch dort; hin ſchleppte er mich mit, aber ich intereſſierte mich mehr fuͤr ihre huͤbſche Tochter, als für ihre Bücher, deren es bei ihr, als in einer Univerfitäts- ſtadt, eine viel größere Fulle gab. Auch waren ihre Preiſe erheblich hoͤher, obwohl immer noch beſcheiden.

In der Schule ging es Paul viel ſchlechter, als nach ſeinen großen Gaben zu erwarten war. Manche Lehrer hielten ihn fuͤr nachlaͤſſig und nur mäßig begabt, der „Tory“ aber für einen übeln Duckmaͤuſer, und ich mußte oft meinen ganzen Einfluß auf bieten, um das Schlimmſte zu ver; büten. Ein Jahr ſpaͤter, nachdem ich das Abiturium abſolviert hatte, brach ein ſolcher Zwieſpalt zwiſchen Paul und dem Direktor aus, daß mein Freund auch noch im letzten Jahre die Schule wechſelte und nach Nord⸗ baufen uͤberſiedelte, mit demſelben guten Erfolge, wie ich ein Jahr zuvor.

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Gegen weihnachten führte mich Paul bei Fraͤulein Rath ein, einer lie benswuͤrdigen und Hugen Dame von etwa fünfzig Jahren, die ſich damit vergnuͤgte, junge Leute, die ihr gefielen, jeden Donnerstag Abend einzu · laden, und nach einem beſcheidenen Abendeſſen mit ihnen zu mufizieren, oder Stucke mit geteilten Rollen zu leſen. Fur Deklamation hatte ich von jeher eine ganz beſondere Schwaͤche, freilich ohne die geringſte Schulung, und erſetzte durch ein ſchreckliches Pathos, was mir an Verſtaͤndnis leider fehlte. Meine guten Freunde in Klausthal aber bewunderten mich ſehr, und fuͤr den Direktor war ich, wie auch ſchon vorher in Wernigerode, das Daradepferd, das bei jeder Schulfeier vorgeritten wurde. Uberhaupt iſt es eigentuͤmlich, wie die Lehrer immer und überall den formell Gewandten, mit einem guten Gedaͤchtnis Begabten fuͤr das Genie halten, und indem ſie ihn verziehen, ihn hindern das zu werden, wofuͤr er wirklich beſtimmt iſt, und damit oft feinen Untergang herbeifuͤhren, während fie fuͤr den wirklich Genialen und Griginellen keinen Maßſtab und kein Verſtaͤndnis haben und ihn ſchon auf der Schule für fein ſpaͤteres Maͤrtyrertum vor; bereiten.

Die Abende bei Fraͤulein Rath waren für uns ſehr anregend und führten noch zu langen Diskuſſionen auf dem Seimwege, bis in die tiefe Winter⸗ nacht. wir wurden ganz heiß vom Reden und wandern, waͤhrend die Sterne uͤber uns in der Kaͤlte glitzerten und die langen Eiszapfen von den Daͤchern hingen.

So kam bald das Abiturientenexamen heran, und in der Begeiſterung des Erfolges tranken wir beide ſo viel Bier, daß ich heute noch nicht weiß, wie ich damals nach Sauſe gekommen bin. Paul aber mußte die ungewohnte Ausſchweifung mit drei Tagen Krankheit büßen, wie mir feine Mutter in großer Betruͤbnis berichtete, als ich am naͤchſten Montag aus Altenau zuruͤckkam, um Abſchied zu nehmen von der freundlichen Bergſtadt, in der ich fo viel gluͤckliche Stunden erlebt hatte in fo kurzer Zeit.

Den letzten Abend verbrachte ich dann noch mit Paul, und waͤhrend der Maͤrzenſchnee im Fruͤhlingswinde zerſchmolz und das Tauwaſſer die Straße hinabjagte, ſprachen wir begeiſtert von all dem Großen, das wir in der Welt lernen und leiſten wollten.

Woher paul den Reſt der Gymnaſialzeit abſolvierte, ging ich nach Böttingen, verſchiedene Studien ohne inneren Anteil beginnend und wieder aufgebend, ohne rechte Befriedigung und ohne Erfolg. Statt ein Brotſtudium aufzunehmen, verſuchte ich mich mit den religioͤſen und philoſophiſchen Grundproblemen auseinanderzuſetzen und geriet dadurch auf Kant, Sartmann, und namentlich Schopenhauer, der mich dauernd gefangen nahm. Das Chriſtentum hatte mich als Kind nur gequält mit eis · kalten Süßen in ungeheizten Kirchen mit Steinfließen, und mit langwei- ligen Predigten und dem grellen widerſpruch im Leben der Geiſtlichen mit

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dem was fie von anderen forderten, und der Unduldſamkeit, die ich in Wer- nigerode fand. Nun warf ich es ganz uͤber Bord und glaubte auch mit meinen Grundſaͤtzen nicht vereinbaren zu koͤnnen, daß ich dem Staate, der doch unter chriſtlicher Flagge ſegelte, ſpaͤter dienen ſollte. Daruber hatte ich viele und leidenſchaftliche Debatten mit aͤlteren Rommilitonen, denen ich mich angeſchloſſen hatte. Paul fehlte mir ſehr in diefer ſchweren Zeit, und unfere lebhafte Rorreſpondenz konnte den perſoͤnlichen Verkehr nicht erſetzen. Er hielt feſt an einem myſtiſchen Chriſtentum, das meinem leiden; ſchaftlichen und der Welt trotz allem theoretiſchen Peſſimismus zugewand⸗ ten Wefen wenig entſprach. Endlich kam auch er nach Goͤttingen, um Theologie zu ſtudieren, fuͤhlte ſich aber auch unbefriedigt und ging das naͤchſte Semeſter nach Berlin, um ſich ganz dem Schriftſtellertum zu widmen.

a nun unfere Seelen leer waren, fo ſuchten wir etwas, das fie füllen

koͤnnte, und verfielen fo beide, ganz unabhaͤngig voneinander, auf den Sozialismus und die moderne realiſtiſche Literatur. Wir hielten beides für ſtreng logiſch und wiſſenſchaftlich, und konnten nicht erkennen, daß es ſich um nichts anderes handelte als eine neue, freilich ſehr „ziviliſierte und verwaͤſſerte Religion. Dieſe neue Religion war die materialiſtiſche Ge⸗ ſchichtsauffaſſung; ihr Gott hieß oͤkonomiſche Entwicklung; ihre Bibel hieß „das Kapital“, und Karl Marx war ihr Prophet. Das erwaͤhlte Volk aber war das Proletariat. Zuerſt mußte es aus dem Agyptenland des Ka⸗ pitalismus geführt werden, und die Fuhrer waren auch ſchon da: fie hießen Bebel und Ziebknecht. Dann mußte es durch die Wuͤſte ziehen, und dabei waren einige Rüdfälle und Tänze um das goldene Kalb freilich nicht ausgeſchloſſen. Aber endlich mußte doch die Revolution kommen, der Zu⸗ kunftsſtaat, und damit das neue Reich auf Erden, und nichts wuͤrde mehr fein als eitel Gluck und Freude, Utopia und Schlaraffenland.

Da nun niemand ſagen konnte, wie dieſer Zukunftsſtaat eigentlich aus⸗ ſehen würde, fo beſchaͤftigte man ſich lieber mit der Kritik der Gegenwart, an der es ja auch wirklich genug zu kritiſieren gab, und es wurde an ihren Einrichtungen, der Kirche, der Armee, dem Adel, dem Großgrundbeſitz denn auch buchſtaͤblich kein gutes Saar gelaſſen.

Alles, aber auch alles, vom Kriege bis zum Schnupfen, wurde der Wirt⸗ ſchaftsform in die Schuhe geſchoben, ganz wie fruͤher dem lieben Gott. Dies ließ ſich, wenigſtens in ſeiner kraſſen Form, auf die Dauer ſelbſtver⸗ ſtaͤndlich nicht aufrecht erhalten, und fo wurden denn auch bald Ausnah⸗ men zugelaſſen. Dom Proletariat wurde bald das „Zumpenproletariat“ als hoffnungslos aufgegeben und von der „Bourgeoiſie“ eine Anzahl von Ideologen“ abgeſondert. Kritiſcher Prüfung und gereifter Cebenserfah⸗ rung konnte ſolch einſeitiges Schema natuͤrlich nicht ſtandhalten; aber die Jugend will ja nicht pruͤfen, ſondern glauben, und da es nichts Beſſeres gab, ſo eroberte dieſes die Welt.

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Die Literatur jener Zeit wurde deshalb realiſtiſch genannt, weil ihre Darſtellung der menſchlichen Geſellſchaft im Gegenſatz zu der ſchoͤnfaͤrben· den kleinbuͤrgerlichen Vielſchreiberei Rand, die vorher Mode war, und bei den Spießbuͤrgern auch ewig bleiben wird. Alle, die vorher maͤnnliche Selden oder weibliche Engel waren, wurden nun umgefaͤrbt zu Teufeln und dummen Gaͤnſen. Die Unternehmer waren alle geldgierige Sklaven halter und Expreſſer, und die Arbeiter und Arbeiterinnen die wirklichen selden. Alle Lafter der Welt wurden dem Profitſyſtem zugeſchoben, das in feinen ſchrecklichen Folgen in den grellſten Farben geſchildert wurde, in der ſicheren und frohen Erwartung, daß allen Menſchen ſogleich die Fluͤgel der Vollkommenheit wachſen würden, wenn nur erſt der Tau des Sozialismus auf fie fiele. Dies war alles ſehr gut gemeint und hat ſicher viele in großer Not mit Hoffnung und Begeiſterung erfüllt, aber realiſtiſch war es ganz ſicher nicht, ſondern ausnehmend phantaſtiſch, mochte auch die Sprache noch ſo getreu Berliniſch oder Schleſiſch klingen.

Dies war das Evangelium, dem wir uns hingaben. Es lag in der Luft, erfüllte die Serzen aller, die nicht in Streberei und Philiſtertum verſunken waren, und entfremdete ſie dem Staat und dem Volke, in dem ſie geboren waren. Es gab ihnen für kurze Zeit einen Lebensinhalt, aber es vernichtete vielen die Zukunft.

Als Paul Ernſt von Berlin nach Goͤttingen zuruͤckkehrte, fanden wir uns in dem neuen Glauben vereint. Paul war in Berlin in den Schriftfteller- verein „Durch“ eingetreten und hatte dort faſt alle Fuhrer der neuen Be⸗ wegung kennen gelernt: Wille, die Gebruͤder Sart, Boͤlſche, Sauptmann, ſpaͤter auch Solz und Schlaf, während ich in Gottingen „Die Revolution in der Literatur von Bleibtreu und „Das Buch der Zeit“ und die „Mo⸗ dernen Dichtercharaktere ! mit Begeiſterung geleſen und durch Vorträge und Diskuſſtonen Freunde für die neue Bewegung gewonnen hatte.

Wir wohnten zuſammen in einem huͤbſchen Gartenhauſe und verbrach⸗ ten die Zeit mit Unterhaltungen über unerfuͤllbare Pläne zur Verbeſſerung der Menſchheit, waͤhrend wir unſere eigene Zukunft daruͤber vergaßen.

Im Serbſt 1887 gingen wir zuſammen nach Berlin, und ich lernte das literariſche Treiben der Großſtadt, aber auch die Entbehrungen des armen Studenten und Schriftſtellers gruͤndlich kennen. Wir hatten Verbindungen mit einigen größeren Zeitungen angeknuͤpft und lieferten ihnen für kum · merlichen Sold literariſche Beſprechungen. In die aktive Politik traten wir beide damals nicht ein. In der Tiefe meiner Seele ſchlummerte trotz aller Begeiſterung immer ein Gefuͤhl, daß mit der Sozialdemokratie doch nicht alles ganz fo golden war wie es uns zuerſt erſchienen, und einige per · ſoͤnliche Erfahrungen brachten mich dem Standpunkt George Bernard Shaws ſehr nahe, der einmal geſagt hat: Socialism is all right, except for the socialiste. So entrann ich der Gefahr, mein Leben von dem Dienſte der Sozialdemokratie abhaͤngig zu machen, obwohl ich ihr noch lange anhing.

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paul Ernſt hat inzwiſchen wertvolle Jahre dem Dienſte der Sozial; demokratiſchen Partei geopfert. Als ich ihn um 1890 in Berlin beſuchte, nahm er mich mit ſich zu einem Vortrag, den er in einer Gewerkſchaft hielt. Ich ſah wie er ſich ehrlich můhte, den Arbeitern die Maryſche Werttheorie Harzulegen, und wie er dabei ſich und feine Zuhoͤrer grauſam quaͤlte. Denn je gruͤndlicher er vorging, deſto mehr ermuͤdete er fie, und deſto weniger konnten ſie ihm folgen.

Auch als Redakteur der ſozialiſtiſchen „Volkstribuͤne“ erntete er nichts als Undank und Mißerfolg, und auf ſeine ſtreng logiſchen und oft ſehr wertvollen Leitartikel im „Vorwärts“ ſogar eine ganz unverdiente ſau⸗ grobe Behandlung von ſeiten des alternden Engels. Als ich einſt mit dem älteren Ciebknecht eine Wanderfahrt durch den Taunus machte und feiner als eines vertrauten Freundes erwaͤhnte, ſpuckte der Gift und Galle, und waͤre mir beinahe mitten im Walde allein davongelaufen.

Jahre 1895 erwarb ich mit meiner Frau ein kleines Gut in Unter⸗ franken, das der beruͤhmte Saͤnger Theodor Reichmann zu verkaufen hatte, und konnte fo Ende der goer Jahre dem Jugendfreunde Sommer für Sommer eine Zuflucht bieten, wenn ihn Krankheit, Enttaͤuſchungen, und das ſchwere Ringen um eine geſicherte literariſche Stellung in der Großſtadt, aber auch um gedankliche und dichteriſche Vollendung zu ver: nichten drohten. |

Damals haben wir herrliche Sommertage zuſammen verlebt, während der Glaube unſerer Jugend allmaͤhlich in uns beiden verblaßte, und wir die ungeheure Vielfältigkeit und Verwicklung der Probleme allmaͤhlich er- kannten, die wir fruher alle für ganz einfach gehalten und „Aus einem einzigen Punkte / kurieren zu koͤnnen geglaubt hatten.

In unſerem Sauſe geſchah es auch, daß ſich Paul Ernſt entſchloß, eine neue Ehe mit Louife von Benda einzugehen, nachdem feine erſte Frau ſamt ihrem Soͤhnchen ſchon ganz fruͤh geſtorben war. Dieſe Ehe gab ihm zum erſten Male in feinem Leben eine ruhige Saͤuslichkeit und eine ge- ſicherte materielle Exiſtenz als Grundlage ſeiner reichen, fruchtbaren und vielſeitigen Taͤtigkeit. Immer aber blieben wir eng vereint, und ſo lange ich in Deutſchland lebte, ſahen wir uns oft, ſei es, daß ich nach Weimar ging, ihn in ſeinem ſchoͤnen Seim „Am Sorn“ zu beſuchen, oder daß er zu uns kam, uns in ſchweren Zeiten zu troͤſten. Später führte mich mein Schickſal nach Kalifornien, und ſchon zwanzig Jahre ſind wir getrennt. Mit ungemindertem Anteil aber habe ich während dieſer ganzen Zeit, und mit ſtets wachſender Bewunderung ſeinen ſtetigen Aufſtieg verfolgt. Un⸗ beirrt von Beifall oder Verkennung iſt er ſtolz und aufrecht ſeinen weg gegangen, und eine beſſere Zeit als die Gegenwart wird feinen Wert er⸗ kennen.

Was ich ihm perſoͤnlich zu danken habe, iſt mehr als ich ſagen und be;

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ſchreiben kann. In meinen bildſamen Jugendjahren hat er mich gelehrt, immer nur nach dem Soͤchſten und Beſten zu ſtreben und nicht allein das Schlechte, ſondern auch das Mittelmaͤßige mit Verachtung beiſeite zu laſſen. In meinen Mannesjahren hat er mich erneut auf das kuͤnſtleriſch Wertvolle und Bedeutende hingelenkt, und das Bleibende im Wechfel der Jeiten zu beachten gelehrt. Durch ſein Beiſpiel, mehr noch als durch ſeine werke habe ich die tiefſten Eindruͤcke empfangen. Tag fuͤr Tag habe ich ihm zugeſehen, wie er Seite auf Seite beſchrieb mit ſeiner ſchraͤgen, mick⸗ rigen, ſchwer leſerlichen Schrift; wie ſich die Bogen haͤuften zu kleinen Bergen, und wie ſie auf die Wanderung gingen zu Zeitſchriften und Ver⸗ legern; wie ſie immer wieder zuruͤckkehrten, weil niemand ſie drucken und leſen wollte. Aber immer ſchrieb er weiter, als ob nichts geſchehen ſei, waͤhrend tauſend andere, und ich am erſten, den Mut verloren haͤtten. Und ſiehe da, uͤber Nacht kam der Erfolg. Nicht bei der Menge, nicht bei den Viel- zu⸗ Vielen, nicht bei den Mittelmaͤßigen, aber bei den Beſten. Die ſind doch zuletzt entſcheidend, und ſie haben fuͤr ihn entſchieden.

Ja ſeinen Dichtungen finden wir nur weniges, das wir als autobio⸗ graphiſch anſehen koͤnnen. Am meiſten noch iſt ſein Jugendleben er⸗ kenntlich an dem ſchoͤnen Roman „Der ſchmale weg zum Gluͤck“. Alle aͤußere Ahnlichkeit in Erſcheinung und Lebensgang des Selden mit denen des Dichters ſcheint an vielen Stellen abſichtlich verwiſcht zu ſein. Sans hat „ſtraffes, blondes Saar”, wir haben den Eindruck, daß er groß, ſchlank und etwas eckig war, waͤhrend Paul zwar auch nicht klein, aber durchaus nicht knochig, ſondern eher zart gebaut erſchien und dunkle Locken trug. Sanfens Mutter hat einen „glatten, blonden Scheitel“, aber Pauls Mutter ſchmuͤckte ſchwarzes, krauſes Saar. Pauls Vater war ein Bergmann, San- ſens Vater aber ein Foͤrſter; der Bergmann erſcheint als Großvater San- ſens wieder. Sanſens Eltern haben eine Kuh und betreiben eine kleine Bauernwirtſchaft; Pauls Eltern waren reine Stadtleute. Sie wohnten in Klausthal lange Jahre bei einem Fleiſcher namens Löwe ; daraus iſt der Löͤwenhof entſtanden, in dem Sans als Gymnaſiaſt in Nordhauſen wohnt. Die Familie des Barons, der Beſitzer des Waldes iſt, in dem Sans aufwaͤchſt, in deſſen Dienſten der Vater ſteht, und deſſen Tochter der Sohn ſchließlich heiratet, iſt frei erfunden, aber es ſpielen da wohl Beziehungen zu Zouiſe von Benda und ihrer Familie hinein. Jedenfalls wurde durch die Ehe mit dieſer guten und feinen, wenn auch etwas einſiedleriſchen Frau Pauls äußere Exiſtenz in demſelben Sinne unabhaͤngig wie die San; ſens durch die Verbindung mit der Tochter des Barons.

waͤhrend ſo im aͤußeren Leben ſich wenig Ahnlichkeit zeigt, gibt der Roman doch die innere Entwicklung des Dichters in einem getreuen Spie gelbilde wieder. Schon in der Beanlagung zeigt ſich ſehr viel Ahnliches. „Im Rechnen“, ſo heißt es von Sanſen, „ging es bei ihm immer ſchlecht,

paul Ernſt 121

ebenſo in der Erdkunde . Und genau fo war es mit Paul. Noch immer ſehe ich ihn vor mir, wie er die kleinſten Additionen oder Subtraktionen an den. Fingern abzaͤhlte, während ihm manche verwickelte NRonſtruktionen in der Geometrie viel weniger Schwierigkeiten bereiteten als mir. Das Kursbuch, in dem ich fortwährend lange Reifen unternahm, die „deficiente pecu —“ niemals zur Ausführung kamen, blieb ihm ſtets ein Buch mit mehr als ſieben Siegeln, und es iſt mir ein großes Rätfel, wie er ſich auf feinen vie len Reifen zurechtgefunden hat.

Ganz wie Sans, ſo iſt der Dichter ſelbſt, ſo bin ich, und ſo ſind viele Harzer Knaben aufgewachſen. So wie er haben wir das Waldesrauſchen gehoͤrt und das Brummen der Kühe an der Raufe. So wie er haben wir den Seuboden erlebt und das Gruſeln gelernt, fo wie er das Gefuͤhl der Schuld, des böfen Gewiſſens und der verdienten oder un verdienten Strafe.

Namentlich wenn wir einzige Rinder waren, wie Sans und Paul und ich ſelbſt. Ganz ſo wie Sans haben wir alle das Seimweh gefuͤhlt, wenn wir den Sarz verlaſſen mußten, und wußten nicht einmal wozu. Wie er fuͤhlten wir ſchmerzlich das ſchwere Scheiden von den Tannenwaͤldern; wie er ſahen wir die letzten weißen Stämme auf den Guͤterzuͤgen hinter uns zuruͤckbleiben; wie er empfanden wir die weite Ebene als fremd und troſtlos; wie er fühlten wir Berlin als einen unheimlichen Koloß, der ſich wie ein Albdruck auf unſere Bruſt legte; wie er verloren wir uns in dem Großſtadtgetriebe und fühlten, daß wir wie ein Tropfen reinen Bebirgs- waſſers in den ſchmutzigen Fluten der Spree verſanken.

Das alles hat Paul Ernſt dargeſtellt mit ſicherer Kuͤnſtlerſchaft und mit großer Treue: ſich ſelbſt und mich und alle, die mit uns jung waren vor vierzig Jahren. Viele von ihnen find zugrunde gegangen als Opfer einer ungluͤcklichen, zerriſſenen Zeit, in der der Deutſche Glaube, der Deutſche Idealismus verſunken und vergeſſen waren. Manche haben ſich noch in letzter Stunde gerettet in die Einſamkeit oder uͤber das Weltmeer, ent; wurzelt, der deutſchen Kulturwelt verloren. Nur ganz wenige haben es vermocht, die Umwelt, wie fie ſich in unſerer Zeit darſtellte, durch kuͤnſt⸗ leriſche Geſtaltung und wiſſenſchaftliche Erkenntnis zu uͤberwinden und damit Bleibendes zu ſchaffen. Einer von dieſen wenigen iſt Paul Ernſt. Trotz aller Semmniſſe einer feindlichen Umwelt, trotz Not und Krankheit iſt er unablaͤſſig den ſteilen Pfad emporgeſtiegen, der ihn zu immer hoͤheren Gipfeln gefuͤhrt hat, ohne zu raſten, ohne zu weilen, ohne ſich auch nur umzuſchauen. Ich dagegen habe viel Zeit vergeudet beim Blumenpfluͤcken auf Seitenpfaden, unter dunklen Fichten und an klaren Quellen, und beim Plaudern mit Kindern, die auf den Tuͤrſchwellen ſaßen, und in der Sorge für das tägliche Brot. Auch mit vielen Spitzbuben und argem Geſindel mußte ich mich herumſchlagen. Aber immer wieder winkte er mir freund- lich zu von der Soͤhe, die er ſchon erreicht hatte. Und es iſt merkwuͤrdig: trotzdem die Entfernung zwiſchen uns immer groͤßer wurde und nun wohl Tat XV 9

122 A. Juſtus Obenauer

ſchon ſehr groß ſein muß, kann ich ihn doch noch ganz deutlich verſtehen und mich aller ſeiner Worte freuen wie damals, als wir jung waren.

Und wenn ich mir manchmal doch Vorwuͤrfe mache, daß ich ihm nicht zur Seite geblieben bin auf dem harten, ſteilen, ſonnverſengten Pfade nach oben, dann troͤſte ich mich wieder damit, daß wir doch nicht alle Rompo⸗ niſten fein koͤnnen, ſondern es muß auch Sänger geben und Klavierſpieler, und ſchließlich ſogar einfache Zuhoͤrer, die vielleicht manchmal einſchlafen bei der ſchoͤnſten Muſik, aber doch dankbar find und das Saͤndeklatſchen be- ſorgen, wenn es noͤtig iſt, und die ſchoͤnen Blumenſtraͤuße bringen zum Jubilaͤum und ſechzigſten Geburtstag.

Ein ſolcher Blumenſtrauß ſollen dieſe Zeilen ſein. Ein Strauß von wie ſenblumen, wie fie in den Tälern des Sarzes wuchſen, als wir beide jung waren, und deren Duft man nie vergißt, auch wenn der Schnee von vierzig Wintern ſie bedeckt.

K. Juſtus Obenauer K. Chr. Plancks Naturphiloſophie

on Plands Naturphiloſophie ſei folgendes hervorgehoben. Vor

allem: die empiriſtiſch aͤußerliche und mechaniſche Naturanſicht hat

das Bewußtſein des zentralen Grundes der Dinge gaͤnzlich verloren, hat es untergehen laſſen in dem erſt der ſpaͤteren, frei peripheriſchen Na⸗ turentwicklung angehoͤrigen Teildaſein der individuellen Stofflichkeit. Am Anfang der Dinge kann nicht die Selbſtaͤndigkeit der Teile (Atome) ſtehen, vielmehr gilt es gerade, dieſe individuelle Stoff lichkeit aus dem noch indivi⸗ dualitaͤtsloſen Grunde entſtehen zu laſſen. Sierauf beruht auch feine Pole⸗ mit gegen die mechaniſche Licht · und Waͤrmetheorie. Die Abſonderung ir- gend welcher Stoff · oder Atherteilchen kann Licht und Wärme nicht er- flaͤren, weil verſelbſtaͤndigte Teilchen, deren Mechanik Licht und Wärme erklaͤren follen, einem viel ſpaͤteren Stadium der Weltentwicklung erſt an⸗ gehoren koͤnnen. Wie die Naturreligionen des Altertums naiv anſchaulich die geſamte Entwicklung aller Dinge aus dem weltenei hervorgehen laſſen (ſiehe den gleichzeitigen Bachofen )), fo iſt für Planck dieſer Anfang etwas ähnliches: die „ſelbſtlos innere Zuſammenfaſſung der Teile mit dem Ganzen“, „individualitaͤtslos heiße und lichte Einheit“, und die beſonde⸗ ren Weltkoͤrper und Stoffe find Stufen fortſchreitender Ronzentrierung und laſſen deutlich ihr beſtimmtes Verhaͤltnis zum Zentrum, aus dem ſie hervorgingen, noch erkennen. Wenn Schelling in den Ideen einmal ſagt, die Stelle im Syſtem ſei die einzige Erklärung, die es von den Erſcheinun ;

»Siehe den Aufſatz vom gleichen Verfaſſer im Aprilheft: Ju R. Plancks Teſta⸗ ment.

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A. Chr. Plandis Naturphiloſophie | 123

gen gäbe, fo gilt dies auch hier, mit dem Unterſchied nur, daß bei Planck die Welt und ihre Wunder ſelbſt ſich real vor uns entwickeln, und nicht nur een, die aus einer zentralen Idee abgeleitet werden.

Die Weltentwicklung erklaͤrt fi alſo nach Planck allein aus dem Prin- zip der fortſchreitenden Individualiſterung, der relativen Verſelbſtaͤndi⸗ gung, die teils in einem raͤumlichen Auseinandertreten der Teile, teils in einer innerlichen Juruͤckziehung in ſich ſelbſt beſteht, ſtatt des anfaͤnglichen noch individualitaͤtsloſen glühenden Ineinanderwirkens zur ſelbſtaͤndigen Erxkaltung und Verdunkelung hinſtrebt, und inſoweit zur ſelbſtiſchen Be⸗ ziehungsloſigkeit der Teile gegeneinander wird (86). Nur auf dies allge- meinſte zentrale Entwicklungsgeſetz iſt ſein geiſtiges Auge gerichtet, und er zieht aus der empiriſchen Wiſſenſchaft nur das heran, was zur Derdent- lichung notwendig iſt. Die fortſchreitende Indi vidualiſterung, Erkaltung und Konzentrierung fordert das Gegengeſetz: Ruckkehr zu innerlich uni⸗ verſeller, über alles Teil · und Eigendaſein erhabener Einheit. Ahnlich hatte Goethe (in dem Weltentſtehungsſyſtem in Dichtung und Wahrheit) alles Leben aus dem Weltgeſetz der einatmenden Verſelbſtung und der ausat- menden Entſelbſtigung entſtehen laſſen, aber nie iſt dieſer Gedanke ſo zum Mittelpunkt eines ganzen Syſtems geworden wie bei Planck.

Was iſt aber dann Wärme und Licht ſelbſt? Dies kann Planck nicht deut · lich ſagen. Am Anfang iſt die Einheit Licht, die Einheit Waͤrme. Oder, mit ſeinen eigenen Worten: waͤrme iſt die noch unſelbſtaͤndig hinausbezogene innere Einheit des Jentrums mit dem räumlich entfernten Umkreis; Licht die unmittelbare innere Einheit, in welcher das vom Umkreis verſchiedene und inſofern gegen ihn abgegrenzte eigene Weſen der urſpruͤnglichen Non · zentrierung mit dem raͤumlich entfernten Umkreiſe iſt, ſo daß es eben nach feiner räumlich entfernten Abgrenzung oder Gberflaͤche doch zugleich als ſelbſtloſe innere Einheit mit dem Umkreis in ihm gegenwaͤrtig iſt, waͤh⸗ rend es als dunkles Zentrum ein ſelbſtaͤndig beziehungsloſes Beſtehen von ihm hat. Es iſt die unmittelbar intenſive Einheit des Ausgedehnten (78). Dabei iſt Umkreis Weltraum, Zentrum = ſchaffende Natur, Schwere; beides das „reine Wirken“. Licht und Wärme find Grundformen des reinen Wirkens, der ſelbſtloſen, ſtrahlend webenden Einheit von Jentrum und Peripherie. Man ſieht: Meditationen über das uralte Kreisſymbol liegen zugrunde. Derartiges aber war der herrſchenden Empirie vollkommen un- verſtaͤndlich. Daß ſie aber auch auf ſeine Kritik der mechaniſchen Biologie nicht hoͤrte, war weniger begreiflich.

2 n einem ſuͤddeutſchen Organ? wurde im vergangenen Winter lebhaft Gber die „Kriſe des Darwinismus“ geſtritten, von der man ja bei uns nun faſt ſchon ſeit mehr als zwanzig Jahren ſprechen kann und die hier nur In der wiſſenſchaftlichen Beilage der Muͤnchner Neueſten Nachrichten.

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wieder vor der breiteften Offentlichkeit manifeſt wurde. Der Streit knuͤpfte ſich an einen Proteſt Muͤnchner Biologen und Naturforſcher gegen einen Aufſatz von Prof. Fleiſchmann⸗ Erlangen, einem alten Gegner der Def: zendenztheorie. Der Verlauf dieſes wiſſenſchaftlichen Streites vor dem großen Publikum zeigte, daß Fleiſchmann, der den Darwinismus mehr als Empiriker bekaͤmpft und von dem er über die unerforſchliche Tiefe der Natur Dinge behauptet, die nie experimentell nachpruͤf bar fein werden, zwar auch heute ſehr vereinzelt ſteht; daß aber das neue Bild der Abſtammungslehre, nachdem fie ſich mehr und mehr von dem ſeichten Monismus löfte, mit dem fie amalgamiert war, noch ſehr unbeſtimmt und umſtritten iſt.

Auf alle Sälle trat auch hier, für den, der dies noch nicht wußte, klar zu⸗ tage: die alte Stammbaumlehre ſowie die mechaniſche Selektionstheorie, die doch der allgemeinen Deſzendenzlehre zum Sieg verhalfen, ſind beide gründlich erſchuͤttert und von vielen jüngeren Forſchern ſchon aufgegeben. Es wurde von einem „Sturz der Zuchtwahllehre“ geſprochen. „Sowohl gegen die Vorausſetzungen als gegen die Folgen dieſer Lehre laſſen ſich die ſchwerſten Bedenken erheben“ (Prof. Wolff ⸗Baſel). Der eigentliche Darwi⸗ nismus im engeren Sinn, d. h. die Lehre von der Entſtehung der Arten durch erbliche Variation und Selektion mag als ganz und gar widerlegt gelten fo Prof. E. Dacaus. Die Annahme der Saͤufung der Eigenſchaf⸗ ten, der Entſtehung neuer Formen durch Züchtung hat ſich „als ein gran dioſer Irrtum bewieſen “. Man ſteht fo vor der Notwendigkeit, die Ab⸗ ſtammungslehre (die ſchon von Zamarck vertreten wurde), neu zu be⸗ gründen (Tſchulok, Deſzendenztheorie 1922). Was man alſo allein noch feſthaͤlt, it, daß ſich die Arten in naturlich blutmaͤßigem Auseinanderher · vorgehen gebildet haben. Grundfalſch aber war es, innere Entwicklungs⸗ geſetze, innere Entwicklungsurſachen mit ſpontaner Entſtehung neuer Arten zu leugnen. Das waren auch bier die Ergebniſſe der Diskuſſion. In der Vererbungsforſchung ſpricht man von einer „Befreiung von defzen- denztheoretiſchen Spekulationen“, und namhafte Forſcher wenden ſich entſchieden gegen die „Spekulationen über die Stammbaumgeſchichte “.

Denn die Stammbaumlehren ſind nicht weniger erſchuͤttert wie die Se⸗ lektionstheorie. Das Buch von Tſchulok ſprach ſchon von der Notwendig keit der „Aufgabe eines einigermaßen ausgeführten, palaͤontologiſch ge⸗ ſtuͤtzten Stammbaums /. Reine Stammreihe ſcheint der Kritik mehr ftand- zuhalten. Dasſelbe ſagt der Palaͤontologe Dacque („Was iſt nun Ab⸗ ſtammungslehre “): die Erwartung, daß die Palaͤontologie den erwarteten Stammbaum beſtaͤtigen würde, wenn fie mehr und mehr foſſiles Tier · und Pflanzenmaterial noch ans Tageslicht förderte, habe ſich nicht beſtaͤtigt. „Die genauere Durcharbeitung der gefundenen Übergangsformen und das weiterhin zuſtroͤmende, ergänzende foſſile Material haben gezeigt, daß aus nahmslos alle vorweltlichen Tierformen, ebenſo wie die heutigen, ſo ſpe⸗ zialiſiert waren, daß ſie keine wirklichen, ſondern wiederum nur ideelle

KA. Chr. Plancks Naturphiloſophie 125

Übergangsglieder zwiſchen den Gruppen bilden”. Der große breit durch die Zeiten flutende Lebensftrom, in dem alles beſtaͤndige Wandlung, Sorm- änderung und Anpaſſung an neue Bedingungen iſt, hat auch das realiſtiſch ausgefuͤhrte Bild vom Stammbaum aller Arten mit fortgeſchwemmt.

Dies iſt, in wenigen Worten, die „Kriſe des Darwinismus“. Zwar ſagte der Biologe P. Wasmann, S. J., die Abſtammungslehre als naturwiſſen⸗ ſchaftliche Theorie ſei in ſich unabhaͤngig von jeder Weltanſchauung und jedem religioͤſen oder politiſchen Bekenntnis; fie beſtehe ja nur in der gene ; tiſchen Auffaſſung der Organismen und in dem Beſtreben, dieſe Auf⸗ faſſung auf unſere jeweilige Tatſachenerkenntnis anzuwenden. Aber die Kriſe des Darwinismus trifft doch zu ſehr mit der allgemeinen Weltan⸗ ſchauungskriſe zuſammen, und es waͤre ſonderbar, wenn man nun, nach dem Sturz der Selektionstheorie, nicht verſuchen wuͤrde, ein ganz neues Bild vom werden der Organismen, ihrer Geſchichte und ihrer genetiſchen Zuſammenhaͤnge zu machen, wenn ſich nicht auch hier eine neue Natur⸗ philoſophie regen wuͤrde. Denn es kann ſich doch heute nicht nur etwa um eine vitaliſtiſche Umformung des Darwinismus handeln, der weiter nichts fein würde als die Erkenntnis, daß das biologiſch Zweckmaͤßige ohne im- manente Teleologie, ohne ſchoͤpferiſche Zweckſetzung, rein mechaniſch (d. h. zufällig) nicht entſtehen kann. Wenn 3. B. Dacqus ſagt, man muͤſſe von einer epigenetiſchen zu einer entelechiſchen Deſzendenzlehre übergeben, da- mit bekomme auch der Begriff der Entwicklung feinen tiefſten Sinn zuruck, und dieſe entelechiſche Entwicklung unterſcheide ſich von der epigenetiſchen darin, daß fie die Entfaltung des Cebensreiches in die immanenten, ſchoͤp⸗ feriſchen Kräfte des Organiſchen verlege, fo iſt hier, und erſt recht in allen andern Entwicklungs vorſtellungen Dacques*, der Wandel der Weltan- ſchauung deutlich erkennbar. Und daß auch das Gewiſſen und Verantwor⸗ tungsgefuͤhl der führenden Wiffenfchaftler in dieſer langen Kriſe des Dar · winismus geſchaͤrft wurde, beweiſt nicht nur das Buch von Oskar Sert⸗ wig „Zur Abwehr des ethiſchen, ſozialen und politiſchen Darwinismus“, wo der Darwinismus in ſeinen Folgen und praktiſchen Auswirkungen eine der Saupturſachen des kulturellen Niedergangs genannt wird; es zeigt ſich auch in der beſcheideneren Einſchaͤtzung wiſſenſchaftlicher Theorien über- haupt. Dacqué gibt nicht nur zu, daß es ein „verwerflicher Unfug“ war, der den Darwinismus zu einem Kampfmittel der Religion, zum willkom⸗ menen Agitationsmittel einer ſeichten Weltanſchauung gemacht hat, er iſt auch der Meinung, daß keine der großen religiöfen Wahrheiten von irgend einer naturwiſſenſchaftlichen Theorie zu fürchten hat. Wie beſcheiden klingt fein Wort: „Alles, was wir an Wiſſenſchaft, ſelbſt an exakteſter Wiſſen⸗ ſchaft, hervorbringen, find nur Deutungen, find nur ſymboliſche Ausdruͤcke, find nur Spiegelungen unſeres Geiſtes an dem durch empiriſchen und dis; Purfiv verfahrenden Verſtand nicht zu ergruͤndenden Daſein. Und deshalb Siehe fein bekanntes Buch Urwelt, Sage und Menſchheit.

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kann nie das Gebiet der innerlich erlebten Religion je irgendwie eingeengt werden” („Was iſt nun Abſtammungslehre“).

Der Kampf um die beſte Form der Fortbildung der Deſzendenztheorie iſt gewiß noch nicht zu Ende, aber wenn man einmal auf die Geſchichte des Darwinismus zuruͤckſchaut, wird man auch K. Chr. Planck nicht vergeſſen duͤrfen. Denn es war nicht, wie man in dieſer Diskuſſion einmal meinte, der Botaniker Naͤgeli, der zuerſt (1884) in feiner „mechaniſch⸗ phyſiolo⸗ giſchen Theorie der Abſtammungslehre ! die Lehre von der Zuchtwahl für unannehmbar erklaͤrte, weil fie lediglich den Nuͤtzlichkeitsſtandpunkt her⸗ vorhebe und nichts uͤber die bewirkenden Urſachen einer Umbildung aus; ſage. Ganz klar und eindeutig hat Planck ſchon 1872, in ſeinem Buch „Wahrheit und Flachheit des Darwinismus“, und dann wieder ausfuͤhr⸗ lich in ſeinem „Teſtament“, den Darwinismus mit tieferen Gruͤnden, aller⸗ dings ohne irgend gehoͤrt zu werden, zuruͤckgewieſen. Planck hebt, feiner pantheiſtiſchen Einſtellung gemaͤß, in ſeiner Kritik des Darwinismus ſtets hervor den innerlichen, von der peripheriſchen Lebensanregung ganz ab- liegenden und ſchaffend zentralen Urſprung des neuen Organiſations⸗ ſtrebens. Der Darwinismus kenne nur den ganz äußerlichen Geſichtspunkt anpaſſender Umbildung, nur ein Reich zufaͤlliger aͤußerlicher Einwirkun · gen, anſtatt des „aufwaͤrts nach Freiheit und Selbſtaͤndigkeit ſtrebenden innerlich zentralen Grundes (S. 335, 340). Dieſe Unterſcheidung der peri⸗ pheriſchen Lebensanregung vom zentral ſchaffenden Leben ſelbſt verdiente jedenfalls gehoͤrt zu werden. Bei der Deſzendenztheorie fehlt ihm „der er⸗ klaͤrende und treibende Grund der Fortentwicklung“, weil in der ſchon ganz beſtimmten und in ihre beſchraͤnkte Stufe hineingebannten niederſten Sorm nicht die zentrale Anlage zu den weit hoͤheren liegen kann. Er be⸗ hauptet ſchließlich damit nichts anderes als die modernſte Naturphilo⸗ ſophie Dacques, daß aus der ſchon viel zu einſeitig ſpezialiſierten hoͤheren Wirbeltierform der Menſch, der viel ältere Merkmale zeige, auch biologiſch nicht hervorgegangen fein konne. So iſt für Planck der eigentliche Träger der Entwicklung nicht die ſchon beſtimmte und beſchraͤnkte Stufe des Orga; niſchen ſelbſt, ſondern ein Umfaſſenderes, aus dem alles Grganiſche uͤber haupt hervorgegangen iſt und in das eingebettet es noch hervorgeht. Planck ſucht dann weiter auch bis ins Einzelne den erſtaunlichen embryo- nalen Wandel ganz anders zu deuten und zu ſehen als die in ihrer ſelek⸗ tiven Theorie Befangenen. Kurzum, man wird feine Gedanken und feine Kritik in einer Geſchichte des Darwinismus nicht uͤbergehen duͤrfen.

3 an koͤnnte gewiß aus Plands Naturphiloſophie noch manche be⸗ deutſame Einzeldeutung anfuͤhren, die ſich ihm aus der Anwendung feines univerſalen Prinzips auf die Erſcheinungewelt ergibt, Gedanken über die Natur der Planeten und Kometen, der Stoffe und beſonders der

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Metalle, der Erd / und weltentwicklung; wir muͤſſen uns aber mit dem wenigen begnuͤgen. Zum Schluß ſei hier nur noch ganz kurz auf den Grundgedanken der zweiten Saͤlfte des Werks verwieſen, welcher die menſchheitlichen, die geſchichtlichen, ſozialen und Bildungs probleme be⸗ handelt.

Sier wird nun der tiefere Grund des geiſtlos veraͤußerlichten modernen Naturbildes erſt ganz erkennbar: er liegt in einem ſo vollkommen natur⸗ als weltlos gewordenen Idealismus, der, rein dem innerlich abſtrakt Geiſti · gen zugewandt, alle unſere äußeren politiſchen, rechtlichen und wirtſchaft · lichen Verhaͤltniſſe ebenſo entgoͤttlicht laͤßt, wie es das mechaniſche Natur bild ſelbſt iſt. Die materialiſtiſche Verirdiſchung iſt nur der Schatten dieſes falſchen, die Natur der Verhaͤltniſſe undurchdrungen laſſenden Idealis⸗ mus. Daher auch die Veraͤußerlichung und Verweltlichung der natuͤrlichen ZBildungsgebiete mit ihrer unwahren Trennung vom ſittlichen und reli⸗ gioͤſen Mittelpunkt (S. 539). Dieſen Dualismus des religidfen und des weltlichen Bildungsgebiets, dieſes unverſoͤhnte und undurchdrungene YIe- beneinander gilt es vor allem durch eine neue geiſtgemaͤße wahre Erkennt; nis der Natur zu uͤberwinden.

Dazu tritt nun die Notwendigkeit einer ganz neuen ſozialen Gliederung, die Erneuerung des ganzen menſchlichen Gemeinbewußtſeins. Alle die ge⸗ prieſenen Freiheiten und politifchen Rechte des neueren Liberalismus find ihm „ebenſo idealiſtiſch hohle als ſelbſtiſch aͤußerliche, vom Geiſte des bloßen freien Eigenrechts erfüllte Abſtraktionen“. Da ihm die ſozialiſti⸗ ſchen Verſtaatlichungsprogramme als ebenſo abſtrakte Dergewaltigungs- verſuche der freien Wuͤrde der menſchlichen Perſoͤnlichkeiten erſcheinen, for dert er, zur Einſchraͤnkung des liberaliſtiſchen Individualismus, vor allem eine ſehr ausgearbeitete neue Berufsordnung. Dadurch, daß allentbal- ben die Vertreter der einzelnen Berufe, je nach den konkreten und ortlichen Verhaͤltniſſen, zu feſten Organiſationen zuſammentreten, die Unterneh⸗ mungen des Einzelnen ohne zu großen Zwang überwachen, das Gefuͤhl der Berufsehre ſtaͤrken, die freie Ronkurrenz einſchraͤnken und neue orga⸗ niſche Rechtszuſtaͤnde ſchaffen, wird ſich der geſamte ſoziale Organismus nen gliedern in mannigfaltige, wirklich den Zuſtaͤnden entſprechenden Roͤr⸗ perſchaften. Grundgedanken, die nach dem Krieg bei uns in verfchiedener, ganz anderer Geſtalt wieder hervortraten und Reime einer organiſcheren Gliederung des Gemeinſchaftslebens enthalten mögen.

In dieſen ſozialen Beſtrebungen beweiſt Planck einen tief empfindenden religiͤſen Geiſt. Nur die kirchliche Form des Chriſtentums ſchien ihm un ; fähig, dies neue wahrere bürgerliche Rechtsbewußtſein zu ſchaffen, das den unwahren, falſchen, vom bloßen Prinzip des freien ſelbſtiſchen Eigen⸗ rechts beherrſchten Geſellſchaftszuſtand, den Kriegszuſtand aller Einzelnen, Alaſſen und Staaten, ablöfen kann. Auch hier geht fein Wille auf das kon⸗ kret Organiſche, auf das Juſammenfaſſen und Durchbluten der Teile, auf

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die Tiberwindung des ſozialen Atomismus. Er ſchon war auf das tiefſte davon durchdrungen, daß dies Nebeneinander chriſtlichen Denkens und Be⸗ kennens und unchriſtlich individualiſtiſch ſelbſtiſchen Lebens in nacktem egoiſtiſchem Tatmenſchentum in Europa nicht ſo fort gehen koͤnne. Er ſieht ſchon den Anbruch einer neuen Gemeinſchaftsepoche voraus, die er die des dritten Adam nennt. Er meint damit nichts anderes als die Über- windung dieſes liberaliſtiſch⸗individualiſtiſchen Atomismus im ſozialen und dieſes widerſpruchs vollen Dualismus im Bildungs und Befellfchafte- weſen, nichts anderes auch als was die pantheiſtiſchen Denker ſeit Ceſſing unter der Idee des dritten Reichs verſtanden, das die heidniſche Naturreli⸗ gion und das bis dahin zu ſehr den irdiſchen Aufgaben entfremdete Chri ; ſtentum verſoͤhnen wird, indem es zugleich eine neue Staats und Geſell⸗ ſchaftsordnung und eben dadurch auch eine neue Rechtsordnung verwirk⸗ licht. „Wenn das Reich des zweiten Adam, das der chriſtlichen Entwick⸗ lung, noch die einſeitige, ſcharf innerliche Antitheſe gegen das unmittelbar natürliche zweckbewußtſein des Altertums iſt, fo iſt das des dritten Adam erſt reife, freigeiſtige Einigung mit der Natur und ihren Aufgaben” (#10).

Sehr merkwuͤrdig iſt aber, daß er hier am Schluß, in feinen Ausfuͤhrun⸗ gen zur ſozialen Frage im weiteſten Sinn und zur Neugeſtaltung der Ju⸗ kunft, dieſe Ruͤckkehr zur Natur und ihren Aufgaben viel weniger pan- theiſtiſch faßt als man nach dem erſten Teil des Werks erwarten mußte. Denn er ſieht dieſes dritte Reich doch ſchon ganz vorgebildet in Chriſti Er; ſcheinung ſelbſt, deren ganze Bedeutung eben darin liegt, daß ſie das we⸗ ſentliche Licht, das weſentliche Leben, das volle Sein Gottes für den Men⸗ ſchen hier auf der Erde vertritt, die volle innere Gegenwart deſſen, was fruher ein jenſeitig Goͤttliches war, die volle Einigung desſelben mit dem natuͤrlichen und menſchlichen Sein, fo wie fie nirgends ſonſt vorbildlich an⸗ gedeutet iſt (416). Während der Pantheismus fonft den einen Schoͤpfergott bekennt, der, der Welt immanent, ſchließlich mit ihr zuſammenfaͤllt, und hier für Chriſti Erſcheinung kein Raum und kein Verftändnis iſt, gibt Planck in ſeinem erſten Teil dieſen pantheiſtiſch gefaßten Gott ganz und gar auf, haͤlt aber dafür, von der Not der menſchlichen Zuſtaͤnde gedrängt, an Chriſtus feſt. Er kommt am Ende durch ihn zu dem Begriff der Wieder; herſtellung einer urſpruͤnglichen in Gott geſchaffenen Natur des Menſchen, der den Kern der chriſtlichen Offenbarung vollkommen richtig trifft, als vollmenſchliche Vergegenwaͤrtigung Gottes, was auch dem ganzen letzten Teil das Übergewicht fiber den erſten, den begeiſterten Schwung und die groͤßere Tiefe gibt, ſelbſt wenn er auch diefe Vergegenwaͤrtigung Gottes im Menſchen noch nicht, ſeinem Gottesbegriff entſprechend, in ihrem all⸗ ſeitig begnadetem Reichtum gedacht haben ſollte.

Ceo Fußhoeller, Bulturzentren der Großſtadt 129

Leo Sußboeller Kulturzentren der Großſtadt

ehr als einmal fpürten wir in den letzten Jahren, wie unloslich 0 deutſches Schickſal verbunden iſt mit dem Geſchehen am Rhein. die Beſetzung weiter rheiniſcher Gebiete durch fremde Truppen, die Erdroſſelung des Wirtſchaftslebens die dadurch ausgeloͤſten Erſchei⸗ nungen des Separatismus, die Leiden der Bevoͤlkerung, die Opfer, die Schwierigkeiten des Lebens überhaupt, all dies griff weit hinaus über die Grenzen der Weſtmark, war deutſches Schickſal. Seit kurzer Zeit erſt atmen die befreiten Staͤdte wieder auf. Aber die Wunden ſind noch nicht vernarbt, die der Ruhrkrieg mit feinen Folgen dem deutſchen Wirt- ſchaftsleben zugefügt hat. Und dennoch: wir im Rheinland find ſtolz da; rauf, daß wir mitleiden, mitſchwingen und mithandeln konnten. Darum wollen wir hier auch nicht verſuchen, die Geiſter jener ſchlimmen Tage zu bannen, wenn wir auf ein Werk hinweiſen, das ganz aus den Beweg niſſen jener Zeit herauswuchs und mehr als anderes vielleicht ein Bild zu geben vermag von den Gefahren und Schwierigkeiten, denen wir uns im Rheinland nach Eintritt des paffiven Widerſtandes uber Nacht gegen; übergeftellt ſahen. Daruͤber hinaus aber gewinnt dieſes Werk Bedeutung fuͤr die Loͤſung von Problemen, die auch uns heute in ſtaͤndig ſteigendem Maße beſchaͤftigen werden. Wie damals umgibt uns beifpiellofe Erwerbs. loſigkeit. Außert ſie ſich auch bisher noch nicht in jenen kataſtrophalen Formen, wie fie die rheiniſche Wirtfchaft während des Ruhrkampfes verzeichnete, ſo wird ſich doch aller Vorausſicht nach der Arbeitsmarkt in den naͤchſten Monaten weiter derart verſchlechtern, daß das Problem der Erxwerbsloſigkeit zu viel einſchneidenderen und ausgedehnteren Maß nahmen der Arbeitsloſenfuͤrſorge zwingt, als es bis heute notwendig ſchien. Einen ganz beſonderen Raum wird dabei die Fuͤrſorge erwerbsloſer jugendlicher Arbeiter einnehmen. Die folgende Darſtellung eines erfolg reichen Verſuches, die Erwerbsloſigkeit der Jugendlichen zu lindern, in einer Großſtadt unternommen, deren Bevoͤlkerung mehr als andere von Erwerbsloſigkeit heimgeſucht war, wird deshalb mehr als bloß paͤda⸗ gogiſches Intereſſe erwecken muͤſſen. Seute bereits hat vielmehr dieſer Verſuch und er wird es aller Vorausſicht nach in noch weiterem Maße in der naͤchſten Zukunft haben eine hervorragend aktuelle Bedeutung. ° Diefer Auffag, der in feinem geiftigen Inhalt vor Jahresfriſt bereits entſtand und in deffen erſtem Teil damals neben der SErwerbslofenfürforge der Jugend- lichen beſonders auch der Schulgarten und die Freilichtbühne von Steinmeyer, Duͤſſeldorf dargeſtellt wurden, wurde jetzt, infolge der durch die Jeitverhaͤltniſſe een Anderungen, in ſeiner Einleitung von wirtſchaftskundiger Seite neu e

130 Ceo Fuß boeller

Denn nirgends ſonſt find die Folgen der Erwerbsloſigkeit nachhaltiger und zerſtoͤrender als für junge Menſchen, die, aus geordneten Zebens⸗ bahnen herausgeſchleudert, von den Bindungen des Berufes und der Schule befreit, den Einflůͤſſen und Eindruͤcken der Straße widerſtandslos ausgeſetzt ſind.

waͤbrend des Ruhrkampfes waren durchweg fiber 50% der Einwohner der Stadt Duͤſſeldorf auf ſtaatliche Unterſtuͤtzung angewieſen. Es wurden los ooo Sauptunterſtuͤtzungsempfaͤnger mit 126000 Juſchlagsempfaͤngern gezahlt. Unter ihnen befanden ſich mehrere Tauſend arbeitsloſer Jugend lichen. Mit bloßen geldlichen Unterſtůtzungen war ihnen nicht geholfen, es galt, fie in eine Beſchaͤftigung zu bringen, die fie von der Straße nahm, ihnen Freude machte und den jugendlichen Fertigkeiten und Anlagen ent ſprach.

Draußen vor den Toren der Stadt lag weites, braches Land. Vor Jahren hatte hier bereits der Zeiter einer Volksſchule, Rektor Steinmeyer, mit geringen Mitteln, die ihm hilfreiche Soͤnner geſchenkt hatten, in langſamer, zielbewußter Arbeit mit Volksſchuljungen aus Schutthalden und un⸗ bebauten Geldern einen bluͤhenden Schulgarten geſchaffen. Die Jungen ſollten hier, unmittelbarer als es der Schulunterricht vermochte, in das Zeben der Natur eingefuͤhrt werden, ſie ſollten hier wieder offene Sinne und Ehrfurcht bekommen vor den Geheimniſſen des natuͤrlichen Wachs⸗ tums, von dem in der Stein wuͤſte Großſtadt jede Anſchauung zu fchwin- den droht. :

Da ging nun das Duͤſſeldorfer Arbeitsamt heran und brachte Über tauſend erwerbsloſe Jungen in dieſes Gartenland. Sie waren die geeig · netſten Arbeitskraͤfte, das begonnene Werk zu erweitern und zu vollenden. weite Bodenflaͤchen galt es umzuarbeiten, Erde zu bewegen, zu planieren, fruchtbaren Mutterboden zu beſchaffen, Beete und wege anzulegen und Straͤucher und Baͤume unter Zeitung kundiger Gaͤrtnerhand zu pflanzen. Die Jugendlichen gewannen dabei nicht bloß Verdienſt und wirtfchaft- lichen Nutzen das wäre auch anders möglich geweſen —, es war mehr, es war ein Verſuch, erzieheriſch auf junge, ſchulentlaſſene erwerbsloſe Menſchen im Alter zwiſchen 14 und 18 Jahren einzuwirken, in einer Art, wie fie bisher in dieſem Umfange kaum möglich und uͤblich war.

Jeder Verſuch einer Gemeinſchaftserziehung jugendlicher Maſſen haͤngt ganz unmittelbar in feinem Gelingen von der Löfung des Problems der Fuͤhrung und Aufſicht ab. Es genuͤgt noch laͤngſt nicht der vielleicht wert- volle Gehalt einer paͤdagogiſchen Idee, die Werbekraft eines begeiſternden Erziehungszieles; aller noch fo wertvolle Erziehungsin halt, jede noch fo zielfichere Methode bleibt erfolglos, ſofern deren Sandhabung verſagt, ſo⸗ fern das Problem der Fuͤhrung nicht geloͤſt iſt.

Satte zwar der Fuhrer bei dieſem Verſuch einer erzieheriſch fruchtbaren Beſchaͤftigung junger erwerbsloſer Arbeiter nicht den ganzen ausgedehnten

Bulturzentren der Broßftadt 131

Aufgabenkreis etwa eines Volksſchullehrers: leibliches, ſeeliſches und geiſtiges Wachstum zu entwickeln und zu bebüten, hier war der Fuͤhrer weniger der Zehrer als vielmehr der Aufſichtsfuͤhrende, der Leiter einer Gruppe, der auf zweckmaͤßige und ordentliche Durchfuͤhrung einer in An; griff genommenen Arbeit zu achten hatte. War er ſo auch nur hin und wieder, durch die Art der Arbeit veranlaßt, in der Lage, Wiſſen zu ent- wickeln, ſo war doch gerade die Aufgabe der Anleitung zu diſziplinierter Arbeit, zur Zweckmaͤßigkeit im täglichen Arbeitsprozeß, die Aufgabe der Beaufſichtigung und Überwachung dieſer jungen Scharen ganz beſonders ſchwierig. Die erziehlichen Möglichkeiten, die ſich hier ergaben, waren um fo bedeutungsvoller, als die Jungen, vielfach bereits ſeit Jahren jeder Zucht und Sitte entwachſen, gerade ſolcher erzieheriſchen Beeinfluſſung ganz beſonders bedurften.

Die große Schwierigkeit lag darin, fuͤr dieſe wichtige und verantwor⸗ tungsvolle Aufgabe geeignete Kraͤfte zu finden. Und nicht nur das, die Bezahlung dieſer Kräfte durfte finanziell nicht (oder nicht viel) über den Rahmen der aus den Mitteln der Erwerbsloſenfuͤrſorge zur Verfuͤgung ſte henden Fonds hinausgehen. In der energiſchen Loͤſung dieſer Schwie ; rigkeit liegt ein weiteres großes Verdienſt, das das Duͤſſeldorfer Arbeits; amt fuͤr ſich beanſpruchen darf.

Unter den zahlreichen erwachſenen Exwerbsloſen, denen das Arbeits amt Unterſtuͤtzung zahlte, befanden ſich eine Reihe Junglehrer, Archi⸗ tekten, Ingenieure, Kaufleute, die gern bereit waren, für eine, wenn auch geringe Zuſatzverguͤtung neben ihrer geſetzlichen Unterſtuͤtzung die Zeitung der Jugendgruppen zu uͤbernehmen. Aus ihnen ſuchte das Arbeitsamt die Geeignetſten heraus. Viele Monate hindurch bekleideten einzelne von ihnen das ſchwierige Amt des Gruppenfuͤhrers, und die meiſten von ihnen haben in ihrer Aufgabe das bezeugen die ſchriftlichen Berichte, die fie ſpaͤter über ihre Taͤtigkeit abgaben (vgl.: „Erwerbsloſe Großſtadtjugend.“ Ein Duͤſſeldorfer Erziehungsverſuch an erwerbsloſen Jugendlichen, her⸗ ausgegeben von Direktor Dr. Langenberg und Dr. Klute, Duͤſſeldorf 1925) auch mehr geſehen als bloßes Beaufſichtigen und Grdnung halten.

Die Geſamtleitung des Werkes lag in den Saͤnden des Arbeitsamtes. Das ausfuͤhrende Organ war Rektor Steinmeyer. Die taͤgliche Arbeitszeit der Jungen, die gruppenweiſe (je etwa 20 Jungen) moͤglichſt mit den ver · ſchiedenſten Arbeiten abwechſelnd beſchaͤftigt wurden, betrug 7 Stunden. In der Mittagspauſe wurde eine koſtenfreie Mahlzeit (Eintopfgericht) ver⸗ abreicht. Regelmäßig wurden die Jungen vom Arzt auf ihren Ernaͤhrungs und Geſundheitszuſtand unterſucht. Fur Spiel und Sport war in der Frei; zeit Gelegenheit vorhanden. Mehrtaͤgige Wanderungen führten die Grup⸗ pen verſchiedentlich in die Natur.

Das Duͤſſeldorfer Arbeitsamt hatte von Anfang an die Abſicht, nicht

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nur mit Silfe arbeitsloſer Jugendlicher ein Unternehmen von bleibendem wirtſchaftlichen Wert zu ſchaffen, ſondern auch den von der Arbeitslofig- keit Betroffenen individuell zu helfen. In dieſer Abſicht erfolgten die ver ſchiedenen fachaͤrztlichen Unterſuchungen, wollte weiter eine berufspſycho⸗ logiſche, berufsberatende Befragung der Jungen Über ihren Lebenskreis, ihre Berufs und Zukunftswuͤnſche Auskunft und, ſoweit es moglich war, ilfe geben. Jederzeit ſtand es den Jungen frei, offen und ehrlich ihre meinung uͤber das Werk, an dem fie ſelber arbeiteten, zu äußern, Beſchwer⸗ den und Vorſchlaͤge zur Behebung der Mißſtaͤnde einzureichen. Allmaͤhlich entſtanden durch die tapfere Arbeit junger Saͤnde neben der Freilichtbuͤhne, die bereits in fruͤheren Jahren inmitten der von der Volks⸗ ſchuljugend ſelbſt angelegten Schulgaͤrten gebaut war, ebene freie Plaͤtze für Spiel und Sport und werkſtaͤtten fuͤr Reparaturarbeiten. Ein planſch⸗ becken und ſchmucke Siedlungshaͤuſer ſind im Bau begriffen, ſogar ein Volkshaus iſt geplant fuͤr Feſte und Feiern der Bewohner der in der Naͤhe liegenden Stadtteile Duͤſſeldorfs. |

Dieſer Verſuch einer Gemeinſchaftserziehung erwerbsloſer Broßftadt- jugend hat auch bereits die Aufmerkſamkeit einer weiteren Öffentlichkeit, der Zentralbehörden und einer Reihe namhafter Pädagogen gefunden. Die Rultusminifter Dr. Boelitz und Dr. Becker, Sachreferenten aus dem Preu⸗ ßiſchen Wohlfahrtsminiſterium, aus dem Miniſterium für Sandel und Be- werbe, Vertreter der Reichsarbeits verwaltung haben die Duͤſſeldorfer Garten- und Arbeitsſchule beſucht.

Das aber iſt neben der Löfung des Fuͤhrerproblems das größte Verdienſt und die bedeutſamſte Leiſtung dieſes Verſuches, daß er ohne beſondere finanzielle Beihilfe unternommen wurde, ausſchließlich mit den Mitteln, die zur Unterſtuͤtzungsleiſtung der Arbeitsloſen zur Verfuͤgung ſtanden. Aber die ſonſt unproduktive Fuͤrſorgeunterſtuͤtzung bekam hier eine in ideell · paͤdagogiſchem wie in materiell · ö konomiſchem Sinne produktive Be deutung.

Ein Gelaͤnde wurde bebaut, über das jede Stadt draußen an der Peri⸗ pherie verfügt. Wären beſondere finanzielle Mittel für die Beſchaͤftigung erwerbsloſer Jugend bereitgeſtanden, haͤtte man kaum viel Aufſehens zu machen brauchen von dieſem Duͤſſeldorfer Verſuch. Aber ſo wurde er eine Tat. Das Verdienſt aber gebührt dem Rektor Steinmeyer, der den Grund ſtein legte, und dem Duͤſſeldorfer Arbeitsamt, das ſelbſtverſtaͤndlich und energiſch das Vorhaben in Angriff nahm. Durch Liebe zur Jugend und ſtarken Arbeitswillen hat Rektor Steinmeyer Generationen von Schul kindern zu einem gefunden Körper, zur Freude an der Natur und zum Dienſtwillen an der Gemeinſchaft verholfen. Der mutige Entſchluß des Arbeitsamtes aber hat Tauſende Erwerbsloſe zu diſziplinierter Arbeit erzogen und mit Jaͤhigkeit dem Nichts blůͤhendes Land abgerungen. Beider Arbeit ſchuf ſo eine wirtſchaftliche Grundlage, auf der nunmehr die Idee

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der neuen Zeit in einem weitgeſpannten Schulbilde organiſch wachſen kann: der ſynthetiſche Menſch der abgelaufenen Periode einer indivi⸗ dualiſtiſchen Zeit und des neuerwachten Gemeinſchafts willens: Bildung der Perſoͤnlichkeit innerhalb der Gemeinſchaft, fuͤr die Gemeinſchaft.

Die äußeren Moͤglichkeiten für ein ſolches Schulideal find auf dem Boden der Duͤſſeldorfer Garten · und Arbeitsſchule gegeben.

Leider koͤnnen im Rahmen dieſer Arbeit nur knappe, dem paͤdagogiſch Intereſſierten jedoch verſtaͤndliche Andeutungen die neuen Moͤglichkeiten ſkizzen haft umreißen

ie Entwicklungsſtationen des jungen Menſchen werden durch folgende innerlich verbundene Etappen einer Einheitsſchule bis zur Sochſchul ; reife äußerlich gekennzeichnet: J. Kindergarten ( weſentlich auf der Grund⸗ lage Froͤbels), 2. Grundſchule (auf gleicher Grundlage weiterbauend), 3. Gabelung in die Auf bauſchule einerſeits (nach der Denkſchrift des Miniſteriums mit dem Ziel der deutſchen Oberſchule oder der Gberreal⸗ Schule) und nach dem 14. Lebensjahre der Volkshochſchule andererfeits. Die Volkshochſchule waͤre alſo organiſch in das ganze Schulleben einzu⸗ beziehen und wuͤrde von denſelben Zehrkraͤften geſpeiſt. Der geplante Saalbau könnte zu einem Volkshaus mit Feſthalle und Bühne, Buͤcherei, eſe · Spiel · Erholungsraͤumen uſw. ausgeſtaltet werden. Die erwerbs- loſen Jugendlichen waͤren in den Rahmen der Volkshochſchule und des Volkshauſes nach Möglichkeit mit einzubeziehen. Als paͤdagogiſche Silfs⸗ kraͤfte in der ſozialen Arbeit koͤnnten dem Geiſte der Schule naheſtehende junge Akademiker (nach dem Vorbilde der ſozialen Studentenſchaft um Dr. Sonnenſchein, Volksverein und Sigmund Schulze, Berlin ⸗Oſt) heran⸗ gezogen werden. Gerade durch eine ſolche Einbeziehung in das innere Leben einer Siedlung würden die jungen Erwerbsloſen die richtige Einſtellung zu ihrer wertſchaffenden Arbeit gewinnen koͤnnen. Sie würden daruͤber hinaus einen, wenn auch nicht vollguͤltigen Erſatz für das in ihrem Milieu oft fehlende Familienleben erhalten koͤnnen. Im übrigen wären für den inneren Schulauf bau folgende Bildungs ideen zielgebend: I. Schulverfaſſung: Die Einheitlichkeit des Lehrkoͤrpers iſt Grundbe⸗ dingung zielbewußten Schaffens. Wo ſie fehlt, herrſcht Chaos. Der junge,

»An dieſer Stelle verweiſen wir auf J. Leo Fußhoeller, Die Dreiheit eines neuen Schullebens, Greifen verlag, Rudolſtadt 1921. 2. Die Wiedergeburt der Bübne, berausg. von Fußhoeller, Goetſch, Sellwig; Greifen verlag 1922. 3. Das dramatiſche Spiel in der Schule, in Neuendorffs „Schulgemeinde“, Teubner, Leipzig 1920. 4. Leo Fußhoeller, Frankfurter Tagung „Jugend und Bühne“, Be⸗ richt in der Koͤlniſchen Zeitung vom 2. und 3. Oktober 1924. 5. Leo Fußhoeller, Kulturunterricht der Oberſtufe und die Ausldfung der geſtaltenden Kraͤfte im jungen Menſchen, Aufſatz in der Jubilaͤumsſchrift der Sumboldt · Oberrealſchule, Eſſen 1925.

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autoritaͤtenglaͤubige Menſch, der nach einem Ideal ſich ſehnt, gerät in Gewiſſenszwang. Der Lehrkoͤrper bildet und ergänzt ſich alſo durch eigene Wahl. Er nimmt auch ſogenannte paͤdagogiſche Zaien, z. B. Sandwerker und den Schularzt, in feine Gemeinſchaft hinein. Nur nach Perſoͤnlichkeit, nach Form ringende Menſchen von ähnlich eingeſtellter ſeeliſcher, geiſtiger Grundhaltung, nur in einer tief und weit geſpannten Einheit, in einem Drang zum Abſoluten ſich ergaͤnzende Erzieher gewaͤhrleiſten die ſtrenge Durchfuͤhrung geſteckter Ziele; fie find viel wichtiger als alle ſchoͤnen Metho; den und ſchulmeiſterlichen Programme. Im Grunde reden wir hiermit alſo der wahren Weltanſchauungsſchule das Wort. (Weltanſchauung in dem ſo⸗ eben beſtimmten, freizuͤgigen Sinne der in demſelben Weltbilde weſentlich gleichgerichteten Menſchen.)

Die Lehrer wohnen moͤglichſt im Schulbereich. Sie ſcharen um ſich inner lich geſchloſſene Gruppen der jungen Menſchen verſchiedenen Alters, im Sinne der Zanderziehungsheime und der Jugendbewegung. Alſo unab- haͤngig vom Fach · und Klaſſenſyſtem, das eine geſunde Durchbrechung erfährt. Fur die Charakterbildung, die eigentliche Perſoͤnlichkeitsbildung, deren tiefſter Sinn der Lebensfinn uͤberhaupt, naͤmlich das Gpfer iſt, iſt das Leben in der Gruppe ungleich wichtiger als der Klaſſenunterricht. Es entfaltet ſich bei den Aufgaben für die Unterrichtsſtunden und während der Sreizeit: im Sport, im Feld · und Gartenbau, in der Werkſtatt, auf Sing und Lefeabenden, auf gemeinſamer Fahrt. Etwaige Auswuͤchſe ſolcher Gruppentypenbildung, die in der Gefahr der Inzucht begruͤndet ſind, werden geregelt durch periodiſche Juſammenkuͤnfte der ganzen Schul; gemeinde, die in freimätiger Ausſprache die Ordnung und das innere eben der Schule, aber nicht feine Bildungselemente, zum Gegenſtand hat und in der ſich Lehrer und Schuler, unter Ausſchluß aller nicht zum engen Schulleben gehorenden, als Menſch zu Menſch gegenuͤberſtehen. Das da⸗ bei der nötige Abſtand gewahrt bleibt, iſt Sache der Leitung, der Gruppen; führer und der ganzen Erziehung uberhaupt. Gerade hier wird ſich zeigen, 5 eine Schule zur ſtrengen Formung und damit als Kulturbildner faͤhig iſt. |

Diefe Gedanken find nicht neu, aber weſentlich und in Landerziebungs- heimen wie Wickersdorf erfolgreich durchgefuhrt.

Am mittag werden die Kinder gegen Entrichtung der Selbſtkoſten in der Schule geſpeiſt, in der fie bis in die Nachmittagsſtunden bleiben. Fur die Schulkuͤche find freiwillige Kräfte (vgl. Wickersdorf) erforderlich, die bei freier Roſt und Wohnung in das innere Schulleben eingegliedert wer⸗ den. Nach der Schule gehoͤrt das Kind nicht mehr der Arbeit, ſondern allein der Familie, der es auf keinen Fall entfremdet werden darf. Die Eltern ſind alſo, ſoweit es moͤglich iſt, an der Entwicklung der ganzen Schule, an ihren Feſten, ihren Leiden und Freuden zu beteiligen. Wenn auch hier in unſerem Induſtriegebiet die Jerſtoͤrung des Familienlebens

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durch das Wohnungselend der Mietskaſernen und der Einzimmerfamilien⸗ wohnungen nicht fo haͤufig iſt, wie etwa in Breslau oder Berlin · Oſt, fo bringt doch die ganze Art des Berufslebens der modernen Großſtadt, ge rade in den ärmeren Volksſchichten, wo die Mutter oft tage ůͤber auf Er werb ausgehen muß, die Erſcheinung mit ſich, daß nur der Abend der Samilie gebört. Und da ſoll das Kind nur für die Familie da fein. Den er- zieberifhen Wert ſolcher Peripherieſchulen, die ihre Kinder bis in den Nachmittag hinein behalten, erkannte ſchon laͤngſt der praktiſche Sinn des Englaͤnders. Und gerade durch

2. den Milieuzuſammenhang mit der Familie einerſeits und mit der Groß ſtadt andererſeits unterſcheidet ſich die Schulſiedlung der Großſtadtperi⸗ pherie von den Zanderziebungsheimen mit ihren Gefahren: nicht Ent; fremdung von den Eltern alfo, die gewiß nicht immer die berufenen Er eher ihrer Kinder find, die aber, trotz oft verkehrter Erziehung, allein ſchon durch die Blutsbande ſeeliſch unerſetzliche Werte ſchaffen. Auch nicht Inſelland, nicht aͤſthetiſch kultivierte Abgekehrtheit, die beim Sinaustritt in die nuͤchterne Wirklichkeit zur weltfremdheit werden kann. Vielmehr ſtarker Familienzuſammenhang, weckung des Wirklichkeitsſinnes, volles Einmuͤnden in den Strom der Großſtadt und prüfende, ſichtende, löfende, klare und dennoch mitfuͤhlende Sicherheit gegenuͤber den brennenden Fragen des Alltags und der chaotiſchen, neurotiſchen Zeit. Einfuhrung in die Staͤt⸗ ten und Betriebe der Großinduſtrie, der Technik, des Sandels, der Landwirt- ſchaft, der wiſſenſchaft und der Runſt und nicht zuletzt in die ſozialen TIöte und die geiſtesgeſchichtlichen Juſammenhaͤnge der Volks und Menſchheits · entwicklung.

3. Die Verwurzelung mit der Scholle wird im jungen Menſchen bei der ganzen Art der Siedlung durch fein lebendiges Verhaͤltnis zur Natur im Garten · und Feldbau von ſelbſt geſchehen. Darüber hinaus machen die einzelnen Gruppen im ſpartaniſchen Sinne der Saltung zeigenden organi- ſierten Wanderbuͤnde wöchentlich eine Eintagsfahrt und gelegentlich größere Fahrten in der engeren und weiteren Seimat. Nur der kann Seimat und Volk verſtehen und lieben, der noch mit dem Boden verwurzelt

4. Die Roͤrperbildung ſoll eine harmoniſche fein: keine einſeitige Aus⸗ bildung, keine muskuloͤs verkrampften Turnbeine und arme, keine ge⸗ drungenen Schultern, wie fie vielfach durch Gbermäßiges Turnen am Reck, am Barren hervorgerufen werden, keine mechaniſierenden Exerzieruͤbun ; gen. Sondern allſeitige Durchbildung im freien, frohen Spiel, im Sport, der dabei nie in die charakterverderbende ÜUberſpitzung des Konkurrenz kampfes ausarten ſoll: alſo Ballſpiele aller Art, Rudern, Schwimmen, Fechten, richtiges Atmen, rhythmiſche Gymnaſtik, die den Leib locker macht und frei von verzerrten Spannungen. Der Menſch ſoll Serr uͤber feinen ganzen Körper werden. Die zahlreich aus dem Boden ſchießenden

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rhythmiſchen Schulen und Syſteme unſerer Zeit bieten haͤufig: einmal die Gefahr der Uberbetonung der weichen Linie in der Bewegung; fie find dem herben maͤnnlichen Ausdruck noch zu wenig gemaͤß. Zum anderen ſetzen ſie zuweilen an Stelle der früheren taktmaͤßigen Mechaniſierung eine viel raf- finiertere Art des Intellekts: das letzte, was dem modernen Menſchen nach der Atomiſierung der Muſik noch unbewußt geblieben war, der Ausdruck des Zeibes, wird jetzt in das kalte Licht bloß analyſterender Logik gezerrt. Der Zeib des Kindes, des jungen Menſchen ſoll ſich in naiver Freude an der Eigenkraft und Vitalität ausſchwingen. Wird der Leib durch innere Konzentration ſeiner Verkrampfungen ledig, ſo wird, bei der Wechſel⸗ wirkung zwiſchen dem Körper und der ihn formenden Seele, auf die Dauer auch die Seele aus den durch Vererbung oder Erwerbung bedingten Trieb⸗ verdraͤngungen eines unnatuͤrlich gehemmten Gefuͤhlslebens in irgend⸗ welche Einſeitigkeiten zur natuͤrlichen Auswirkung ihrer Spannungen und damit zu einer Sublimierung chaotiſcher Triebkraͤfte im harmoniſchen Geiſte zuruͤckkehren. Siermit würde das Problem der Pſychoanalyſe ungeswun- gener gelöft als durch die im Notfall erforderliche wiſſenſchaftliche Me⸗ thode des den menſchlichen Organismus kennenden Seelenarztes.

5. Durch Koͤnnen zum wWiſſen. Ein dem Leben und dem Geiſte inne wohnendes Urgeſetz draͤngt nach Schwingung und Form. Aus dem im Eigenrhythmus ſchwingenden Werkſchaffen, aus der Lebenserfahrung wird dem jungen Menſchen die Weisheit erwachſen. Die Spielgaben des Kindergartens, der Feld⸗ und Gartenbau, die Tonplaſtik, das Schaffen in der wWerkſtatt (Schloſſerei, Schreinerei, Metallarbeit der Schulſiedlung), der Zaboratoriumsunterricht in Phyſik und Chemie, geologiſche Ex- kurſionen ſchaffen die Beziehungen zu den ſogenannten bildenden Bünften (den Erſcheinungskuͤnſten: Zeichnen, Malerei, Bildhauerkunſt, Architek⸗ toni), zur Mathematik, zu den Naturwiſſenſchaften der Organik und Me⸗ chanik, zur Wirtſchaftsgeſchichte und Staatskunſt und endlich zur Erd⸗ kunde, die, an ſich keine eigentliche Wiſſenſchaft, als Zentral, Sach“ den ganzen Kosmos umgreift, ihrem Urſprungscharakter gemäß aber den Naturwiſſenſchaften näher ſteht als der ſogenannten Geiſteswiſſenſchaft *. Auch auf dieſem wege iſt uns das praktiſchere Ausland (vor allem die nor⸗ diſchen Staaten und Nordamerika: John Dewey) vorangegangen, waͤh⸗ rend die Idee auf Peſtalozzi und beſonders auf Froͤbel zuruͤckging und in Deutſchland für die Volksſchule zum erſten Male von Kerſchenſteiner folge; richtig ausgewertet wurde.

Ein beſonderer Wert einer ſolchen Schulſiedlung wie der hier angedeu⸗

»Eine ſcharfe Trennung zwiſchen Natur / und Geiſteswiſſenſchaft gibt es aller⸗ dings nicht einmal in der Theorie, ebenſowenig wie die zwiſchen Wiſſenſchaft und Bunft. Wir erinnern nur an die Mathematik, die, wie alle Geiſteswiſſenſchaft, auch ihre abſtrakteſten Geſetze letzten Endes aus der ſinnlichen Wahrnehmung ber- geleitet hat. Oder an die Philoſophie, die ohne die ſchoͤpferiſche Kraft der Intuition Denk. Aunſt) als bloß formales Denken erſtarrte Logik wäre.

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teten beſteht noch darin, daß er den eigentuͤmlichen Wachstumoverhaͤlt · niſſen des Rindes weit mehr als bisher Rechnung tragen kann. Gemeint find jene raͤtſelhaften Erſcheinungen eines geiſtigen Ruͤckgangs, verbunden mir einer ſeltſamen Sochſpannung des Gefuͤhls und eines geſteigerten Taͤtigkeitsdranges, die etwa in das 6., 9., 13. und 16. Zebensjahr fallen und die man bisher mit Jahnwechſel, Erſcheinungen der Flegeljahre (I. und 2. Pubertät) abzutun pflegte. Die neuere Pſychologie (A. Buſe⸗ mann) ſucht den Grund in Wachstumsſtoͤrungen des Gehirns, das mit der uͤbrigen Koͤrperentwicklung in jenen Zeiten nicht gleichen Schritt haͤlt, und Fritz Klatt will den jungen Menſchen in dieſen Jahren der „Höben- entwicklung“ in ein Leben der Tat hineingeſtellt ſehen, während die rubi- geren Jahre der „Breitenentwicklung“ den Verſtand ſtaͤrker fördern ſollen.

De Auf ban der Geiſteswiſſenſchaften und der weſenskuͤnſte: der Sprachen, der Kulturgeſchichte, der Religionswiſſenſchaft, Philoſophie, Muſik, Dichtung, Tanzkunſt, wobei es auch wieder Grenzgebiete zu den Naturwiſſenſchaften gibt, wie etwa die Sprachphyſiologie (Phonetik) oder die innere Geſetzmaͤßigkeit der Muſik (Kontrapunkt), erfolgt aus einem zweiten Bildungs fundament der neuen Schule, das aber gleich dem erſten, dem Werkſchaffen, auf Schwingung und Formung beruht: der

6. Rhythmo⸗Dramatik: Mit der Rörperbildung (ſiehe 4. Abſchnitt) und über fie hinaus vermag fie in hervorragendem Maße den durch Vererbung und Erwerbung intellektualiſtiſch bereits verkrampften jungen Menſchen aus feiner Verbiegung zu befreien und feiner urſpruͤnglichen Natur, feinem Weſenskern wieder zum Durchbruch zu verhelfen, ihn ebenſo frei und hemmungslos ſich ſelbſt geſtalten zu laſſen, wie es in ihrem ungebrochenen Zeitenſinn der helleniſche Menſch der Antike und der gotiſche Menſch der mittelalterlichen Stadtſtaaten getan haben. Denn letztes Ziel der Menſchen⸗ bildung iſt nicht der Kuͤnſtler im bisherigen individualiſtiſchen Sinne, dem das Können, die Form oft Selbſtzweck war, fondern der reine Menſch, der feinen ganzen Zebensgehalt formt und verſchwendet für die anderen, in dem Künftlertum und Menſchſein eins geworden find. Und in jedem Men⸗ ſchen glimmt, zwar oft verſchuͤttet, der göttliche Funke der Schoͤpferkraft.

Warum nun gerade die Rhythmo Dramatik? Sie loͤſt nicht nur Gewalten aus, die den Menſchen bis in letzte Tiefen bewegen konnen. Sie macht auch den Zeib in ſeinem ganzen Ausdruck: mit Stimme, Sprache, Klang, Laut, Rhythmus, Dynamik, Börper wieder zu dem, was er urſpruͤnglich war, zu einem Inſtrument der Seele. Und ſie begreift alle andere Kunſt in fi. Sie iſt zugleich Weſenskunſt und Erſcheinungskunſt, wenn ſie auch nur den Augenblick in ſeiner fluͤchtigen Erſcheinung faßt. Sie iſt als leib⸗ſeelen geſtaltende: (pantomimifche, taͤnzeriſche und klang · ſchoͤpferiſche, mono · und polyphone, muſikaliſche) Kraft urhafte Kunſt, Sormung des vitalen, abgruͤndigen Seelenlebens; fie iſt als raumgeſtal⸗ Tat xvill Jo

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tende: (plaſtiſch malende, dem Raum ſich hingebende und durchdringende, architektoniſch ſchoͤpferiſche) und als geiſtgeſtaltende: (ſprachformende, Dich⸗ tung ſchaffende) Kraft die formſtrenge Aunft des bewußten Beifteslebens. Dieſe Dramatik muß ſich im Zaienſpiel ſcharfe Grenzen ſetzen gegen das Berufstheater von heute einerſeits, mit dem fie innerlich wenig Beruͤh⸗ rungspunkte hat, und gegen die Dilettantenbuͤhne andererſeits, deren Wollen ſtets das Maß des Könnens uͤberſteigt. Das hohe Drama kann alſo im Einzelſpiel von der Zaienbuͤhne nur unter ganz beſonders guͤnſtigen Ver⸗ haͤltniſſen geſpielt werden. Das Puppenſpiel, das nach weismantel in den Kaſperleſiguren am beſten die Komik, in der Marionette den Zufall und im Schattenſpiel am beften den Ernſt ausdruͤckt ſiehe Leo Weismantel, Werk⸗ buch: Puppenſpiele; Buͤhnenvolksbundverlag] eignet ſich beſonders für die Gruppen der Schulſiedlung und fuͤr das Familienleben zu Sauſe; es ge⸗ hoͤrt nicht in den eigentlichen Kern dieſes Bereichs, iſt aber ſehr wertvoll und anregend.) Das Laienfpiel der einzelnen Gruppen, die im Wechſel, nach Neigung und Anlage, periodiſch für die ganze Schulgemeinde ſpielen, greift am beſten zu Dramen, deren Darſtellung noch nicht das ausgereifte Bönnen des berufenen Schauſpielers verlangt. Zunaͤchſt alſo zu dem Stegreifſpiel und zu dem Myſterienſpiel des Mittelalters, deſſen ſchlichte Einfalt heute nur noch von dem Kinde gelebt werden kann. In ſpaͤteren Jahren zu Bearbeitungen, die von dem Erlebnisgehalt unſerer Zeit durch⸗ blutet find. Alſo etwa zu Spielen wie Lipperts „Totentanz“, Weinrichs „Tänzer unſerer lieben Frau“ und „Tellſpiel der Schweizer Bauern“ oder Klingemanns „Till“ (Buͤbnenvolksbundverlag, Frankfurt) oder zu Mirbts „Gevatter Tod“ und „Spiel von Uri“ (Chriſtian Aaiſer ⸗Verlag, Muͤnchen) oder zu den Bewegungsſpielen von Martin Zuſerke (Verlag Adolf Saal, Lauenburg), oder zur Shakeſpearekomoͤdie. Auch die dramatiſterten Maͤr⸗ chen von Walter Blachetta („ZJaubergeige“, „Schweinehirt“) find in ihrer anſpruchsloſen Improviſationsmoͤglichkeit vor allem für 13—15 jährige junge Menſchen ſpielkraͤftig.

Das hinreißende Pathos des Seroiſchen, des Tragiſchen, des Erhabenen aber iſt auch dem Laien moͤglich im Sprech und Bewegungschor, der ebenfo wie der Vokalchor (Singgemeinde) und der Inſtrumentalchor (Or⸗ cheſter) von Angehoͤrigen der ganzen Schulſtedlung: von Anaben, Maͤd⸗ chen, Volkshochſchuͤlern, Erwerbsloſen und Eltern geſtaltet werden kann. Welch gewaltige, gemeinſchaftsbildende Urkraft darin ſteckt, das wird dem modernen Menſchen ahnbar, wenn er etwa die ungeſchulten proletariſchen Maſſenchoͤre in Tollerſchen Dramen oder gefeilte Sprechchoͤre der Jugend⸗ bewegung und der Akademikerſchaft in Goethes „Fauſt“ und in Schillers „Braut von Meſſina“ hoͤren kann. (Zwar fehlte hierbei bisher die organiſche, entfeſſelte und doch in einem Gemeinſchaftswillen gebaͤndigte Bewegung der Maſſen; denn der Leib gehorcht noch am wenigſten den Menfchen unſeres Zeitgeiſtes.) Und wie im Vokal und Inſtrumentalchor

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die Berufenen ſich zu kleinen Spielgruppen (Trios, Quartetten) zufammen- finden und die Berufenſten die fuͤhrenden Einzelſtimmen darſtellen, ſo werden aus dem Sprech und Bewegungschor der Laien (nach dem Vor⸗ bild der Antike) die Begabteſten als die Chorfuͤhrer und die berufenen Schauſpieler des hohen Dramas organiſch hervorgehen. Solange die dra⸗ matiſche Dichtung unſerer Zeit aber ihren Ausdruck noch nicht im Ge⸗ meinſchaftschor gefunden hat, muͤſſen uns im weſentlichen das antike Chor⸗ drama und die hohe Bewegungskunſt der Shakeſpeareſchen Tragoͤdie Vor⸗ bild ſein. Gerade Shakeſpeare iſt ja in ſeiner Umfaſſung ausklingender Typik der Gemeinſchaft und ſtark erwachender Beſinnung des Individu⸗ ums der vorbildliche Dramatiker geworden fuͤr die Syntheſe unſerer neu anbrechenden Zeit. Und ſo waͤre der Kreis, von dem wir ausgingen, in ſich geſchloſſen.

Letztes dramatiſches Ziel der Schulfiedlung koͤnnte alſo die allmaͤhliche Geſtaltwerdung einer Shakeſpearebuͤhne ſein: ohne Wettbewerb mit dem Berufstheater, deſſen Stoffe und Ziele heute ja in der Sauptſache ganz anderswo liegen, koͤnnte dann von hier aus der Ausdruckswille einer in ſich geſchloſſenen Gemeinde auch weiten, der Schulſiedlung durch die Idee verbundenen Volkskreiſen zugaͤnglich werden. |

7. Noch ein letztes Wort ift über die Muſik zu ſagen, auf deren natur- bedingten Zuſammenhang mit der Rhythmo⸗ Dramatik, mit Sprache und Tanz auf der gemeinſamen Grundlage des Rhythmus ſchon hingewieſen wurde. Die Muſik iſt ja ein Bildungselement, das Goethe in feiner „paͤ⸗ dagogiſchen Provinz“ ſogar in den Mittelpunkt der Bildung geſtellt wiſſen wollte, und feine Idee wurde Tat in der Freien Schulgemeinde zu Wickers · dorf, die auch dem dramatiſchen Bildungselement (: in den Bewegungs- ſpielen ihres fruheren Mittraͤgers M. Zuſerke und der Shakeſpeare⸗ komòͤdie; zwar einſeitig) weiten Spielraum gewaͤhrte. In unferer Schul⸗ ſiedlung ſoll die Muſik ebenſowenig wie die Dramatik ein ausgefeiltes Bönnen zum allgemein verbindlichen Ziele haben, wenn auch der Wille zu ſtrenger Durchformung, verbunden mit wirklichem Spieltrieb, ſtets vor; handen fein muß. Geiſtige Muſikalitaͤt zu wecken, die inneren Form⸗ elemente der Muſik kennen zu lernen, wird den Begnadeteren vorbehalten bleiben. Der junge Menſch ſoll gute Muſik hoͤren, leben! Durch taͤgliches Vorſpiel, in Singchor und Grcheſter, in Vokal und Streichquartetten. Muſik nicht erleben, d. h. bloß nachleben, ſondern leben.

Schluß wort. Die Koſten für eine Derfuchsfchule der hier gezeichneten Art koͤnnen bei dem nur ſtufenweiſe und über einen Zeitraum von Jahren ſich erſtreckenden Auf bau, dank der billigen Arbeitskraft und der ſtaatlichen Unterſtůtzung durch die Erwerbsloſenfuͤrſorge, nicht allzu beträchtlich Vgl. hierzu auch die Beſtrebungen von Vilma Moͤnckeberg. Jetzt Leiter der „Schule am Meer“ auf der Inſel Juiſt.

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werden. Andererfeits aber koͤnnten auf dieſe Weife an der Peripherie der Großſtadt Kulturzentren erſtehen von aͤhnlicher Bedeutung, wie fie die Pfarrei im Mittelalter beſaß. Wie dieſe die Sammlunge- und Ausſtrah ; lungszentrale für alle ſchoͤpferiſchen Kräfte der Gemeinde war, fo koͤnnte heute die in ſich geſchloſſene und trotzdem nicht verſchloſſene Caienſchule als Träger eines Weltbildes (: der katholiſchen Idee der Wertgebundenbeit und Gottesſehnſucht, der evangeliſchen Freiheit des Chriſtenmenſchen, der religiös · ſozialiſtiſchen Menſchheitserloͤſung durch den ſich ſelbſt überwin- denden Klaſſenkampf, der prometheiſchen Selbſtverantwortung und Gpfer⸗ bereitſchaft der Freien Jugendbewegung) in eigengepraͤgten Formen kultur⸗ ſchöͤpferiſch wirken und ſich mit den weltanſchaulich andersgerichteten Schulgemeinden wechſelſeitig befruchten im freien Geſtalten der Kräfte.

; man ſpricht heutzutage viel von einer Kriſis der Organiſche Kultur europaͤiſchen Kultur. Kriſis bedeutet einen Über

gangszuſtand, der zu Geſundung oder Siechtum und Tod fuhrt.

Nach Spenglers Entwicklungsſchema kann es eine eigentliche Rulturkrife nicht geben: was wir heute ſehen ift das unvermeidliche Einmünden Europas in Greiſenalter und Sterilitaͤt. Es ift das Abſterben ganzer Seelenkomplexe im menſchlichen Innern, die dem Überwuchern des Intellekts zum Opfer fallen, die fortlaufende und in jeder Rultur unvermeidliche Rationaliſierung aller Vorgänge des menſchlichen Daſeins infolge der Erſchoͤpfung der ſeeliſchen Möglichkeiten der Kultur. Jede Bulturfeele iſt nach Spengler endlich und muß nach Entfaltung ihrer Reime dem Tode, der Erſtarrung anheimfallen. Der tiefinnerliche Schoͤp⸗ fungs · und Formungsdrang, der aus dem chaotiſch / brauenden Urgrunde der Seele dringt, beginnt im Verlaufe der Kultur einer anders gearteten Triebrichtung zu weichen: die Ratio den Dingen der Außenwelt aufzusräden, die Natur durch ihre eigenen Geſetze zu unterwerfen und nutzbar zu machen.

Spengler hat in großartiger Intuition eine geſchloſſene Geſchichtsphiloſophie geſchaffen, die unbedingt zwingend iſt, ſofern man ſeine Denkmethode als richtig anerkennt: eine geſetzmaͤßige Analogie aller Rulturen und damit ein einziges, im Großen unabaͤnderliches Schema für ihre Schickſale zu ſchaffen. Spenglers Ge · dankengang führt zu einer Art von Fatalismus. Unentrinnbarkeit einem vorher; beſtimmten Schickſal gegenüber, das im Weſen des Menſchen liegt, bedingt tra · giſche Reſignation hinſichtlich des Ganges der Kultur.

Andere Denker beſtreiten ſolche Wotwendigkeiten in der Geſchichte. Siſtoriſche Schickſale ſollen abfolut individuell fein, ein Vorausbeſtimmen daher unmöglich.

Spengler glaubt, daß die Seelenkraͤfte des heutigen Menſchen im Verſiegen ſind. Manche feiner Gegner meinen, die bisherige Entwicklung babe fie nur verfchättet, weil fie fie mißachtet habe. Die tiefe Sehnſucht nach Vertiefung des Weltblides, die die heutige abendlaͤndiſche Kulturwelt durchzieht, ſcheint ihnen Recht geben zu

R. v. Engelhardt: Organiſche Kultur, Deutſche Lebensaufgaben im Lichte der Biologie. Verlag von Lehmann, Münden 1925.

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wollen. Der Juſtand, in dem unſere geiſtige und ſeeliſche Entwicklung angelangt iſt, erzeugt nicht nur bei begnadeten Geiſtern, ſondern auch in allen Suchenden ein Gefühl der Leere und Unbefriedigung, das eine Möglichkeit zu neuen Wegen zu eröffnen ſcheint. Baum eine andere Jeit kann ſich mit unferer Gegenwart an Un- ſicherheit den bisherigen Werten gegenüber meſſen.

Es ſcheint wohl, als ob die Zeit reif fei, inbrüanftig einem neuen Glauben, einer neuen Wertſetzung, einer Verankerung des arm gewordenen Innenlebens in großeren Tiefen zu folgen.

Der Menſch unter uͤberragender Führung feines Intellekts hat ſich ſelbſt ver⸗ loren. Sein Leben iſt blutleer geworden. Sein Suchen geht nach neuer Ver⸗ bindung feines Lebens mit dem Bosmos. Die mechaniſtiſche Naturwiſſenſchaft des 19. Jahrhunderts ein Symptom der gefamten Bulturentwidlung, mit der ſich der moderne Menſch feinen Weltaſpekt ſchuf, bat ihn vom Bosmos, von der Natur ſelbſt geloͤſt, indem quantitative Betrachtung, von dort ausgehend, in ſeinem ganzen Denken dominierend wurde. Die Stimmen der Denker, die die Natur anders anſchauten und den Blick in die Tiefe fuhren wollten, verhallten. Es iſt ein Symptom der kulturellen Brife der Gegenwart, daß die Blicke der Suchenden, Wiſſenſchaftler und Laien, ſich wieder in dieſelbe, damals in ihrer Bedeutung nicht erkannte, Richtung wenden und im Erſchauen und Erforſchen der tiefſten Ur⸗ grunde der Natur an die Weltraͤtſel vorzudringen ſuchen. Wir können ſtolz darauf fein, daß einſt Balten, wie A. E. von Baer und von Bunge, ſich gegen die herr ſchende, ausſchließlich mechaniſtiſche Betrachtung der Natur gewandt haben und ibr tiefftes und geheimnis vollſtes Wirken zu ergründen ſuchten. Ihre Nachfolger, unter denen ſich Jakob von Uexkuell auszeichnet, find auf dem Wege, die Grund- lagen eines Weltbildes zu ſchaffen. In ihre Reihen tritt mit feinem ſoeben er ſchienenen Buche „Organiſche Kultur. Deutſche Kebensaufgaben im Cichte der Biologie”, Dr. Roderich von Engelhardt“.

Sein langes Wirken als Vorkaͤmpfer gegen mechaniſtiſche Verflachung der Aultur hat ibm bereits einen weiten Anhaͤngerkreis außerhalb und innerhalb unſerer Seimat verſchafft. Mit Dankbarkeit empfangen wir fein Buch, das uns in kuͤnſtleriſch ſchoͤner Form das Fazit feines Denkens bietet. Dr. von Engelhardts Vorträge in Riga und Reval im Serbſt 1923 im Juſammenhang mit ber „Menſch“. ausſtellung des Deutſchen Sygiene-Mufeums ſtehen den Teilnehmern noch in un- geſchwaͤchter Erinnerung. Es bedeutete ein Erlebnis, feinen Gedankengaͤngen zu folgen. An die letzten Dinge des Menſchlichen, der Natur zu rühren, die Ehrfurcht vor der Groͤße dieſer Dinge zu wecken, dazu gehort ſtets eine gluͤckliche Verbindung von kuͤnſtleriſch · intuitivem Erſchauen und wiſſenſchaftlicher Durchbildung. Dr. von engel hardts Gedanken führen in eine außerordentliche Weite. Vom Natur wiſſenſchaftlich · Biologiſchen ausgehend greifen fie mitten in die großen Kultur probleme unſerer Jeit hinein. Man konnte als Motto der „Organiſchen Kultur“ das von Engelhardt zitierte wunderbare Wort Giordano Brunos ſetzen: „Auf der Grenze zwiſchen Jeitlichkeit und Ewigkeit, zwiſchen Urbild und Einzelgeſchöpf, zwifchen Verſtandeswelt und Sinnenwelt, überall an dem Weſen beider teil nehmend und gleichſam die Lucke ausfuͤllend zwiſchen den ſich fliehenden Enden: fo aufgerichtet am Sorizonte der Natur ſteht der Menſch.“

Ein tiefes Menſchheitsproblem ſoll in dem Buche Engelhardts der CLoͤſung »Verlag von Lehmann, München 1925. geb. m 4.50, geb. M 3.20.

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naͤber gebracht werden: zwei Bräfte im Menſchen Intellekt und Intuition führen ihn in zwei auseinandertreibende Richtungen, die gleichermaßen über- zeugend find. Auf der einen Seite das der mechaniſchen Rauſalitaͤt unterliegende „verftandesmäßige”, wertfreie Denken, das den Menſchen ſich ſelbſt als ein un⸗ verbruͤchlichen Geſetzen unterliegendes, daher un verantwortliches Weſen, zeigt und andererſeits das Denken, durch Anſchauung, Intuition, kos miſches Gefuͤhl ge · leitet, das ihn im eigenen Spiegelbilde als verantwortliche, nach Werten zu meſſende Perſoͤnlichkeit erſcheinen laͤßt, voll Eigenwert, mit einem Teil feines Weſens im Ewigen verankert. Die Diskrepanz dieſer beiden Einſtellungen gibt unſerer heutigen Rulturepoche ihre Unſicherheit und Ratloſigkeit. Verſtandes ; mäßige Jergliederung und intuitives Schauen fteben ſich als die zwei großen Wege menſchlichen Erkennens und Verſtehens gegenüber. Seute iſt der zweite weg durch Überwiegen intellektualiſtiſcher Betrachtung der Dinge faſt ausge · ſchaltet. „Verſtand“ im Goetheſchen Sinne kann die Dinge nur in Reihen und Teile auflöfen, und beraubt fie damit ihres Lebens, nur „Vernunft“ oder Intui⸗ tion kann das Organiſche, das Lebendige mit umfaſſendem Blicke umſpannen und als wirklich lebende Wirklichkeit in ſich aufnehmen. Die Tiefen liegen aber im Organiſchen, Lebendigen. Die Biologie, die Lehre vom Leben, iſt für den heutigen Menſchen das Gebiet, an dem er wieder feinen Blick für das Organiſche entwickeln kann und verſtehen lernen kann, daß nicht Mechanismen die Welt regieren.

Der Sinn des Menſchen fuͤr das Organiſche ſoll wieder vordringen und den Auf⸗ bau auch der Geſellſchaft beberrſchen. Engelhardt trifft ſich hierin mit der mo · dernen Soziologie, die den Begriff des Organiſchen zu ihrem Jeitgedanken ge · macht hat.

Die Geſetze des Lebens ſollen wieder zur Geltung kommen, nachdem unorga⸗ niſches Denken im politiſchen, ſozialen, wiſſenſchaftlichen Leben Verarmung und Verflachung hervorgebracht hat. Die deutſche Kultur hat in der Weimarer Epoche uns ein Vorbild geſchaffen, an das unfere Zeit wieder anknüpfen muß, um den Weg der Geſundung zu finden. Organiſches Denken, von tiefer Naturkenntnis ausgehend, beſtimmte die Geiſtesſtruktur der Haſſiſchen Jeit.

R. v. Engelhardt führt das warnende Wort des chineſiſchen Weiſen Au · Sung · Ming an: „Europa wird an dieſem Kriege zugrunde gehen, wenn es fi nicht auf den Weiſeſten beſinnt, den ihm das verfloſſene Jahrhundert geſchenkt hat, auf Goethe.“ Die intellektualiſtiſche Geiſteseinſtellung, die den Strukturbegriff des Organiſchen verloren hat, führte zu der Jerfahrenheit im politiſchen und ſozialen Leben der Gegenwart, der Vertrag von Verſailles mit feiner Verbildung Europas und der Bolſchewis mus mit der Trotzkiſchen Parole: „er werde nicht fruher ruhen, als bis alle ſozialen Verhaͤltniſſe den Geſetzen der Vernunft (im Goetheſchen Sinne Verſtand“ angepaßt ſeien“, find Kinder dieſer falſchen intellektualiſti⸗ ſchen Grundeinſtellung gegenuber Problemen der lebendigen Wirklichkeit. Rechen; haft ſollen politiſch · ſoziale Verhaͤltniſſe aufgebaut werden. Aber unendlich viel Fakten des Lebens laſſen ſich nicht rechen haft, ſondern nur in intuitiv genialer Weiſe erfaſſen. Der Intellektualismus, ſelbſt lebensfremd, kann Leben nicht or- ganiſch geſtalten. Rationalismus iſt Quantitaͤtsdenken. Dagegen braucht unſere Zeit wertbewußtes Qualitaͤtsdenken.

Nur das Einfuhren ſtarker Wertſkalen in das Urteil unſerer Jeit wertſtalen, die metaphyſiſch verankert find konnte die ſoziale Kriſis der Jeit befeitigen.

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Fuhren und Gefuͤhrtwerden muß ſich nach Wertverſchiedenheit beſtimmen. Nur ein Aufbau nach Wertordnung kann dem ſozialen Börper die Struktur geben, die den Geſetzen des Lebens entſpricht.

R. v. Engel hardts „Organiſche Kultur“ eröffnet neue Perſpektiven kultureller Einkehr und Entwicklung. Nicht Reſignation ſpricht aus feinen Gedanken, fon- dern der Wille, den Kampf für Befundung zu führen. Gewiß liegt ein ſchwieriges Problem darin, ob der heutige Menſch trotz ſeines Sehnens und Strebens noch den Weg zuruͤck „zu den Müttern“, zu der Begründung feines Innenlebens auf das RAosmiſch Metaphyſiſche finden kann, ob eine Wiedererweckung organiſchen Sinnes und intuitiven Denkens noch möglich iſt, ob nicht der Weg der Rationali- ſierung der Kultur bereits am Scheidewege vorbeigefuͤhrt bat. R. v. Engelhardt trägt in ſich einen tiefen Glauben an dieſe Möglichkeit. Das gibt feinem Buche, wie feinem ganzen Wirken das Mitreißende, das die Vorbedingung für den Er folg iſt.

Ein tiefes und dringendes Menſchheitsproblem hat Engelhardt in feinem Buche aufgerollt. Der Iwieſpalt, der ſich durch unfere gegenwärtige Bulturpbafe zieht, muß uͤberbruͤckt werden, wenn nicht Spenglers Prophezeiung in Erfüllung geben ſoll. Engelhardt ſucht den Weg zu ber Brehde zu bahnen, die dieſen Iwiefpalt 5 ſoll. Zamilkar von ee

; , In zwei weſentlich verſchiedenen 3 ließ Beyfer:

Das Ebe. Buch ling feinen Gedanken einer „Schule der Weisheit” Geſtalt gewinnen: in den für einen kleinen Kreis beſtimmten Exerzitien und den alljaͤhrlichen offentlichen Tagungen im Serbſt. Die Exerzitien hat man fallen laſſen. Diefe Meditationsuͤbungen, im Grunde ein wunderlicher Verſuch der Verquickung von Coueè, Ignaz und Noga, haben auf mich gewirkt wie eine Farce. Obgleich um der Gerechtigkeit willen geſagt werden muß, daß privatim und öffentlich auch andere Wirkungen bezeugt wurden, daß dort Menſchen, die vor dem Selbſt⸗ mord ſtanden, zu neuer Lebenskraft und neuem Lebensmut kamen, daß andere, die unter der modernen Jerſtuͤckelung und Jerfaſerung ihrer Perſoͤnlichkeit ver zweifelt litten und innerlich bankerott waren, „ibrem Ich eine immer finnvollere Verein heitlichung“ geben konnten und das Erlebnis jener vier Tage mit dem Danteſchen Incipit vita nuove überſchrieben (vergleiche O. A. 5. Schmitz „Pfv: choanalyſe und Noga“, Reichl 1923), obgleich dies alles ehrliche Jeugniſſe find, fo beweiſen fie nichts. Auch Seilsarmee und Christian science Fönnen ſich ahnlicher Erfolge rühmen. In die Reihe dieſer bedenklichen Erſcheinungen gehörten die Exerzitien, nur auf gebildeterer, ſozuſagen monbaͤner Stufe. Daß Re e wurden, iſt kein Verluſt.

Die Serbſttagungen waren von Anfang an das offenbar anſpruchsloſere und fruchtbarere Unternehmen: bier bat Beyferling eine weithin ſichtbare und erbo- bene Plattform zur Behandlung der letzten Welt · und Menſchheits probleme ge · ſchaffen, gleich weit entfernt von weltanſchaulichem Dilettantismus wie von nur gelebrter und unfruchtbarer philoſophiſcher Spezialeroͤrterung. Einem Vortrags: zyklus ohne zerredende Diskuſſionen liegt ein von Beyferling gewähltes weites und bedeutſames Thema zugrunde. Spannung und Rhythmus, Werden und Ver · gehen, Freiheit und Norm waren die letzten (enthalten i. d. Jahrbuͤchern der Schule der Weisheit, „Der Leuchter“, Reichl, Darmſtadt). Von den verſchiedenen

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Seiten ihres Fach · oder Lebensgebietes berantretend, ſprechen die einzelnen Red⸗ ner unabhaͤngig von einander zu dieſem Leitmotiv, und ſo ergibt ſich, wenn auch nicht, wie Reyferling ſagt, ein Orcheſterwerk des Geiſtes, fo doch eine intereſſante Variationenreibhe über ein Thema. Bei der zum größten Teil gluͤcklichen Auswahl der Redner und bei der Überlegenheit, mit der Bepferling den Grundakkord ein- leitend anſchlaͤgt und endend nach dem Durchgang durch die einzelnen Stimmen mit zehnfacher Bedeutung geſaͤttigt wiederholt und geläutert erklingen läßt, ſchloß ſich bis her jede Tagung zu einem bedeutenden, klaͤrenden und vertiefenden geiſtigen Ereignis zuſammen.

In ganz aͤbnlicher Weiſe ſtellt ſich uns das Ehe ⸗Buchꝰ dar, das Keyſerling an- geregt und herausgegeben hat als „eine neue Sinngebung im Juſammenklang der Stimmen führender Jeitgenoſſen“.

Die Ehe iſt wie fo vieles in unſerer Zeit fragwuͤrdig geworden. Aber man kann gerade nach der Lektuͤre dieſes Buches die Entdeckung machen, daß es durchaus nicht eine Verfallserſcheinung zu ſein braucht, wenn Dinge oder Inſtitutionen problematiſch werden. Im Gegenteil. Nur deshalb genügt der bisherige Begriff der Ehe nicht mehr, weil wir hohere Maßſtaͤbe anzulegen gewohnt ſind ſowohl an die Eheſchließenden wie an den Sinn der Einrichtung, an das, was ſich in der Ehe als Lebenswert eigentlich erfüllen ſoll darüber hinaus, daß fie eine Wirtſchafts · gemeinſchaft, eine Geſchlechtsgemeinſchaft und eine Gemeinſchaft zur Aufzucht der naͤchſten Generation ſei. Nirgends fo ſchoͤn wie hier exempliſiziert ſich Aeyſer lings Gedanke, fein einziger philoſophiſcher, in unzaͤhligen Variationen wieder bolter Gedanke vom Sinn: daß der Sinn, die lebendige Vorſtellung, Wirklichkeit ſchaffe, zur Verwirklichung geradezu draͤnge. Dieſen Sinn der Ehe zu Flären, auf- zuhellen, eindringlich zu machen, find alle die Arbeiten hier zuſammengefaßt, deren Niveau, wenn auch im einzelnen ungleich, derartig iſt, daß man das Buch mit Freude und Nutzen leſen wird.

Wir erfahren uber die Ehe in Raum und Jeit von den am gruͤndlichſten etbnno- graphiſch und hiſtoriſch Orientierten Weſentliches, uber die indiſche (Tagore), chineſiſche (Rich. Wilhelm), amerikaniſche (Beatrice Sinkle), proletariſche (Paul Ernſt), buͤrgerliche (Jakob Waſſermann), romantiſche Ehe (Ricarda Such), um nur einiges zu nennen; Bedeutenderes noch wird uͤber die Ehe als zeitloſes, d. h. als auch derzeitiges, als unſer Problem gefagt: vom pſychologiſchen Standpunkt aus (Ernſt Aretſchmer), von der Seite der Pſychoanalyſe (Sattingberg, C. G. Jung, Alfred Adler), von Liebe und Ehe als Runſt, von der Ehe als Aufgabe. Man wird keine Inhaltsangabe im Einzelnen erwarten. Uberraſchend iſt der Gleichklanz im hoben Ernſt der Auffaſſung, der aus allen Arbeiten herauszuhoͤren iſt. Als eine echte Idee liegt die Ehe eigentlich ſtets noch vor uns, als eine einmalig zu bedenkende und immer neu zu bewaͤltigende Aufgabe. Das, was alle ſtillſchweigend oder ausgeſprochen als das Weſen der Ebe anerkennen von der in dieſem Areis ſeltſamen Bontraft- ſtimme Paul Dahlkes abgeſehen, der als Buddhtſt naturlich wie er die Welt ver- neint auch die Ehe als „Feſſel“ mit verneinen muß konnte man mit zwei goe theſchen Begriffen bezeichnen: als Polarität und Steigerung, den beiden recht eigent · lich dialektiſchen Begriffen. Mit der Ehe, konnte man fagen, beginnt die lebendige Dialektik der menſchlichen Geſellſchaft. In dem ſehr klugen und ſchoͤnen ein- leitenden Aufſatz Beyferlings iſt das Grundlegende ausgefuhrt: Die Ehe iſt unter »Wiels Aampmann Verlag, Celle, 1925.

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dem Bilde der Ellipſe mit zwei Brennpunkten geſehen, die nie zuſammenfallen koͤnnen oder ſollen. Denn Ehe iſt im weſentlichen Spannung, nicht Gluͤckszuſtand im ublichen Sinne, eher tragiſcher Juſtand. „In der Paradoxie des Anein ; andergebundenſeins zweier unanfechtbarer Ein ſamkeiten liegt der eigentliche Sinn der Ehe. In ihr wird die Tragik alles Lebens dem Menſchen als perfönlicdhes Problem bewußt.” (Sier ſteht auch der ſchoͤne Satz von ſeltener Tiefe: „Mit der akzeptierten Tragik beginnt erſt das Menſchenleben.“) So iſt die Ehe bekannteſtes uͤberliefertes Symbol nicht nur der zwiſchenmenſchlichen, ſondern auch der zwifchen- dinglichen Bezüge, der kosmiſchen Jugehoͤrigkeit des Menſchen. Die Urgegebenheit Ich und die Welt findet in der Ehe nicht das einzige, aber eins der Flarften Beiſpiele. Diefe Urgegebenheit ift hier auf fo kleinen Raum, in fo unmittelbare Naͤhe des Einzelnen gedrängt, muß in fo Hleiner Arena ausgetragen werden, daß fie jeder erleben kann und muß, der ihrer ſonſt im Blick auf das Daſein nicht inne wird. man ſieht, wie tief der Sinn der Ehe hier fundiert iſt: Die Ehe geradezu als „mo · raliſche Anſtalt“ erfaßt, als Erziehung zur Würde des Menſchen. Menſchen · und Weltklugheit ſpricht aus Reyferlings Ausführungen über die Gattenwahl ebenſo wie aus denen uber die Bunft des Verheiratetſeins.

Alles in allem: ein leſenswertes Buch, ein dankenswertes und manchem Ein zelnen wohl foͤrderliches Unternehmen.

Wer nach den verſchiedenartigen Eindruͤcken, die die Lektuͤre dieſes Ehebuches bringt und die zuletzt eine ahnliche Wirkung auf das geiſtige Auge ausüben wie der Anblick eines buntfarbig bemalten gedrehten Kreiſels: das Grau nicht der Ent; taͤuſchung aber doch der Ermüdung und eines gewiſſen Überdruffes an der Be handlung der gleichen Frage, wer am Schluß ſich nach einem volltönenden und knappen Wort der Weisheit über all diefe Dinge ſehnt, der ſchlage im Jarathuſtra das Aapitel von Rind und Ehe auf oder höre die folgenden beiden Abſchnitte aus der „Deutſchen Lehre“ von Rudolf Pannwitz:

„Euer beider liebe ſei ein gleichnis der liebe und eure liebe ein gleichnis des lebens und euer leben ein gleichnis des daſeins und euer daſein ein gleichnis der ewigkeit: ſonſt vereinzelt ihr euch.“ (S. 303 77.)

„Fordert ja nicht das unbedingte noch hoffet vom unlöslichen euch zu erlöſen ! zwei einſamkeiten vermäblen fi keine einſamkeit verliert fi. ſonſt ginget ihr ja ein jedes ſich ſelbſt verloren und behieltet dem andern nichts zu ſchenken. dies alſo verdenket einander / nicht genuůge euch einander wohlzutun. feiet nicht immer zu · ſammen! fei ein jeder viel für ſich auch mit dem herzen | auf daß eure tiefen ſich erneuern und emporquellen und ihr reichlicher einander füllen mögt. zu viele reibung und gemeinfame luft uͤberreizt daß man alles eins vom andern erwarte. leben aber iſt loͤſung und unloͤsliches / nur tod iſt loͤſ ung allein. jedoch der Menſch ſtirbt nur einmal (S. 310/128.)

Sierin iſt das xiefſte auf einen Punkt zuſammengepreßt, worüber ſich das Ehe; buch auf 400 Seiten vielſtimmig verbreitet. Paul Wegwitz

Georg Brandes, Hauptſtroͤmungen der 5 5 18 Nr 0 n n es Literatur des neunzehnten Jahrhunderts] Srandes 5

in einem fruheren Sefte der „Tat“ beſprochen habe, bleibt mir noch übrig, auch »Dritter Band: 5. Die romantiſche Schule in Frankreich. 6. Das junge Deutſch ;

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dem letzten abſchließenden Band des geſamten Werkes, der ſoeben berausgelom- men ift, mit einigen Worten anzuzeigen. Sie konnen auch bier nicht anders als im Tone des böchften Lobes gehalten fein. Der dritte Band ſchließt ſich wuͤrdig feinen beiden Vorgängern an. Er behandelt die franzoͤſiſche Romantik der zwan⸗ ziger bis fünfziger Jahre ſowie das junge Deutſchland. Mit der bekannten Meiſter · ſchaft legt Brandes auch hier zunaͤchſt wieder die geſchichtlichen Vorausſetzungen dar, die der ſog. romantiſchen Schule in Frankreich zugrunde liegen: die Umwaͤl⸗ zungen der Revolution, die Kriege des Aaiſerreichs, die Erſchlaffung unter der Regierung Ludwigs XVIIL Mit Karl X. beginnt das Jeitalter der kirchlichen Real: tion und wird abgelöft vom Buͤrgerkoͤnigtum. Der Kapitalismus fängt an, feine Macht zu entfalten. Die Jagd nach dem Geld, die Proſa der ſozialen Frage ver · draͤngt die revolutionaͤre und kriegeriſche CLeidenſchaft der eben vergangenen Zeit. Der von der Kirche unterdruͤckte Freiheitsdrang bemaͤchtigt ſich der neuen Jugend und bewirkt die Abkehr von der noch eben gehegten Schwaͤrmerei für den Aatho · lizis mus, die Bönigsgewalt und das Mittelalter. Man beginnt, in der Literatur den Zwang der bisherigen Regeln abzuwerfen und gefällt ſich, empört über das Grau in Grau, das „Juſtemilieu“ des Bürgerköͤnigtums, in gluͤhender Verachtung des „Bourgeois“ und der offentlichen Meinung, in der Vergoͤtterung der zuͤgelloſen Ceidenſchaft und der ungebundenen Genialitaͤt. Dazu kommt der Einfluß des Aus · landes. Shakeſpeare, Scott, Byron und, wenn auch in geringerem Maße, Goethe und E. T. A. Soffmann finden eifrige Leſer und Bewunderer. Wieder einmal wird „Natur und Wahrheit“ die Lofung eines Jeitalters, und mit der Abſage an die Proſa des Lebens verbindet ſich der Sang zum Abſonderlichen, zur Unnatur, zu prunkender Vortragskunſt und die Aucht in das Reich einer phantaſtiſchen, er traͤumten Wirklichkeit. Charles Wodier ſchlaͤgt die Tone Hoffmanns an und wird der Schutzpatron der neuen Schule. Andre Chenier gibt ihr die lyriſche Weihe: er laßt das Haſſiſche Altertum in eigentämlicher neuer Färbung aufſtrahlen. Unter feinem Einfluſſe ftebt Alfred de Vigny. Aber ſchon übernimmt Victor Sugo die Führung der Schule und loͤſt mit feinen in orientaliſche Farbenpracht und gluͤhende Sinnlichkeit getauchten Verſen, ſeinen romantiſchen Dramen einen Sturm der Begeifterung in feinem Volke aus. Das bleiche Dichterantlitz Alfred de Muſſets taucht vor den Augen des Leſers auf. Weltſchmerzlich und blafiert, ein ausſchwei ; fender Benüäßling, der, fruͤh enttaͤuſcht, unbefriedigt, nach immer neuen Reizen ſucht, it er nichtsdeſtoweniger der Sänger der füßeften Verſe, die je in Frankreich gedichtet ſind. Aber dann geraͤt er unter den Einfluß der genialen George Sand und wird nun ebenſo ein anderer, ein mehr maͤnnlicher und zielbewußter und ge⸗ reifterer Dichter, wie jene durch ihn geadelt wird und jetzt erſt den Gipfel ihrer Schaffenskraft erklimmt. Neben beiden nimmt ſich Balzac als ihr Gegenpol aus. Er will das Leben ſchildern in feiner ganzen Brutalität und Rückſichtsloſigkeit, den Menſchen ungeſchminkt vor feine Leſer hinſtellen, fein Jeitalter, ganz Frank. reich ſoll in ſeinen Romanen wie in einem Spiegel aufgefangen werden. Er greift dem ſpaͤteren Naturalismus eines Jola und ſeiner Genoſſen vor und wird ſeiner⸗ feits wiederum ergaͤnzt durch Beyle, der ſtatt der pſychologiſch gearteten Charakter · ſchilderungen Balzacs, das Gebiet des vöoͤlkeryſychologiſchen Romanes pflegt. Merimee iſt beſtrebt, Frankreich den geſchichtlichen Roman zu geben. Theophile land. Vom Verfaſſer neu bearbeitet, endgültige Ausgabe. Erich Reiß Verlag, Berlin 1924.

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Gautier ragt ebenfo als Lyriker wie als Romanſchriftſteller und Journaliſt hervor. In St. Beuve tritt uns Frankreichs größter Kritiker entgegen. Aber auch Vitet mit ſeinen „Dramatiſchen Szenen“, Alexander Dumas und ihresgleichen werden von Brandes nicht vergeſſen. Und endlich findet er auch anerkennende Worte für die Überfebenen und Vergeſſenen, Dichter wie Ymbert Galloix, Louis Bertrand, Petrus Borel und Theophile Dondepy, die ſich vergeblich bemüht haben, in der großen Jahl genialer Mitſtreiter die gebübrende Anerkennung zu erlangen, und meiſt elend zugrunde gegangen ſind.

. Die franzoͤſiſche Romantik bildet nach Brandes die größte literariſche Schule, die das J9. Jahrhundert gefeben hat. Zur felben Jeit erblüht in unſerem eigenen Vaterlande das ſogenannte Junge Deutſchland. Seine Vorausſetzungen ſind den · jenigen der franzoͤſiſchen Romantik ahnlich. Der Geiſt Metternichs und der Seiligen Allianz, der über den deutſchen Ländern brütet, erzeugt eine Gegenbewegung, die ſich 1817 auf dem Wartburgfeft ihren erſtmaligen Ausdruck gibt. Die Ermordung Kotzebues verurſacht den Verfolgungskrieg gegen alle freiheitliche Geſinnung und leitet eine lange und ruͤckſichtsloſe Unterdruͤckung aller irgendwie liberalen Ideen ein. Erſt die Julirevolution 1830 gibt den Schriftſtellern und Dichtern neuen Mut, und dieſer wird noch mehr entflammt durch die Erinnerungen an Byrons Leben und Tod ſowie durch den Aufſtand Polens. Boͤrne wird der hervorragende Anwalt der Freiheitsideen in der Politik. Seine, der groͤßte Dichter jener Tage, wird der poetiſche Wortfuͤhrer ſeines Jeitalters. In jeder Beziehung ein moderner Menſch, verſteht er es wie kein anderer, mit der ganzen Saͤrte und Saͤßlichkeit jener Zeit, ihrer Anmut, ihrer Unruhe und ihrem Reichtum an ſchneidenden Gegenſaͤtzen an- zubinden. Brandes hat ihn in ſeinem Werke mit ganz beſonderer Liebe behandelt, und man kann nichts Schoͤneres und Jutreffenderes uber den Dichter leſen als den Abſchnitt, den er ihm gewidmet hat. Wie Seine, ſtrebt auch Immermann aus eomantifcher Verſchroben heit nach einer mehr naturgetreuen Bunft als diejenige der Vergangenheit. War die Segelſche Pbilofopbie bisher eine konſervative, be- wahrende und zuruͤck haltende Macht geweſen, fo beginnt man jetzt, reformatoriſche und revolutionierende Folgerungen aus ihr zu ziehen. Sie wird zur Grundlage jener Gruppe von Schriftftelleen, die ſich das „Junge Deutſchland“ nennt, und deren Streben darauf gerichtet it, unter Aufloͤſung des herrſchenden Serkommens in Religion und Moral, Literatur und Leben miteinander zu verſchmelzen, freieren Formen fuͤr die Vereinigung und Trennung der Geſchlechter das Wort zu reden und eine neue Art der Froͤmmigkeit vor dem Weltall, das fie mit der Gottheit gleich; ſetzen, ins Leben zu rufen. Unter der Verfolgung, die fie hiermit gegen ſich herauf befhwören, entwickeln ſich Maͤnner wie Gutzkow und Laube, und fie finden Unterſtutzung in der immer weiter um ſich greifenden Verehrung Goethes, der jetzt zum typiſchen Vertreter aller freiheitlichen Beſtrebungen in kirchlicher wie in ge · ſellſchaftlicher Beziehung erhoben wird.

Und immer radikaler entwickelt ſich ſeit 1840 die deutſche Philoſophie. Schon fangen auch die Dichter an, der politiſchen Freiheit unmittelbar den Weg zu bahnen, bald angezogen, bald abgeſtoßen durch die Perſoͤnlichkeit Friedrich Wilhelms IV., der im Norden die aͤußeren Begebenheiten in Deutſchland ebenſo beherrſcht wie Metternich im Süden, und welcher der Literatur ein lebhaftes Intereſſe entgegen⸗ bringt. Geiſter, wie Freiligrath, Prutz, Sallet und Sartmann, gleichen Sturm vögeln, die den Sturm ankündigen. Mit ihnen zugleich feben wir eine ganze Jahl

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kleinerer Talente am Werke, wie Serwegh, die der große Augenblick für kurze Zeit aus der Maſſe emporbebt, bis die Umwaͤlzung des Jahres 1848 alle dichteriſchen Auslaſſungen hbertönt. Brandes ſchildert den Gang der äußeren und inneren Er⸗ eigniſſe mit geradezu genialer Meiſterſchaft. Aber er vergißt über den Geſchehniſſen auch die einzelnen urſpruͤnglichen Perſoͤnlichkeiten nicht, die ihrem Zeitalter den Stempel ihrer Eigenart aufgedruckt haben. So verweilt er mit beſonderer Anteil⸗ nahme bei den geiſtig hochſtehenden Frauen jener Jeit, einer Rahel und Bettina in ihrem Verhaͤltnis zu Goethe, bei Senriette Gerz und Jeanette Wohl in ihrem Verhaͤltnis zu Boͤrne. Seines Mouche, Immermanns kliſa, die Fürſtin Pückler, Charlotte Stieglitz treten im Verhaltnis zu ihren Mannern vor uns bin. Welcher Reichtum an eigenartigen Perfönlichkeiten! Und wie verſteht es Brandes, fie wieder vor uns aufleben zu laſſen ! Auch dort, wo fie ſelbſt nichts geſchaffen oder wo ihre Schoͤpfungen nicht hoͤchſten Ranges find, weiß Brandes uns doch auf das lebhafteſte für fie zu intereſſieren. Dieſer dritte Band feines Werkes erſcheint wirk lich, im Juſammenhange mit den beiden fruheren betrachtet, wie der letzte Akt eines großen geſchichtlichen Dramas, das ſich folgerichtig mit innerer Notwendig · reit vor uns abfpielt. Brandes gibt nicht bloß einen uͤberblick über die damalige Literatur, ſondern auch einen tiefen Einblick in die Pſychologie jenes Zeitraums. Wir füblen uns in jeder Beziehung innerlich bereichert, wenn wir fein Werk aus der gand legen, und wir danken ihm, uns mit ihm nicht bloß belehrt, ſondern auch einige Stunden des reinften kuͤnſtleriſchen Genuſſes beſchert zu haben. Arthur Drews

Friedrich Gundolf: Caͤ ſar, Ge ſchichte feines Ruhms 8 85

Welt dauert und jeden notwendigen Verfall überlebt, der die Beweglichkeit des Daſeins erft geſtattet, iſt die Geſtalt. In der lebloſen Natur ſteht dem unentrinn · baren Jerlõſungsprozeß, dem Weg hinab, ein hartes Geſetz der ewigen Wieder kehr der Elemente zu den gleichen Gruppen, Bindungen, Formen gegenüber, das nichts Einmaliges erlaubt und nur die gleichen ewigen Schemata der möglichen Dinge und Juſtaͤnde immer wieder ſeltſam und beruhigend in unabaͤnderlicher, bartnädiger Gewiſſenhaftigkeit mit eben losgelaſſenen Stoffen und Araͤften neu erfüllt; in der lebendigen Welt mildert ſich dieſer Iwang zu variabler nur in beſtimmten Grenzen beweglicher Generation; im menſchlichen Umkreis aber iſt voll kommene Dauer möglich bei vollkommener Einmaligkeit und Unwiederbringlich ; keit trotz der Verkettung in die Endhaftigkeit die nur die Rehrſeite der Beformt- beit aller Dinge ſelber iſt. Sier iſt, wenngleich nur in den feltenften und gluͤckhaf teften, fo doch immerhin in ihrer Vereinzelung troͤſtlichen Fällen, Augenblick gleich Ewigkeit. Dieſes Geſetz der Einkehr der Idee in einen geſtalthaften Leib, „die Beftalt als Idee“, nicht philoſophiſch entdeckt, aber mit eindringlichſter Braft und unwiderſtehlichſter Darſtellung aufgewieſen zu haben, iſt das hohe Verdienſt der Gundolfſchen Arbeiten und das, was fie über bloße wiſſenſchaftliche Leiſtung binausbebt und in den Dienſt des allerorten angebahnten kommenden Weltbildes und zukünftiger Religion ſtellt. Am ſchoͤnſten und uͤberzeugendſten iſt dieſer wenn man will metaphyſiſche Jug in feinem Georgebuch zum Ausdruck gekommen, eine metaphyſik diesſeitigſter Art und von helleniſchem Glanz, eine Vergöͤttlich ung des Leibes und eine Verleibung des Goͤttlichen, ein Preis aller vollkommenen

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Geſtalt und eine Verehrung aller erfuͤllenden Geſtaltungskraft, die alle lebloſen und lebendigen Dinge mit wefenbaftem Blick ins Ewige erhebt, ohne fie dem zeitlichen Sier zu entruͤcken und zu entreißen: dafur iſt ibm der Dichter Stefan George Symbol geworden. Stefan George und mit ihm Gundolf lehren uns wieder Weſen ſehen, wo man ſich bei den Erſcheinungen raſch beruhigte oder binter ihnen das „wahre“ Weſen zu ſuchen unternahm, zu finden hoffte oder zu erzwingen glaubte.

In feinem Goethe und George wendet Gundolf ſich die ſer Geſtalt großer Be- ſtalter ſelber zu, in dem Buch Aber Shakeſpeare und den deutſchen Geiſt dem „Ge⸗ ſtaltwandel“, in dem menſchliche Weſenhaftigkeit, aus ihrer ruhenden Einmalig · keit beraustretend, im Strom der Geſchichte erſcheint, in dem fie ihn ſiegreich uber · dauert. Geſtaltwandel dieſes von Leopold Ziegler geprägte Wort, das wert wäre, in unſere Sprache einzugehen, iſt die einzige Form lebendiger Ewigkeit. Nur was ſich ewig wandelnd ewig neu verbleibt, trägt den berechtigten Stempel un vergaͤnglicher Große.

Fin Geſtaltwandelbuch iſt auch Gundolfs letztes, fein Caͤſar (bei Georg Bondi, Berlin 1924). Es iſt durch Zeit und Stunde oder vielmehr durch deren erdruͤckenden Mangel fuͤhlbar beſtimmt. Caͤſar, das iſt das „ſchlichteſte Bild des wahren Be: bieters . Unter allen Dingen, die heute nach Formung, Feſtigung, Bindung ge- rabezu beaͤngſtigend rufen, iſt das zerbrochenſte, beillofefte die Geſellſchaft der Vol ker, wie denn unter allen Geſtaltern und Formern der geſchichte machende Seros der ſeltenſte iſt. Wahrſcheinlich deshalb, weil der Stoff der Menſchenwelt, in dem er bildet, ein noch unbildſamerer, gleichzeitig traͤgerer und labilerer iſt als jeder andere und weil herrſchen eine Formung und herrſchen konnen eine Tugend ift, ungleich ſchwerer als jede andere. Das Bild des „richtigſten Menſchen Caͤſar“ ſoll nicht eine Beſchwoͤrung des kommenden Serrſchers über Europa bedeuten und keinesfalls Aufſtellung eines großen Muſters. Bein Schoͤpferiſches laͤßt ſich gebieten und weder durch Wunſch noch durch Streben beeinfluſſen. Irgendwie muß auch hier die Stunde erſt reif und die Zeit erfüllt fein. Aber ein Maßſtab laͤßt ſich aufſtellen, der Blick für Große kann aufgeſchloſſen und die Scheu und Ehrfurcht vor ihr gebildet werden. Die ſer Maßſtab ſelbſt mißt nicht nur etwa kuͤnftige Praͤtendenten, er wird in dem Buch Gundolfs zum Maße ganzer Jeiten. Was eine Jeit, eine Geſell⸗ ſchaftsſchicht, ein Einzelner von vorhandener Bröße erkennt, iſt tief verraͤteriſch für ihr eigenes Maß. Als mythiſche Geſtalt, als magiſcher Name, als geſchicht⸗ liche Perſon das find die großen hiſtoriſchen Kategorien, in denen die Perſon Caͤſars erfaßt wird offenbaren fi immer neue Seiten dieſes Weſens, deſſen Daſein erſt vollrund zum Vorſchein kommt, „indem die Jahrhunderte es erwidern“. Was iſt wenn es hoch kommt uns Caͤſar? Nicht viel mehr als Sekuba : eine Re⸗ miniszenz nicht ſehr erſchuͤtternder Geſchichts und Lateinſtunden, eine Figur aus einer größten, mit Schwermut däfter uͤberſchatteten Tragoͤdie. In Gundolfs Buch aber gewinnt die Geſtalt, wenn nicht Keiſch und Blut das iſt nicht die Abſicht des Buches, leider iſt fie es nicht! fo doch Atmoſphaͤre und eine gewiſſe Lebendig⸗ keit in lauter Spiegeln. Wieder finden wir in ihm die glänzende, auf Weſensſchau beruhende Charakteriſtik einzelner Zeitalter des Proteſtantismus 3. B. ein; zelner Perſonen Petrarcas, des „erſten aͤſthetiſchen und hiſtoriſchen Menſchen“, Bacons, Rouſſeaus, Friedrich U., Napoleons, einzelner Werke des ſhake⸗ ſpeareſchen Caͤſar -; wieder bewundern wir die Faͤbigkeit, in Antitheſen von

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größter ſprachlicher Feinheit und Anappheit plötzliches Licht uͤber ſehr verſchlun · gene Sachverhalte zu gießen. Doch iſt dies Buch ſproͤder als jedes andere Bunbolfs, und mit etwas zuviel Gelehrſamkeit uͤberfrachtet, mehr als z. B. „Shakeſpeare und der deutſche Geiſt,“ wie ja feine Perſpektiven = über anderthalb Jabe- taufende weiter zuruͤckreichen. | Daul wegwis

; Schon ehe der Profeſſor 5. a. Korff als Nachfol ;

Soerbes Lebeneidee ger von Albert Böfter nach Leipzig, alfo auf einen der erſten Lehrſtůhle Deutſchlands für Literaturwiſſenſchaft berufen war, wußten die Leſer feines bedeutenden Werkes über den „Geiſt der Goethezeit“, von dem bis⸗ her leider nur der erſte Band erſchienen iſt, daß die deutſche Wiſſenſchaft an dieſem Gelehrten eine ſtarke und eigenartige Kraft geiſtesgeſchichtlichen Forſchens ge⸗ wonnen hatte. Wenn er jetzt einen Band großer Aufſaͤtze unter dem Sammeltitel „Die Lebensidee Goethes“ vorlegt, fo darf man von vornherein etwas Beſonderes erwarten. Und man wird auch nicht enttaͤuſcht. Es find fünf Arbeiten, über den Sinn des Goetheſchen Lebens, über den Geiſt des weſtoͤſtlichen Diwans, über das Hlaſſiſche Sumanitaͤtsideal, uber die Entwicklung der Fauſt · Idee und ſchließlich die Cebensidee Goethes. Die Überfchrift der letzten ſteht mit Recht über dem ganzen Buche, denn alles darin fügt ſich unter dieſen oberſten Geſichtspunkt ein. Jedes der genannten Themen bezeichnet eine wichtige Frage, und ſie alle ſind der geſpannten Anteilnahme derer ſicher, die überzeugt find, daß der Name Goethes immer noch mehr Zukunft als Vergangenheit repräfentiert, und daß diejenigen, die glauben, auch ihn ſchon uͤberwunden zu haben, ihn noch nicht verſtanden haben.

Ich will nur einiges von Borff herausgreifen, was beſonders weit von der Ebene landlaͤuſiger Goethebetrachtung liegt. Junaͤchſt das ſchoͤnſte Wort des Buches, die Antwort auf die Frage: „wer iſt goethereif?“ Das iſt ja ein Begriff, der zu Zeiten unſerer Großeltern und Eltern eine Rolle in vielen Unterhaltungen geſpielt hat. Korff fagt, nur der ſcheine ibm wirklich reif für Goethe zu fein, für den Goethe eine innere Notwendigkeit die Wende einer inneren Not geworden ſei. In der Tat, nur wer in ſeinem eigenen Leben der Beruhigung, Ermutigung, Feſtigung uſw. durch Goethe oft bedurft hat und ſich nicht denken kann, daß er ohne ihn hätte auskommen konnen, ja wen fein Juſpruch öfter in geiſtigen und ſeeliſchen Er⸗ ſchůtterungen gerettet und geheilt hat, weiß, was Goethe einem Menſchen bedeuten kann. Nicht bloß die unvergleichlich reiche und unvergleichlich ausgebildete Perſoͤn · lichkeit iſt dafur entſcheidend, ebenſoſehr das naturliche, geſunde, umfaſſende Le- bensgefuͤhl Goethes, die Art, wie er die Erſcheinungen der Welt aufnahm und wertete. Die perſoͤnliche Form, die bei ihm die Lebensweisheit gewonnen bat, der tiefe Ton des inneren Lebens ſpricht unmittelbar zu uns, wie kaum irgend ein Pbiloſoph es kann, und von feiner geſamten Geſtalt geht eine überzeugende, Salt gebende Kraft aus, die immer wieder Zweifel ſchlichtet und den dunklen Glauben, auf dem rechten Wege zu fein, beſtaͤrkt. Borff ſcheut ſich nicht, auszuſprechen, daß ihm Goethe als die Norm und das Ideal gegenwärtiger Menſchheit vorkommt. Wicht feine reale Erſcheinung mit ihren empiriſchen Unvollkommenheiten, aber die Idee Goethe.

Wie aber ift die Idee Goethes zu faſſen? Nur in feinem tiefſten Lebensgefühl. Es iſt der von Form zu Form fortſtrebende Lebenstrieb felber, verwandt dem @lan vital des modernen franzoͤſiſchen Denkers. „Es kommt im Leben aufs Leben und

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nicht auf ein Reſultat desſelben an”, hat Goethe ſelber geſagt, aus jener völlig antiteleologiſchen und durch eigene Naturerforſchung begruͤndeten Anſchauung des menſchlichen wie des untermenſchlichen Lebens heraus. So wenig die Frucht der Iweck des Baumes oder der Sinn feiner Blute iſt, fo wenig hat das Daſein des Aindes nur Wert als Vorbereitung für den erwachſenen Menſchen, jede Stufe trägt ihre eigene Daſeins berechtigung und Rechtfertigung in ſich ſelbſt. Das letzte Ziel aller Formen iſt, daß ſie leben. Es kommt nicht darauf an, daß wir ein Ideal er⸗ reichen, ſondern darauf, daß wir einem Ideal nachſtreben. „Wer immer ſtrebend ſich bemüht, den konnen wir erloͤſen.“ Das Grundgeſetz des Lebens iſt Wachstum, Steigerung „alles Vollkommene feiner Art muß Aber feine Art hinausgehen“, wie ein anderes Goethe Wort lautet. Was nicht fortſchreitet, geht unter; tot iſt nur der, der ſich an das bloße Leben Hammert „und fo lang du das nicht haſt, dieſes ſtirb und werde, biſt du nur ein teüber Gaſt auf der dunklen Erde“. Wenn man das aber hat, dann gilt als Troſt und Aufrichtung in Wiedergeſchlagenheit und Skepſis das andere Wort: „Wie es auch ſei, das Leben, es iſt gut.“ Goethen ſteht das Leben jenſeits aller moraliſchen Kategorien; weil Gretchen und die anderen alle fo leben⸗ dig find, iſt es ihm gar nicht eingefallen, moraliſche Maßſtaͤbe an fie anzulegen, denn ihm kam es nur auf den Lebendigkeits wert an. Und fein Lebensgefühl war fo tief, daß es, wie Korff fagt, unter die Sphäre des Geiſtigen tauchen konnte, dort hin, wo das Leben nicht mehr Geſtalt, ſondern ewig flutender Prozeß iſt. Goethe lehrt nicht mehr eine Rechtfertigung des Lebens durch den Glauben, ſondern eine Rechtfertigung des Lebens durch ſich ſelber. IL

Von hier aus gewinnt auch eine berühmte Stelle im Fauſt einen anderen, hoͤhe · ren Sinn, als ihr oft gegeben wird. Man kann ſchon viel über den Fauſt geleſen haben und wird ſich ſchwerlich erinnern, eine fo Hare und eindringende Entwick. lung der Fauſtidee gefunden zu haben wie bei Korff. Unmoͤglich bier, ins einzelne zu geben, nur „der Weisheit letzter Schluß“ ſoll herausgehoben werden. Dieſer Schluß lautet bekanntlich: „Nur der verdient ſich Freiheit wie das Leben, der täg- lich fie erobern muß.“

Die zufällige praktiſche Aoloniſations arbeit aber, mit der Fauſt gerade vor feinem Ende beſchaͤftigt iſt und von der er gleich darauf ſpricht, ſtellt nur eine Station dar, die ebenſo überwunden werden muß wie alle anderen. Fauſt und Goethe geben keine inhaltliche Formel als letzte Weisheit, denn beide haben begriffen, daß nur im Wechſel von Qual und Gluͤck das Gluͤck zu faſſen iſt, und daß es, ſoweit uberhaupt erringbar, im Rampf mit immer neuen Widerſtaͤnden gewonnen werden muß. Es gibt keine Endſtation, auch jenes „auf freiem Grund mit freiem Volke ſtehen“ iſt keine! Auch dieſes freie Volk will er „umrungen von Gefahr“ ſehen, denn Ringen, Streben gehort zum Meuſchenleben, wenn es menſchlich und lebendig bleiben ſoll. Wenn aber Fauſt in den letzten Sägen, die er noch zu ſprechen hat, ein Gluck zu ſehen meint, in deſſen Vorgefuͤhl er „den hochſten Augenblick“ zu genießen glaubt, fo er» blickt Korff darin nur eine die letzte Illuſion, und er meint, Goethe ſehe noch an dieſer Stelle Harer als die von ibm geſchaffene Geſtalt, indem er fie mit einer letzten Einbildung, man konnte ſagen einer Euphorie, ſterben läßt und ihren Tod damit verklaͤrt. Das Vorgefuͤhl von jenem hohen Gluͤck iſt freilich der hochſte für Fauſt noch erreichbare Augenblick, denn er ſieht ja, wie Moſes, nur von fern in ein gelobtes Land. Die hoͤchſte allgemeine Wahrheit aber, die Fauſt erreichbar war, hat er in dem Geſpraͤch mit der Sorge ausgeſprochen: „Im Weiterſchreiten find’ er

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Qual und Gluck, er, unbefriedigt jeden Augenblick!“ Dazu ſtimmen die Schluß; worte der Dichtung: „Alles Vergaͤngliche iſt nur ein Gleichnis.“

Das iſt Goethes einheitliche Lebensidee, deſſen Leben hoͤchſt wechſelnden inhalt⸗ lichen Iwecken gedient bat. Dieſe Iwecke find vergangen oder konnen vergeben, jene Idee aber ſchwebt darüber und kann fie alle überbauern. Er ich Evert h

Jobann Jakob Bachofen und das Taturſymbol] dee . Ein wWuͤrdigungsverſuch von Carl Albrecht Bernoulli 1

ge verſchollenen Lebenswerkes des Baſler Rechtsgelehrten und Religions hiſto; rikers Johann Jakob Bachofen (181 s—1887) iſt der allgemeinen Geiſtesgeſchichte eine Aufgabe erwachſen, welche ebenſo viele gebrochene Lanzen als heißen Schweiß koſten und neben kaum noch erſt abzuſehenden Schägen ebenſo viele empfindliche Erſchuͤtterungen bringen dürfte. Durch das Gewicht eines Klages erſt neuerlich aus behůteter Stille ans Licht gehoben, durch Manner vom Range eines Spengler, Sofmannsthal, Frobenius weiterempfohlen, hat es heute bereits einen Schwarm von Richtern und Deutern angezogen, welche mit Silfs mitteln der neuſten Forſchung einzelne Spezialprobleme oder gar Mann und Werk als Ganzes zu beleuchten unternahmen. Carl Albrecht Bernoulli gebührt das Verdienſt, die erſte umfaͤngliche Monographie über feinen Landsmann herausgebracht zu haben. Ebe wir dazu Stellung nehmen, feien in dem ſchwierigen Fragenkomplex vorerſt einige Richtlinien gezogen, an welchen der Wert der Bernoulliſchen Arbeit ſich leichter abmißt.

man kann ſagen, Bachofens Werk iſt der bis jetzt ganz einzigartige Verſuch, eine Erklarung der antiken Religion nicht nur, ſondern des ganzen kulturellen Ce; bens bis hinein in ſeine feinſten Ausſtrahlungen und Wirkungen im Ablauf der Geſchichte aus dem Bewußtſeinszuſtand der Alten heraus zu geben. Der Grund ihres Denkens, Empfindens und Schauens, meint Bachofen, iſt die Religion. Auf der Religion ruhen alle Satzungen des Rechts, ruhen die Grundlagen des Staats und des bürgerliden Lebens, und ſelbſt die großen Ideen und Krafte, welche in großen Einzelindividuen wie Alexander, Caͤſar, Auguſtus zum Durchbruche trie · ben, entſtammen unbewußterweife jenem gemeinſamen Serd, der das Leben ſpeiſt.

Erhebt ſich alſo die Frage nach dem Weſen dieſer Religion. Es bezeichnet den Gegenſatz zu Creuzer, dem bekannten Symboliker, daß Bachofen zunaͤchſt von allen Schlagworten der Religions pſychologie und der Theologie abſah und ſich völlig vorurteilslos in die Pſyche des antiken Menſchen verſenkte. Drei Dinge find es, die ihm zum Schluͤſſel wurden, mit dem er ſich mübelos durch die Raͤtſelwelt der antiken Bulte hindurchfand, der ihm den Sinn der ſeltſamſten Mythen und Riten erſchloß und ihm die geheimſten Tuͤren der Myſterien oͤffnete: die Erkenntnis von der Bedeutung des muͤtterlichen Prinzipats, des Totenkults (die ibm auf ſeiner Italienreiſe im Anblick der etruskiſchen Graͤberſtaͤtten wie blitzartig aufging) und der Naturſymbolik. Wie traumartig ward darin dieſe ſtofflich „chthoniſche“ (will ſagen dem Muttergrund der Erde verehrend zugerichtete) Religion als die aͤltere, urſpruͤnglichere erfaßt gegenuber der uraniſchen, als welche aus jener herauf ſich entwickelte und erſt verbältnismäßig ſpaͤt die allgemeine Anerkennung fand, die den Olympiern zur Plaffifhen Zeit des Griechentums zuteil geworden.

muͤtterliches Prinzipat will zunaͤchſt nichts anderes bedeuten als Serrſchaft des

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Stoffes (Materie), in welchen das ganze Leben der Alten noch in ſeinen geiſtigſten Außerungen bineingebettet ift (die rechtliche Seite der Gynaͤkokratie iſt nur eine Ausſtrahlung davon, die aber nicht gepreßt werden darf l). Es iſt jene Gebunden⸗ heit gemeint, welche den urſpruͤnglicheren Menſchen ſchickſalhaft mit feiner ganzen Umwelt verknuͤpft. Die Verehrung der Erde und ihrer muͤtterlichen Gottheiten, die Anerkennung der Nacht als der daͤmoniſchen Beherrſcherin aller chthoniſchen maͤchte und Gewalten iſt dafuͤr der ſymboliſche Ausdruck. Folgerichtig iſt weiter die tiefere Weſens bedeutung des Todes entwickelt und der Vorrang der Demetrier, will fagen der im Schoß der Erde aufgenommenen und zu daͤmoniſchem Sein geſteigerten Totenfeelen begründet. Die liebende Pflege der Toten wird damit in den Brennpunkt der kultlichen Verpflichtungen der Überlebenden gerädt. Wie mit einem Schlage erflärt ſich die zentrale Bedeutung, welche ihm im ganzen Altertum zukommt und welche ihre zahlloſen Brabftätten mit der eigenen Weihe umkleidet. Aus der Nachtgebundenheit des ganzen Bewußtſeinszuſtandes erklart ſich leicht auch die eigentümliche Bildbeziehung zur Umwelt, welche auf dieſer Stufe überall hervortritt. Nicht Begrifflichkeits ⸗, ſondern Symbolwert hat die ganze umgebende Natur, d. b. als ein Sinnganzes umzirkt fie den Menſchen und wirkt noch mit der Araft ungebrochener Lebendigreit auf die bildempfaͤngliche Seele des Erlebenden ein. Was fie dort aber in den geheimſten Tiefen aufregt, das bleibt ihr un verloren und bebält für fie den Wert eines unzerſtoͤrbaren Sinnbildes, welches volle Reali⸗ tät beſitzt und doch vermoͤgend iſt, „fie immer wieder über die Grenzen der werden⸗ den in das Reich der unendlichen Welt zu entführen“. Mythologie, ſakrale Sand⸗ lungen und KAultuͤbungen, Legenden und Riten der Myſterien, ja Rechtsgebraͤuche und ſtaatliche Satzungen werden zu einem ungeheuren, labyrinthiſchen Sinn- ganzen, welches vom Naturſymbol aus Geſtaltung gewann und daher vom Sym⸗ bol aus erſt wieder ſeine Deutung erfahren kann.

Symbole aber bleiben der lebendigen Sphäre völlig verwurzelt und öffnen ſich ihrem innerſten Weſen nach nur ſchauendem Erleben, nie dem rechnenden Ver⸗ ſtande, daher es denn eine eindeutig begriffliche Definition derſelben nicht geben kann. Unerfhöpflich bleiben die Ausdeutungen, deren etwa das Myſterienei oder der Kranz fähig iſt. Darum bat die Symbolforſchung einen ganz anderen Weg zu geben als die hiſtoriſchen oder exakten wiſſenſchaftlichen Diſziplinen. Durch Be⸗ ſchreibung all ſeiner Charaktere muß ſie ſein Weſen zu beſtimmen ſuchen. Ge⸗ naueſte Vergleichung feiner verſchiedenen Bedeutungen im Kult, Mythus und Volksglauben ſoll dabei immer die Unterlage bleiben.

All dieſe Dinge hat Bachofen ſelbſt mehr geahnt, als daß er ſich in ſcharfer Be ; grifflichkeit genaue Rechenſchaft darüber gegeben hätte, und es macht das mit einen der Reize feiner Bucher aus, daß fie, ohne die Anmaßung einer aufregenden Neuentdeckung, ganz nur in ſtiller Hingabe an den Stoff gefchrieben find. Die Ruhe und Weihe der Bräberwelt, die fie fo eindringlich ſchildern, iſt darüber ge- breitet, und ſelbſt der ganze Stil noch von einem faſt bieratifchen Ernſt getragen. Es darf dabei nicht zu ſehr verwundern, daß er mit ſeiner Terminologie nicht immer ſtrikte verfahren und ſich ſeine Alterswerke ideengeſchichtlich vielfach im Gegenſatz befinden zu feinen ſtaͤrker geſchauten fruheren Schriften („Mutterrecht“ und „Graͤberſpmbolik “).

Wan muß es Carl Albrecht Bernoulli zu Dank wiſſen, daß er, durch Klages an⸗ geregt, in feinem „Wuͤrdigungsverſuch“ auf breiteſter Grundlage den weiten Be⸗ cat xvni JI

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zirk dieſer Probleme aufrollte und eine vorläufige Löfung mit Silfe der neueren Pſychologie zu geben ſuchte. Sein Buch iſt mit waͤrmſter Anteilnahme für den Stoff geſchrieben. Durch Temperament und quellende Fuͤlle des Ausdrucks weiß er das Intereſſe des Leſers für die Unmenge von Fragen, wie ſie bier aufgeworfen werden, immer wach zu erhalten. Ein heißer Atem bringt auch ſtarre, trockene Probleme zum Gluͤhen. Vieles iſt dichteriſch erſchaut und in einer Weiſe behandelt, wie fie vor rein fachlicher, fachwiſſenſchaftlicher Bearbeitung einen Vorzug hat. Einzelzüge ſind trefflich gelungen, wie die Skizze S. Coff., in welcher das Ver bältnis der drei Perſoͤnlichkeiten Bachofen · Jakob Burckhardt Friedrich Nietzſche zueinander abgeſchaͤtzt iſt. Überhaupt iſt alles Perſoͤnliche mit Aennerſchaft und beſonderer Liebe herausgearbeitet. Als die endgültige Darſtellung Bachofens und feines Lebenswerkes werden wir das Buch nicht betrachten. Vielleicht liegt es mehr in den Verhaͤltniſſen, daß die Biographie auf gar dürftiges Tatſachen material ſich ſtuͤtzt; denn Bachofen war ſchon zu ſeinen Lebzeiten eine halb legendaͤre Perſoͤnlichkeit geworden, und nach feinem Tode hat ſich die Nachwelt fo wenig um feine Werke wie um feine perſoͤnliche Nachlaſſenſchaft gekümmert. Es war gut, im zweiten Teile Bachofens Bedeutung vom allgemein geiſtesgeſchichtlichen Stand; punkt aus zu bemeſſen und feine Bewertung des Naturſymbols in den Mittelpunkt der ganzen Betrachtung zu ruͤcken. Jur Frage der Symbolentſtehung iſt viel Ju · treffendes geſagt; was bier vermißt wird, iſt die ſtrenge Gruppierung und Ent ; wicklung der Ideen und oft die haarſcharfe Problemſtellung. Die Überfälle droht das ſtrukturelle Gefuͤge zu uͤberwuchern und auseinanderzureißen.

martin Ninck

Sprengelſiedlung und Heimatſiedlung 558

plexe unterſcheiden: Die Seimatſiedlung und die Sprengelſiedlung.

Nur eine beſondere Form der Seimatſiedlung iſt die Grenzlandſiedlung an der Grenze eines Staates (dort wo ein Nationalinſtinkt, d. i. Sprachinſtinkt, nicht wach iſt; hier iſt Seimatſiedlung mit Inland ſiedlung, Sprengelſiedlung mit Ausland: ſiedlung identiſch, man vgl. die Schweiz) oder eines Volksgebietes (wenn es ſich um Sprachgrenzen handelt). Bei der Grenze eines Volksgebietes wieder kann es ſich um innerſtaatliche oder außerſtaatliche Siedlung handeln, Fragen der innerſtaat · lichen Siedlung liegen vor bei der preußiſchen Polenpolitik vor 1914, ſolche der außerſtaatlichen Siedlung bei dem Abwehrkampf der Deutfhböhmen gegen die Tſchechen.

Die Sprengelſiedlung beruͤhrt ſich eng mit dem Bolonialproblem, ohne ein Teil dieſes Problems zu ſein. Eine Sprengelſiedlung ſteht außer Juſammenhang mit dem geſchloſſenen Sprachgebiete des Seimatvolkes. Die 1919 geraubten deutſchen Kolonien waren mit Ausnahme des nicht ſehr aufnahmefaͤhigen Suͤdweſtafrikas und einiger hochgelegener Teile Oſtafrikas keine Siedlungskolonien; ob die Reſte von deutſchen Siedlern, die ſich in Suͤdweſtafrika gehalten haben, auf die Dauer zu einer Sprengelſiedlung Deutſchlands bzw. des Deutſchtums werden konnen, er- ſcheint fraglich bei der abſolut und relativ geringen Stärke gegenuber den übrigen Weißen und erſt recht gegenuber den Farbigen Südafrikas.

Dagegen liegt eine echte Sprengelſiedlung vor in der Wolgadeutſchen Republik. Die ſe entſpricht (freilich nicht in der zahlenmaͤßigen Bedeutung) den franzoͤſiſchen

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Teilen Aanadas. Letztere find wohl das beſte Beiſpiel für eine ausgewachſene Sprengelſiedlung. Die Franco - Aanadier haben ſich innerhalb ISO Jahren ver- fuͤnfzigfacht ohne Juwanderung von außen und ſtellten 1925 den Praͤſidenten der Voͤlkerbunds verſammlung. Auſtralien dagegen oder gar die Vereinigten Staaten koͤnnen nicht mehr als Dependenzen eines Seimatvolkes gelten.

Weitere deutſchſprachige Gebiete, die eine dementſprechende Rolle ſpielen koͤnn · ten, find: Deutſch Siebenbürgen, wo indeflen die Bevoͤlkerungsvermehrung ge · ring iſt. Vielleicht beſtimmte Teile des ſuͤdbraſilianiſchen Deutſchtums, ſoweit es geſchloſſen wohnt. Vielleicht auch beſtimmte Teile des kanadiſchen Deutſchtums, das im ganzen faſt 200000 menſchen umfaßt.

Auf jeden Fall wäre es zu begruͤßen wenn die Rataftropbe des Deutſchtums in den Vereinigten Staaten ſich nicht wiederholte. Das iſt aber nur zu erreichen, wenn man geſchloſſene Siedlungen der Auswanderer ſchafft, in denen das Deutſchtum nicht nur die Stadtbevoͤlkerung und nicht nur die Landbevölkerung ſondern in einem beſtimmten Umkreiſe beides darftellt. Moͤglichkeiten in dieſer Sinſicht bieten auch Mexiko, das in der naͤchſten Zeit wieder deutſche Landwirte aufnehmen will, und Sibirien. In der Ukraine werden ſchon heute deutſchſprachige autonome Be: biete von freilich nur geringem Umfang geſchaffen.

Es iſt ſehr zu bedauern wenn das auch phyſiſch ſo außerordentlich fruchtbare Deutſchtum immer wieder feine Söhne verliert und dadurch auch geiſtig in un- beimlicher Weiſe auf der Welt iſoliert bleibt. Dagegen konnte eine Serie von „Wolgadeutſchen Republiken“ auf der ganzen Erde verteilt die Verſtaͤndigung des Deutſchtums mit den anderen Sprachgemeinſchaften ungemein erleichtern; das beſonders bei völliger Sprachfreiheit, wie fie in Rußland heute beſteht. Solche Reſonanzvermittler haben England, Frankreich, Spanien. Italien wären fie noch zuzubilligen. Gelingt es irgendwo im Verlauf von Joo Jahren eine geſchloſſene Siedlung von ca. 250000 Deutſchen zuſtande zu bringen, fo iſt das fuͤr die kulturelle Jukunft des Deutſchtums wichtiger als die Entdeutſchung von einundeinerhalben Million Elſaß ⸗-Cothringern. Je mehr wir im Grenzlanddeutſchtum geſchwaͤcht werden, deſto mehr mäflen wir daran denken, Auslands ſprengel des Deutſchtums von einiger Stärke (denn S 000 Menſchen genügen da nicht) zu ſchaffen. Staats · vertrage bei der Regelung der Auswanderung konnen da einiges tun. Eine natio- naliſtiſche Tendenz ſteckt in alledem nicht und auch keine unbedingte Billigung jener kuͤnſtlichen Ronſervierung obſkurſter Dialekte, wie fie die Sowjetunion heute be⸗ treibt. Aber wem an einer Wirkungsmoͤglichkeit der deutſchen Sprache liegt, muß unter allem Vorbehalt einen Vorrang der Sprengelſiedlung vor der Bei matſied · lung wenigſtens inſoweit anerkennen, als er nicht die Unterbindung jeglicher Aus · wanderung fordert ſolange die Erweiterung der Seimatſiedlung noch die Möoͤglich · keit zur Unterbringung und Ernahrung der überfhäffigen Bevoͤlkerung ſchaffen konnte.

Bei Seimatſiedlung denkt man gewohnlich nur an Odlandurbarmachung, aber primär iſt eine andere Frage, primär iſt die Frage der Groͤße der Guter auf dem heute ſchon bewirtſchafteten Boden.

Bekanntlich iſt dieſe Frage durchaus nicht ſo eindeutig zu entſcheiden wie viele glauben. Eines freilich iſt ohne weiteres zuzugeben: Man kann auch für „Das

Von 1760— 1910 etwa find aus SO000 menſchen (meift Bauern) 3000000 ge- worden, von denen zwei Drittel in Banabe leben. 11*

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große Gut“ ein Normalmaß annehmen, und wenn eine Familie fünf ſolche Guter beſitzt oder ein Gut aus dem ſich immer noch drei Großguͤter ſchaffen ließen, dann tft das unheilvoll. Aber man nehme an, dieſer Beſitz ſei auf das Normalmaß redu ; ziert. (Wozu man ſich freilich in Deutſchland, wo man den Sürften und dem Klerus noch heute das Land verſchenkt, nie aufſchwingen wird.) Dann taucht jetzt erſt die eigentliche Frage auf. Naͤmlich es ſteht feſt, daß im allgemeinen größere Guͤter höhere Überſchuͤſſe liefern, als eine Summe von kleinen Gütern. Das liegt abge: feben von dem größeren Eigenverbrauch einesteils an dem Bapitalmangel der fleinen Landwirte, andernteils an dem Bauernkonſervativismus. Auch haben die Sozialiſten (man vgl. in dieſer Sinſicht den Freiſtaat Sachſen) eine Schwaͤche für Staatsdomaͤnen. Die Frage der Aapitalbeſchaffung wird für den kleinen Bauern wohl durch den genoſſenſchaftlichen Gedanken geloͤſt. Unter dieſem Geſichtspunkt wird man eine Anzahl gänftig gelegener Broßgäter dem Staate belaſſen, insbe · ſondere als Verſuchs guter auch für landwirtſchaftliche Schulen, und im übrigen den Kleinbauern, d. h. die planmäßige Siedlung bevorzugen, wobei zu beachten iſt, daß der Staͤdter der angeſiedelt werden ſoll, auf lange hin ein ſchlechtes Siedler⸗ material bildet. Wenn man an die Güter an der Oſtgrenze von Schleſien denkt, wo faſt nur polniſche Landarbeiter hauſen, fo wird einem die Entſcheidung für die Bauernanſiedlung recht leicht.

Jetzt kommen als zwei und drei die Fragen der Odlandkultivierung und der Inten ; ſivierung. Man nimmt an, daß in Deutſchland noch kulturfaͤhiges Odland von der Große Pommerns vorhanden iſt. Daß man in der Intenſivierung noch Erſtaun liches leiſten kann, iſt zweifellos. Will man hier die Schwerfaͤlligkeit des Bauern überwinden, fo iſt das (hierin hat der Bolſchewis mus unbedingt recht) nicht ohne planmäßige Anleitung von oben moglich. Eine große Schwierigkeit liegt in der Frage der Vergiftung des Bodens durch den Bunftbünger.

Eine vierte Frage der Seimatſiedlung wird gekennzeichnet durch das Stichwort: Ausſiedlung der Stadt. Sier find folgende Möglichkeiten zu unterſcheiden: Ent⸗ weder man ſetzt die heutigen wirtſchaftlichen Grundlagen der Stadt, alſo vor allem den Großbetrieb, als unabaͤnderlich voraus. Dann kann man immer noch die Ein wohner gedraͤngt wohnen laſſen wie beute und ſorgt bloß für Heine Brundftäde vor der Stadt, Garten haͤuschen, Schrebergarten. Sier iſt von Siedlung kaum die Rede. Oder man ſiedelt die Einwohner ganz aus, ſo daß jeder Arbeiter und Ange · ſtellte feine eigentliche Wohnung inmitten eines kleines Grundſtuͤcks hatte; das wäre naturlich mit einer ungeheuren Erweiterung des raͤumlichen Areals der Stadt verbunden: Wohnungsausſiedlung. Man kann aber auch eine Anderung des Grundcharakters der Stadt für möglich halten, bier geht man aus von der Jer · legung der Fabrik, die Stadtausſiedlung umfaßt auch eine Werkſtattausſiedlung, wie fie Eugen Roſenſtock geſchildert hat (Roſenſtock, „Werkſtattausſiedlung“, Berlin 1922). werk ſtattausſiedlung und Wohn ungsausſiedlung zuſammen wurden eine vollſtaͤndige Revolutionierung der kapitaliſtiſchen Stadt bedeuten.

Schließlich mag fünftens noch eine beſondere Frage erwähnt werden, die ſich bei der Behandlung der genoſſenſchaftlichen Arbeit ergibt. Genoſſenſchaften ſelbſtaͤn · diger Bauern kennt man bei uns längft. (Meiereigenoſſenſchaften 3. 3.) Sier kann aber auch an eine kommuniſtiſche Genoſſenſchaft, an die echte landwirtſchaftliche Produktivgenoſſenſchaft gedacht werden, wie ſie die Sowjetregierung mit allen Mitteln fördert. Am J. Jo. 1924 gab es in Rußland 6220 Aollektivwirtſchaften

Umſchau 157

(Bommunen) mit 145200 Mitgliedern. Wie alles, was in Rußland geſchieht, ſollte auch dieſes Experiment bei uns forgfältig beobachtet werden. Alo ß

5 8 C ieber Doktor Corwegh, Offener Brief an Aerrn Corwe b erlauben Sie mir, Ihnen auf

Ihren Artikel im Maͤrzheft der „Tat“ einige Worte zu erwidern. Sie haben meine Auffäge ganz und gar mißverſtanden und deshalb erſcheinen fie Ihnen fo, wie Sie fie darſtellen. Wir wollen uns einmal fragen: Wie iſt ſolch ein Mißverſtehen zwi⸗ ſchen zwei Menſchen, die gleiche, mindeſtens ahnliche Bildung beſitzen, möglich ? Damit helfen wir am beſten uns und den Tatlefern.

Ich glaube zunaͤchſt, daß wir beide ganz verſchiedenen Generationen angebören. Entweder find Sie viel älter als ich oder viel jünger, fo daß Sie, in beiden Faͤllen, in alten Traditionen ſtecken als viel älterer Menſch natärlicherweife; Jugend aber muß Angelehrtes oft erſt überwinden um „zeitgemäß“ zu werden. Ich glaube aber, Sie find ein bedeutend aͤlterer Menſch. Sie haben kein Organ für das Vorwaͤrts ſtuͤrmende, Suchende, Draͤngende, Sehnende, Schoͤpferiſche in uns „Neuen“. Es empört Sie, wenn wir achtlos über Dinge hinwegſtuͤrmen, die Ihnen als abſolute Werte, als Notwendigkeiten erſcheinen. Uns iſt das Leben, iſt Wirklichkeit, Tat, Geſtaltung alles. Sie wollen Methode, ruhiges Weiterſchreiten in den Juͤgeln des Überlieferten und des „Erworbenen“. Das läßt Sie aber doch etwas zu ſehr an Einzelheiten Heben. Vor allem aber begreifen Sie und neh men Sie das bitte nicht als Vorwurf, ſondern verſtehen Sie, daß ich Ihnen helfen möchte, um uns zu wiſſen die bunte, fruchtbare Vielſeitigkeit unſeres zukunft · erfüllten Weſens gar nicht. Wir find Ihnen gewiß herzlich zuwider, wir Neuen, Brauſenden, Stürmifden. Und aus dieſem Reſſentiment heraus kritiſieren Sie uns, meine Auffäge im beſonderen. Sie werden nun aber aus ſolchem Gefühl nicht nur ungerecht, nein, auch verſtaͤndnislos. Ja, ich kann Ihnen den Vorwurf leider nicht erſparen: Sie leſen irgendwie verkehrt. Entweder haben Sie meine Aufſaͤtze zu oft geleſen, fo daß Ihnen der Ihnen weſens fremde Sinn verloren ging oder irgend etwas, vielleicht meine Stellung zu den Akademikern 7, viel- leicht ein gewiſſer, wenn auch ganz uͤberparteiiſcher Sozialismus? hat Sie geärgert und Sie wollten nun den Sinn wenn auch unbewußt nicht mehr in ſich auf: nehmen. Anders kann ich mir eine fo peripheriſche, zerſtüͤckelnde Art der Kritik von einem geſchulten Menſchen nicht erflären. Auf das Problem ſelbſt gehen Sie gar nicht ein. Ihre wenigen Saͤtze am Schluß ſtreifen es kaum. Sie bieten, trotzdem Sie verſprechen, nun Poſitives zu ſagen, nur Bemeinpläge, wie eine gewiſſe Preſſe fie ſchockweiſe zur Verfügung ſtellt. Erkenntnis, Erlebnis tief, ſchmerzhaft Er⸗ rungenes bieten fie nicht im geringſten. Schlägt man daneben meine ich darf wohl fagen ganz tief erlebten Darlegungen auf, fo fühlt man fofort, wo Erfah ; rung, Kraft, Fruchtbarkeit, Fulle, Leben vorhanden iſt. Ich hoffe, recht viele Tat leſer haben, durch Sie angeregt, noch einmal die betreffenden Sefte zur Sand ge⸗ nommen und verglichen.

Ihre Einzelkritikł grenzt an Wortklauberei. Sie empoͤren ſich daruber, daß ich einmal „Weltordnung“ ſetze, wo Sie „Geſellſchaftsordnung“ geſetzt hatten. Welt iſt Ihnen gleich Ros mos. Aber Sie kennen doch gewiß das Wort von der „gott lichen Weltordnung, die erhalten bleiben“ fol? In ihm wird „weltordnung“ durchaus im übertragenden Sinne gebraucht, an es habe ich bewußt gedacht, als

158 Umſchau

ich das von Ihnen beanſtandete Wort gebrauchte. Darf ich Sie darauf aufmerk · ſam machen, daß Sie dasſelbe tun, was Sie an mir tadeln, wenn Sie ſagen: Der Standort.. . die Welt zu bewegen . .. uſw. Archimedes Wort ſchwebt Ihnen vor. Der alte Grieche meinte es rein phyſikaliſch. Sie gebrauchen es offenſichtlich in uͤbertragender Bedeutung. Sie konnen den Bosmos gar nicht meinen. Iſt es nun etwas anderes, wenn Sie es tun, als wenn ich es tue? Saͤllt es bei Ihnen nicht noch ſchwerer ins Gewicht, da Sie fo ſtreng ſchaͤrfſte Begriffsbegrenzung von anderen fordern? ! Auch wo Sie mir fonft Unordnung im Gebrauch von Be⸗ griffen vorwerfen, haͤlt der Vorwurf die Nachpruͤfung nicht aus. Vielleicht hatten Sie hier oder da es anders nicht nur geſagt, ſondern auch gemeint. Ich meine aber genau, was ich ſage. Sumoriſtiſch mutet an, was Sie über die Stelle S. 333 fagen. Es geht aus dem Juſammenhang fo Mar hervor, daß ich den Beſitz ·, den Sachwerterraffungskult, das Gaben, dem inneren Menſchenwert, dem Charakter, dem Sein, gegenüberftelle, daß ich an ein ernſthaftes Mißverſtehen Ihrerſeits nicht zu glauben vermag. An bewußte Verdrehung will ich nicht glau- ben, trotzdem Sie boͤſen Schein erregen indem Sie von einer (in Anfuͤhrungs⸗ ſtrichen I) Seinskultur reden, was nach einem Zitat ausſieht, aber noch nicht ein mal dem Sinne des von mir Geſagten entſpricht. Da Sie aber andererſeits eben da den Gegenſatz zum „Sein“ mit „Können“, ja ſogar „äͤͤußerlichem Verhalten“ ſeltſam konſtruieren, vielleicht meinen Sie Schein, Anſchein? fo iſt man doch gezwungen, ein blindes Vorbeitaſten anzunehmen, das eben daraus reſultiert, daß Sie einzelne Saͤtze und ſelbſt Worte aus dem Juſammenhang reißen.

Eine Bruͤcke zum Verſtaͤndnis hoffe ich Ihnen bauen zu koͤnnen, indem ich an die Gegenuͤberſtellung von S. 322 und S. 329 anknuͤpfe. Zier zeigt es ſich ſehr deutlich, was uns trennt. Obwohl es aus den wieder dem Juſammenhang ent- riſſenen! von Ihnen angeführten Jitaten keineswegs erhellt, eben weil Sie ihren ortlichen Juſammenhang als unweſentlich ignorieren haben Sie Recht, wenn Sie behaupten, ich ſei ſowohl „Idealiſtin“ als „Materialiſtin“. Iwar find die angrfuͤhrten Schlagworte zu eng gefaßt, ihr „Begriff deckt nicht mehr die Wirklichkeiten, die fie bezeichnen ſollen. Aber hier ſtreifen Sie das Problem, das ich im ganzen Artikel behandele und das Sie vor lauter Begriffs analyſe ſich immer und immer entſchluͤpfen laſſen. Der Riß beherrſcht ja unſere Kultur das „idealiſtiſche Bürgertum ſteht dem „materialiſtiſchen Proletariat gegenüber. Der Akademiker, deſſen Potenz zum Iwei Menſchentum ich deutlich geſchildert babe, ſcheint mir berufen, die Kluft zu überbräden, wenn er nicht nur Wiſſen⸗ ſchaftler, Begriffler, ſondern Menſch, Menſch, Menſch iſt! Ich ſelbſt und viele, viele mit mir bin, ganz bewußt, vom „Idealismus durch Milieu und Bildungsgang und vom „Materialismus“ teils auch durchs Studium, mehr durch praktiſche, freiwillig dienende Tatigkeit ausſchlaggebend beeinflußt. Es iſt die Aufgabe der Geiſtesmenſchen unſerer Jeit, diefe Gegenſaͤtze in ſich zur Sarmonie zu bringen und fie der Allgemeinheit Gemeinſchaft und Geſell ſchaft ! fruchtbar zu machen. Das eben iſt Syntheſe. Wiemand kann Schoͤpfe · riſches vollbringen, der bier nicht ganz tief, ganz hart möchte ich ſagen, durch · gedacht, durchgelebt verarbeitet hat. Dabei aber wird ihm deutlich, daß die durch die Worte bezeichneten Begriffe den Umfang und Inhalt der Lebens wirklich keiten, die fie darſtellen wollen, in keiner Weiſe mehr faſſen konnen. Nach allen Seiten ſtroͤmt es über wie ein zu vollgegoſſenes Gefaͤß, dem immer neues Waſſer

Aulturpolitiſcher Arbeitsbericht 159

noch zufließt. Und darin trennen wir Neuen, „Jungen“ es braucht ja nicht an Jahren zu fein! uns von Euch anderen, wir erkennen die Relativitaͤt der auf Begriffen baſierenden ſogenannten „Wiſſenſchaft“, das Kriterium des Be ; griffes iſt uns die Wirklichkeit, nicht aber wollen wir die Wirklichkeit mit der Enge des Begriffs meiftern.

Meine Artikel in der Tat follten Weckruf fein, fie ſollten Scheuklappen ab⸗ reißen, Köpfe und Serzen revolutionieren. Ich glaube nicht nur, ich weiß, daß mir das bie und da gelungen iſt.

Aritit tut mir nicht weh. Aber ich wuͤnſchte, um Ihretwillen, es wäre eine Ari tit des Verſtaͤndniſſes, der Uberlegenheit gewefen. Unſere Art ift ſehr verſchieden. Wir ſehen von ganz anderen Geſichts punkten. Das gibt veränderte Perſpektiven. Da iſt Verſtaͤndnis nur noch moͤglich bei ſehr gutem Willen, bei beiderſeitigem, ſich beſcheidendem Anerkennen und Achten der Notwendigkeit und der Eigenart des Andersſeienden. Ein Hein wenig laſſen Ihre Jeilen dieſen guten Willen meiner Meinung nach vermiſſen. Aber, wie geſagt, ich glaube, Sie zu verſtehen, und zeichne in aller Sochachtung | Arserlle Sonneborn

Rulturpolicifcher Arbeitsbericht

keit, in Bauernhaͤuſern und Bauern⸗

Unſer Arbeitsplan Arbeitswoche n fur 1928 iſt noch nicht endgültig. Eine beſondere Aufgabe iſt uns erwachſen im Ausbau und in der

Auswirkung der Arbeiten von Serrn

Profeſſor Schwindrazheim.

Erfreulich iſt die Unterſtͤtzung, die uns der erziehungswiſſenſchaftliche Ausſchuß und andere Areiſe entgegen- bringen. Nach all den Juſchriften liegt hier eine Aufgabe vor, die an alle Leh; rervereine herangetragen werden muß. In ſelbſtloſeſter Weiſe ſtellt Serr Pro; fefioe Schwindrazbeim fein umfang reiches Anſchauungs material und Wiſ⸗ fen in den Dienſt der Aufgabe. In San; nover, Elbingerode, Laderholz und anderen Orten ſind eingehende Studien getrieben worden.

So fand bereits vom 27. Maͤrz bis J. April unter feiner Sͤhrung eine Woche über Fünftlerifhes Sehen in der Matur ſtatt. Es folgen vom J. bis I3. Juli : Studien mit Profeſſor Schwind razheim. Selbſtaͤndiges Arbeiten der Teilnehmer. Schwarz · weiß, wenig Sar- ben, mit gefüllten Paſtellkaſten; und im Auguft : Bauernſtudien mit Skizzier⸗ uͤbungen und Wanderungen um Dein⸗ ſtedt herum. Studieren in der Wirklich

doͤrfern.

In der Pfingſtwoche vom 25. bis 30. Mai hält Profeſſor E. Griſebach ; Jena eine Arbeitswoche über „Was iſt ethiſche Wirklichkeit“. (Moglichkeit und Begründung der Ethik).

Die paͤdagogiſche Arbeit, die ja, im weiteren Sinne genommen, ſich als Aufgabe Deinſtedts herausgeſtellt hat, wird weſentliche Erweiterungen er- fahren. Arbeitstage mit Serrn Pro- feſſor Dr. Spranger liegen noch nicht

feſt.

Fuͤr die Serſtferien find in Ausſicht genommen: Serr D. Friedrich Gogarten ; Je na über „Autorität und Erziehung“; Serr Profeſſor Nohl Gottingen über

„Religion und Schule“.

Te ilnehmerbeitrag 32 m (für Nicht · mitglieder 25% Aufſchlag) fur Sonorar, Verpflegung, Unterkunft. Für Jung lehrer betraͤgt die Teilnehmergebühr nur 21 M. Teilnehmerbeitrag für die Jeit vom I. bis 13. Juli 84 m. Eigene Bettwaͤſche iſt mitzubringen.

Anmeldungen ſind zu richten an die Zei matſucher e. V., Deinſtedter Arbeits⸗ 5 Deinſtedt bei Bremer: voͤrde.

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Pfingſtkurs im Volksbhochſchul⸗ beim auf dem Darß

Vom 21. bis3J. Mai des Jahres findet im Volkshochſchulheim auf dem Darß in Prerow (Endſtation der Bahn von Berlin über Stralſund, von Samburg über Roſtock, Velgaſt, Barth) ein

Pfingſtłurs ſtatt. Wie auch im vorigen

Jahr haben ihre Teilnahme als Baft- lehrer zugeſagt Profeſſor Itten, Frau von Proſch und Profeſſor Schreyer.

De m Geiſt der Jahreszeit entſprechend und dem Sinn des Feſtes gemäß, das in dieſe Jahreszeit fällt, wird auch in dieſem Jahr das Jiel der Veranſtaltung ſein, zu verſuchen, den gemeinſamen Grundzůugen des Lebenswillens unferes Jeitalters naͤherzukommen. In der Form von Vortrag und Rundgeſpraͤch ſollen die verſchiedenen Verſuche ein⸗ heitlicher Weltanſchauung, die von Seite des Glaubens wie von Seite der Wiſſenſchaft unternommen werden, neben · und miteinander betrachtet wer- den. Die Verſuche der Verlebendigung des Chriſtentums und der deutſchen My⸗ ſtik, das Eindringen öoͤſtlicher Seilslehre und amerikaniſierender Praktik, An- thropoſophbie, Masdasnan, ſowie die wiſſenſchaftlichen Verſuche von medi⸗ ziniſcher Seite (Pſychoanalyſe) follen von denen, die dieſe verſchiedenen Welt⸗ anſchauungsformen kennen oder be- kennen, dargeſtellt werden. Wie auch ſchon im vorigen Jahr, wird Profeſſor Itten praktiſche Übungen zur Börper- kunde leiten.

Nicht um Anhänger und Nachbeter dieſer verſchiedenen Anſchauungen und Cehren zu werben, findet dieſe Veran⸗ ſtaltung ſtatt, ſondern um vorurteils- frei in gemeinſamen Denken und Tun dieſe Gedanken wirken zu laſſen, ihre Verſchieden heit, mehr noch ihre Ver⸗

Aulturpolitiſcher Arbeitsbericht

wandtſchaft aufzufinden, allein beſeelt von dem Wunſch, zu wiſſen, was der heutige MRenſch an Mitteln braucht und ſich erwerben muß, um frei zu werden fur ſein Leben und ſtark zu feiner Arbeit.

Wie auch im vorigen Jahr werdendie Aurſe ſoweit es moglich iſt, ſchon drau⸗ ßen am Strand oder im Dünengelände ſtatt finden.

Der Gymnaſtik unterricht am morgen wird von Fraͤulein Traͤnckner (Schule Coheland) geleitet werden.

Die Arbeits ge meinſchaft wird, wie es in unferem Seim üblich iſt, nur fo viel Jeit in Anſpruch nehmen, daß genug uͤbrig bleibt, um auch allein zu ſein und die weiten Räume von Meer und Land ſchaft wirken zu laſſen.

Naͤheres über die Bedingungen der Aufnahme, ſowie Auskunft erteilt (dop⸗ peltes Porto iſt beizulegen) die Leitung des Volks hochſchulheim auf dem Darß, Dr. Fritz Blatt, Prerow (Oſtſee) Kreis Franzburg.

J wei Sechzigjahr⸗ Jubiläen Georg Stein hauſen, der bekannte kulturhiſtoriſche Schriftſteller, begeht am 2. Juni feinen 60. Geburtstag. Mit dem Verlag iſt er eng verbunden durch die Seraus gabe der „Monographien zur deutfchen Aulturgeſchichte“, an der Tat bat er öfters, fo auch in dieſem Sefte mitgearbeitet. Aber auch als Erzaͤbler bat er ſich mit Erfolg betätigt. Mone im naͤchſten Jahrzehnt die Reife des Alters noch manchem Werk und man- chem Aufſatz zugute kommen.

Auch zum 60. Geburtstag ihres Mit⸗ arbeiters Paul Ernſt am 7. März bringt mit dem gleichen Wunſch die Tat noch nachtraͤglich Erinnerungen eines Jugenöfreundes. E. D.

Dem Sefte liegen Proſpekte der Firmen 5. Saeſſel, Verlag, Ceipzig, Verlag Max Nie meyer in Salle und vom Verlag Julius Springer in Wien, bei, die einer beſonderen Beachtung empfohlen ſeien.

Schriftleiter: Dr. h. e. Eugen Diederichs, Jena, Carl-Jeiß- Platz 5. Bei unverlangter Zuſendung von Manuftripten iR Porto für Rüdfendung beizufügen. Verlegt bei un Br in Des Druck von Aadelli & Sille in Leipzig

iet ſa

für die Zufunft

Monatsſchri deutscher Rultur

Is. Jahrgang Heft 3 Juni 1926 IT u =,

Paul Ernſt / Doſtojewſki und wir

E. wird von Doſtojewſki ein Ausſpruch berichtet: „Wir Ruſſen lägen

alle. Aber wir werden uns noch zur wahrheit durchlugen.“ Viel · % leicht iſt der Ausſpruch nicht wahr oder iſt mir nicht ganz richtig in der Erinnerung: aber dann koͤnnte er wahr fein, und er würde das Le bensgefuͤhl Doſtojewſkis ausdrucken. | Die Ruſſen ſuchen immer nach der „Wahrheit“; aber die „Wahrheit“ gibt es gar nicht. Es gibt nur für die verſchiedenen Aufgaben des Lebens, Denkens, Süblens mehr oder weniger angemeſſene Löfungen. Aus Irr tum und Sünde beftebt nach den religioͤſen Lehren unfer Leben; in dem religiͤöſen Mythus, welcher für uns die Vorſtellung des Jenſeits bildet, wird gelehrt, daß nach dem Tode eine Exklaͤrung kommen wird. Als ein „Glauben“ wird die Erklaͤrung bezeichnet, die wir im Diesſeits haben koͤn⸗ nen, nicht als ein Wiſſen: als ein Zuſtand, in den man ſich hineinlebt; nicht als eine Einſicht, die mitgeteilt werden kann, eine Wahrheit. Der Lehrſatz des Pythagoras iſt wahr: aber wir koͤnnen den Begriff „Wahrheit“ nicht etwa auf das Daſein Gottes oder die menſchliche Freiheit anwenden, wir geraten vielmehr, wenn wir von der Wahrheit des Jenſeitigen ſprechen, in Widerfpruch mit unſerer Vernunft, welche die Wahrheit des Pytha⸗; goraͤiſchen Lehrſatzes einſieht. was Menſchen hoherer Art, die religiͤſen Menſchen, mit dem Wort „Wahrheit“ bezeichnen, das iſt alſo etwas anderes als die mathematiſche wahrheit. Man kann ſagen, daß ein Mißbrauch mit dem Wort „Wahrheit“ getrieben wird, oder man kann ſagen, daß die Menſchen erſt ſpaͤt dazu ge- kommen ſind, die jenſeitige „Wahrheit“ von den diesſeitigen Wahrheiten abzuſpalten, und daß ſie deshalb noch kein Wort fuͤr ſie gefunden haben. wir haben nur einen Glauben, und dieſer Glauben iſt nicht ein Fuͤrwahr⸗ halten gewiſſer Lehren oder Einſichten, ſondern ein Sineinleben in das Jenſeits: er iſt alſo ein Vorgang. BE Cat vm WMI V 7 D der 2 Ges. d. Fr. d. vaterländ Schul- & I Erziehungswesens

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1

362 Paul rnſt

was Doſtojewſki „luͤgen“ nennt, das iſt nicht das harmloſe Lügen, das ein, meiſtens unſauberes, Mittel im Rampf ums Daſein iſt, ſondern das iſt die Selbſtluͤge. Wie kann ein Menſch, der ſich ſelbſt belugt, in das Jenſeits bineinleben? Doſtojewſki ſagt, daß er es kann, daß der Ruſſe es kann. Fuͤr den Deutſchen faͤngt das Sineinleben in das Jenſeits immer mit der Kritik der Selbftläge an, welche mit der gerade herrſchenden Zebenslüge eng zu⸗ ſammenzuhaͤngen pflegt.

wenn ich nach meinem Gefuͤhl gehen ſoll, dann erſcheint mir die ruſſiſche Art veraͤchtlich. Sie iſt feig und ſklaviſch. Aber damit iſt es nicht getan: ſie Mt nun einmal wirklich, und man muß fie verſtehen. Denn die Menſchheit iſt gebildet aus verſchiedenen Voͤlkern mit verſchiedenen Trieben; und der Kampf dieſer Voͤlker untereinander iſt das Ziel der Menſchheit, nicht das einzelne Volk. Ich muß immer wiſſen, daß der Kuſſe ſeinerſeits die deutſche Kritik verachtet. Er kann ihr vorwerfen, was man dem Grundſatz des Proteſtantismus vorwerfen kann: Trotz des Einzelnen auf feine notwen⸗ dig beſchraͤnkte Perfoͤnlichkeit und damit Vernichtung der geſellſchaftlichen Bande.

Das im eigentlichen Sinn deutſche Grundgefuͤhl, das man das proteſtan ; tiſche nennen kann, mythiſch ausgedruckt: unmittelbar feinem Gott gegen; uͤberzuſtehen, hat als Gegenſatz nicht nur das ruſſiſche, ſondern auch das katholiſche Grundgefůhl. Der Katholik nimmt eine geſellſchaftliche Form, die Kirche, als vermittelnde Gnadenanſtalt zwiſchen Gott und Menſchen an. Durch fie iſt es moglich, das ganze Volk, auch die ſchwaͤcheren und ſchwaͤchſten Menſchen zu Gott zu führen ; dieſe Form iſt Serrſchaft.

Mit neueren Worten ausgedruckt: Der Katholizismus iſt ein ariſtokra⸗ tiſches Serrſchaftsgebilde zugunſten der Beherrſchten. Der Proteftantis- mus iſt herrſchaftsloſer Ariſtokratismus, bei dem der Menſchen garnicht gedacht wird, die notwendig die Serrſchaft gebrauchen; die alſo ſich ſelbſt uͤberlaſſen irgend eine Sorm zu finden haben, in der fie leben koͤnnen: das iſt der Vulgaͤrproteſtantismus; dieſer hat mit dem wirklichen Proteſtantismus nichts zu tun, waͤhrend der Vulgaͤrkatholizismus eng mit dem wirklichen Katholizismus verbunden iſt. Der Katholizismus iſt immer eine politiſche Macht, eine bedeutende oder unbedeutende, je nachdem die Kirche aus den bedeutenden oder aus den unbedeutenden Maͤnnern der Zeit beſteht. Er wird immer geſellſchaftser haltende Wirkungen ausůͤben. Was von Proteftantis- mus etwa politiſch etwa wirken kann, das wird immer der Vulgaͤrprote⸗ ſtantismus ſein, der denn notwendig eine geſellſchaftszerſtoͤrende Macht ſein muß, wenn er nach außen wirkt. Der eigentliche Proteſtantismus hat keine geſellſchaftliche Sorm: er iſt Geſinnung Einzelner. Dieſe Einzelnen koͤnnen vielleicht fo weit kommen, daß fie die Notwendigkeit einer objek tiven kirchlichen Macht fuͤr die Geſellſchaft einſehen, innerhalb deren ſie ſich perfönlih ihre geiſtige Freiheit bewahren: ich koͤnnte mir einen Sebaſtian Franck als einen ſolchen Mann denken. Gder fie bleiben auf ihrem berr-

Doftojewfli und wir 163

ſchaftslos ariſtokratiſchem Standpunkt wie Zuther, der immer fein perfön- liches Erleben für genügend hielt, und nehmen etwa die Möglichkeit an, daß alle Menſchen „Adelsmenſchen“ fein Binnen und follen, oder daß die Andern massa perditionis ſind, wo ſie denn notwendig ungeſellſchaftlich werden muͤſſen, oder bewegen ſich unklar zwiſchen dieſen beiden Anſchau⸗ ungen. Der Proteſtantismus, wie er hier gefaßt iſt, muß auf jeden Fall tragiſch werden; er muß zum Untergang fuͤhren; denn der Menſch kann nun eben einmal nicht in der Vereinzelung leben. Natuͤrlich iſt damit nur etwas über ihn als geſellſchaftliche Macht ausgeſagt; und im Weltplan Gottes wird ja wohl auch die Tragoͤdie vorgeſehen fein in Verbindung mit dem übrigen, wie das notwendig immer tragiſche Schickſal des deutſchen Volkes zur Entwicklung der europaͤiſchen Geſchichte gehort.

Das iſt uns alles Har. Was aber iſt denn die ruſſiſche Art?

Doſtojewſki hat den Proteſtantismus nie verſtanden; der iſt ja nur in wenigen Einzelmenſchen Wirklichkeit geworden; er haͤlt ihn für bloße Kri⸗ tik. Aber Über den roͤmiſchen Katholizismus hat er viel und gründlich nach» gedacht. Aus dem, was er über dieſen ſagt, müßten wir verſtehen koͤnnen, was der ruſſiſche Glaube denn eigentlich iſt, der ruſſiſche Glaube, der heute mit dem Glauben Doſtojewſkis gleichgeſetzt wird.

Die Legende vom Großinquiſitor enthält die religioͤſen Gedanken Dofto- jewſkis am deutlichſten. Sier muͤſſen wir ſuchen.

Nur muͤſſen wir uns zuerſt ſagen: Faſt alle theologiſchen Denker ſind ſo vorgegangen wie die Philoſophen, daß fie unerfchättert an die Wahrheit ihrer gefundenen Gedanken glauben und die nun verſtandesmaͤßig aus einanderſetzen. Doſtojewſki iſt ein Dichter und weiß als ſolcher, daß es die wahrheit, wie dieſe Maͤnner ſie meinen, nicht gibt: daß es ſich um einen Vorgang in uns handelt, um einen Rampf ums Leben. Er läßt deshalb ſchon ſeine Legende von einem meuternden Gottloſen verfaßt ſein, von Iwan Karamaſow. Und er gibt nicht eine wiſſenſchaftliche Auseinander⸗ ſetzung, ſondern erzaͤhlt eine Legende. Chriſtus iſt zur Erde niedergeſtie · gen. Er wird vom geiſtlichen Gericht gefangen und vor den Großinquiſi⸗ tor geführt. Dieſer erklaͤrt ihm: „Du haſt den Menſchen die Freiheit brin- gen wollen. Aber die Menſchen koͤnnen die Freiheit nicht gebrauchen, denn fie wollen Gluck. Deshalb haben wir, die Prieſter, eine Serrſchaftsordnung geſchaffen, die Kirche, in welcher wir die Menſchen fuͤhren, daß ſie gluͤcklich werden. Das ftörft du, deshalb werde ich dich morgen verbrennen laſſen.“ Chriſtus erwiderte nichts auf dieſe Saͤtze, er kůßt den Großinquiſitor nur ſchweigend auf die Stirn da oͤffnet der das Gefaͤngnis und ſagt: „Geh.“

In feinen übrigen Schriften ſteht Doſtojewſki im direkten Gegenſatz zur roͤmiſchen Kirche, von der er, mit Recht, annimmt, daß ihre letzte Folge; rung Sozialismus und Rommunismus ſind; die veraͤchtliche Verbindung von Zentrum und Sozialdemokratie bei uns mit dem Zweck einer paziſiſti⸗ ſchen Demokratie iſt durchaus natuͤrlich. Doſtojewſki ſelber will frei ſein,

164 Paul Ernſt

und gewiß ſchwebt ihm ein hoͤheres Ideal der Menſchheit vor, als der Kaninchenſtall. Aber fein Chriſtus widerlegt den Großinquiſitor nicht, er kann ihn offenbar nicht widerlegen. Er kuͤßt ihn nur, und der Großinqui⸗ ſitor offnet ihm das Befängnis. Und das iſt eine Legende, die von einem Atheiſten gedichtet iſt, der in der Auflöfung alles Menſchlichen und Bötr- lichen ſoweit geht, daß ihm nichts verboten iſt und alles erlaubt: er iſt das Gehirn, welches die Sand des ZLakaien zum Vatermord fuͤhrt.

Mit anderen Worten: auf dem Soͤhepunkt feiner geiſtigen Entwicklung hat Doſtojewſ ki gefuͤhlt, daß wir in allem, was das Jenſeitige betrifft, im · mer auf Antinomieen kommen: ſo muß man doch annehmen.

Wir wollen aber doch im einzelnen betrachten; dann werden wir einen tieferen Einblick in ihn ſelber und die ruſſiſche Seele gewinnen; denn jenes Gefuͤhl iſt ja weder neu noch ſelten: freilich hat es nur in Ausnahmefaͤllen Folgen gehabt.

Im Großinquiſitor iſt eine politiſche Macht, wenn auch mißverſtanden, wuͤrdig dargeſtellt, die eine große geſchichtliche Erſcheinung war. Aber ſein Begenfpieler Chriſtus iſt keine geſchichtliche Erſcheinung. Er iſt nur die Idee Doſtojewſkis.

Was iſt denn der Chriſtus der Evangelien? Er iſt doch nicht eine geſchicht · liche Perſon, wie einer der Paͤpſte. Auf dem Höhepunkt der Entwicklung ihres Geiſtes kamen die Griechen zu der Idee des Gottes, der leidet. In irgendeiner Weiſe floß dieſe Idee mit urtuͤmlichen Vorſtellungen eines ge- töteten Fruͤhlingsgottes zuſammen, die in den Urzeiten unklar aus dem ſelben Erlebnis geſchaffen war. Ein Menſch oder mehrere von der aller- hoͤchſten Art bildeten eine religioͤſe Dichtung aus, welche für einen Myſte · riendienſt verwendet wurde. Dichtung und Idee gelangten irgendwie in die Tiefe des Volkes, teilten ſich auch den helleniſierten Juden mit. Durch Miß⸗ verſtaͤndniſſe, Zufaͤlligkeiten aller Art wurde das vorhanden Gebildete zer / truͤmmert und neu zuſammengeſetzt nach Beduͤrfniſſen und Einſichten des niederen Volkes, und wurde hier mit allerhand Wuͤnſchen, Soffnungen und Glaubensſaͤtzen fremder Art vereinigt, vielleicht auch mit der Erinnerung an einen wundertuenden Rabbi, der hingerichtet wurde. Es ſetzte die Kir⸗ chenbildung ein, und das neue, wirre Gebilde wurde von den offenkundig bedenklichſten Zuͤgen geſaͤubert: das iſt denn nun die Chriſtusgeſtalt unferer Evangelien. | Sür einen Mann wie Doſtojewſki, der in die letzten Geheimniſſe der Keli⸗ gion eindringen will, darf von ihr weſentlich nichts ſein, als die Idee des Gottes am Kreuz: ein religiöͤſer Mythos alſo; er mag ſich noch aus den uͤbel zuſammengemauerten Truͤmmern den einen oder anderen Ausſpruch herausſuchen, wenn es nötig iſt, reinigen, und ſich um fein Verſtaͤndnis be- muͤhen; aber eine Geſtalt, die als Menſch auf Erden wandelnd denkbar wäre, auch als ein Menſch der Dichtung, wie etwa Ödipus auf Kolonos, kommt da nie heraus; Chriſtus iſt eine religiöfe Idee.

Doftojewffi und wir 165

Die Legende vom Großinquiſitor iſt eine Dichtung. Man darf fie alfo techniſch kritiſieren. Nun: es iſt offenkundiger Unſinn, daß eine Geſtalt, die als Menſch charakteriſiert iſt, mit einer religiöfen Idee einen Dialog führen ſoll. Es kann nur ein Monolog herauskommen, denn antworten kann nur ein Menſch, nicht eine Idee.

Ein ruſſiſcher Philoſoph namens Berdjajew, der ein Buch über Doſto⸗ jewſki geſchrieben bat, ſagt bewundernd über die Legende: „Erxſtaunlich iſt der Kunſtgriff, deſſen ſich Doſtojewſki bedient. Chriſtus ſchweigt die ganze Zeit über, er bleibt im Schatten. Die poſitive religiöfe Idee findet ihren Ausdruck nicht im Wort. Die Wahrheit uͤber die Freiheit iſt unaus- ſprechlich. Leicht ausdruͤckbar iſt nur die Idee der Noͤtigung. Die wahr⸗ heit über die Freiheit erſchließt ſich allein aus dem Gegenſatz zu den Ideen des Großinquiſitors, fie ſtrahlt hell durch die Ausführungen des Groß inquiſitors gegen fie hindurch.“

Ein Dichter muß dichten koͤnnen, follte man meinen. Seute aber nennen ſich viele Leute Dichter, welche nicht dichten koͤnnen; und die Menſchheit glaubt ihnen ihre Behauptung, ja, haͤlt ſie fuͤr um ſo groͤßere Dichter, je weiter ihre Faͤhigkeiten von den Gaͤhigkeiten des Dichters entfernt find. Ein Philoſoph muß denken koͤnnen, ſollte man meinen; aber nicht nur Berdjajew haͤlt ſich fuͤr einen Philoſophen, ſondern viele andere aͤhnliche Männer auch noch, und die Menſchen heute glauben ihnen ihr Vorgeben. Was Serr Berdjajew fagt, das erinnert an das, was man in Amerika als philoſophie bezeichnet; er haͤlt Wiederholung und Beteuerung für Be⸗ weiſe. Doſtojewſki iſt ein bedeutender Mann; ich glaube, daß feine Lehren eine furchtbare Gefahr fuͤr die Menſchheit bedeuten, ſie waren es jahr⸗ zehntelang für mich ſelber; und es iſt noͤtig, daß man ihm alle Kräfte ent- gegenſetzt, welche verfügbar find.

Was iſt Freiheit? Freiheit iſt eine Beziehung und nicht ein Ding. Es gibt nicht Freiheit an ſich; es gibt nur Freiheit fuͤr etwas und von etwas. Ein Philoſoph muß das wiſſen. Die beſte Beſtimmung des Begriffs iſt von Sobbes: die Macht, das zu tun, was man nach feinen Faͤhigkeiten tun kann.

Doſtojewſki ift ein Dichter: und jeder Dichter muß auf die Frage der menſchlichen Freiheit kommen. Die Frage ift philoſophiſch nicht zu beant- worten; die menſchliche Freiheit ift ein religioͤſer Glaube, alſo Zebensvor- gang; fie erſcheint nur als verſtandesmaͤßig aufzufaſſender Begriff, aber fie hat gar Nichts mit unſerem Denken zu tun. Als Dichter fühlt das Doſto⸗ jewſki auch, und feine Dichtungen ſtellen Bämpfe um die Freiheit in dichte⸗ riſcher Weiſe dar. Aber es muß wohl bei ihm fo fein, daß ſich das, was über die Freiheit in ihm iſt, nicht voͤllig im Dichteriſchen ausdrucken kann; mit anderen Worten: daß ſein Talent ſich nicht mit ſeinem innerſten Stre⸗ ben deckt, daß er unharmoniſch gebaut iſt. So gelangt er denn zu Werken wie der Großinquiſitor.

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Nun konnte aber fein, daß man gerade in dieſem Werk den Schluͤſſel für ihn fände. Der Fehler ift hier: er hat ein Geſchehnis, wie es in der wirklich; keit möglich iſt, daß ein Mann vom geiſtlichen Gericht gefangen wird. Das geiſtliche Gericht und der Großinquiſitor gehören der empiriſchen Welt an. Chriſtus iſt eine Idee und gehoͤrt der jenſeitigen Welt an. Diesſeits und Jenſeits aber koͤnnen nicht zuſammenkommen in einer Sandlung, welche gaͤnzlich der empiriſchen Welt angehoͤrt. Man muß eine andere Art Talent haben als Doſtojewſki, wenn man derartiges dichten will: man muß die Saͤhigkeit haben, das Diesfeitige als Bild des Jenſeitigen erſcheinen zu laſſen. Doſtojewſki hat ein darſtelleriſches Talent und verſteht, Spannung zu erzeugen; aber das andere kann er nicht.

Man mache ſich nur klar, daß er den Charakter ſeines Großinquiſitors nicht durchhaͤlt und nur durch den Mangel an Solgerichtigkeit zu feinem Schluß kommt. Der Großinquiſitor iſt ein Mann in ſeiner Art, den man achten muß, ſolange er ſpricht. Er ſpricht ja hohl und nicht glaubhaft; denn er ſpricht nicht mit den Worten, die ſeinem Weſen entſprechen, ſondern mit den Worten, die Doſtojewſki ihm leiht, der bürgerlich denkt, der durch Rouſ · ſeau gegangen iſt oder durch Denker des wohlmeinenden Polizeiſtaats im 18. Jahrhundert. Er müßte eigentlich ſagen: „Es gibt zwei Arten von Menſchen: die einen find zum Serrſchen geboren und die andern zum Be⸗ herrſchtwerden. Ich gehoͤre zu den erſteren, ich herrſche mit der Technik des Serrfchers, wie fie etwa der ehrliche und freie Macchiavell lehrt; und es iſt auch fuͤr die andern am beſten, wenn ſie ihre richtigen Serrſcher haben, und nicht etwa Narren und Schwindler fie beherrſchen. Serrſcher und Be⸗ herrſchte zuſammen ſind die nun einmal von Gott gewollte Geſellſchaft. Solche Idealiſten wie du ſchaffen das größte Ungluͤck, fie bewirken naͤmlich ſchließlich die Serrſchaft des Narren und Schwindlers, und deshalb muͤſſen ſie verbrannt werden. Sie wiſſen uͤberhaupt nur von Einzelnen und nicht von der Geſellſchaft. Nun, er ſpricht nicht fo, er ſpricht alſo in dem emp; findfamen Ton, der ſeit dem I8. Jahrhundert aufkam, wo man das Gluͤck des Beherrſchten in den Vordergrund ſtellte, wo man alſo das Gewicht vom Serrſcher, der eben der ganze Menſch iſt und in ſich ſelber ruht, auf den armen Teufel von Beherrſchtem legt, fuͤr den nun der Serrſcher mit einem Male Mittel wird, ſtatt daß der Serrſcher Zweck für den Beherrſch ; ten iſt. Das kann Redeweiſe fein; und jedenfalls ſpricht man heute nun einmal ſo, man muß dieſe demokratiſchen Phraſen nicht zu ernſt nehmen; das iſt, wie wenn die Englaͤnder oder Franzoſen davon ſprechen, daß der Krieg ein großes Ungluͤck iſt und verhůtet werden muß.

Nun, der Fremde kuͤßt den Großinquiſitor auf die Stirn. Was bedeutet das für dieſen? Iſt das etwa eine Widerlegung? Er hat ja vorher gewußt, daß der Fremde ein guter Kerl iſt, der das Beſte will, bei dem nur Verſtand und Einſicht nicht ausreichte. Er muß ihm antworten: „Lieber Freund, auf mich macht dergleichen keinen Eindruck. Denn wenn ich ein Menſch

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wäre, der ſich durch Empfindſamkeit beeinfluſſen läßt, ſtatt feine Sand⸗ lungen nach ſeiner ordentlich gehandhabten Vernunft einzurichten, dann wäre ich ja ein nichtswuͤrdiger Schurke, dann haͤtte ich ja doch nicht fruher Sunderte von Menſchen verbrennen laſſen dürfen.”

Der Großinquiſitor Doſtojewſkis iſt nach dem Großinquiſitor Schillers geſchaffen. Doſtojewſki hat viel von Schiller geholt ſoweit er holen konnte; und ich denke mir, weil er das Letzte nicht von ihm holen konnte, fo hatte er Urſache, gelegentlich ſpoͤttiſch uͤber Schiller zu ſprechen. Schil- lers Großinquiſitor ſagt zum Roͤnig, der in derſelben Cage ſchwach wird, wie Doſtojewſkis Großinquiſitor, naͤmlich, nachdem Poſa zu ihm ge⸗ ſprochen hat:

Was ſollte Ihnen dieſer Menſch? Was konnte Er Neues Ihnen vorzuzeigen haben,

Worauf Sie nicht bereitet waren? Kennen Sie Schwaͤrmerſinn und Neuerung fo wenig? Der Welt verbeſſerer prahleriſche Sprache Alang Ihrem Ohr fo ungewohnt? Wenn das Gebaͤude Ihrer Überzeugung ſchon

Von Worten fällt mit welcher Stirne, muß Ich fragen, ſchrieben Sie das Bluturteil

Der hunderttauſend ſchwachen Seelen, die Den Solzſtoß für nichts Schlimmeres beſtiegen ?

Schiller war ein Deutſcher und Doſtojewſki ein Ruſſe. Ein Freund, der weder Deutſcher noch Ruſſe iſt, erzählte mir aus dem Rußland vor der Revolution einmal folgende Geſchichte: Ein Großfuͤrſt ſoll ermordet wer · den. Der Mörder ſteht mit der Bombe da, das Tor offnet ſich und der wagen des Großfuͤrſten rollt heraus. Da wird dem Mörder klar, daß der Kutſcher mit getötet werden würde, und er wirft die Bombe nicht. Mein Freund ſagte ganz richtig: „Ein Deutſcher wuͤrde ja nicht ſo leicht die Bombe in die Sand nehmen. Aber wenn er da nun einmal geſtanden haͤtte, dann haͤtte der Nutſcher eben auch mit ſterben muͤſſen.“ Ich antwortete ihm: „Sie haben recht. Und ich kann als Deutſcher dieſen meuternden Sklaven nur als empfindſamen Schurken auffaſſen; haͤtte er geworfen, ſo war er ein geld, dann war er auch kein meuternder Sklave.“

Ich möchte unter Deutſchen umfragen: ich glaube, fie werden alle ant · worten, daß Doſtojewſkis Großinquiſitor ein empfindfamer Schurke if.

Spiel und Gegenſpiel haͤngen in einem Gedicht immer zuſammen. In der Seele des Dichters find fie Eines. Wenn der Großinquiſitor ein empfind- ſamer Schurke iſt, was iſt dann der Fremde, der ihm gegenůberſteht, der Chriſtus Doſtojewſkis? Es iſt diejenige religioͤſe Idee, welche mit dem emp; findfamen Schurken als ihrem Gegenſpieler zuſammen eine Einheit bildet. Aber dieſe religioͤſe Idee, dieſen Fremden ſtellt Doſtojewſki nun als das chriſtliche ruſſiſche Volk hin.

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Der Philoſoph Berdjajew ſagt: „Das Chriſtentum Doſtojewſ kis iſt nicht das hiſtoriſche, ſondern ein apokalyptiſches Chriſtentum. Er wirft ein apo; kalyptiſches Thema auf. Und die Löfung diefes Themas laͤßt ſich nicht in den Rahmen des geſchichtlichen Chriſtentums zwingen.”

Schoͤn. Das iſt etwa dasſelbe, was ich ſelber vorhin ausfuͤhrte, daß eine geſchichtliche Perſon und ein Mythos kein Zwiegeſpraͤch miteinander fuͤh· ren koͤnnen. Berdjajew geht ſogar ſoweit, daß er Schluͤſſe aus dieſer Ein⸗ ſicht zieht: „Doſtojewſki war der Verkuͤnder einer eigenartigen orthodox⸗ ruſſiſchen theokratiſchen Idee. Eine Theokratie iſt immer mit Zwang verknuͤpft, eine freie Theokratie iſt ein contradictio in adjecto .. . Diefe Idee verbleibt bei dem falſchen judaiftifch-römifchen Anſpruch der Kirche, ein Reich von dieſer welt zu fein, verbleibt bei der verhaͤngnisvollen Auf- faſſung des heiligen Auguſtin, die zum Reich des Großinquiſitors führen muß.“

Man ſieht: da iſt ein Anaͤuel von falſchen Gedanken. Erſtens, der ge- ſchichtlichen Tatſache der katholiſchen Kirche wird die religiöfe Idee ent · gegengeſtellt, eine Erſcheinung auf einer ganz anderen Ebene. Dieſe wird auf den Boden der Wirklichkeit gezogen; der „Fremde!“ iſt nicht Gott oder Gottes Sohn, ſondern iſt ein gutartiger Schwaͤrmer, der zu dumm iſt, um einzuſehen, was er mit ſeinem Geſchwaͤtz anrichtet. Sagen wir, ein Eisner, der nicht politiſch ſalbadert, ſondern religiös ; und wenn einer gelogen und Vaterlandsverrat getrieben und eine Urkunde gefaͤlſcht hat, ſo iſt er eben nur der Schwaͤrmer, den man nicht rechtzeitig nach Goethes Rat ans Kreuz geſchlagen und dadurch zum Betrüger hat werden laſſen. Zweitens: dieſe pſeudomorphoſe des zum Schurken ſich entwickelnden Schwaͤtzers ais Gottes Sohn wird nun mit dem empiriſchen ruſſiſchen Volk gleichgeſetzt, welches aus dem Oſten dem verfaulenden Weften das Licht bringen wird, indem es RNonſtantinopel erobert und drittens das Kunſtſtuͤck fertig bringt, die Welt zu beherrſchen, ohne die Technik des Serrfchens auszuuͤben.

Dieſer Knaͤuel iſt aber eine ruſſiſche Erſcheinung.

Als Dichter mag Doſtojewſki Dialektiker fein; fobald er denkt, iſt er Ruſſe: das heißt, er iſt Gberzeugt, daß die „Wahrheit“ irgendwo in einem Schrank liegt, zu dem man nur den Schluͤſſel haben muß. Man kann ihn auch ſtehlen. Und er möchte die Ware erhalten, ohne den Preis dafür zu be- zahlen, er ſetzt ſeinen Wunſch einfach als Wirklichkeit. Fuͤr uns Deutſche wird das Charakterbild der Ruſſen beſtimmt durch Faulheit und Zucht⸗ loſigkeit. Man mag Bedenken haben gegen die Faͤhigkeiten des Deutſchen Charakters, das Soͤchſte zu erreichen daß der ruſſiſche es nicht erreichen wird, das ſcheint mir durchaus ſicher zu ſein.

Und wo iſt Doſtojewſki eigentlich über das Lutheriſche Chriſtentum hinausgegangen? Mir ſcheint nur, daß Zuther ehrlicher war: er wußte,

daß Gottes Reich nicht von dieſer Welt iſt; und er gab zu, daß er nichts da⸗

von verſtand, wie die Welt nun fuͤr und zu Gott geleitet werden ſoll; und

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er nahm nicht an, daß fein Volk auserwaͤhlt fei, ſondern meinte, daß vor Gott alle Voͤlker gleich ſind.

Doſtojewſki iſt ein religiͤſer Denker. Gewiß. Er denkt über Gott, Frei; beit, Sünde, Schickſal nach. Aber Religion und Religion konnen zwei ganz verſchiedene Erſcheinungen ſein, die nur wenig miteinander zu tun haben. Wenn Religion das ſchlechthinige Abhaͤngigkeitsgefuͤhl von Gott iſt, dann kommt es immer darauf an, wer fuͤhlt, und von welchem Gott er ſich abhängig fühlt. Religion iſt Form, wie Freiheit Form iſt oder Wahrheit.

Wir koͤnnen am leichteſten klar werden, wenn wir uns die Tatſache vor- halten, daß die Menſchen auf verſchiedenen Ebenen leben, und daß auf den verſchiedenen menſchlichen Ebenen Vorgaͤnge geſchehen, die nichte mit⸗ einander zu tun haben.

Etwa auf der buͤrgerlichen Ebene gibt es Menſchen mit Beſitz und ohne Beſitz. Moͤglicherweiſe der Beſitzloſe ein Lump iſt, und der Mann mit Be- ſitz hat Ehre. Aber da der Menſch frei iſt, ſo braucht er ſeinen ſeeliſchen Ge⸗ halt nicht durch ſeine geſellſchaftliche Lage beſtimmen zu laſſen. Dieſe be⸗ ſtimmt nur die Form; der beſitzloſe Anecht kann durch Treue gegen feinen Seren Ehre haben und fo nach feinem ſeeliſchen Gehalt dem Beſitzenden gleich fein. Auf der Ebene der hoͤchſten Menſchlichkeit muß alles vermieden werden, was den Menſchen feſſeln kann. Buddha verzichtet auf Serrſchaft und Beſitz und zieht als Bettler durch die Welt. Aber der beſitzloſe Buddha hat mit dem beſitzloſen Sauhirten Eumaͤos, der durch Treue feinem Serrn gleich wird, nicht das geringſte gemein.

Auf der Ebene des ſinnlichen Lebens gibt es eine große Menge, welche überhaupt keine Ahnung davon hat, daß der Einzelne nicht für ſich da iſt, ſondern als Ergebnis von andern Maͤchten und fuͤr Zwecke, die außerhalb von ihm find. Einige Wenige gibt es, welche dumpf ahnen, daß hoͤhere maͤchte uͤber ihnen ſind. Im Evangelium wird von der blutfluͤſſigen Frau erzaͤhlt, welche heimlich den Mantel des Seren beruͤhrt; der Serr ſagt: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Die ganz rohe Menge glaubt ſolche Moͤg⸗ lichkeiten nicht, ſie ſagt: „Laſſet uns eſſen und trinken, denn morgen ſind wir tot.“ Das iſt ſchon ein hoͤherer Zuſtand, wo uͤberlegene Menſchen und Kraͤfte anerkannt werden, wenn auch nur zu dem ſelbſtſuͤchtigen Zweck, daß eine Krankheit geheilt wird, an welcher der Betreffende gerade leidet. Der Zuſtand iſt nicht fo ſehr verſchieden von dem Zuſtand des Rohen, der etwa ſieht: „Ich habe kein Geld, dort geht ein Mann mit einem Beld- beutel, ich will den Mann beſtehlen. Etwas anderes hat ja doch das Weib nicht getan, als daß fie dem Herrn Seilkraft ſtahl. Aber fie mußte da doch an etwas Soͤheres glauben: die Seſtalt des Serrn muß da doch irgendeinen Eindruck auf fie gemacht haben. Sie hat ſchon Religion, fie Fable ſich ſchon, und iſt das Fuͤhlen auch noch ſo dumpf, mit dem Jenſeitigen verbunden.

Aber was hat dieſe Frau denn nun mit dem Gottmenſchen gemein, der fi laͤchelnd ans Kreuz ſchlagen läßt und ſagt: „err vergib ihnen, denn

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fie wiſſen nicht, was fie tun? / Jene Frau iſt gänzlich in das ſinnliche Leben eingeſpannt: fie iſt krank und will gefund werden. Sur Chriſtus bedeutet das ſinnliche Leben nur den Stoff, der an ſich gleichguͤltig iſt, an welchem das vor ſich geht, das ihm weſentlich iſt, nennen wir es etwa „die Seele”. Wenn das ſinnliche Leben nur ein belanglofer Stoff geworden iſt, der nur dadurch Wichtigkeit hat, daß von ihm aus die Beziehung zum Jenſeits vor ſich geht und wenn dieſe Beziehung das Wichtige geworden iſt, dann haben wir reine Religion vor uns. Chriſtus lebt ganz auf der Ebene der Religion.

Doſtojewſki iſt ein religiöſer Denker. Das iſt ſchon ungeheuer viel, wenn

man ihn mit der ſtumpfen Maſſe vergleicht, wenn man etwa an ZJola denkt. Aber die blutfluͤſſige Frau hat Religion, und Chriſtus hat Religion. Wenn ich Doſtojewſki als Lehrer und Fuͤhrer bewerten will, dann muß ich erſt wiſſen, auf welcher Ebene der Religion er ſteht. Das iſt nun im allgemeinen ſehr ſchwer zu erkunden. Die religiöfe Dich⸗ tung betont dieſe Schwierigkeit ganz beſonders, denn die macht ſich ja im⸗ mer geltend, wo man ſich im Leben nun zu anderen Menſchen zu verhalten bat. Sie hat unter den zwoͤlf Juͤngern des Seren den Judas dargeſtellt und unter den Moͤnchen Buddhas den Moͤnch, der nach dem Tod des Er⸗ leuchteten erleichtert aufſeufzt und ſagt: „Gottlob, daß er tot iſt; nun wird doch nicht mehr immer an Einem herum geſchulmeiſtert.“

Bei einem Dichter iſt die Erkundung etwas leichter als bei den meiſten Menſchen; man braucht nur ſeine Geſtalten daraufhin zu betrachten, welche am meiſten gegluͤckt ſind. Ein Dichter iſt immer ein Menſch auf der Ebene ſeiner dichteriſch vollendeten Geſtalten. Die Gelehrten, welche die Werke der bildenden Kunſt unterfuchen, haben gefunden, daß ein Maler feinen Geſtalten feine eigenen Verhaͤltniſſe gibt, daß er ihnen beſtimmte koͤrperliche Merkmale verleiht, welche zu feinem eigenen Körper in Be- ziehung ſtehen; ja, noch mehr, daß er ſeinen ganz beſonderen weiblichen Typus hat, den er immer wieder malt, angeblich ſogar, wie es bei Rubens geſchehen fein ſoll, ehe er ihn im Leben vollkommen traf.

So muß man die Geſtalten der Dichter aus den Dichtern ſelber verſtehen.

Doſtojewſki hat den religioͤſen Idealmenſchen darzuſtellen verſucht: im Fuͤrſten Myſchkin, in Aljoſcha Raramaſow und im Staretz. Der Staretz iſt nur eine Nebenſigur und keine Geſtalt. Es bleiben nur die beiden anderen uͤbrig. Die ſind aber offenbar nicht gegluͤckt.

welche Geſtalten find ihm am meiſten geglůckt? Stawrogin, Assfolni- kow und Jwan Karamaſow, daneben Dmitry und der alte Raramaſow. Die dazu gehörigen Frauen find Sonja, Nataſſſa Filippowna und Gru ſchenka. Es iſt nicht neu beobachtet, wenn ich hervorhebe, daß die Be⸗ ziehung von Mann und Frau bei Doſtojewſki entweder niedrige Sinnlich; keit oder hyſteriſche Quaͤlerei iſt. Ich möchte noch darauf hinweiſen, daß die jungen Menſchen bei ihm durchweg Gedanken und Befühle ausdrucken,

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die nicht naturlich bei ihnen gewachſen ſind; ſondern viel mehr Anpaſſungs⸗; ergebniſſe an ihre gegebene oder aufgeſuchte Umwelt.

Wir müflen mit Raskolnikow beginnen, weil dieſe Geſtalt die einfachſte iſt.

Berdjajew ſagt ganz ausgezeichnet: „Doſtojewſki nimmt den Menſchen in Freiheit geſetzt, dem Geſetz entbrochen, aus der kosmiſchen Ordnung ge⸗ loͤſt, und unterſucht fein Schickſal in der Freiheit, deckt die unabwehrbaren Ergebniſſe der Freiheitswege auf.“ Der Philoſoph berichtet dann einige Ausſpruͤche, welche Doſtojewſ kis innerſtes Weſen darſtellen, von denen ich nur folgenden wiedergeben will: „Wenn Sie behaupten wollen, daß man auch all das nach Taͤfelchen berechnen koͤnne, Chaos und Sinfternis und Fluch, fo daß ſchon die Möglichkeit allein, es im voraus berechnen zu koͤn⸗ nen, allem Einhalt gebieten werde und die Vernunft ſo zu ihrem Recht kommen werde, fo wird der Menſch für dieſen Fall abſichtlich verruͤckt wer⸗ den, um ohne Vernunft zu ſein und ſeinen Willen durchzuſetzen. Ich glaube daran, ich verantworte dafür, weil ja die ganze Sache des Men; ſchen, wie es ſcheint, in der Tat nur darin beſteht, daß der Menſch ſich alle Augenblicke beweiſe, daß er ein Menſch und kein Stift iſt.“ Der ruſſiſche Philoſoph ſchließt ſeine Zitate mit den Worten: „In dieſem durch ihre Schaͤrfe, ihre Genialitaͤt erſchuͤtternden Gedanken muß man die Urquelle aller Entdeckungen ſuchen, die Doſtojewſki uͤber den Menſchen macht.“ Der Dichter iſt ein Ruſſe und ſein Philoſoph auch. Beide ſprechen vom „Menſchen “. Der Philoſoph nimmt eine Linie Dante Shakeſpeare Do⸗ ſtojewſki an und hat die Vorſtellung, daß Doſtojewſki ausgeſprochen hat, was die heutigen Menſchen über den Menſchen denken. Wenn andere Voͤl⸗ ker aber dieſe Gedanken Doſtojewſ kis ablehnen ſollten, dann müßte ſich doch wohl ergeben, daß Doſtojewſki und fein Philoſoph eine befondere Art von Menſchen meinen, von der ſie allein Genaueres wiſſen, naͤmlich den Auffen. Und diefer Ruſſe wäre denn eben der Menſch einer beſtimmten Ebene, die wir erkennen koͤnnen und dann notwendig bewerten muͤſſen.

Dieſer Menſch iſt aus der kosmiſchen Ordnung gelöft und in Freiheit ge⸗ ſetzt; und ſeine Tat beſteht darin, ſich alle Augenblicke zu beweiſen, daß er ein Menſch und kein Stift iſt.

Nun iſt der Menſch in der Dichtung aber gar nicht aus der kosmiſchen Ordnung zu löfen, fo wenig wie eine Pflanze, folange fie lebt, von ihrem Boden und aus ihrer Luft zu loͤſen iſt. Wir machen die Abziehung von Boden und Luft für wiſſenſchaftliche Jwecke; wir betrachten für eine be ſtimmte Art Wiſſenſchaft, naͤmlich fuͤr die Syſtematik, die Pflanze, als ob fie losgelöft waͤre; aber das iſt nur ein Kunſtgriff, der uns die Einſicht er⸗ leichtern ſoll. Wenn die Pflanze waͤchſt, dann nimmt ſie Stoffe aus dem Boden, muß alfo einen Boden haben; ihr Leben geht nicht in einem Cehr⸗; buch der Botanik vor ſich, ſondern auf der Wieſe und in der Luft. Die Los- loͤſung Doſtojewſkis iſt eine unſtatthafte Übertragung der wiflenfchaft- lichen Technik auf ein Gebiet, wo dieſe Technik gar nichts zu tun hat. Ich

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kann die Menſchen in Klaſſen und Arten einteilen. Fuͤr eine ſolche wiſſen⸗ ſchaftliche Arbeit wird es vorteilhaft ſein, wenn ich ſie ſo betrachte, als ob fie losgelöft werden koͤnnten. Wenn ich aber dichte, dann ſtelle ich Leben dar, und das Leben iſt nur moglich in den Ordnungen, die nun einmal find. Der losgelöfte Menſch, den Doſtojewſki darzuſtellen glaubt, kann alſo tatſaͤchlich gar nicht losgeloͤſt fein.

Er iſt es auch nicht. Er ſieht nur die Ordnung nicht.

Jeder Menſch iſt mit ſeinem Gegner eine Einheit. Doſtojewſki ſagt: „Je⸗ der Ruffe iſt ein Nihiliſt. Er bekaͤmpft den Nihilismus. Aber er iſt ſelber Ruſſe und felber Nihiliſt. Die Vorſtellung der nach Taͤfelchen zu beberr- ſchenden Welt iſt die nihiliſtiſche Vorftellung. Gegen fie kaͤmpft er. Was er; gibt ſich? Der Lebensinhalt iſt, daß man kein Stift iſt, kein nihiliſtiſches Ergebnis. Das iſt man alſo nicht. Was iſt man? Darüber ergibt ſich nichts. Das Ergebnis des Kampfes iſt nur ein Negatives, die Verneinung des Nihilismus.

Doſtojewſki ſelber, der Dichter, iſt ein Stawrogin, Raskolnikow, Iwan. Er ſtellt in dieſen Geſtalten dar, was werden muß, wenn er ſich ſeinen Trieben Gberläßt. Dieſe Geſtalten leben in der ruſſiſchen Geſellſchaft, welche vollſtaͤndig aufgelöft war, welche die Vorſtellung hatte, daß man das ganze Leben nach Taͤfelchen berechnen koͤnne. Sie find die Ergebniſſe der Geſellſchaft und meutern gegen ſie. Aber ſie meutern, indem ſie dabei auf dem Boden dieſer Geſellſchaft ſtehen. Sie gleichen den Sozialiſten und Bommuniften, welche ſich für Gegner der buͤrgerlichen Geſellſchaft halten, und nichts find, als ihre letzten Erfuͤller. Nicht das Schickſal des Men⸗ ſchen in der Freiheit wird in ihnen dargeſtellt, ſondern das Schickſal der buͤrgerlichen Menſchen, welcher die aͤußerſten Folgerungen der bürgerlichen Geſellſchaft ziehen und fie dadurch aufheben. Sie heben die bürgerliche Ge · ſellſchaft auf, aber ſie bauen nichts Neues.

Man kann das Gewiſſen bezeichnen als den im Einzelnen zum Bewußt ſein kommenden Geſellſchaftsinſtinkt; wir befinden uns dabei auf der Ebene der diesſeitigen Wirklichkeit. Die buͤrgerliche Geſellſchaft iſt ein Vorgang, naͤmlich das Verfallen der geſellſchaftlichen Ordnung, welche vor ihr beſtand. Der Geſellſchaftsinſtinkt verbietet fuͤr gewoͤhnlich den Mord; er erlaubt ihn im Krieg, er erlaubt ihn alſo fuͤr den Mann, der den Krieg anfacht, ſagen wir Napoleon. Napoleon darf morden, nicht, weil er ein beſonders hervorragender Mann iſt, ſondern weil er an einer beſtimmten geſellſchaftlichen Stelle ſteht. Raskolnikow iſt ganz Bürger, in der ruſſi⸗ ſchen Art, welche nun jede Tendenz ſofort auf die Spitze treibt. Er lebt in der Geſellſchaftsaufloͤſung, er ſieht nichts davon, daß Geſellſchaft iſt, ſon dern er ſieht nur Einzelweſen, das Einzelweſen Napoleon und das Ein⸗ zelweſen Raskolnikow. Er muß annehmen, daß Napoleon töten durfte, weil er ein hervorragender Mann war; er zieht aus dieſer falſchen An · nahme den falſchen Schluß: „Wenn ich auch töten darf, dann bin ich alſo

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auch ein hervorragender Mann“; und um ſich den Beweis zu führen, daß er ein bedeutender Mann iſt, toͤtet er. Er iſt aber bloß ein Menſch, wie ſo viele andere Menſchen auch, ein guter Kerl, mit ſehr empfindlichen Ner⸗ ven, ſcharſſinnig, von jenem Scharfſinn, der mit Inſtinktloſigkeit verbun⸗ den iſt, empfindſam, und ſo ziemlich das Gegenteil von dem, was man als Serrennatur bezeichnet. Naturlich brechen nach der Tat feine Nerven 3u- ſammen; das Gewiſſen zeigt ſich als Derfagen feiner Nerven; und daraus entwickelt ſich denn, als Rettung aus der Angſt, der Glaube an Gott.

Ich uͤbergehe Stawrogin, der zwiſchen den drei in der Mitte ſteht.

Iwan iſt die merkwuͤrdigſte Geſtalt von den dreien. Er iſt der kluͤgſte von ihnen. Er hat den ſtaͤrkſten Willen, und er hat das verletzlichſte Befübl.

Nehmen wir an, daß im Menſchen verſchiedene Schichten uͤbereinander find, dann iſt die tiefſte Schicht in Doſtojewſki die, in welcher Jwan lebt. Iwan muß man verſtehen aus einem Geſpraͤch mit Aljoſcha, in dem ſich auch die tiefe Derwandtſchaft mit Aljoſcha zeigt. Er fragt den Bruder, ob er eimvilligen würde, „den Bau des menſchlichen Schickſals in dem Be⸗ ſtreben zu errichten, um als Endergebnis die Menſchen zu begluͤcken, ihnen endlich Ruhe und Frieden zu geben“, wenn „dazu unumgaͤnglich erforder⸗ lich wäre, auch nur ein einziges, allein nur ein einziges winziges Befchöpf- chen zu Tode zu quälen, etwa jenes Kindchen, das ſich mit feiner Kleinen Fauſt an die Bruſt ſchlug ob er einwilligen würde, auf jenen ungefühn- ten Tränlein dieſen Bau zu gründen?“ Aljoſcha erwidert: „Nein, ich würde nicht ein willigen.“ |

Als Knabe beobachtete ich einmal, wie jener Käfer, den wir „Bold- ſchmied! nennen (Carabus auratus L.) einen Maikaͤfer ausfraß. Er hatte ſich auf dem Rüden des Gpfers feſtgeklammert, hatte da, wo die zwei Fluͤgeldecken oben zuſammenſtoßen, durchgebiſſen, und weidete das lebende Tier nun von dorther aus; er hatte ſich ſchon ganz tief hineingefreſſen und wohl ein Drittel der Weichteile verzehrt; der Maikaͤfer lebte aber noch und kroch vorwärts, indem er feinen Peiniger auf dem Rüden mit ſich ſchleppte.

Ich hatte damals den fuͤrchterlichſten Eindruck von den Leiden des ge- quaͤlten Tieres; es war das erſtemal, daß mir durch dieſen Vorgang in der Natur, der ſich ja in jeder Sekunde millionenfach ereignet, ein Blick auf die uns für gewöhnlich gluͤcklich verborgene Nachtſeite des Lebens wurde, wir wuͤrden ja wahnſinnig werden, wenn alle gequaͤlten Maikaͤfer eine Stimme haͤtten und ihr Leid ausdruͤcken konnten.

Nun, heute weiß ich, daß der Knabe ſich ſelbſt in den Maikaͤfer hinein; fuͤhlte, daß alle Vorgänge ſolcher Art ganz anders find, als der Mitfuͤhlen⸗ de meint. Der Knabe unterliegt wehrlos feinem Gefuͤhl. Der Mann, wel- cher Zucht hat, muß fein Gefuͤhl durch feine Einſicht berichtigen.

was zwiſchen den beiden Kaͤfern geſchah, iſt dasſelbe, was geſchieht, wenn Schwefelſaͤure auf kohlenſauren Kalk gegoſſen wird. Die Atome bil- den neue Gruppen. Bei den Kaͤfern iſt der Vorgang mit Schmerz verbun-

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den, weil fie Nerven haben, welche die Empfindungen in das Gehirn lei ten. Aber bedeutet dieſer Schmerz denn etwas, das dem aͤhnlich iſt, was wir in unſerem Mitleid meinen? Der Käfer fůhlt ſich doch nicht als ein ſelbſtaͤndiges Weſen; es iſt nur Schmerz da; iſt dieſer Schmerz etwas an⸗ deres als das Ziſchen des kohlenſauren Kalks?

Je höher das Lebewefen ſteht, deſto bewußter iſt es, deſto mehr kommt der Schmerz zum Bewußtſein, und auf der Höhe der Stufenleiter wird er zum Zeid.

Wie? Aber wenn er zum Leid geworden iſt, dann findet ja doch ſchon eine Umſetzung ſtatt: dann iſt eine Taͤtigkeit des Menſchen vorhanden, welche mit dem Schmerz etwas Neues macht. Schmerz und Leid ſind im Weltzufammenbang ; die Würde des Menſchen beſteht darin, daß ſich ihm Schmerz in Leid verwandelt, daß er dadurch ſeeliſch etwas Soͤheres wird als das Weſen, welches nur Schmerzen empfindet.

Es gibt ſchon Tiere, welche Leiden empfinden konnen, und die Menſchen ſtufen ſich danach ab, in welchem Maß ſich ihnen Schmerzen in Zeiden verwandeln, bis ſchließlich die Schmerzen bedeutungslos, ja, nach manchen Behauptungen, ungefůhlt werden und nur noch die Leiden bleiben.

Was iſt das nun für ein Ziel, die Menſchen zu „beglůcken und ihnen Ruhe und Frieden zu geben”, die Schmerzen auszulöͤſchen und die Leiden zu ver- nichten? Es iſt das Ziel, welches Sozialismus und Kommunismus haben, die nur Folgerungen der bürgerlichen Geſellſchaft find, welche ohne den Gedanken an Gott nur die einzelnen Menſchen ſieht und als deren Zweck ſich nur das Gluͤck denken kann; das iſt auch das Ziel des Großinquiſitors fuͤr ſeine Menſchenherde.

Wir kommen nicht heraus aus einem Kreis: Doſtojewſki lebt in der ent- gotteten buͤrgerlichen Geſellſchaft, und denkt und fuͤhlt, wie Einer denken und fuͤhlen muß, wenn er in ihr lebt; wie er ſogar den Großinquiſitor denken und fuͤhlen laͤßt, trotzdem er in der Schillerſchen Geſtalt ein ganz unbuͤrgerliches Bild vor ſich hatte.

Das iſt alſo ſein dichteriſches Erlebnis: er hat die letzte Schlußfolgerung der bürgerlichen Geſellſchaft gezogen, bis er zur völligen Zerſtoͤrung der Geſellſchaft uberhaupt kam. Er iſt der Nihiliſt, der, indem er den Nihilis⸗ mus bekaͤmpft, ihn nur aus feiner Plattheit heraus hebt und feine tiefften Wurzeln zeigt: die Vereinzelung der Menſchen, die Gottloſigkeit und den Gluͤcks hunger.

Das hat er erlebt. Und nur was einer erlebt hat, das kann er als Dichter darſtellen. Dargeftellt hat Doſtojewſki nur den vertieften Nihilismus.

Aber er hat etwas anderes erſehnt. wenn wir dialektiſch ſpielend ſprechen wollen: im volligen Zuſammenbruch der alten Geſellſchaft muͤſſen fich die erſten Grundlagen der neuen zeigen. Das Sehnen Doſtojewſkis nach diefen wird von unſerer Zeit, die nun heute mit ihrem Erleben fo weit iſt, daß fie den bedeutenden Dichter verſtehen kann, inbruůͤnſtig aufgenommen

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und als eine Erfuͤllung betrachtet. Und das iſt die furchtbare Gefahr Doſto⸗ ſewſkis: er kann uns auf falſche Bahnen leiten.

Ich ſpreche nun als Dichter, der weiß, wie der Vorgang des Dichtens iſt. Alles, was aus der Sehnſucht geſchaffen wird, bleibt ſubjektiv, druckt im- mer nur den geiſtigen Gehalt des Dichters aus und niemals etwas außer ihm Vorhandenes, auch wenn es ſich als ſolches verkleidet. Dichtung aus Sehnſucht iſt Romantik. Die Darſtellung des alten Raramaſow iſt klaſſiſch; die Aljoſchas und Myſchkins iſt romantiſch; und wie die Romantiker am Anfang des 19. Jahrhunderts, die ins Mittelalter flüchteten, nur ein kon⸗ ventionell verſchoͤnertes Kleinbuͤrgertum darſtellten, fo ſtellt der apoka⸗ lyptiſche Romantiker der Untergangszeit nichts weiter dar, als ein ver⸗ ſchoͤnertes Verfallsergebnis. Wobei natuͤrlich nicht vergeſſen werden muß, daß dieſe Darſtellung dichteriſch ſchwaͤcher fein wird, als die klaſſiſche Dar⸗ ſtellung; denn dieſe „Verſchoͤnerung“ iſt eben nur Verfaͤlſchung.

Nun mache man ſich vor allem klar, daß beide Helden, Myſchkin und Al- joſcha, außerhalb der menſchlichen Beduͤrftigkeits beziehungen ſtehen. Der eine iſt geiſtig nicht vollwertig und iſt vermoͤgend; er wird nicht ganz ernſtge⸗ nommen, er hat kein bürgerliches Ziel, und kann immer einen Scheck auf ſeine Bank ausſchreiben, braucht alſo nicht eine Arbeit zu leiſten, durch welche er das Leben anderer durchquert. Und der andere iſt ein junger Mann, gleichfalls ohne geſellſchaftliche Ronſequenzen, der einmal Moͤnch werden will und die Süße unter feines Vaters Tiſch ſtreckt. Sie brauchen nicht zu handeln, ſondern fie muͤſſen nur reden und fühlen.

Das iſt aber nun ſchon der erſte Saken.

Bekanntlich hat die katholiſche Kirche einen ſcharfen Schnitt gemacht: der eigentliche Chriſt iſt der Moͤnch, deſſen Weſen darin beſteht, daß er aus den Verbindungen der bürgerlichen Geſellſchaft losgeloͤſt iſt. Wer „in der Welt” lebt, der kann unmöglich die Gebote des Chriſtentums erfüllen. Das iſt, wie immer im Katholizismus, richtig gedacht. Der Proteſtantismus wollte bekanntlich die Askeſe in die buͤrgerliche Welt verlegen und glaubte, daß jedes Mitglied der bürgerlichen Geſellſchaft ein Seiliger werden koͤnne; das Ergebnis war die kapitaliſtiſche Geſellſchaftsordnung.

Sier liegt nun aber die Aufgabe: eine richtigere Löfung zu finden, als der Proteſtantismus ſie gegeben hat.

Dieſe Aufgabe ſtellt ſich Doſtojewſki, wie wir ſahen, nicht. Er kann alſo auf keinen Fall über die katholiſche Froͤmmigkeit hinauskommen. Die haben wir ſchon laͤngſt, und fie iſt in ausgezeichneter Welſe durch vorzuͤg · liche Menſchen vertreten. Aber was kann ſie uns bedeuten, die wir in einer wilden Welt leben muͤſſen und in ihr Bott behalten wollen?

Es iſt aber ſchon angedeutet, daß auch in dieſer Beſchraͤnkung: daß Do- ſtojewsſki nichts gibt, was die katholiſche Kirche nicht ſchon laͤngſt ge- geben hat, Doſtojewſkis Gedanken daher ſehr zweifelhaften Wertes ſind.

Aljoſcha gibt ſeinem Bruder recht in der Bewertung der Traͤnen eines

176 - Paul Een

Kindes. Er gibt alfo Gott unrecht, der die Kindertraͤnen mit in die Dor- ausſetzungen ſeiner Welt einbezieht. Er iſt alſo kein Glaͤubiger, denn der Glaͤubige hat erlebt, daß Gottes Wille richtig iſt. Er iſt ein empfindſamer Wihlüiſ, wie ſein Bruder, wie der Großinquiſitor.

Wir wollen bei Myſchkin einmal nur betrachten, was er eigentlich tut. Denn das Handeln eines Menſchen offenbart fein Weſen, nicht feine Worte. Er iſt bemuͤht um die „Seelenrettung” der Naſtaßja.

Was ift aber Naſtaßja? Naſtaßja iſt von einem Schurken in unwiſſen⸗ den Jahren verführt. Das iſt ein Schickſal, welches ihr Leben beſtimmen muß. Aber wie es ihr Leben beſtimmt, das iſt nun ihre Sache. Der Schurke ſtellt ſich als ganz laͤppiſcher, platter Menſch heraus. Was er ihr angetan, das iſt grundſaͤtzlich nichts anderes, als was ein Ziegel ihr antun wuͤrde, der ihr auf den Kopf fälle, wenn fie auf der Straße vorbeigeht. Es iſt ihre Sache, was fie mit der Krankheit beginnen wird, welche ihr von dem all des Ziegels zuruͤckbleibt. Sie gefaͤllt ſich darin, durch dieſes Schickſal zer⸗ ftört zu werden. Gut. Das mag fie. Aber das iſt dann ihre Sache.

Es kommt ja ſehr ſelten vor, daß man einmal einem anderen Menſchen helfen kann. Der Gottglaͤubige wird helfen. Aber ein ſolcher ſeltener Fall liegt hier nicht vor. Der Naſtaßja iſt nicht zu helfen; denn ſie will ja nun eben das ſein, was ſie iſt; und gegen ſeinen Willen kann man die „Seele“ eines Menſchen nicht „retten“. Naſtaßjas Fall iſt ganz Har; fie gehoͤrt zu jenen ſeeliſch Kranken, welche immer andere erniedrigen muͤſſen, weil fie ſich ſelber beweiſen wollen, daß fie einen Wert haben; fie iſt ein Dirnen; typus; und zwar ein richtig beobachteter und dargeſtellter, waͤhrend mir die Sonja des Raskolnikow nicht glaubwuͤrdiger erſcheint, als die Camelien ; dame. Die Bemuͤhungen Myſchkins find ganz zwecklos und muͤſſen zweck⸗ los ſein. Soll ich die Sinnloſigkeit als Löfung für die Kaͤtſel des Lebens annehmen?

Wie die Kindertraͤnen Jwans nur empfindſam oberflaͤchliche Vorſtellun⸗ gen ſind, ſo iſt auch das Schickſal der Naſtaßja oberflaͤchlich aufgefaßt. Es muß immer eine Oberflaͤchlichkeit herauskommen bei der Einſtellung Do- ſtojewſkis. Das Wefentliche iſt nicht das zufällige aͤußere Erlebnis, ſondern die Gegenwirkung des Erlebenden. In Naſtaßja ſteckte die Dirne; ſie wurde durch die Tat ihres Verfuͤhrers bloß frei gemacht; und Rindertränen find denn doch wohl nicht das Soͤchſte von Leid; das wird bezeichnet durch den Ausſpruch Chriſti am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, weshalb haſt du mich verlaffen.” Doſtojewſki ſteht einfach auf dem Standpunkt des bür- gerlichen Nihilismus, der nur die Dinge und die Erſcheinungen ſieht, aber nicht ihre Bedeutung fuͤr den Menſchen: die Dinge und die Erſcheinungen, wie man fie allein ſehen kann: ſubjektiv, als Empfindungen und Wahr⸗ nehmungen des Sehenden.

Doſtojewſti und wir 177

enn die poſitiven Geſtalten Doſtojewſ kis nichts find, als bürgerlich eingeſtellte Menſchen, die denn noch dazu an die eigentlich geſtellte Aufgabe gar nicht gehen: den Alltag religiös zu machen; iſt die Loͤſung der Aufgabe auf dem Boden der bürgerlichen Geſellſchaft uͤberhaupt moͤglich?

Aus dem Geſagten ſcheint mir her vorzugehen, daß die Aufgabe, die Do⸗ ſtojewſki ſich ſtellt, gar nicht ruſſiſch iſt und feine Loͤſung auch nicht. Es handelt ſich lediglich um die Aufgabe, welche der Proteſtantismus geſtellt und ſchlecht geloͤſt hat; der Proteſtantismus, der im Weſentlichen germa ; niſch, jedenfalls nicht ruſſiſch iſt.

Der Proteſtantismus iſt die bürgerliche Form der chriſtlichen Religion. Er iſt mit dem Buͤrgertum entſtanden und druͤckt ſeine Triebe aus: die Triebe auf Vereinzelung. Wie, wenn auf dem Boden der bürgerlichen Ge⸗ ſellſchaftsordnung uͤberhaupt keine andere Löfung möglich iſt, als die des Proteſtantismus; und wenn die Kriſis des Proteſtantismus bloß die reli · giöfe Form für die Kriſis der bürgerlichen Geſellſchaft iſt? Wie, wenn die Aufgabe auch nur eine Aufgabe der buͤrgerlichen Geſellſchaft iſt; und gar keine Loͤſung kommen kann, ſondern mit neuen Grundtrieben der Menſch⸗ heit eine neue Form der Geſellſchaft und eine neue Form des religiöfen Le⸗ bens moglich werden wird? Wie, wenn Doſtojewſki alſo nicht der erſte der Zukunft, ſondern der letzte der Vergangenheit iſt?

Es wird heute vielleicht Manchem klar, daß das Proletariat nichts Neues zu geben bat, ſondern nur die abgelegten Gedanken des Buͤrger⸗ tums gewiſſenhaft auftraͤgt. Wie, wenn die Sendung des heiligen Ruß⸗ land nicht wäre, ein neues Licht aus dem Oſten zu bringen, wie glaͤubige Gemuͤter annehmen, fondern nur, gewiſſenhaft die letzten Schluͤſſe aus den Vorausſetzungen des faulen Weftens zu ziehen?

Wir fanden am Anfang unſerer Unterſuchung, daß Doſtojewſki glaubt, er kann „die Wahrheit“ finden und offenbar die Vorſtellung hat, daß eine abſolute religidfe Wahrheit irgendwo ſteckt. Es wurde ſchon gefagt: „Die wahrheit“ gibt es nicht. Wir haben das Diesſeits, das in das Jenſeits ein⸗ gebettet iſt. Unſer Leben hat nur dadurch einen Sinn, daß es mit dem Jen; ſeits zuſammenhaͤngt, daß es bildlich ausgedruckt das ſekundenlange Auf blitzen einer Welle iſt, deren Anfang und Ende uns ewig dunkel fein wird. Nur dieſe Tatſache: daß das Diesſeits ins Jenſeits eingebettet iſt, iſt abſolut. Alles andere iſt ewig wechſelnder geſchichtlicher Vorgang. Der vorchriſtliche Chriſtus und der Chriſtus der Evangelien, das Chriſtentum der katholiſchen Kirche in den aufeinander folgenden Jahrhunderten, und der Proteſtantismus: fie find nicht „die Wahrheit“, ſondern find geſchicht · liche Erſcheinungen. Wenn wir heute, in der Kriſis der Menſchheit und im Zuſammenbrechen aller hoͤchſten Guͤter, nach Religion ſuchen, fo dürfen wir nicht etwas Abſolutes erwarten, ſondern eine Form fuͤr unſeren Glau⸗ ben, welche den neu ſich bildenden Juſtaͤnden der Menſchheit angemeſſen iſt. Dieſe kennen wir nicht. Deshalb koͤnnen wir auch von der neuen Religion Cat Vm 13

178 paul Sernft

nichts wiſſen. Der Glaube an einen ſogenannten Religionsſtifter iſt Un- ſinn. Eine Religion wird nicht geſtiftet, ſondern fie bildet ſich aus der menſchheit; wenn man den Ausdruck richtig verſtehen will: Gott offen- bart ſich nicht einmalig, ſondern dauernd; er offenbart ſich in Propheten und Zehrern, in feinen Söhnen : aber nicht fo, daß er da als eine greifbare Wirklichkeit erſcheint, wie es Stuhl oder Tiſch iſt; denn was wir Wirklich; keit nennen, Stuhl oder Tiſch, das iſt ja nur unſere Erſcheinungswelt; ſondern fo, wie die Zeit ſich ihn vorſtellen kann und wie fie ihn für ihre Auf gaben braucht.

Wie ſie ihn fuͤr ihre Aufgaben braucht: das muß man feſthalten, wenn man etwas Greif bareres haben will, als dieſe allgemeinen Worte.

Da wir die kommenden Aufgaben noch nicht kennen, ſo vermoͤgen wir nichts Poſitives über den kommenden Glauben zu fagen. Aber wir koͤnnen jedenfalls ſagen, was er nicht iſt: er iſt jedenfalls unbuͤrgerlich.

Aber das Fuͤhlen Doſtojewſkis iſt ganz buͤrgerlich.

Iwan Raramaſow, welcher die tiefſte Schicht von Doſtojewſki verkoͤr · pert, dreht ſich mit feinen Gedanken um das Leiden und findet hier keine oͤſung. Die Theodicee iſt tatſaͤchlich auch unmöglich, denn es liegt bei ihr einfach eine falſche Srageftellung vor. Wenn das Gluͤck des einzelnen nicht der Zweck der Welt iſt, fo hat die Frage nach feiner Luft und feinem Leid offenbar gar nichts mit der Religion zu tun. Gott iſt nicht gerecht. Er iſt auch nicht ungerecht. Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit liegen außerhalb feines Kreiſes. Wenn ein Menſch leidet, fo handelt es ſich religids nur darum, was er für ſich mit feinen Leiden anfaͤngt; und wenn man fo fragt, dann ſieht man wohl ein, daß die Luſt ſchließlich denn gefaͤhrlicher iſt, als das Leid.

Raskolnikow iſt die Derförperung von Doſtojewſkis oberſter Schicht. Er will ſich beweiſen, daß er „dein Stift“ iſt, und bildet ſich ein, daß kann er durch den Nachweis, daß er ein „Napoleon“ iſt. Aber den „Napoleon“ Raskolnikows gibt es nicht: es gibt nur den Mann, der mit genialem Ver⸗ ſtand, außerordentlichem Willen und ungeheurer ſeeliſchen Plattheit in einem gewiſſen geſchichtlichen Zuſtand geſtellte Aufgaben löfte. Napoleon hätte ſich ſelber auch als „Stift“ auffaſſen konnen, und bei feinem nuͤchter⸗ nen Verſtand hat er es wahrſcheinlich oft getan. Ob man ein „Stift“ iſt, oder ob man „frei“ iſt, das iſt Sache des Glaubens, und nichts weiter. Des- halb iſt die Aufgabe falſch geſtellt, daß man ſich da etwas beweiſen koͤnne.

‚Wenn die Gedanken der Theodicee und die Verſchiebung der Freiheit aus dem Glauben und Fuͤhlen auf ein inhaltlich beſtimmtes Gebiet Ergebniſſe des bürgerlichen Denkens find, die denn ſchließlich zu dem angeblich gegen ; buͤrgerlichen Rommunismus führen, fo find auch die anderen Vorſtellun⸗ gen, die, welche ſich um „das Volk“ drehen, buͤrgerlicher Art.

In fruͤheren Zeiten meinte man mit dem Wort „Volk“ denjenigen, zah⸗ lenmaͤßig ganz kleinen Teil der Menſchen eines beſtimmten Landes, welche

Doſtojewſti und wir 179

den Verſtand, die Erfahrung und die Stellung hatten, um beſtimmen zu koͤnnen, was geſchehen ſollte. Was im Volk vorging, das waren Vorgaͤnge in dieſem Kreis. Das Wort deckt heute zwei ganz andere Begriffe: es meint entweder die ganze Maſſe der Menſchen eines Landes, oder den zahlen⸗ mäßig größten Teil, die Leute, welche mehr oder weniger unſelbſtaͤndig mit der Sand arbeiten. Es kommen viele Irrtümer daher, daß man ſich dieſen Begriffs wandel nicht klar gemacht hat.

Das Chriſtentum iſt nicht eine Hare und eindeutige Lehre, ſondern ein geſchichtlicher Vorgang. Wir ſahen ſchon, daß die erſten Ideen auf den Soͤhen des Geiſtes lebten, daß dann eine Bildung im unteren Volk vor ſich ging, und daß dann, indem ſich die Kirche entwickelte, eine Reinigung von volksmaͤßigen Beſtandteilen vorgenommen wurde; es kam ja denn bis zur Aufgipfelung, ſagen wir 950— 1250, wo ein geiſtliches Serrſchaftsgebilde entſtand. In den alten Urkunden, welche das Chriſtentum, wie jede Reli» gion, konſervativ mit ſich ſchleppt, find naturlich Uberbleibſel aus der Zeit vorhanden, in welcher das Chriſtentum Glaube des niederen Volkes war. Wenn in feiner Geſchichte wieder Zeiten kommen, wo das niedere Volk vor- herrſcht, fo werden dieſe hervorgeholt. So geſchah es in der Reformations ; zeit. So geſchieht es auch heute, wo die Pſeudo ⸗Serrſchaft des Buͤrgertums ſich auflöft und die unterſten Schichten vorbrechen.

Es entſteht dann immer eine Idealiſierung dieſer unterſten Schichten. Sie beginnt in Europa mit der Romantik; und die panſlawiſtiſche Be⸗ wegung, die Volksidealiſierung Doſtojewſkis iſt lediglich Ergebnis der europaͤiſchen, zuletzt in den deutſchen Erlebniſſen in der Napoleoniſchen Zeit geſtalteten Romantik, wie auch die Sochſchaͤtzung des Proletariats bei der Sozialdemokratie hier ihre Anfaͤnge hat.

So muß man die Verbindung von Religion und Volk, von der dann die Ver⸗ bindung von Religion und Jugend eine Folge iſt, bei Doſtojewſki verſtehen.

Ihre Art wird deutlich durch ein kleines Beiſpiel.

Die Kriminaliſten wiſſen, daß Leute aus dem Volk, wenn fie unſchuldig angeklagt find, unter der Wucht der ſcheinbaren Beweiſe oft zufammen- brechen und ein Verbrechen geſtehen, das ſie gar nicht begangen haben. Das kommt daher, daß Ausdauer und Kraft in den unteren Schichten na⸗ turgemäß geringer find, als in den hoheren.

Bei einem Volk wie das ruſſiſche, wo von hoͤheren Ideen lediglich die von der Kirche verbreiteten vorhanden ſind, geht ein ſolcher Zuſammenbruch denn natuͤrlich unter der Begleiterſcheinung eines religiöfen Gedankens vor ſich: „Ich will das Leid auf mich nehmen“ oder derartiges.

Das faßt Doſtojewſ ki nun wörtlich auf und betrachtet ſolche Vorkomm⸗ niſſe als Zeichen der tiefen Religioſitaͤt des ruſſiſchen Volks; ohne zu wiſ⸗ ſen, daß dergleichen uͤberall beobachtet wird.

Naturlich iſt die hoͤhere Geiſtigkeit nicht an die hoͤheren Stände gebun- den. Aber wenn ein Mann aus dem Volk höhere Geiſtigkeit hat, fo gehoͤrt

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180 Paul Ernſt, Doftojewffi und wir

er eben nicht mehr zum niederen Volk. Jakob Böhme war Schuſter. Aber nicht alle Schuſter find Jakob Böhme. Wenn Doſtojewſki im handarbei tenden Volk die Kraft zur Wiedergeburt ſieht, dann meint er nicht Jakob Boͤhme, ſondern er meint die anderen.

Auch in Deutſchland iſt ja die Romantik von der beſonderen religiöfen Begabung des niederen Volks anzutreffen. Ein Theologe, Univerfitäts- lehrer, erzählte mir einmal ſchwaͤrmeriſch, welchen Troft es ihm gewährt habe, als ihm bei einer Gelegenheit „ein ſchlichter Mann aus dem Volk“ die Strophe vorgeſagt habe, welche beginnt:

„In allen meinen Taten laß ich den Soͤchſten raten.“

Ich haͤtte ihm antworten koͤnnen, daß ein Mann in feiner Stellung frei lich ſolche Troͤſtungen nicht noͤtig haben duͤrfte: aber ſo etwas ſagt man ja denn wohl aus Soͤflichkeit nicht.

Es iſt mit dieſen Dingen, wie mit allem Geiſtigen: wenn ſie ins Volk dringen, dann werden ſie mit einer gewiſſen Gefuͤhlsinbrunſt aufgefaßt, die ſich aus der geringen Staͤrke von Verſtand und Willen ergibt; fie wer- den vereinfacht, vor allem fuͤr die perſoͤnlichen Beduͤrfniſſe des einzelnen; und dann kann es geſchehen, wenn die oberen Schichten im Lauf der Zeit nichtig werden, daß der eine oder andere aus ihnen ſchließlich erſtaunt iſt, im einfachen Volk lebendigen Geiſt zu ſinden. Das ſagt nichts fuͤr das Volk, ſondern nur alles gegen die derzeitigen oberen Staͤnde.

Schoͤpferiſche Begabung hat nur der einzelne. Wie die ſogenannte

Volksdichtung ein Unſinn iſt, fo iſt es ein Unſinn, aus dem niederen Volk eine neue Religioſitaͤt zu erhoffen. Und wie mit dem niederen Volk, ſo iſt es auch mit der Jugend. Welcher Unſinn, daß ein Juͤngling wie Aljoſcha nun als Vertreter der neuen Reli⸗ gion gelten ſoll! Er iſt ein Schüler ; der Schüler eines Moͤnchs; fo etwas hat es immer gegeben und wird es ja wohl auch immer geben; aber ein neuer Glaube wird von anderen Zeuten geſchaffen: von den Männern und den Alten.

Was Doſtojewſki im niederen Volk ſieht, was durchaus ſchoͤn und ach tungswert iſt, das iſt denn doch alles mit bürgerlicher Empfindſamkeit ge- ſehen. Moͤglich, daß es fo iſt: die bürgerliche Mechaniſierung, welche den menſchen, der ihr unterliegt, zu einem „Stift“ macht, bewirkt naturgemäß eine ſolche Empfindſamkeit. Denn der Stift, wenn er denn nun einen le bendigen Bauern vor ſich hat, der zwar eben nur ein Bauer iſt, aber immer · hin doch ein Menſch und kein „Stift“ muß er nicht den Schluß ziehen: „alſo liegt im Volk die eigentliche Kraft der Menſchheit, muß aus dem Volk die Rettung kommen?“

Ach nein: ſo einfach, ſo idylliſch harmlos ſind die großen Geſchehniſſe der Menſchheit nicht.

Im Großinquiſitor glaubt Doſtojewſki einen Mann dargeſtellt zu haben etwa wie Gregor VII. war. Er hat aber nur einen Vertreter des wohl⸗

Eliſabeth Buffe-Wilfon, Zur National - Pſvchologie des Bolſchewismus 181

wollenden Polizeiſtaats dargeſtellt, etwa einen Mann wie Friedrich den Großen: ein großer Mann in ſeiner Art, aber ein Mann, der ganz in den Grenzen der Buͤrgerlichkeit lebt; der eben „der erſte Beamte feines Staates“ iſt. Doſtojewſki kann mit feiner Vorſtellungskraft nicht über die Grenzen des Bürgertums hinausgehen.

Von Gregor VII. ſagt Petrus Damiani „Du biſt ein heiliger Satan“. Der bedeutende Mann hatte woͤrtlich recht: Gregor war ein Seiliger und ein Teufel. An das Ausmaß eines ſolchen Mannes reicht auch ein Friedrich nicht hinan. Und ſolche gewaltige Naturen ſind es, welche Gott ſchickt, wenn feine großen Pläne verwirklicht werden ſollen: ſolche Naturen fin den ſich in dem gedichteten Lebenswerk Doftojewffis nicht.

Eliſabeth Buſſe⸗Wilſon Zur National⸗Pſychologie des Bolſchewismus

Die Staats moral

er Geſchichtsſchreiber hat wohl zu unterſcheiden, ob man den vor- Deren oder den gemeinten Sinn eines Ereigniſſes deuten will.

Voͤlker, parteien und Stände kaͤmpfen oft jahrhundertelang um eindeutige Ziele und bewirken am Ende ein ganz anderes Ergebnis, als ſie es ſich geſtellt hatten. Der geheime Wille, der den Kaͤmpfern unbewußt ans Licht drängte, benutzte ihre Leidenſchaften und Zielſetzungen beinahe nur. Alle Kämpfe der Menſchheit find unbewußte Diverfionsgefechte.

Am Feldzuge des Bolſchewismus ſtoͤrt den Weſtlaͤnder vor allem der innere taktiſche Widerſpruch, daß eine ſoziale Revolution mit radikaler Wandlung der Sozial und Beſitzverhaͤltniſſe die Maſſe des werktaͤtigen Volkes nicht etwa autonom machte, ſondern in die Rolle dauernd bevor- mundeter Untertanen brachte. Er fuͤhlt ſich vor allem befremdet, daß die Sübrer der ruſſiſchen Revolution, die vorgeben, ihr Land, ja ganz Europa in einen welthiſtoriſchen Umwandlungsprozeß zu verſetzen, mit flachen intellektualiſtiſchen Ideologien ihr Volk zu einer Weltmiſſion zu erziehen trachten. Ein weſtliches Lehngut von ganz jungem geiftigen Alter, der Marxismus, wird als Auf klaͤrungszauber auf die Maſſen des geiſtig leeren und ungebildeten Bauernvolkes ausgeůbt. Den einzigen moraliſchen und ſeeliſchen Salt, den es hatte, feine primitive baͤuerliche Religiofität, nahm man ihm mit ruͤckſichtsloſer Gewalt. Welch eine Inſtinktloſigkeit, welch ein Mangel ſchoͤpferiſcher ſtaats · und volksbildender Vorausſicht ſchien dieſe Politik zu verraten!

182 Eliſabeth Buſſe · Wilſon

An die Stelle der chriſtlichen ruſſiſchen Theokratie wurde die marxiſtiſche ehre geſetzt, die beſagt, daß es oberſtes Gebot und erſte Aufgabe fei, die wirtſchaftlichen Umſtaͤnde des Einzelnen, der Geſellſchaft, des Staates zu geſtalten, umzuwandeln und zu meiſtern. Die geiſtigen und ſittlichen Le⸗ bensformen (alſo die eigentliche Rultur) würden organiſch aus der vernunft gemäß organifierten Wirtſchaft herauswachſen. Diefer unbefangene Ratio- nalismus, der in Sorm der ſozialiſtiſchen Theorie zur Staatsreligion er- klaͤrt wurde, wird in der Stadt und im Dorfe, in der Armee und im Be⸗ amtentum durch Wanderprediger und Studenten, vor allem durch Bild und plakat den Untertanen eingepraͤgt. Es ſcheint, daß der Marxismus für die naͤchſte Zeitſpanne die geiſtige Vorſtellungswelt der Ruſſen ausfüllen werde. Die Jugend beſonders lernt keinen anderen Katechismus als den des kommu⸗ niſtiſchen Manifeſtes.

Der wuͤtende und in den erſten Jahren nach der Revolution auch band- greiflich brutal gefuͤhrte Rampf gegen die Religion und gegen die Kirche iſt zunaͤchſt begründet in der raſſenmaͤßigen Feindſchaft zwiſchen Revolution und Religion ſchlechthin. Denn jede Staats · und Geſellſchaftsordnung nimmt, um ſich moraliſch zu rechtfertigen und zu halten, die Protektion Gottes und der jeweiligen Landesreligion in Anſpruch. Wenn nun mit einer Revolutionswelle ein neuer Staats und Geſellſchaftswille empor ; kommt, fo muß er mit innerer Notwendigkeit religions · und kirchenfeind⸗ lich ſein. Der Geiſt jeder Revolution ſieht aber inſonderheit die chriſtliche Kirche als Todfeindin an, weil ſie den Ausuͤbern der ſtaatlichen Gewalt und der geſellſchaftlichen Machtſtellungen das gute Gewiſſen verleiht, die ſozia⸗ len Ungerechtigkeiten, die Gott ja ſelbſt ſchuͤtzt, weiter beſtehen zu laſſen. Das Chriſtentum hat, trotz feiner Lehre von der Gleichheit aller Menſchen das Rechtsbewußtſein der jeweils beſitzenden Klaſſen geſtaͤrkt. Da die berr- ſchenden Schichten zugleich auch im Beſitze der ſtaͤrkſten Machtmittel ſind und Gott immer mit den ſtaͤrkſten Bataillonen iſt (denn noch nie hat ein ſtarker Gott auf Seiten der ſchwachen Parteien geſtanden), mußte in den jungen Eroberergenerationen, die mit einer Revolution emporkommen, ein Urhaß gegen die furchtbare Symbioſe von Staat und Kirche entſtehen. Denn die unter dem Schutze Gottes gefaͤllten politiſchen Entſcheidungen und Kriege find ja die teufliſchſten, weil unangreif barſten Machtausuͤbun⸗ gen einer Staatsgewalt. Religion verdirbt allzu haͤufig den Charakter des Einzelmenſchen, wieviel mehr ſollte fie nicht den Charakter eines Kollek; tivwillens, wie es der Staat darſtellt, verbiegen. Jede Religionslehre er- zeugt in ihren Anhaͤngern das Bewußtſein, daß ſie als die Gehorſamen und Getreuen auch die Gerechten und Erwaͤhlten find. Der Glaͤubige iſt immer auch der von ſeinem Gott Beſchuͤtzte und Ausgezeichnete. Gott iſt mit denen, die ſeine Gebote tun. Mit denen von der anderen Partei iſt er nicht.

Das Bewußtſein des Glaͤubigen, daß Gott fuͤr ihn iſt, erſchließt einmal den tiefſten Quell · und Seinspunkt der Religion und gleichzeitig eine große

Zur National · Pſychologie des Bolſchewis mus 183

moraliſche Gefaͤhrlichkeit. Wenn die große Religiofität das göttliche Selbſt⸗ bewußtſein des Menſchen erzeugt und die nur dem Begnadeten zugaͤngliche Verbundenheit mit Gott, fo führt die Erlöͤſungsgewißheit ebenſo leicht zur ethiſchen Selbſtgenuͤgſamkeit. Denn jede Religionsausuͤbung ſchlaͤfert wenn ſie zur Gewohnheit wird das Gewiſſen ein. Gott aber iſt ja, ſeiner ethiſchen Funktion nach auf Seiten des beſtehenden Staates und der be⸗ ſte henden Geſellſchaftsordnung (fie würde ja ſonſt trotz einem Wald von Bajonetten nicht beſtehen !) und darum iſt dieſe auch gut.

Wenn alſo in der großen franzoͤſiſchen, wie jetzt in der ruſſiſchen Revolu⸗ tion die Kirchen in Klubhaͤuſer verwandelt wurden, hier in der Kapelle des Jakobinerkloſters die radikalſte franzoͤſiſche Revolutionsgruppe tagte, dort die ruſſiſchen Kirchen in bolſchewiſtiſche Debattierſaͤle verwandelt werden, fo find das zunaͤchſt die naturgeſetzlichen Feindſchaftsaͤußerungen zwiſchen Religion und Revolution. In Rußland jedoch hat die große Feindſchaft an- gehalten, während damals in Frankreich mit dem 9. Thermidor die Ruͤck⸗ kehr der alten Goͤtter einſetzte. Zwar fuͤhrt man ſchon lange keinen aggreſ⸗ ſiven Feldzug mehr gegen fie. Die Bedrohungen und Erſchießungen der höheren Geiſtlichkeit, die Schließung der Kirchen und Klöfter hat ausgeſetzt und die oͤffentlichen Verhoͤhnungen kultiſcher Sandlungen werden nicht mehr erlaubt. Aber an die innere Verdrängung des alten Religions und welt bildes ſetzt der bolſchewiſtiſche Staat immer noch einen guten Teil ſeiner ganzen Macht und ſeine nicht geringe propagandiſtiſche Aufklaͤrungsarbeit. Anfangs trieb die bolſchewiſtiſchen Fuhrer die Urfeindſchaft zwiſchen Religion und Revolution zum Kampf gegen die chriſtliche Staatsreligion. Aber die Fortſetzung dieſes Kampfes iſt eine Arbeit im Dienſte einer reli gionsloſen Ethik. Wenn auch unbewußt, will Sowjet⸗Rußland den Verſuch wagen, einen Staat aufzubauen ohne die Ruͤckverſicherung eines moraliſchen Gutſcheines bei Gott. Die Schoͤpfer dieſes neuen Staates ſind wie alle Staatengruͤnder durch Stroͤme von Blut gegangen, aber ſie haben nicht hinterher den Segen der Kirche auf ihr blutiges Werk herabgefleht, wie andere Eroberergenerationen. Trotzdem der neu⸗ ruſſiſche Staat auf Ge⸗ walttaten aufgerichtet wurde und feine Geſchaͤftspraxis einen nuͤchtern ⸗mac⸗ chiavelliſtiſchen Zug traͤgt, iſt die Staatsmoral ſeiner Gruͤnder in dieſem Sinne doch fauberer, wie die der alten Rulturnationen.

Die Arbeitsethik

An einem der bedeutendſten offentlichen Gebaͤude des alten Petersburg leuchten heute in großen ZCettern die Worte der bolſchewiſtiſchen Neu⸗ taufe: „Religion iſt Opium fürs Volk“. Der europaͤiſche Beobachter wird dieſe Deviſe ſehr flach und auf klaͤreriſch finden, aber die Wappenſchilder und Kampf deviſen der Menſchen find auch hier, wie fo oft, nur Ablenkungen

vom verborgenen Sinne. Wenn die ruſſiſche Regierung immer und immer wieder den einen Grundſatz

189 Eliſabeth Buſſe ⸗Wilſon

verkuͤndet und durch die Volks erziehung dem heran wachſenden Geſchlechte einimpft, daß die Bewaͤltigung der wirtſchaftlichen Aufgaben oberſtes Ge⸗ bot des Genoſſen, daß es wichtiger fei, die Induſtrie und die Landwirtſchaft zweckmaͤßig zu geſtalten, als in die Kirche zu laufen und als ideelle Weltan- ſchauungskaͤmpfe auszufechten, wie das das Buͤrgertum tut, wenn ihr gebei- ligtes Oberhaupt den Grundſatz verkuͤndete „Freiheit iſt ein Vorurteil der Intellektuellen“, ſo hat ſich der Geſchichtsſchreiber zu fragen, welche innere Abſicht ſich unter der vorgegebenen verberge. Er wird dann finden, daß der Marxis mus für den Entwicklungsſtand, in dem das ruſſiſche Volk ſich be⸗ findet keine weſtliche rationaliſtiſche Flachheit iſt, ſondern eine, den Ver⸗ kuͤndern ſelbſtverſtaͤndlich unbewußte, im ruſſiſchen Volkscharakter begründete, notwendige Erziehungsmethode.

Dem Ruſſen, dem Intellektuellen ſowohl wie dem Bauern iſt die diſzipli⸗ nierte und konzentrierte europaͤiſche Arbeitsmethode voͤllig fremd. Eine fuͤr weſtliche Begriffe voͤllig unſachliche Art des Verkehrs und Wandels herrſcht in den Miniſterien ebenſo, wie in den Werkſtaͤtten der Fabriken. Jeder Ruſſe hat das Recht, jedem Volksgenoſſen ſeine Zeit zu nehmen. Der Arbeiter ſchwatzt, lacht und ſingt bei der Arbeit, die Arbeitsintenſitaͤt ſeines weſt⸗ lichen Genoſſen koͤnnte er fi ſchwer vorſtellen. Der Kaufmann, auch der fuͤhrende Großkaufmann und Induſtrielle, braucht zur Abſchließung eines Geſchaͤftes Zeitraͤume, die den Europaͤer an die ſeltſam unſachliche Form orientaliſchen Sandelns erinnert. Der Gebildete, der Politiker durchredet die Naͤchte und die Tage, um felten zur Realiſirung einer zielſtrebigen Sandlung zu gelangen. Nach dem Urteil von Zandeskundigen kann der Ruſſe von Natur ſich noch weniger zu den europaͤiſchen exakten und ſach⸗ lichen Arbeitsmethoden trainieren, wie der Suͤditaliener. Der Lebensrhytb- mus des Ruſſen iſt kurzum der eines Volkes, das noch nicht in das Stadium der Arbeitsdifziplin und in die Verſachlichung aller Lebensinhalte, die das kapitaliſtiſche Jeitalter den weſteuropaͤiſchen Voͤlkern auferlegte, eingetre⸗ ten iſt. Auch die duͤnne Oberſchicht von Kaufleuten, Beamten und Intellek⸗ tuellen iſt befangen in Lebensformen, die ſich bei uns nur noch in rein baͤuerlichen Kreiſen abſpielen.

Die natuͤrliche Unſachlichkeit und Undiſzipliniertheit des primitiven ſo⸗ wohl wie des gebildeten Ruffen erhaͤlt von feiner nationalen und ſozialen Schickſalsbeſtimmtheit her wiederum eine tragiſche Verſtaͤrkung. Das ruffi- ſche Volk iſt ein Volk von Zeibeigenen. Zwar beſteht fie juriſtiſch ſeit einem Menſchenalter nicht mehr, aber faktiſch iſt ſie nie unterbrochen worden. Dieſes leibeigene Volk iſt nun auch der eigenen wirtſchaftlichen Initiative nie faͤhig geworden. Stets beſitzlos, immer am Rande des Exiſtenzmini⸗ mums, war die Verantwortungsloſigkeit gegeniiber dem Werk der eigenen Hände, die grenzenloſe Gleichguͤltigkeit gegenüber dem eigenen Leben, das ja keine Emanzipationsausſichten bot, ihm zur zweiten Natur geworden. Der Reſt an Vitalitaͤt und Verſtandeswachheit, den die allgemeine Zebens-

Zur National · Pſychologie des Bolſchewis mus 185

ſtumpfheit, der Schlaf und der Branntwein uͤbrig ließen, wurde abſorbiert durch die Stunden dumpfen Eingelulltſeins im weihrauchdaͤmmer der dunklen, goldſtrahlenden Kirchen. Der halbheidniſche Bilder und Reli⸗ quienkult der griechiſch katholiſchen Kirche war der moraliſche Sörderer und Vollender der dumpfen paſſiviſtiſchen Nichtstuerei der großen Maſſe des laͤndlichen Volkes.

Die ſer Unerzogenheit zur zielſtrebigen Cebenstaͤtigkeit, dieſer furchtbaren Vergeudung von Natur und Menſchenkraft ſtellt ſich im bol ſche wiſti⸗ ſchen Staatsprinzip ein neuer Imperativ entgegen: Denke und Ar⸗ beite. Immer wieder haͤmmert die Regierung ihren Volksgenoſſen ein uͤbt die rationelle Bewirtſchaftung eures Bodens, eurer Bergwerke und Forſten, laßt die bourgeoiſe Sorge um Geiſt und Religion beifeite. Labo- rare necesse est, vivere non necesse est. Eine gewaltige ethiſche Loſung hat hier der Bolſchewismus aufgeſtellt, eine Arbeitsethik, fuͤr die der Marxismus, den er ſelber mit Wort und Schrift propagiert, wie ſo oft in der Geſchichte der Menſchen, nur Deckmantel, Vorwand, Überliftung iſt. Das ruſſiſche Volk iſt mit ihm in fein Reformationszeitalter eingetreten, 100 Jahre ſpaͤter wie Deutſchland.

Keine moraliſche Ruͤckendeckung für die dumpfe Traͤgheit und tatenloſe Verantwortungsloſigkeit bietet nun die Rirche mehr. „Euer Gottesdienſt ſei die aufs beſte erfüllte Berufspflicht / das iſt das unausgeſprochene Sitten- gebot der marxiſtiſchen Staatsreligion. In einem Riefenreich, wo die Land- wirtſchaft teilweiſe noch nach Methoden betrieben wird, wie ſie in Europa im Mittelalter uͤblich waren, wo die Sochoͤfen mit Holz beſchickt werden und wo alle Bodenſchaͤtze der Erde der Sebung harren, tut in Wahrheit nur eines not: Wirtſchaft, Wirtſchaftlichkeit nach europaͤiſchen difziplinier- ten und bewußten Arbeitsmethoden. Was alſo dem Angehoͤrigen der Weſt⸗ ſtaaten als parteipolitiſches Dogma erſcheint, iſt in Wahrheit die Auße⸗ rung eines geheimen, ſtaatsbildenden Inſtinktes und was ſich als flach ⸗oͤko⸗ nomiſche Doktrin ausgibt, iſt moraliſcher Imperativ.

„Religion iſt Opium fürs Volk“, bedeutet alfo nichts anderes als dies: Rußland bereitet ſich vor, aus einem Volk Zeibeigner zu einem Volke werktaͤtiger zu werden, aus einem feudaliſtiſchen Agrarſtaat mit halb⸗ orientaliſcher Unwirtſchaftlichkeit zur Lebens und Wirtfchaftspraris des weſteuropaͤiſchen Fruͤh kapitalismus uͤberzugehen. Der Ruſſe iſt durch die bolſchewiſtiſche Revolution zum freien Bauern gemacht worden. Er ſitzt auf eigener Scholle (wenn auch nicht formal · juriſtiſch, fo doch faktiſch). Er genießt die Verwirklichung eines jahrhundertelang genaͤhrten politiſchen Traumes. Aber dieſe endlich erreichte Erfuͤllung muß er hart genug be ; zahlen durch eine Umſtellung des geſamten Zebensſtiles. Aus allen alten Lebensgewohnbeiten wird er durch die bolſchewiſtiſche Loſung grauſam herausgeriſſen. Dom Gfen ſoll er herunter, auf dem er ſonſt die Winter zu verſchlafen pflegte, er ſoll arbeiten, was er doch fruher den Weibern über-

186 Eliſabeth Buſſe · Wilſon

ließ; andauernd wird er zu Verbeſſerungen ſeines Betriebes angeſpornt. Er ſoll duͤngen und berieſeln und fremdartige neue Maſchinen anwenden, wo er ehemals in aller Selbſtgenuͤgſamkeit mit einem hoͤlzernen Pflug den Boden kratzte. Und wo einſt der daͤmmernde Frieden der Kirchen winkte und die endloſe Litanei des „Herr, erbarme dich unſer“ ihn mildtaͤtig einlullte, wird er jetzt zu guterletzt zum Erlernen von Lefen und Schreiben angehal⸗ ten und zum Beſuch von politiſchen Derfammlungen. In den alten Zeiten hatte der Ruſſe aus dem Volke auf alle Fragen immer dieſelbe Antwort „Gott mag es willen”. Dieſe Antwort befriedigte ihn, fei es, daß man ihn nach feinem Alter fragte, nach der Soͤhe feines Verdienſtes oder nach der naͤchſten Station und der Tageszeit. Jetzt ſoll er ſelber alles wiſſen und ſo⸗ gar felber alles beſtimmen. Gott und die Heiligen nehmen einem nichts, aber auch gar nichts mehr ab. Eine neue Form von Grauſamkeit, eine eu⸗ ropaͤiſche Grauſamkeit von fruͤh bis ſpaͤt zu ſchaffen, zu denken und zu ordnen legt das neue Regime mit feiner marxiſtiſchen Parole dem ruffi- ſchen Menſchen auf.

So enthuͤllt ſich der ruſſiſche Marxismus als der zweite große Euro · paͤiſierungsverſuch Rußlands ſeit Peter dem Großen. Er iſt die Rund⸗ machung eines Selbſterhaltungsgeſetzes, das dem ruſſiſchen Volkstum zu dieſer Stunde ſeiner Entwicklung das ihm Gemaͤße und Notwendige iſt. Die einfeitige Beeinfluſſung des ganzen ruſſiſchen Volkes mit den oͤkono⸗ miſchen Lehren des Marxismus erweiſt ſich alſo als eine Schutz · und Seil re des in ſchweren Übergangsnöten liegenden ruſſiſchen Volks⸗ körpers.

Wer aber nun bereit wäre, das geheime Ethos der ruſſiſchen marxiſtiſchen Propaganda zuzugeben, wird doch einwenden, daß fuͤr die Stufe des baͤuer⸗ lich naiven Menſchen, auf der ſich 75% der ruſſiſchen Bevölkerung be⸗ finden, eine religionsloſe rationaliſtiſche Volksbelehrung und Volksauf⸗ klaͤrung niemals genuͤge, um den noch unbewußten Inſtinkten und Lebens noͤten eine übermaterielle Zeitung zu geben.

Nun iſt aber der Ruſſe von I9J8 keineswegs religionslos. Eben der Mar; rxismus iſt feine Religion. Er trat an die Stelle der alten chriſtlichen Goͤtter. Sein geiſtiger Charakter mit dem chiliaſtiſchen Kern der kommenden ge- rechten Weltordnung und der Verpflichtung zum ſtaͤndigen Glaubenskrieg, die fanatiſche Ausſchließlichkeit des zentripetalen Denkens machen ihn zu einer Volksreligion catexrochen . Wohl iſt die komplizierte Scholaſtik und Propaͤdeutik der marxiſtiſchen Lehre dem einfachen Bauern und Arbeiter nicht zugaͤnglich. Aber das religiöfe Weltbild zu bauen und zu wahren, war ja immer nur ein Privileg der Theologenſchaft. Dem ruſſiſchen Volk da⸗ gegen gaben die bolſchewiſtiſchen Fuhrer als Erſatz für feinen Seiligenkult einen primitiven Seroenkult. Die Statuen der Revolutionshelden aller

» Dal. „Die kommuniſtiſche Volksreligion“ in „Stufen der Jugendbewegung“ von Eliſabeth Buſſe⸗Wilſon. (Eugen Diederichs Verlag, Jena, 1925.)

Zur National · Pſychologie des Bolſchewis mus 187

Länder und Zeiten ſtellen fie ihnen vor Augen auf die Plaͤtze der Städte und den Dorfanger. Allen voran der Eine, Gewaltige, Unſterbliche, der Gruͤn⸗ der des Reiches, Lenin. Schon zu Lebzeiten und erſt recht nach feinem Tode entſtand eine nationale Myftsgogie um ihn. Die Leninbůſte in der rot aus; geſchlagenen Ecke der Stube wird durch Abnehmen des Sutes, beim Bauer durch Bekreuzigen begrüßt. Der Serrgotts winkel der Bauernſtuben iſt nicht verwaiſt.

Die Umwertungen

om national - ꝓſychologiſchen Standort aus gewinnt auch der Rampf

Sowjetrußlands gegen die Familie eine andere Bedeutung als die eines flachen Deſtruktivismus. Die energiſchen Maßnahmen der Regie · rung, die Menſchen zu entfamilieren und ihr Leben in die Offentlichkeit zu verlegen, die Frauen und Männer, vor allem aber die Kinder in Klubs, Gemeinſchaftshaͤuſern und Schulen zu ſammeln, wird auch von wohl: wollenden Rußlandkritikern als eine monomaniſch uͤberſpitzte Aufleh nungsraſerei gedeutet. Aber was für einen Menſchen will denn der Bolſche ; wismus entfamilieren?

Der Ruſſe darin ſtimmen alle Kenner des Volkes überein nament⸗ lich der gebildete, iſt ein völlig unerzogener und undiſziplinierter Menſch. Er iſt gaͤnzlich unfaͤhig, ſich und andere zu erziehen. Die ſtarke Samilien- haftigkeit des Ruſſen förderte nur fein Caſter des Sichgehenlaſſens und des naiven Subjektivismus. Der Familienſinn des Ruffen uͤbertrifft noch den beruͤhmten Blutzuſammenhalt des Juden und mag hier wie dort dieſelbe Urſache haben: das völlige Ausgeſchloſſenſein von politifcher Wirkfam- keit. Sier die Staatenloſigkeit des Juden und dort das politiſche Entmuͤn⸗ digtſein in einem abſol utiſtiſchen Staatsweſen. Beide Ausfallserſcheinun ; gen warfen den Menſchen auf ſich und ſeine Anverwandten zuruͤck und zwangen ihn, vorzugsweiſe in der Welt der Familie ſein Gluͤck und ſeinen Salt zu ſuchen. Aber die zwangsmaͤßige Beſcheidung auf den Samilien- kreis erzeugte im Ruſſen nicht den großartigen und ſtrengen Patriarchalis · mus des klaſſiſchen Juden. Ruſſiſche Eltern erziehen ihre Kinder nicht, ſondern ſind ausſchließlich vernarrt in ihre Sproͤßlinge. Den Nichtruſſen berührt die Familienkluckerei und die Unerzogenheit der Kinder, wie fie beim ruſſiſchen Gebildeten die Regel find, abſtoßend. Die Verſtaat lichung der Kindererziehung und die Bekaͤmpfung aller familialen Abgeſchloſſenheit, wie ſie Sowjetrußland ausuͤbt, uͤberhaupt die ganze Neigung, das wirken der Menſchen in eine dem alten Sparta aͤhnliche Verpflichtung zum Gemeinleben zu bringen, erweiſt ſich ſo nicht als ſitt · liche Derwilderung, fondern gerade als ein geſunder, ſtaats · und men⸗ ſchen bildender Inſtinkt. Strebſamkeit, Arbeitſamkeit und Gemeinſinn iſt dem Ruſſen wahrſcheinlich nur durch eine Verſtaatlichung der gefamten Tugend» und Kindererziehung und eine Zuruͤckdraͤngung der Familie

188 Eliſabeth Bufle-Wilfon

wenigſtens für ein bis zwei Generationen beizubringen. Darüber hinaus bat der Kampf gegen die Familienerziehung den geheimen Zweck, die Volks⸗ genoſſen, die von der Geſtaltung des Staats und Gemeindelebens unter dem Zarismus völlig ausgeſchloſſen waren, uberhaupt erſt zur Teilnahme am oͤffentlichen Leben anzuleiten. Die Breſche ins Privatleben, die der Bolſchewismus ſich zu ſchlagen bemüht, mag außerdem auch einen me · chaniſch⸗ſtaatserhaltenden Antrieb haben. Die durch Gattenband und Blutsverwandtſchaft verbundenen Menſchen, die auf engſtem Raume zu⸗ ſammen leben, find die natürlichen kleinſten Gppoſitionszellen und Unzu⸗ frieden heitsherde gegen eine ſtaatliche Zwangs herrſchaft. Die Zuſammen⸗ ruͤckung von Menſchen zu vermeiden, iſt daher immer einer der hauptſaͤch⸗ lichſten machtdynamiſchen Grundſaͤtze einer Diktaturgewalt geweſen. Natuͤrlich wird auch dieſe Maßnahme des allgemeinen Staatskindertums die nur eine national ⸗paͤdagogiſche iſt von den bolſchewiſtiſchen Fuͤhrern mit ideellen ſozialiſtiſchen Grundſaͤtzen ůberhangen. Aber die bolſchewiſtiſchen Fuhrer dienen mit allen Neuerungen, durch die fie Euro⸗ pa befremden, weder dem Sozialismus noch der Menſchheit; aber ſie dienen mit ihnen, mit ihrer Auswahl, die einen guten politiſchen Inſtinkt verraͤt, vor allem und in erſter Linie ihrem ruſſiſchen Volke.

Aber die Mittel! Die Setzpropaganda, mit der die bolſchewiſtiſche Regie- rung gegen die alte welt vorgeht, die gotteslaͤſterlichen Umzuͤge, die auf rohe Weiſe den chriſtlichen Kult verhoͤhnen ! Beraubt ſich nicht ein ethiſches Wollen, das mit politiſch⸗agitatoriſchen Mitteln betrieben wird feiner beſten Werbungs kraft? Richtet das neue Rußland ſich nicht ſelbſt, wenn es die alte Praxis des politiſchen RAlaſſen kampfes ausuͤbt? Stadt und Dorf wird uͤberſchwemmt mit lugſchriften und Plakaten, mit Bildern, die immer nur die eine Zweiheit darſtellen: einſt und jetzt. Sier Popen und Fronarbeit, dort Wohlſtand und Freiheit. Warum hetzt und wuͤhlt das neue Regime fo plump gegen die alten Mächte, wenn es feiner guten Sache ſicher ift?

Warum greifen uͤberhaupt politiſche Machtgruppen ebenſo wie politiſche Minderheitsgruppen zu dem GBiftmittel der Volksverhetzung, das die Menſchen mehr verdirbt, wie ſaͤmtliche Seuchen der Natur ihr leibliches Leben? Der individuelle Selbſterhaltungstrieb iſt in jedem Menſchen zu⸗ naͤchſt ſtaͤrker als die uͤberperſoͤnlichen Gemeinſchaftsverpflichtungen. Wie- viel ſtaͤrker iſt aber das Verlangen nach der perfönlichen Selbſtbefriedigung bei denjenigen Volksteilen, die hart um ihr Exiſtenzminimum ringen muͤſ⸗ fen. Diefe zermuͤrbten und durch den Krieg verbrauchten Männer Europas reagieren ſchwer und langſam auf Anſtoͤße von außen. Naturgemaͤß muß daher eine Partei, die zum aktiven politiſchen Sandeln, zum Außenkrieg oder zum Innenkrieg aufrufen will, wie die nationaliſtiſchen und kommu⸗ niſtiſchen Parteien aller Länder mit den ſtaͤrkſten Mitteln der Aufpeitſchung und der Übertreibung arbeiten; um nur ein Sundert muͤder Proletarier, Männer und Frauen auf die Straße zu bringen, muß tauſendmal zum Der-

Zur National · Pſychologie des Bolſchewismus 189

nichtungs⸗ und Endkampf aufgerufen werden. Das Kampfmittel des Setzens, dieſes zweiſchneidige Schwert, das die Seelen der Menſchen inſi⸗ ziert und ihren Verſtand ſchwaͤcht, iſt das naturgeſetzliche Werbemittel von Minderheitsgruppen, die an ſich ſtumpfe Menſchenmengen für eine Aktion intereſſieren wollen. Es iſt uͤberdies zu erwarten, daß eine um Proletarier werbende Partei grober und ſchreiender auftragen muß als eine andere.

Sind nun ſchon die Menſchen in Weſteuropa, die intellektualiſierten und wachen Einwohner der Induſtrie · Staaten ſchwer zu uͤberperſoͤnlichen, großen Gemeinſchaftsaktionen, gleichviel ob zu ſozialen oder zu natio⸗ nalen Aufſtaͤnden zu gewinnen, ſo iſt nun der ruſſiſche Menſch und das heißt der ſchwere, ſtumpfe, unbewegliche Bauer, noch viel weniger geneigt, ſich aktiv fuͤr ein neues politiſches Syſtem einzuſetzen. Er iſt froh, den alten Nöten entronnen zu fein, dem Krieg und dem Zarismus. Die bolſche · wiſtiſche Regierung mußte daher mit den marktſchreieriſchſten Mitteln dieſem Menſchen, deſſen Vorſtellungsleben viel langſamer funktioniert als das eines Weſteuropaͤers, die Richtigkeit des neuen Syſtems einleuchtend machen. So betrieb und betreibt ſie einen mit großer Klugheit eingeleiteten politiſchen Anſchauungsunterricht. Man veranſtaltet 3. B. oͤffent⸗ liche, jedermann zugängliche Ausſtellungen, etwa mit der inſtruktiven Bei ſpielſammlung: „Wie wohnt ein armer Bauer und wie wohnt ein reicher Gutsbeſitzer . Dort findet man die Übertragung einerelenden, ungeheizten Suͤtte und ihres armen, ſchmutzigen Sausrates und dicht daneben das Gegenbeiſpiel: ein vollſtaͤndig und komfortabel eingerichtetes Serrenhaus, von der behaglich erwaͤrmten Bibliothek bis zum Waſſerkloſett alle Wohn ; kultur in ſich vereinigend. Die ruffifche Bühne wurde gleich zu Anfang der Revolution in den Dienſt der Propaganda geſtellt. Sie ſchuf panto- mimiſche Verſinnbildlichungen der ſozialen Klaſſen mit ihren Beſitzunter⸗ ſchieden. Sie ließ die kapitaliſtiſchen Urheber des Weltkrieges auftreten in einer fo überzeugenden Praͤgnanz, daß auch bürgerliche Nunſtkritiker die improviſatoriſche Kraft dieſes Volkstheaters bewundern mußten.

Alle dieſe ſinnenfaͤlligen Aufforderungen zum Klaſſenkampf, die den Nichtruſſen als Zeugniſſe einer raffiniert berechneten VDerhetzungskunſt er⸗ ſcheinen, ſind aber die fuͤr die Pſyche des einfachen, ungebildeten, ruſſiſchen Menſchen aus dem Volke gemäßen Lehrmittel. Sein Apperzeptionsvermoͤ⸗ gen iſt von Natur aus gering. Die intellektuellen Funktionen, der Ablauf von Eindruck Vorſtellung Abſtraktion Willens entſchluß verlaufen bei einem einfachen und kindlichen Menſchen, und das iſt der ruſſiſche Bauer, langſam und ſtockend. Der Ruffe, der diefen propagandiſtiſchen Eindruͤcken ausgeſetzt wird, iſt außerdem Analphabet. In den erſten Jahren nach der Revolution fuhren Eiſenbahnzuͤge mit grellen Plakatierungen ins Land hinein. Alle dieſe ſchreienden Plakate, die aufdringlichen Bilder und Plaſtiken, die man dem Volke überall vor Augen ſtellt, find in Wahrheit fein Zeſebuch. Europaͤiſche Runſtgelehrte haben darauf hingewieſen,

190 Eliſabeth Buffe-Wilfon

daß unſere romaniſchen und gotiſchen Kathedralen · Portale, die mit plaſtiſchem Bildwerk und ſkulpturalen Einzelheiten gleichſam überzogen ſind, die Bilderbibel des leſensunkundigen chriſtlichen Volkes geweſen ſeien. Wie dort nun Paſſion, Seilsgeſchichte, Begebenheiten aus dem Alten und Neuen Teſtament in Plaſtik und Relief dem jungen, ungebildeten Chriſtenvolt vorerzaͤhlt wurden, fo bemuͤht ſich heute die bolſchewiſtiſche Regierung Rußlands, ihre neue Lehre und Lebenspraxis einem Volke von Analphabeten und Bauern durch Bild und Spiel in Hirn und Serz zu pflanzen.

Auch eine pſychologiſch · paͤdagogiſche Beeinfluſſungsabſicht welter bei folgender Profanierung altgeheiligter Wallfahrtsplaͤtze: Eines der größ- ten und reichſten Kloͤſter Riews war in der Zarenzeit das Ziel Tauſen⸗ der von Pilgern aus ganz Rußland, die dort die wunderbar konſervierten Leichname von Seiligen verehrten. Die neue Regierung verlegte hierher, an den Sammelpunkt altruſſiſcher Religionsausuͤbung ihren Aufklaͤrungs feldzug. Ein aͤgyptologiſches Muſeum wurde im Klofter eröffnet, das alle Wallfahrer paffieren mußten. Sier waren beſonders aͤgyptiſche Mumien zur Schauſtellung gebracht und der Vorgang der Einbalſamierung und Er⸗ haltung von Leichen wurde auf hoͤchſt inſtruktive Weiſe verſtaͤndlich ge- macht. Das Wunder wurde naturwiſſenſchaftlich erklaͤrt. Erſt dann werden die Pilger zur Befriedigung ihres religiöfen Beduͤrfniſſes zugelaſſen.

„Auf llaͤrungsmaͤtzchen wird der Europaͤer ſagen. Aber nur der mit Rationalismus uͤberſaͤttigte Weſteuropaͤer kann dieſen handgreiflichen Ent goͤtterungsunterricht mißachten, denn Rußland ſchickt ſich eben erſt an, ins Zeitalter der Auf klaͤrung einzutreten, das in Frankreich und Deutſchland vor 200 Jahren anhub. Der Ruſſe iſt im Begriffe zu werden, was wir waren. Die rationalen Entdeckungen, die fuͤr uns jetzt nebenſaͤchlich ſind, koͤnnen fuͤr ihn erſchuͤtternde Erkenntnisakte ſein; wir haben ja laͤngſt durchlaufen, was bei jenen eben erſt anklopft. Was uns platt erſcheint, kann dort weiſe ſein. Denn der Rationalismus und die Aufklaͤrung, auf die wir Weſtler jetzt herabſehen, waren auch einmal für uns Großtaten des Geiſtes.

Der Altersunterſchied Rußlands und Europas

as ganze geiſtige Gepraͤge des ruſſiſchen Volkes iſt das der Jugend

lichkeit. Die ruſſiſche Kultur beſitzt keine eigene Philoſophie und erft ſeit 200 Jahren eine Citeratur. Nicht einmal eine ſelbſtaͤndige Volkswirt ſchaftslehre hat fie aufzuweiſen. Vor allem aber erweiſen ſich beſtimmte, bei jedem Ruſſen immer wiederkehrende Charakterzůge feine Abneigung gegen das wiſſenſchaftliche, „weſtliche“ Denken, fein ſchrankenloſer Subjek⸗ tivismus und naiver Dogmatismus, ſeine Unfaͤhigkeit zur Selbſtkritik als die Merkmale geiſtiger Unerwachſenheit“.

Aarl Mogel, der bedeutendſte Renner des ruffifchen Volkes, hat in einer glaͤnzen · den Analyſe (Die Grundlagen des geiſtigen Rußland. Eugen Diederichs Verlag)

Zur National - Pſychologie des Bolſchewismus 191

Der europaͤiſche Beobachter glaubt bei der Betrachtung Sowjet ⸗Ruß⸗ lands in erſter Linie die Welt des Oſtens gegenüber der des Weſtens wahr zunehmen. Es iſt aber ebenſo ſehr der Altersunterſchied der Voͤlker, der die Vorgaͤnge in Rußland verſtaͤndlich macht. Dieſen entwicklungsmaͤßigen Altersabſtand empfindet auch das Objekt der Betrachtung felber, ohne es zu wiſſen.

Das ungeheure Selbſtbewußtſein Sowjet⸗ Rußlands auf feine neuartige ſozialiſtiſche Geſellſchafts · und Lebensgeſtaltung, die Verachtung der kapi⸗ taliſtiſchen Länder mit ihrer entarteten „bürgerlichen“ Kultur iſt zunaͤchſt die eingeborene Saltung jedes Ruſſen gegenüber Weſteuropa. In einem find ſich die aͤußerſte politiſche Rechte und die aͤußerſte politiſche Linke Ruß ; lands einig: in dem Bewußtſein der Überlegenheit Rußlands Über die ver · rottete weſtliche Rultur. Das neue Rußland kleidet dieſen Anſpruch in das Gewand des internationalen Sozialismus, zu dem es die Weſtſtaaten zu be⸗ kehren hofft. Die Begruͤndung dieſer Weltmiſſion deckt ſich mit den nationalen Dorzugsanfprüchen des konſervativen Urruſſen nur mit aus; gewechſeltem Wappenſchild. Der konſervative Danilewſ ki, der geiſtige Vater des Panſlawismus, ebenſo wie Lenin und Trotzki ſehen ſich in ihren Ausführungen über Rußlands Stellung zu den europaͤiſchen Staaten ſehr aͤhnlich. Man muß nur anſtatt dem Weſten oder „weſteuropaͤiſche Staaten“ das Wort kapitaliſtiſche Staaten einfügen.

Aber wohl dem gluͤcklichen Neurußland, in dem ſich nationale und ſozial⸗ revolutionaͤre Intereſſen decken. Den freſſenden Zwieſpalt der weſteuropaͤ⸗ iſchen Staaten kennt es nicht. Der nationale Imperialismus Auß- lands iſt in dem Imperialismus der dritten Internationale auf- gegangen.

Das nationale Selbſtbewußtſein des Auffen (gegen das die National- gefühle der weſteuropaͤiſchen Voͤlker hyſteriſche Schwaͤchezuſtaͤnde find) hat ein doppeltes Geſicht. Es iſt einmal das biologiſche Uberlegenheits · gefühl des jungen Volkes über das alte, des Volkes mit unerſchoͤpflichen Referven der Natur, mit unendlichen Möglichkeiten der Kultur und Men ſchenbildung. Die ruſſiſchen politiſchen Fuͤhrer fuͤhlen ſich trotz der unge · heuren Schwierigkeiten der Neuerziehung eines Bauernvolkes, trotz aller Kriſen und Sungersnoͤte als unerſchuͤtterlich überlegen, mit der Inſtinkt⸗ ſicherheit von Menſchen, die die biologiſch kraͤftigeren ſind. die ſe Charaktereigenſchaften des Ruſſen als die tragiſchen Folgen des gewohnbeits- mäßigen und ſchrankenloſen Serrſchenkoͤnnens, als eine Erbſchaft des ruſſiſchen Seelenbeſitzertums erklaͤrt. Fuͤr beſtimmte Typen des ruſſiſchen Volkes, vor allem für einen Tolſtoi, iſt dieſe Analyſe ſicher richtig. Als naturkundliche Eigenart, wie fie auch jetzt wieder beim Bolſchewis mus und feiner Lehre zutage tritt, iſt fie aber wohl in erſter Linie der Beweis einer jungen geiſtigen Kultur. In der „Sozialen Bewegung in Rußland“ (Muſarion- Verlag, 1923), das die Geſchichte,

Struktur und Beſchaffenheit der ruſſiſchen revolutionaͤren Bewegungen umfaſſend ſchildert, wird der ausgezeichnete Rußlandkenner dem Bolſchewis mus nicht gerecht.

192 Eliſabeth Buffe-Wilfon

Aber in dies uͤberbetonte nationale Selbſtgefuͤhl miſcht ſich ein wenig Minderwertigkeitsgefuͤhl. Der Ruſſe beſorgt mit Recht, daß die weſtlichen Voͤlker ihn als nicht ganz voll, als nicht ganz „erwachſen“ anſehen. Die Furcht, man koͤnne in Rußland eine unkultivierte Waldwildnis und eine Bevölkerung mit rohen Sitten ſehen, erfüllt den Sowjetfuͤhrer von heute ebenſo wie den zariſtiſchen Auffen.

In ſcheinbar zielſtrebigen, aber darum doch ſeltſam unangebrachten Sandlungen der bolſchewiſtiſchen Regierung tritt das Bewußtſein als Schwaͤchegefuͤhl zutage, nicht oder vielmehr noch nicht zu den kapita⸗ liſtiſchen, induſtrialiſierten, arbeitstuͤchtigen Voͤlkern Europas zu gebören. Die bolſchewiſtiſche Regierung zeigte von Anfang an einen lebhaften Eifer, die weſtlichen Staaten von dem bluͤhenden Stande feiner Induſtrie zu überzeugen. Der berechtigte Wunſch, den kapitaliſtiſchen Staaten Euro⸗ pas, die nur auf den wirtſchaftlichen Zuſammenbruch Sowjet⸗ Rußlands warteten, den Nachweis der Lebensfaͤhigkeit einer ſozialiſtiſchen Volks wirtſchaft zu bringen, mochte der aktuelle und berechtigte Anlaß ſein. Aber daruͤber hinaus zeigt die außenpolitiſche Propaganda Rußlands fuͤr ſeine induſtriellen Erfolge, die Wichtigkeit, mit dem jedes Pud gefoͤrderte Kohle der welt verkuͤndet wird, eine Verſchiedenheit der Wertmaßſtaͤbe, die ſich nur aus dem Alters unterſchied der Wirtſchafts⸗ und Kulturſtufen er- klaͤren laͤßt. Der Ruſſe will mit etwas imponieren, was doch den weſt⸗ ſtaaten, bei denen ſeit Generationen die Schlote rauchen und die mechani⸗ ſchen Webſtuͤhle ſurren, keinen beſonderen Eindruck machen kann. Der bolſchewiſtiſchen Regierung kann man einen zielbewußten Machiavellis· mus nicht abſprechen. Sie iſt durch Stroͤme von Blut gegangen und alle menſchlichen Bedenken über den viel zu hohen Preis, mit dem die Errich⸗ tung der ſozialiſtiſchen Republik bezahlt wurde, find ihren Sübrern „buͤr⸗ gerliche Vorurteile“. Einen ſeltſamen Gegenſatz zu dieſer grandioſen amo⸗ raliſchen Staatsauffaſſung bilden die kindlichen Bemühungen Rußlands, Europa zu gefallen, Europa, das es doch andererſeits ſo unendlich verachtet. Durch feine neuen, ſozial⸗charitativen Maßnahmen glaubt Sowjet⸗Ruß land Europa in Staunen zu ſetzen. Da werden große Berichte in die welt geſandt über die Errichtung von Kinderheimen, Kinderaſylen, Fro. belſchulen und woͤchnerinnenheimen. Daß die Palais der Großfuͤrſten und die Villen der Großkauf leute beſchlagnahmt und zu proletariſchen Heimen umgewandelt wurden, lohnt ſich immerhin, den kapitaliſtiſchen Voͤlkern zu verkuͤnden. Aber die Tatſache der ſozialen Wohlfahrts einrichtungen als ſolcher iſt dem Ruſſen ſchon das Wunderbare, ja er ſieht in ihnen eine fozial-revolutiondre Maßnahme. In einem Zeitalter, wo Deutſchland feit Jahrzehnten Sozialpolitił treibt und faſt alle Staaten außer Amerika Arbeiter und Jugendſchutzgeſetze kennen und eingeführt haben, fühlt ſich das bolſchewiſtiſche Rußland veranlaßt, dem aufhorchenden Europa mit⸗ zuteilen, daß es proletariſche Kinder · und woͤchnerinnenheime einrichtet.

Zur National · Pſychologie des Bolſchewismus 193

Die ſtaatlich organifierte Wohlfahrtspflege und der geſetzmaͤßige Volks ſchulunterricht find dem Ruſſen ſozial · revolutionaͤre Neuerungen! Nir⸗ gends wird der Altersunterſchied zwiſchen den ſeit langem demokratiſchen Weſtſtaaten und dem deſpotiſch regierten und unerwachten Bauernvolke ſo deutlich, als bei dem Charakter der kulturpolitiſchen Maßnahmen und Neuerungen, die Rußland der Revolution folgen ließ.

Denn das zariſtiſche Rußland ſah weder das Aufdaͤmmern ſozialer Ge⸗ ſetze noch auch eine großzügige private Wohltaͤtigkeit, wie fie beiſpielsweiſe das europaͤiſche Mittelalter in fo eigenartig · genoſſenſchaftlicher Weife voll- bracht hatte. Dabei übertraf die Elends fuͤlle des ruſſiſchen Volkes, nament · lich des Großſtadtproletariates alles, was die weſtlichen induſtrialiſierten Staaten an Armut und Verkommenheit bergen. Heere von Bettlern, Maſſen verwaiſter Rinder und Kinderproftitution auf den Straßen der Großſtaͤdte und die ganze hoffnungsloſe Verkommenheit eines beiſpiellos elenden Cum⸗ penproletariates waren die „normalen“ ſozialen Erſcheinungen Rußlands vor dem Kriege. Daß dieſer Elenden nun uberhaupt gedacht wird, daß der Staat es verſucht, wenigſtens die Kinder in Seimen zu bergen und zu retten, bedeutet für Rußland bereits eine radikale Umwandlung des politiſchen Denkens. Alles was Sowjet Rußland ſchafft und leiſtet oder noch mehr, was es entwirft und als ſozial⸗politiſches Ziel aufſtellt, It immer wieder nur bedeutungsvoll auf dem Sintergrunde eines von der weſtlichen Sochzivili⸗ fation unberührt geweſenen und unmuͤndigen Bauernvolkes, das jahr bundertelang das bloße Ausbeutungsobjekt einer deſpotiſchen Regierung war. Rußland iſt ſtolz auf feine Weltmiffion und macht mit der Errichtung der ſozialiſtiſchen foͤderativen Republik nur einen kuͤhnen Verſuch, ſich ſelbſt zu erloͤſen.

Was in Rußland vorgegangen iſt feit Io Is und was gerade durch feine widerſpruͤche gegen Freiheit und Gleichheit die Europaͤer aller Klaffen und Staͤnde befremdete, bedeutet in Wahrheit nur, daß Rußland aus dem Sta⸗ dium des zariſtiſchen (mittelalterlichen) Deſpotismus eben erſt in die Staats⸗ und Regierungsform des aufgeklaͤrten Abſolutis mus eingetreten iſt. So unerbittlich iſt das Entwicklungs geſetz des organiſchen Lebens, daß keine Stufe der Lebensreifung uͤberſprungen werden kann, wobei ſich aber ebenfalls die revolutionäre Theorie bewahrheitete, daß der Übergang zu einer anderen Staatsform nie durch Evolution erfolgen kann. Zur bürger- lichen Demokratie jſt jedoch das Volk, das vor zwei Generationen noch aus Leibeigenen beſtand, nicht bereit. Daher wurde hier der mittelalterliche De⸗ ſpotismus abgeloͤſt durch die ſtaatliche Vormundſchaft des bolſchewiſtiſchen Regimentes. Der Militaͤrſtaat iſt erſetzt worden durch den Erzieherſtaat oder wenigſtens durch den Gbrigkeitsſtaat in feiner aufgeklaͤrten Form, der Untertan durch das Landeskind. Rußland trat im Oktober 19 Is in den Stand der europaͤiſchen Staatsentwicklung ein, den die europaͤiſchen Laͤn⸗ der bereits im 18. Jahrhundert durchlaufen hatten. Die Ankunft auf dieſem Tat Xvn 11

194 selifabetb Buffe-Wilfon, Zur National · Pſychologie des Bolſchewis mus

Entwicklungsſtand bezeichnet auch LZenins mißverſtaͤndlicher (unter an- deren Umſtaͤnden machiavelliſtiſcher) Ausſpruch „Freiheit iſt ein Vorurteil der Intellektuellen“.

Die ganze Fuͤlle von Verordnungen, Vorſchriften, Anordnungen, die der bolſchewiſtiſche Staat ſeit Jahren in wechſelnder Aufeinanderfolge auf feine getreuen Candeskinder niedergehen läßt, die zahlreichen Ermahnun ; gen und Vorſchriften über alles und jenes ſo ſollt ihr ſaͤen und ackern, dieſe und jene Geraͤte ſollt ihr anwenden und jene nicht, ihr ſollt Schulen einrichten und Lefebütten dieſer Auf klaͤrungs und Beeinfluſſungseifer, der ſich auf Alkoholmißbrauch ebenſo erſtreckt wie auf Rohlenfoͤrderung, laͤßt den Schluß zu, daß ſich die ruſſiſche Obrigkeit in einem wahrhaften Rauſch des Schulmeiſterns befindet. Es fehlt bloß der Nruͤckſtock Fried; rich wilhelm des Erſten oder die hauswirtſchaftlichen Ermahnungen Maria Thereſias bei dieſen fortgeſetzten Ermunterungen und Aufforde⸗ rungen zur Arbeitſamkeit, nicht minder wie zum Beſuch von Schule und Kirche (d. h. von Schule und bolſchewiſtiſchem Klub).

Die Natur iſt fo reich an Rombinationsmòͤglichkeiten und ÜUberraſchun⸗ gen, daß es immer muͤßig bleiben wird, aus dem Aufeinandertreffen von Kultur · und Naturformen, wie fie ſich eben jetzt in Rußland vollzieht, be- ſtimmt geformte feſte Ergebniſſe zu erwarten. Daß aus der Paarung zwi⸗ ſchen den roͤmiſchen Rulturformen, der roͤmiſch⸗chriſtlichen Kirche und dem roͤmiſchen Recht mit dem Germanentum gerade nur dieſer eine mittelalter liche europaͤiſche Staat hervorgehen mußte, war eine ebenſo wunderbare und unwahrſcheinliche Variationsmoͤglichkeit der Natur, wie es diejenige des Ruſſentums mit dem europaͤiſchen Geiſte fein koͤnnte, deren Srüchte die jetzt lebenden wohl kaum noch erblicken werden. Der menſchliche Geiſt iſt unvermögend die Wege der Natur vorauszuwiſſen. Was fie hervorgehen laſſen wird aus dem ruſſiſchen Volke, das dem Geiſte nach ein Kind und der Seele nach ein Juͤngling iſt, iſt ein ebenſo unberechenbares Wunder, wie die abgelaufenen Schickſale der Menſchen und Voͤlker, die wir hinterher als notwendig und kauſal begründet anſehen.

Es iſt mit dem Ceben eines Volkes wie mit dem eines einzelnen Menſchen: ſeine Freiheit iſt durch ſeine eigene Weſenheit determiniert. Wo er ein neues Geſetz aufzuſtellen glaubt, folgt er nur ſeinem eigenen, ihm eingeborenen Geſetze. Der Bolſchewismus taͤtigte eine blutige Revolution, um ſchließlich nur den Übergang vom abſoluten zum aufgeklaͤrten Deſpotismus zu voll · ziehen. Er erklaͤrte einen Ableger des weſtlichen Rationalismus zur Staats · religion und ſetzte ſich damit, ohne es zu wiſſen, eine großartige Erziehungs⸗ aufgabe. Er ſucht eine neue Staats · und Geſellſchaftsmoral und begruͤndet ſein Reich mit Erſchießungen, Verhaftungen und Spitzelweſen. Da, wo er den Zarismus abzuſchuͤtteln vermeinte, verhalf er ihm zu einem letzten Austoben.

Sind alle Ziele der Menſchen nur Vorwaͤnde, um ein anderes, rational

Hermann Gumbel, Dom Wefen des nordiſchen Menſchen 195

vielleicht gar nicht gewolltes zu erreichen? Wenn es ſo iſt, muß aber das wirklich Neue, wenn auch bewußt vielleicht gar nicht genau Vorgeſtellte, im Menſchen als Antrieb tätig gewefen fein. Sonſt würden die Neuerer und Umſtuͤrzler nicht alle den ſeltſamen Stolz der Auserkorenheit, das Be; wußtſein fuͤr die „Ewigkeit“ zu ſchaffen, haben. Daß die Urheber eines neuen Syſtems das eigentliche Angeſicht des ſchoͤpferiſch Neuen nicht mehr ſehen werden, liegt in der tragiſchen Kürze des Menſchenlebens begründet, eine Kürze, die die ſtaͤrkſte Schranke feiner Erkenntnisfaͤhigkeit ſetzt, die er aber durch den Glauben Üüberbrüdt. Ein dunkles Gefuͤhl ſagt den Naͤmp⸗ fern, daß auch nicht ein Gederſtrich umſonſt getan fein wird, kein Aufruf umſonſt erlaſſen, kein Experiment umſonſt mißlungen. Zu welchem Ende? „Vom Winde des Geiſtes darf keiner ahnen, von wannen er kommt, noch wohin er geht, ſoll er Segel zu neuen Kuͤſten hin ermutigen; keiner darf ahnen, daß die Umſegelung ſeiner Erde ihn nur in den eigenen Safen zu⸗ ruͤckfuͤhren kann.“

Hermann Gumbel / Vom Werfen des nordiſchen Menſchen

s ſoll in dieſen Zeilen vom nordiſchen Menſchen geſprochen werden. Dabei iſt hauptſaͤchlich das Weſen des Schweden ins Auge gefaßt. Die gezogenen Linien find mit der entſprechenden Abtoͤnung auf die anderen ſkandinaviſchen Charaktere zu uͤbertragen. Nordiſch iſt uns ſomit ein Sammelbegriff für eine Große, die in verſchiedene Spielarten zerfällt (das Daͤniſche uſw. ). Diefe Unterarten fügen ſich im weſentlichen (in re) dem Begriff ein, in der einzelnen Erſcheinungsweiſe dagegen (in modo) muͤſſen Unterſchiede und trennende Eigentuͤmlichkeiten anerkannt werden. Wir faſſen den Begriff nordiſch fernerhin biologiſch und anthropologiſch und beziehen im Einklang mit der biologiſchen Forſchung (vgl. unten das Zitat unſeres Gewaͤhrsmannes) die Raſſenfrage ausdruͤcklich und lediglich als eine biologiſch⸗ ꝓſychologiſche ein.

Wenn nun endlich in dieſen Zeilen Orientierung nach dem Norden ge⸗ fordert wird, ſo handelt es ſich nicht um eine romantiſche oder ſpießerliche Verherrlichung des „ariſchen Menſchen“. Nichts iſt laͤcherlicher als die ſportmaͤßige Germanenbegeiſterung, die den nordiſchen Menſchen als den Lichtmenſchen hinſtellt und zum blondgelockten Ideal erhebt. Denn nichts verkennt den Charakter des Nordlaͤnders gruͤndlicher. Der Nordlaͤnder iſt nicht der Menſch des Lichtes, ſondern der Dunkelheit. Nichts iſt fuͤr ſeine Saltung entſcheidender als der kurze Sommer und der lange, kalte Winter, die ſeine Jahreszeiten ſind, als der jaͤhe Fruͤhling und der faſt fehlende J4*

J96 Seemann Gumbel

Serbſt. Man muß es ſich vorſtellen, was es für den Menſchen der german. ſchen Fruͤhzeit bedeutete, acht bis neun Monate ohne Licht an einem kuͤm ; merlichen Serdfeuer zu hauſen. Freilich war dann die beſte, edelſte Sehn; ſucht die nach dem Licht und der Sonne. In das Licht verſetzte man das beſſere Teil feines Selbſt, alles was man wuͤnſchte zu fein, was man aber nicht war. Daͤmonie und gewaltige Truͤbungen der ſeeliſchen Kräfte waren und find Erzeugnis der Winternacht und im Sommer bei einer ewig kreiſenden Sonne konnte alles andere erwachſen als das ruhige, blühende Gleichmaß des Weſens . Die Forſchung bringt heute den Balder; mythos weitgehend in Zuſammenhang mit oͤſtlichen, klein · aſiatiſchen Ein ſtroͤmungen (Adoniskult, ſ. Neckel: „Balder“ ). Ein Loki, ein Sagen find Spiegelbilder der germaniſchen Menſchlichkeit. Siegfried iſt anders: kindlich, ſtets heiter, harmoniſch, unbewußt ſicher aber dadurch auch nichtsſagender, unintereſſanter, uns etwas unbegreiflich und fremd, „un⸗ menſchlicher“: er iſt ein Gott. Brunhild, Gunther, Sagen, Kriemhild, das ſind die Menſchen, die dieſes Gottes Schickſal leben. Ganz andere Be⸗ wußtſeinstatſachen beſtimmen nordiſches Weſen, als es romantiſche Aus deutung einer nur oberflaͤchlich gekannten Mythologie glauben machen moͤchte. I

We heute ein offenes Serz voll idealgeſinnter Zuneigung nach dem

Norden trägt, der kann ſchwer enttaͤuſcht werden und —, feine ahnungeloſe Germanenliebe mag leicht ins Gegenteil umſchlagen. Ich habe einfachere Leute klagen hoͤren, die Schweden ſeien fo falſch und unwahr haftig.

Der Schwede redet in der Tat oft ganz anders, als er denkt. Er kann ploͤtz · lich ſich auf eine Meinung verbeißen, die der total entgegengeſetzt iſt, welche man fruͤher von ihm gehoͤrt hat. Oder er wird an einem gewiſſen Punkt des Geſpraͤchs, wenn man nun begierig iſt, ihn ſich entſcheiden zu ſehen, ſeine Meinung zu hoͤren, wenn man wartet, daß er nun etwas beiträgt, ab; brechen, geſchickt auf etwas anderes uͤbergehen oder am liebſten die Sache durch einen faulen Witz ins Laͤcherliche ziehen. So wird er uͤber Stimmun ; gen anderer oder uͤber eigene Gefuͤhle vielleicht plotzlich einen ſehr aggreſſi · ven Scherz machen. Er wird alle möglichen unſachlichen oder ſentimenta⸗ len Gründe herbeiziehen, um einen perſoͤnlichen Wunſch zu verkleiden. Er nimmt Gaſtfreundſchaft als ziemlich ſelbſtverſtaͤndlich an, nicht als etwas, was ihn nun ſeinerſeits innerlich verpflichtet. Er gewährt fie ebenſo ſchoͤn und frei, und loͤſt ſich damit gern von jeder Verbindlichkeit dem anderen ge · genüber. Er wird kaum durch eine uͤberſchwaͤngliche, endloſe Dankesaͤuße rung verraten, wie viel ihm eine Beziehung geholfen hat. Andererſeits hat er eine Fulle recht feinſinniger Dankesformeln geſchaffen, die feine Gefuͤhle ebenſo liebenswuͤrdig verbüllen wie befreien koͤnnen. Er pflegt Bi

—— ee es

Man vgl hierzu A. Samſuns „Pan“.

vom Wefen des nordiſchen Menſchen | 197

Freundſchaften durch ein befonderes Maß von Spott, Jynismus und Streitluſt zu belaſten und zu verzieren, und ſchiebt unangenehme Ent · ſcheidungen lieber auf oder umgeht fie ganz, als daß er entſchloſſen geheime Unſicher heit klarſtellt. Wenn er hart iſt, wird er ſich nicht im mindeſten mit der Umwelt einlaſſen. Iſt er aber weich, ſo wird er ſtets geneigt ſein, zum Angriff auf die Umwelt vorzugehen und ſich als Rampfnatur geben.

III

ieſen Zügen, die ſich beliebig vermehren ließen, liegt zugrunde ein be-

ſonders ausgepraͤgtes Gefuͤhl der Einſamkeit, Einmaligkeit, Abge⸗ ſchloſſenheit des Ich, deſſen Unentrinnbarkeit wie deſſen Anlagen als eigen; ſte Aufgabe und Forderung empfunden werden. Sieraus entwickelt ſich das Ideal einer harten, unantaſtbaren und ſelbſtaͤndigen Maͤnnlichkeit, die ohne ilfe von außen lediglich auf ſich ruht. Deshalb wird mit jeder Kraftaͤuße⸗ rung geſpart, nichts an andere verausgabt, nur an perſoͤnliches Werk. Des · halb wird aber auch Silfe, Eingreifen ſeeliſchen Anteilnehmens zunaͤchſt ſchroff abgelehnt. Die Wuͤrde und der Stolz verbieten es, einen andern in fein Inneres bineinfeben zu laſſen. Sie machen es ſchwer, oft unmoglich, die Kämpfe und die Not diefes Innern einem andern mitzuteilen. Es iſt ſchwer für den Schweden, ſich aufzuſchließen, hinzugeben, ſich zu oͤffnen. wenn er es nicht ſelbſt will, wird ihn der beſte Freund nicht dazu vermögen. Und das Merkwuͤrdige iſt, daß er es ſo ſelten will: ſein ganzer Inſtinkt ſtraͤubt ſich dagegen. Muß er annehmen, daß der andere etwas von ſeinem Inneren geſehen oder erraten hat, ſo faͤngt er an, Verſtecken zu ſpielen, ſetzt Masken auf, zieht ſich ſelbſt ins Lächerliche und ſucht den Betreffen⸗ den wieder über ſich irrezu machen. Sat er ſich ſelbſt einmal aufgeſchloſſen, ſo laͤßt er den andern die Mitwiſſerſchaft durch beſonderen Spott und Stichelei entgelten. Er will beweiſen, daß er trotzdem noch über den an; dern Serr iſt. Denn wer von feinem innerſten Weſen etwas weiß fo meint er der hat Macht über ihn. Der weiß, wie es um die ſcharfe Selb- ſtaͤndigkeit im Grunde beftellt iſt. Dem iſt zuzutrauen, daß er die Grenze des Stolzes nicht achten konnte. Aber lieber leidet man darunter, unergaͤnzt, unausgeglichen zu ſein, als etwas Weſentliches einem andern zu verdan⸗ ken, d. h. abhaͤngig zu werden.

Eine tiefe Serzlichkeit und Gleichgeſtelltheit kommt fo auf zwiſchen Men; ſchen, die ſich naheſtehen (wie ich es faſt ſtets zwiſchen Geſchwiſtern gefunden habe). Aber es bleibt auch eine Fremdheit, ein Nebeneinanderher⸗Ceben, ja eine ſtumme Wachſamkeit. Man wird im Kampfe mit ſich ſelber eher Egoiſt und Individualiſt, als fein Leben anderen hinzugeben oder aus feiner (Menſchen⸗) Liebe eine öffentliche Saltung werden zu laſſen. Deshalb mag es ſehr ſchwer ſein, im Norden Prieſter und Sozialiſt zu ſein. Sier macht weder Selbſtentaͤußerung noch Autorität Eindruck. Nur die ſelbſtaͤndige, kraftvolle Eigenart wird geachtet.

198 Sermann Gumbel

IV

elbſtredend ſind im Norden nicht alle Naturen kraftvoll oder hart.

Der Sinn für kraftvolle, ſtolze Form aber iſt gemeinſam, ein nicht weiter abzuleitender Ehrgeiz, ſich ſo zu geben und zu halten, wie es das Ideal verlangt. Und fo waͤchſt man allmaͤhlich in eine ſtolze Rüftung hinein. Das heißt „Selbſterzie hung“ des nordiſchen Knaben. Dazu iſt freilich Auf⸗ merkſamkeit und Rampf nötig. Daher wirken die nordiſchen Menſchen ſtets angeſpannt, mit ſich und den Angriffen des Lebens ſtets ringend, und das gibt ihnen oft den geheimen Ausdruck von Leiden und Gequaͤltſein. Man mag ihnen vorftellen : loͤſe dich doch nun einmal, habe Vertrauen, ſieh, wie- viel dich deine ſtolze Selbſtaͤndigkeit koſtet ſtets werden fie antworten: mag es koſten, was es will, wenn es nur geht! Da taucht Kleiſts Guis kard vor unſerem Auge auf.

Noch tiefer: jeder Menſch, der Nordlaͤnder beſonders bohrend, hat die Sehnſucht nach dem ganz anderen Sein, nach der „gluͤcklicheren !“, ihm ver⸗ fagten Art. So hat der Germane die dunkle Sehnſucht nach Loͤſung und einfacher Singabe. Dieſe Sehnſucht nach „Wärme“ trieb ihn nach Italien. In Siegfried hat ſich dieſe Sehnſucht verkörpert und erfuͤllt. Und daher hat alles nordiſche Weſen, alle nordiſche Schoͤnheit, den hinreißen den Zug von Trauer und herber Wehmut, der Schwermut des Unerloͤſten, durch deſſen ſteinharten Trotz der ſcheue Wunſch nach dem kindlichen Zu⸗ trauen hindurchblickt. Dieſen Zug der Trauer und Schwermut teilt der Menſch mit der Natur um ihn, die arm und karg iſt, und deren herbe Kraft ſich nicht leicht und ſofort offenbart, ſondern die ſich in Dunkelheit oder ſtolzes, heftiges Licht einhuͤllt. .

So gilt es, auch jene weniger einnehmenden Zuge zu verſtehen, zu er⸗ klaͤren. Es gilt, ſie zu verſtehen als Außerungen einer inſtinktiven, oft ver⸗ zweifelten Notwehr, eines Kampfes um das perfönlidhe Daſein. Wer an ſich weich iſt, braucht nur um ſo ſchaͤrfere Waffen, um geſichert zu fein. Man hat um fo tiefere, ſtaͤrkere Gefuͤhle, als man fie bewahrt, keuſch und karg haͤlt. Man ſetzt ſich nicht der Gefahr der Verunglimpfung des Schoͤnſten aus, was man hat. Denn man liegt im Kampf mit dem Naͤch · ſten; wie oft weiß man das Wichtigſte nicht von ihm. (Selbſt wo man ihm ganz vertraut iſt, behaͤlt man im Umgang mit ihm noch gern die Form des Kampfes bei.) Geteilte Freude empfaͤnde man, iſt es nicht im Kreiſe enger Familie, eben als geteilte Freude. Ungeteilter Schmerz mag dann halt dop⸗ pelter Schmerz ſein. Ein Mißgeſchick, gar einen Fehler oder Ungeſchicklich⸗ keiten wird man moͤglichſt verſchweigen. Durch Erklaͤrungen und Erlaͤute⸗ rungen in den Lichtkreis von allgemeiner Beurteilung zu kommen, ſchaͤtzt man gar nicht, ja man fügt ſich lieber einer beſchwerlichen und unperſoͤn⸗ lichen Form, als daß man durch Sonderſtellung und Abſondern den an- dern den Vorteil einraͤumte, einen zu kennen. Sier erklaͤrt es ſich, warum dieſe perſoͤnlichen, eigenwilligen Naturen auf Form und Tradition ſo viel

Vom Weſen des nordiſchen Menſchen 199

wert legen. Der ſchwediſche Sof gilt als der zeremoniellſte des Abendlandes. Dieſe Form iſt ein wohltuender, unverbindlicher Schutz. Sie gewaͤhrleiſtet die eigentliche Unnahbarkeit. Alle opfern ihr Selbſtaͤndigkeit, ſo iſt das kein Opfer, keine Abhaͤngigkeit von Autoritaͤt, ſondern freie Anerkennung einer willkommenen Grenze, die den Verkehr leichter, kunſtvoller und „un⸗ gefaͤhrlicher macht.

V

ieſe Einſtellung von Perſoͤnlichkeit und Selbſtzucht laͤßt ſich in allen

Gebieten, allen Außerungen des Lebens und der Kultur als irgend⸗ wie verborgen beſtimmend wiederfinden. Die Eigenart ſolcher Erſchei⸗ nungsweiſe wird erſt recht deutlich, wenn man fie mit einer anderen pfy- chologiſchen Saltung vergleicht. Da bietet ſich das franzoͤſiſche Weſen nicht nur deshalb zum Vergleich an, weil es das entgegengeſetzte iſt, ſondern auch weil gerade die Schweden eine große Sympathie und Schwäche für franzoͤſiſches Weſen haben. Naturlich, das iſt eben der Zug jedes weſens nach ſeinem Gegenſatz. Und ſo ahmt man nach, entdeckt Ahnlichkeiten bei den anderen. Es darf aber nicht uͤberſehen werden, daß die Wurzeln, aus denen Gleiches entſpringt, doch jeweils die allerverſchiedenſten ſind.

vI

ie franzoͤſiſche Form und Zeremonie fällt mit dem Außerungswillen zuſammen, ja, fie iſt aus der Freude geſchaffen, die Menſchen zufam- menzubringen. Sie muß lebhaft, witzig, geiſtreich ſein, damit Lebhaftig⸗ keit, Witz und Geiſt in ihr angebracht werden koͤnnen. Sie iſt ein Anſporn zu Außerung als Leiftung und verlangt den Einſatz des Gefuͤhls. Im Norden iſt fie gerade geſchaͤtzt, weil fie den Einſatz des ganzen Gefuͤhls er- ſpart. Es bleibt die Frage, wozu mehr Vermoͤgen und Takt gehoͤrt. An Formen hat der Suͤdlaͤnder eine bewußte, ſpieleriſche Freude, der Nord⸗ laͤnder eine unbewußte Zuflucht. Ich zweifle nicht, daß man die nordiſchen voͤlker als politiſch ſehr begabt anſehen muß. Man preiſt die Diplomatie der Franzoſen und ihre aalglatte Gewandheit in der Politik. Demgegen- über ſcheint mir die Runſt der Diplomatie ihrem Weſensgeſetz nach eher zu nordiſcher Seelenlage zu paflen. Sier iſt es ein tief eingewurzelter Trieb, ſich verbergen zu muͤſſen, zunaͤchſt ganz, ohne ſchaden zu wollen. In gewiſſem Sinn iſt die Intrigue des Suͤdlaͤnders harmloſer, weil man leicht voraus ſetzt, daß ſeine Gefuͤhle und ihr Schwerpunkt ſchnell und unwillkuͤrlich mit umſchlagen und beteiligt find. Diplomatie iſt ein Vorſchuͤtzen von Formen, um das innere Weſen nicht ſichtbar werden zu laſſen. Richtige Intrigue des Nordlaͤnders iſt faſt unentrinnbar. Ein engliſcher König war der voll · endete Meiſter der Einkreiſungspolitik. An Sagen, Kriemhild, in den Sa⸗

gas und der Edda ſehen wir Zuge meiſterhafter Diplomatie. Nordiſche Diplomatie iſt Derbüllung des Weſentlichſten und viel Tradi-

200 Z3Zermann Gumbel

tionsſinn und Biederkeit im Gebrauch der Mittel. Franzoͤſiſche Staats⸗ kunſt fordert ůberlegene Beweglichkeit der Mittel und vermag es ſchwerer, dauernd die großen Grundlinien zu verbergen. Wir Deutſche nehmen hier (wie man 3. B. an Bismarck zeigen koͤnnte) eine Mittelſtellung ein. Abhilfe gegen die Unpolitiſchkeit des Volkes, die man ſo oft beklagt, koͤnnte auf zweierlei Weiſe geſchehen. Skrupelloſigkeit in der Wahl der Mittel liegt uns nicht. Eher koͤnnten wir etwas mehr Sicherheit im Bewußtſein, Geſchick im Schutze, Sartnaͤckigkeit im Feſthalten unſerer großen politiſchen Saupt · punkte gebrauchen.

vn 5 ie Schweden haben in Anders Zorn einen Maler freier, ſtarker, aber erfriſchend ſauberer Sinnlichkeit gefunden. Er offenbart die ganze ge⸗

ſunde Leiblichkeit des Nordens und ſeine kraftvolle, traͤumende Schoͤnheit.

Es iſt bezeichnend, daß Zorn in Paris gelernt und lange Jahre, auch ſpaͤter

immer wieder, dort zugebracht hat. Er holte ſich dort die Můheloſigkeit und

Unbefangenheit, feinen Trieb auszuſprechen, und es gelang ihm, zu Auße-

rung deſſen zu ſchreiten, was für den Nordlaͤnder das Elementarſte, Intimſte

und darum am meiſten Gehůtetſte iſt, unverhuͤllte Sinnlichkeit. Da, wo er er ſelbſt und vom Franzoͤſiſchen unbeeinflußt iſt (was durchaus nicht immer der Fall iſt), hat er auch den Stoff rein nordiſch gefaßt und feinen Leibern bei allem Elementaren doch eben den Glanz von Unnahbarkeit, ſtolzer Selbſtbeſtimmung und herrlicher Eindeutigkeit gegeben. (Dieſe Perſoͤnlich⸗ keitsgrundlage macht Nacktbaden uͤberhaupt erſt möglich.) Trotzdem iſt er bei dem Durchſchnittsſchweden (ſoweit ich urteilen kann) etwas drunter durch. Ein klein wenig ſcheint man ſich feiner zu ſchaͤmen, nicht feiner Bil- der, ſondern feiner als Kerl. Man entruͤſtet ſich nicht (moraliſch), aber man verdenkt es ihm etwas, daß er fo viel von nordiſchem weſen ent⸗qaͤußert hat.

Eine Dirne in Paris mag etwas viel Offentlicheres, Belangloferes fein

als eine Dirne in Stockholm. Bekannt iſt die harmloſe Offenheit, mit der

Suͤdlaͤnder ſich erotiſchen Abenteuern hingeben und mit der ſie ſie erzaͤhlen.

Selbſtredend gibt es im Norden ebenfalls Dirnenunweſen, aber das iſt

etwas, woruͤber man ſchweigt. Man hat darum noch nicht mehr Gefuͤhl

für Sünde und Moral, aber für Entaͤußerung und Sinſchmeißen der Per; ſoͤnlichkeit. Es iſt Raſimir Edſchmid eine freilich etwas draſtiſche und bedenk⸗ liche Charakteriſtik der deutſchen Dirne ſehr verdacht worden. Im Sach⸗ lichen hat er nicht unrecht. Gerade auf dieſem Gebiet mag die Miſchung von zwei entgegengeſetzten Typen beſonders peinlich und charakterlos wirken. In

Frankreich find alle dieſe Dinge liebenswuͤrdiger, kindlicher, ſelbſtverſtaͤnd

licher. Im Norden waltet etwas von letzter Daͤmonie dabei. Man muß

nur denken, wie vulkanartig ſolche Tiefen und ſolche Triebe aus Strind- berg hervorbrachen. Es iſt erſchůtternd, zu ſehen, wie er, ganz von nordi⸗ ſcher Saltung beſtimmt, mit feinem ganzen Leben ſich ſelbſt das abbuͤßen

vom Welten des nördifchen Menſchen 201

ließ, was in ihm war und was er geſtalten mußte. Kleiſt aber ſtellte neben pentheſilea das Kaͤthchen. |

Faſſen wir weitere Rumft ins Auge, fo erPlärt ſich hier, warum der Nor den (befonders aber Schweden), fo vergleichsweiſe wenig Romponiſten und Muſiker, aber hervorragende Schaufpieler hervorgebracht hat. Man ver- ſteht, wie in Frankreich die Luft der Malerei, die Aufloͤſung in Licht und Dunſt am erſten und einzigſten gelang. Blicken wir von hier auf Deutſch · land, ſo begreifen wir es wieder als Land der Mitte. Dann wird aber auch klar, wie die Muſik bei uns ſtets religioͤſe, ſakrale Sandlung war und Sym ; bol der Singabe und Löfung, die ſich nicht von ſelbſt verſteht, ſondern mit Ernſt und Frömmigkeit errungen fein muß. Seute trifft bei uns die „un⸗ heilige“, wirkungslůſterne, veraͤußerlichte Muſik (wie Tanz) vom weſten her, von Amerika, zuſammen mit der ſchwermuͤtigen, ſcheuen Kunft des Nordens, in der ſich die Erde traumhaft nach Erhebung, Erloͤſung ſehnt.

Und uͤberhaupt in ganz tiefem Betracht ſcheint uns unſer Seimatland wieder, wie im 30 jaͤhrigen Krieg, Schlachtfeld und Tummelboden zweier ſeeliſcher Mächte zu fein, die um den Beſitz des alten Europa ringen, doch noch unentſchieden ringen, fo ſehr weſtlicher Geiſt zu ſiegen ſcheint. Sier · von noch ein Wort.

VIII Err ſchwediſcher Biologe aus Finnland“, auf dem diefer Aufſatz weit gehend fußt, ſtellt ſehr ſchoͤn dar, wie der nordiſche Menſch vor allem

auf das reagiert, was fein perſoͤnliches Leben angeht, fördert oder hemmt. Er ſchildert den Schweden als Typus einer individualiſtiſchen Reaktions. weiſe. Andere Voͤlker gibt es, er nennt vor allem die ſlaviſchen, die Finnen, aber auch die Romanen find hierher zu rechnen, denen ein größerer Serden ; inſtinkt innewohnt. Der einzelne fuͤhlt ſich erſt ſicher, wenn er von der Maſſe gehoben und getragen iſt, und die Maſſen als ſolche reagieren kollek tiv. Der einzelne baut wenig auf feine Befühle und Triebe, ſondern ſtellt ſich ein auf die Lebenstriebe der Gemeinſchaft. Sier finden wir kollektiviſti⸗ ſche Reaktionsweiſe. In uns Deutſchen iſt die nordiſche Art gemiſcht mit den Reaktionsweiſen romaniſcher, ſuͤdlicher Art, mit kollektiviſtiſchen Ten- denzen. Stimmen wir Ringbom zu, daß der Typus der Zukunft, auch der der wahren ſozialen Saltung, der eines Ausgleichs und einer Verſchmelzung der beiden pſychiſchen Saltungen fein muß, dann zeigt ſich, daß wir wie auch Finnland durch unſere Zuſammenſetzung ſchon vorbeſtimmt ſind, dieſen Typus zu erzeugen. Dieſes Ziel enthaͤlt aber eine hohe Forderung und fällt uns nicht im Schlaf zu. In dem vergangenen Entwicklungsabſchnitt iſt unſer Volk von ſtarker kollektiviſtiſcher Einſeitigkeit ergriffen worden.

Lars Ringbom: J. Streitende Mächte und ſtrittige Ziele. Selſingfors 1921.

2. Die Erneuerung der Aultur. Stockholm 1925, beide leider noch unüberſetzt ins Deutſche.

202 Sermann Gumbel

wir haben Maſſenpſychoſen und lÜberſchaͤtzung der Zahlen und Mehr⸗ heiten erlebt; ja, man wirft der Republik nicht zu Unrecht den Einſchlag rein weſtlicher, formal demokratiſcher Formen vor. Die Einzellaͤnder Ha⸗ gen, daß die Weimarer Verfaſſung zu wenig den Charakter der Glied ; ſtaaten beruͤckſichtige. Ein noch lehrreicheres Beiſpiel iſt die Art der Praͤſi⸗ denten wahl. Sier ſtoͤßt individualiſtiſches Prinzip mit kollektiviſtiſchem zu fammen. Die Maſſe ſoll unmittelbar einen Einzelnen wählen, und zwar den Beſten. Das ſieht ſo aus, als ob man auf die Baſis einer Pyramide direkt den Spitzenſtein ſetzen würde, das iſt ſchlagender Ausdruck eines Fonfe- quenten Rompromiſſes. Die Perſoͤnlichkeit und ihr wertanſpruch wird fo zur Quelle immer anwachſender Kollektivierung, und man hat ja ge⸗ ſehen, wie die letzte Wahl die Individualitaͤten der vielen Partei ⸗Schattie⸗ rungen verſchwinden ließ und im weſentlichen zwei große Lager ſchuf, welche Entwicklung natürlich zu begrüßen iſt. Was wir hieraus folgern, ohne es aus Raummangel weiter ableiten zu koͤnnen, iſt größeres Recht der Perſoͤnlichkeit, Serausbildung einer Fuͤhrerſchicht von mehr individu⸗ aliſtiſcher Reaktionsweiſe und Moͤglichkeit und Beguͤnſtigung dieſer Ser⸗ anbildung. Wir haben hierin einen anſehnlichen Kronbeiſtand an Oswald Spengler, ohne uns mit ihm, der ſich in den Typ des amerikaniſchen Unter⸗ nehmers zu ſehr verliebt hat, decken zu wollen.

IX

pengler hat den Norden als Provinz bezeichnet, als für die Weltent

wicklung nicht mehr von Bedeutung. Spenglers gewaltiges Buch hat unter der Geiſtigkeit Skandinaviens nachhaltig gewirkt. Mit neuer Stoß kraft aber hat der Norden einen Beruf, eine Eigenbeſtimmung, eine Welt bedeutung erkannt und zum Zielpunkt aufbluͤhender Kraͤfte genommen. Das wird bezeugen, wer Gelegenheit hatte, im letzten Jahr den Aufſchwung des innernordiſchen Rulturaustauſches zu beobachten. Auf Tagungen, Kongreſſen, in der Gruͤndung von Geſellſchaften, Arbeitsgemeinſchaften allſkandinaviſchen Charakters zeigte ſich, wie lebendig die nordiſchen voͤl⸗ ker auf allen Lebensgebieten einander befruchten. Stolz der Zuſammen⸗ gehoͤrigkeit, Achtung vor der Ab⸗ art des Nachbarvolkes und freudiges meſſen der Kräfte traten dabei nicht nur in den Reden hervor, und auf die Kinder des begeiftert geliebten IJsland, die treuen Bewahrer urnordiſcher Saltung, blickt man wie auf den verhaͤtſchelten Liebling. Sogar die finni⸗ ſche Nation begab fi auf den Weg des Anſchluſſes an dieſe ſtarke, zu kunftsbewußte, große nordiſche Rulturgemeinſchaft. Sier iſt kein ſtaat · licher, geheime Machtehrgeize bergender Unitarismus und Imperialismus mehr zu befuͤrchten. welches Beiſpiel gibt die bruͤderliche Zuſammenarbeit nordiſcher Voͤlker uns, die wir uͤber politiſche Streitigkeiten und die alten, muͤßig geſchuͤrten Stammesantipathien noch immer nicht zum Reich Pom- men koͤnnen ! Wenn auch hierzu die Eigenbeſtimmung des territorialen Gr ·

Dom wWeſen des nordiſchen Menſchen 203

ganismus unerlaͤßlich iſt, fo wird doch zur Stärkung deutſcher Kulturein⸗ heit gerade die engere Beruͤhrung und Spiegelung der geiſtig⸗ kulturellen Unterſchiede und Eigenarten viel beitragen koͤnnen. Konzentration auf dieſe Aufgabe wird die Volkskunde vor muſeenhafter Einſeitigkeit be- wahren. Eine nur entfernt wertende und durch Raſſenhygiene oder -biolo- gie trennende Ausleſe wird die Gegenſaͤtze eher verſchaͤrfen als ůberwinden. Wenn überhaupt die Raſſenfrage neben der Blutsfrage auch eine Frage der bewußten Gefuͤhlszugehoͤrigkeit, der Entſcheidung für wahlverwandt⸗ ſchaften, der „Suggeſtionen“ iſt (wie Ringbom ſagt), dann wird nur per- ſoͤnliche Auseinanderſetzung, eigene Weſenserkenntnis und Geſtaltung der inneren Saltung das an Kulturfräften lebendig werden laſſen, was noch vom Norden in uns ſteckt. Und hierauf kommt freilich viel an. Schon weil für uns die Frage, Perſoͤnlichkeit und Gemeinſchaft in einer ganz andern Weiſe zentral iſt, darf es ſich nicht um romantiſches oder fanatiſches Nach⸗ machen und Anhimmeln, ſondern nur um erkannte Geſtaltung nach unſe⸗ rer Weſensmiſchung handeln. Gelegenheit, die nordiſche Art kennen und lieben zu lernen, muß freilich geſchaffen werden, und nicht nach den Be ſichts punkten der Mode und der Konjunktur, fondern im obigen Sinn ſoll · ten die Vermittler des Geiſteslebens dieſe Moͤglichkeiten ſchaffen und ſie in weiten Schichten unſeres Volkes fruchtbar werden laſſen.

X

ber auch im Sinblick auf die Weltpolitik birgt dieſe nordiſche Zuſammen⸗

arbeit die guͤnſtigſten VDorausſetzungen für die Zukunftsgeſtaltung Eu · ropas. Deutet der Sinn der Entwicklung uͤberhaupt in die Richtung einer Art Staatenbund in Europa, fo kann der Weg dazu nur allmaͤhlich über Annaͤherung und Juſammenſchluß weltgeographiſch und volklich ange⸗ naͤherter Gruppen gehen. Der weltkrieg iſt die Kriſis ſolcher ſtaatlicher Gruppenbildung geweſen, die in erſter Linie ein machtpolitiſches Intereſſe bedingte. Deutſchland ſtand allein, denn fein macht wie kulturpolitiſch un- möglicher Dreibund fiel wie ein Rartenhaus. Die weſtliche Gruppe hat ſich behauptet. Es gibt heute kein Mitteleuropa mehr. Der Kulturſituation nach gibt es heute in Mitteleuropa nur Deutſchland, oder beſſer nur Deut ; ſche. Der Ausgang des Krieges hat uns draſtiſch fühlen laſſen, daß wir von der Wefgruppe geſchieden find. Man faſſe dies nicht als eine Stuͤtzung der Fiktion von der Erbfeindſchaft zwiſchen Deutſchland und Frankreich auf. Deutſchland ſcheint das einzige Land zu ſein, das ſich heute der aͤußeren wie der viel tieferen, irrational inneren Notwendigkeit der Bruppenbil- dung nicht bewußt iſt. Trotz der individualiſtiſch⸗ariſtokratiſchen Einſtel⸗ lung des Nordlaͤnders iſt der Rulturgemeinſchaftsgedanke im Norden ſchon in der relativ reinſten Form moglich. Das ſollte uns zu denken geben. weichliche Pazifiſten zwar möchten die Gebote und Tatſachen von Ahnlich keiten innerer Saltung verwiſchen oder durch Intereſſengemeinſchaft und

203

Gleichmacherei erſetzen. Groͤßere Sproͤdigkeit und Selbſtbewußtſein dem weſten gegenüber iſt der Geſundheit und Eigenart unferer Kultur (wie unſerer ZJiviliſation) dringendes Bedürfnis. Deutſchland wird immer der Schauplatz der Auseinanderſetzung und des Kampfes entgegengeſetzter Kulturen fein. Dieſe große und weltgeſchichtliche Beſtimmung harrt feiner dann, wenn es einmal nur noch Weſten und Oſten geben wird. Vielleicht wird dann Tod oder Zeugung in feine Sand gegeben fein. Die weſtliche und die ſuͤdoͤſtliche Gruppe in Europa ſchaut heute ſchon mit ahnungevollen Blicken nach dem Oſten. Deutſchland allein wird von dieſer Konftellation der Zukunft glatt zerrieben werden, wenn es ſich nicht darauf beſinnt, daß der Norden dem gleichen Schickſal entgegenſieht und daß Samburg und Sammerfeſt die Angelpunkte kůnftiger Aulturfronten find*. Deutſchland follte die Entwicklung erkennen, daß immer größere Gruppen die kleineren aufſaugen werden. Paneuropa wird nicht entſtehen wie Athene, die ge- panzert dem Saupte des Zeus entſprang. Der Norden bereitet ſich ſchon heute mehr oder weniger bewußt auf die Aufgabe, als dritter, ſtarker, inten- ſiwſter, kulturell unerſchuͤtterlicher Faktor die kommenden Antitheſen euro⸗ paͤiſcher Entwicklung uͤberdauern, ja beſtimmen und prägen zu konnen. Seine Volkskraft iſt nicht mehr jung, aber noch unerſchoͤpft und hochent ; wickelt. Unſere Vergangenheit iſt mit der des Nordens verwachſen. Wird es auch unſere Zukunft ſein?

Martin Gleisner

Martin Gleisner

Elemente des Laienſpiels

| enn man heute von wertvoller Laienkunft fpricht, meint man w faſt immer nur das Theaterſpiel von Jugendgruppen und Schu ;

len. (Wobei man mit Recht die zahlenmäßig fo ſtarke und ver · breitete Tätigkeit der Theatervereine als kulturell hoffnungslos unbeachtet laͤßt.) Man ſieht die ſchoͤnen Anſaͤtze dieſes Laienſpielens, aber auch feinen Stillſtand und feine augenblickliche Not (die Sans Tuͤgel hier kurzlich ein- gehend geſchildert hat), man macht von allen Seiten Vorſchlaͤge zur Weiterführung, die ſich aber faſt nur auf Einfuͤgung neuer Literatur in den Spielplan und die geiſtige Einſtellung der Spielergruppen beziehen, man denkt aber nicht an die Materials ⸗, die techniſchen Grundlagen. Man uͤderſieht im allgemeinen, daß das Theaterſpiel als Geſamtkunſtwerk ein Ineinanderarbeiten der einzelnen Künfte, des Wortes, des Tones und der Bewegung iſt. Dieſe drei Materialien, die in ihm verarbeitet ſind, ſind wieder, jedes für ſich, eine ſtarke und mächtige Kunft mit großen Moͤglich⸗ Vgl. bierzu K. v. Boed mann : Vom Bulturreich des Meeres. Frank Thieß : Das Seſicht des Jahrhunderts: Politik.

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keiten und ſelbſtaͤndigen Runſtwerken verſchiedenſter Axt und ausgebildeten Techniken. Nun iſt es vielleicht zweckmaͤßig, bevor man Beſſerungever · ſuche an der Zuſammenſetzung macht, ſich erſt nach der Laienkunſt auf dieſen drei Einzelgebieten umzuſehen und man wird da viel und Erfreu⸗; liches in lebendiger Entwicklung finden, fo daß man den Begriff und das Bild des heutigen Laienſpiels über das Theaterſpielen hinaus auf das choriſche ZLaienkunſtwerk auf allen Gebieten erweitern muß, da es die Muſikpflege, die Sprechdichtung und den Tanz umfaßt.

Zweierlei iſt allem Caienſpiel gemeinſam, das eben den Laien vom Dilet tanten trennt: die Gruppe ſtudiert ſich nicht ab und zu für ein Seft, auf gut Gluck, irgend etwas einzeln und zuſammenhanglos ein, ſondern fie arbeitet erſt einmal, macht ſich mit den Grundgeſetzen und der Technik der von ihr geliebten und gepflegten Kunſt vertraut, fest ſich mit ihnen auseinander; dann verſucht fie mit ihrem fo erworbenen Können, das im einzelnen natürlich geringer fein muß als das des Berufskůnſtlers, nicht deſſen Pro- gramm ſklaviſch nachzuahmen, das heute notwendigerweiſe Individuelles ausdruͤcken, Individualleiſtungen enthalten, und dem Geſchmack eines zweifelhaften Publikums entgegenkommen muß. Die Gruppe wird ſich vielmehr zu ihrer Darſtellung Kunſtwerke ausſuchen, die Allgemeines aus; drucken, eine Gruppe zu ihrer Darſtellung verlangen und aus ihrem Er lebnis uns auch heute Tieferes zu ſagen haben. So wird ſie auch in ihren Programmen Neuland finden und vielleicht auch anregen und ſchaſſen konnen.

Die Muſik, die ja im Kunſtempfinden des Europa der kan Jahrbun⸗ derte als Gegenpol der zunehmenden Intellektualiſierung vorherrſchend war, iſt ja immer ſchon von einzelnen und auch von in Gruppen (Choͤren) zuſammengeſchloſſenen Caien gepflegt worden. Nur war im großen Gan zen dieſe Muſikbetaͤtigung entweder Einzelluxus oder rein gefuͤhlsmaͤßig auf das Lied konzentriert und ziemlich akademiſch Pübl geworden. Sier iR durch die Jugendbewegung, mit ihrem Ausgraben und Lebendigmaden des Volkeliederſchatzes ein Anſtoß zu neuem Leben gegeben worden, der ja an und fuͤr ſich im romantiſch Sentimentalen und unter der Grenze der Aunſtuͤbung ſtecken geblieben iſt. Nun find aber auch hier ein Vorgang, den man überall beobachten kann, wo wirklich ſtarke Kraͤfte in dieſer Be wegung waren an vielen Orten muſikaliſche Arbeitskreiſe, Freiſcharen, Bilden entſtanden. Zuerſt wohl um Gritz Joͤde herum. Die Thüringer Muſikantengilde 3. B., die Walter Rein leitet, hat ein wirklich zufammen- geſpieltes Orcheſter aus Laien, das ſich wohl mit Berufsorcheſtern meſſen kann, und einen Singechor, der wirklich eins iſt. Sie arbeitet dauernd an techniſcher Vervollkommnung und uͤbt vorwiegend alte bisher in Archiven vergrabene Wiufif*. Wunderfchöne a-capella-Chöre, Serenaden, Madrigale

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Ranons, Maͤrſche blühen da aus der Verwunſchenheit auf und haben, ge⸗ konnt wiedergegeben, ihren Verkuͤndern und Soͤrern mehr zu ſagen als die Salonmuſik des Bürgertums. Es haͤngt wohl mit der ganzen Problematik der heutigen Cage der Muſik zuſammen, daß dieſe Bewegung bis jetzt ſich immer alter Muſik bedient und, wenn fie neues formt, es im alten Stil klingen laſſen muß (doch taſtet man auch ſchon weiter); es ſpiegelt ſich eben die allgemeine Lage dieſer Kunſt auch in ihrer Laienausuͤbung; fo wie heute wieder die modernſten Romponiſten ſich in die alten Formen fluͤchten d. Das zweite Element, das geſprochene, lebendige Wort, iſt bisher bewußt faſt nur vom Schauſpieler oder Rezitator gepflegt worden. Soͤchſtens, daß der Prediger oder Politiker ſich zu Gebrauchszwecken etwas im Sprechen uͤbte. Auch hier entwickelt ſich ſeit kurzem gemeinſame Nunſtuͤbung von Caiengruppen. Sprechchoͤre entſtehen überall, vornehmlich an den Univerſi⸗ taͤten und in den proletariſchen Jugendgruppen. Der ſchoͤnſte und wirklich kuͤnſtleriſches Inſtrument gewordene unter den mir bekannten iſt der, den Vilma Moͤnckeberg im Umkreis der SamburgerUlniverfität ins Leben gerufen hat. Er gibt, uber das rein vernünftige Sprechen hinaus, Worterlebnis und rhythmiſche Formung und iſt faͤhig, große Sprechoratorien aufzufuͤhren. Dabei iſt auf einen Grundſatz hinzuweiſen, den Frau Moͤnckeberg ſtreng durchfuͤhrt: wer in ihren Chor eintreten will, muß ſchon die grundlegende Sprechtechnik geuͤbt haben. Dieſer Sinweis iſt nötig, denn überall werden jetzt Derfuche zur Sprechchorbildung gemacht, die notwendig ſcheitern muͤſſen, weil mit dem choriſchen Sprechen begonnen wird, ehe die einzelnen Teilnehmer auch nur das primitivſte Sprechkoͤnnen beſitzen. Ein Verſuch, der beiſpiels halber in der Muſikpflege undenkbar wäre: es würde doch keiner einem Grcheſter beitreten wollen, ehe er, wenn auch noch fo an; faͤngerhaft, ein Inſtrument beherrſcht, oder an einer Geſangsauffuͤhrung teilnehmen wollen, ehe er die Tonleiter einwandfrei ſingen kann. Aber da das Sprechen taͤgliches Verkehrsmittel iſt, denkt jeder, er beherrſche es auch als Kunſtmittel, und iſt ſich gar nicht der Schwierigkeiten und Bildungs moͤglichkeiten bewußt. Auch hier gilt der Grundſatz jeder Kunſtuͤbung: Kein Können, kein werk wird einem geſchenkt, man muß ſich die Mittel erſt erarbeiten. Es erhellt natuͤrlich ohne weiteres, wie wichtig der Sprech chor fuͤr die Ausgeſtaltung unſerer Feiern und das wachſen einer neuen Kultur nicht nur der Laien · , ſondern auch der Berufsbuͤhne iſt. Und auch auf dem dritten Gebiet, dem der Bewegung, gibt es ſchon Laienkunſt. Die Kunſt der Bewegung iſt der Tanz. Und da werden die einen uberhaupt die Berechtigung, dieſe Muſikausdeutung eine Eigenkunſt zu nennen, ablehnen. Die anderen, die an einzelnen Taͤnzerperſoͤnlichkeiten und Tanzgruppen in den letzten Jahren die Möglichkeit, ja Stärke und Macht des kuͤnſtleriſchen Tanzes erlebt haben, werden bei dem wort

An den meiſten Volks bochſchulen gibt es Sing · und Inſtrumentalgruppen, die in dieſem Sinne arbeiten.

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„Laientanz“ mit Grauen an die Noſtuͤmtaͤnze der jungen Damen auf Familienfeſtlichkeiten und Baͤllen denken; oder an die grazioͤſen „Aus drucksbewegungen ! von Turnerinnen oder Gymnaſtikmaͤdchen zu Muſik; auch dieſe anderen werden den Laientanz nach ſolchen Erfahrungen für kuͤnſtleriſch unmöglich halten.

Aber das Erwachen des Rörpergefühls ſeit ooo etwa, das als Proteſt gegen die „Derkopftheit ! (Paul OGeſtreich) der letzten Generationen fo ſtark auftritt und in allem Sport, Wandern, Roͤrperſchulen fi äußert, gipfelt in der Entwicklung der Kunſt der menſchlichen Bewegung von der Muſik⸗ illuſtration zum freien, abſoluten Tanz. Es dürfte den Leſern dieſer Zeit ſchrift bekannt fein, daß dieſe Entwicklung an den Namen Rudolf von Labans geknuͤpft iſt. Es iſt hier nicht der Ort, den ganzen Umfang feines bisherigen Schaffens zu ſchildern, nur ſchlagwortartig kann ich das fuͤr unſer Thema Noͤtige andeuten: Laban hat nicht nur Tänze und Tanzſpiele geſchaffen und die Grundlagen der taͤnzeriſchen Weltauffaſſung dargelegt, er hat die Grundgeſetze der Raumharmonie und Bewegunge dynamik ent- deckt, ſie in ſeiner Bewegungslehre auf einfachſte Formeln gebracht und da⸗ mit die Möglichkeit geſchaffen, jede Bewegung und Bewegungsfolge auf- zufchreiben** ; fo erſt iſt es möglich, Klarheit in ihr verwirrend reichhaltiges Durcheinanderwogen zu bringen, einen Tanz von ſeinem Schoͤpfer zu loͤſen, ihn reproduzierbar zu machen. Die Wichtigkeit dieſer Geſetzfſindung und der Schreibmoͤglichkeit erhellt klar, wenn man ſich die Lage der Muſik vor Geſt legung der Tonleiter, der Sarmoniebegriffe und der ſich daraus ergebenden Notenſchrift vorſtellt: ohne eigene Geſetze, immer nur mit dem Wort verkoppelt, traditionslos. So war bis jetzt noch die Lage des Tanzes. Nun iſt durch Laban die Moͤglichkeit gegeben, feine Geſetze aus feinem Material Bewegung des menſchlichen Körpers im Raum heraus uͤbend zu er · leben, weiterzugeben und klare Bewegungsbegriffe zu ſchaffen. So hat er feine taͤnzeriſche Gymnaſtik herausgebildet, die von Anfang an auch den Laien mit und neben der primitiven Lockerung und Durcharbeitung des ganzen Roͤrpers die Macht und Kraft der freien Eigenbewegung emp- finden, die taͤnzeriſche Freude an ihr erleben laͤßt. Dieſe Bewegungsfreude läßt er nun aber nicht im gefuͤhlvollen Augenblickseinfall verflattern, ſondern er macht fie bewußt und formt fie, eben durch das Üben dieſer ge⸗ ſetzmaͤßigen Grundformen der Raumharmonie. Da dieſe gemeinſamen Ubungen immer auch zwanglos zum taͤnzeriſchen Gruppenſpiel fuͤhren, iſt es nur noch ein Schritt bis zum Entſtehen des choriſchen Gruppentanzes. So waͤchſt der Bewegungschor Laban, der, geführt von Taͤnzern, in Feiern choriſche Bewegungswerke darſtellt, die gemeinſames Erleben und gemein; ſame Tanzfreude der Gruppe geſtalten.

So hat Laban den Kunſttanz nicht nur für den Berufstaͤnzer erneuert, erſchienen bei Eugen Diederichs, Jena.

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ſondern auch den kuͤnſtleriſchen Laientanz geſchaffen. Damit hat er das allfeitig verbreitete Beſtreben nach Roͤrperbildung (und damit die Bym- naſtik) aus der Ebene des bloß geſundheitlich Nuͤtzlichen und Individuellen gehoben, es zum Mittel des Gemeinſchaftslebens gemacht, mit der Möglich keit, choriſche Kunſtwerke zu geſtalten, in denen nun nicht mehr nur eine Teileigenſchaft und Fertigkeit, ſondern der ganze leibhaftige Menſch wirkt, ſich und ſein Gemeinſchaftsgefuͤhl erlebt und ausdruͤckt. Und, daß er das in der Sprache der Bewegung tut, iſt heut wohl wichtiger als das gleiche Geſchehen im Ton und Worterleben; denn dieſe Sprache hat fo viel neues zu fagen. Der freie Tanz geſtaltet Erlebniſſe, die in Ton und Wort nicht ſagbar ſind, fuͤhrt zu Erfahrungen an uns ſelbſt, die uns jahrhundertelang verſchůttet waren. Das iſt das wichtige an dem Erſtarken der Tanzkunſt überhaupt für unſere Zeit und „darin liegt die Rernaufgabe der Bewe- gungschoͤre: Einen Sinn mehr, einen grundlegenden Sinn für die eigent ; liche Menſchwerdung wach zu erhalten und immer ſtaͤrker leuchten zu laflen“, und „Aulturbiftorifch betrachtet gelangen wir in eine Periode, in welcher der von Laien ausgeübte Kunfttanz den fruͤheren Volks und Geſellſchafts · tanz zu verdrängen beginnt, oder wo vielleicht die beiden Gattungen neben- einander beſtehen werden, wie 3. B. auch heute noch neben der allgemein gepflegten Tonkunſt die Volkes muſit weiterlebt d.“

So ſehen wir in der Muſikſchar, dem Sprechchor, dem Bewegungschor, einen lebendigen Strom der Zaienausuͤbung in den Einzelkuͤnſten wirken. Überall die Gruppenkunſt als Seierarbeit, den berufstätigen Menſchen Ausgleich, Entſpannung, Löfung, Erhohung ihres Ichs in der Gemein; ſchaft geben. Und wie ſteht es mit dem Theaterſpiel? Da das Buͤhnenwerk eine gleichgewichtige Syntheſe von mindeſtens Wort und Bewegung ſein muß, iſt ſeine Reinheit und Vollendung ſelten zu finden. Ebenſowenig auf der Berufs · wie der Caienbuͤhne. Es iſt die Frage, wie weit dieſe Syntheſe heute möglich if. wie weit dieſe Vermaͤhlung aller Kuͤnſte zum Geſamt · kunſtwerk kuͤnſtleriſch rein berhaupt zu ſchaffen iſt. Nun iſt die Sehnſucht nach dieſem, das Arbeiten an ihm von jeher das Streben vieler geweſen. Die Verlockung, das Zeben in feiner ganzen Sülle und Wirklichkeit mit Wort, Ton, Menſchenkoͤrper ſcheinbar zu reproduzieren, iſt zu groß. Sein halbwegs Gelingen zu weit (ob auch tief?) greifend. Es erfaßt ja alle Ty⸗

»Aus der Kugſchrift Labans „Vom Sinn der Bewegungshöre” (zu beziehen von der Jentralſtelle der Labanſchulen, Samburg 24, Schwanenwik 38). Die Arbeit der Labanſchulen hat bereits zu ſelbſtaͤndigen Bewegungshor-Auffüh- rungen geführt, in Samburg und Berlin (Schulleitung Sertha Feiſt) unter Lei⸗ tung von Rudolf von Laban und Albrecht Anuſt und in Gera unter Leitung von Martin Gleis ner. Ein Bewegungschor Laban iſt angegliedert dem Theater in Redlingbaufen (doppelt erfreulich, da es eine reine Schaufpielbähne iſt). Natuͤr⸗ lich gibt es auch Bühnen, die dieſen Namen, der einem großen und fhönen kunſt erzie heriſchen Gedanken Labans gehort, als . . um 2 ei i bre Opern billige Statiſtiker zu beſchaffen. ö

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pen, den Derftandes-, den Ohren · , den Bewegungsmenſchen, iſt darum das verſtaͤndlichſte Runſtwerk, bietet jedem etwas; fo wird man es immer für große Seiern haben wollen. Und es gibt ja fo viel herrliche Dichtwerke, wundervolle Partituren fuͤr dieſes, nicht aus Inſtrumenten, ſondern aus allen Ruͤnſten zuſammengeſetzte Grcheſter. Aber ſchon bei der Auswahl der Stucke ergeben ſich für die Laienbübne beſondere Gefahren. Einſeitige Verſtandesmenſchen halten da für Drama, was bloßes Wort · und Soͤrſpiel iſt. Dagegen raͤt Sans Brandenburg: „So hat ſich die Jugend, wenn ſie Theater fpielt, in erſter Linie daruber klar zu werden, was fie kann und was ſie nicht kann. Das Charakterſpiel und die eigentliche Sprechkunſt ſind ihr im allgemeinen verſagt. Dagegen beſitzt ſie, weit mehr als das reifere Alter und das verbildete Berufsſchauſpielertum, die Faͤhigkeit zur Korper bewegung. Um die Bemeinfchaftsbühne als Zelebration nun auch kuͤnſt⸗ leriſch zu verwirklichen, muß die Jugend ihr Bewegungs · und Raumgefuͤhl auf alle Weiſe ausbilden, muß ſie das Spiel vom Tanz, von der bewegten Gruppe, vom feierlichen oder heiteren Reigen aufzufaſſen und zu geſtalten ſuchen /. Dieſen Weg iſt, nicht nur für das primitive Myſterienſpiel, ſondern für das feſtlich heitere Luftfpiel Shakeſpeares, ſeit Jahren in der Schulgemeinde Wickersdorf Martin Luferke** gegangen. In feinen Auffüb- rungen hat er, auch fuͤr die Berufsbuͤhne vorbildlich, den Charakter dieſer wirklich großen Buͤhnenwerke als Bewegungskunſtwerke wieder ent · deckt und ihren Darſtellungsſtil vom Reigen aus erneuert. Wer ſolch eine Auf führung gefeben, weiß, wie ſchoͤn fie das innerſte Weſen dieſer Stuͤcke trifft. Aber wie kommt nun eine Gemeinſchaft ohne die guͤnſtigen Vorbedin · gungen einer Schulgemeinde zu ſolchen Leiftungen wirklich kuͤnſtleriſcher Art? Nicht, indem fie Spielgruppen für dieſe ſeltenen Feierſtunden gruͤn det, denn wie die Caienkunſterziehung den Laien zum Muſiker, Sprecher, Taͤnzer je nach Veranlagung bilden darf und ſoll, ſo wenig darf ſie ihn zum Schauſpieler bilden und einbilden. Das Weſen des Berufsſchauſpielers iſt dauernde Verwandlung. Eine innerlich, ſchickſalsmaͤßig auferlegte aber auch ſtaͤndig geuͤbte Kraft, geſtuͤtzt von einer umfangreichen virtuoſen Technik in kunſt und handwerklichen Silfsmitteln. Dinge, die nur durch dauerndes Leben auf der Buͤhne zu erreichen und miteinander zu ver⸗ »Aus dem Aufſatz „Aufgaben des Jugendſpiels“ aus dem Sammelband des Jentralinſtituts für Erziehung und Unterricht „Jugend und Bühne“ bei Sirt, Breslau. Man kann nicht genug auf die ubrigen Schriften und uberall erſchienenen Auffäge von Sans Brandenburg über die Entwicklung des Tanzes und des neuen Buͤhnenſtils binweiſen, die für das Laienſpiel ganz ſtarke Anregungen enthalten; grundlegend für das gegenwärtige Theaterproblem uberhaupt iſt fein Aufruf „Das Theater und das neue Deutſchland“, Diederichs, Jena 1919, der merkwuͤrdig un⸗ beachtet geblieben iſt. Wenn dieſe Gedanken 3. B. aus Rußland gekommen wären, batten unfere Zeitungen Reihen von Feuilletons daruber geſchrieben, es wäre ein Modebuch geworden. „Shakeſpeare Aufführungen als Bewegungsſpiele “, Sei- fert, Seilbronn. Cuſerke leitet ſeit Oſtern 1925 die „Schule am Meer“ in Juiſt, in der er auch dem Bühnenfpiel noch größere Beachtung geben will. Tat xv 15

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ſchmelzen ſind; die der Laie nicht erreichen kann, aber auch nicht erreichen ſoll, denn er ſoll ſich ja nicht wie der Schauſpieler verwandeln, er will und ſoll nur ſich ſelbſt erhoͤht oder erheitert ſpielen. Das heißt, aufs Praktiſche angewandt: man muß aus der großen Gemeinſchaft, die man hat, die mMenſchen herausſuchen, die dem Charakterbild der Rolle ungefaͤhr ent ; ſprechen, und fie dann ſpielen laſſen. Sie werden es unter vernänftiger Leitung auch koͤnnen. Unter der einen Vorausſetzung, daß ihre Sprache im Sprechchor und vor allem (weil fie, wie oben gezeigt, das Sauptele⸗ ment des Laienſpiels iſt) ihre Bewegung im Bewegungschor fo weit ge- ſchult find, daß fie gefuͤgiges, ungehemmtes Mittel des Selbſtau drucke geworden ſind. So wird beim Einzelſpieler aus der Beherrſchung der Mittel eine kuͤnſtleriſch moͤgliche Einzelleiſtung erwachſen. Dazu wird die Geſamt ; auffuͤhrung weſentlich dadurch mitbeſtimmt, daß die Muſikgruppe die Begleitmuſik macht; und anſtatt der uͤblen toten Statiſterie der Bewe⸗ gungschor als Volk und Gefolge, dem Grundcharakter des neuen Buhnen; ſtils entſprechend, das die ganze Aufführung beſtimmende Reigengeflecht des Buͤhnenſpiels traͤgt. So wahrt man die Eigenart des laienhaften Theaterſpiels als ſeltene feſtliche Zuſammenfaſſung aller Rünfte und zuͤch⸗ tet nicht dadurch, daß immer dieſelben alle großen Rollen ſpielen, falſche Routine und kleine Stars mit Schauſpielereinbildung.

Eins iſt noch zu bemerken: meiner Meinung nach kann nur unter der Fuͤhrung eines Künfllers natürlich eines paͤdagogiſch und uͤberindivi⸗ duell eingeſtellten ſolche Chorbildung entſtehen. Noch fo gut gemeinter Dilettantismus kann nur zu Salbheiten führen. Der Kuͤnſtler muß die Elemente der Kunſterziehung weitergeben, denn nur dann werden fie aus der Totalität des Runſterlebens und nicht aus der Theorie kommen. Nur er kann der Fuͤhrer zum Nunſtwerk fein; was ja beim Gruppentanz ganz klar iſt, wo es noch keine gedruckten Werke gibt, ſondern jedesmal aus den Gegebenheiten die Form zu ſchaffen iſt. (Abgeſehen von dem vielfältigen Nutzen, den ein ſolches allgemeines Juſammenarbeiten von Rünfllern und Laien für unſere geſamte Rulturentwicklung haben würde. Es würde den Nuͤnſtler und die Kunft aus ihrer lebensfernen Vereinzelung loͤſen, den Laien durch Erarbeiten der Grundelemente der Runſt und der Renntnis ihres Materials ein viel tieferes Eindringen und uberhaupt erſt das Der- ſtaͤndnis abſoluter Runſtwerke ermöglichen.)

Wer dann beim Theaterſpiel Regie führen ſoll, iſt natuͤrlich Sache der Derfönlichkeit, die in dieſem Falle moͤglichſt mit allen Techniken vertraut fein und wenigſtens etwas fpezififches „Theaterblut“ beſttzen muß. Ob das nun das eine Mal der Tänzer, das andere Mal der Sprachmeiſter hat, jeden- falls dürfte es nicht der nur geiſtig Geſchulte fein. Der Regiſſeur muß alles vormachen koͤnnen. Zuferfe der „Paͤdagoge“ iſt kein Gegenbeiſpiel. Denn erſtens iſt er eine der wenigen wirklich ſtarken Regiebegabungen und dann laͤngſt kein Dilettant mehr. Denn er hat in fuͤnfzehn Jahren in Wickers⸗

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dorf jährlich etwa dreimal inſzeniert. Nicht jeder Beruferegiſſeur in Groß ſtaͤdten dürfte eine ſolche Regiepraxis haben.

Billiger iſt m. E. ein wirklich kůnſtleriſches Jugend ⸗Buͤhnenſpiel nicht zu haben: Ohne daß vorher die Einzelkuͤnſte gepflegt worden find, iſt das Geſamtkunſtwerk nicht möglich. Es gibt keine Spielkultur, ohne daß vorher Sprech und Bewegungskultur da find. Die aber mehr find als Mittel zum Zweck des Geſamtkunſtwerks, aus denen in den einzelnen Kuͤnſten ſtarke und eigene ZLaienkunſtwerke entſtehen konnen, die kuͤnſtle⸗ riſch reiner ſein und tiefer und bildender wirken koͤnnen, als es heute das Sprech ⸗Buͤhnenſpiel kann.

Umſchau Stufen der Jugendbewegung V»iĩ

bewegung zum Gegenſtand genommen haͤtte. Die hiſtoriſchen Selbſtanalyſen aus den Reihen der Bewegung ſelbſt ſind zumeiſt recht hilflos und ohne hiſtoriſche Maß ſtaͤbe, die Geſchichte von Prof. Meſſer iſt eine gute, heute unentbehrliche Chro⸗ nik, aber nicht mehr. Blühers Geſchichte des Wandervogels war ſebr wahrſchein⸗ lich eine große Geſchichtsfaͤlſchung, aber dafur war fie ſelbſt eine Tat, die der Be- ſchichtsſchreibung wuͤrdig iſt. (Auf ihr beruhen z. T. die falſchen Soffnungen, die Wyneken auf den Wandervogel geſetzt hatte, und die der Wandervogel als Geſamt⸗ beit auch niemals erfüllt hat.) Sie wurde ja auch geſchrieben, als es noch keine Ge⸗ ſchichte der Jugendbewegung geben konnte, als noch alles im Kuß und in anfaͤng · lichem Werden war.

Seute kann man die erſte Phafe der Jugendbewegung als abgeſchloſſen be⸗ trachten. Sie liegt hinter uns und kann, muß biſtoriſch gewürdigt werden. Eine ſolche Wuͤrdigung kann aber nur von jemandem kommen, der alle entſcheidenden Entwicklungs ſtufen dieſer Bewegung miterlebt hat, und der ſelbſt dennoch nicht aus den Bämpferreiben dieſer Bewegung ſtammt. Der Geſchichts ſchreiber die ſes Jugenbkampfes muß von außen an die Generation herangetreten fein, muß ſelbſt einer etwas fruheren Generation angeboren, um jene par distance zu ſehen. An⸗ dererſeits muß er ſelbſt hiſtoriſch geſchult fein, biſtoriſche Maßſtaͤbe mitbringen. Eine ſolche hiſtoriſche Wuͤrdigung der Jugendbewegung liegt in dem Werk von Eliſabeth Buſſe⸗Wilſon vor.

Die Menſchen der Jugendbewegung waren, dachten und handelten ganz bewußt unhiſtoriſch. So wie das Leben in jedem Neugeborenen immer wieder von vorn beginnt, ohne Rüͤckſicht auf Traditionen und Gewordenes (die erſt durch die Er⸗ ziehung an den jungen Menſchen herangebracht werden) neu „anfängt“, fo wollte einmal eine ganze Generation Jugend einen neuen Anfang machen. Es war der Sinn des Meißner · Gelůbdes von der inneren Wahrhaftigkeit und eigenen Ver⸗ antwortung, nicht nach dem Gewordenen, ſondern immer nur nach dem Sein- Sollenden zu fragen. Das Jiel war ein hoͤchſtes: auf dieſem Wege follte die ge · » Blifabetb Buſſe⸗Wilſon, Stufen der Jugendbewegung. Ein Abſchnitt aus der ungeſchriebenen Geſchichte Deutſchlands. (Bei Eugen Diederichs, Jena 1925.)

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ſamte europaͤiſche Bultur erneuert, verjüngt werden. Damit war die Jugendbe ; wegung eine gute, wahrhaft europäifche Angelegenheit. So kam es, daß dieſer Generation die leib volle, herrliche Gnade zuteil wurde, eine Geſchichte zu haben.

Heute iſt nach einem mehr als zehnjaͤhrigen, geiſtigen Kriege die Elite dieſer Generation gefallen, der Reſt iſt todwund, erfhöpft und ſogar kriegs müde. Wur ganz wenige harren auf einſamſten Poſten aus, buten das alte Feuer und hoffen auf eine neue, große Welle Jugendbewegung. Sie haben auf ein Privatleben verzichtet, ſind Soldaten des Geiſtes, der Jugendrevolution geworden. Andere baben ihrer Seimat den Rüden gekehrt. Der Reſt hat feine Exiſtenz durch Bürger- werdung ſaniert. Tauſende einer ganz neuen Jugendgeneration aber haben das Erbe der Jugendbewegung angetreten, ohne noch etwas zu wiſſen vom ohen Meißner, vom „Anfang“ und feinen Kämpfen, die Eliſabeth Buffe-Wilfon fo feinſinnig deutet, nichts mehr von jenem Verwirklichungsrauſch, der mit dem No⸗ vember J9J8 der deutſchen Jugend aufleuchtete, nichts vom Rampf um die Schule.

Da iſt es erlaubt, zuruͤckzublicken und die Bilanz dieſer erſten zehn Jahre Jugend · bewegung zu ziehen.

„Baben dieſe Menſchen (der Jugendbewegung) es fertiggebracht, ſich die geiſtige Unabhaͤngigkeit und Selbſtaͤndigkeit, das Leben ohne Autorität und ohne Vor⸗ bilder zu bewahren? “/. Das iſt die Generalfrage, die Eliſabeth Buſſe - Wilſon mit ihrem geſchichtlichen Rückblick beantworten will. Und fie erteilt den Menſchen der Jugendbewegung die Jenſur: „die Betrachtung kommt zu dem Schluß, daß die Jugendbewegung zu den ſicher nicht häufigen Vertretern des Menſchen⸗ geſchlechtes gehort, die ein großes Maß von Freiheit und Wichtbindung ertragen konnen, ohne einer der Erlöſung verheißenden Sekten zu verfallen. Es ſcheint aber, daß dieſer moraliſche Sieg nur ein Pyrrhusſieg war, der durch die Wirkungs · und Bebeutungelofigfeit dieſer Menſchengruppe innerhalb des Volksganzen er: kauft wurde

Doch es kommt hier weniger auf dieſes Urteil ſelber als auf ſeine Begründung an. Wir haben uns beute bereits zu ſehr daran gewohnt, in den jetzigen Maſſen des Jugendbewegungs volkes nur Verfall der alten, agreſſiven Jugendbewegung und einen Serd von Infantilismus zu ſehen. Jene Paſſivitaͤt und Lethargie, das Nichtreagieren und Sich · nicht · entſcheiden konnen, jener Mangel an Form und Ge · ſchmack, die die heutige Jugendbewegung zu einem großen Sammelpunkt der Jukurzgekommenen, der Muͤbſamen und Beladenen gemacht haben, bier wird dieſe Tatſache der Jugendbewegung als Refugium ſoziologiſch gedeutet, und ihre Träger werden ethiſch gerechtfertigt. |

Das muß um fo mehr beachtet werden, als es von einem Betrachter geſchieht, der ein Recht auf ein ſolches pofitives Urteil hat, da er felber kein Rechtfertigungs · bedärfnis hat, und außerdem Flaffenmäßig zu dieſem Jugendbewegungsvolk nicht gehort. Eliſabeth Buſſe⸗Wilſon, die ſelbſt aus einer alten Gele hrtenfamilie ſtammt, die eine der erſten Frauen iſt, die von dem noch nicht ſehr alten Recht des Frauen ; ſtudiums den Gebrauch zweckfreien Forſchertums gemacht haben, die aus der hiſto⸗ riſchen Schule Lamprechts hervorgegangen iſt, wendet ihr allgemein kultur ; geſchichtliches Wiſſen auf ihre Betrachtung der Jugendbewegung an, auf deren engerem Gebiet fie aber ebenſo zu Haufe iſt wie in den Fragen der Franzoͤſiſchen Revolution, des deutſchen Idealismus oder des mobernen Kapitalismus und feiner Gegenbewegung des Kommunismus. In keiner Weiſe dilettantiſch, ſondern mit

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der ſicheren, geſchulten Urteilskraft einer diſziplinierten, fpftematifchen, vergleichen- den Geſchichtsbetrachtung werden bier die einzelnen Entwicklungsſtufen der deut⸗ ſchen Jugendbewegung umfaſſend dargeſtellt. Die neue Jugend wird gemeſſen „an ihren Vorgängern und Nachbarn: am Verbindungsſtudententum der offiziellen wilhelminifhen Jugend, an der Untiefe und Leiden ſchaftsloſigkeit des Journa⸗ lismus und Literatentums “. In dieſer Darſtellung ſelbſt herrſcht weder Wander⸗ vogelromantik noch politiſche Tendenz, weder ſnobiſtiſches Literatentum noch jene Eunuchenobjektivitaͤt beamteter Wiſſenſchaftler, ſondern eine beſcheidene „intellek⸗ tuelle Rechtſchaffen heit“ wahren Forſchertumes.

In einem erſten Aufſatz wird die Wahlverwandtſchaft der Jugendbewegung mit der Urburſchenſchaft aufgezeigt. Die Urburſchenſchaft iſt undenkbar ohne die große Franzoͤſiſche Revolution, wenn ihre Träger dies auch nicht recht zugeben wollten und konnten. Sie war ein Teil des Emanzipationskampfes des dritten Standes, des Buͤrgertums, und als ſolcher revolutionaͤr im ſozialen Sinne. Doch yeigentuͤmlich wirkt nur das Verhalten der Nachfahren und Siſtoriker, die die ehemaligen Umſtuͤrzler verklaͤren, ihre Verfolgungen beklagen, nicht bedenkend, daß ihre eigene Generation ſich den empordraͤngenden Bräften ihrer Jeit gegenüber ebenſo verhält”. Doch der Weg der Urburſchenſchaft war „trotz allen Märtyrer: tums ein leichter im Vergleich zu dem der heutigen Generation. Sie kaͤmpfte ja für ihre eigene Bafte, fie handelte nicht gegen ihr „Klaſſenintereſſe“.

Die Abhandlung „Vom Weſen der Schulrevolution“ ſtellt die Geſchichte der Breife um Wyneken und den „Anfang“ dar. Der alte, unüberbrüädbare Begen- ſatz zwiſchen Freideutſchen · und Anfangkreiſen wird ſoziologiſch gedeutet. Die Freideutſchen waren eine Generation in Schoͤnheit, fie konnten daher nicht wahr baft revolutionde fein. „Es gehort nun einmal zum Charakter der geiſtigen Be⸗ wegungen, die den Kampf gegen die ungerechte Weltordnung führen, daß die Saͤßlichen und die körperlichen ſowie ſeeliſchen Sinkefüͤße die Fahne tragen.” Doch weiter darüber hinaus wird bier dieſer Gedanke zu einer Art „Ethik des Saſſes ausgebaut. Denn immer ſind es in der Geſchichte die „ſchlecht Behandelten“, fie „Zwerge und die Unzufriedenen“, die die Entwicklung weitertreiben. Sie dämpfen nicht für „eigene Wohlfahrt und Erloſung“, ſondern fie befreien „mit ihrem Werk die anderen, Wichtkaͤmpfenden“ mit.

Der Bericht über die freideutſche Tagung in Jena 1921s iſt inzwiſchen geradezu Haſſiſch geworden, einige treffende Ausdrucke gehen ſchon lange als ge; fluͤgelte Worte um. Die Verfaſſerin ſchildert, wie in dieſer deutſchen Jugendver⸗ ſammlung die deutſche Grundſtimmung jener Tage in hoͤchſter Potenz zum Aus; druck kam. Man verfiel einer Pſychoſe, die formal der von 1914 ahnlich war. Die voͤllige Silfloſigkeit gegenüber den Ereigniſſen ließ man ſich aber nicht ins Bewußt- fein kommen, ſondern verbarg fie hinter der Bejahung eines radikalen Nihilismus, hinter dem Gedanken des Abbaues bis zum Minimum. Sier waren ſchon die Reime jener ewigen Problematik ſichtbar, die die Freideutſchen ſpaͤter zu politiſcher Unfruchtbarkeit verurteilte und den Reſt jenem Fatalis mus zufuͤhrte, der in der tebula rasa des Bolſchewismus, in einem „Ragnarök“ das einzige Seil fab. Chi- lias mus, Apokalypſe und Utopis mus beherrſchten in hoͤchſter, metaphyſiſcher, welt⸗ ferner Problematik dieſe Jugend, die in ihren Inſtinkten empfaͤnglich war für die ſe erſcheinungen, die, wie Eliſabeth Buſſe · Wilſon tiefſchauend zeigt, immer in der Geſchichte derartige Rataſtrophen wie die von 1918s begleitet haben.

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In der Serbſttagung von 1920 in Hofgeismar fiebt die Verfaſſerin in die · ſem letzten, heftigen Juſammenprall der Freideutſchen mit den Rommuniſten das Ende der freideutſchen Jugend. In einer glänzenden Analyſe wird dargeftellt, wie · weit die freideutſche Ethik im Sinne der materialiſtiſchen Geſchichtsauffaſſung Haſſenbedingt iſt, wie aber dennoch ein bedeutſamer Reſt mit dieſer Lehre nicht zu deuten iſt. Andrerſeits wird nachgewieſen, daß die Bommuniften, die für ſich die „Rolle von Vollſtreckern des Weltwillens“ in Anſpruch nehmen, ihre eigene, materialiſtiſche Lehre nicht auf ſich ſelbſt und ihre Theorien anwenden. Es werden ſomit ganz allgemein die objektiven wie pſychologiſch⸗ſubjektiven Grenzen der materialiſtiſchen Geſchichtsauffaſſung aufgezeigt. Die Freideutſchen baben gegenuber dem kommuniſtiſchen Generalangriff von Softeis mar ihre gei- ſtige Freiheit gewahrt, trotzdem die Bommuniften dußerlich das Feld beherrſchten.

In dem Aufſatz „Rax Scheler und der homo capitalisticus“ ſowie dem

Nachſpiel „Max Scheler und feine Schuler“ ſetzt ſich die Verfaſſerin mit der ent · gegengeſetzten Wertung des kapitaliſtiſchen Jeitalters ſowie wiederum mit den Grenzen der materialiſtiſchen Geſchichtsauffaſſung auseinander. Es iſt zugleich der Bericht über eine Tagung, auf der die „akapitaliſtiſche“ (nicht antikapitaliſtiſche) Jugendbewegung ſich mit dem antiproteſtantiſchen und dennoch philokapitaliſti ſchen Neokatholizis mus Schelers auseinandergefeut hat. Ferner wendet fie ſich gegen die „Fuͤhrerhyſterie in der Jugendbewegung, gegen jüngerbaftes Verfallen⸗ fein an Propheten, das zur Sektenbildung fuͤhet und der geiſtigen Selbſtaͤndigkeit widerſpricht. „Vom heroiſchen Leben“ heißt die Abhandlung, die erklart, worin die für Wyneken tragiſche Tatſache beruht, daß die heutige Jugendbewegung fo gar nicht auf Wyneken reagiert, gar nichts mit ihm anzufangen weiß.“ Dieſe Menſchen, die er jahrelang geſucht hat, ſind wohl die ſeines Blutes, aber nicht zugleich die ſeiner Serkunft, feiner Vergangenheit und feiner Überlieferungen.” Und die Jugend bewegung „ftebt außerdem noch unter der Serrſchaft des blutigen, gekreuzigten Gottes, deſſen Jeiten Wyneken ſchon vorbei waͤhnt“. Nietzſche als Führer hinzu · ſtellen, „muͤſſe verhaͤngnis voll fein bei Menſchen, die das Kulturerbe dieſes Jeit alters nicht ſelber ſchon durchlaufen haben.“

„Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf“ iſt der aͤlteſte aus der Reihe dieſer Aufſaͤtze, mit dem Eliſabeth Buſſe · Wilſon an die Öffentlichkeit getreten iſt. Selten, ja, man kann wohl ſagen niemals hat Wyneken das Gluͤck gehabt, hier wie dort eine derartig fachliche Kritik zu erfahren. Noch heute glaubt man ja in den Breifen der ehemals Freideutſchen, Wyneken vernichten zu können, wenn man alte, laͤngſt erledigte, unſachliche Angriffe gegen ihn wieder aufwaͤrmt. Doch dauernder und wertvoller als derartige Pampblete iſt eine einzige ſolche Aritik an Wyneken und feinem Werk, wie ſie hier verſucht worden iſt. Gewiß, fie iſt mit Achtung zu ſeinem Werk geſchrieben, aber ſie iſt darum nicht blind, nicht devot. Das Wickers dorfer Gemeinſchaftsleben der Jugend wird in feiner ganzen Problematik bier enthüllt.

„Liebe und Aameradſchaft“ iſt ein Abſchnitt aus dem ſoziologiſchen Buche der Verfaſſerin „Die Frau und die Jugendbewegung“.“ Es iſt das Wichtigſte, was bisher uberhaupt über eine Bultivierung des Geſchlechtlichen in der Jugendbewegung geſagt wurde. Die ſogenannte Bameradfchaft iſt, biſtoriſch » Verlag A. Saal, Lauenburg a. d. Elbe.

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betrachtet, ein ungeheurer Sieg die ſer Jugendbewegungsgeneration gegenüber der buͤrgerlichen Trennung der Geſchlechter. All die Tauſende, die heute in diefer merkwuͤrdigen, dem Bürger un verſtaͤndlichen Aameradſchaft leben, wiſſen aber gar nicht mehr, wie groß das errungene Gut iſt, deſſen ſie teilhaftig werden. An dem, was vorher war, erſcheint die neue Aameradſchaft als eine große poſitive Schoͤpfung der Jugendbewegung, waͤhrend ſie letztlich jedoch auch Verzicht, ein Pyrrhusſieg, keine Löfung iſt. Wichtig find die beiläufigen Bemerkungen über die In verſion. Eine echte Inverſion bält die Verfaſſerin für ſehr ſelten und ſchaltet fie als ſoziologiſch unproblematiſch aus der Diskuſſion aus. (Während z. B. Blůher ſich gerade die echte Inverſion zum Thema gemacht hat; er ſteht damit auf einer ganz anderen Ebene; das eine widerſpricht nicht dem anderen.) Die Teil · oder Not ; invertierten dagegen find oft zu einer aferuellen Aameradſchaft mit den „ge⸗ ſchlechtsloſen Arbeitsbienen“ fo gut wie praͤ disponiert. So wird ein guter Teil die ſer Aameradſchaft als Geſellſchafts form ſoziologiſch erklart, der Reſt wird zu⸗ naͤchſt poſitiv als ſchͤöpferiſche Leiſt ung gewertet, um ſchließlich in den Augen einer überlegenen Frau manchmal „komiſch“ zu wirken. Doch muß man dieſe dop⸗ pelpolige Wertung der Verfaflerin verſtehen: rein hiſt oriſch wertend muß fie zu einem poſitiven Urteil kommen, aber unter dem Geſichtspunkt des Abſoluten, des Sein ſollenden erſcheint ja eine ſolche Löſung dann doch wieder als unsuläng- lich. Das iſt kein innerer Widerſpruch, ſondern es ſpricht nur fuͤr die Qualitaͤt eines Siſtorikers, daß er neben dem hiſtoriſchen Denken zugleich noch unhiſtoriſch er · kennen kann. Ohne ins Jyniſche zu verfallen, herrſcht in dieſem Aapitel ein Geiſt der intellektuellen Sauberkeit, an dem Nietzſche feine Freude haben würde. Waren die bisher erwähnten Kapitel als Aufſaͤtze ſchon fruͤher hier und dort ver⸗ ffentlicht, fo iſt völlig neu und nicht nur im bibliographiſchen Sinn das letzte Drittel des geſamten Buches über „Die Religionen des zwanzigſten Jahr⸗ hunderts und ihre Wirkung auf die Jugendbewegung“. Mit einer wahr: paft heiteren und überlegenen Aampfeinſtellung gegen jegliche „Arypto · Religion“, gegen alle Kirchen · und Sektenbildung, gegen jedes Juͤngertum oder Verfallenſein an irgendwelche Propheten und Meſſiaſſe entlarvt die Verfaſſerin die „ko mmuni ſtiſche Volkskirche“, die Sektenbildung um George, um Wyneken und um Dr. Rudolf Steiner als „Falſchſehen“, als „fehlerhafte Optik zu allen Dingen“, wie Nietzſche ſagen würde. Daß Kommunismus eine Glaubens ſache iſt, waͤhrend er ſich ſelbſt vortaͤuſcht Wiſſenſchaft zu fein, wird ausfuhrlich nachgewieſen. Seine gebaßteften Feinde find nicht die eigentlichen Gegner, ſondern die Schis matiker und Saͤretiker, und vor allem die Objektiven und NMeutralen. Und um dieſen Glauben bat ſich eine richtige ecelesle militans gebildet. Es gibt ein gelobtes Land, eine Stadt Zion, eine Sierarchie, eine richtige Scholaſtik und einen Index librorum prohibiiorum. Aber es wird auch nachgewieſen, warum der Bommunismus bie Volksreligion unſeres Jahrhunderts geworden iſt, waͤhrend die anderen Sekten von Heineren Schichten zehren. „Als krypto⸗ religidſe Gemeinſchaftsbildungen er- weiſen ſich fo mannigfache, ſcheinbar rein geiſtige Stroͤmungen. Bei ihnen finden ſich alle Merkmale echter Religionen wieder. Das zentripetrale Denken, der An · ſpruch auf Ausſchließlichkeit und die Unduldſamkeit gegen andere Bekenntniſſe.“ Von George ſpricht die Verfaſſerin mit gebuͤhrender Sochachtungz, nur meint fie entgegen der Theſe feiner Junger —, Georges Daſein könnte unſer Jahrhun dert rechtfertigen und gerade Menſchen, die nicht an ihn heranreichen und ſelbſt un;

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produktiv find, hatten nicht das Recht, unter Sinweis auf George über unſere Zeit den Stab zu brechen. Schuld daran ſei falſche Anbetung, Religionsbildung wo die Geſetze der Vernunft nicht gelten“. „Geiſtigen Dunkel und egozentriſchen SZochmut teilt der George · Glaͤubige mit allen Sektierern. Denn das auszeichnende Geheimnis iſt es, das den Auchangehoͤrigen von Chriſtengemeinſchaften und Volks · religionen dasfelbe ſtarke Selbſtbewußtſein vertritt, wie den vornehmen und ge- bildeten Verehrern des Dichters George. Es iſt das Beſte, was bis her zum The⸗ ma George von Außenſtehenden geſagt worden iſt.

Die Jugendbewegung iſt in ibrer Geſamtheit weder der heutigen Volksreligion noch den Sekten verfallen. Das iſt die Saupterkenntnis die ſes Werkes und die hiſto⸗ riſche Leiſtung dieſer Bewegung. Eliſabeth Buſſe⸗Wilſon ſieht darin einen hohen Grad von „geiſtiger Unbeſtechlichkeit und ruhiger Selbſtſicherheit“ . Die Jugend „konnte die ungeheure Freiheit, die fie ſich ebemals nahm, vertragen. Das iſt eine Probe, die die Menſchen nicht allzuoft beſtehen “. Uns ſchien es, als ob dieſe Un beſtechlichkeit nur ein wenig nach Silfloſigkeit aus ſaͤhe. Doch es fällt ſchwer in die Wagſchale, wenn ein Menſch wie Eliſabeth Buſſe⸗Wilſon nach einer derartig eingehenden Prüfung zu einem ſolchen Ergebnis kommt. Möoͤge fie recht behalten und möge die Jugendbewegung ſich durch dieſes Urteil nicht geſchmeichelt fühlen. Die geiſtige Unbeſtechlichkeit, die Eliſabeth Buſſe · Wilſon verlangt und mit der fie ſelbſt ihre geſchichtliche Betrachtung geſchrieben hat, iſt dem Geiſte Wietzſches wahl verwandt, wenn auch nicht von ihm entlehnt. Er kaͤmpfte gegen die letzte große Religion, beute gilt der Rampf den Krypto⸗ Religionen: „Man bat jeden Schritt breit Wahrheit ſich abringen muͤſſen, man hat faſt alles dagegen preisgeben muͤſſen, woran ſonſt das Serz, woran unſere Liebe, unſer Vertrauen zum Leben paͤngt. Es bedarf Groͤße der Seele dazu: der Dienſt der Wahrheit iſt der haͤrteſte Dienſt. Was heißt denn rechtſchaffen fein in geiftigen Dingen? Daß man ſtreng gegen fein Serz ift, daß man die „ſchoͤnen Gefuͤhle“ verachtet, daß man ſich aus je · dem Ja und Nein ein Gewiſſen macht! —“ Dieſes Nietzſche Wort konnte als Motto über dieſem Werke von Eliſabeth Buſſe ⸗Wilſon ſtehen. Richard Peters

Wenn Dichter zur Politik, zur Erörterung von Runder dee Weges Gegenwarts fragen ihre Stimme erheben, ſo er⸗ wartet fie leicht ein nachſichtiges, etwas verlegenes Laͤcheln. Man findet, daß ihre Maßftäbe, die aus den jenfeitigen Gefüuͤden reinen Schoͤpfertums ſtammen, nicht zulangen auf die harte und „reale Wirklichkeit und daß man ihre Stellungnahme des halb nicht recht ernſt zu nehmen braucht.

R. G. Binding aͤußert ſich zum letzten Krieg („Aus dem Kriege“ bei Rütten und Coening Srkf.). Man kennt B. als den Geſtalter ganz reiner, ſtiller Linien, einer kultivierteſten Welt von vornehmer Ausſchließlichkeit. Vielleicht ſieht ibn mancher auch als Vertreter einer Oberſchicht, die vor dem Kriege als die vornehmſte, ent⸗ wickeltſte galt. Andere werden um des Dichters Stellung zu den großen Lagern der Richtungen und Parteien wiſſen und auf dieſe Weiſe voreingenommen ſein. Aber in all das läßt ſich fein neueſtes Buch nicht einordnen. Man wird es weithin als zuſammenhanglos und etwas verfehlt betrachten. Dennoch enthält dies 29 eine wefentliche Erkenntnis über das Schickſal unferer Jeit.

Es gibt ſicher Kriegstagebücher, die kuͤnſtleriſch böber zu bewerten find. Daß man an einigen Stellen die hohe Sprachkunſt mehr ahnt als ſpuͤrt, das iſt zu wenig

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für eine aͤſthetiſche Leiſtung. Aber das Buch darf auch nicht dichteriſch gewertet werden. Andere vermiſſen dann ibrerfeits jede aktuelle Richtung. Es ſteht wohl oft vom Widerſinn die ſes Schlachtens geſchrieben, aber nirgends hört man die logiſche Folgerung, die zum Paziſis mus führen wurde. Dagegen iſt zuweilen richtige Luft am edlen Leben des Reiters zu erkennen. Und dennoch: kein ent ; ſchiedenes Eintreten für „Bott, Aöðnig und Vaterland“; kein Schmaͤhwort gegen die Elſäſſer, die überlaufen, gegen die „Vaterlandsverraͤter“; kein „Gott ſtrafe England”. Alſo weder klare Entſcheidung für „links“ oder „rechts“, noch Stellung · nahme zum Kriege uberhaupt, noch Worte vom hohen Beruf des Deutſchen und von ſeiner Seele.

Ja, was iſt denn das Buch eigentlich, wenn es alles dieſes nicht iſt?

Es iſt zunaͤchſt etwas ſehr Beſcheidenes: ein Menſch erzählt, nicht nur, was er im Brieg und wie er's erlebt hat, ſondern, was ihm der Brieg bedeutet hat. Das brauchte noch nicht allgemein zu intere ſſieren. Anderen hat der Krieg auch etwas bedeutet. Jedoch: daß er ſol che Deutung fand, iſt Ausfluß, Wirkung, Erſcheinung einer neuen Saltung zum Leben, ja, um es etwas anſpruchs voller und zugleich vorgreifend zu bezeichnen: einer „neuen“ Religioſitaͤt. Und darauf kommt es uns bei dem Buche an.

Die ſe innere Linie gilt es beraussufchälen.

Das iſt nicht leicht. Man muß das Augenmerk auf ſummariſche Saͤtze und kurze Abſchnitte, den Berichten und Erzaͤhlungen angefuͤgt, lenken, die nach dem Sinn der Dinge und Ereigniſſe fragen. B. iſt der harten Wirklichkeit des Krieges ganz hingegeben und kann doch nicht von ihr erdrückt werden, kann „oben hinaus⸗ fliegen und mich in allerhand Gegenden bewegen, aus denen man einen Schimmer mit nach Sauſe bringt“ (S. 238). Unbewußt liegt auch in ihm das Soffen auf den Sieg. Als Offizier füllt er den Platz aus, an den er geſtellt iſt, plant er noch im September 1917 (Denkſchrift) Silfe gegen die moraliſche Jerruͤttung der Armee, fühle er ſich ganz Glied des Volkes, das ſich behaupten will, noch lange, nachdem er ſchon „Dinge und Zeichen” gefeben hat. Seine Ahnungen, feine tiefen Voraus⸗ ſichten, daß wir den Krieg nicht befteben werden, feine Erkenntniſſe, daß wir uns verzettelten, keine Feldherrn hatten uſw., fie konnen ihm nicht das Gefühl innerer Verkettung mit dem Geſchehen zerftören. Es iſt reizvoll zu ſehen, wie jene Stim⸗ men mit ſolchen im Streit liegen, wo er energiſchere Kriegs fuͤhrung fordert (vgl. die Stelle vom Sieg als Gottesgericht und der Rechtsfrage S. 285). Sier iſt jemand, der ſich nicht durch Glanz und Taumel des Augenblicks darüber blenden und täufchen ließ, was die Dinge bedeuteten (3. B. Ubootkrieg, Kriegs propaganda, Ciebes gaben, ſerbiſche Aktion S. Jo), der nüchtern abſchaͤtzte. Und dann taucht er wieder heißen Serzens ins Geſchehen; in feinem eigenen Inneren ſteht Soff- nung gegen Einſicht, Anteil gegen Vernunft.

Man mag es merkwürdig inkonſequent finden, daß ſich der Dichter, da er den Ausgang wußte und die Faͤulnis fab, nicht Gehör verſchaffte, ſondern ſchwieg und trug. Daß er das Buch jetzt noch veroffentlicht.) Man verkennt gerade die er- greifende Menſchlichkeit in dieſen Blättern, wenn man das ſagt. Was ſich bier in einem Menſchen anbahnte, iſt zugleich der Aampf der ſich wandelnden Jeit geweſen. Einem einzelnen (gewiß nicht dem einzigſten damals) war das Geheimnis der Jeit, die Abſicht der Vorfehung geoffenbart worden. Er trägt dieſe Bunde, ſelbſt da ; gegen anrennend, fie in Zweifel ziehend, darum hadernd, durch die Jahre: „Und

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immer wieder gerate ich, in einer Art Abkehr in mir, auf jenen Berg, auf den Moſes ſtieg. Daß man auf ihn beraufgeswungen wird, das iſt das Fuͤrchterliche (S. 203), bis er zuletzt einſieht, daß die Botſchaft wahr iſt, daß das Sinnloſeſte Sinn und Segen bat. Da richtet er den Blick vertrauend auf das Rommende. Ihm it auch dieſer Krieg zu ungeheuerlich, als daß er um Land/ und Machtgewinn, um Lüge und Phraſe willen heraufgekommen fein kann. Er weiß vor allem, daß die Blutopfer nicht um eines aͤußerlichen Sieges willen gebracht werden muͤſſen, „um nachher in die gleichen unklaren Waͤſſer zuruͤckzuverſinken, in denen man ehedem gelebt hat (S. 71).

Seute ertönt ſein Mahnruf, da er jenes Volk wieder „in die gleichen unklaren waͤſſer“ verſinken ſieht. Er ſpricht dies Schickſal und feinen Sinn, deſſen deut · lichſte Mahnung der Krieg war, wieder aus. Bedenkt man, daß all dies damals ge ſchrieben und bewahrt wurde (denn wer haͤtte ihn nicht verlacht) und daß der Schreiber ſich nicht abſonderte, dann kommt einem die Geſtalt des Sagen in Erinne⸗ rung und jene hinreißende Szene beim Übergang der Nibelungen uͤber die Donau. Die Schwanen jungfrauen haben Sagen den Untergang des ganzen Seeres, mit Aus · nahme des Raplans, geweis ſagt. Sagen erprobt die Wahrheit und wirft den Raplan ins Waſſer, der zuruͤckſchwimmt. Da ſagt Sagen kein Wort, er bekennt ſich zum Schick fal und bekraͤftigt es: er zerſtoͤrt die Fähre und ſendet einen ſtummen Blick über die dem Tode Geweihten. Wahrlich, über dieſem Buche Bindings ik etwas Sagenſches.

Sier ift der Punkt, an dem wir, von einer anderen Seite ber weiter aus holend, die Betrachtung jenes eigentlichen Wertes des Buches anſchließen müſſen, des Wertes für das religidfe Werden. Wicht mit Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, Opfer⸗ finn iſt das neue Ethos genügend gewürdigt, das Ergebnis der Wandlung iſt (vgl. S. 54). Der Bern der religidfen Einſtellung, die aus jener Katharſis ent · ſprang, iſt Achtung (ich wähle das Wort für ſowohl Glaube wie Gehorſam wie Gefühl für . .) gegen das Schickſal. Man wird den Dichter fragen, was denn Schickſal ſei. Das kann von ihm weder inhaltlich analyſiert noch begrifflich for · muliert werden. Sicher aber fühlten wir nicht, wohin un ſer Schickſal wollte, als wir uns nach dem 18. November binfegten und jammerten: das haben wir nicht verdient, das iſt ungerecht, ungerecht von Gott, roh von den Feinden; als wir untereinander in Hader gerieten und jeder feine vielleicht nicht nur feine abe aus dem brennenden Sauſe „rettete“ und dabei den Naͤchſten ruͤckſichtslos niedertrat. In der Politik wurde am meiſten bingepfufcht. Man dachte nicht weiter, als diefen Tag am Leben zu bleiben, kein Fuhrer war da, der eine Linie und Jucht im Geſchehen fand. Fur Schickſal muß man freilich ein inneres Organ haben das macht den großen Staatsmann —, muß berufen fein, einen Weg zu geben und ihn geben, ohne daß er logiſch vor den Vielen darzulegen iſt. Eine Er⸗ ſcheinungsweiſe dieſer wahren Gott · Verlaſſenheit iſt der Mangel an nationaler Wuͤrde geweſen, der oft beklagt wird. Selbſtredend kann ein Volk, das ſich hintaſtet und keine Ahnung hat, was es ſoll, wohin es ſoll, wozu es beſtimmt iſt, keine wahre, d. b. angemeſſene, Wurde und Form haben, und hat es fie, fo kann es nur leere Phraſeologie und beſchraͤnkte Traditions verherrlichung ſein. So blaͤſt man jetzt allſeits die nationale Wurde auf. Saben die, die das tun, etwa mehr Ahnung von dem Schickſals weg, den dieſes Volk zu geben bat? oder legen fie ſich s nach ihrem Wollen aus? Wenn wir etwa die Zähne zufammengebiflen, kein Wort des Jammers, des Bettelns, der Anklage (Schuldigen Frage l) verloren hätten, uns

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auf Not und Verſchuldung drakoniſch eingeſtellt und in erſter Linie das Ge · ſchehene anerkannt haͤtten (ohne freilich erſt die Rriegsſchuldlüͤge zu unterſchrei · ben), dann hätten wir Gefuͤhl für das Schickſal gezeigt. Das Schickſals Wille ſchien es nicht, es noch laͤnger mit dem Serois mus der Schlacht zu verſuchen. Aber den Seroismus der Haltung, des Schweigens und der Einkehr, den hatten wir nicht. Den kann kein Volk im Sandumdrehen bekommen. Doch nicht einmal eine Ober⸗ ſchicht beſann ſich auf eine maͤnnlich · herbe, beiſpiels hafte Saltung (außer den alten Rentnern, die man verhungern ließ !).

Aeligidfe Erneuerung wird ſehr viel von dieſem heroiſchen Schickſalsge horſam bringen müſſen, der ſchwerer iſt als die Leidenſchaft des Widerſtandes. Sie wird, was damit zufammengebört, einen Impuls zu ſtarker Perſoͤnlichkeitsbildung ent- halten müſſen. Es ift kein Zweifel, daß vor allem die Kirche verſagt hat in den letzten Jahren der Pruͤfungen. Die Lehre von der Demut und der Gnade haben zu einem bequemen, gedankenloſen Soffen auf Gott geführt. Die Gnade trifft den Seher, den tätig Frommen dann, wenn ſich ihm Gottes Wille als Ziel und Forde · zung offenbart, wenn er fühlt, was „Gott“ mit ihm vor hat. Und aus dem Bebor- ſam gegen dieſe Offenbarung kommen dann von ſelbſt Wege, Kraft und Möglich; keit. Die Chriſten aber haben ſich gewöhnt um Gnade zu beten, d. b. zu bitten darum, daß Gott das Schickſal abwenden, andern möge, daß er's ihnen nicht fo ſchwer mache. Das Beten iſt zum Bitten und Betteln geworden, und man „wirft“ feine Leiden „auf Gott“, wie es treffend heißt. Aber das führte oft zu einfachem Sich · Treibenlaſſen. Geht man hier nicht an eine Erneuerung der Kirche aus beroiſchem Geiſte, aus dem Geiſte der Perſoͤnlichkeit, fo wird auch eine „Welt konferenz für praktiſches Cheiftentum” nur an den Symptomen herumbeſſern. Dieſer unſerer nordiſcheren Auffaſſung entſpricht die Geſtalt Cpriſti durchaus. Die Szene im Garten Betbfemane, der Einzug in Jeruſalem iſt das Gegenſtuͤck zu jenem Verhalten Sagens an ber Donau, von dem oben die Rede war. In Chriſtus war ein heroiſcher Jug. Und neben dieſe beiden Weltſymbole gehört der Luther in Worms, der junge Lutber im Auguſtinerkloſter.

Die Weltkonferenz für praktiſches Chriſtentum bat im Worden, in Stockholm, ſtattgefunden. Im Norden tritt uns die ſelbſtbewußte und geſunde Art eines handelnden Individualismus entgegen. Unſere Volks maſſen mit ihren kollektivi ſtiſchen Neigungen brauchen dringend die Führung einer Oberſchicht von Perfön- lichkeiten. Sierzu kann es uns nur helfen, wenn wir mehr auf die ſtolze, harte und ſichere Art des Nordlaͤnders ſchauen, der vor allem Perfönlichkeit iſt und fein will. In die alte nordiſche Überlieferung hinunterzugreifen fängt man heute zum Gluck ſchon an. Es iſt hier alles andere als der laͤcherliche germaniſche „Lichtglaube“ gemeint, romantiſche Schwaͤrmerei, ſondern wir reden in yſychologiſchem und biologiſchem Betracht. Im nordiſchen Weſen finden wir das nötige Gegengewicht und die Ergänzung unferer Art gegen weſtlichen Geiſt der Typiſierung und Auf: Iöfung. Von nordiſchem Weſen möge unfere ſeeliſche Saltung und religioͤſe For · mung etwas annehmen.

Sierzu iſt Bindings Buch ein Anſatz, und es gibt fo mittelbar zu all dieſen Ge · dankengaͤngen den Anſtoß. Denn in feiner Grundhaltung liegt ein Reim nordiſchen Wefens, es bringt etwas von nordiſcher Reaktionsweiſe in die letzten Fragen und das tiefe Suchen nach dem Sinn der Zeit hinein. Dieſe Bedeutung letztlich fur die religioͤſe Erneuerung herauszuſtellen, war die Abſicht dieſer Jeilen. Sermann Gumbel

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L'art pour l’art und proletariſche Dichtung . Ach

Bunft willen) ift ſtets das ſichere Jeichen der Verzweiflung einer Klaſſe an ihrer eigenen Exiſtenz, an der Möglichkeit im Rahmen, den die ihr zugrunde liegende Skonomiſche Struktur der Geſellſchaft, die daraus entſtehenden Formen und In⸗ halte des ſozialen Lebens sieben, ein menſchenwuͤrdiges Daſein ſinnvoll zu ge⸗ ſtalten.

Jeder, der die großen und ehrlichen Vertreter der Feri pour Fart kennt (bier fei vor allem auf Guſtav Aaubert, ſpeziell auf feine Briefe hingewieſen) weiß, wie ſtark dieſe Verzweiflung in ihnen gearbeitet hat. Weiß, wie ſehr ihre „rein kuͤnſt⸗ leriſche Befinnung nur eine Maske war, die den wuͤtenden und verachtungs vollen gegen ihre eigene Alaſſe, gegen die Bourgeoiſie ſehr durchſichtig verbarg.

Trotzdem konnten ſelbſt die ehrlichſten und ſchaͤrfſtdenkenden Vertreter dieſer Richtung über die wahren Urſachen ihrer Verzweiflung nicht ins Klare kommen, gefchweige denn einen rettenden Ausweg für den Sinn ihres Lebens als Kuͤnſtler finden. Dies hat aber feinen Grund nicht nur darin, daß fie als Burger nicht über ihren Schatten zu fpringen, nicht den Zorizont ihrer Blaffeneriftenz zu uͤber⸗ ſchreiten vermochten. Denn mancher ihrer Klaſſengenoſſen iſt ja gedanklich und praktiſch über die Schranken feines bürgerlihen Daſeins hinausgekommen: hat den Weg zum Proletariat, zur richtigen Kritik der Kritik in Theorie und Praxis ber bürgerlichen Geſellſchaft gefunden. Die Schranke liegt neben dieſer Schwierigkeit für jeden bürgerlich Geborenen, mit feiner Klaſſe volltänbig zu brechen, in ihrer Kuͤnſtlerſchaft felbft.

Denn der Rünftler nimmt das Leben ſtets unmittelbar. Je echter er Bünft- ler, er iſt umſo unmittelbarer. Er mag an Menſchen, Gruppen, Inſtitutionen uſw. eine noch fo derbe Kritik ausuͤben, zu den grundlegenden Gegenſtaͤndlichkeits⸗ formen, in denen ihm ſich das Leben feiner Zeit darbietet, muß er, um Kuͤnſtler bleiben zu konnen, ſtets in ſinnlich · naiver Unmittelbarkeit ſtehen. (Dante ſteht in dieſer Sinſicht auf einer Linie mit Sommer, Cervantes mit Shakeſpeare.) Die Tragik des Büänftlers in der buͤrgerlichen Geſellſchaft, aus welcher Tragik die ganze ert pour l’art-Bewegung entſteht, liegt nun, darin, daß gerade biefes Unmittelbarkeitsverhaͤltnis, die Grundlage der kuͤnſtleriſchen Einſtellung zur Wirklichkeit, geftört, ja unmoglich gemacht wird. Erſtens, indem die Entwick⸗ lung der bürgerlichen Geſellſchaft, bedingt durch die Entwicklung des Bapitalis- mus als einer die ganze Geſellſchaft beherrſchenden Produktions weiſe, die menſch⸗ liſchen Betaͤtigungen, die Beziehungen der Menſchen zueinander (den Stoff der Dichtung) in unertraͤglicher Weife abſtrakt, unſinnlich, ungeſtaltbar macht. Die geſellſchaftliche Arbeitsteilung des Kapitalismus, die Serrſchaft der Waren⸗ beziehung Aber alle Erſcheinungen des menſchlichen Lebens, der mit ihr un; lösbar verknüpfte Fetiſchismus aller Lebensformen uſw. umgeben den Bünft ler mit einer Umwelt, zu der er ſich, weil er Bünftlee alſo von heftiger, an · ſpruchs voller und waͤhleriſcher Sinnlichkeit iſt, unmoglich naiv = unmib telbar, freudig wenießens und freudig ſchaffend verhalten kann; zu der er ſich jedoch wenn er noch Bänftler bleiben will ebenſo unmoglich rein kritiſch, alſo intellektuell, uber die Unmittelbarkeit hinausgehend, verhalten darf.

Und dieſes unldsbare Dilemma verfchärft ſich weiter für den modernen Rünft- ler. Da jede echte und große Runſt eine Geſtaltung des Lebens in feinen höch⸗

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ſten Möglichkeiten iſt, geht fie ſtets über die naͤchſtliegende, oberflaͤchliche Wirk. lichkeit des flachen Alltages hinaus. Sie ſucht das Geſamtleben ihrer Zeit in feinen böchften Außerungen zu geſtalten; fie verläßt den Naturalismus, um bie Natur lebendig aufzufinden; fie kuͤndigt die platt vorgefundene Unmittelbar: keit, um bei einer alles Weſentliche umfaſſenden ſinnlichen Geſtaltung des Lebens zu landen. In dieſem Sinne iſt jede echte Dichtung: Kritik der Zeit. Der moderne Dichter muß aber, wenn er zum Beitifer feiner Jeit wird, in der bloßen, ab⸗ ſtrakten, unſinnlichen und kuͤnſtleriſch unerfreulichen Kritik ſteckenbleiben. Denn für das buͤrgerliche Bewußtſein iſt die ganze Geſellſchaft hoͤchſtens als abſtrakter Begriff gegeben. Und wendet er ſich aus kuͤnſtleriſchen Grunden von dieſer abſtrakten Ganzheit ab, wendet er ſich ausſchließlich den „konkreten“ unkritiſch ſinnlich aufgenommenen Einzelerſcheinungen zu, fo wird er Fünf leriſch in der grauen und oͤden Trivialitaͤt des buͤrgerlichen Alltagsleben erſticken. Sein kuͤnſtleriſches Gewiſſen fordert Unmögliches von ihm; die Vereinigung von unvereinbaren Verhaltungsweiſen. (Es ſei bier nur auf Sebbel, Ibſen, Tolftoi, Sauptmann uſw. verwiefen.)

Schon dies wurde ausreichen, um den verzweiflungs vollen untergrund des Fart pour l’art zu erklaren. Die Entwicklung der bürgerliden Geſellſchaft macht aber zweitens auch die Exiſtenz des Dichters in einer Weiſe problematiſch, wie fie es vorher nie gewefen iſt. Und zwar ſowohl innerlich wie außerlich. 1 18 lich, weil die zunehmende Bapitalifierung der Geſellſchaft das wirkliche, leben dige Beduͤrfnis nach Dichtung, nach Bunft immer geringer macht, die Beziehung von Dichter und Publikum immer ſtaͤrker in ein abſtraktes, dem Wertgeſetz der Warenbezie hung unterworfenes Verhaltnis verwandelt. Der Dichter weiß im · mer weniger, fuͤr wen er dichtet. Und wenn er nun dieſe ſeine ſoziale Wurzel⸗ loſigkeit als bochmätige Theorie von der Bunft um der Bunt willen ausdrückt, fo iſt dies im günftigften Fall eine verzweifelte Selbſtbetaͤubungz, die die ehelichen Bünftler in ibren Haren Augenblicken ſtets als ſolche durchfaben (ich verweise wieder auf Slaubert), ſteigert ſich aber bei den Kleineren und weniger Ehrlichen zu einem den Charakter auch als Bünftler korrumpierenden Selbftbetrug (man denke an Bünftler vom Schlage Wildes, D' Annunzios, Sofmannsthals uſw. ).

. Diefes ſoziale Entwurzeltſein des Rünſtlers gebt Sand in Sand mit der ee ren Wurzelloſigkeit der Bunft. Die Fünftlerifhen Formen, wie dies Goethe und Schiller ganz Har erkannt haben, entſtehen aus beſtimmten Bedärfniffen des Erlebens, wobei die typiſchen Möglichkeiten der ſtaͤrkſten ſinnlichen Erfuͤllung ſich zu den kuͤnſtleriſchen Formen (Epos, Drama uſw.) verdichten. Die kapita⸗; liſtiſche Entwicklung mit ibrer die menſchlichen Beziehungen abſtrahierenden Arbeitsteilung uſw. vernichtet aber nicht bloß, wie bereits gezeigt wurde, den Stoff der Dichtung, ſondern zerreibt auch ihre Formen, indem fie in den ab- ſtrakt gewordenen geſellſchaftlich atomiſierten Menſchen fo chaotiſche Beduͤrf niſſe nach geſteigertem Erleben des Lebens erzeugt, daß dieſe, von welcher Form immer, aber von keiner in angemeſſener, in wirklich kuͤnſtleriſcher Weiſe erfüͤll bar find. Der Dichter muß rein von ſich aus feine Formen finden: er muß zum Aſtheten, zum Anbänger des ert, pour fert werden. Eine große Bunft, eine wirklich formvollendete Runft iſt aber ſtets nur als Erfuͤllung eines eindeutigen und klaren Jeitbeduͤrfniſſes entſtanden. Die aͤſtheten haften Formſucher, mögen

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fie NWeuromantiker oder Expreſſioniſten beißen, muͤſſen notwendig innerlich formlos bleiben.

Es gibt freilich, wird man fagen, auch eine Tendenzkunſt. Dieſe zeigt aber keineswegs einen kuͤnſtleriſchen Ausweg aus dem Labyrinth des Fort pour Fert. Sie iſt vielmehr ſozial angeſehen und zugleich vom kuͤnſtleriſchen Be ſichts punkt ihr genaues Gegenſpiel. Denn jene „Tendenzen“, die Stoff und Sorm der Dichtungen beſtimmen ſollen und die im bürgerlichen Leben vom bür- gerlichen Geſichtspunkt aus möglich find, ſchweben entweder als abſtrakt⸗ roman · tiſche Utopien fo boch über dem ſinnlich geſtalteten Leben, daß fie mit ihm niemals kuͤnſtleriſch · organiſch vereinigt werden (der ſpaͤte Ibſen, aber auch G. Baifer, Toller uſw.) oder enthalten derart abſtrakte, triviale Alltags pro⸗ bleme des banalen bärgerliden Lebens, daß fie ſich niemals zur kuͤnſtleriſchen Höhe erheben konnen.

Auch dieſes Dilemma iſt nicht zufällig. Es ſpiegelt das ſoziale Daſein der buͤrgerlichen Klaſſe, die ſeit dem geſchichtlichen Auftreten des Proletariats in ſtets zunehmendem Maße immer unfäbiger wird, die Grundlagen ihrer geſellſchaftlichen Exiſtenz unbefangen zu betrachten. Da es ihr gleich unmög- lich iſt, dieſe ehrlich zu bejahen wie unbefangen zu kritiſieren. Sie iſt gezwungen entweder zu einer verzweifelten Seuchelei (die „Themenloſigkeit“ des Fart pour Yart, die Alleinberrſchaft der Form) ihre Zuflucht zu nehmen, oder zu jener trivialen Seuchelei, als ob jene Probleme, deren Vorbandenfein fie ſelbſt ſpuͤrt, durch oberflaͤchliche „Reformen“ aus der Welt zu ſchaffen wären.

So offenbart ſich im l’art pour fert, von welchem Standpunkt immer wir dieſe Richtung betrachten, immer klarer die Auswegsloſigkeit des bürgerlichen Daſeins; auch vom Standpunkt der Nunſt. Was kann aber dagegen die prole tariſche Revolution für die Entwicklung der Aunſt bieten? Junachſt ſehr wenig. Und für den proletariſchen Revolutiondͤr, für den Marriften ziemt es nicht, die wirklich vorhandenen Moglichkeiten utopiſch zu Aberfteigern.

Er darf vor allem nicht vergeſſen, daß die proletariſch · revolutionaͤre Runſt ſich ſozial in einer weit ungänftigeren Lage befindet, als ſich die Runft des revo; lutionaͤren Buͤrgertums im XVI. —- XVII. Jahrbundert befand. Denn damals ent- wickelten ſich bereits innerhalb der feudalen Welt die öͤkonomiſch - ſozialen Daſeins formen des bürgerlichen Lebens. Die bürgerliden Dichter waren alfo in der Lage, dieſes Daſein, an deſſen welterlöfensen Beruf fie noch einen wirk⸗ lichen Glauben haben konnten, unmittelbar - ſinnlich zu geſtalten (Der engliſche Roman des XVIIl. Jahrhunderts, Diderot, Keifing ufw.). Dagegen lebt das Pro · letariat, nicht nur, ſolange es den Kapitalismus nicht geftürst hat, ſondern, wie dies Marx in der Kritik des Gothaer Programmes unvergleichlich gezeigt bat, auch in der erſten, niedrigeren Phbaſe des Kommunismus in einer Welt, deren Grundſtruktur (Serrſchen des Wertgeſetzes, Arbeitsteilung, gleiches und abſtraktes Recht uſw.) trotz allen Umwaͤlzungen doch Strukturformen des Aa · pitalis mus beibehaͤlt. Die ungeheure Umwaͤlzung, die wir erleben, die das revo; lutionaͤre Proletariat vollzieht, waͤlzt an der unmittelbar ⸗ſinnlichen Wirk. lichkeit (an Stoff und Form der Dichtung) zunaͤchſt weniger um, als man es oberflaͤchlich glauben wurde. Dies erklart die „Enttaͤuſchung“ jener Intellek⸗ tuellen an der ruſſiſchen Revolution, die von ihr die ſofortige Adfung ihrer ſpeziellen Lebens note erwartet haben.

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Dennoch iſt hier ſchon ſehr viel geſchehen. Auch für die Dichter des noch kapi⸗ taliſtiſchen Weſteuropas. Denn für jene Dichter, die ſich innerlich der proleta ; riſchen Revolution angeſchloſſen haben, die die revolutionaͤre Entwicklung bes Proletariats wirklich mit erleben, zeigt dieſes Erleben einen Weg aus den An⸗ tinomien des Fart pour Feri. Bei allen Fehlern erhebt ſich Leonhard Franks „Bürger“ turmhoch über die „Tendenzdichtungen“. Eben weil die Größe feiner „Tendenz“ eine lebendige kuͤnſtleriſche Verquickung mit dem konkreten Stoff geſtattet, weil der in ihr lebende klar und bewußt gewordene Saß gegen die buͤr⸗ gerliche Geſellſchaft ihn über die Formloſigkeit der reinen Formenkunſt binaus- fuͤhrt. Und Anderſen ⸗Mexs gelingt es, das Erwachen des Alaſſenbewußtſeins in einem baͤuerlichen Arbeiter mit einem Reichtum des Details und einer Weite der Welt zu ſchildern, wie dies für ihre Stoffe nur den Dichtern der beſten Zeit des Bürgertums gelungen ift.

Und wahrend im übrigen Europa allgemein und mit Recht über den Still⸗ fand der Dichtung, uͤber Mangel an begabten jüngeren Dichtern geklagt wird, entſteht in Rußland eine ganze Reihe von neuen hochbegabten jungen Dich · tern, in deren Werken mögen fie oft taſtend und ſtammelnd fein man be⸗ reits Sen feften Boden fpürt, auf dem fie als Menſchen und Dichter ſtehen. Nicht als ob nun plötzlich eine von jeder früheren Entwicklung verſchiedene, uner⸗ hoͤrte Dichtung entſtehen würde. Die dies erwarten und wollen, find gerade die buͤrgerlichſten, der europaͤiſch · verzweifelten, uͤberformt · formloſen Dichtung Eu⸗ ropas am naͤchſten (über dieſe Literatur vgl. das Buch des Genoſſen Trotzki: Citeratur und Revolution). Man ſpuͤrt nur, daß die Dichter wieder ſozial einen feſten Boden unter ihren Füßen zu ſpüren beginnen und dies auf Stoff und Form ihrer Dichtung zuruckwirkt. Und es ſcheint mir keineswegs zufällig, daß das feſteſt geformte Werk, das mir bis jetzt aus dieſer Entwicklung bekannt geworben ift, Libedinſkis „Eine Woche“ das Werk des bewußteſten Prole ; tariers und Bommuniften unter dieſen Dichtern geweſen iſt. Denn im Pro⸗ letarier und Bommuniften vollzieht ſich eben jener Prozeß, der die bürgerlide Geſellſchaft (und mit ihr die Problematik ihrer Aunſt) zu uͤberwinden berufen iſt. Freilich: fo wie nach Marx Worten das Recht nie böher fein kann als die Skonomiſche Geſtaltung der Geſellſchaft, fo kann es auch die Dichtung nicht fein! Aber eben, wenn wir keine ploͤtzlichen Wunder, keine Loͤſung aller Probleme auf einen Schlag erwarten, kann uns der unge beure Fortſchritt, der in der proletariſchen Revolution auch für die Dichtung möglich wird, ſichtbar und er- kennbar werden. Georg Lufäcs

Alle wahrhaft befreiende Tat richtet

Über die rechte Gefolg Ichaft ſich gegen die Feſſel der Traͤgheit, alle

ſchoͤpferiſche Große wird von der „befangenen“ Welt als Quell der Freiheit emp⸗

funden und erhofft, einerlei ob der Promethide ein umſtuͤrzendes Werk der Technik

geſchaffen, ein wichtiges Problem der Wiſſenſchaft geloͤſt oder ein erſchůtterndes Bild der Bunft in die Sersen der Menſchen gebannt bat.

Aber der ewige, ſanktgeorgiſche Rampf gegen den Drachen der Traͤgheit (den der überwinder erſt in ſich ſelbſt niederringen mußte) ſpielt ſich kaum je im Bewußtſein der Angegriffenen ab, auch dann nicht, wenn die befreiende Tat Har vor aller Augen liegt; meiſt ſind es erſt Jeit und Nachwelt, die bewußt den Befreier erkennen.

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Wenn das ſchon für handgreifliche Errungenſchaften der Technik, für deutliche Erfolge der Wiſſenſchaft gilt, um wieviel mehr iſt es das Kennzeichen der rein innerlichen Siege, wie ſie das Aunſtwerk N daß die große Tat der Befreiung die Seele im Traum erreicht!

Deshalb hat es von allen auf Schöpfung BEER Menſchen der Bünftler am

ſchwerſten, Gefolgſchaft zu finden, fein Werk iſt ja keine ſtaͤhlerne Bruͤcke, die den Fluß überfpannt und ihren Nutzen von Tag zu Tag überzeugend darlegt, fein Werk iſt kein Waſſer aus der Retorte, das mit feinem Strahl die Fieberflamme des Kranken ſichtbar niederſchlaͤgt! Und wenn er ſich wenigſtens mit dem einmal be · ſiegten Drachen beruhigte, ſich wie Siegfried aus dem träg fließenden Blut gegen alle anderen Gefahren und Bämpfe horn haͤutete l Aber nein, der weſenhaft von feinem Beruf erfüllte Aüůnſtler wirft keinen Blick mehr auf den Platz feines Sieges, raſtlos eilt er, von feinem Damon gepeitſcht, zu der noch ſchwereren Aufgabe, die er ſich geſetzt hat, unbekümmert auch um die Jurufe derer, denen dieſe Tat des Verweilens wert erſchiene. Satte er dieſe Sehnſucht nicht, nutzte er gemaͤchlich und Hug das Gewonnene, preßte er Stoff um Stoff in die einmal geglädte Form, fo wäre er ja kein Auͤnſtler, ſondern ein ganz gewöhnlicher Menſch mit einer zufälli- gen Fertigkeit in dem von ihm ergriffenen Gewerbe. . Über dieſes heilige Leben des ſelbſtgetreuen Auͤnſtlers möge ſich Har werden, wer mit der Zeit das eine oder andere feiner Werke als einen befreienden Sieg Aber die widerſtrebende Seele empfindet. Die entfeſſelte Jungfrau erwarte nicht als Cohn für das offene Ja, das fie aus ſpricht, Hochzeit und Gluck der Wiederholung von dem gepanzerten Uberwinder; es wäre ein leeres Schaufpiel, das fie ſelbſt bald ſchmerzlicher enttaͤuſchte als fein Ausbleiben. Der echte Dichter beifpielsweife wird, ſelbſt wenn eines ſeiner Werke noch ſo ſtark gezuͤndet hat, ein neues Werk derſelben Gattung nicht wieder erzeugen, mögen alle es als ſelbſtverſtaͤndlich von ihm er · warten, und mag er ſich durch feine Weigerung um den ſchoͤnſten. Ausbau feines Erfolges bringen. Läßt er ſich doch dazu verleiten, fo bezahlt er dieſe Selbſtent · aͤußerung nur mit Selbſtentkraͤftung, mit einem ſtets zunehmenden Verluſt der nur im Bampf mit dem Neuen erweckbaren ſchoͤpferiſchen Kraft. Alle wahrhafte Bunft iſt Benialität, und alle Tat der Benialität ein einmaliger Schöͤpfungsakt; nicht einmal die Natur kann und mag ſich wiederholen, es gibt nicht zweimal den · ſelben Menſchen auf der Welt! Deshalb find alle Verſuche einer Fortſetzung vom Geiſt des Erſtlings aus betrachtet eben „Sortfegungen” und zum Scheitern vor- verurteilt, ſelbſt der Schöpfer des Fauſt büßte feine Nachgiebigkeit gegen die wohl meinenden Anreger mit einem Fauſt 2.

Das eine Beiſpiel wird genuͤgen, um die Forderung zu verſtehen, die jeder echte Bünftler an feine Freunde zu richten bat. Wicht träge wuͤnſchen, das einmal Er⸗ lebte noch einmal in anderer Geſtalt erleichtert zu erleben, nicht hoffen und erwar⸗ ten, ſondern mitgehen ſei die Lofung! Je vielſeitiger und größer ein Rünſtler ift, deſto mehr wird er beſtrebt ſein, immer neue Gebiete in ſich zu entdecken, immer böber über die bisher erreichten hin auszukommen. Sat man aber beſtimmte Er wartungen gehegt, dem Fuhrer in der Stille nicht ganz ſelbſtloſe Bahnen vor · geſchrieben, ſo wird man enttaͤuſcht ſein, wenn er ſich anderswohin wendet, und vermag feine Werke nicht mehr mit derſelben Freude zu genießen, die man in dem noch keuſchen Augenblick der erſten Begegnung empfunden hat.

Berl Lieblich

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Die zweiundeine halbe Million Mor- Der Sprachſtreir in Norwegen eee ee

hängenden Gebiete von 262000 akm wohnen (davon 3 Proz. Ackerland und Wieſen, Zo Proz. Wald, im ubrigen Felsgebirge, Odland und Waſſer) find gewiß ein zahlen⸗ mäßig Hleines Volk. Aber es hat feine innere Kraft und Bedeutung in Schickſals zeiten der europaͤiſchen Kultur in großem Sinne erwieſen. Wie es ja Beiſpiele ge- nug in der Geſchichte gibt, welche uns lehren, wie zahlenmäßig Heine Volker ent- ſcheidungsſchwere geiftige und leibliche Einſaͤtze geben Fönnen innerhalb eines großeren Aulturzuſammenhangs. Man denke etwa an die Bedeutung der Sol länder für das Schickſal des Proteſtantismus und für die uͤberſeeiſche Bolenifa- tion. Norwegen war von alters in ſeiner gebirgigen Abgeſchloſſenheit und durch die eigentuͤmlich ſchauenshaft geſammelte Kraft feiner Volksart, große geiſtige Aonſtellationen lange und rein zu bewahren, eine hohe Burg für das geiſtige Weſen germaniſcher Volksgaben. Gier hatte ſich in urlaͤndiſcher Vorzeit die ſtaͤrkſte, zaͤheſte, dauerhafteſte Verdichtung mythiſchen Wahrbildens ereignet, hier liegt es immer von neuem im Weſen der Volksart begründet, die Wandlungen in den großen, geiſtigen Grundverhaͤltniſſen, alſo letzten Endes die Wandlungen der Re⸗ ligion radikal und in reiner Strenge durchzukaͤmpfen. Selbſt in dem fo furchtbar fragwürdigen 19. Jahrhundert wurde das deutlich genug. Ibſens kaltglühende Ge ſellſchaftskritik mit ibrer mehr als europaͤiſchen Wirkung war norwegiſch ; geiſtig, innerlichſt⸗ radikal auf Wahrheit dringend, auf das unerbittliche Faktum. Und bei naͤberem Auffaſſen der heutigen Bewegung im norwegiſchen Volkstum, ſo national, ja nationaliſtiſch begrenzt da manches auf den erſten Blick zu ſein ſcheint, bat man den Eindruck: bier wird ſich wieder ein geiſtig radikaler Wille Bahn brechen, deſſen reinigende, fordernde Kraft für ein weiteres Europa, ins · beſondere für die Menſchheit Mittel · Europas von großer Bedeutung werden kann.

Im Juſammenhang mit dieſen ſtarken Jukunftskraͤften, die ſich im norwegiſchen Volkstum regen, wird eine Tatſache bedeutſam, die ſich dem, der ſich tiefer in die volklichen Juſtaͤnde der Norweger einlebt, bald genug aufdraͤngt: der Sprach⸗ ſtreit, der das ganze Land in zwei geiftige Lager zu teilen ſcheint. Ein europäifches Volk germaniſcher Abkunft, das um das Ganze ſeiner Sprache kaͤmpft mit ſich ſelbſt fuͤrwahr ein ungewoͤhnlicher Fall heute. Für Menſchen des deutſchen Sprachbereiches, die ihr eigenes Volkstum als in großen Wandlungen begriffen erleben, doppelt merkwüuͤrdig und anziehend. Seit langem haben berufene Menſchen auf die gefaͤhrliche Tatſache hingezeigt, daß die europaͤiſchen Sprachen einen Grad der „Erleichterung“, der inneren Entwertung aufweiſen, der gleichbedeutend iſt mit einer Erlahmung des wahrhaft Lebendigen und der geiſtigen Ausſagekraͤfte in unſeren Sprachen. Fichte hat vor Joo Jahren jenen macht vollen Sinweis ge · geben, daß die Sprache als rein geiſtiges Element die wahre CLebensluft fei, in der ein Volkstum atmet. Erkrankt die Sprache, wird fie innerlich entwertet, unter Preisgabe ihres echteſten Wort- und Formgutes erleichtert und zerſetzt, jo bedeutet dies eine Todesbedrohung des Volkslebens. Ohne Zweifel ift auch die deutſche Sprache heute in tiefer, großer Bewegung, um wieder zu geiſtes wirklichen Aus · ſagekraͤften zu kommen. Aber dieſe geiftige Erneuerung und Verjuͤngung des deutſchen Sprechens weiß ſich doch ſtets eines Stammgutes von Woͤrtern und Formen ſicher, das nie ganz verloren ging und ſich in gerader Entwicklung, den WMetamorpbofen des Menſchen im deutſchen Sprachgebiet folgend, aus den ver- Zar XV 16

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gangenen Stadien der Sprache berleitet. Die geſchichtlichen Verhaͤltniſſe in Nor wegen liegen von Grund aus anders. Es handelt ſich da um eine germaniſche Sprache, deren gerade Entwicklung aus dem Altnordiſchen abgebrochen und im Kerne geſpalten wurde.

Wer auch nur eine Ahnung bat von altnordiſchem oder auch althochdeutſchem Sprachgeiſt, der wird doch einen unverlierbaren Einbeuck von der Serrlichkeit die er urlaͤndiſchen Sprachen haben. Im heutigen Jaolaͤndiſchen, das Volkstum der Inſel wurde durch norwegiſche Auswanderungszuͤge begruͤndet, hat ſich eine lebendige Spur davon erhalten. Der mächtige Jauber der altertuůͤmlichen Formen und Lautbunde zeugt noch heute von den großen Wirklichkeiten des Geiſtes, die in fie eingingen. Wirklichkeiten, die waͤhrend des bochnordiſchen Mittelalters in höherem Grade latent fortbeſtanden als in ſuͤdlicheren Gegenden. Erſt gegen Aus⸗ gang des Mittelalters ereignet ſich im ſkandinaviſchen Sochnorden der endgültige Juſammenbruch der urlaͤndiſch⸗germaniſchen Welt mit der Araft ihrer im Mythos feſtge haltenen Schauungen. Er bedeutet bier eine ſehr viel gefaͤhrlichere Meta⸗ morpbofe des ganzen Volkslebens als im deutſchen Bereiche, wo das Urlaͤndiſche ſehr viel früher der Auflöſung durch neue Weltkraͤfte ausgeſetzt war. Im God» norden werden innere Stadien laͤnger und reiner bewahrt als im mittleren Europa. Anderſeits treffen die großen geiſtigen Bewegungen, die bier entſchieden werden mußten in langen Bämpfen, im Sochnorden meift wie verfpätet ein, dann aber ſchon in voll gereifter Form. Und die Seftigkeit der Wandlung, zu der es dann bei der ebenbuͤrtigen Kraft des rein bewahrten Alten und des reif entſchiedenen Treuen kommt, kann an den Lebensnerv des Volkstums rühren. Allerdings gleichen das die ſkandinaviſchen Volker aus mit einer eigenen Gabe des Sich ruhen - laſſens, die dem Menſchentum Mitteleuropas zum Verhängnis würde, waste es desgleichen. Jean Paul ſpricht es einmal aus: „Tiefnördliche Volker, wie Schweden, oder ſonſt abgeſonderte dürfen Jahrhunderte auf der Löwen haut ruhen und fie richten ſich doch als Löwen auf. Aber das waͤrmere Deutſchland, dem nicht die Saͤrte des Eiſens beiſteht, und an welches überall heiße Jungen lecken, dies bedarf eigener Regſamkeit gegen jede fremde, wenn nicht ſeine Eisberge an dem umgebenden Suden ſchmelzen ſollen. Der Teich Bethesda heilte nur bewegt; zarte Früchte erfrieren nicht auf Zweigen, die ſich regen die Jeit hat uns bewegt.“

In einen ſolchen Loͤwenſchlaf fielen die Norweger gegen Ende des Mittel · alters jahrhundertelang. Das nordiſche Mittelalter war eine glanzvolle Durch ; deingung des jugendlich feurigen Chriſtuskultes mit altheidniſchen, durch Sippen; heiligung bewahrten Schauenskraͤften. Und das Eindringen der Chriftusreligion war von Anbeginn tief verbunden mit dem norwegiſchen Aöͤnigswerk, gipfelnd in dem Maͤrtyrtod und Kult des fpäter heilig geſprochenen Aoͤnigs Olav, dem zu Ehren die herrliche Domkirche zu NMidaros (Trondhjem) erbaut wurde. Der Ju · ſammenbruch der mittelalterlichen Welt hatte zunaͤchſt verheerende Folgen für das Norwegertum. Nach innen ein ſcheinbares Erloͤſchen, eine Lethargie der eigenen kulturſchaffenden Volkskraͤfte. Nach außen hin politiſche Ohnmacht. Die 400. jaͤh· rige Oberherrſchaft der Dänen über die Norweger begann. Und zugleich damit als geiftige Bedrohung des Volkstums: die Brechung der Sprache. Außerlich bewirkt durch das Eindringen der daͤniſchen Sprache mit den Beamten und bald auch mit der pyroteſtantiſchen Geiſtlichkeit des daͤniſchen Koͤnigs. Ein keineswegs nur nach · teiliger Vorgang, denn es drangen mit dem daͤniſchen Element auch neue kulturelle

Unſchau 227

Schick ſalskraͤfte in das burgartig abgeſchloſſene nordiſche Alpenland ein. Bis da- bin war das Bauerntum der Saupttraͤger des Landes geweſen. Jetzt wurde es allmählich von einem neuen ſtaͤbtiſchen Element uͤberſchichtet. Neuzeitliches Aauf · mannstum, banfeatifche Unternehmer (Bergen), proteſtantiſcher Lehreifer, euro» paͤiſch akabemiſche Wiſſenſchaft finden ihren Eingang und fördern die Staͤdte, züchten ein Buͤrgerherrentum, einen neuen Stand in dem Bauernlande. Der nor- wegiſche Bauer iſt freilich ſchwer mit dem Bauer anderer Länder zu vergleichen, am eheſten noch mit dem ſchweizeriſchen. Er iſt immer frei geweſen, von Urzeiten ber, ein Bauerntum mit adligen Jügen, alte Bönigsgefchledhter in ſich tragend, je der einzelne err auf eigenem of und Land. Und während die Bauern ihre alter · tuͤmlichen Dialekte weiter ſprechen, gebraucht der neue bůrgerliche Gebildetenſtand die Sprache der daͤniſchen Serren. Die Pfarrer predigen daͤniſch, die amtlichen Do · kumente werden auf daͤniſch verfaßt. Ja auch die Bauern ſchreiben daͤniſch, ihre Umgangsſprache erfährt keinerlei Pflege als Schriftſprache.

Damit waren die Urſachen zu dem heutigen Sprachſtreit gegeben. Auch noch als das Erwachen der Norweger aus ihrem Tiefſchlaf begann in der Jeit der kla ſſiſch⸗ romantiſchen Doppelbewegung (1814, nach den napoleoniſchen Kriegen loͤſten ſich die Norweger aus der Serrſchaft der Dänen) dichteten ihre großen Dichter in einer Sprache, die der Daͤniſchen nahezu gleichbedeutend war. So vor allem der große Senrik Wergeland, wohl der wahre Genius der MWorweger, ihr Novalis, aber im Grunde mit niemandem vergleichbar. Erſt in der Mitte des 19. Jahrhunderts ſpielte ſich jene neue Rulturlage ein, die fo bezeichnend werden ſollte für das neuere Norwegertum. Auf der einen Seite das Entſtehen einer geiſtigen Bewegung aus dem Bauerntum, mit dem Sauptziel: Erneuerung der Sprache auf der Grundlage des in den Dialekten noch bewahrten altnorwegiſchen Wort und Sormgutes (Ivar Aaſen wurde der Begründer dieſer neunorwegiſchen Schriftſprache, dem Lands maal, Landſprache). Ein genialer Bauer und Lehrer, der in den So er Jahren das noch lebendige alte Sprachgut aus den Dialekten ſam · melte. Er ſchrieb ein norwegiſcher „Bruder Grimm“ fein grundlegendes Woͤrterbuch und zeigte in eigenen Dichtungen die Kraft der bodenſtaͤndigen Sprache. Bald folgten andere Dichter feinem Beiſpiel, Vinje, Garborg, heute Olav Aukruſt. Die Volks hochſchul ⸗Seime, die ſeit 1864 nach dem Muſter der durch Grundtvig inſpirierten daͤniſchen Volks hochſchule auch in Norwegen entſtanden, wurden das erzie heriſche Werkzeug der Spracherneuerung durch Lands maal und die Lebensſtaͤtten der Jugend, insbeſondere der Bauernjugend. Eine ſtarke, wun ; dervoll beſchwingte Geiſtigkeit hat dieſe Schulen geſchaffen mitten in dem finfteren Jahrhundert: Man ſpuͤrt fie in den programmatiſchen Worten eines ihrer erſten Sübrer, des Chriſtopher Bruun: „Die Volkshochſchule will eine Jugendſchule fein, insbeſondere für junge Bauern beſtimmt. Sie will ihnen eine Stätte bieten, wo fie in der Jeit, während fie frei find von körperlicher Arbeit, ein echtes Jugend» leben führen koͤnnen, und Ruhe finden zu betrachtſamen Leben im Gedanken und im Traum. Eine Sauptſache gilt uns an dieſen Schulen: den Jungen Begegnung zu ſchaffen mit dem Adler der Begeiſterung, der um uns ſauſet auf breiten Schwin · gen. Ju dieſem Ziele fuhren wir fie hin zu den böchften Dichtern, die wir kennen“. Wan verſteht ſchon aus dieſen wenigen Worten, warum das Jugendleben an den Volks bochſchulen Norwegens unmittelbar und organiſch binüberführen konnte in die um J900 erwachende eigentliche norwegiſche Jugendbewegung.

16°

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Parallel mit dieſer geiſtigen Bewegung im Bauerntum ereignete ſich die ganz anders geartete, mehr auf das bürgerliche ſtaͤdtiſche Bulturelement geftägte kuͤnſt leriſche Bewegung von europaͤiſcher Jielweite. Die Szene der Sauptſtadt Ariſtiania wurde ihr Sammelpunkt. Unter dem Einfluß der beiden großen Dichter, Senrik Ibſen und Byͤrnſtjerne Bjoͤrnſon, wurde auch die auf dem Daͤniſchen fußende Stadt ſprache norwegiſcher (Riksmaal, Reichs ſprache). Beide Dichter ſchrieben Riksmaal. Aber in ihren Dichtungen gluͤht der ang eſtammte Volksgeiſt das daͤniſche Sprachelement innerlich um. Auch ein Schatz bodenſtaͤndiger Wörter wird eingegliedert. Und gleichzeitig ſetzt ſich auch die norwegiſche Ausſprache, die fruher verleugnet wurde, durch. Weuere Dichter haben dieſe Umpraͤgung des daͤ⸗ niſchen Sprachelements in die norwegiſche Art weiter zu foͤrdern geſucht: Anut Samfun, Sigrid Undſet. Aber es bleibt bei alledem doch bei der daͤniſchen Formen le hre und gegenüber Lands maal und den oft ſehr ſchoͤnen Dialekten bei der drme- ren Wortkraft. Judem eignet dem Riksmaal als der Umgangsſprache der Staͤdter gern jene fatale Erleichterung des modernen Sprechens, jenes Juſchnell · und Ju⸗ vielſagen des im Grunde kulturarm gewordenen Jiviliſations · Gebildeten. Es zeigt deutlich die noch nicht uͤberwundene Schwaͤche aller europaͤiſchen Spaͤtſprachen den Mangel an geiſtigender Wortkraft, die Überwucd erung durch Fremdworte, das bürgerliche Konventionelle.

Zier ftebt heute der Rampf um die lebendige Sprache in Norwegen. Lands maal hat heute durch die Jaͤhigkeit ſeiner politiſchen Beauftragten an Einfluß gewon⸗ nen, auch in den Städten. Es ift heute als Pflichtfach in allen Schulen eingeführt. Sat dabei aber als ſprachſchoͤpferiſche Bewegung zunaͤchſt an innerer, geiſtiger Kraft eingebüßt. Zumal es ein Teil feiner Anhaͤnger mit einem zu engen, zu blut⸗ glaͤubigen „volklichen Nationalismus“ verknüpft, woraus leicht eine verhaͤngnis · volle Semmung tieferer geiftiger Entwicklungen entſtehen Könnte. Die Riksmaals · leute werfen ihre großzuͤgigere europaͤiſche Einſtellung in die Wagſchale, haben aber eine Mitlaͤuferſchaft, welche der Sache der Stadtſprache einen unverkennbar buͤrgerlich reaktionaͤren Anflug gibt. Es ift bezeichnend, daß die ungewöhnlich zahlreichen und tätigen norwegiſchen Bommuniften neuerdings auch Intereſſe zeigen für die doch fo betont nationale Lands maalſache.

Die Norweger hoffen auf eine gegenſeitige Annäherung der beiden ſtreitenden Sprachgruppen, auf eine Juſammenſchmelzung der beiden Spracharten. Daran mag ein wahrer Bern fein. Soll man aber, obſchon auslaͤndiſcher Beurteiler, glauben, daß geiſtige Lebens fragen anders als durch geniale Einſeitigkeit ent; ſchieden werden? Es ſind in der norwegiſchen Bauernjugend, wenn man ihr auf den Kern gebt, fo reine, ſtarke, religiòs tiefſchwingende, wahrhaft geiſtige Bräfte am Werke, es iſt in dieſer Jugend ein dem Volksgeiſt fo empfaͤnglicher Boden be- reitet, waͤhrend anderſeits auch in der ſtaͤdtiſchen, insbeſondere der ſtudierenden Jugend ſich ſtarke, friſche und einſichts volle Elemente regen, daß man glauben mochte: Der Jukunftswille, der ſich aus der Bauernjugend zu regen beginnt, wird einmal aufgenommen werden von den beften Bräften der ſtaͤdtiſchen und iſt ſomit gewiß, das ganze Volkstum geiſtig zu ergreifen.

man hat den Eindruck, daß ſich hinter den Gewaltſamkeiten und oft ſeltſamen Erſcheinungen des norwegiſchen Sprachſtreites eine tiefere Tatſache verbirgt: Die Sprache eines ganzen Volkes macht ſich bereit, zu friſchen, geiſtig verjüngten Kräften zu kommen, um „wenn es an der Jeit iſt“ vollguͤltig kuͤnden zu

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konnen von einer großen Verwandlung im Menſcheninneren, von dem großen Schauenskampfe des kommenden Menſchentums. Denn ſchauensſeeliſch im tiefſten, im Chriſtus · Sinne, iſt die Gabe der norwegiſchen Volksart. Erich Trummler

. g Als ich als junger Arzt vor 20 Jahren in Die . Couciemus Piychofe der Naͤhe von St. Gallen in einem Sa ; natorium taͤtig war, da ſprachen die Bauern am Bodenſee veraͤchtlich von dem Grafen, der in der Luft über den Bodenſee fliegen wolle. 21 Jahre fpäter erlebte ich in der Schweiz eine Jeppelinpſychoſe, als jung und alt auf die Straße eilte, um den letzten großen „Jeppelin“ zu bewundern und zu begrüßen, der vor feiner Ab⸗ fahrt nach Amerika der Schweiz einen Beſuch abſtattete; was wurde da nicht alles geredet, vernünftiges und unvernuͤnftiges. Das ſtolze Cuftſchiff flog aber ruhig dahin und ließ ſich durch das Gerede der Menſchen nicht irre machen. Wie lang hat es gedauert, bis auch Couè ſich durchgeſetzt hat. Seute, wo die Methode Couè von Nancy aus ihren Siegeszug angetreten hat, wo gewiſſermaßen alle Welt zu einem Urteil herausgefordert wird, ift es erklaͤrlich, daß ſowohl von ſeiten der Anhaͤnger wie der Gegner mancherlei Übertreibungen ſich geltend machen.

Junaͤchſt darf man nicht vergeſſen, daß der Apotheker Eoue hervorgegangen iſt aus der Nancyer Schule, welche ganz auf Suggeſtion eingeſtellt war. So iſt es er- fHaͤrlich, daß Coue bei feinem offentlichen Auftreten und bei feiner Behandlung zu⸗ erſt unbewußt wieder von der Suggeſtion aus geht, um zur Autoſuggeſtion über- zuleiten. Die bei den öffentlichen Vorträgen erzielten Seilerfolge find ſelbſtverſtaͤnd⸗ lich auf Suggeſtion und nicht auf Autoſuggeſtion zuruckzufuhren. Das Geniale in der Methode Coueès beſteht aber darin, daß er nicht bei der Suggeſtion ſtehen bleibt, ſondern die Aranken immer wieder anleitet und auffordert, zu Sauſe ſofort zur Autoſuggeſtion uͤberzugehen. Man darf alfo nicht die offentlichen Vorträge zugrunde legen, um nun die Methode Couè zu kritiſieren und zu analyſieren. Man muß mit Menſchen ſprechen, die jahrelang krank und hilflos waren und die durch ſeine Methode zu ganz neuen Menſchen wurden. Sie ſind nicht bloß geſund geworden, fondern fie haben ihre ganze Lebensweife und Lebens- führung umgeſtellt. Es hat eine völlige Wiedergeburt ſtattgefun⸗ den, die zu einer Erneuerung von Börper, Seele und Geiſt führte!

Geiſtige Seilweife hat es ſchon immer gegeben, verbläffend iſt nur die Einfach · heit der Technik in der Methode Toue, welche ſpielend von der Suggeſtion zur Autoſuggeſtion überleitet. Seilerfolge, wie fie Coue erzielt, haben auch andere in aͤhnlicher Weiſe aufzuweiſen. Ich erinnere nur an Seilpaͤdagogen Engel in Bonn, deſſen Erfolge kaum hinter denen Toutes zuruͤckbleiben. Engel war urfpränglid Cehrer und entdeckte erſt ſpaͤter feine Begabung zur geiftigen Seilweiſe. Er hat auch feine eigene Methode und nennt ſich Seilpaͤdagoge. Im Gegenſatz zu Coue ging Engel vom Sypnotismus aus. Er iſt völliger Autodidakt und hatte nicht den Wunſch, feine Art der Behandlung zu einem Syſtem, zu einer „Methode "auszur arbeiten. Dagegen bei Coue, welcher zuerſt ganz im Banne der Schule von Nancy ſtand, lag es nahe, gleichzeitig von der Theorie zur Praxis und von der Praxis zur Theorie uͤberzugehen oder, beſſer geſagt, beide zu verbinden.

Ein wirklicher Einklang von Theorie und Praxis iſt aber meines Erachtens bis jetzt nicht erzielt worden, bier liegt die Schwaͤche des ſogenannten Couéèismus. Vielleicht iſt es den Deutſchen vorbehalten (Schweizern wie Reichsdeutſchen), die

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methode Couè auch theoretiſch zu vertiefen, damit fie allen Anforderungen ge · nügt. Es gilt immer mehr von der Suggeſtion loszukommen und die Autoſugge · ſtion rein zu entwickeln. Bei der Suggeſtion beſteht zu ſehr die Gefahr, naturliche Semmungen zu überfpringen. Man will Seilerfolge und uͤberrumpelt gewiſſer ; maßen den Kranken. Dagegen bei der Autoſuggeſtion kommen die naturlichen Semmungen im Menſchen ungeſtöͤrt zu Wort. Dann aber werden wir entdecken, daß die Semmungen bei den Menſchen verſchieden find, der Eine iſt mehr auf die Vernunft, der andere mehr auf das Gewiſſen eingeſtellt. Bei einem dritten iſt der Inſtinkt ſo ſtark entwickelt, daß er ſich von ſelbſt gegen jede Suggeſtion auflehnt, die feinem Weſen nicht entſpricht. In der Suggeſtion überwiegt der Wille des Seilers, in der Autoſuggeſtion dagegen kommt mehr das Weſen desjenigen zur Geltung, der geſundheitlich⸗koͤrperlich oder ſeeliſch⸗geiſtig umgeſtellt fein will. Mit anderen Worten: In der Suggeſtion wie in der Autoſuggeſtion kann auf die Dauer nichts unternommen werden, was gegen die eigene Vernunft, das eigene Gewiſſen und gegen den eigenen Inſtinkt verftößt. Solche Verſtöͤße werden bei der ſuggeſtiven Methode viel leichter vorkommen als bei der Autoſuggeſtion. Sie kommen auch viel ſpaͤter zum Bewußtſein, ſchon aus dieſem Grunde iſt es wün- ſchenswert, daß der heutige Coueis mus, bildlich geſprochen, von den Eierſchalen der Mancper Schule, aus der er hervorgegangen iſt, gänzlich befreit wird. Ge · ſchieht es nicht, fo beſteht allerdings die große Gefahr, daß ein recht zeitiges Ein · greifen des Fachmannes verhindert wird. Man braucht ja nun nicht gleich den Staatsanwalt herbeizurufen, es iſt ſchon von ſelbſt dafuͤr geſorgt, daß „die Baͤume nicht in den Simmel wachſen“ ! Schon das Entſtehen der Vereinigung der Freunde der Methode Coues, die Herausgabe der Jeitſchrift für angewandte Pſychologie, das ernfte Beſtreben, die Methode Coueè zu vertiefen, wiſſenſchaftlich auszubauen, find deutliche Beweiſe dafur, daß der nüchtern abwaͤgende geſunde Menſchenver⸗ ſtand im ſtillen tätig iſt, um das Befunde und wertvolle der Methode Toue in die Seilkunſt, in die Paͤdagogik und andere Gebiete der geiſtigen Welt aufzu- nehmen.

Wenn man ganz objektiv den Coueismus betrachtet, wenn man „sine ire et studio”, d. h. ohne Voreingenommenheit und ohne Enthuſiasmus Vorteile und Nachteile abwägt, fo kann man folgende Tatſachen feſtſtellen: Wie fo oft in der Geſchichte der Seilkunſt, der Erziehung, der Seelenlehre uſw. war es wiederum ein Outſider, der eine große Entdeckung gemacht hat, die erſt bekaͤmpft wird, dann übertrieben Soffnungen erweckt, bis ſchließlich nach längerem Sür und Wider das Wertvolle und Dauerhafte in den geiſtigen Schatz der Menſchheit aufgenommen wird. Was die Fachgelehrten nicht entdecken konnten, das fand ein Laie. Gewoͤhn · lich ſpricht aber der Laie eine einfachere, verſtaͤndlichere Sprache, als die Fachleute. So kommt es, daß die neue Entdeckung viel ſchneller in die breiten Maſſen ein- dringt, als es der Fall iſt, wenn ein Wiſſenſchaftler eine Entdeckung macht. Man würdigt noch viel zu wenig die Tatſache, von welcher Bedeutung für die zukunftige Entwicklung der Menſchheit die Entdeckung Coues iſt, daß bewußter Wille und Unterbewußtfein ſich gegenůberſtehen wie Feuer und Waſſer. Man ſtaunt heute, daß ſo eine einfache Tatſache ſo lange verborgen bleiben konnte. Wenn das, was Couè gefunden bat, erſt einmal Gemeingut der Wiſſenſchaft geworden fein wird, dann werden Seilkunſt, Erziehung und andere geiftige Diſziplinen eine noch nicht abſehbare Bereicherung der Wiſſenſchaft herbeifuͤhren.

Umfben 231

Auf der anderen Seite iR die Methode Coueꝰ ſelbſtverſtaͤndlich nicht der Weis beit letzter Schluß. Sie iſt ſelbſtverſtaͤndlich nichts anderes, als ein Glied in einer großen Kette. Einige Glieder dieſer Kette will ich nur kurz andeuten: Sypnoſe, Suggeftion, Autoſuggeſtion. Die naͤchſten Glieder kennen wir jetzt noch nicht. Aber das Eine kann man heute bereits fagen, immer deutlicher kommt den Men ſchen die „Macht des Geiſtes“ zum Bewußtfein. Damit iſt aber auch gleich zeitig angedeutet, daß die Welt des Wollens, des Machens im Schwinden begriffen iſt, daß wir auf allen Gebieten immer mehr von der Dreſſur, von der willens mäßigen Beeinfluſſung des Menſchen übergeben werden zum ſtillen Entfalten der inneren Anlagen, die wir dann nur noch geiſtig zu hegen und zu pflegen brauchen.

Aarl Strünckmann

; Die Medizin be; Sans Bluͤber, Eine mediziniſche Streitfchrift” 5

ner ſchweren Beifis. Seit jener bedeutende deutſche Chirurg fein Bekenntnis zu Paracelſus abgelegt bat, iſt die Sache publik, und das Verhaͤngnis nicht mehr aufzuhalten. In kurzer Jeit wird man ſich über die mediziniſchen Grundprobleme fo aufregen, wie vor 25 Jahren (als wir anfingen, die Jugendbewegung in Bang zu bringen) bis kurz vor heute über die Pädagogik. Die Medizin iſt die Wiſſenſchaft, die heute mit ihrer Kriſis ſichtbarlich dran iſt. Da dieſe aus dem Tiefſten und Ur⸗ ſpruͤnglichen ſtammt, in welchem ſich die Anhänger nicht mehr zurechtfanden, fo beginne ich mein Buch mit dem „Abfall des Sippokrates von der Prieſtermedizin der Asklepiaden“. Da aus allem, was die Brifen jedweder Wiſſenſchaft nicht be- ftebt, die katholiſche Airche heute ihren größten Nutzen zieht, fo beſchließe ich den Traktat mit der „katholiſchen Medizin des Emile Coué“ und zeige dabei, was ein Proteſtant iſt. Die Mitte nimmt die „heilige Arankheit“, oder die NWeuroſen, ein. meine Schlußabrechnung gibt jedweder Pſychologie, beſonders aber der Pſycho⸗; analyſe. Der Anwurf, ich fei ein Pbilofopb und verſtuͤnde daher nichts von der medizin, wird bier nicht mehr ſitzen, denn ob gleich die Philoſophie alles regiert, fo ſtammt dieſes Mitteltäd doch durchaus aus der Praxis; ich meine das woͤrtlich und verſte he darunter eben das, was die Mediziner unter einer Praxis verſtehen. Ein reichliches Jahrzehnt der Behandlung von Nervenkranken (Weurotikern) lehrte mich, daß alle Weuroſenlehren, die beute im Schwange find, trotz ihrer Plauſibilitaͤt an entſcheidender Stelle ein empfindliches Manko haben. Ich babe in den Kapiteln über die „Seilige Krankheit“, über „Metaphyſik und Ethik“, ſowie über den „Patbologifden Ort“ den Charakter dieſes letzten zu zeigen verſucht. Ich weiß, daß dieſes Buch denjenigen Medizinern, die auf Grund der Berufs · ſtatiſtik Arzte wurden, ebenſo unverſtaͤndlich bleiben wird, wie die Berufung Auguſt Biers auf Paracelſus; mit den anderen aber, die von der Natur zum Arzte beſtimmt ſind, werde ich mich leicht verſtaͤndigen. Sans Blüber

Charakterologie Hingt vielleicht man- Moderne Charakterforſchung VV Be oder wie Phyſiognomik, bei denen dilettantiſche Offenbarungen und Konſtruk ·

Einzelheiten erfaͤhrt man am beften aus der einzigen von Coue veröffentlich · ten Arbeit: Die „Selbftbemeifterung”, m. Benno Schwabe in Baſel. ** Biüber, Traktat über die Seilkunde, Leinen m 6.—. Verlag Diederichs, Jena.

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tionen die ernſthaften Bemuͤhungen und Beobachtungen noch erheblich überwiegen. Und nicht zu leugnen iſt, daß auch auf dem Gebiete der Charakterologie allerlei bloßes Gerede und Getue ſich breit macht. Um fo mehr iſt es zu begrüßen, daß jetzt die wirklich wiſſenſchaftlichen Beſtrebungen in einem fortlaufenden Jahrbuch von vielen Mitarbeitern zuſammengefaßt werden. Denn biefe Disziplin iſt von ſehr praktiſchem Wert, nicht nur für allerlei Wiſſenſchaften, wie Geſchichte, Literar / hiſtorie uſw., auch der Arzt, der Seelenarzt vor allem, der Richter, der Lehrer konnen fie gebrauchen. Die ſeit Dilthey aufgebaute pſychologiſche Typenlehre und Strukturpſychologie, die ſeither von bedeutenden Forſchern (in Sprangers „Lebens formen“, Jaſpers „Pſychologie der Weltanſchauungen“ ufw.) weitergeführt wor ; den iſt, hat das Intereſſe fuͤr die Probleme der Individualitaͤt ſehr belebt, und alle dieſe Unterſuchungsweiſen konnen den Sinn und das Verſtaͤndnis für die Perſoͤn⸗ lichkeit und ihren Wert erhohen.

Zur Einfuhrung dieſes Jahrbuches der Charakterologie, das im Pan · Verlag von Rolf Seife in Charlottenburg erſcheint, hat der Herausgeber, der Sallenſer Pſycho⸗ loge Emil Utig, gleichzeitig mit dem erſten Band eine ſyſtematiſche und breite Dar⸗ ſtellung des ganzen Wiſſensfeldes vorgelegt, die im ſelben Verlag unter dem Titel „Charakterologie“ erſchienen iſt. Er beſtimmt da zuerſt die Grundbegriffe, darunter fo moderne Vorſtellungen wie die charakterologiſche Bedeutung des Körperlichen, der Kleidung, der Umwelt, zeigt auch die Vieldeutigkeit all dieſer Erſcheinungen und ihrer Wirkungen und bengemäß die Grenzen der Charakterologie; in einem zweiten Teil wird ein geſchichtlicher Überblick uͤber den bis herigen Weg der For⸗ ſchung gegeben, von den Anfängen der Phyſiognomik an, und dabei werden fo intereſſante Themen wie die Tierphyſiognomik, die experimentelle Phyſiognomik, die Verbindungen zwiſchen der Phyſiognomik mit der Vererbung einerſeits, mit der Umwelt andererſeits, auch die Beziehungen der Phyſiognomik zum Börperbau erörtert ; die Phrenologie, die Schaͤdellehre Balls und anderer kommt zur Sprache, weiter die Temperamentenlehre der Antike und die der Neuzeit; es iſt die Rede von kirchlicher und hoͤſiſcher Charakterologie, von kuͤnſtleriſcher Charakterlehre, ſchließ · lich von den modernen Stroͤmungen der Pſychographik, der Pſychoanalyſe und der Berufspſychologie. Der letzte Teil behandelt die verſchiedenen Arten menſchlicher Charaktere, alſo Berufscharaktere, weltanſchauliche, ethiſche, Volks und Jeit- charaktere uſw. Man ſieht, es iſt nicht nur ein weites Feld, das hier beackert wird, es find auch Fragen, die keineswegs bloß den Gelehrten angeben. Und die Art, wie der Autor die Dinge anfaßt und fie dem Leſer handlich macht, iſt durchaus ge- eignet, den gebildeten Laien anzuziehen. Die Sprache iſt allgemein verſtaͤndlich und fläffig, der Verfaſſer iſt gewohnt, auch zu Leſern außerhalb der vier Fakultaͤten zu ſprechen, er hat die Gabe, abſtrakte Dinge konkret auszudrucken. Er ſelbſt gehort zu einem wiſſenſchaftlichen Typus, der nicht einige wenige Sauptlinien ſcharf heraus · arbeitet, die vielleicht neu gefunden oder neu betont ſind, ſondern der die ganze Breite der Erfahrung auch in feiner Darſtellung beruͤckſichtigt und durch Beiſpiele immer in FHühlung mit dem Leben bleibt. Eine Fulle von Welt- und Menſchen · kenntnis iſt in dieſem Werke niedergelegt, und die Ruhe und Geduld der uͤberſchau, die das Bewußtſein dieſes Reichtums ſtets erneuert, ohne doch verwirrend zu wirken, iſt ein beſonderer Wert des Buches.

Der erſte Band des Jahrbuches der Charakterologie enthält u. a. einen Aufſatz von K. Klages über die pſychologiſchen Errungenſchaften Nietzſches, eine Arbeit

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von A. Liebert über Bants geiftige Beftalt, eine weitere von Gerhard Geſemann über die Grundlagen einer Charakterologie Gogols Charakterologie eines Dich. ters iſt etwas anderes als Charakteriſtik feines Bünftlertums, jene geht immer auf das Menſchliche, Perſoͤnliche. J. Cindworsky ſchreibt über die charakterologiſche Bedeutung der Exerzitien des heiligen Ignaz von Loyola, Burt Sildebrandt, der aus dem Georgekreiſe kommt und u. a. zwei gehaltreiche Baͤnde über Norm und Entartung des Menſchen und Worm und Verfall des Staates geſchrieben hat (Sybillen · Verlag Dresden), handelt über den Gelehrten, $. Walter über die koͤrper⸗ lichen Grundlagen der geiſtigen Perſoͤnlichkeit. Auch dieſes Werk umſpannt eine Fulle von Geiſt und ganz modernen Forſchungsergebniſſen. Der zweite und der dritte Band erſcheinen ſoeben, der vierte iſt in Vorbereitung. Er ich Evertb

Das iſt der Titel eines umfangreichen Der Venſchen ſuchende Gert Drebistbandes von D. Dr. Chriſtian Geyer, der im Greifen verlag erſchien. Bann der heutige Menſch noch Predigten lefen? Iſt es nicht ſchrecklich, wenn in unſerem papierenen Zeitalter, das jahrlich viele Tauſende von neuen Büchern bringt, auch das Geſprochene, das Wort der Verkuͤndigung, das Unmittelbarfte von Menſch zu Menſch, noch aufs Papier ge · bannt wird? Auch angeſichts des Geyerſchen Buches kann ich nicht mit einem ungehemmten „Ja“ antworten. Bei ihm wie bei Barthſchen oder Dehnſchen Predigten (um nur ſolche zu nennen, die wirklich etwas zu ſagen haben) iſt eben die Brechung durch das „Papier“ verheerend, ebenſo wie bei dem „Worte Gottes“ felbft, das dieſe irdiſche Not tragen muß! Aber jene Brechung und Einſchraͤnkung vorausgeſetzt, darf man doch mit beſonderer Freude auf dies nun einmal erſchienene Buch bin · weiſen; denn:

I. Es iſt eine geiſtige Mächtigkeit und Durchdringung der geiſtigen und realen Gegenwartsnoͤte darin, die ſich nicht fo leicht wieder findet. So ſchlicht die Predigten jeden anmuten, ſo ſehr erkennt der, welcher dem Pulsſchlag der Jeit lauſcht, daß bier wirklich gearbeitet worden iſt, ehe geredet wird. Das faͤllt im Vergleich zu der vielen andersartigen Predigtliteratur naturlich auff

2. Der Verfaſſer ſelber verdient dadurch beſondere Aufmerkſamkeit, daß er lange Jahre mit Rittelmeyer zuſammenging, mit ihm die beiden vielbeachteten Predigt⸗ baͤnde „Gott und die Seele“, „Leben aus Gott“ vor etwa 20 Jahren ſchuf, dann aber den Weg Rittelmepers nicht mitging, obwohl er mit einem Ernſt, den nur wenige Theologen aufbrachten, den in der Anthropoſopbie geſtellten Fragen ins Angeſicht fab.

3. Geyer weiß um den tiefſten Motſchrei der Jeit. „Das iſt das Charakteriſtiſche unſerer Jeit“, heißt es in der Predigt über Cukas 9, 5562, einem der wichtigſten Bibeltexte, die es gibt, „daß wir alle fo geteilten Serzens find”. Geyer wagt es, gegen dieſe Geteiltheit und Jerriſſen heit wenigſtens das Wort der Predigt zu ſtellen. Wir würden vielleicht nicht einmal das wagen, ſondern nur in abfoluter Semmung predigen, daß wir dieſe Jerriſſenheit zu tragen, auszutragen haben nach ihrer ganzen Tiefe und darin ſelig geprieſen find wenn wir nur um die Möglichkeit der Erloſung wiſſen. Aber wir freuen uns, wenn einer, der doch wohl dazu berufen iſt, das Wagnis des Glaubens ſo voll Weisheit und Mut darzuſtellen wagt. Denn das darf man ſagen: das Poſitive tritt bei Geyer in beſonders inniger und zarter

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Weiſe zutage. Nicht das überlebte, intellektuell kalte Poſitive der „Poſitiven“, auch nicht das Poſitive derer, denen doch wieder ihre kirchliche ober politiſche Partei die Sauptſache iſt, ſondern das Poſitive, das da fein follte und deſſen wir alle warten.

Der Geyerſche Predigtband bedarf einer Erganzung und wird fie (im gleichen Verlage) erhalten. Geyer wird ſelbſt mitarbeiten, aber es foll der Ruf eines oder beſſer mehrerer Breife von Predigern fein. Über den Sinn dieſer Ergänzung wird dann nach Erſcheinen des Bandes noch zu handeln ſein. Sans Sart mann

: Nicht nur auf wirtſchaft · Die neue Sachlichkeit in der Schule 5

Gebiete ſpuͤren wir etwas von dem Anbruch einer neuen Sachlichkeit, ſondern ſie greift auch ins Auͤnſtleriſche und Geiſtige über. Es mag erinnert werden an den „Sachſtil“ des Aunſtgewerbes, an die ſtrenge Saltung der neuen Induſtrie ⸗, Sallen- und Siedlungsbauten etwa von Behrens, Mutbefius, Teſſenow. Und es iſt eine merkwuͤrdige Tatſache, daß die großen Meiſter der Baukunſt gleichzeitig die Ver⸗ treter einer bedeutenden Sachlichkeit ſind. Ahnliche Beobachtungen ſind bereits in der Muſik zu machen: die im und expreſſioniſtiſchen Individualiſten verlieren an Boden, und die Hlaſſiſche Sachlichkeit Paleſtrinas und Bachs weiſt aufs neue die Richtung: Symptome dafuͤr finden ſich ſchon bei Reger, Buſoni, Pfitzner, ſelbſt bei den modernen Verfechtern des rigoroſen Rontrapunktes, deutlicher aber wird der Verlauf in der von Auguſt Salm und Fritz Joͤde geführten Muſikbewegung der Jugend. Es iſt eine deutliche Abſage an den Rauſch. Wenn man in der Freien Schulgemeinde zu Wickersdorf taͤglich mit Praͤludium und Fuge von Bach den Morgen einleitet, fo darf an ein Motto gedacht werden im Sinne von Georges: „Und heilig nuͤchtern hebt der Taglauf an“;

und dies „beilignüchtern” Hingt uns ſchon bei Soͤlderlin“ entgegen, es iſt das Leit - motiv der neuen Sachlichkeit, wobei der Begriff des „Seiligen“ weniger religiös als im Sinne von Wert und Wurde gemeint iſt.

Schon nach dieſem Einblick wird man gewahr, wie ſchief und innerlich unzu-

laͤnglich die Idealiſtik des ſog. Perſoͤnlichkeitszeitalters war. Es war eine außer⸗ ordentlich flache und nicht einmal zutreffende Lehre, daß jeder Menſch zu einer Heinen oder großen Perſoͤnlichkeit erzogen werden konnte. Es war eine Pbilifter- weis beit ohne Maßftab, die dem einzelnen ſchmeichelte, aber dabei uͤberſah, daß Perſoͤnlichkeit“ ein Geſchenk der Gnade iſt. Daran ändert auch ein falſch ge- deutetes, viel zitiertes Goethewort vom „Glück der Erdenkinder“ nichts. Erſt mit der ſozialen Wendung der neueren Paͤdagogik entdeckte man, daß alles auf Singabe an die Sache, Aktivität des Ichs nicht für ſich ſelber, ſondern für die objektiven Werte ankam. Und ſo ergibt ſich, daß die paͤdagogiſche Wendung zur Sachlichkeit zugleich eine ſoziale Wendung war, die ebenfalls gleichzeitig der Erkenntnis vom Wefen der Perſoͤnlichkeit viel naher kam als jede vorige Periode. Es wird noch einer Verdeutlichung deſſen bedürfen, was hier mit der Sachlich · keit in der Paͤdagogik gemeint iſt. Klingt der Begriff nicht etwas erfältend in einer Zeit, da von den menſchlichen Beziehungen zwiſchen Lehrer und Schüler, von der pgl. E. Troß, Die neue Sachlichkeit, Frankfurter Itg. Nr. 659; A. Ehrentreich, Die Sachlichkeit der Myſtik, Fr. Itg. Nr. 697. (1925). In dem ſpaͤten Gedicht „Saͤlfte des Lebens“.

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Schulgemeinſchaft fo viel geſprochen wird? Demgegenüber muß geſagt werben, daß die neue Sachlichkeit nur die eine Seite eines Vorganges iſt, der vom entgegen: geſetzten Ende gefeben als die Wendung zu einer neuen Menſchlichkeit zu um- ſchreiben iſt.

Um kurz auf die Erſcheinungs formen der neuen Sachlichkeit in der Schule zu weifen: gemeint ift hier naturlich nicht jene ſog. ſachliche Behandlung von Ge ſinnungsfaͤchern, die unter einem neutralen, „objektiven Mantel lebentötend und auslaugend wirkt. Eher konnte zunaͤchſt „ſachlich“ in einem ganz materiellen und praktiſchen Sinne verſtanden werden: das Gewicht der Sachfaͤcher, wie der Natur⸗ wiſſenſchaften (Aerſchenſteiners Sorberung des techniſchen Gymnaſiums ), des Turnens und Sportes nimmt dauernd zu, und dem entſpricht eine ſtaͤrkere Ab⸗ wendung von der nur theoretiſchen, abſtrakten Geiſtigkeit. Doch iſt das mehr eine Parallele zur Technik und Sygiene, während uns gerade die Parallele zur neuen menſchlichen Geſinnung von Wichtigkeit iſt.

Ganz hierher gehoͤrt aber Wynekens Lehre vom „objektiven Geiſt“, der Verſuch einer Kebensftätte für eine objektive Kultur in der Wickersdorfer Schulgemeinde. Auch hier zeigt ſich als Korrelat zu einem neuen menſchlichen Daſein der Jugend eine neue Sachlichkeit, die ſich nun auf den Bulturgebalt bezieht und aus dem wahlloſen Ablauf der Geſchichte brſtimmte normative Werte aus waͤhlt. Das Leben wird von ſeiner geiſtigen Seite aus unter einer beſonderen Wertigkeit, nach einem vereinbarten großen Maß betrachtet.

Man hat dieſem Verſuch eines neuen hohen Sachin halts der Erziehung ent- gegengehalten, daß die Norm dieſer „objektiven Aultur“ ſchließlich doch von einem einzelnen (oder von wenigen einzelnen) kuͤnſtlich geſetzt wurde, daß fie an ſich nicht da iſt. Unſere Zeit iſt ja durch ihre Normloſigkeit charakteriſiert, „unſre“ Aultur iſt wahrſcheinlich erſt im Werden, fo wie die neue Geſellſchaft erſt im werden it (Fritz Barfen). So hat eine beſtimmte Erziehungsrichtung auf inbalt- liche Strierungen verzichtet und die Sachlichkeit lediglich durch die Methodik, durch die Arbeits weiſe zu gewinnen geſucht. Das wäre der zweite bedeutende Weg, den die Arbeit der Gemeinſchaftsſchulen und der Schulreform darſtellt. Die Abkehr vom Dozententum des Lehrers und die Aufnahme der kooperativen Arbeits ſchul · weife war das Ergebnis. Jedenfalls, in dieſem wie in jenem Falle, zieht ein neuer Sachſtil in die Schule ein. Alfred Ebrentreich

Der Menſch will lieber nicht leben, als ohne Sinn Deutfche Schickſale ſeines Lebens zu leben, meinte Doſtojewski. Ja, aber für die meiſten Menſchen iſt der Weg zu ſolchem Sinn des Lebens nicht der des Denkens und Gruͤbelns. Sie wollen ſchauen: im Bilde beifpielbafter Menſchen feben fie die Simmel und Sollen der eigenen Bruſt. In der Aunſt, die ſolche Ge⸗ ſtalten ſchafft, leben wir ein zweites, erhöhtes Leben: Was unſer eigenes Daſein nur verworren, bruchſtuͤckhaft und noch unuͤberſchaubar zeigt, das lebt hier als Ganzes, fügt ſich zum Bild, ſchließt Beginn und Sende irgendwie ſinnhaft zuſammen. Ceben helfen gibt es eine ſchoͤnere Rechtfertigung aller Bunft? Und drum bleibt der Menſch dem menſchen immer das Intereſſanteſte. Und nie wird die Luft er · ſterben, beim Dichter: Menſchenſchickſale zu geftalten, und bei uns allen: uns ſelbſt in dieſem Spiegel zu feben. Aber es iſt ein Unterſchied, welche Art Menſchen uns der Spiegel zeigt. Sicher ·

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lich: der echte Dichter vermag uns Fremdeſtes nahe zu bringen; noch unter der Mas; ke fernſter Zeiten und fremdeſter Volker erkennen wir dasſelbe Menſchenantlitz. Aber fo unmittelbar und ohne alle bildungs maͤßige Reflexion zuganglich oder gar zu kuͤnftigen Weggenoſſen werden uns im Grunde doch nur die Geſtalten, denen wir uns bluts verwandt fuͤhlen, die zur Familie gehoren. Das iſt mir ſelten fo unmittelbar aufgegangen wie bei den beiden Romanen: „Seinrich Budſchigk““ von 9. Ch. Aaergel und „Leberecht Ritt“ von Ernſt Schmitt. Denn, was uns hier entgegentritt und irgendwie erhellendes Licht auch auf die verſchlungenen, ungewiſſen Pfade des eigenen Lebens wirft, das ſind nicht Menſchen ſchlechthin, es ſind deutſche Menſchen mit Schickſalen, die im Grunde wohl nur als deutſche Schickſale moglich find. Ja noch tiefer geht dieſe Beſonderung: dieſer Heinrich Bubdſchigk kann keinem andern Boden entſtammen als dem der ſchleſiſchen Gott⸗ ſucher und waͤchſt doch, nicht trotz, ſondern gerade wegen dieſer erdhaften Be- ſonderung, hinauf ins Ewig · Menſchliche. Aber nicht uͤberredet werden wir hier: Von der erſten Seite an umwebt uns in der Sprache und dem Stil Baergels eine geheime, daͤmoniſche Gewalt, die uns hineinbannt in das Schickſal die ſes einfachen und armen ſchleſiſchen Bauernknaben, der uns aber die Tragödie feines Ringens um die eigene Seele mit erfchätternder Gewalt mitzuerleben zwingt.

Wie anders und doch ebenſo deutſch das Schickſal Leberecht Kitts, des reitenden Soͤrſters im Dachsloch! Auch er der „ewige Deutſche“: Voll gläubigen Serzens hoͤrt er die Botſchaft der Menſchheitsbegluͤckung, die von Paris in der großen franzoͤſiſchen Revolution hinausgeht. Und für dieſen Glauben iſt ee wie deutſch wiederum! zu jedem Einſatz bereit. Um fo größer die Enttaͤuſchung, als er in Paris ſelbſt inmitten des Brodelns der Revolution ſteht. Er erkennt: Nicht das Reden und nicht die Geſetze bringen Freiheit und Gerechtigkeit, ſondern daß jeder das Rechte tue und ein Beiſpiel ſeil Wie Fauſt wird ihm der Sinn der Freiheit und des Lebens die rettende Mannestat, da er ein Stuck Seimat und heimatliches Menſchentum aus Verkommenheit emporreißt zu Fruchtbarkeit und Gedeihen. Aber der Wirbel, dem er in Paris den Rüden gekehrt, folgt ihm: unter den Bajo⸗ netten Napoleons wird die neue Freiheit zur Anechtſchaft. Leberecht Kitt geht feinen geraden Weg zu Ende: im Winter 1805 / o7 ſtirbt er an der Spitze einer Heinen Freiſchar, die den Kampf gegen den Unterdrücker gewagt. Noch war der Morgen fern. Aber daß er einſt kommen mußte, des war ein ſolcher Opfertod buͤndigſtes Zeugnis. Für uns aber wird Leberecht Ritt zum Mahner, da es auch in der Not der Gegenwart nicht um Reden geht und nicht um Geſetzesmacherei, ſondern um das Tun und daß jeder ein Beiſpiel ſei. Pbilipp Sôòrdt

%% I Diefe Worte find nicht etwa nur ein Beitrag zur

W. Wilſone Worte Re viſion des Verſailler Vertrags, fie umſchreiben

geradezu die Grundlage, auf welcher jene Reviſion aufgenommen und aufgebaut werden muß.

» Raergel: „Seinrich Budſchigk“ (Jena, Eugen Diederichs, 282 S., Ganzleinen 8.50 M). Ernſt Schmitt: „Leberecht Kitt, der reitende Jörfter im Dachsloch“. (Jena, Eugen Diederichs, 174 S., Keinen 6.— m) Woodrow Wilfons Worte als Rechtfertigung der Reviſion des Verſailler Vertrags. Ins Deutſche übertragen und mit einem kurzen Geleitwort .. von Theodor Sahn, Seil- bronn a. Neckar. Erſchienen im Selbſtverlag. Ju beziehen durch alle Buchband⸗ lungen. Preis geb. Goldmark 8.—.

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Gerne glaube ich, daß es uns Deutſchen sunädft ſchwer fallen wird, ruhigen Blutes das Buch zu leſen, insbeſondere jene Stellen, da Wilſon eben ſo gar nicht zweifelt an der Lammfrommheit feiner lieben Verbündeten, während er in den Deutſchen, d. h. in der deutſchen Regierung nur den Friedensſtörer erblickt. Allein, wer ſich durchlieſt und dies muß jeder tun wird am Schluſſe ein gewiſſes Staunen über die Klarheit, mit welcher Wilſon ein neues Weltverbältnis der Völker, im beſonderen derjenigen Europas, erſchaut und erwartet, nicht unter⸗ druͤcken konnen. Und jeder hochherzige CLeſer wird zuſammen mit Wilſon den un; geheuren Schmerz der Enttaͤuſchung erleben, der ſich in Wilſons erſter und zweiter Adrianote und vielen feiner ſpaͤteren Worte ausſpricht. Wilſon war von der Rich; tigkeit und Seiligkeit feiner Idee ebenſoſehr überzeugt, als er enttaͤuſcht fein mußte, da in dem ſchaͤndlichen Brei der Verſailler Verhandlungen ſich bald heraus · ſtellte, wo die wahren Stoͤrer des europaͤiſchen Friedens und des Friedens der Welt ſitzen. Ich vermute, Wilſon iſt an dieſer Einſicht und an der Erkenntnis, daß er ſich in ſeiner Taktik verſehen hatte, zuſammengebrochen.

Doch es handelt ſich nicht um eine Ehrenrettung Wilſons, dieſe wird wohl einer fpäteren Jeit vorbehalten fein, ſondern um die Einleitung eines durchgehenden Umdenkungs - und Umſtellungsvorgangs, um dem Antritt einer allein des Men; ſchen wuͤrdigen Demokratie, deren Folge unter anderem eben jene Vertragsreviſion fein und werden muß. Jur Grundlegung dieſer neuen Denkart ſcheint mir die CLek⸗ tuͤre der Worte Wilſons ganz befonders geeignet. Sie dürfen in keiner deutſchen Buͤcherei fehlen. Den Wilſonſchen Gedanken muͤſſen wir ſchon deshalb aufnehmen, weil er uns das moraliſche Anrecht auf eine Reviſion des Verſailler Ver⸗ trags ſichert, indem Wilſon ſelbſt dieſen Vertrag als einen vorläufigen darſtellt, der gegebenenfalls wieder geändert werden muͤſſe.

Die Überfegung iſt moͤglichſt wortgetreu, läßt die vornehme und ſeltene Sprech⸗ weiſe Wilſons vortrefflich erkennen und iſt trotzdem gut deutſch. G. Grau

0 s Der Menſch iſt hinein; Zur Metaphyſit des kuͤnſtleriſchen Tanzes 55

Unfaßbarkeit: die der Unendlichkeit außerhalb und die des Abgrundes nach innen zu, in feinem Selbſt. Der Menſch iſt noch nicht, ſolange er ſich nicht die ſer chao⸗ tiſchen Unfaßbarkeit lebend entrungen, ſich daraus zuſammengeballt bat und fo durch Geſtaltwerdung zur Klarheit über ſich ſelbſt und die Welt kam.

Im Material feines Lebens, feines Daſeins, geſtaltet der Menſch den Abgrund der Welt außerhalb und den Abgrund Gottes in ſich und beide begegnen ſich in der Haren Geſtalt feines Lebens, deutlich werdend, fo wie er ſelbſt denkend zur Deut⸗ lichkeit ſeines Daſeins kommt. ö

Alles Gelebte, Geſtaltete iſt Organ, durch welches mir die Welt und ich in der Welt zur Deutlichkeit kommen. Ob ich mich ſelbſt lebendig forme in Gedanken, ob in Farbe oder Marmor zum Ausdruck meines Weſens gelange in der Welt und zur Erkenntnis der Welt in mir: Alle Weltanſchauung, alle Geiſtesgeſtaltung iſt Organ, wodurch die Welt mir Deutlichkeit wird und ich ſelbſt in ein beſtimmtes, Hares Verhaͤltnnis zu ihr mich ſetzte.

Die Welt um mich ber, das Unfaßbare, in das ich hineingeſtellt bin, iſt Lebendig; keit, und zwar nur ſofern ich ſelbſt lebendig bin, ſofern ich mich bewege, denkend, Vgl. die Plauderei „5-· Uhr ⸗Tee in einem Jenaer Profeſſorenhauſe“, Tat XVII, 2.

238 Aulturpolitiſcher Arbeitsbericht bandelnd, freuend, leidend, verſtehe ich die Welt in den Kategorien meines eigenen Daſeins und formender Bewegtheit, denn ich bin Geiſt von ihrem Geiſte. Denn nur Cebendiges, Bewegtes verſteht Lebendiges, Bewegtes. Wie nun mein Leben zu den Geſtaltungs moͤglichkeiten, zu den aktiven Bewegungsmoͤglichkeiten des Den · kens (in der Pbilofopbie) des Bildens in der Farbe, Marmor, Wort (in der Aunſt) greift, fo kann es auch zu der Totalität des beſeelten und bewegten Korpers als Material greifen, in deſſen beſeelt⸗kuͤnſtleriſchem Material, in Ausdrucksbewe⸗ gungen beſtimmten ſeeliſchen Gehalts, ſich der Drang nach Ausdruck und Welt; Harbeit nur eine bewegte Geſtalt, ein Organ ſchafft. In ihm begegnen nun Welt und Selbſt einander und verſte hen ſich, weil fie geſtalteten Bezug aufeinander baben. Die Unfaßbarkeit und chaotiſche Daͤmonie des beziehungsloſen Ausein- ander und Unverbundenſeins, hat fo damit aufgeboͤrt. Die Welt in mir zur Klar · beit bringen und mich zur Deutlichkeit in der Welt, damit eins im anderen lebendig gegenwartig ſei und ein Strom beziehungsreichen und bedeutungsvollen Lebens durch alles polar getrennte hindurchgehe: das iſt Sinn geiſtiger Geſtaltung, die wir aus den Mitteln unferes Lebens aufbauen, damit daraus Organe großen verſtehen⸗ den Ineinanderlebens von Welt und Menſch werden. Denn das iſt der Sinn des Wortes Weltanſchauung, daß der Menſch durch Geſtaltung zur Klarheit und Wirk: lichkeit in der Welt gelangen und dieſe in ſich lebendig empfinden will. Ob das aber im Material der Gedanken ober bewegter Aoͤrperlichkeit, von Tönen oder Farben erreicht wird, iſt gleichgältig.

man kann auch eine „Weltanſchauung“ in dieſem umfaſſenden Sinn ſich er- tanzen wollen, und Tanz kann ebenſo Klarheit, Bekenntnis und Einſicht über Welt und Leben enthalten, ebenſo eine legte metaphyſiſche „Erkenntnisfunktion“ und Geiſtesgeſtaltung, ein letztes Wirklichwerden von Menſch und Welt einander bedeuten, wie Muſik, Malerei, Philofopbie.

Sind doch verſchiedene Organe nur verſchiedene Mittel, auf verſchiedene Men⸗ ſchenkraͤfte aufgebaute Geſtaltungen, durch welche ein metaphyſiſch Letztes erreicht wird. Otto Sartmann

Kulturpolitiſcher Arbeitsbericht

Ae die gymnaſtiſche Bewegung bat im Verlaufe weniger Jahre eine beinahe beiſpielloſe Steige · rung erfahren. Dennoch wird es unter den vorurteilsloſen Bämpfern für dieſe Bewegung kaum jemanden geben, der dieſes Erfolges ſo ganz froh zu werden vermochte. Iſt doch auch bier mit der Eroberung einer rieſig verbreiterten Grundlage zweifellos eine Einbuße an innerem Gehalt verbunden geweſen. . . auch das meifte Treiben der Gym; naſtikſchulen, die jetzt ſchon mehr zirkus · haft auftreten, iſt bloße Verkopfung

neuer Mode . , fo gloſſiert mit be⸗ rechtigter Ironie Paul ich die völlige Verkehrung der berechtigten Bewegung in ihr Gegenteil. Gym⸗ naſtik, die anderes will, als verbildete oder uͤberhaupt nicht gebildete Korper zur Soͤchſtform ihrer Leiſtungsfaͤhig · keit zu führen, anderes, als das Erleb⸗ nis der koͤrperſeeliſchen Einheit, iſt be reits irgendwelchen Sonderbeſtrebun⸗ gen erlegen, die zur neuen Aufrichtung des Intellekts als herrſchendes Prinzip im Menſchen führen muͤſſen. Einfuͤh⸗ lung in das körperliche Sein und Der: knuͤpfung der gefundenen Fahigkeiten

Aulturyolitiſcher Arbeitsbericht

mit dem Totalitätsbewußtfein, in diefer Iweipoligkeit liegen Weg und Jiel des Birkenheider Arbeitskreiſes. In der Jugendbewegung entſtanden, hat er in langſamer, aber ſtetiger Arbeit ſein Sy⸗ ſtem einer neuzeitlichen Aörperkultur herausgebildet, das mehr und mehr die Gymnaſtik der Jugendbewegung (die Wandervogelgymnaſtik hat mal einer geſagt), geworden iſt. Mehr als ein an⸗ deres Syſtem wurzelt es in unſerer Zeit, dem Jeitalter der kollektiven Lei⸗ ſtung. Seine Ubungen ſind hart, vom Tempo beherrſcht, feine Ausdrucksmit ; tel frei von kitſchiger Poſe und ſchwaͤr ; meriſcher individualiſtiſcher Empfin⸗ dungs ſeeligkeit.

Unbekuͤmmert um Modeſtroͤmungen entwickelt es eine reine Gymnaſtikform, die bewußten Abſtand haͤlt von ab⸗ ſeits liegender Ausdruckskunſt. Mögen auch beſondere Umſtaͤnde der Seraus · bildung einer ſo eigenen Faſſung be⸗ ſonders forderlich geweſen fein der Beſitz eines herrlichen Gelaͤndes an einem ſtillen maͤrkiſchen See, das prak⸗ tiſche Arbeit in völliger Nacktheit ge⸗ ſtattet, die Schüler, die ausnahmslos der Jugendbewegung entſtammen, und einen wundervollen Beift der Gemein; ſchaft in die Lehrſtunden trugen, fo haben doch vor allem die beiden Be- gründer des Birkenbeider Arbeits⸗ kreiſes, Ella und Charlie Straeßer, die eigentliche ſchoͤpferiſche Tat vollbracht.

In aller Stille vermochten fie Zun⸗ derte von Menſchen in ihren Burfen und Gemeinſchaften in ihre Arbeit ein- zuführen, und haben damit einen Bern begeiſterter Anhaͤnger geſchaffen. Der fo entſtandene Birken heider Bund iſt heute eine der taͤtigſten Gruppen inner⸗ balb der Jugendbewegung. Er iſt der eigentliche Traͤger der Birkenheider Aòͤrperſchulungskurſe, die in Berlin weit über 300 Menſchen umfaſſen. In dieſem Jahre ift waͤhrend der Pfingft- ferien eine Aoͤrperſchulungswoche in der Birkenheide geplant, die weitere Breife, vor allem Freunde der Be⸗ wegung im Reich, einführen ſoll in die Arbeitsweiſe der Birkenheider. Auch

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Nichtwandervoͤgel konnen daran teil nehmen, wenn ſie auf dem Boden der Cebens reform fteben und bereit find, ſich in die Arbeitsgeſtaltung ruͤckhalts los einzuleben. Die Geſchaͤftsſtelle hat Fritz Beyes, Berlin · Lichtenberg, Ire; nenſtr. 21. Seidel Aupke

Es war

geſundheits woche zweifel · los ein gluͤcklicher Gedanke, der koͤrper⸗ lichen Geſundheit unſeres Volkes da⸗ durch zu dienen, daß der Wille zum ge⸗ ſunden Börper dem Maſſenbewußtſein in jeder Weiſe eingepraͤgt wird.

Man kann jeden Weg bejahen, der zur Geſundheit führt und ſich jedes koͤr⸗ perlichen Lebensgefůͤhls freuen, aber dabei doch empfindlich gegen das nur koͤrperliche Lebensgefuͤhl fein, und es ſcheint, daß wir ſtaͤrkſten Anlaß haben, daran zu denken, daß die außerordent⸗ liche Ausdehnung des Sports nur dann zur ſinnvollen Lebens - und Aultur⸗ erſcheinung wird, wenn die griechiſche Gleichung vom ſchoͤnen und guten Menſchen wieder mehr wird als ein ge- dankenlos gebrauchtes Wort.

Goethe ſagt, man ſoll ſich beim Ver kehrten nicht allzulange aufhalten, ſich dadurch gar nicht ſtoͤren laſſen, ſondern unentwegt das Gute beſtreben. So ſei auch an die Erſcheinungen, die wei⸗ ten kultivierten Areiſen den Sport ver ; leiden koͤnnen, 3. B. blutiges Boxen mit tobendem Publikum, halbwüuͤchſige „Fußballer“, deren geſteigertes Bör- pergefuͤhl ſich in laͤſtigem Radau Luft macht, nur kurz erinnert und das ge- fagt, was zur Reichsgeſundheits woche dem Maſſenbewußtſein einzuhaͤmmern not getan haͤtte.

Kießen die erſten Jahre nach dem Kriege erwarten, daß ein verſtaͤrkter Sang zum Myſtiſchen das Zentrum des Cebensgefuhls fein wurde, fo kann man heute glauben, daß das Gerichtetſein aufs Diesfeits, eine ungeahnt maͤch⸗ tige ſtark körperlich gerichtete Lebens⸗ bejabung das Weſen der jungen und kommenden Generation ſein wird. Mag auch rein koͤrperliche Geſundheit einen

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außerordentlichen Gewinn für ein Volk darſtellen, von dauernder und kultur; geſtaltender Araft wird ein Lebens- gefühl immer nur dann ſein, wenn es auf die Verwirklichung geiſtiger Werte gerichtet iſt; und hier fehlt den Sport treibenden Maſſen ſehr viel, vor allem ein Perſoͤnlichkeitsideal, das den Rör- perkultur und Sport treibenden Men- ſchen vorausſetzt. Freilich wird vielfach hervorgehoben, was der Sport an mut, Selbſtbeherrſchung, Enthalt⸗ ſamkeit, Einordnungsfaͤhigkeit, Ent⸗ ſchlußfreudigkeit erziehen kann; in den Programmen der Reichsgeſundheits · woche waren aber wenig Sinweiſe auf dieſe geiſtigen Auswirkungen zu ver⸗ nehmen.

Solange es aber nicht beſſer verſucht wird, die geiſtigen Moglichkeiten in Sport und Körperkultur dem Volks- bewußtſein einzuprägen, ſolange wird man hinter der Sportbegeiſterung im; mer Schreie hoͤren, die ſchon vor Jahr⸗ tauſenden erklangen: Circenses! Und vom Standpunkte feinerer kultur⸗ bewußter Menſchlichkeit wird das fport- liche inferior erſcheinen.

Es waͤre denkbar, daß die tieferen Geiſter wieder naͤher an die mittelalter; lichen Menſchen heranzukommen ver⸗ ſuchen würden, die ihren Börper ver⸗ nachlaͤſſigten, um fo ihrer Seele zu dienen.

Gerade das aber kann und muß bei der dringenden Notwendigkeit, geſunde menſchen zu bilden, vermieden werden, und das geſchieht, wenn Börperpflege und Sport ethiſch fundiert werden, nicht nur raſſenbiologiſch, wie es ge legentlich geſchie ht. Möglich iſt dies da; durch, daß alle die ſchon genannten Tu⸗ genden zu einem neuen Bildungsideal zuſammengefaßt werden. Dieſe Forde⸗ rung muß aber in einer Weiſe ausge⸗ ſprochen werden, die gerade die ergreift, die ſie am meiſten angeht.

Wer ſeine Muskeln beim Wettſpiel be herrſcht und ſich der Mannſchaft ein⸗

Aulturpolitiſcher Arbeitsbericht

ordnet, ſich aber ſonſt im Verkehr mit menſchen maßlos gehen laͤßt und nichts von verſtehender Ruͤckſicht weiß, wer nur im Spiel für den andern ein tritt und der Gruppe Opfer bringt, ſonſt aber keinen Blick und keine Sand für den andern hat; wer wohl feine Sehnen ſtraffen kann, aber ſeine Ge⸗ danken haltlos flattern läßt; wer nur ſehen kann, wie hoch einer ſpringt und kein Auge hat für den Sochflug des Geiſtes: der iſt kein Sportsmann und kein moderner Menſch.

Dem alten ritterlichen Ideal ſei dies neue an die Seite geſtellt. Schutz den Frauen, den Schwachen und den bödy- ſten Werten der Menſchheit, dieſe alten Rittergelübde in eine moderne Form zu prägen für den Menſchen, der wie einſt feinen Korper beherrſchen und zu Sochleiſtungen bilden will, das wäre ein Aulturziel für den deutſchen Sport. Den Sinn dafür allen zu öffnen, das wäre auch eine Aufgabe der Reichs; geſundheitswoche geweſen.

Freilich kann man einwenden, daß ein derartiges Perſoͤnlichkeitsideal ſich nur in einer geſchloſſenen Oberſchicht herausgeſtalten, nicht aber maſſenfor⸗ mend fein konne.

Das würde aber nie ein Einwand gegen das Beſtreben fein konnen, ein menſchenideal aufzuſtellen, das allen koͤrperlichen Gewinn in den Dienſt ver⸗ edelter Menſchlichkeit ſtellt. Wie weit deſſen formende Kraft reichen wird, kann niemand ſagen. Es iſt jedenfalls immer ſo geweſen, daß das, was eine Oberſchicht geftaltet hat, auf lange rich; tunggebend für die Maſſen geweſen iſt.

Eine Maſſenbewegung aber, die wie Sport und Körperpflege alle Kreiſe er- griffen hat, kann ſehr wohl der Boden fein, auf dem ein Menſchentyp waͤchſt, der feinen koͤrperlichen Gewinn mit einer geiſtigen Geſamthaltung ver⸗ einigt, ſo daß die alte griechiſche Glei⸗ chung ſchoͤn und gut wieder erfüllt wird. Aarl Werner

Schriftleiter: Dr. h. e. Eugen Diederichs, Jena, Carl-Jeiß-Platz 5. Bei unverlangter Zuſendung von Manuſkripten it Porto für Rückfendung beizufügen. Verlegt dei Eugen Diederichs in Jena Druck von Radelli & Sille in Zeipzig

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Monatsſchri für die Jułunſt deut ſcher Rultur

18. Jahrgang Heft 4 Juli 1926 ET EEE ES ] ,] ——T——.:.r:. —.:. ̃ —•A—.. ]Ü—.—. TEE)

Valtin Hartig Arbeiterbildung

eben der materiellen Not, in der ſich das Induſtrieproletariat be⸗

findet, ſteht eine nicht minder große geiſtig⸗ſeeliſche Not. Sie iſt

wirtſchaftlich bedingt und kann gründlich geloͤſt werden nur zu; ſammen mit einer Anderung der wirtſchaftlichen Lage des Arbeiters. Auf⸗ gabe der Arbeiterbildung iſt es, die geiſtig⸗ſeeliſche Not des Induſtrie⸗ proletariats zu beheben, ſoweit die wirtſchaftlichen Saftoren dazu nicht ge- nuͤgen. Die Not beſteht in I. kultureller Entwurzelung, 2. kultureller Ar- mut und 3. in ſeeliſcher Verkuͤmmerung.

Die raſche induſtrielle Entwicklung des letzten Jahrhunderts hat in den Städten eine neue Bevoͤlkerungsſchicht zufammenftrömen laſſen. Das In⸗ duſtrieproletariat, das einen in ſich ungeordneten, aus allen bis jetzt be- ſtehenden Kulturbindungen geriſſenen Saufen darſtellte. Zum Teil ſtammt es aus dem verarmenden, ſich durch die neue induſtrielle Konkurrenz auf⸗ voͤſenden Sandwerkertum. So weit ſteht es noch in aͤlteren Aulturbindun- gen, die das Handwerk geſchaffen und die noch nachwirken auch in der ver- groͤßerten Werkſtatt und Fabrik. Zum andern Teil aber iſt jener Saufe vom Land gekommen. Er ſieht ſich nun in eine ganz andere Umgebung, in an- dere Wohn- und Arbeitsverhaͤltniſſe verſetzt. Dieſe neue Maſſe hat keine Seimat, hat keine heimatlichen Gefuͤhle 0 der neuen Stadt wie fruͤher zu dem Dorf. Die Wohn- und Arbeitsverhaͤltniſſe find zudem. ſo ſchlecht und die in der neuen Lage zu erduldende Not iſt fo groß und abſtumpfend, daß der Proletarier die Stadt, ſeinen Stadtteil, ſein Wohnviertel nicht lieben kann, daß Gefuͤhlsbeziehungen und bindungen zu der Umgebung nicht entſtehen koͤnnen. Der ſein gehetztes Daſein ausſchließlich beherrſchende Gedanke iſt der Lohn, und nach deſſen Geſtaltung wechſelt er Arbeits und wohnſtelle. Seute ſcheinen wir bereits vergeſſen zu haben, wie häufig Wohnungswechſel vor dem Krieg gerade im Proletariat geweſen if. Dies und die lange Arbeitszeit entfernen voͤllig von der Natur. Ohne Ver⸗ Cat XVII J7

272 Valtin Sartig

bundenheit mit ihr verbringt der Arbeiter feine Frei und Feſtzeit auf einem Rummelplatz mit Vergnuͤgungsmaſchinen und Automaten und beim Al⸗ kohol oder im Tanzſaal. Das alte Sandwerk hat ſeine Arbeitsgebraͤuche, Feſttraditionen. Im Ablauf des Jahres empfindet es ſich durch ſie als eigene Gemeinſchaft mit beſonderer Sorm, jedes Mitglied fühlt dadurch den Zu⸗ ſammenhang mit den andern, iſt ſtolz darauf, und in der Erhebung des Ganzen, der Zunft uſw. fuͤhlt es ſich ſelbſt gehoben. Der Induſtriearbeiter dagegen ſteht als einzelner, vereinzelter in ſeiner mechaniſchen Arbeit, die er nicht uͤberblickt und mit der er keinen inneren Juſammenhang hat. Und wie die Arbeit, der Beruf noch keine Gebraͤuche und Kultur oder Gemeinſchafts · formen noch Traditionen geſchaffen hat, ebenſowenig beſteht ein innerer Zufammenbang mit wohnung, Saus und Sausrat. Bauer und Sandwerk formten ſich ihre Stube nach ihrem eigenen Charakter nicht individuell, fo doch als Gruppe, und nach der Gegend lebten alſo darin ihre Grup⸗ penindividualitaͤt aus und ſchufen ſomit Rulturformen von 5 Wert. Die wohnungsverhaͤltniſſe, ganz beſonders aber die Beſchaͤftigung der Frau in der Induſtrie führen zur Lockerung der Samilie, damit zur Locke⸗ rung des Verantwortungsgefuͤhls und der Anſchauungen gegenüber Liebes beziehungen, gegenuber dem Verhaͤltnis von Kind und Eltern. Und wie das Befüge dieſer Kulturzelle Familie ſich loͤſt, fo verliert die große Kulturbindung, die dem Mittelalter fein geiſtiges Gepraͤge gegeben, die den folgenden Jahrhunderten für die Volksmaſſen die geiſtige Lebens form geboten, die Kirche, ihre haltende Kraft auf das Induſtrieproletariat der Stadt. Lange Arbeitszeit, ſchwere Beſchaͤftigung, karger Lohn und deshalb ſtaͤndiges Erfuͤlltſein mit Rechnen um Pfennige, mit ewiger Angft: wird es reichen, die aͤrgſte Not zu befriedigen, den Sunger zu ſtillen, die Miete zu zahlen? das muß den Gedanken der Kirche gegenuͤber ab ftumpfen*. Dies in Not dahinvegetierende Induſtrieproletariat der Stadt loͤſt ſich alſo von der Kirche, die Kirchen ſtehen in den Städten leer. Es er⸗ hebt fi ſogar Animoſitaͤt gegen fie. Die Maſſen ſehen, daß die Kirche mit den Serren, Reichen, Mächtigen, Beſitzenden zuſammengeht, ihre Ver⸗ treter die Anſichten jener teilen, mit jenen verkehren, ſie ſehen den Gegen⸗ ſatz, der zwiſchen den Worten des Evangeliums der Liebe und Entſagung und zwiſchen der gegenwärtigen Wirklichkeit klafft. Etwas tiefer geſehen, die Kirche, aus Zeiten anderer Geſellſchafts · und Produktionsformen ſtammend, hat nicht vielleicht noch nicht die Anpaſſung an das neue Proletariat gefunden. So ſcheinen zunaͤchſt tiefere Beziehungen zwiſchen beiden noch gar nicht moglich. Und wieder iſt der Induſtrieproletarier von

* (Es wird von fo vielen „Geiſtigen“ über den Materialismus der Maſſen geklagt. Sie ſollen einmal an die ſo raſch dem Gedaͤchtnis entſchwundene Inflationszeit und an die Kriegszeit denken, und ſich daran erinnern, wie ſie ſelbſt im gleichen maße, als ſie wirtſchaftlich ſchlechter denn jetzt geſtellt waren, an die Befriedigun materieller Beduͤrfniſſe dachten. Sat einer von ihnen ſchon einmal i Dann wird er ſich erinnern, wie der Gedanke an Eſſen ſich immer wieder bervor- drängte, auch wenn der Sungernde ihn zuruͤckgedraͤngt haben wollte und ſich mit Bauen Dingen zu beſchaͤftigen ſucht. So ſehr nun mit materiellen Dingen und Wüͤͤnſchen die Gedankenwelt der Maſſe erfüllt fein mag, potentiell find die Maſſen idealiſtiſcher, opfernder, ſelbſtloſer als die Beſitzenden.

Avbeiterbildung 243

einer Rulturbindung mehr entblößt, feine geiſtige Entwurzelung um fo- viel größer.

Wie die Maſſe keine reale Seimat mehr hat, fo hat fie auch keine geiſtige. Wir haben einen aus allen Teilen des Reichs durch den Zufall zuſammen⸗ gewehten Saufen, der ſich abſchuftet und von der aͤrgſten Not gehetzt, keinen anderen Gedanken als Befriedigung groͤbſter Beduͤrfniſſe hat. Nichts verbindet dieſe Menſchen innerlich miteinander, zunaͤchſt ſtehen ſie ſich im Wettlauf um den Arbeitsplatz eher feindlich gegenuͤber und doch ſchon durch die Not aneinandergeſchmiedet, von einander abhaͤngig. Das Angebot beſtimmt den Preis der Arbeitskraft, damit die Zebenshaltung. Vielleicht wird aus der Erkenntnis dieſes Aneinandergebundenſeins und dieſer gemeinſamen Not eine geiſtige Welt wachſen. Noch iſt die Ideologie der neuen Wirtſchaftsweiſe des Induſtriezeitalters nicht gefunden.

Dieſe Entwurzelten leben dahin ohne Kenntnis ſeitheriger Rulturguͤter. Was die Volksſchule gibt, iſt ſelbſtverſtaͤndlich zu wenig. Zur weiterbil⸗ dung gebricht es an Jeit und Mitteln, gebricht es infolge der Not an dem Schwung, der Aufnahmefaͤhigkeit. Buͤcher findet man in den Arbeiter⸗ wohnungen faſt gar keine oder uͤbeln Schund. Die Benutzung der Biblio⸗ theken iſt verſchwindend gering gegenuͤber der Maſſe derer, die ſie aufſuchen ſollten und koͤnnten. In den Muſeen ſind unſere Schaͤtze an Bildern auf⸗ gehaͤuft. Aber den Arbeiter als Betrachter findet man ſehr ſpaͤrlich darin. Sein Empfinden für das Runſtwerk iſt nicht entwickelt. Zwar freut er ſich am Sarbigen ; zwar hat er gemeinhin Sinn für Bilder; jedoch, was er ſich in der Regel auswaͤhlt, um feine Stube damit zu ſchmuͤcken, iſt jaͤmmer⸗ lichſter Kitſch. Freilich nicht durch feine Schuld. Die Kitſchinduſtrie drängt ihm das Zeug auf, der Sauſierer ſchwatzt ihm den Gldruck mit dem pom⸗ poͤſen Rahmen auf Abzahlung auf. Wäre aber dieſe Nitſchinduſtrie und Schunddruckerei moͤglich ohne weite Schichten, die in ihrem Empfinden durch ihre Lebensverbältniffe entwurzelt, rettungslos verkitſcht worden find? Was kennen die Maſſen von Literatur? Was kennen fie von dem, worin ſich am ſtaͤrkſten die geiſtige Eigenart und Kultur einer Nation aus- praͤgt, von dem Schrifttum? Ein paar Namen von Dichtern, deren Werke man verwechſelt. Es wird hier von der großen Maſſe geſprochen, nicht von den in der Arbeiterbewegung taͤtigen Funktionaͤren. Dem Theater ſtehen die Maſſen ebenſo fremd gegenüber. Selbſt heute kommt im Durchſchnitt in den gutorganifierten Volksbuͤhnenſtaͤdten auf 3 Arbeiter nur ein Theaterbeſuch im ganzen Jahr! Getroſt kann man ſagen, daß die Mehr⸗ zahl des geſamten deutſchen Volkes überhaupt noch in keinem Theater war. Der „Bebildete” hat feine geiſtige Welt, die ihm die deutſche Literatur in der Sauptſache geſchaffen hat. Das Land hat feine aus der Kirche und der Bibel ſtammende. Der Arbeiter hat keine von beiden. Noch ſchlimmer iſt fein Verhaͤltnis zur Muſik. Das vielgeſtaltige, ausgedehnte Muſikleben in den Konzertfälen, Symphonie, Rammermuſik, Chorwerk iſt ihm ganz fremd. Dieſe Muſikpflege iſt nur fuͤr einen ſehr kleinen Kreis im Volk vor⸗ handen damit iſt eben geſagt, daß unſere Kultur eine exkluſive geworden iſt, daß trotz unſerer hohen Spitzenleiſtungen die Maſſen kulturell dahin⸗ vegetieren in einem nüchternen platten Daſein.

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244 Valtin Sartig

Zu dieſer kulturellen Armut der Maſſen kommt eine ſeeliſche Verkuͤmme⸗ rung. Es iſt ohne weiteres klar, daß die elenden wohnungsverhaͤltniſſe, das graue Arbeiterviertel mit feinen Sinterhoͤfen ohne Licht und Luft, der ſtaubgeſchwaͤngerte haͤßliche, laͤrmerfuͤllte Arbeitsſaal, der ohne jede aͤſthe⸗ tiſche Ruͤckſicht errichtete Backſteinbau der Fabrik, die lange Arbeitszeit mit ihrer Ermuͤdung, das ſtete ſich Genuͤgenmuͤſſen mit den billigſten und kit⸗ ſchigſten Erzeugniſſen und Maſſenartikeln auf allen Gebieten den Geiſt ab⸗ ſtumpft, das Schoͤnheits und Naturempfinden tötet, Anſpruchsloſigkeit erzeugt, Qualitaͤtsbewußtſein verloren gehen laͤßt und aus dem Gegenſatz zu der Lage des Reicheren, aus dem Empfinden der eigenen Abhaͤngigkeit minderwertigkeitsgefuͤhle entſtehen laͤßt. Dies letztere wird ganz beſonders noch verſtaͤrkt durch die geſellſchaftliche Geringſchaͤtzung der koͤrperlichen Arbeit. So fühlt ſich der Arbeiter als Menſch zweiter Klaſſe, minderen wertes und minderen Rechts. Bezeichnend dafür iſt die Achtung und Ehr furcht, die man dem Beſſergekleideten, forſch Auftretenden ohne weiteres zu zollen bereit iſt, das raſche Entgegenkommen, das der Vornehme, Feine an- trifft, wenn die Maſſe nicht gerade gegen ihn aufgeregt iſt. Seeliſche Ver⸗ kuͤmmerung erwaͤchſt im beſonderen aber aus der Arbeitsart der großen Betriebe. Der Arbeiter iſt mit der immer ſtaͤrker ſich entwickelnden Technik zu einem Diener der Maſchine geworden. Ebenſogut koͤnnte er ja auch ihr Serr ſein. Dem widerſpricht aber allzuſehr das Empfinden des Arbeiters, jederzeit aus der Stelle gejagt, durch einen anderen erſetzt werden zu koͤn⸗ nen. Vom Diener wird er in vielen Faͤllen nur ein Beſtandteil der Maſchine ſelbſt. Ein Mechanismus ſelbſt mit ein klein bißchen Intelligenz, der ſchließ⸗ lich durch weitere Teilung und Vervollkommnung der Maſchine auch noch überfläffig werden wird. Und die Arbeit, die er nun verrichtet, iſt ewig die- ſelbe, den ganzen Tag die gleiche Bewegung, die ganze Woche, das ganze Jahr! Selbſtverſtaͤndlich wird ſolche Arbeit ohne jeglichen inneren Anteil getan und wird ſomit ſelbſt zur ſeeliſchen Qual, wenn ſie nicht voͤllige gei⸗ ſtige Abſtumpfung erzeugt. Wie anders iſt demgegenuͤber die geiſtige Taͤtig⸗ keit des Lehrers! Wie verſchieden die Arbeit des Sandwerkers oder Bauern. Gewiß, der letztere arbeitet alles zuſammengenommen in der Regel ſchwerer als der Mann in der Fabrik. Seine Arbeit iſt aber nicht jene mechaniſche und geteilte. Doch nicht nur die Arbeitsart und · methode laͤhmt. Ebenſo druͤckend iſt die Tatſache, daß der Arbeiter nicht für ſich arbeitet, daß er für einen anderen ſchuftet, der den Profit davon hat. Der Sandwerker mag in Wirklichkeit ebenſo ausgebeutet werden wie der Fabrikarbeiter und ſich ebenſo plagen muͤſſen. Aber hat er die Illuſion, fein eigener Serr zu fein. Und das muß doch von ganz beſonderem Wert fuͤr die Saltung und das Bewußtſein eines Menſchen fein, ſonſt würden ſich die Handwerker nicht mit Saͤnden und Fuͤßen gegen die Aufgabe ihres Geſchaͤfts wehren. Es find im Leben doch nicht bloß Erwaͤgungen materieller Art maßgebend. Der Arbeiter aber kennt ſeine hoffnungsloſe Abhaͤngigkeit von einem Fremden, der an ihm verdient. Zwiſchen beiden beſteht kein anderes als das nüchternfte Geldverhaͤltnis. Und der Arbeiter weiß, daß fein Arbeitgeber ihn bei naͤchſtbeſter Gelegenheit entlaſſen wird, ſofern ein kleiner Vorteil dabei herausſpringt. Und das iſt noch ein guͤnſtiger Sell! wie häufig iſt der

Arbeiterbildung 245

err des Betriebes nicht einmal eine ſichtbare Perſon, wie häufig iſt's eine anonyme Geſellſchaft, von der man keinen Menſchen kennt. Der Arbeiter ſchuftet alſo fuͤr die zinſen eines Papiers, das an der Boͤrſe gehandelt wird. Wer ſoll ſich da noch wundern, wenn der im Betrieb Stehende einfach ſeinen Tag herunterreißt, abſchuftet, wenn er nur den Gedanken hat, wann iſt der Arbeitstag zu Ende. Dieſe entſeelte Arbeit mechaniſiert den Arbeiter, laͤßt ihn ſeeliſch verkuͤmmern. Noch eins iſt zu beachten. Die Arbeitsaufgabe iſt immer die gleiche, die vorgeſchriebene. Willensbetaͤti⸗ gung findet der Arbeiter nicht an ihr. So wird feine Willens und Tatkraft geſchwaͤcht, ebenſo wie durch die mechaniſche Taͤtigkeit alle ſchoͤpferiſche Kraft in ihm verkuͤmmert. So iſt es zu begreifen, daß er ſich mit Kitſch und Surrogaten abfindet. Ihm gefällt, was Anregung gibt und Glanz vorſpiegelt, ohne daß er dazu Stellung zu nehmen braucht, ohne daß er aktiv dabei wird, was er alſo rein paſſiv auf und hinnehmen kann das Kit ſchig · Sentimentale, die verlogene Traum⸗ und Wunfchwelt des Kinos; anſpruchslos tobt er ſich aus auf dem Tanzſaal, auf dem Rummelplatz, beim Alkohol.

So war die kulturelle Lage der Arbeiterſchaft, bevor die Arbeiterbewe⸗ gung breitere Maſſen erfaßte. Gewiß, die Lage iſt auch heute noch troſtlos, nachdem die Bewegung ſelbſt ſchon ſehr viel getan hat zur Behebung der Not. Wir laſſen uns nur zu leicht, oberflächlich ſehend, in einem Kultur; dunkel lebend, über die wirkliche Lage hinwegtaͤuſchen. Was hat nun zur Abhilfe zu geſchehen?

Bei allem Verwurzeltſein im Materiellen, das von der ſozialiſtiſchen und freigewerkſchaftlichen Arbeiterbewegung ſo ſtark betont wird, iſt der menſch auch ein Geiſtesweſen. Als ſolches hat er das Bedürfnis nach geiſtiger Durchdringung feiner Lage. Um nicht wie ein Spielball der Verhaͤltniſſe, hin · und hergeſchleudert zu werden, hoffnungslos und rat- los, um deshalb nicht dem Glauben an wirkungsloſe, geheimnisvolle myſtiſche Kräfte zu verfallen, braucht er Erkenntnis feiner geſellſchaft lichen Situation, Erkenntnis der in ihr waltenden, ſie beſtimmenden ſo⸗ zialen, wirtſchaftlichen und kulturellen Kräfte. Damit erfaßt er feine eigene Bedeutung als Einzelner und im Juſammenhang mit feiner Klaſſe. Notwendig iſt ein neues einheitliches Weltbild, das dem Induſtriezeitalter entſpricht. Notwendig iſt eine neue wWeltanſchauung, eine einheitliche Ideologie, der neue, aus den Verhaͤltniſſen der Maſchinenzeit und des In⸗ duſtrieproletariats herauswachſende geiſtige, ihm gemaͤße Überbau. Not⸗ wendig iſt ein neues, alles umfaſſendes Ideal, ein neues letztes Werterleb⸗ nis. Das heißt mit anderen Worten, es iſt Aufgabe der Zeit, Aufgabe der Arbeiterbildung, das Chaos, das ſich dem entwurzelten Broßftadt- und Induſtrieproletarier darbietet, nach einer zuſammen faſſenden Einheit zu ordnen, einen neuen Rosmos in den Wirrwarr und das Aufgelöfte hineinzuſehen. Das kann freilich nur geſchehen, indem man von einem Ideal im Innerſten ſelbſt beſeelt iſt, wenn man das Werterlebnis ſelbſt ge⸗ habt hat. Es handelt ſich hier nicht nur um Erkenntnis und Wiſſenſchaft, um wiſſenſchaftliches Ordnungsprinzip, es handelt ſich hier um Lebens⸗ geſtaltung, die die Arbeiterbildung zu zeigen hat. Das neue Ideal heißt Ge;

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meinſchaft. Aus dem aus allen Kulturbindungen geriſſenen, zuſammen⸗ hangsloſen und zuſammengewuͤrfelten Saufen waͤchſt dieſes Ideal als Sehnſucht heraus. In ihm hebt ſich der Saufen der vielen Iſolierten und Einzelnen auf. Innerer Juſammenhang wird damit hergeſtellt. Dieſes Ideal iſt nun mit Inhalt zu füllen, iſt von den Maſſen mit religiöfer In; brunſt zu erfaſſen, von der Bewegung als ſtrenge Forderung aufzuſtellen, von der Arbeiterbildung als das Fundament zum werden des neuen, der Maſchinenzeit entſprechenden Menſchen zu zeigen und zu ihm zu erziehen. Dieſes Ideal iſt keine verſtandesmaͤßig erkannte Notwendigkeit. Es iſt lebensecht. Die Wirtſchaft hat den Arbeiter im Betrieb gleichgeordnet und jederzeit durch jeden erſetzbar neben den anderen an die Maſchine geſtellt. Er iſt der Willkuͤr des Unternehmers als Einzelner voͤllig preisgegeben. Da erwacht in ihm die Erkenntnis der abſoluten wirtſchaftlichen Gleich; heit mit den Arbeitsgenoſſen und zugleich die Erkenntnis, im Zuſammen⸗ ſchluß mit den anderen wird er ſelbſt ſtaͤrker. Mit dem Einzelnen wird der Unternehmer jeden Augenblick fertig. Mit der geſamten Belegſchaft des werks kann er nicht fo verfahren. Alſo gebiert der Gedanke der wirt- ſchaftlichen Schutzloſigkeit den Gedanken der Solidaritaͤt im Betrieb. Und der greift vom Beruflichen uͤber auf alle Gebiete des Lebens. So kommt mit dieſem Gedanken Solidaritaͤt, mit dem Ideal Gemeinſchaft Richtung in den Saufen, wird aus ihm ein geordnetes Seer mit hohem Ziel. Zu⸗ naͤchſt geht es nur gegen die eigene Ausbeutung, geht es für die Sebung des Induſtrieproletariats, das ſich als eine neue Schicht erkennt, als eine beſondere Klaſſe. Und nur inſofern es ſich als die eigenartige Klaſſe der neuen Wirtſchaft erfaßt, kann es die gemaͤße Lebensform und Geſtal⸗ tung finden. Klaſſenbewußtſein wird fo zur Vorausſetzung der neuen Lebensform des Proletariats. Aber das Ideal greift weiter, will die Ge⸗ ſellſchaft der Gemeinſchaft, die Abſchaffung aller Ausbeutung und Knecht⸗ Schaft. Darum iſt die Aufhebung aller Klaſſen nötig, heißt das Ziel die von Intereſſengegenſaͤtzen nicht mehr zerriſſene klaſſenloſe Geſellſchaft ein hohes letztes Ideal, das alle Glaubenskraͤfte religioͤſer Menſchen beſchaͤf⸗ tigen kann. Serausarbeitung des Klaſſenſtandpunktes und Alafien- intereſſes liegt auf dem Weg zur endgültigen Klaſſenbeſeitigung. Das iſt die Ideologie, die noͤtig iſt, die Maſſen zu einer Einheit zuſammenzufaſſen, uͤber das Chaos der Zeit eine geiſtige Welt zu ſtellen.

Sobald dieſe Grundvorausſetzung zur Sebung der geiſtigen und ſee⸗ liſchen Not des Proletariats gegeben iſt, erſcheint als naͤchſte Forderung der Arbeiterbildung Teilnahme an den ſeitherigen Nulturguͤtern.

Sier ſcheint es notwendig, auf die Beſtimmung unſeres Bildungsbegriffs uͤberhaupt einzugehen. Bildung iſt fuͤr uns Formung des ganzen Menſchen nach einem Ideal. Wir betonen, den ganzen Menſchen, alſo Serz und Sirn. Das erſcheint, ſo ſelbſtverſtaͤndlich es an ſich iſt, doch notwendig, weil in der ſeitherigen Arbeiterbildung etwas einſeitig das intellektuell⸗ rationale bevorzugt worden iſt. Und wir ſtellen Bildung nach einem inhalt; lichen Ideal als Forderung. Es beſteht ja ein Erziehungsideal, das fordert, das im Menſchen Angelegte, das Individuelle zu entwickeln und dadurch die große kraftvolle Perſoͤnlich keit werden zu laſſen. Wir glauben zwar

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auch, daß das, was wir bilden und erziehen wollen, im Menſchen angelegt iſt, und zwar in jedem, naͤmlich der Gemeinſchaftsmenſch. Wir wiſſen aber auch, daß im Menſchen Aſſoziales, Antiſoziales außerdem noch vorhan⸗ den iſt, auf deſſen Entfaltung wir keinen Wert legen, das im Gegenteil zuruͤckzuhalten wir als Aufgabe unferer Erziehung ſehen. Was wir wollen, iſt alſo der Menſch, deſſen ganzes Tun getragen iſt von dem Gedanken, daß er als Geſellſchaftsweſen in allem dem Sozialen verhaftet und dem Sozialen verſchuldet, ſich ſelbſt am meiſten foͤrdert, wenn ſein Tun den an⸗ deren mitfördert, und daß er in feinem eigenſten, individuellſten Handeln Verantwortung trägt gegenüber der Gemeinſchaft. Wenn wir die Pflege des Bewußtſeins in der Verantwortung vor dem Sozialen ſo ſtark be⸗ tonen, ſo verlangen wir nichts Neues. Wir ſind der Meinung, daß es Wefens- und Grundeigenſchaft des Menſchen ift, Sozialweſen zu fein, daß er es immer war und ewig ſein wird. Doch eben ſo richtig iſt, daß er ſich als Individuum verwirklicht. Wir ſprechen zwar von individualiſtiſchen Zei⸗ ten. In ihnen exiſtierte der Menſch ſelbſtverſtaͤndlich auch als Sozialweſen. Nur hat man in ihnen in der einen Eigenſchaft ſeiner Beſonderung, ſeines Unterſchiedes vom anderen den Sauptwert geſehen. Gegen die Überfpan- nung dieſer Wertung wendet ſich die Betonung des Sozialen.

Wir verlangen in der Arbeiterbildung, wir verlangen in aller Erziehung Bildung zum bewußten Menſchen der Gemeinſchaft. Das iſt das große, tragende, allesumfaſſende Ideal. Bildung nun iſt ein langſamer und muͤhe⸗ voller Prozeß. Man muß um ſie ringen, ſie ſich erarbeiten. In dieſem Sinne gilt heute noch, gilt immer das Wort 6 u) q agel Aydownos od naudev- ex. Der Bildungs prozeß iſt formale Schulung wie Aufnahme von In⸗ haltlichem. Er iſt Bereicherung und Übung des Sirns, wie Formung des Serzens im Bewußtſein ſozialer Verpflichtung. Dabei erſcheint uns die Ge⸗ můts · und Willensbildung noch wichtiger als die des Gehirns. Es kann einer mit ſozialen Erkenntniſſen angefüllt und doch ein gemeinſchaftsſchaͤ⸗ digender Egoiſt fein, ein Geiſtesakrobat und doch ein Ausbeuter. Das Wiſ⸗ fen, das in der Arbeiterbildung zu vermitteln iſt, umfaßt alles, was zur Er⸗ kenntnis feiner kulturellen, wirtſchaftlichen und politiſchen Lage dem Ar- beiter noͤtig iſt, und das ihn befaͤhigt, fie nach den Beduͤrfniſſen und Erfor⸗ derniſſen feiner ſelbſt, wie feiner KAlaſſe umzugeſtalten. Damit geht einher die Erhöhung der formalen Denk und Urteilsfaͤhigkeit. Mittel dazu find Anleitung zum Selbſtſtudium in der Form der Beratung, ſind Vortraͤge und Kurſe, find Bibliotheken. Es handelt ſich aber nicht nur um Vermitt ; lung des Willens, ſondern ebenſoſehr um Weckung des willens, das wiſſen anzuwenden zur Umgeſtaltung der Geſellſchaft. Sier ſtoßen wir auf ein ſchweres Problem. Arbeiterbildung will Maſſenbildung. Es liegt im Weſen des Kurſus, der nur in Form der Arbeitsgemeinſchaft gehalten wer- den darf, daß ſeine Teilnehmerzahl ſehr beſchraͤnkt iſt. Mit ihm werden wir alſo ſchwerlich die Maſſen erfaſſen. Wir haben ja ſchon darauf hingewieſen, daß der Kurſus von bildendem Wert nur fein kann, ſofern er nicht bloß Wiſſens aufnahme iſt, ſondern ſofern die Teilnehmer an ihm mit dem dar⸗ gebotenen Stoff ringen, ſich ihn erarbeiten. Zu dieſer Beſchwerlichkeit und der erforderlichen Ausdauer ſind aber nur die Wenigſten bereit, zumal die

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Kurſe doch in der Regel nach geleiſteter Tageslohnarbeit gehalten wer- den koͤnnen, die Teilnehmer dadurch alſo ſchon ermuͤdet ſind, ihre Auf⸗ nahmefaͤhigkeit und geiſtige Spannkraft vermindert iſt. Wir muͤſſen uns daruͤber klar fein, Maſſenbildung durch Nurſe allein und direkt iſt unmoͤg⸗ lich. In ihnen bilden wir die dazu Bereiten, Wenigen, aber nicht, damit ſie für ſich gebildet ſeien, ſondern damit fie ihr Wiſſen in der Arbeiterbewegung verwerten. Sie find Funktionaͤre in der Maſſe, find Fuhrer im kulturellen, politiſchen und wirtſchaftlichen Rampf. Ihr Willen läßt fie den Rampf beſſer führen. Der Erfolg kommt der Maſſe zugute. Und fei er nur ein wirt- ſchaftlicher wirtſchaftliche Sebung der Maſſe hat Erhoͤhung des kultu⸗ rellen Niveaus im Gefolge. So wirken Kurſe nur indirekt maſſenbildend.

Alle Arbeiterbildung iſt aktiviſtiſch, zweckbeſtimmt im Sinn der Foͤrde⸗ rung der Bewegung. Zur Behebung der ſeeliſch⸗geiſtigen Not des Prole⸗ tariats iſt auch wirtſchaftliche Anderung im Geſellſchaftsgefuͤge noͤtig. Alſo liegt in der Aufgabe der Arbeiterbildung Erhoͤhung der Befaͤhigung zum politiſchen und wirtſchaftlichen Rampf. Solche Zweckbeſtimmtheit iſt bereits ausgeſprochen in der Forderung nach einem alles Tun durchdringen⸗ den Ideal der Gemeinſchaft, nach Gemeinſchaftsgeſinnung, denn ſelbſt⸗ verſtaͤndlich iſt, daß ſie betaͤtigt werden ſoll.

Es iſt am Platz, darauf hinzuweiſen, daß Aufklaͤrung über alles und je des was in Form von Vortraͤgen zumeiſt fo bäufig in der Arbeiterbil⸗ dung geſchieht mit Bildung ſehr wenig zu tun hat. Das dadurch erwor⸗ bene Wiſſen iſt hoͤchſt oberflaͤchlich. Es kann gut ſein, um Maſſen zu dieſem oder jenem naheliegenden Zweck zu begeiſtern, zum Handeln zu veranlaſſen. Das iſt Agitation und Propaganda, die mit Arbeiterbildung wenig zu tun hat. Gewoͤhnlich leicht angeflogen, iſt dieſes Wiſſen ebenſo raſch wieder verſchwunden. Zur Bildung iſt eben Wiſſensaneignung noͤtig durch Ringen mit und Arbeiten an dem Stoff. Es ſei hier darauf hingewieſen, weil mit ſolchen aufklaͤrenden Vortraͤgen ohne Wirkung viel Geld und Muͤhe in Ar- beiterorganiſationen vertan und das Gewiſſen beruhigt wird.

Eigene Beurteilung verlangt die Unterrichtung in Kurſen zu beſtimm⸗ ten naheliegenden Jwecken, Schulung von Funktionaͤren zu beſtimmten Aufgaben des Taͤtigkeitsbereichs der Organiſationen. Das iſt die beſonders notwendige und wichtige Aufgabe innerhalb der Verbaͤnde, der Partei, der Gewerkſchaften und anderer Arbeiterorganiſationen. Sier handelt es ſich oft um einfaches Aufnehmen, feſtes Lernen beſtimmten Stoffes, Übung von Faͤhig⸗ und Fertigkeiten, 3. B. Redetechnik, Verſammlungs⸗ leitung. Man hat das immer unter die Aufgaben der Arbeiterbildung ge⸗ rechnet. Mit gutem Grund. Aber doch nur inſofern und weil es ſelbſtver⸗ ſtaͤndlich vom Gemeinſchaftsideal getragen iſt und indirekt zur Behebung der geiſtig⸗ſeeliſchen Not der Arbeiterklaſſe in feiner Auswirkung beiträgt. Es kann ſich fuͤr Arbeiterbildung nur darum handeln, die Arbeiterſchaft in ihrer Geſamtheit zu heben. Der Einzelne, der aus ihr herausgehoben wer⸗ den ſoll, wird ſeiner Klaſſe nicht entfremdet. Dadurch tritt eine ſtetige geiſtige Entblutung der Arbeitermaſſen ein. Die Verhaͤltniſſe für die Zuruͤckbleibenden dauern fort, ſtatt daß fie durch das Arbeiten des beſſer Gebildeten, mehr Wiflenden umgeſtaltet werden. Er ſoll nicht zu dem

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heutigen arbeiterfremden „Gebildeten“ gemacht, deklaſſiert werden. Als Tůchtiger ſoll er innerhalb der Arbeiterbewegung hochſteigen. Unter „freie Bahn dem Tuͤchtigen ! verſteht der Bürger fuͤr den Arbeiter Sinuͤberwechſeln und Aufſteigen in die andere „gehobene“ buͤrgerliche Klaſſe. Daß damit der Arbeiterſchaft nicht gedient, ja geſchadet wird, iſt klar.

In den Kurſen ſoll der Arbeiter auch nicht zum Wiſſenſchaftler gemacht und nicht zum „wiſſenſchaftlichen Denken“ erzogen werden. Wer das for⸗ dert, weiß nicht, was er fordert. Es beſteht geradezu eine Strukturverſchie⸗ denheit zwiſchen dem wiſſenſchaftlichen Denken und dem des einfachen mannes nicht nur des Arbeiters. Deshalb gilt das hier zu Sagende fuͤr die geſamte Volksbildung. Wiſſenſchaftliches Denken iſt in allererſter Linie kritiſch, ſkeptiſch, vorausſetzungslos. Der Wiſſenſchaftler muß jederzeit be⸗ reit ſein, was er geſtern als richtig angeſehen, heute auf Grund einer neuen Tatſache zu verwerfen, neu umzudeuten. Kriterium wiſſenſchaftlicher Sal · tung iſt es geradezu, nichts als endguͤltig richtig zu betrachten. Wiſſenſchaft · liches Denken iſt funktional abſtrakt allgemein. Das Denken des ein · fachen Mannes, das des geſunden Menſchenverſtandes will keine Theorien und Sypotheſen. Er will Eindeutiges, mit dem man praktiſch etwas an⸗ fangen kann. Er denkt epiſodiſch⸗anſchaulich. Eine Rantſche Idee als Auf- gabe begreift er einfach nicht. Eine Theorie wird ihm zu einer Tatſache und zu einem Dogma. Ein Begriff als Ordnungsprinzip zu einer Wahrheit. Statt kritiſch iſt er dogmatiſch. Der Wiſſenſchaftler iſt zweifelnd, der ein⸗ fache Mann glaͤubig. Das abſtreifen zu koͤnnen, dazu gehoͤrt lange formale Denkſchulung. So kommt es, daß von den Maſſen der Intellektuelle Ver⸗ raͤter geſcholten wird, der die ihm als ſelbſtverſtaͤndlich erſcheinende Auf⸗ faſſung vom Sozialismus als eine Idee, als eine ewige Aufgabe, der man ſich naͤhert, die man nie ganz erfuͤllt, darlegt. So kommt es, daß die Maſſen „Entwicklung“ als eine Naturtatſache und abſolute Wahrheit auffaſſen, die der Wiſſenſchaftler als Ordnungsprinzip bei der Naturbetrachtung nimmt. Solche wiſſenſchaftliche Betrachtungsweiſe wird von gewiſſen Leuten als die Verfallserſcheinung der Wiſſenſchaft einer untergehenden Klaſſe hin⸗ geſtellt. Es iſt darum eine der ſonderbarſten Erſcheinungen, daß eine Be⸗ wegung der Maſſen ſich auf ihre Wiſſenſchaftlichkeit ſoviel zugute getan hat. Und es iſt ein Zeichen für die Gberflaͤchlichkeit des Denkens einer Zeit, des Denkens des letzten halben Jahrhunderts, daß in den Naturwiſſenſchaften nicht nur bei den Maſſen ſolches Denken allgemeiner war, und es zeugt von der mangelhaften philoſophiſchen Bildung jener Zeit ein Zuſtand, der ſich gruͤndlich zu wandeln beginnt, im gleichen Maße, in dem Philoſophie wieder an Geltung gewinnt.

Was der Arbeiter alſo braucht, iſt feſtes Wiſſen, das er praktiſch verwer⸗ ten kann in feiner Lage. Er braucht keine Wiſſenſchaft an ſich. Die iſt Auf- gabe des Gelehrten. Der Arbeiter lernt fürs Leben, zur Behebung feiner Not, zur Deutung feiner Lage, zum Aufbau einer Weltanſchauung. Auch hier taucht das Problem der Maſſenbildung auf. Und hier ſcheint es loͤsbar. Mit kuͤnſtleriſchen Veranſtaltungen und Darbietungen kommen wir an Maſſen heran, rein zahlenmaͤßig betrachtet. Zwar koͤnnen wir das auch durch große Verſammlungen und Einzel vortraͤge. Während das hier Auf⸗

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genommene jedoch raſch zu verblaſſen pflegt, und mühelos aufgenommen keinen Bildungswert hat, liegt es in der Art des kuͤnſtleriſchen Erlebniſſes zu erſchuͤttern, aufzuwuͤhlen. Das Kunſtwerk, das zu einem Erlebnis wird, hat die Kraft innerlich zu formen. Das Mittel der Maſſenbildung iſt die Einwirkung auf Serz und Gemuͤt durch das Kunſtwerk.

Freilich darf den Maſſen nicht alles wahllos dargeboten werden. Aus⸗ wahl iſt noͤtig und zwar zunaͤchſt nach Maßgabe der Aufnahmefaͤhigkeit des Arbeiters. Dabei heißt ſyſtematiſches Vorgehen durchaus nicht etwa werke darbieten in der Reihenfolge ihrer zeitlichen Entſtehung. Beſonders bei der Muſik macht man dieſe Erfahrung. Es iſt ja keine Runſt den Maſſen ſo fremd 5 als gute Muſtik. Nun gibt es für den muſtkaliſch Unge⸗ bildeten uberhaupt keinen anderen weg zum Verſtaͤndnis als haͤufiges Sören guter Werke, neben muſikaliſchen Lektionen mit Demonſtrationen. Dieſe letzteren kommen wieder nur für eine kleine Jahl in Frage. Es bleibt praktiſch im weſentlichen alſo beim Anhoͤren guter Werke. Dabei macht man oft den Fehler, die Syſtematik des Aufbaues aufeinander folgender Konzerte darin zu ſehen, daß man zuerſt fruͤhe und dann immer modernere Werke auffuͤhrt. Dem Arbeiter aber iſt alte wie moderne Muſitk gleicher⸗ maßen fremd. Alſo muß nach anderen Geſichtspunkten ausgewaͤhlt wer⸗ den. Nach welchen, muͤßte erſt eine ſorgfaͤltige Beobachtung muſikgenie⸗ ßender Maſſen und eine Befragung nach ihren Eindruͤcken feſtſtellen. Aber daran fehlt es noch wie uͤberhaupt ſo ziemlich auf allen Gebieten der Arbeiterbildung. Die Unterſuchungen zu einer Erwachſenenpaͤdagogik und Didaktik fehlen. Die Aufgabe der Auswahl iſt nicht ganz leicht. Auszuleſen iſt nach dem bildenden Wert des Kunſtwerkes und feiner Eignung, eine geiſtige Welt des Arbeiters aufbauen zu helfen. Nur aͤſthetiſche Wertungen muͤſſen ausſcheiden, und doch darf hier kein Rompromiß geſchloſſen wer- den mit Richtungen und Beſtrebungen, die in der aktiviſtiſchen Arbeiter⸗ bewegung haͤufig anzutreffen find zugunſten der Tendenz des Inhalts uͤberſteht man deſſen unkuͤnſtleriſche Geſtaltung. Allerdings iſt das Prole · tariat auch meiſt nicht in der Lage, den formalen Kunſtwert zu erfaſſen. Der erlebnisnahe Inhalt des Kunſtwerkes erleichtert dem Arbeiter die Aufnahme. Das iſt jedoch nur ein Moment! Der Arbeiter uͤberſieht das Formale durchaus nicht, er iſt im Gegenteil ſehr feſt eingeſtellt auf ſuͤße, ſentimentale, kitſchige Form. Deren Wertloſigkeit erfaſſen zu laſſen, iſt eben die Aufgabe.

Arbeiterbildung hat aber nicht nur die Rulturarmut zu beheben, fie hat auch die ſeeliſche Verkuͤmmerung der Maſſen zu bekaͤmpfen. Ihre Aufgabe iſt nicht bloß Ermoͤglichung der Teilnahme an ſeitherigen Nulturguͤtern, die Arbeiterſchaft ſoll ſich ſelbſt kulturſchoͤpferiſch betaͤtigen. Arbeiterbil⸗ dung will das Schöpferifche im Arbeiter wieder erwecken, kunſtleriſche Ak⸗ tivitaͤt in ihm entfalten, und fo die Möglichkeit ſchaffen zum Werden einer wirklichen Kultur der breiten arbeitenden Volksmaſſen. Die erſten Reime zeigen ſich bereits in der Arbeiterjugendbewegung. Es handelt ſich hier nicht um Proletkult, noch um proletariſche Kultur. Es handelt ſich nicht einmal um eine Arbeiterkultur, die neben eine bürgerliche treten ſollte. Es handelt ſich vielmehr um eine allmaͤhliche, durch tauſendfaͤltige von allen

Arbeiterbildung 251

Seiten, auf allen Gebieten geſchehende Umwandlung der jetzigen in eine andere. Es kann immer nur eine Kultur in einer Epoche geben, die der herrſchenden, das Geſicht der Zeit beſtimmenden Schicht. Und weil es im⸗ mer nur eine geben kann, die langſam waͤchſt, deren Wachstum und wer⸗ den die allmaͤhliche Umbildung des Alten in Neues bedeutet, die alſo immer auf dem Boden des Alten ruht, ſind alle Beſtrebungen des ſich Abſchließens falſch, eine Methode, die in ſozialiſtiſchen Kreiſen nur zu haͤuſig gebt wird. Die Saltung, die uns fuͤr einen Sozialiſten die richtige zu ſein ſcheint, heißt, ſich einreihen in den allgemeinen Kulturſtrom der Zeit, der durch Beteili⸗ gung von innen heraus zu beeinfluſſen iſt, weil der Sinn, in dem er beein- flußt werden ſoll, ſchon in ſeiner Richtung angelegt iſt. Wie aus der feu⸗ dalen Kultur auf dem weg tauſendfaͤltiger Einwirkung im Materiellen wie im Geiſtigen die buͤrgerliche wurde, ſo ſoll aus der buͤrgerlichen die neue werden, fuͤr die wir keinen feſten Namen noch haben, die wir als eine der ſchaffenden Maſſen kennzeichnen wollen, und die deshalb wohl eine demo · kratiſche genannt werden kann. Der Rulturbeftimmende bis jetzt war der be · ſitzende . weil er der Zahlende, die Werke abnehmende war. Eine verhaͤltnismaͤßig kleine Schicht. Dieſe Exkluſivitaͤt führt zu der Spitzen; kultur, wie wir fie kennen, die ſich vom Volk fo entfremdet hat, daß ihre Werke einfach nicht aufgenommen werden koͤnnen. Zu ihrer Aufnahme iſt eine intenſive Beſchaͤftigung mit aͤſthetiſchen Dingen, ein langes und koſt⸗ ſpieliges Studium noͤtig, wofuͤr dem arbeitenden Volk Zeit und Geld fehlt und immer fehlen wird. Alſo muß etwas ſtruktural Verſchiedenes kommen, da doch die Maſſen nicht weiterhin in dieſer Verkůmmerung und Armut bleiben duͤrfen.

Die kuͤnſtleriſch gewiß ſehr hochſtehende bürgerliche Kultur wurde ge- ſchaffen von Wenigen und genoſſen von nicht Vielen. Letztere verhielten ſich dabei rein paſſiv, aufnehmend. QAualitaͤt und Exkluſivitaͤt gingen Sand in and. Neben dieſer hohen Kunſt ging zu allen Zeiten eine andere, Volks⸗ kunſt, die zu ſchaͤtzen iſt, nicht wegen ihrer Leiſtung, ſondern als Ausdruck und Zeugnis der Schoͤpferkraft und des Kunftlebens breiter Maſſen. Wäb- rend der induſtriellen Entwicklung iſt ſie aus dem Kreis des Arbeiters ge⸗ flohen. Die aͤußeren Verhaͤltniſſe des Arbeitsſklaven machten ſie unmoͤglich, fie verſchuͤtteten feinen Schoͤnheitsſinn, laͤhmten feine kuͤnſtleriſche Aktivi⸗ tät, ertöteten das in jedem Menſchen, wenn auch noch fo minimal, angelegte Schoͤpferiſche. Das gilt es wieder erwachen zu laſſen. Nicht gewaltſam. Der ſchoͤpferiſche Drang, die eigene Betaͤtigungsluſt wacht auf mit der Beſſerung der aͤußeren Verhaͤltniſſe, wird gefördert durch die Arbeiterbildungs⸗ beſtrebungen. Sierher gehoͤrt das Wirken der Arbeitergeſangvereine und ahnlicher Organiſationen. Nicht mißverſtanden werden darf dies als Sör- derung des Dilettantismus. Dilettantismus heißt mit CLaienkraͤften Berufes; leiſtungen erzielen wollen. Das Neue, das wir meinen, hat ja gerade als Charakteriſtikum, niemals etwas Berufliches zu fein.

Was not tut, iſt die Wertſchaͤtzung koͤrperlicher Arbeit, die Steigerung der Achtung vor der Beſchaͤftigung der arbeitenden Maſſen. In Epoche war angeſehen und wuͤrdig: Serrſchen, regieren, kriegfuͤhren. In der buͤrgerlichen Kultur iſt geachtet die Betätigung der herrſchenden

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Schicht: geiftige Arbeit. Nun iſt freilich gewiß, die ſtaͤrkſte Forderung einer hoheren Einſchaͤtzung des Arbeiters und der koͤrperlichen Arbeit überhaupt kommt durch die wachſende politiſche und wirtſchaftliche Macht der Arbeiter; maſſen. Sobald ſie auf dieſem Gebiete nicht mehr Spielball anderer Gruppen oder quantitẽ nẽglige able find, ſobald man ſtark mit ihnen rechnen muß, wird man fie ernſt und wichtig nehmen und ebenfo ihre koͤrperliche Betätigung werten. Doch neben den politiſchen und wirtſchaftlichen Faktoren ſtehen immer auch geiſtige Einfluͤſſe, und hier ſind gerade dieſe zu betonen. Notwendig iſt vor allem, daß der Arbeiter ſich ſelbſt wichtig nimmt. Der Arbeiter muß ſich als den Schoͤpfer aller Werte und Traͤger der Geſellſchaft erfaſſen. Er muß wiſſen, daß feine Klaſſe eine Zukunfts · und Menſchheits⸗ miſſion zu erfüllen hat. Gerade daraus zieht ja die Maſſenbewegung ihren Schwung. Jede große Bewegung braucht dieſen Glauben an ihre Auf gabe, einen Glauben, der fie über die Ruͤckſchlaͤge der Gegenwart immer wieder hinweg nach vorwärts ſtuͤrmen läßt. Ohne ſolches Bewußtſein iſt der Arbeiter nur verhinderter Buͤrger, der neidiſch zu dem Beſitzenden hin⸗ blickt, ihm gleichkommen möchte und im Streben danach die Klaſſe verrät. Zwar ift es eine allgemein wahrnehmbare ſoziologiſche Tatſache, daß die aufſtrebenden Schichten die Caſter und Gebraͤuche der zu uͤberwindenden Schicht ubernehmen. Sie ahmen nach, und da ihnen die Kultur wie die Mittel der anderen fehlen, iſt dieſe Nachahmung ſchlimmſte Verkitſchung des Nachgeahmten ſiehe die gute Stube des gutgeſtellten Arbeiters uſw. Dies waͤchſt aus Minderwertigkeitsgefuͤhlen empor. Wie ſollte die mit ihren Folgen ausgeſchaltet werden außer durch Foͤrderung des Selbſtbewußt ; ſeins, das im guten und zukunftstraͤchtigen Sinn eben Klaſſenbewußtſein, Bewußtſein der Klaſſenmiſſion iſt? Zu dieſem Sichſelbſtwichtignehmen gehoͤrt, daß man in feinen Gebraͤuchen und feiner geſamten Lebensgeftal- tung nicht nach den „Beſſergeſtellten“ ſchielt. Dazu gebört, daß man nicht feine Erholung ſucht durch Flucht in die Wunſch und Traumwelt des Kit; ſches, wie wirs im Kino ſehen. Dort geht der Arbeiter hin, weil er den Auxus und den Glanz der Reichen ſehen kann. Er ſchaut in eine andere welt, ſtatt in der eigenen zu bleiben. In der bildenden Kunſt finden Dar⸗ ſtellungen aus dem Zeben des Arbeiters gerade bei den Arbeitern am we⸗ nigſten Anklang. weil fie ihre eigene Schönheit noch nicht erfaßt haben, weil fie von der Kunſt Schönes verlangen und das Schöne außerhalb der eigenen Sphaͤre ſuchen. Die Entwicklung draͤngt zu ſteigender Bedeu⸗ tung der Maſſen im Wirtſchaftlichen und Politiſchen. Im gleichen Maße wenden ſich die geiſtig, kuͤnſtleriſch Schoͤpferiſchen der Behandlung von Problemen zu, die in den Maſſen liegen. Fur deren Geſtaltung müßten die Maſſen das erſte Publikum ſein, ſie ſind es aber leider nicht aus ihrem Sluchtbedärfnis in eine „ſchoͤnere“ Welt aus dem Gefuͤhl eigener Minder⸗ wertigkeit. So beſteht die Gefahr, daß gerade die Maſſen Hindernis werden der Entfaltung dieſer ihr entſprechenden Rulturerfcheinung. Sier kann nur Arbeiterbildung helfen, und darin liegt ein weſentlicher Moment ihrer großen Bedeutung. Im en Maße, in dem fie weiterhin das Kultur⸗ bewußtſein weckt, vergrößert fie den Markt für jene Schoͤpfungen. Die ſteigende Aufnahmefaͤhigkeit der Arbeiterſchaft iſt die beſte Vorausſetzung

Arbeiterbildung Ä 253

dafuͤr, daß im Kunftfchaffen ihre Belange zur Geltung kommen. Und wir ſehen ja auch, daß Dichter wie Anderſen · Nexo, Zeichner wie Käthe Voll · witz, 3ille in die Wertung der Zeit einbrechen. ö

Die ſeeliſche Verkuͤmmerung der Maſſen, ſoweit fie durch ihr Arbeits⸗ ſchickſal bedingt it Maſchinen⸗ und Teilarbeit im Lohnverhaͤltnis kann naturlich nicht durch das Arbeiterbildungsweſen weſentlich behoben werden. Das hat durch wirtſchaftliche und politifche Geſellſchaftsaͤnderung zu geſchehen Verkuͤrzung der Arbeitszeit, Erhoͤhung des Lohnes, So⸗ zialiſierung, Wirtſchaftsdemokratie. Aber Arbeiterbildung hat beizutragen, den politiſchen und wirtſchaftlichen Rampf darum erfolgreicher zu machen durch Vermittlung des Wiſſens dazu und durch Erkenntnis der Lage, durch weckung der Sehnſucht, ihr abzuhelfen und durch Aufzeigung der Wege. Sier wird am deutlichſten erkannt, daß Arbeiterbildung aus der tiefſten ſeeliſchen Not des Induſtrieproletariats heraus aktiviſtiſch, kaͤmpferiſch eingeſtellt fein muß. Arbeiterbildung in dem weiten Sinn, wie wir fie auf-

eſtellt haben, verlangt alſo politiſche und wirtſchaftliche Geſellſchafts⸗ 1 Und damit wird deutlich, wie ſehr die ganze Arbeiterbewegung, die fo materialiſtiſch den Geiſtigen erſcheint, eine große Rulturbewegung iſt. Der Gebildete, der Rulturmenſch iſt unmoͤglich bei der ſeeliſchen Ver⸗ kuͤmmerung durch die Maſchinenlohnarbeit des kapitaliſtiſchen Syſtems. Dies zu aͤndern, und den Arbeiter wieder zu einem Vollmenſchen zu machen, iſt Aufgabe der geſamten Arbeiterbewegung. Und nicht bloß ihre. Sie iſt die Aufgabe des gefamten Volkes, iſt das Problem der Zeit. Zwar macht ſich an ſeine Loͤſung die Arbeiterbewegung zunaͤchſt daran. Aber zur gründlichen Löfung muß das ganze Volk mitwirken, Staat und Ge⸗ meinde můſſen Mittel dazu bereitſtellen, Mittel, die man der Maſſe ſchul⸗ det fur die große Vernachlaͤſſigung, die man an ihr geuͤbt. Und im weiteren ergibt ſich eine Anderung, Weitung unferes geſamten Bildungsweſens, insbeſondere aber der Volksſchule. Denn die muͤhſame Exwachſenenbil⸗ dung, die Arbeiterbildung bedeutet, iſt doch zum großen Teil deshalb noͤtig, weil der Unterricht des Jugendlichen zu eng begrenzt war. Demo⸗ kratiſierung unſerer geſamten Kultur, unſeres ganzen Bildungsweſens muß die Forderung der Zeit ſein. Nicht in dem Sinn, daß man dem Arbei⸗ ter von oben etwas gibt. Sondern mit der Einſtellung: die weitaus groͤßte Mehrzahl unſeres Volkes ſind Arbeiter, ſie ſind die Traͤger unſerer Geſell⸗ ſchaft. Der Arbeiter hat das Recht, zu fordern, er braucht ſich nicht mit einer Gnade zufrieden zu geben. Arbeiterbildung treiben heißt, unſer Volk endlich zu einem Kulturvolk machen.

254 Ernſt Niekiſch

Ernſt Niekiſch Geiſtige Elemente und geiſtige Arbeit der freien Gewerkſchaften

ie gewerkſchaftlichen Organiſationen ſtehen in geſchichtlichem und

auch weſensbeſtimmtem Zuſammenhang mit den alten beruflichen

Gebilden, mit den Zünften, Innungen, Geſellen · und Bruder⸗ ſchaften; einen großen Raum der zum Teil recht wertvollen Verbands⸗ geſchichten nimmt in der Regel die Darſtellung des mittelalterlichen Be⸗ rufs- und Junftlebens ein. Das berufliche Element war eine der entſchei⸗ denden Triebkraͤfte, die zur Entſtehung gewerkſchaftlicher Organiſationen hinfuͤhrten. Der Beruf iſt die Summe jenes beſonderen Könnens, durch das ſich der Menſch als Geſtalter der Dinge erlebt, durch das er ſich aus ſeiner Umwelt hervorhebt, durch das ihm ein ausgepraͤgtes Bedeutſam⸗ Peitsgefühl zuwaͤchſt. Arbeit wird Beruf, wenn fie ſinnvoll iſt; die tieffte Sinngebung, die ihr zuteil werden kann, iſt die: daß ſie als naturgemaͤße Erfuͤllung des menſchlichen Daſeinszwecks anerkannt und vollbracht wird. So wird der Beruf zu einer Lebensform, mittels deren der Menſch ſich dar⸗ ſtellt, ſein Weſen vergegenſtaͤndlicht.

Berufliches Können iſt ein geiſtig⸗ſeeliſches Gut; gleiches berufliches Koͤnnen ſtiftet infolge der gemeinſamen Teilhaberſchaft an dieſem Gut zwiſchen den Menſchen Einverſtaͤndniſſe, knuͤpft ſeeliſche Beziehungen zwiſchen ihnen. Das Geltungsbeduͤrfnis des Einzelnen erfaͤhrt verſtaͤrkte Befriedigung, wenn er Mitglied einer Berufsgruppe iſt; er nimmt an der Wertſchaͤtzung teil, die ihr innerhalb des ſozialen Körpers zukommt, er fühle ſich als Träger des ſozialen Gewichtes, das ihr innewohnt. Indem berufliche Organiſationsgebilde in ſolch einfachen menſchlichen Grund⸗ trieben, wie dem Geltunge drang, wurzeln, gewinnen fie den Charakter des Elementaren und Irrationalen; fo ſehr ihr Handeln auch auf nuͤtzliche Zwecke gerichtet ſein mag, ſo werden ſie doch durch tiefere und dunklere Kräfte zuſammengehalten, als es bloße Zweckmaͤßigkeitserwaͤgungen find. Noch heute tragen die Gewerkſchaften zahlreiche Zuge ſolch elementar⸗ irrationaler Art an ſich.

Nun hat freilich die moderne kapitaliſtiſch⸗ induſtrielle Entwicklung die ſachlichen Vorausſetzungen des Berufstums zerſtoͤrt. Indem die Arbeit mechaniſiert, ſpezialiſiert, monotoniſiert und rationalifiert wurde, war es das Schickſal des arbeitenden Menſchen, nur noch als bloßer Maſchinen⸗ hebel verwendet zu werden; ob einer etwas gelernt hatte, und welch befon- deres Können er beſaß, wurde durchaus unweſentlich; in fünf Minuten konnte er ſchließlich in dieſem oder jenem Induſtriezweige angelernt wer⸗ den. Tempo und Rhythmus ſeiner Arbeit wurden ihm von der Maſchine oder gar dem fließenden Band aufgezwungen; ein paar mechaniſche, ſich ewig wiederholende Sandgriffe waren feine taͤgliche Leiſtung; der Inhalt

Geiſtige Elemente und geiftige Arbeit der freien Gewerkſchaften 255

ſeines Tagewerkes bezog ſich nur auf eine eng begrenzte Stufe des geſam⸗ 5 Arbeitsprozeſſes, den er in feinem Juſammenhang nicht mehr uͤber⸗ lickte.

So geſtaltete Arbeit ließ ſich mit dem Zweck menſchlichen Daſeins wahr⸗ baftig in kein Verhältnis mehr ſetzen; fie wurde ſchlechthin Erwerbs⸗ arbeit.

Was der eine Induſtriearbeiter konnte, konnte jeder andere auch; er war durch jeden beliebig anderen erſetzbar; er wurde bloße kalte, abſtrakte, in ihrem Preis rechneriſch erfaßbare Ware „Arbeitskraft“ ſtatt einzigartige, eigen wertige Perſoͤnlichkeit zu fein. Da lag es in feinem Intereſſe, daß die ſer Preis, fein Cohn, moͤglichſt hoch getrieben wurde. Der Zuſammen⸗ ſchluß der Arbeitenden wurde unter ſolchen Umſtaͤnden ein Mittel, auf die Preisgeſtaltung der Ware „Arbeit“ einzu wirken. So wurde die Beeinfluſſung der Arbeitsmarktlage das entſcheidende Ziel der V? es ließ ſich dabei nicht umgehen, daß fie in wilde Wirtſchaftskaͤmpfe, unver- meidliche Erſcheinungsformen des kapitaliſtiſchen Weſens dieſer Zeit, hineingeriſſen wurden. Die beruflichen Elemente und ihre ZLebensgemein⸗ ſchaft erzeugenden Ausſtrahlungen traten unter dieſen Umſtaͤnden inner halb der gewerkſchaftlichen Organiſationen mehr und mehr in den Sinter⸗ grund.

Nicht in allen Zweigen unſerer Produktion iſt die Entwicklung ſo weit fortgeſchritten, nicht uberall iſt das Berufstum durchwegs aufgeloͤſt; Buch⸗ drucker etwa und Zimmerer, Kupferſchmiede, Maſchiniſten und Zeizer haben es ſich noch bis zu dieſen Tagen bewahrt. Indes gerade in den großen Induſtriezweigen hat es ſich zerſetzt. In dem Maße, in dem das ge⸗ ſchah, entfremdeten ſich die Gewerkſchaften dem beruflichen Organiſations⸗ prinzip; das induſtrieverbandliche Organiſationsprinzip trachtet ſeit Jah⸗ ren danach, ſich an deſſen Stelle zu ſetzen.

Die Grganiſationszugehoͤrigkeit fol im Induſtrie verband fernerhin nicht mehr davon abhaͤngig ſein, was einer gelernt hat und was er kann, fondern davon, in welchem Produktionszweig er zufällig mit irgend wel- chen Verrichtungen beſchaͤftigt iſt. Der Tiſchler, der in einer Maſchinen⸗ fabrik tätig iſt, ſoll 3. B. nicht mehr vom Solzarbeiter Verband, ſondern vom Induſtrieverband der Metallarbeiter erfaßt werden. Im Mittelpunkt der Organiſation ſoll nicht mehr der gelernte Arbeiter, ſondern der unge⸗ lernte Arbeiter ſtehen; der Grganiſations aufbau ſoll ſich unter einem aͤußerlich konſtitutiven Geſichtspunkt, naͤmlich dem raͤumlichen der Zu⸗ gehoͤrigkeit zu einem Induſtriebetriebe, vollziehen, ſtatt wie bisher durch den geiftig-feelifchen Tatbeſtand des beruflichen Noͤnnens beſtimmt zu wer⸗ den. Infolge dieſer Wandlung, die freilich nicht willkuͤrlich iſt, ſondern von dem Fortgang der technifch-induftriellen Entwicklung unaufhaltſam vor- waͤrts getrieben wird, werden die Gewerkſchaften rationaler und zweck betonter, verlieren damit allerdings einen Teil der Unerſchuͤtterlich keit ee unmittelbar in ſich beruhenden, fraglos feines ſelbſt gewiſſen Da⸗

eins.

Damit werden ſie vor die praktiſche Aufgabe geſtellt: durch beſondere wohluͤberlegte Veranſtaltungen jene einheitliche Atmoſphaͤre, jenes innere

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alle umfaſſende Gleichgerichtetſein zu erzeugen, ohne die eine Organiſation nicht beſtehen kann, die aber beide bisher, ſolange die Gemeinſchaft beruf. lichen Noͤnnens verbindend wirkte, ſich ganz von ſelbſt eingeſtellt hatten. So ſehr in einem Befamtüberblid uber das Organiſationsleben unferer Gegenwart geſagt werden darf, daß mit Ausnahme der kirchlichen Gemein⸗ ſchaften die Gewerkſchaften verhaͤltnismaͤßig noch die meiſten elementaren Kuͤckſtaͤnde in ſich bergen, fo ſehr bedarf es aber doch ſchon befonderer Ein⸗ richtungen, um ihre Binde und Anziehungskraͤfte zu ſteigern. Paͤdago⸗ giſche Maßnahmen, zu denen eine Organiſation greift, koͤnnen Ausdrucks formen einer ſprudelnden, vollen, ſich verausgabenden Lebendigkeit ſein, Ausdrucksformen, die Zeugnis von der Fuͤlle vorhandener Energien ab⸗ legen; fie koͤnnen aber auch Notbehelfe, Silfsmittel darſtellen, deren ſich die Organiſation bedienen muß, um ihr Daſein ſicherzuſtellen, ihrer Sort- exiſtenz neue anregende Impulſe einzuimpfen, und um die Kraft des alle durchdringenden Korpsgeiftes bewußt zu fördern. Die paͤdagogiſchen Maß⸗ nahmen der Gewerkſchaften bedeuten bereits lebensnotwendige Exiſtenz⸗ bedingungen. Aus der Empfindung eines wachſenden Notſtandes heraus regt ſich in ihnen das immer ſtaͤrker werdende Beduͤrfnis, der Belehrung und Aufklaͤrung ihrer Mitglieder in wachſendem Maße Gewicht beizu⸗ meſſen. Fur die Juͤnfte brauchte man nicht zu agitieren; der Einzelne ſtrebte aus ſich heraus danach, in die Zunft aufgenommen zu werden. Dem ge⸗ lernten Arbeiter war der Beitritt zu ſeiner Berufsgruppe naturgemaͤßer als dem ungelernten Arbeiter der Anſchluß an einen Induſtrieverband iſt. Die Berufsſolidaritaͤt erlebte man; zur Klaſſenſolidaritaͤt muß man ſich entſchließen, nachdem mit vernuͤnftigen Gruͤnden ihre Erforderlichkeit ein⸗ leuchtend gemacht wurde. Die Berufsgruppe warb durch ihr bloßes Da⸗ ſein, der Induſtrie verband dagegen muß ſeinen Zweck erlaͤutern und ſeine Nůtzlichkeit beweiſen.

2

Grabe paͤdagogiſche Auswirkungen erſtrebte ſchon immer die Gewerk⸗

ſchaftsbewegung durch ihre Verſammlungstaͤtigkeit. Die Derfamm- lungen waren keineswegs geſellige Juſammenkuͤnfte; fie verfolgten in der Regel praktiſche Erziehungsabſichten. Angekuͤndigte Berichte uͤber Lohn; bewegungen und Tarifverhandlungen lockten die Mitglieder herbei; hier ging es um Dinge, die die materiellen Daſeinsgrundlagen jedes Einzelnen fühlbar beruͤhrten. Aber ſolche Berichte waren verknuͤpft mit allgemeinen Darlegungen über den Nutzen der Gewerkſchaften, die Notwendigkeit or- ganiſatoriſcher Fortſchritte; das Selbſtvertrauen der Zuhoͤrer wurde ge- ſtaͤrkt, Soffnungen wurden entzündet, Außerungen vorhandener Entmuti⸗ gung wurde entgegengearbeitet. wichtige Werthaltungen wurden ver⸗ breitet: der Abſcheu vor dem Streikbrecher wurde genaͤhrt; wie ehedem den Boͤnhaſen, der dem zuͤnftigen Sandwerksmeiſter in den Kundenkreis ein- brach, die Verachtung der Geſchaͤdigten traf, ſo wehrte ſich jetzt der Selbſt⸗ ee e der Gewerkſchafter gegen den Streikbrecher, indem dieſer vor der offentlichen Meinung als ehrlos gebrandmarkt wurde. Die An⸗ haͤnglichkeit an die Gewerkſchaften wurde gepflegt durch immer wieder auf⸗

Geiſtige Elemente und geiſtige Arbeit der freien Gewerkſchaften 257

gefriſchte Erinnerungen an ſtolze Ereigniſſe; große Streiks, die der Ver⸗ band durchgefochten hatte, dienten dazu, der Treue, der OGpferwilligkeit, der Zaͤhigkeit und Ausdauer der Kämpfer Lob zu ſpenden; es bildete fic, hier eine Art Ideal des klaſſenbewußten und wuͤrdeſtolzen Arbeiters heraus, dem der Einzelne nachſtrebte, dem er gleich zu werden ſuchte; der „gute Ge⸗ werkſchafter! galt als Inbegriff ſolider Tuͤchtigkeit, feſter Uberzeugungs⸗ treue, lauterer Charakterſtaͤrke und unerſchuͤtterlicher Singabebereitſchaft. Verſchiedene Verbaͤnde griffen die Ubung der alten Sandwerkevereinigun⸗ gen auf: fie ſtifteten Ehrenurkunden für langjaͤhrige Mitgliedſchaft, ver- teilten Seftfchriften an Jubilaͤumstagen, kurz, fie waren beſtrebt, perſoͤnlich gefärbte 5 zwiſchen der Organiſation und ihren Mitgliedern unter Zu⸗ 5 alt erprobter Methoden erfolgreicher Menſchenbehandlung an- zuſpinnen.

Nun liegt es in der menſchlichen Natur, daß fie alles, was fie wert- ſchaͤtzt, mit letzten Sinnzuſammenhaͤngen in Verbindung zu bringen trach⸗ tet, daß ſie das, wovon ſie tiefer bewegt wird, unter weltanſchaulichen Ge⸗ ſichtspunkten deuten möchte. So genügt es dem organifierten Arbeiter nicht, daß die Gewerkſchaften, die Geld und Zeitopfer beanſpruchen, nur nützlich find; irgendein Sinn, der weit uͤber das Alltaͤgliche hinausweiſt, ſoll aus ihnen hervorleuchten. e

Die chriſtlichen Gewerkſchaften uͤbernahmen kirchlich religiöfe Elemente, um dem Bedürfnis ihrer Mitglieder nach Ideenhaftem Genuͤge zu leiſten. Die Gefolgſchaft der freien Gewerkſchaften verhielt ſich gegenuber chriſt⸗ lich religiͤſen Glaubens vorſtellungen mehr oder weniger kritiſch; fo eig · neten ſie ſich nicht dazu, ideeller Gehalt dieſer Organiſationen zu werden. Da holte denn nun die freie Gewerkſchaftsbewegung ihre Glaubens vor⸗ ſtellungen aus dem Gedankengut des Sozialismus. Das Sein der Gewerk⸗ ſchaften wollte ſich im letzten Grunde dergeſtalt rechtfertigen, daß es ſich als ein Mittel darbot, die ſozialiſtiſche Geſellſchaft zu verwirklichen.

Wie ſehr nun allerdings ſolche ſozialiſtiſchen Glaubensbeſtandteile den gewerkſchaftlichen Gedankenkreis durchſetzten, fo wurden fie doch keines; wegs wirklich beſtimmende Kräfte des praktiſchen gewerkſchaftlichen San⸗ delns; das ſozialiſtiſche Endziel blieb für die Gewerkſchaften doch nur ein ſchoͤner Traum für Geierſtunden, eine troͤſtliche Beſeligung für feſtliche Augenblicke. Ihre Tagesarbeit war: die Lebenslage der Arbeiter zu beſ⸗ fern, eine Pürzere Arbeitszeit und hoͤhere Löhne zu erkaͤmpfen. Dabei mußten ſie zu ihren Worten ſtehen; ſtets raͤchte ſich an ihnen bitter, wenn fie mehr verſprochen hatten, als fie ſpaͤter halten konnten. Das Erreich⸗ bare und Moͤgliche lag vor allem in ihrem Geſichtskreis; der Geiſt der Sachlichkeit und wirklichkeitsnaͤhe war ihnen gemäß; die ſozialiſtiſchen Glaubensvorſtellungen betrachteten fie nicht als Verheißungen, die über kurz oder lang zu verwirklichen ſeien, ſondern als ganz ferne Ausblicke und Richtpunkte eines «allmählich ſich vollziehenden Entwicklungsprozeſſes. Sie nahmen die Gegenwart wichtiger als jene Zukunft, und ſchließlich wandten ſie nur deshalb nicht den Blick von ihr, weil der Glaube an ſie Mißerfolge und Bedruͤckendes des Augenblicks als Übergangspunfte zu höheren Zuſtaͤnden begreifen und damit leichter ertragen ließ. In Anbe⸗ Zar xVm 18

258 Ernſt Vriefifch

tracht ſolcher Einſtellung nimmt es nicht Wunder, daß die Gewerkſchaften zum Träger des Reviſtonismus wurden; eine zu ſtarke Betonung des End⸗ zieles ſtoͤrte ſie; ihnen war die Bewegung alles. So waren die geiſtigen Elemente, mit denen der Sozialismus die Gewerkſchaftsbewegung ſpeiſte, auf dieſem Boden doch nie recht lebendig; ihre weſentliche Aufgabe war da, ſo koͤnnte man etwas deſpektierlich ſagen, lediglich fuͤr den Bedarfsfall vorhanden zu fein. Die Gewerkſchaften erzogen nicht eigentlich zu ſoziali⸗ ſtiſcher Geſinnung das mochte die Partei tun es genügte ihnen, ſich auf den Sozialismus berufen zu koͤnnen, wenn die Frage an ſie gerichtet wurde, aus welchem umfaſſenden Zuſammenhang fie Kraft und Recht auf Daſein ſchoͤpften. Berufsverbände, wie die Buchdrucker, die durch die Pflege der Berufsgeſinnung in Bezirke des Weltanſchaulichen hinein⸗ gehoben wurden, find zeitweiſe geradezu Schmerzenskinder der ſozialiſti⸗ ſchen Bewegung geweſen.

Die geiſtige Natur der Gewerkſchaften, ihre inneren Tendenzen, ihr Charakter kam in ihrer Preſſe zur Ausprägung. Saft alle Derbände geben woͤchentlich einmal erſcheinende Blaͤtter heraus. Sie ſind nuͤchtern und ſachlich in Sinſicht auf Stoffauswahl und Ton der Darſtellung; die Be⸗ handlung gewerkſchaftlicher Probleme füllt den größten Teil der Spalten. Die Stellungnahme zu großen politiſchen Angelegenheiten iſt vorſichtig; hier tritt das Beſtreben hervor, ſich nicht bindend und verantwortlich in Angelegenheiten feſtzulegen, die uͤber den Umkreis uͤblicher Gewerkſchafts⸗ arbeit hinausgehen. Die Zeitungen ſind Organe der Sammlung; woͤchent⸗ lich erinnern fie das Mitglied an feine gewerkſchaftlichen Pflichten, woͤ⸗ chentlich bringen fie ihm, indem fie von Erfolgen, Bewaͤhrungen, aber auch zuweilen von Ruͤckſchlaͤgen erzählen, zum Bewußtſein, wie die Orga⸗ niſation ſich regt. Wie ſehr die Bewerkfchaftszeitungen einer Vertiefung und Vervollkommnung ihres Gehalts noch faͤhig ſein moͤgen, ſo tragen ſie doch durch den belehrenden Charakter und wiſſensbereichernden Inhalt vieler Veroͤffentlichungen zur geiſtigen Belebung ihrer Leſer bei; insbeſon⸗ dere kultivieren fie das volkswirtſchaftliche und ſozialpolitiſche Gebiet. Beobachtungen beſtaͤtigen, daß die Gewerkſchaftsblaͤtter eifrig und mit Sorgfalt geleſen werden; tauſende von Menſchen unterliegen Woche für Woche ihrer ſuggeſtiven Kraft. Sie ſind zweifellos wirkungsvolle Mittel. der Maſſenſchulung; gerade weil ſie das Gebiet, das ſie beackern, ſich eng ſtecken, iſt ihre Wirkung um fo ſtaͤrker. Sie ziehen ihre Lefer um fo mehr in den Bann beſtimmter Betrachtungsweiſen, als dieſe Betrachtungsweiſen mehr oder weniger einfoͤrmig immer wieder zur Geltung gebracht werden.

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In den letzten Jahren tauchten, hier als Beilagen der eigentlichen Ver

bandsblaͤtter, dort als ſelbſtaͤndige Erſcheinungen, gewerkſchaftliche Jugendzeitungen und ſchriften auf. Darin kuͤndete ſich ein bemerkens⸗ werter Wandel der gewerkſchaftlichen Stellungnahme zum Problem der Jugend an. Vor dem Krieg war die Auffaſſung herrſchend geweſen, daß. die Intereſſen der Jugend ohne ihre unmittelbar aktive Mitarbeit von den alten erprobten Gewerkſchaften vertreten werden ſollten. Nach I9I8 hatte

Geiſtige Elemente und geiftige Arbeit der freien Gewerkſchaften 259

ſich aber doch die Situation verſchoben. Die Jugendbewegung, die ſich von der buͤrgerlichen Seite her freie Bahn geſchaffen hatte, erfaßte auch die pro⸗ letariſche Jugend. Die Jugend gab ſich ſelbſtbewußter; ſie meldete An⸗ ſpruͤche an, ihre Autoritaͤtsglaͤubigkeit zeigte ſich erſchuͤttert. Die jugend⸗ lichen Arbeiter erhoben auch auf dem Gebiet, das die Gewerkſchaften als ihr Kampffeld betrachteten, ihre beſonderen Forderungen: fie wollten Vor⸗ rechte im Sinblick auf die Dauer der Arbeitszeit, ſie verlangten Ferien, freien Sonnabendnachmittag, Schulſtunden, die in die Arbeitszeit verlegt wurden. Die Gewerkſchaften konnten uͤber das jugendliche Selbſtgefuͤhl nicht hinwegſehen; fie mußten damit rechnen. Sie taten es auch. 1921, 1922, 1925 riefen fie Konferenzen zur Behandlung jugendlicher Fragen zu⸗ ſammen; ſie richteten Jugendſekretariate ein, gaben der Jugend zum Teil eine eigene Preſſe, gründeten geſonderte gewerkſchaftliche Jugendabtei⸗ lungen, veranſtalteten, wie 3. B. der Deutſche Tertilarbeiter-Derband 1925 es tat, eigene Jugendtage, in Jugendabenden wurden wiſſenſchaftliche Probleme erörtert. Durch Jugendleiterkurſe wurden eigene Fuhrer für die Jugendarbeit herangebildet.

Freilich war dieſe gewerkſchaftliche Jugendarbeit doch nie ein eigentlicher Zweig der Jugendbewegung geweſen; ſie war nur ein Zugeſtaͤndnis an ſie. Die Gewerkſchaften fuͤhlten, wie hier die Frage der Nachwuchsbeſchaffung auf dem Spiele ſtehe. Nichts durfte geſchehen, um die Jugend zuruͤckzu⸗ ſtoßen; nichts durfte verſaͤumt werden, um ſie zu gewinnen. Auch ſie ſteht im Arbeitsprozeß und iſt da, genau beſehen, der Punkt des geringſten Wi⸗ derſtandes; die Arbeits bedingungen, unter denen fie lebt, find immer, wenn nicht unmittelbar, ſo doch mittelbar, von Einfluß auf die Arbeitsbedingun⸗ gen der Erwachſenen. So gewaͤhrten die Gewerkſchaften den Jugend⸗ lichen, um ſie anzuziehen und feſtzuhalten, eigenen Bewegungsſpielraum.

Die Bemuͤhungen, die die Gewerkſchaften dabei entfalteten, ſind nicht gering zu ſchaͤtzen. Sie regten das Intereſſe für geiſtige Fragen an; fie ver ſuchten, den Jugendlichen einen Begriff der Geſamtheit des Arbeitspro⸗ zeſſes zu vermitteln, in den ſie, ohne mehr als einen kleinen Abſchnitt davon zu erleben, hinein verflochten find, fie ſpornten die Jugend an, ſich im be⸗ ruflichen Können zu vervollkommnen, vorwärts zu ſtreben, Fachſchulen zu beſuchen, ſich der verflachenden Wirkungen eines oͤden Wirtshaus · und Vergnuͤgungslebens zu entziehen. Sie leiſteten hier Erziehungsarbeit im beſten Sinne; nicht ſelten erfahren geradezu, gewiſſermaßen ruͤckwirkend, die gewerkſchaftlichen Mitgliederverſammlungen eine befruchtende Be⸗ 5 von dieſer in eigenen Abteilungen ſich ruͤhrenden und entfaltenden

ugend.

f | Di Beduͤrfniſſe des Organiſationskoͤrpers hatten allmaͤhlich eine durch⸗ gegliederte Beamtenhierarchie hervorgebracht. In den Induſtrieorten,

im unmittelbaren Zuſammenhang mit der taͤtigen Arbeiterſchaft, ſitzen die Geſchaͤftsfuͤhrer der Verbaͤnde; fie haben die oͤrtliche Organiſationsarbeit zu leiſten; fie find, vom Standpunkt des Arbeiters aus geſehen, Fuhrer, vom Standpunkt der Verbandsleitung aus betrachtet, Vollzugsorgane, 185

260 Ernſt Niekiſch

mittels deren ſich der Verbandswille durchſetzt. Gebiets weiſe werden dieſe Unterfuͤhrer zuſammengefaßt; die Bezirks oder Gauleitungen erheben fi über ihnen. Die Spitze des Aufbaues iſt der von der Verbandsgeneralver⸗ fammlung gewaͤhlte Sauptvorſtand. Dieſer Beamtenkoͤrper hat Verwal⸗ tungsarbeit zu leiſten, ſtatiſtiſches und anders geartetes Beobachtungs⸗ material für die fozial- und wirtſchaftspolitiſche Tätigkeit der leitenden Stellen heranzuſchaffen; Direktiven find auszuführen. Eine gewiſſe Syſte⸗ matik der Ausleſe und der Ausbildung wurde angeſichts ſolcher Aufgaben unvermeidlich; man konnte es nicht dem Zufall uͤberlaſſen, ob die angeſtell⸗ ten Beamten ihren Aufgaben gewachſen waren und ob ſie aus ſich ſelbſt beraus etwa ſuchten, ſich das mangelnde geiſtige Ruͤſtzeug anzueignen. Oft fehlte es ja bei ihnen, die nur Volksſchulbildung und ein hartes Arbeiter⸗ daſein hinter ſich hatten, an einfachſter Beherrſchung der Rechtſchreib⸗ Sprach · und Stilregeln. Im ſchriftlichen Verkehr mit Behörden und Arbeit- gebern ſchaͤdigten derartige Bildungsmaͤngel zweifellos das Preſtige der GOrganiſation. | | | Zuerſt hatten die Gewerkſchaften ihre Funktionaͤre auf die Parteiſchule geſchickt; ſie ſaßen dort neben den Parteifunktionaͤren. Aber in dem Grade, in dem ſich die Gewerkſchaften ihres beſonderen Weſens bewußt wurden, in dem fie es dann zur Geltung brachten, und in dem ſich die Gewerkſchaf · ten gegenüber dem Agitatorentum der Partei als ein zur Geſtaltung ver- pflichtetes Element begriffen und behaupteten Legien fühlte den Gegen · ſatz bereits 1891 empfanden fie die Unzweckmaͤßigkeit ſolcher Bil⸗ dungsgemeinſchaft. Sie richteten nunmehr eigene Gewerkſchaftskurſe ein, deren Lehrplan ſich in enger Anlehnung an den gewerkſchaftlichen Auf⸗ gabenkreis aufbaute und der die Übermittlung eines beſtimmten Maßes praktiſchen Koͤnnens bezweckte, eines praktiſchen Koͤnnens, das die An- geſtellten befaͤhigte, in Lohn verhandlungen ihren Mann zu ſtehen, die Durchfuͤhrung der Arbeiterſchutzgeſetzgebung zu beobachten, Rechtsaus- Fünfte zu erteilen, an der Rechtſprechung der Gewerbegerichte mitzu⸗ en.

Mehr als je aber mußten die Gewerkſchaften nach dem Kriege Anſtalten treffen, um ſich einen Stab geſchulter Kraͤfte heranzubilden. Die Tarifver- handlungen brachen zeitweilig uͤberhaupt nicht ab. Der Angeſtellte hatte ſich geriſſenen akademiſch gebildeten Syndizis gegenüber durchzuſetzen; Ge⸗ werkſchaftsfuͤhrer hatten den Arbeitern an die Hand zu gehen, damit das Betriebsraͤtegeſetz lebendig werden koͤnne. Der Zuſammenbruch der deut- ſchen Weltſtellung enthuͤllte die Fragwuͤrdigkeit der politiſchen und wirt⸗ ſchaftlichen Fundamente des deutſchen Reichsbaues, mit deſſen Schickſal auch das Schickſal der Arbeiterſchaft auf Gedeih und Verderb verbunden iſt. Die gewerkſchaftliche Arbeit ließ ſich nicht mehr in der Iſolierzelle ver⸗ richten, nachdem ſich die machtvolle Exiſtenz des Staates und ſeiner Wirt⸗ ſchaft nicht mehr gewiſſermaßen wie von ſelbſt verſtand; ſie war nur fruchtbar, wenn fie unter Beachtung ihrer allgemein ⸗politiſchen und wirt- ſchaftlichen Vorausſetzungen geſchah. Die Bedingtheit aller Sozialpolitik, der gewerkſchaftlichen Domäne, durch den Stand und Lauf der wirtſchaft⸗ lichen Dinge wurde tatſaͤchlich ſpuͤrbar; ſozialpolitiſche Auseinanderſetzun ·

Geiſtige Elemente und geiſtige Arbeit der freien Gewerkſchaften 261

gen muͤndeten jetzt immer, ehe man es ſich verſah, in wirtſchaftspolitiſche ein. Der Gewerkſchaftsangeſtellte muß in zunehmendem Umfange Wirt ſchaftskenner ſein, einerſeits um die Beweiskraft der wirtſchaftlichen Argu⸗ mente, die ihm bei dieſer Tätigkeit nunmehr auf Schritt und Tritt begeg- nen, ſachkundig beurteilen zu konnen, andererſeits um ſich ſelbſt als prak⸗ tiſcher Wirtſchaftspolitiker zu bewähren. Er kann nur erfolgreicher Sach⸗ walter der ihm anvertrauten Arbeiterintereſſen ſein, wenn er in Geld⸗ marktverhaͤltniſſen, privatwirtſchaftlichen Geſetzlichkeiten, weltwirtſchaft lichen Vorgängen Beſcheid weiß. Sier nuͤtzt keine Bildung, die nur be ſtimmte Geſinnungen hervorbringen ſoll, und der es nicht auf die Aneig⸗ nung notwendigen wiſſensſtoffes und Anleitung zu ſachlichem, an den Dingen ſelbſt ſich orientierenden Denken, ſondern nur auf die Übung partei maͤßig gebundener, traditionell hochgehaltener Denkweiſen ankommt. Die Gewerk ſchaften fühlten das Beduͤrfnis nach Fachleuten, die ſich auf ihr Gebiet verfteben ; fie litten unter dem Mangel an Spezialiſten; das Erleb⸗ nis vorhandener Unzulaͤnglichkeiten, aus denen ſie Auswege ſuchten, trieb fie zum Sandeln; fie wollten ſich dieſe Sachmaͤnner ſchaffen. Wo fie jetzt Bildungseinrichtungen ſtifteten oder foͤrderten, dachten ſie an beſtimmte praktiſche Zwecke; zu begrenzter 3Zwedbildung, die einer erleſenen Fuhrer ſchar zugedacht iſt, bekannten ſie ſich. | Die Meinung war vorwaltend, die ehemaligen Gewerkſchaftskurſe feien weit hinter dem zuruͤckgeblieben, was man mit ihnen beabfichtigt hatte. So wollte man ſie denn nicht eigentlich wieder aufnehmen; neue Wege ſuchte man aufzuſpuͤren. Da war es von Bedeutung, daß gleich nach dem Novemberzuſammenbruch eine maͤchtige Bildungsſehnſucht die Arbeiter⸗ ſchaft ergriffen hatte; es war erſchuͤtternd zu ſehen, wie die Maſſen nach Wiſſen draͤngten; fie handelten aus der Empfindung ihrer geiſtigen Enge heraus, die ſie ſelbſt nicht fuͤr erlaubt hielten, wenn man ſchon eine neue Weltordnung verwirklichen wollte. Im revolutionaͤren Rußland iſt dieſe Bildungsſehnſucht, im Gegenſatz zu Deutſchland, bis zu dieſem Tage noch nicht verebbt. I 3

Dieſer Bildungshunger ſuchte anfänglich in den Volkshochſchulen feine Befriedigung. Überall erfolgten Neugruͤndungen; oft phantaſtiſche Lebr- plaͤne wurden mit jungem optimiſtiſchem Eifer feſtgeſetzt. In dieſem all gemeinen Zug der Dinge vollzog ſich auch eine Annaͤherung der Gewerk⸗ ſchaften an die Volkshochſchulbewegung; die Frage tauchte auf, ob nicht die Volks hochſchule als gewerkſchaftliche Beamtenſchule zu verwenden ſei; vielleicht am engſten knuͤpften ſich ſolche Beziehungen zwiſchen Gewerk⸗ ſchaften und Volkshochſchulen in Köln und Breslau. | |

Zu gleicher Zeit ließen die Gewerkſchaften den ſtaatlichen Wirtſchafts⸗ ſchulen, die in Berlin, Jena und Duͤſſeldorf entſtanden, ihre Foͤrderung zu⸗ teil werden. Die ſachliche Neutralitaͤt, zu der dieſe Wirtſchaftsſchulen durch Entſtehung, Lehrkörper und Zielſetzung verpflichtet waren, entſprach den Abſichten der Gewerkſchaften. Die Gewerkſchaften gaben ZJuſchuͤſſe und delegierten Schüler, die durch ihre gleichfalls aus Gewerkſchaftskaſſen ſtammenden Schulgelder zum Unterhalte der Schuleinrichtungen bei⸗ trugen. | |

262 Ernſt Wiekiſch

Ahnlich geſtaltete ſich das Verhaltnis zur Akademie der Arbeit in Frank⸗ furt a. M. Sicherlich gehoͤrt dieſe Akademie zu den erfreulichſten kulturellen Gebilden der nachrevolutionaͤren Zeit; außer ſtaatlichen und gemeind- lichen Geldleiſtungen verdankt ſie der gewerkſchaftlichen Gpferfreudigkeit ihren Fortbeſtand. Cehrer der verſchiedenſten politiſchen Strömungen wirken dort. Das Schuͤlermaterial iſt nicht weniger gemiſcht. Neun Mo⸗ nate hindurch dauert ein Ausbildungsabſchnitt. Die Gewerkſchaften er- möglichen es dem Schüler, dort auszuharren; fie zeigen ſich beſtrebt, ihre beſten Leute hinzuſenden; die Auswahl erfolgt hier bewußt, dort nur in⸗ ſtinktiv nach dem Geſichtspunkt, ob der Auserwaͤhlte Anlagen beſitzt, in den oberen Stufen der Gewerkſchaftsbureaukratie dereinſt ſeinen Mann zu ſtellen.

Eine ganz eigentùmliche Erſcheinung iſt die Gewerkſchaftsſchule in Ber⸗ lin. Sie verdankt ihr Daſein allein der Initiative des Berliner ortlichen Be- werkſchaftskartells. Es wird dort ein ſyſtematiſcher, auf eine laͤngere Dauer berechneter Lehrplan aufgeſtellt; freilich kann er nur in Kurſen, die nach Arbeitsſchluß ſtattfinden, zur Durchfuhrung gelangen.

Ganz und gar gewerkſchaftliche Bildungsunternehmungen ſind auch die Betriebsraͤtekurſe. Durch das Betriebsraͤtegeſetz waren der Arbeiterſchaft ganz neue Aufgaben zugewieſen worden; ihr kommt Einfluß zu auf die Geſtaltung der Arbeitsbedingungen, fie kann bei Entlaſſungen mitwirken, fie hat außerdem eine gewiſſe Verantwortung für alles, was die Produk tion fördert oder einſchraͤnkt; Betriebsraͤten ſteht ſogar der Aufſichtsrat offen. Die Betriebsräte hatten mannigfache Pflichten und Möglichkeiten des Wirkens, zu denen ſie ſich nicht ohne weiteres befaͤhigt zeigten.

In Betriebsraͤtekurſen und konferenzen, in Betriebsraͤtezeitſchriften wurde hier entſprechende Schulungsarbeit geleiſtet. Alle Verbaͤnde be⸗ griffen die Aufgabe. Servorragende Wiſſenſchaftler wurden zu deren Zoͤ⸗ ſung herangezogen.

Wenn man auf die Geſamtheit dieſer gewerkſchaftlichen Bildungsarbeit blickt, fo bietet ſich ein mannigfaches Bild dar. Was man vermiſſen Fönnte, iſt vielleicht dies: daß doch noch kein einheitlicher organiſcher Gedanke dieſes reiche bildneriſche Bemühen durchdringt. Noch fehlt die ſinn volle ſyſtema; tiſche Gliederung. Die geiſtigen Tendenzen jeder einzelnen Bildungseinrich⸗ tung ſind gut; ſie wollen zu ſachlichem Denken fuͤhren und notwendige Wiſſensſtoffe darbieten. Aber dieſe Bildungs veranſtaltungen find nicht ſtufenweiſe aneinandergefügt. Es iſt hier kein Fortſchreiten von elemen- tarer Schulung zur hoͤheren Anforderung; der Ausleſeprozeß wird nicht ſachkundig genug erledigt. Sier liegen noch Aufgaben. Ein Plan iſt aufzu⸗ ſtellen und innezuhalten, der mit oͤrtlichen Kurfen beginnt, leiftungsfäbigere bezirksweiſe Kurſe anſchließt, dann über die Wirtſchafts - und Gewerk⸗ ſchaftsſchulen hinwegſchreitet zur Krone des Ganzen, zur Frankfurter Aka⸗ demie. Die Lehrpläne find hierbei durch Vermittlung der zentralen In⸗ ſtanzen alleſamt aufeinander abzuſtimmen.

Gerade ſolchen Mißlichkeiten gegenüber fehlt es nicht an Verſuchen, fie zu bewaͤltigen. Eigene Bildungszentralen der einzelnen Verbaͤnde haben da und dort ſchon den Aufba ueines ſyſtematiſchen Bildungsweſens in An⸗

Geiſtige Elemente und geiftige Arbeit der freien Gewerkſchaften 263

griff genommen. Am entwickeltſten iſt bisher die Bildungszentrale des Deutſchen Metallarbeiter Verbandes. Sie ordnet ihre Bildungsarbeit von der Zentralſtelle aus uͤber das ganze Verbandsgebiet hin; der Leiter iſt zu gleich auch Lehrer an der Akademie in Frankfurt. Er hat es damit in der Hand, feine Bildungsarbeit von unten an auf den Akademiebeſuch hin ein- zuſtellen. In einigen anderen Verbaͤnden iſt der Aufbau einer zentraliſier · ten Bildungsarbeit in Angriff genommen.

| 5 Ä dem Maße, in dem die Gewerkſchaften durch die Zerſetzung des Be⸗ rufstums an elementarer Wurzelhaftigkeit verloren, wurde es für ihre

Exiſtenz immer bedeutſamer, inwieweit ſie unmittelbar praktiſche Erfolge zu erringen vermochten. Der Nachweis, daß ſie infolge ihres Daſeins und ihrer Taͤtigkeit die Lebenshaltung der Induſtriearbeiterſchaft verbeſſerten, wirkte werbend und feſthaltend. Die geiſtige Arbeit, die die Gewerkſchaften auf ſich nahmen, verfolgt eine doppelte Abſicht. Einmal ſoll dieſe geiſtige Arbeit einen Funktionaͤrkoͤrper ſchaffen, der durch feine Tuͤchtigkeit und Faͤhigkeit imſtande iſt, die erforderlichen organiſationserhaltenden Erfolge zu erzielen. Wertvolle Unterſtuͤtzung gewaͤhren hierbei die Monatsſchriften „Die Arbeit“ und „Das Gewerkſchaftsarchiv“, die ſich der vertiefenden Be- handlung aller gewerkſchaftstheoretiſchen Fragen widmen. Zum anderen fol fie in ihrer Sinwendung auf die Maſſen mittels Derfammlungen, Preſſeweſen, Anleitung zur Bibliothekbenutzung, Jugendarbeit den Wil⸗ len zu gewerkſchaftlicher Treue ſtaͤrken und durch Aufklaͤrung uͤber die Zwecke und den ſichtbaren Nutzen der Grganiſation fuͤr den Eintritt in ſie gewinnen. ; |

Es iſt eine beträchtliche geiſtige Zeiftung, die hierbei die Gewerkſchaften vollbringen. Es tut ihr keinen Eintrag, daß ſie auf praktiſche Abſichten eingeſtellt iſt; daß ſich die Gewerkſchaften des Beiftes als eines Mittels be- dienen, erniedrigt nicht den Geiſt, ſondern erhoͤht nur den geſellſchaftlichen wert gewerkſchaftlicher Tätigkeit. Aber neben jener auf praktiſche Zwecke hintreibenden geiſtigen Lebendig- keit ſind auch ſtark entwickelte Anſaͤtze zu freier ungebundener kultureller Wirkſamkeit zu beobachten. Die Unterſtuͤtzung der Volksbuͤhnenbewegung, die Gruͤndung von oͤrtlichen Arbeiterkulturkartellen durch die Gewerkſchaf⸗ ten gebören dazu. Dieſes rein kulturelle Wirken hebt nur mit großer Deut · lichkeit die Tatſache hervor, an der an ſich nicht zu zweifeln iſt: daß die ge⸗ werkſchaftliche Geſamtarbeit uͤber die wirtſchaftspolitiſchen und ſozial⸗ politiſchen Gebiete hinaus in den Bereich des kulturellen Schaffens hinein⸗ ragt.

264 Erich Winkler

Erich Winkler / Bildungsfragen der Sozialdemokratie

ie Theoretiker der ſozialdemokratiſchen Bewegung haben ihre

Partei nie als eine Partei im gewöhnlichen Sinne bezeichnet, als

die Grganiſation, der lediglich die Funktion obliegt, das ſtaatliche und politiſche Leben zu beeinfluſſen zum Zwecke der Machteroberung. Die Sozialdemokratie ſoll Partei in einem weiteren Sinne fein, eine Welt; anſchauungsorganiſation, die nicht nur ihre tragende Idee im ſtaatlichen Machtkampf zur Durchſetzung bringen will, ſondern die in ihrer Ideologie die Ideologie aller anderen Parteien mitzuenthalten glaubt und eine letzte Partei, den klaſſenloſen Staat erſtrebt. Sie iſt nicht Intereſſen verband, der ſich am Einzelintereſſe orientiert und ſtets auch nie mehr als die Inter · eſſenten erfaſſen will, ſie vertritt nicht lediglich die Intereſſen eines Standes oder einer Klaſſe, ſondern fie baut ihre Ideologie wie allerdings einige andere Parteien auch aus einem einheitlichen, geſchloſſenen Prinzip auf, ſpricht ihren Poſtulaten Allgemeinguͤltigkeit zu und wendet ſich mit ihnen an die Geſamtheit der Staatsbuͤrger oder des Volkes. Trotz ſolcher Unterſcheidungs merkmale von anderen Parteien unterliegt fie natuͤrlich den allgemeinen Geſetzen der Parteiſoziologie und der Maſſenpſychologie, bleibt ſie organiſatoriſch Partei wie jede andere Partei. Das heißt: Sie iſt dem Geſetz der Beharrung und der Ausſchließlichkeit des Programms unterworfen, der Tendenz der Transgreſſion; ſie wird zum „Apparat“ wie jede andere Partei, der zur Gefahr werden kann, wenn zu ſchwache Nor⸗ rektive eingeſetzt werden. |

Das hängt fo zufammen : In der politifchen Partei muß ſich der Kin» zelne der Geſamtidee unterordnen, muß er ſich um der Befamtidee willen in die Schablone preſſen laſſen. Alle Mitglieder ſind gleichberechtigt, alle find wählbar, fie verwalten ſich ſelbſt durch ihre Beauftragten, die Voll; ſtreckungsorgane ihres Maſſenwillens ſind und unter ihrer ſtaͤndigen Ab⸗ haͤngigkeit und Kontrolle ſtehen ſollen. Je mehr freilich die Partei waͤchſt, deſto weniger iſt ſchon aus verwaltungstechniſchen Grunden das Prinzip der Selbſtverwaltung rein durchfuͤhrbar; es muͤſſen Angeſtellte gewiſſe Dauerfunktionen übernehmen, die ihnen mit der Zeit eine Überlegenheit verſchaffen; es entwickelt ſich das Berufsfuͤhrertum und damit die Voraus⸗ ſetzungen fuͤr die Bildung einer Fuͤhreroligarchie.

Dieſe ſoziologiſche Zwieſpaͤltigkeit der Sozialdemokratiſchen Partei in der heutigen Geſellſchaftsform muß man von vornherein ſehen, wenn man die Problematik ihrer Bildungsarbeit begreifen will. Von hier aus muß man unterſcheiden und abgrenzen.

Gewoͤhnlich wird in der Arbeiterbewegung von der „Arbeiterbildung“ ſchlechthin geſprochen. Aber ſchon aus den oben angedeuteten Gruͤnden find 3. B. Gewerkſchaften und Partei funktionsverſchieden. Die Gewerk⸗ ſchaften wollen nur Intereſſenorganiſation ſein (ein intereſſanter Wandel dieſer Auffaſſung bahnt ſich in den letzten Jahren an); ſie halten es fuͤr

Bildungsfragen der Sozialdemokratie 265

ſelbſtverſtaͤndlich, daß die Träger anderer Intereſſen ſich in anderen Grga⸗ niſationen zufammenfinden. Die Partei dagegen würde ſich aufgeben muͤſſen, wollte ſie ſich mit einer Intereſſengruppe, auch wenn es eine Klaſſe iſt, identifizieren und ſich letzten Endes nicht auf das Wohl der Be- ſamtheit beziehen. Die Gewerkſchaften ſind nach innen gewendet, ſie ſuchen wie jeder Intereſſen verband dem Einzelnen zu beweiſen, daß ſein Intereſſe an das des Verbandes gebunden iſt, waͤhrenddem ſie nach außen hin dartun muͤſſen, daß die Verwirklichung ihrer Forderungen im Intereſſe des Be- meinwohls liegt, ohne daß ſie innerlich mit ihm verbunden waͤren, denn fie beabſichtigen nie, die Geſamtheit zu umfaſſen. Auch fie koͤnnen aber ihre Forderungen nur durchſetzen auf politiſchem Wege mit politiſchen Mitteln. Sie ſtreben daher genau ſo nach Einfluß und Beeinfluſſung wie die politiſche Partei, die ihrem Weſen nach aber ganz anders iſt. Dieſes gleiche äußere Verhalten des Intereſſen verbandes und der Partei führt dazu, ſie auch ihrer Funktion nach miteinander zu verwechſeln, entſprechend auch ihre Erziehungsaufgaben; es fuͤhrt dazu, daß man ſchlechthin von „Arbeiterbildung“ ſpricht. | |

Aus der organifatorifch-politifchen Aufgabe der Partei läßt ſich die eine ſpezielle Aufgabe der Parteibildung ableiten, auf die weiter unten ein- gegangen wird. Die größere, beſondere Aufgabe ſtellt ſich die Sozial demokratie auf Grund der Aulturlage, auf Grund ihres Kulturzieles. Die große Maſſe der ZLohnarbeiterſchaft ſteht heute außerhalb jeden Anteils an der nationalen Kultur, iſt wurzellos und ſchwach, Objekt der Induſtriali fierung, allen Einfluͤſſen einer wirtſchaftlichen Übermacht preisgegeben. Sie iſt kulturell, oͤkonomiſch und phyſiologiſch das ſchwaͤchſte Glied der Geſellſchaft und braucht ſchon aus Selbſterhaltung die Örganifation. Die Sozialdemokratie hat ſich die gewaltige Kulturaufgabe geſtellt, an der Schaffung einer neuen Kultur mitzuwirken, was bedeutet, daß ſie ihre Anhaͤnger auch mit ihrer ganzen Perſoͤnlichkeit zu erfaſſen ſuchen muß, weil jede Kultur nur über den Einzelnen geht. Dieſe Aufgabe enthaͤlt das ſchwerwiegendſte Problem der Gegenwart, das eigentliche Problem der Bildungsarbeit, an der auch jeder Nichtſozialdemokrat Intereſſe nehmen muß, weil auch feine Kultur zugrunde geht, wenn es nicht gelingt, dieſes Problem bald zu loͤſen. Dieſe Seite der Bildungsarbeit ſei hier Sorm- bildung sarbeit genannt. |

Die organiſatoriſch⸗politiſche Aufgabe erfordert nicht den ganzen Men⸗ ſchen. Die Partei als Mittel zur Machtdurchſetzung im Staate braucht eine militaͤriſche Armee mit ſtreng diſziplinierten Soldaten. Dieſe Armee Partei; ſoldaten muß ſchlagfertig und demzufolge hierarchiſch gegliedert, zentrali⸗ ſtiſch aufgebaut ſein. Sie braucht nicht die Perſoͤnlichkeit, ſondern den Funktionaͤr; fie braucht nicht die ſeeliſche Kraft, ſondern das Gewicht der Zahl, die Zahl repraͤſentiert die Groͤße und Bedeutung der Partei. Dieſe Aufgabe, eine gewiſſe politiſche Erziehung, die ſchlagfertige Erhaltung und Vergroͤßerung des Parteiapparates mit dem Ziel der Machterlangung mag bier im Gegenſatz zu jener Bildungsarbeit als Rampfſchulungs arbeit bezeichnet werden. Die Erziehung des politiſchen Naͤmpfers auf das unmittelbare Ziel der Machteroberung iſt ebenſo notwendig wie die des

266 Erich Winkler

ſozialiſtiſchen Menſchen, der die Vorausſetzung für die eigentliche Aul- turneugeſtaltung iſt, ohne deren bewußte Vorbereitung zudem jede Macht;

eroberung zwecklos bleibt.

Was die Sozialde mokratiſche Partei bis zum Jahre 1914 getrieben hat, das war im weſentlichen die Schulungsarbeit für den politiſchen Aampf, die geleiſtet worden iſt unter unerbörten Schwierigkeiten und oft mit großen perſoͤnlichen Einzelopfern der Mitglieder. Dieſe ſtark auf die Agitation und den unmittelbaren Bampf gerichtete Schulung war in der Jielrichtung gegeben durch die ſtaatsfeind⸗ liche Stellung, in die man die Partei ſeit Jahrzehnten getrieben hatte. Im Jahre 1907 wurde die „Bildungsfrage“ das erſte Mal auf dem Parteitage behandelt, und zwar weil eine Parteiſchule in Berlin gegründet worden war. Als deren Auf⸗ gabe wurde bezeichnet, eine „Schule für parteigendffifche Agitatoren in Wort und Schrift zu fein, die aber wohl mehr geworden iſt als eine „Dreſſuranſtalt“ für Parteiredner. Das Jiel der Aufklaͤrungsarbeit war damals die „Bildung im Die nſte des politiſchen und ſozialen Emanzipationskampfes, zur politiſchen und ſoziali⸗ ſtiſchen Agitation“. Aus dem ſtarken, dauernden Wachstum und dem Mangel an geſchulten Bräften ergab ſich die ſtaͤndige Erweiterung dieſer Tätigkeit. Im Jahre 1912 / I3 wurden von 331 berichtenden Ortsgruppen für Bildungsswede die ſer Art M. 740000 ausgegeben; es wurden in 215 Orten 420 Vortragskurſe mit 2951 Vor⸗ trägen vor 44146 Teilnehmern gehalten. Die Verteilung ergibt folgende Tabelle:

Wiſſensgebiet a Teilnehmer

Wationalòko nomie Wirtſchaftsgeſchi chte Geſchichte (allgemein -». - . Darteigefbidhte - - - - - 22... Citeratur und Bunftgefchichte Sozialismus Erfurter Programm Politik, Verfaſſunn ung uͤrgerliche Parteien Gewerkſchaftsbewegunun - - - - - Genoſſenſchaftsbe wegung Sozialpolitik Rechts · und Geſetzesk unde Maturwiſſenſchaftenn Erziehung Rede und Stille hre Elementarfaͤ chert Technik

insgeſamt 420

Die Themen der von den Wanderrednern waͤhrend des ganzen Jahres abgehaltenen Burfe waren: J. Die wirtſchaftlichen Grundlagen des Sozialismus. 2. Entwick⸗ lungsſtufen des Wirtſchaftslebens. 3. Volkswirtſchaftliche Grundbegriffe, Marx Skonomiſche Lehren. 4. Geſchichte des Sozialismus bis um Beginn des J9. Jahr⸗ bunderts. S. Geſchichte des Sozialismus im 9. Jahrhundert (Lehrer Dr. Duncker).— J. Entwicklungsſtufen des Wirtſchaftslebens; 2. Aarl Marx oͤͤkonomiſche Lehren; 3. Die Geſchichte der deutſchen Sozialdemokratie; 4. Das Erfurter Programm; S. Die Sozialdemokratie, was fie iſt und was fie will; 6. Grundfragen der Er⸗ ziehung (Cebrer: Otto Rühle). J. Einfuͤhrung in den wiſſenſchaftlichen So⸗ zialismus (Erfurter Programm); 2. Der praktiſche Teil des Erfurter Programms; 3. Die Theorien und Programme der bürgerlichen Parteien in Deutſchland; 4. Der biſtoriſche Materialismus; S. Einfuhrung in die politiſche Öfonomie; 6. Die kapitaliſtiſche Jirkulation; 7. Deutſche Wirtſchaftsgeſchichte (Lehrer: Julian Borchardt). I. Geſchichte des Entwicklungsgedankens in der Naturwiſſen⸗

Bildungsfragen der Sozialdemokratie 267

ſchaft; 2. Entwicklungsgeſchichte der Erde; 3. Deutſchlands Schickſale in den verſchiedenen Perioden der Erdgeſchichte; 4. Vom Urtier zum Menſchen; 5. Der Menſch der Vorzeit (Lehrer: Engelbert Graf). I. Einfuhrung in die Bio⸗ logie; 2. Menſchenkunde; 3. Arankheit und Proletariat (Lehrer: Dr. Drucker). I. Die Entwicklung zur Induſtrieherrſchaft; 2. Technik und Arbeiterbewegung; 3. Der moderne Induſtrie betrieb; 4. Techniſche Wanderungen durch die deutſche Groß⸗ induſtrie (Lehrer: Richard Woldt). I. Technik der Rede und des Vortrages; 2. Die deutſche Literatur im J8. Jahrhundert; 3. Die deutſche KLiteraturim J9. Jahr⸗ hundert; 4. Die Sauptſtile in der bildenden Aunſt (Cehrer: Dr. Poensgen · Alberty).

Die Formbildungsarbeit, die Entfaltung des ſozialiſtiſchen Menſchen, die Freilegung feiner kulturgeſtaltenden Kraͤfte it von Anſaͤtzen ab- geſehen als bewußte Aufgabe vor dem Kriege faſt nicht in Erſcheinung getreten, wenngleich ein großer Teil der oben aufgeführten Bildungs gebiete uͤber den Rahmen der politiſchen Schulung weit hinausgeht. Um ſo mehr bedruͤckt in der Nachkriegszeit dieſe Frage alle ſehenden Menſchen. Dazu kommt, daß ſeitdem die politiſche Schulung des Parteikaͤmpfers einen

Inhaltswechſel erfahren hat.

Die Sozialde mokratie hat ſich in ibrer praktiſch⸗politiſchen Saltung umgeſtellt als Bonfequenz aus dem Juſammenbruch von 1918 und aus der Anerken- nung der Verfaſſung. Die Demokratie zwingt zur Auseinanderſetzung mit dem Gegner, fie lehrt die eigenen Schwaͤchen und Leiſtungen richtig einſchaͤtzen und führt zur E inſetzung der beſten Kraͤfte, weil nur dieſe die Gewinnung der Mehrheit des Volkes auf die Dauer am ſicherſten gewaͤhrleiſten. Die Bonfequenz aus der ge · änderten politiſchen Struktur für den inneren Aufbau der Partei muß ein Fuͤhrer⸗ Auswahlſyſtem fein, das den beſten Kraͤften den Aufſtieg innerhalb der Partei tatſaͤchlich moͤglich macht. Die Partei · und teilweiſe auch die Gewerkſchaftsbetriebe befinden ſich oft noch auf der Stufe des Sand und Kleinbetriebes, gar manche Beamte ſte hen auf falſchem Poſten, das Verhaltnis zu den Intellektuellen iſt noch problematiſch. Der Apparat war teilweiſe zu ſchwerfaͤllig, um der Umgeſtaltung gewachſen zu fein. Die Verfaſſung reicht aus, um juriſtiſch eine ſozialiſtiſche Gemeinwirtſchaft zu begründen, um die ſoziale Gerechtigkeit in der Wirtſchaft endlich durchzuführen. Schon bei der politiſchen Juſammenarbeit alle Republi- kaner auf die Konſequenzen ihrer Anerkennung der Verfaſſung ſyſtematiſch bim zuzwingen, iſt eine der wichtigſten Schulungsaufgaben, der ſich vor allem die ſozialiſtiſche Bampfprefle annehmen müßte. Die ganze Frage wird aber proble- matiſch, wo es ſich um die Vorbereitung der Machteroberung handelt. Die Er⸗ fahrungen ſeit 1918 find da Anſchauungsunterricht genug dafur: die Zahl derer iſt verhaͤltnis maͤßig gering, die das Jufallen der Macht vom „dialektiſchen Um⸗ ſchlag“ erwarten. Macht iſt ſcharf zu ſcheiden von Gewalt; Macht iſt geiſtige Serrſchaft, iſt eine von Willen und Intellekt beſtimmte, durch Ju⸗ ſammenwirkung entſtehende geſellſchaftliche Fähigkeit, keine pby- ſiſche Araftleiſt ung. In dieſem Punkte gehen Rampfſchulungsarbeit und Form bildungsarbeit ineinander.

Der militaͤriſche Zuſammenbruch des Jahres Jo Is bedeutet zwar, daß die alten Gewalten auch innerlich nicht mehr anerkannt wurden, jede Revo⸗ lution muß aber von einer Idee getragen ſein, die in der Lage iſt, die ge⸗ ſellſchaftlichen Kräfte zu ihr hinzureißen. Dieſe geſellſchaftsgeſtaltende Macht, die Kräfte mobilifieren kann, iſt heute wohl nur der Sozialismus. Seine Idee iſt groß, iſt weltbewegend. Aber heute ebenſowenig wie 1918 ſind die Vorausſetzungen dafuͤr geſchaffen, daß er die Maſſen innerlich ergreift und mit Mitteln der Macht und der Gewalt praktiſch verwirklicht wird. Denn heute noch ebenſo wie 1918 fehlt die wichtige kultur- produktive Schicht der Intellektuellen, deren Zeidenſchaft darauf gerichtet iſt, den Moment der Umwaͤlzung herbeizufuͤhren, auf daß die Re⸗

268 Erich Winkler

volution nicht in der Gewaltanwendung ſtecken bleibt, ſondern nach kon; kreten Einzelzielen Schritt fuͤr Schritt die Geſellſchaft formt. Auch dieſe konkreten Einzelziele, die bildhaften Parolen, die ſozialen Forderungen alles fehlte 19 Is und zum Teil noch heute. Solange aber die Ideen der nächſten Revolution nicht von der Intellektuellenſchicht vorgeformt find, ſolange unter ihnen keine ideologiſche Einheit ift, ja, ſolange fie noch nicht einmal die Proble- matik dieſer Umgeſtaltung erfaßt hat, kann die Glut der Zeidenſchaft ſich nicht in den Maſſen zur Kealiſierung der Forderungen formen. Auf die Bildungsaufgaben angewandt, be⸗ deutet das: auch die beſte Rampfſchulungsarbeit bleibt wirkungslos ohne ſolcherart zielgerichtete Formbildungspolitik! |

Die Bampffhulungsarbeit wird zuweilen in Widerſpruch geraten zur Sormbildungsarbeit, weil es immer Nurparteimenſchen gibt, die nur dieſe eine Seite ſehen und die Schulung einſeitig auf das eine Ziel richten. Aber auch bei den Bildnern, die auf weite Sicht arbeiten, iſt die Entſcheidung zwiſchen beiden bzw. das Vereinen der beiden Aufgaben nicht leicht, es führt nicht felten zu inneren Konflikten. Da muß zunaͤchſt eins betont wer- den: die Kampfſchulungsarbeit kann heute nicht auf den nahen Zuſammenbruch, auf die be vorſtehende Kataſtrophe abgerichtet fein. Auch jede Rampfſchulung muß daher heute theoretiſch und philoſo⸗ phiſch fundiert ſein, denn alle Sandlungen und Entſcheidungen gehen auf einige wenige letzte Grundentſcheidungen zuruͤck. Der Nurparteimann neigt allzuſehr dazu, den Bildungsſtoff als Mittel feinen hoͤheren Zwecken unter; zuordnen, wichtige Erkenntniſſe aus parteitaktiſchen Gruͤnden umzubiegen oder zu verſchweigen, beiſpielsweiſe einen Angriff auf den Marxismus als einen Angriff auf die Arbeiterbewegung zu betrachten und zu parieren, auch wenn die Angriffe vielleicht berechtigt waren. Die Vertreter diefer einſeitigen Saltung argumentieren etwa ſo: der moderne Maſſenmenſch des Kapitalismus braucht eine feſte dogmatiſche Bindung, um e xiſtieren zu koͤnnen, denn bei ihm komme es nur auf die Gefuͤhlswirkung des uͤber⸗ lieferten Bildungsſtoffes an. Darum ſei es zulaͤſſig, bei der Darſtellung beliebig auszulaſſen oder zu vereinfachen, je nachdem, wie es der politiſche Zweck gerade erfordert. ö Die Formbildungsarbeit muß ſich entſchieden gegen dieſe gefährliche Ein ſeitigkeit wenden, weil ſie dem letzten Sinn der Bildungsarbeit zuwider⸗ laͤuft. Dieſer letzte Sinn iſt die Geſtaltwerdung jedes einzelnen Men⸗ ſchen im Dienſte Aller. Daher muß die Formbildungsarbeit die erkannte Linie ohne Ruͤckſicht auf die taktiſchen Erforderniſſe den Teilnehmern in ſyſtematiſcher Schulung uͤbermitteln, ſie muß der Auswirkung der Gegenſaͤtze freien Lauf laſſen und muß den Vertretern jener falſchver⸗ ſtandenen Kampfſchulung entgegenhalten: Ihr macht aus der Not eine Tugend. Ihr nehmt eine verhaͤngnisvolle kapitaliſtiſche Erſchei⸗ nung, die mechaniſche Verſachlichung des Menſchen und feine Tberindi- vidualiſierung für ein unabaͤnderliches Prinzip. Ihr verwechſelt die Tatſache, daß es in der Wiſſenſchaft verſchiedene Geſichtspunkte gibt, mit der Tatſache der Standpunkte in der Paͤdagogik, die ein Ergebnis

Bildungsfragen der Sozialdemokratie 269

der geſellſchaftlich⸗geſchichtlichen Entwicklung der einzelnen Schichten ſind. Zwiſchen dieſen verſchiedenen wiſſenſchaftlichen Methoden und den verhaͤltnismaͤßig wenigen weltanſchaulich verankerten paͤdagogiſchen Standpunkten und Zielen gibt es aber keine Parallelitaͤt, und jede Ein⸗ ſeitigkeit, jede Verzerrung, jeder Aufklaͤricht iſt darum leichtfertige Täu- ſchung, die nicht kulturgeſtaltend wirken kann!

Es konnte hier eingewendet werden, daß dieſe Forderung der Anpaſſung an den Erkenntnisſtand der Wiſſenſchaft und die Belaſtung mit der Gegen⸗ wartseinzelproblematik den Arbeiter in ein heilloſes Chaos führt, ihn er- ſchuͤttert und kampfunfaͤhig macht, weil die wiſſenſchaft ſelbſt ſich in einem heilloſen Chaos befindet. Sicher iſt es richtig, daß die wiſſenſchaft auf Grund ihrer Zerteilung felber den Überblick verloren hat, und daß es auch unmoͤglich iſt, den Bildungsſtoff dem Arbeiter in der Form darzu⸗ reichen, in der er auf den Univerſitaͤten geboten wird. Sier hat aber eine gewaltige Vorarbeit die Volkshochſchule geleiſtet. Daß für eine dem Ar⸗ beiter und feinem Ziel entſprechende Formbildung heute ſchon die objek⸗ tiven Maßſtaͤbe da find, und daß es hier Wege der Vereinfachung der Dar; ſtellung gibt, die mit dem wiſſenſchaftlichen Gewiſſen vereinbar find, Feine Sälfhungen und Verzerrungen bedeuten, hat Sermann Seller in feinem Buche „Zwei Jahre freie Volksbildung“, Verlag Werkgemeinſchaft Leip- zig, dargelegt und bewieſen. Dieſe Vereinfachung geſchieht auf Grund neuer, von Seller aufgeſtellter Geſichtspunkte, die von einer Einheit her⸗ kommen und auf die Darſtellung des Sinnzuſammenhanges der Kultur in moͤglichſt anſchaulicher Form hinzielen. Es iſt ſicher nicht zu viel, wenn be⸗ hauptet wird, daß dieſe Geſichtspunkte geeignet ſind, den ganzen Wiſſen⸗ ſchaftsbetrieb von der Bildungsſeite her in den naͤchſten Jahren zu re⸗ volutionieren. N

Dieſer Zwieſpalt zwiſchen Rampfſchulung und Formbildung erklaͤrt außerdem die Tatſache, daß die ernſten und beſten Arbeiterbildner heute innerhalb der Partei keinen rechten Boden finden, daß ſie von ihr be⸗ fehdet werden, und daß die Partei von ſich aus dieſe brennenden Fragen der Arbeiterbildung grundſaͤtzlich und ſyſtematiſch noch nicht aufgerollt hat. Damit beweiſt ſie aber zugleich, daß ſie den Sinn und die Aufgabe der Parteiorganiſation noch in dieſem engen Sinne faßt, ſo wie es jede andere Partei von ſich in Anſpruch nimmt, nicht mit dem weiteren Ziel, wie es ein- gangs gezeigt wurde. Damit gibt ſie aber den Arbeiterbildnern, die auf weite Sicht arbeiten und die Formbildung in den Vordergrund ſtellen, das Recht zur Klärung dieſer Frage außerhalb des offiziellen Rahmens.

Die ideale und einzige Loͤſung iſt natuͤrlich, Rampfſchulungs · und Sorm- bildungsarbeit miteinander zu verbinden von einer fundierten Grund · anſchauung aus, beides einheitlich innerhalb der geſamten organiſierten Arbeiterbewegung. Dieſes Ziel wird aber ſo lange Wunſch bleiben, als die zwei Seiten der Rampfſchulungsarbeit nicht erkannt find: Die eine Auf⸗ gabe iſt die Willensbildung, die Formung eines einheitlichen Bewußt⸗ ſeins auf ein konkretes Ziel hin mit gleichzeitiger wiſſensmaͤßiger ſyſtema ; tiſcher Vorbereitung einer kleinen Schicht von Vertrauensleuten. Das iſt heute nicht moͤglich durch die Wiederholung alter Agitationsſchlagworte,

270 Erich Winkler, Bildungsfragen der Sozialdemokratie

weil die Gegenwartskriſe zum Teil Ausdruck von e zum Teil eine Vertrauenkriſis iſt, weil die Beiſeiteſtehenden Enttaͤuſchte find.

Es liegt im Weſen jeder Organiſation, daß fie ſich Organe ſchaffen muß, die die Geſamtheit vertreten und deren Sandeln der Geſamtmitgliedſchaft

zugerechnet wird. Auch in der vollendetſten Demokratie muß das ſo ſein. Das gibt die Berufspolitiker und die Parteibeamten, den Parteiapparat mit den Gefahren, die in den erſten Abſaͤtzen angedeutet wurden. Nicht,

daß den Parteibeamten der Idealismus beſtritten werden ſoll, aber wenn

jemand bezahlt wird, Gber Statuten und Grganiſation zu wachen, kann

leicht Beamtengeiſt einziehen und die Uberlegenheit der Fuͤhrung kann zur Fůhreroligarchie führen. Denn die Rolle, die die Mitglieder in der Or⸗

ſpielen, iſt die von Zuſchauern. Sie erlangen nie den vollen

berblick, koͤnnen nie handelnd eingreifen, ſondern haben nur noch die Freiheit der Beurteilung abgelaufener Ereigniſſe. Beſtehen außerdem noch

recht große Bildungs unterſchiede zwiſchen der handelnden und der kon⸗ templativen Schicht, dann iſt die Gefahr, daß nicht der Sähige und Be-

waͤhrte für das Sandeln auserwaͤhlt wird, beſonders groß. Gegen diefe Gefahr der paffiven Demokratie find KNorrektive zu ſchaffen, die hier als zweite Aufgabe der Nampfſchulungsarbeit nur angedeutet werden koͤn

nen. Angedeutet nur deswegen, weil ſonſt eine ausführliche Auseinander ·

ſetzung zwiſchen der Organiſationsform der KPD und der SPD not wendig wäre, wozu der Raum nicht ausreicht. Dieſe Norrektive koͤnnen nicht nur in der Entwicklung von Fahigkeit zur Selbſtkritik und Toleranz Bildungsaufgaben! liegen, ſondern dort, wo die Reife ſich zeigt, in der Faͤhigkeit, Erkenntniſſe jederzeit in Sandlung um

zuſetzen vermittelſt der Mittlerin zwiſchen Einſicht und Sandeln: der

Organiſations form. Sierher gehoͤrt der Rampf um das Organiſations

ſtatut, hier muß die wichtige Frage erörtert werden, wie ſehr das einzelne

Mitglied zur aktiven Mitarbeit verpflichtet, vielleicht befohlen werden darf,

auf daß die ganze Perſoͤnlichkeit in den Dienſt der Sache geſtellt werde.

Doch da ſind wir am Ausgangspunkt angelangt: Die Perſoͤnlichkeit des Menſchen kann auch nicht voll erfaßt werden durch zwingende Verpflich ·

tung. Die Rampfſchulung bleibt Technik, wenn keine tragende Idee, kein ſittlich hoͤheres Ziel dahinter ſteht, wenn die Formbildung fehlt, die an den innerſten Menſchen herangeht, ihn packt, ihn aufſchließt und ihm ſeine

Aufgaben zeigt. Hier wurde in den letzten Jahren das Wort vom ſozia⸗ liſtiſchen Menſchen gepraͤgt, der bei ſich beginnt und bei ſich verwirklicht,

was er von ſeinen Mitmenſchen fordert. Auf dieſer ethiſchen Grundlage find die Fragen einer Kulturgeſtaltung aufzurichten und auf die Syntheſe

hinzuarbeiten, die da lautet: Faßt die Partei, faßt die Arbeiterbewegung als den Zukunftsſtaat auf, der ſchon heute zu geſtalten iſt, verwirklicht und

lebt ſchon heute den Sozialismus innerhalb der eigenen Organiſationen! Nur wenn die Sozialdemokratie von ihren eigenen Anhaͤngern als Partei in dieſem weiten Sinne aufgefaßt und gefuͤhrt wird, wenn ein ſozialiſtiſcher Staat im Staate errichtet und wenn in ihm Kampfſchulungs⸗ und Form⸗ bildungsarbeit vereint werden, wird die Sozialdemokratie das Recht und die Kraft haben, die Zukunft zu geſtalten! (Januar 1926)

——— ——

Walter Sofmann, Zur Arbeiterbildung 271.

Walter Hofmann Zur Arbeiterbildung

ach drei verſchiedenen Seiten muß jede Betrachtung der Bildungs;

frage gehen. Zunaͤchſt: keine fruchtbare Bildungsbewegung ohne

die Richtung auf ein objektives Bildungsziel, ohne die Grien⸗; tierung an einem inhaltlichen Bildungsideal. Zudem: keine fruchtbare Bildungs bewegung ohne Einſicht in den eigentlichen Prozeß der Bildung, den Bildungs vorgang. Und endlich: keine fruchtbare Bildungsbewegung ohne Kenntnis der geiſtigen · ſeeliſchen Kraͤfte, die in dem, dem Bildung werden ſoll, lebendig ſind.

Dieſe drei Großen: Bildungsideal, Bildungs vorgang und tatſaͤchlichen Kraͤftebeſtand in einen lebendigen Zuſammenhang zu bringen iſt die Auf- gabe der praktiſchen Bildungsarbeit. Eine Methodik der Bildungsarbeit, die eine dieſer drei Groͤßen außer acht ließe, muͤßte immer in irgend einer Sackgaſſe enden.

Die erneute und vertiefte Diskuſſion des Arbeiterbildunge problems, die ſeit einigen Jahren eingeſetzt hat, geht nun zunaͤchſt, wenn ich recht ſehe, ganz vorwiegend nach einer Seite. Das eigene Bildungsziel, das eigene in · haltliche Bildungsideal der Arbeiterbildung ſteht zur Diskuſſion. Mit der jahrzehntelang geuͤbten Anlehnung an die Bildungsmethoden der allge meinen buͤrgerlichen Volksbildungs arbeit hielt auch die Ideologie dieſer Bildungsarbeit ihren Einzug in das Arbeiterbildungsweſen. Dieſes vor allem wird von den neuen Fuͤhrern der Arbeiterbildung als eine Unmoͤglich⸗ keit erkannt. „Eine Gruppe von Menſchen fo lautet, aller Parteiphraſeo⸗ logie entkleidet, etwa das Sauptargument eine Gruppe von Menſchen, die ſich zu einer anderen Gruppe von Menſchen in einem, das Ganze der menſchlichen Lebensführung beruͤhrenden Gegenſatz befindet, kann in ihrer Bildungsarbeit ſich nicht an den Idealen orientieren, die auf dem ſozialen und geiſtigen Boden jener anderen Gruppe erwachſen ſind.“ Und das duͤrfte, vor aller Anwendung auf beſtimmte Gruppen, eine fundamentale fozio-- logiſche Erkenntnis ſein. Der Anwendungen dieſer Grunderkenntnis gibt es nun ſo viele, als es ſolche Gruppen gibt, Gruppen, die von einer be⸗ ſtimmten Weltdeutung und ZLebensanſchauung aus ſich zur Weltdentung und Zebensanſchauung anderer Gruppen im Gegenſatz befinden. Von un. beſtochener ſoziologiſcher Betrachtungsweiſe aus beſteht daher ein Anſpruch auf das ſelbſtaͤndige Bildungsleben etwa der katholiſchen oder der evange⸗ liſchen oder der volkhaft nationalen Gruppe in unſerem Volke. Gb dieſe geiftige Selbſtaͤndigkeit in einer gemeinſamen Rahmenorganiſation prak⸗ tiſcher Volksbildungs · und Volksbuͤchereiarbeit zuſammengefaßt werden kann, wie das geſchehen kann, das ſteht auf einem anderen Blatte, das wir hier nicht aufſchlagen koͤnnen. b

Wenn aber dieſe Erkenntnis von der Bedeutung der Ideologie der Gruppe für das Bildungsleben der Gruppe überhaupt der Wirklichkeit

272 walter Hofmann

geiſtigen Lebens entſpricht, dann gilt fie nicht nur für die einzelnen Welt- anſchauungsgruppen innerhalb der buͤrgerlichen Welt, ſondern ebenſo zwingend für die Gruppe der ſozialiſtiſchen Arbeiterſchaft. Don hier aus muß auch der, der keiner der beſtehenden ſozialiſtiſchen Gruppe zugehoͤrig iſt, die Berechtigung jener Beſtrebungen der ſozialiſtiſchen Arbeiterſchaft, ihr Bildungsweſen vom Zentrum eines eigenen Bildungsideals aufzu⸗ bauen, anerkennen.

Gegen dieſe Auffaſſung erhebt ſich nun freilich an manchen Stellen der bisherigen „neutralen bürgerlichen Bildungsarbeit ein heftiger wider ſpruch. Solche Anerkennung der Gruppenbildung trage zur Zerreißung der Volksgemeinſchaft bei, während es Aufgabe der Volksbildungsarbeit fei, an welcher Stelle fie auch getrieben werde, die Volksgemeinſchaft bilden zu helfen. Als ich im vergangenen Sommer im „Archiv für Erwachſenen⸗ bildung” im Sinne der ſoeben gemachten Ausführungen über „Menſchen bildung, Volksbildung, Arbeiterbildung in der volkstuͤmlichen Bücherei“ ſchrieb, meldete die von Joh. Tews, dem Geſchaͤftsfuͤhrer der liberalen Geſellſchaft für Volksbildung geleitete Jeitſchrift „Volksbildung“ ihren entſchiedenen Einſpruch an.

Sier ſtehen wir zweifelsohne an einem der ſchwierigſten Punkte der ge⸗ ſamten Volksbildungsdiskuſſion. Ich ſelbſt habe allen meinen Veroͤffent⸗ lichungen, ſoweit in ihnen das Grundſaͤtzliche der Volksbildungsfrage er- oͤrtert wird, den Satz vorangeſtellt: Volksbildung iſt Bildung zur geiſtig ſeeliſchen Gemeinſchaft des Volkes. Und ich halte an dieſem Satze feſt. Ich

auch gern ganz einfach das Wort „Volksgemeinſchaft“ ſetzen, wenn dieſes nicht ſchon durch politiſche Propagandareden zu ſehr abgebraucht, zu haͤufig mißbraucht worden waͤre.

Der Unterſchied zwiſchen der, ſagen wir Tewsſchen Anſchauung ſo⸗ weit fie ſachlich fundiert iſt und der von mir vertretenen liegt nun wohl darin, daß das, was ich als letztes Ergebnis einer Entwicklung von Gene⸗ rationen ſehe, daß das Joh. Tews heute, morgen ſchon durch Bildungs arbeit realiſieren moͤchte und glaubt realiſieren zu koͤnnen. Und dem liegt

» „it das die Aufgabe der Volksbüchereien?“ Volksbildung. 55. Jahrgang,

eft 6. Bedauerlich iſt, daß die „Volksbildung“ nicht in eine wirkliche fachliche Diskuſſion meiner Darlegungen eintritt, ſondern nur eine Gruppe von Saͤtzen aus dem Juſammenhang geriſſen zitiert, trotzdem ich im Vorwort ausdruͤcklich ge⸗ beten hatte, den Aufſatz im Juſammenhang zu lefen und zu würdigen. Durch dieſe tendenzioͤſe Jitierung, durch reichlich verwendeten Sperrdruck im Zitat und durch die Behauptung, daß das eigentliche das „gemeinſchaͤdliche“ ! Ziel hinter „vielen verhuͤllenden Worten“ verſteckt werde, durch alles wird meine paͤdagogi⸗ ſche Betrachtung in die Sphaͤre des politiſchen Rampfes gezogen. Ja die „Volks⸗ bildung“, von dem freiſinnigen Joh. Tews geleitet, ſcheut ſich ſogar nicht, der Stadt Leipzig und dem preußiſchen Aultusminiſterium, auf deren Verftändnis meine praktiſche Volksbildungsarbeit angewieſen iſt, öffentlich eine Warnung vor „dieſen Anſchauungen“ zukommen zu laffen! Auch ein Beweis für die Sachlichkeit dieſer angeblich neutralen Bildungsarbeit. W. » Ich verweiſe insbeſondere auf meinen „Weg zum Schriftum“ (Verlag der Arbeitsgemeinſchaft 1922) und auf „Volksbuͤcherei und Volkswerdung“ (Verlag Quelle & Meper 1925). Übri⸗ gens ſteht dieſer Grundgedanke auch in dem, in der „Volksbildung“ fo tendenziös zitierten Aufſatz „Menſchenbildung, Volksbildung, Arbeiterbildung“ im Mittel punkt der Betrachtung! W. 5. |

Jur Arbeiterbildung 273

letzten Endes ſicher eine verſchiedene Vorſtellung vom eigentlichen Wefen der Bildung zugrunde. Betrachtet man die Bildung als etwas vom Leben und feinen weſentlichen Bezuͤgen losgeloͤſtes, als das Reich des ſchoͤnen Scheins, das ſich uͤber der Wirklichkeit erhebt, fo iſt es heute ſchon und jeder- zeit möglich, daß ſich Rommuniſt und Voͤlkiſcher, Ratholik und Evangeli⸗ ſcher im Reiche der Bildung friedvoll umarmen. Dieſe Vorſtellung von dem Reich des ſchoͤnen Scheins, in dem alle Gegenſaͤtze des wirklichen Lebens aufgehoben find, iſt aber ganz ſicher eine Fehl vorſtellung. Sie iſt die aͤußerſte verwaͤſſerung eines Bildungs humanismus, der das Produkt einer ganz beſtimmten einmaligen hiſtoriſchen, politiſchen und geiſtesgeſchichtlichen Situation war. Die Unkraft der in dieſem Sinn an den Volksgenoſſen von heute betriebenen Bildungsarbeit iſt praktiſch der ſtaͤrkſte Einwand gegen dieſe Auffaſſung.

Die eigentliche Schwierigkeit liegt nun aber nicht in der Abweiſung der Forderungen des alten mancheſterlichen Bildungsliberalismus, ſondern eben in der Verknuͤpfung der Idee weltanſchaulich fundierter und zentrier⸗ ter, in Gruppen ſich vollziehender Bildungsarbeit mit der Idee der geiſtig ſeeliſchen Volksgemeinſchaft. Daß dieſe Gemeinſchaft nicht, durch keinerlei Maßnahmen, von heute auf morgen „hergeſtellt“ werden kann, daran muß jeder klar Sehende und nüchtern Denkende feſthalten. Und doch ergibt ſich für den tiefer Sehenden und umfaſſend Denkenden die Notwendigkeit, auch die weltanſchaulich gebundene Volksbildungsarbeit der Gruppe in den Kreis und in die Bindungen des Volkes hineinzuſtellen. Auch die Volksbildungs arbeit der ſozialiſtiſchen Arbeiterſchaft. Es ergibt ſich dieſe Notwendigkeit von zwei ganz verſchiedenen Seiten. Sie ergibt ſich von der Seite des ſo⸗ naliſtiſchen Bildungspolitikers ſelbſt. Dieſer weiß zwar, daß er für be⸗ ſtimmte Aufgaben ſeiner Gruppe beſtimmt diſziplinierte Soldaten der Gruppe und des Gruppen kampfes braucht. Er weiß aber auch, ſofern er zu den tiefer Sehenden und umfaſſend Denkenden gehoͤrt, daß er hinter den eigentlichen „Soldaten der Revolution“ den Menſchen der neuen Zeit be⸗ reithalten muß, wenn dieſe neue Zeit nicht ein Jerrbild der Zeit fein ſoll, deren Überwindung das Ziel der Gruppe iſt. Er weiß aber auch, daß die Menſchenbildung in der Gruppe der ſozialiſtiſchen Arbeiterſchaft aus den Kulturreſerven der ſozialiſtiſchen Arbeiterſchaft allein nicht beſtritten wer⸗ den kann. Selbſt wenn man theoretiſch die Moͤglichkeit einer ſozialiſtiſchen Kunſt, Muſik, Literatur, ja ſelbſt, in beſtimmten Sinne, einer ſozialiſtiſchen Wiſſenſchaft zugibt, fo muß man doch in demſelben Atemzuge zugeben, daß dieſe ſozialiſtiſche Kulturwelt heute erſt in ſehr duͤrftigen Anfängen vor- handen iſt. Entweder muß ſich alſo der ſozialiſtiſche Lebenskreis mit der Barbarei als dem Zuſtand des neuen Anfanges begnuͤgen und dann wäre der neue Anfang ſicher das Ende der abendlaͤndiſchen Kultur über- haupt oder aber er muß um der vorbereitenden Menſchenbildung willen den Anſchluß an die wirklichen Schaͤtze und Kräfte der bisherigen Kultur entwicklung ſuchen. Und ſchon rein praktiſch iſt es dabei unerlaͤßlich, daß auf deutſchem Boden die echten Kräfte und Schöpfungen der Kultur in ihrer deutſchen Auspraͤgung den Angehoͤrigen der ſozialiſtiſchen Gruppe geboten werden. Eine echte und tiefe Bildung in Deutſchland, fuͤr deutſch⸗ Tat x vil ö 19

27% walter Sofmann

ſprechende Menſchen, iſt gar nicht möglich ohne die Ernaͤhrung aus den beſten Kräften der deutſchen Kulturwelt, ganz gleich ob es ſich dabei um Menſchen der ſozialiſtiſchen oder irgendeiner anderen Gruppe handelt. wenn man nur tief genug graͤbt, kommt man von jedem Punkte aus zu den Strömen, aus denen das Leben der Menſchen geſpeiſt wird, und tief zu graben in ihrer Bildungsarbeit iſt Lebensnotwendigkeit auch der ſozialiſti⸗ ſchen Gruppe.

Und dazu der Volksbildungsmenſch, der der einzelnen ſolchen Gruppe, auch der ſozialiſtiſchen, nicht verhaftet iſt. Das, was dem in der Gruppe ſtehenden, mit der Weltanſchauung der Gruppe verbundenen Bildungs- mann, ſofern er einer iſt, unvermeidlicher Zwang iſt dieſes Arbeiten mit Werten, die nicht im geiſtigen Umkreis der Gruppe, ſondern im größeren des Volkes gewachſen ſind —, das iſt dem gruppenmaͤßig nicht gebundenen Volksbildungsmann gůtiges Geſchick. Er glaubt, daß die Voͤlkerindivi⸗ dualitaͤten auf unabſehbare Zeit die koͤſtlichen Gehaͤuſe menſchlicher Kultur find und daß es Voͤlkerindividualitaͤten nicht zu zerſtoͤren, ſondern zu er- halten gilt. (Daß internationale Bindungen und Verbindungen dabei der Erhaltung der Voͤlkerindividualitaͤten dienen koͤnnen, daß ein abſchließen⸗ der Nationalismus Voͤlkerindividualitaͤten vernichten kann, iſt dabei eine Binſen wahrheit, aber vielleicht eine von denen, die bei ſolchen Betrach⸗ tungen immer wieder ausgeſprochen werden muͤſſen.) Und fo kann vor ihm grundſaͤtzlich nur eine Gruppenbildungsarbeit beſtehen, die die Mitglieder der Gruppe weſentlich aus den Kräften der Voͤlkerindividualitaͤt ernaͤhrt, der fie angehoͤren.

Wie aber ift diefe Haltung, werde fie aus Not, werde fie freiwillig, aus grundſaͤtzlicher Bejahung eingenommen, wie iſt diefe Saltung praktiſch durchzufuͤhren? Wie iſt es moͤglich, den Menſchen der Gruppe, alſo in un⸗ ſerem Falle den ſozialiſtiſchen Arbeiter, geiſtig, weitanſchaulich, nicht zu entwurzeln und ihn doch mit den Kraͤften zu erfüllen, die ihn oder feine Enkel einſtmals befaͤhigen werden, echtes Glied einer echten geiſtig · ſee⸗ liſchen deutſchen Volksgemeinſchaft zu fein? Wie iſt es möglich, den ſo⸗ zialiſtiſchen Arbeiter bei ſich ſelbſt zu belaſſen und ihn doch nicht von dem abzuſchneiden, was die Beſten aller Zeiten und Volker und was vor allem die Beſten feines Volkes, die „Burger“ waren, auch für ihn geſchaffen haben? Ihn nicht abzuſchneiden von dem, in deſſen Beſitz auch er, der Ar⸗ beiter, heute ſchon in eine geiſtig⸗ſeeliſche Beziehung zum Nichtſozialiſten, vielleicht zu ſeinen evangeliſchen oder katholiſchen Volksgenoſſen tritt?

Die Frage kann hier nur geſtellt, nicht beantwortet werden. Sie iſt aber eine der großen Schickſalsfragen ſowohl der Arbeiterbildung, als auch der deutſchen Volksbildung uͤberhaupt. In welcher Richtung die Beantwor ; tung der Frage vielleicht erfolgen kann, habe ich verſucht anzudeuten in dem ſchon oben erwaͤhnten Aufſatz uͤber „Menſchenbildung, Volksbildung, Arbeiterbildung in der volkstuͤmlichen Bücherei” *.

»Archiv für Erwachſenenbildung, II. Jahrgang 1925, Seft 2.

Zur Arbeiterbildung 275

2 ; ;

DD das Bildungsziel etwas durch die Exiſtenz der einzelnen welt-

anſchaulichen Gruppe notwendigerweiſe Beſtimmtes iſt, beſteht eine ſolche notwendige Abhaͤngigkeit fuͤr den Bildungs begriff nicht. Dieſer muß ſich aus der Natur geiſtigen CTebens ergeben: der eigentliche Vorgang der Bildung muß bei dem Sozialiſten wie bei dem Katholiken, bei dem Seiden wie bei dem Chriſten, bei dem Deutſchen wie bei dem Franzoſen im Ent ſcheidenden derſelbe ſein. So wie der Vorgang des Wachſens und Sich⸗ Entfaltens im Entſcheidenden derſelbe iſt bei der Roſe wie bei der Lilie, bei der Eiche wie bei der Buche. Wenigſtens gilt das von dem Begriff der orga- niſchen Bildung, unter welcher wir verſtehen die Entfaltung des eigent- lichen Wefensternes des ſich Bildenden, die Geſtaltung einer eigenen geiſti⸗ gen Sormenwelt eben aus dieſem Weſenskern und eim heraus. „Vor jedem ſteht das Bild, des was er werden ſoll, ſolang er dies nicht hat, iſt nicht fein Friede voll“. Dieſer Bildungsprozeß, „nach dem Geſetz, wonach du angetreten“, iſt alſo etwas von der Gruppe prinzipiell Unabhaͤngiges. Aber eben dieſer Bildungsgedanke kommt mit dem Gedanken weltanſchau⸗ lich fundierter und zentrierter Bildung in einen tiefen und, ſei es gleich ge⸗ ſagt, reſtlos niemals zu loͤſenden Konflikt. Zwei Idealbilder eben ſich gegen- über : das Bild, das aufſteigt aus der Tiefe der eigenen einzelnen Perſoͤnlich⸗ keit, und das Bild, das die Gruppe aus ſich heraus gebiert und ihren Ange⸗ hoͤrigen als verpflichtendes Idealbild vor die Seele ſtellt. Dem erſten Bilde, das unferer eigenen Bruſt entſteigt, muͤſſen wir folgen, weil wir den lebens; echten organiſchen Bildungs vorgang wollen, das Bild des Seinfollenden, das die Gruppe vor uns aufrichtet, muͤſſen wir wollen, weil menſchliche Ge⸗ meinſchaft ohne ſolche regulierenden Idealbilder uͤberhaupt nicht möglich iſt.

Dieſer Konflikt iſt nicht durch die tatſaͤchliche hiſtoriſche Gruppenbildung in unferem Volke gegeben, er iſt vielmehr ein ewiger Konflikt. Uberall dort, wo eine Gemeinſchaft von Menſchen auch das ganze, geiſtig ge⸗ einigte Volk nach letzten Leitlinien ihr Leben zu führen unternimmt, uͤberall dort werden die hierauf beruhenden Idealbilder der Bildung in Konflikte treten mit dem Bilde, das vor jedem Einzelnen ſteht, als Symbol des Geſetzes, nach dem er angetreten.

Aber weil ſowohl der Gedanke der organiſchen Bildung ein von allen Gruppen unabhaͤngiger iſt und weil ebenfo der Konflikt diefes ee gedankens mit dem Bildungsgedanken des Bemeinfchaftsidesis unabbän- gig von jeder befonderen Gruppenſituation beſteht, eben deswegen ift im Rahmen diefer Betrachtung eine weitere Eroͤrterung der hier vorliegen; den Problematik nicht am Platze.

3 wm: aber ſteht es mit der dritten Vorausſetzung einer jeden begruͤnde⸗ ten Bildungsarbeit, wie ſteht es mit der Kenntnis des geiſtig⸗ſee⸗ liſchen Seins, das einem Sein ſollenden zugeführt werden ſoll? So wie es Eine Darſtellung dieſes Bildungsgedankens, im Juſammenhang mit der Situa⸗ tion der außerſchulmaͤßigen Bildungsarbeit, babe ich in dem Seftchen „Geſtaltende Volksbildung“ (Verlag der Deutſchen Jentralſtelle für volkstuͤmliches Buͤcherei⸗

weſen, Leipzig 1925) zu geben verſucht. EN

276 Walter Hofmann

damit in der geſamten außerſchulmaͤßigen Volksbildungsarbeit noch ſeh ſchlecht beſtellt iſt, ſo auch in der Arbeiterbildungsbewegung. |

Eine ſehr geſcheite Frau, die Sozialiſtin und Mathematikerin Dr. Silda Geiringer, hat einmal von der fuͤnfprozentigen Wiſſenſchaft geſprochen, die im Umkreis unſeres offiziellen Wiſſenſchaftsbetriebes gepflegt werde. Da⸗ mit ſollte wohl geſagt ſein, daß eine beſtimmte Schicht des Volkes, einer beſtimmten geiſtigen Züchtung und einem beſtimmten Training unter⸗ worfen, in einer ganz beſtimmten geiſtigen Saltung ſich einem ganz Heinen beſtimmten Ausſchnitt der Fragen zuwendet, die dem betrachtenden, finnen- den und forſchenden Menſchengeiſte uberhaupt zugänglich find. Die uͤbrigen 95 Proz. der Gegenſtaͤnde und Fragen liegen außerhalb des Intereſſenkreiſes dieſer Wiſſenſchaft, aber ſie liegen im Intereſſenkreiſe der ungeheuren Mehrheit des Volkes, welches nicht in dieſe fünfprozentige Wiſſenſchaft hineingezuͤchtet worden iſt.

wenn damit auch ein Tatbeſtand uͤberſpitzt wiedergegeben worden iſt, ſo ſteckt hinter der überfpissten Darſtellung doch eine große Wahrheit, eine Wahrheit, die ſich jedem Volksbildungsmenſchen, der fein Auge auf die wirklichkeit des Lebens gerichtet haͤlt, mit zwingender Gewalt aufdrängt. In der konkreten paͤdagogiſchen Situation, in die er geſtellt iſt, empfindet der Volksbildungsmenſch die Sachlage ſo: der Wiſſenſchaft, wie ſie heute getrieben wird und der hoͤchſte Achtung als menſchlicher Geiſtesleiſtung entgegenzubringen er ſich nicht wird verſagen koͤnnen —, dieſer wiſſen⸗ ſchaft kommen aus der breiten Maſſe des Volkes keine Kebensantriebe ent; gegen. Und das gilt nicht einmal nur fuͤr die Wiſſenſchaft, ſondern faſt eben⸗ fo für das, was heute in den Bezirken der Kunft, vor allem auch in den Be⸗ zirken der Literatur produziert wird. Es beſteht ein ſchreiendes Mißver⸗ haͤltnis zwiſchen dem, was in der oberen Geiſtesſchicht des Volkes erlebt und dargeſtellt wird, und den Lebenserfabrungen, den Aufnahmeorganen, den innerſten Antrieben des Volkes. Ganz praktiſch genommen bedeutet das notwendig das Scheitern jener Bildungsarbeit, die mit einer gewiſſen Naivitaͤt auch wiſſenſchaftlich ſehr kritiſche Gemuͤter konnen dieſer Naivitaͤt verfallen geiſtige Erfahrungen, die in der intellektualiſierten Schicht des Volkes in beſtimmter Züchtung gewonnen wurden, in die großen breiten Maſſen des Volkes verpflanzen wollen.

Das allermeiſte, was in Deutſchland unter der Flagge der „Volksbil⸗ dungsarbeit“ geſchieht, krankt an dieſem fundamentalen Fehler. Und das gilt in ſehr weitem Umfange auch fuͤr das Arbeiterbildungsweſen. Ja, es hat ſogar den Anſchein, als ob dieſes in den tragiſchen Irrtum, der hier vor; liegt, beſonders tief verſtrickt waͤre, als ob hier die Diskrepanz zwiſchen dem geiſtig ſeeliſchen Sein der Menſchen, für die gearbeitet wird, und der Struk⸗ tur der geiſtigen Guͤter, welche ihnen gebracht werden, weniger ſtark emp⸗ funden würde, als in der „buͤrgerlichen“ Bildungsarbeit. Ein klaſſiſches Beiſpiel fuͤr die allgemeine Erfahrungstatſache, daß man einem Gegen⸗ ſtand ſehr nahe ſtehen kann, ohne zu einer unbefangenen und illufions- loſen Betrachtung des Gegenſtandes kommen zu koͤnnen. Oder auch ein

Silda Beiringer, Gedanken zur Lebrweife an Volkshochſchulen. Die Arbeits⸗ gemeinſchaft. 2. Jahrgang, Seft J.

Zur Arbeiterbildung 277

Ausdruck für die Tatſache, daß das Arbeiterbildungsweſen zwar zahlreiche hervorragende Organiſatoren und nicht weniger vorzůͤgliche theoretiſche Koͤpfe hat, die Bedeutendes über das Ziel einer ſelbſtaͤndigen Arbeiterbil- dung zu ſagen haben, aber recht wenige mit dem Inſtinkt der Cebenserfaſ⸗ ſung ausgeſtattete Paͤdagogen.

Nun darf hier vielleicht folgende Anmerkung gemacht werden. Die Gr⸗ ganiſation des Arbeiterbildungsweſens wird im weiteſten Umfange immer Sache der Arbeiterſchaft und ihrer Organiſationen ſelbſt ſein. Und ebenſo iſt die Direktion der Arbeiterbildung auf letzte Ziele eigenſte Angelegenheit der Arbeiterſchaft und ihrer verantwortlichen führenden Köpfe. Daß dieſe Direktion ſich freilich nicht vollziehen kann ohne die Auseinanderſetzung mit der parteimaͤßig nicht gebundenen Volksbildungsarbeit, ſoweit diefe ihre Kraft zieht aus dem Boden des deutſchen Volkslebens, aus dem Bo⸗ den der deutſchen Kultur und aus dem Boden der gewaltigen 3eitbewe- gung, in der wir ſtehen, das iſt fuͤr den Unbefangenen eine Selbſtverſtaͤnd⸗ lichkeit. Die Arbeiterbildung muß ſelbſtaͤndig bleiben, aber ſelbſtaͤndig nur in der Auseinanderſetzung mit allen guten und ſtarken Kräften, die heute in Deutſchland um die Geſtaltung unſeres Volkstums auf dem Wege orga⸗ niſcher Bildungsarbeit ringen. Eine Selbſtaͤndigkeit, die dieſe Auseinan⸗ derſetzung meidet, muß zur Verholzung und Verkapſelung, zum Bonzen duͤnkel führen, dem ein gewiſſer Zeiterfolg, aber keine Wirkung von Dauer und Tiefe beſchieden ſein wird.

Noch anders aber liegen die Dinge bei dem, was wir die Volkskunde der Volksbildungsarbeit nennen moͤchten, und bei der praktiſchen Methodik der Bildungsarbeit, die ſich aus folder Runde ergibt. Eine ungeheure Auf- gabe iſt hier geſtellt: die tatſaͤchlichen Stroͤme an geiſtigen und ſeeliſchen Kraͤften, die durch unſer Volk gehen, die eigentuͤmliche Form, in der ſich geiſtig⸗ſeeliſches Leben hier vollzieht, die Möglichkeiten oder Unmoͤglich⸗ keiten der Beziehung dieſes Lebens zu der Welt objektiver Kultur, dieſe Tatſachenkomplexe ſind es, die zur Erkenntnis gebracht werden muͤſſen. Ohne ſolche Erkenntnis muß jede Volksbildungsarbeit ſcheitern, muß ins⸗ beſondere auch jede Volksbildungsarbeit ſcheitern, die ſich vornimmt, das Sein zu einem beſtimmten Seinſollenden hinzuleiten. Ohne dieſe Erkennt; nis muß alſo auch die ſozialiſtiſche Volksbildungsarbeit ſcheitern, die an einem beſtimmten Bildungsideal orientiert iſt.

Von der Groͤße und der Eigenart dieſer fundamentalen Aufgabe aus er- geben ſich aber zwei wichtige Konfequenzen. Erſtens: die Aufgabe kann ſchon dem Umfange nach nicht vom Arbeiterbildungsweſen allein geloͤſt werden: Zweitens: nach dem Charakter der hier vorliegenden Aufgabe kann auch das Arbeiterbildungsweſen an dieſer Stelle in eine enge Ar⸗ beitsbeziehung zur „buͤrgerlichen Volksbildungsarbeit treten, ſoweit fie dieſe Aufgabe geſehen hat und ſoweit ſie ehrlich und mit ausreichenden Mitteln an ihrer Löfung arbeitet. Es wird auch hier nicht ausbleiben, daß beſorgte Parteifuͤhrer und Parteibildungsleute vor einer ſolchen Beruͤh⸗ rung mit der parteimaͤßig · weltanſchaulich nicht gebundenen Volksbildungs⸗ arbeit wie wir an Stelle von „bürgerlicher” Bildungsarbeit beſſer ſagen duͤrfen warnen. Aufgeſchloſſene Menſchen des Arbeiterbildungsweſens

278 Walter Hofmann, Zur Arbeiterbildung

werden eine ſolche Bereicherung, ein ſolches Lernen vom anderen, gerade an dieſer Stelle nicht nur nicht ſcheuen, ſondern ſie werden dieſe Bereiche⸗ Bu e und werden ſich in dieſer Bereicherung fuͤr ihre eigene Arbeit geſtaͤrkt finden. Die Lehrgänge, die die Deutſche Zentralſtelle für volkstuͤm⸗ liches Buͤchereiweſen feit einem halben Jahrzehnt in allen Teilen des deut ſchen 5 veranſtaltet, ſind hierfuͤr erfreulichſter Beweis. An dieſen Lehrgängen, beſonders auch an den großen allgemeinen, wie fie all⸗ jaͤhrlich in Leipzig veranſtaltet werden, nehmen in der Regel Menſchen aus all den großen weltanſchaulichen Lagern teil, in die heute die deutſche Welt zerfällt. Vom überzeugten Katholiken, vom evangeliſchen Chriſten bis zum entſchiedenen Sozialiſten. Sier werden dann auch erſte Einſichten ge- geben in die Methoden und Ergebniſſe einer vom Intereſſe und Beobach ; tungsplatz der volkstuͤmlichen Buͤcherei aus betriebenen „Leſerkunde“. Und jedesmal ſtehen die Kursteilnehmer gerade bei dieſen Darbietungen in hellen Flammen des Intereſſes, jedesmal bekundet der Chriſt, der Natio⸗ nal · Voͤlkiſche und der Sozialiſt, daß hier Entſcheidendes für die praktiſche Volksbildungsarbeit angebahnt ſei. Daß in ſolchem gemein ſamen Er⸗ oͤrtern und Aufnehmen der gemeinſamen Grundlagen allerdings auch ein Stuͤck gemeindebildende Kraft liegt, daß hier in einer ſtarken geiſtigen Be⸗ wegung Bruͤcken vom Menſchen zum Menſchen verſchiedenſter Lager ge⸗ ſchlagen werden, das ſoll nicht geleugnet werden. Und verdammen wird ſolcherart begründete Bemeinfchaft nur der, dem die klaſſenmaͤßige und weltanſchauliche Jerreißung unſeres Volkes nicht nur eine hiſtoriſch ge⸗ wordene und heute im ganzen unaufhebbare tragiſche Tatſache, ſondern auch ein erwuͤnſchter Dauerzuſtand iſt. Die praktiſche Bildungsarbeit muß jenen Zuſtand der Zerkluͤftung anerkennen, fie wird ſofort zur Ohnmacht verurteilt, wenn ſie verſucht, unter Negierung deſſen, was den einzelnen Gruppen im Volke als das Sein ſollende erſcheint, die „Bildungs harmonie“ herzuſtellen. Aber die wahrhaft freien Geiſter der Volksbildungsarbeit aller Lager ſollten daruͤber nicht die gemeinſamen Aufgaben aller Volks⸗ bildungsarbeit verkennen und den Mut haben, dort, wo es möglich, ja der geſtellten Aufgabe nach notwendig iſt, die Gemeinſchaft der Forſchenden und Suchenden auch heute ſchon zu verwirklichen. In dem Maße, in dem auch im Arbeiterbildungsweſen dieſer Mut vorhanden iſt, wird auch die Arbeit an der neuen Volkskunde der Volksbildungsarbeit voranſchreiten und in dem Maße werden auch die anderwaͤrts gewonnenen Ergebniſſe dieſer Volkskunde für das Arbeiterbildungsweſen fruchtbar werden konnen. Und dann erſt werden wir ein im wirklichen Ceben verwurzeltes, nicht nur ſelbſtaͤndiges “, ſondern in der Selbſtaͤndigkeit auch kraftvolles und in die geiſtige und zeitliche Tiefe wirkendes Arbeiterbildungsweſen haben.

»Es darf bier darauf bingewiefen werden, daß auch das auslaͤndiſche Volks⸗ bildungs · und Volksbuͤchereiweſen in ſteigendem Maße die Bedeutung dieſer Fun⸗ dierungsarbeiten erkennt. So bekannte erſt kurzlich der J. Sekretär der ruſſiſchen Staatsbibliothek in Leningrad, die jetzt auch in den Dienſt der Arbeiterbildung ge- ſtellt iſt, daß er in den leſerkundlichen Studien der Staͤdtiſchen Bucher hallen zu Ceipzig endlich das gefunden habe, was er ſuche, und was er für die Loͤſung der Auf⸗ gabe der Arbeiterbildung in feiner Bibliothek vor allem brauche. W. 5. Vom Verfaſſer dieſer Betrachtung erſcheint in dieſem Jahr noch eine Studie , CLeſerkunde “, als erſter Beitrag zu der Volkskunde der Volksbildungsarbeit. Die Schriftleitung

Georg Engelbert Graf, Aus der Praxis der Arbeiterbildung 279

Georg Engelbert Graf Aus der Praxis der Arbeiterbildung

ie geſamte Arbeiterbildung iſt noch auf abſehbare Zeit hin ein Not behelf. ae die Vorbildung in Kindheit und Jugend noch ſo mangel und luͤckenhaft iſt, ſolange die Sorge um das tägliche Brot, das Geſpenſt der e de fi) immer wieder von neuem in den Dor- dergrund drängt und den Lötwenanteil der Denkarbeit für ſich in Anſpruch nimmt, ſolange das proletariſche Seim in den meiſten Faͤllen eher einem Notlager als einer Wohnſtaͤtte gleicht, ſolange eine übermäßig lange Ar⸗ beitszeit die Freizeit auf ein Minimum beſchraͤnkt, ſolange der Staat für Pferdezucht und Rennſport mehr Geld uͤbrig hat als für die Erfuͤllung der einfachſten Verpflichtungen gegenüber der arbeitenden Bevoͤlkerung ſo⸗ lange wird auch der beſte Wille und die zweckmaͤßigſte Methode nicht das an Arbeiterbildungs einrichtungen ſchaffen koͤnnen, was notwendig wäre, Das find gewiß Binſenwahrheiten; aber fie muͤſſen immer wieder voran geſtellt werden, wenn man das Problem der Arbeiterbildung beruͤhrt.

Es waͤre auch durchaus falſch, die Arbeiterbildungseinrichtungen unter dem Geſichtswinkel des Bildungs beduͤrfniſſes des einzelnen Arbeiters zu faſſen. Einmal trifft es nicht zu, fo ganz allgemein von dem „Bildungs; hunger der Maſſen! zu ſprechen. Das gibt es nicht. Die Maſſe it nicht bil⸗ dungs hungrig; die Maſſe will Unterhaltung, Senfation; fie will Sinne und Nerven, aber nicht das Gehirn beſchaͤftigt wiſſen. Nur bei einem ganz geringen Teil der Bevölkerung koͤnnen wir von einem wirklichen Bildungs beduͤrfnis ſprechen. Von einem wirklichen Intereſſe an Weiterbildung. Und vielfach find das Leute entweder mit Sonderbegabungen oder wenig ſtens mit Sonderanſpruͤchen. Ihrer nimmt ſich in erſter Linie die Volks hochſchule an. Mit ihrer Vielheit von Diſziplinen nach dem Grundſatz: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen!” und mit ihrem liebe; voll gepflegten Ideal: Entwicklung der „Perſoͤnlichkeit“.

Die Ziele der Arbeiterbildung find anders. Müflen anders fein; wenig ſtens ſolange die proletariſche Klaſſe noch darin begriffen iſt, ſich zuſam · menzuſchließen und zu formieren. Die Grganiſationen der Arbeiterſchaft werden ihre Bildungsarbeit nicht nach den zufaͤlligen Intereſſen oder zu⸗ faͤlligen Begabungen Einzelner zu orientieren haben; Ausgangspunkt werden und muͤſſen vielmehr fein die durch den Klaſſenaufſtieg und den Klaſſenkampf gegebenen Aufgaben der Klaſſe und der einzelnen Klaſſen ; organiſationen. Moͤglich, daß dabei manche Sonderbegabung unterdruͤckt oder abgebogen wird die Klaſſe ſteht hoͤher als das Individuum, und auch ſolche Opfer und Verzichte muͤſſen gebracht werden.

An die breiten Maſſen wird man vorläufig nicht herankommen. Um fo wichtiger iſt es, Fuhrer und Unterfuͤhrer, Angeſtellte und Funktionaͤre der Bewegung ſyſtematiſch mit den Problemen der Klaſſe vertraut zu machen. Iſt das erſt geſchehen, dann darf man hoffen, daß von hier aus langſam auch die Maſſe in Fluß gebracht wird.

280 | Georg Engelbert Graf

Aber ſelbſt wo die Bildungsarbeit ſich an die proletariſche Elite wandte, blieben Enttaͤuſchungen nicht aus. „Die intereſſanteſten Themen ziehen nicht mehr.” „Es find immer diefelben paar Leute, die zu Bildungs veran⸗ ſtaltungen erſcheinen.“ Das find Klagen, die man immer wieder hoͤrt und deren Richtigkeit jeder Redner und Zehrer beſtaͤtigen kann.

Man darf nun die Urſache dieſer Erſcheinung nicht einzig und allein in der Indolenz der Maſſe ſuchen, ſondern muß ſich fragen, ob die übliche Methode der Erwachſenenbildung immer die richtige war. Vielerorts iſt man über den bildenden Einzelvortrag mit nachfolgender Diskuſſion oder Fragebeantwortung noch nicht hinausgekommen; auf dem Lande und in kleineren Orten oder bei Mitgliederverſammlungen iſt er das Gegebene. Großen, vor allem anhaltenden Erfolg darf man von ihm nicht erwarten zumal nicht in dem Milien, an das er meiſtens gebunden iſt: in dem Wirts⸗ hausſaal mit feinem Rauch und Alkoholdunſt. Aktuelle Probleme, Einzel fragen, werden am eheſten Aufmerkſamkeit finden ; iſt auch nur ein geringer Teil der Zuhoͤrer zum Nachdenken angeregt worden, zu einem Nachdenken, das uͤber die eigentliche Deranftaltung hinausreicht, dann kann man ſchon zufrieden ſein. |

Ein umfaſſenderes wiſſenſchaftliches Problem, ein ganzes Wiſſensgebiet laͤßt ſich natuͤrlich in einem Einzelvortrag nicht behandeln. In der Regel hilft man ſich hier damit, daß man den Stoff auf einen Kurſus, auf eine zuſammenhaͤngende Vortragsreihe verteilt; die Vortraͤge koͤnnen durch⸗ gaͤngig nur in den Abendſtunden ſtattfinden und pflegen ſo gelegt zu wer⸗ den, daß allwoͤchentlich ein Abend, hoͤchſtens zwei dem Thema gewidmet werden. Meiſt melden ſich die Hörer freiwillig zu ſolchen Kurfen, bzw. es wird fuͤr den Beſuch agitiert, Eintrittskarten werden vertrieben; nur in ſeltenen Sällen findet eine Delegation ſtatt.

Selbſt da, wo tuͤchtige Kebrer mit lebendiger Vortragsweiſe tätig find und wo die Zahl der Soͤreranmeldungen durchaus nichts zu wuͤnſchen übrig laͤßt, macht ſich ſchon ſehr bald ein Übelftand bemerkbar, für den man meiſt entweder die Hörer oder den Lehrer verantwortlich macht: die Anzahl der Soͤrer nimmt ſichtlich ab. Bei Kurfen von 6 Abenden kann man normaler; weiſe mit 30—$0 Proz., bei ſolchen von mehr Abenden mit 50 —60 Proz. Abfall rechnen.

Vielfach liegt es daran, daß fo manche Hörer, vor allem ſolche mit Sonder⸗ intereſſen, ſich etwas ganz anderes vorgeſtellt hatten; der Vortrag iſt ihnen zu leicht oder zu ſchwer fie find enttaͤuſcht und bleiben fort. Der Fehler dieſes Syſtems ſcheint mir jedoch in der Verteilung eines Rurfus auf allzu⸗ lange Zeit und in der freiwilligen Meldung der Soͤrer zu liegen. Gerade die beweglicheren Kraͤfte in der Arbeiterſchaft werden von den Organiſationen ſtark in Anſpruch genommen und koͤnnen ſich nicht Wochen und Monate hin⸗ durch immer einen beſtimmten Abend frei halten; hat man aber erſt einmal gefehlt und ſo den Zuſammenhang verloren, dann wird der Beſuch voͤllig aufgegeben. Je ausgedehnter ein Kurſus iſt, um fo mehr macht ſich dieſe Störung bemerkbar. Dazu kommt, daß der Arbeiter in einer ganz anderen pſychiſchen Verfaſſung abends den Soͤrſaal betritt als etwa der Buͤrgerliche aus gebildeten Kreiſen. Er hat tagsuͤber und oft recht ſchwer koͤrperlich ar⸗

Aus der Praxis der Arbeiterbildung 281

beiten muͤſſen; der Rhythmus der Maſchinen, die Setze von und zur Arbeit, das unzulaͤngliche Seim, von Sorgen und ſonſtigen Affekten ganz abge⸗ ſehen, all das muß er zunaͤchſt abſchuͤtteln, muß er verdrängen, ehe ein Vortrag feine Wirkung entfalten, bleibende Eindruͤcke hervorrufen kann. Dem Gebildeten, dem Nicht · Proletarier fällt eine derartige Umſtellung leicht; und er empfindet die Schwierigkeiten nicht mehr, die für den Prole- tarier damit verbunden ſind. Nach dem Vortrag wieder ein Zuruͤckſinken in den Alltag, bis zur naͤchſten Woche, wo der naͤchſte Vortrag erſt einmal dieſelbe Anſtrengung wie bei dem vorhergehenden erfordert. Rommt noch hinzu, daß derjenige, dem geiſtige Arbeit etwas Ungewohntes iſt, den Ge⸗ dankengaͤngen des Lehrers, dem es oft mehr auf Bewaͤltigung ſeines Pen⸗ ſums als auf das Verſtanden werden ankommt, nur ſchwer zu folgen und den Inhalt zweier durch mehrere Tage von einander getrennter Vortraͤge nicht in Zuſammenhang zu bringen vermag. Gerade unter ſolchen Um⸗ ſtaͤnden wird der Arbeiter, der etwa in Volks hochſchulkurſen neben Bürger- liche zu ſitzen kommt, viel eher die Mängel feiner Bildung und feine Schwaͤ⸗ chen gegenuͤber dem Angehoͤrigen einer bevorzugten Schicht erkennen; die Minderwertigkeitsgefuͤhle, dieſes große Hindernis des proletariſchen Auf ſtiegs, ſtellen ſich im verſtaͤrkten Maße ein und laͤhmen den Trieb zur Wel- terarbeit. Der freiwillige Teilnehmer ſteht obendrein, pſychologiſch ge⸗ ſehen, in einem derartigen Kurſus unbewußt unter dem Eindruck der freien Konkurrenz”, des Wettkampfes um einen Rekord, bei dem fo und ſo viele auf der Strecke bleiben. Dieſes Bild aͤndert ſich ſchon, wenn die KAurſusteilnehmer von ihren Grganiſationen delegiert und zum regel- maͤßigen Beſuch „im Intereſſe der Grganiſation“ verpflichtet werden. Dann hoͤrt von vornherein das unwillkuͤrliche gegenſeitige Mißtrauen auf, eine gemeinſame Plattform, eine gemeinſame Arbeit, ein gemein ſames Ziel ſchafft eine Art geiſtiger Solidarität, die auch den Unbeholfenen nicht aus; ſcheidet, ſondern eingliedert und die „im Intereſſe der Organiſation die Aufmerkſamkeit bis zuletzt wachhaͤlt.

Daß in dieſer Sinſicht in einem zielbewußt geleiteten Internat die ſtaͤrk⸗ ſten Erfolge didaktiſch und paͤdagogiſch zu erzielen ſind, daruͤber waͤre man viel mehr einig, wenn die individualiſtiſche Zerſetzung auch in den Kreiſen der Arbeiterbewegung nicht ſchon zu ſtark fortgeſchritten waͤre und wenn ſich nicht vielfach die irrige Anſicht feſtgeſetzt hätte, daß jede Bildungs⸗ arbeit ſich ſofort ſichtbar bezahlt machen můſſe. Jedenfalls muß es doch zu denken geben, daß die katholiſche Kirche, dieſe Meiſterin auf dem Gebiete der Paͤdagogik, auf Internatserziehung für heranwachſende und erwach⸗ ſene Fuhrer den größten Wert legt. Immerhin iſt zu bemerken, daß ſich die Internatsidee in dem letzten Jahrzehnt in der Arbeiterbewegung in allen Kulturlaͤndern durchzuſetzen beginnt. Die Sochſchule bürgerlicher Prägung verliert, von einigen unverbeſſerlichen Ideologen abgeſehen, in der Ar⸗ beiterſchaft immer mehr an Kredit.

Auf der Linie zum Internat liegen bereits die Ferienkurſe, die 3. B. der Reichsausſchuß für ſozialiſtiſche Bildungsarbeit alljährlich in den Sommer; monaten in den verſchiedenſten Gegenden Deutſchlands veranſtaltet. Sie dauern in der Regel eine Woche, vereinigen eine nicht allzugroße Soͤrer⸗

282 Georg Engelbert Graf, Aus der Praxis der Arbeiterbildung

zahl in Landheimen, Penſionen u. dgl. und pflegen unter der Leitung eines Lehrers ein mehr oder minder umfaſſendes Problem zu bearbeiten. Da die Soͤrer nicht delegiert werden und vielfach aus äußeren Grunden Gegend, Zeitpunkt der Serien u. dgl. einen beſtimmten Kurſus waͤhlen, iſt es, be- fonders bei größerer Soͤrerzahl, nicht leicht, alle auf einen gemeinſamen Nenner zu bringen. Und wenn das ſchließlich gelungen iſt, iſt die Woche herum. Ein aͤhnliches Nomadenprinzip beherrſchte bisher die Bildungs arbeit des Deutſchen Metallarbeiter und des Fabrikarbeiterverbandes. Nur daß hier die Hörer aus den jeweiligen Bezirken delegiert und auf Ver⸗ bands koſten von der Arbeit freigeſtellt wurden. Selbſtverſtaͤndlich mußte der Stoff dabei aufs aͤußerſte beſchraͤnkt werden; in der Regel kam in den Betriebsraͤtekurſen des D. M. V. auf jede Arbeitswoche ein beſtimmtes Wiſſensgebiet. Dieſe Wanderinternate ſind recht koſtſpielig, mit allerhand Unzutraͤglichkeiten verbunden und bedeuten vor allem auch fuͤr die Lehr⸗ kraͤfte Strapazen, die man auf die Dauer niemandem zumuten darf. Man wird auch nur in Ausnahmefaͤllen, zumal in ſo kritiſchen Zeiten wie gegen⸗ waͤrtig, die Sörer aus den Betrieben herausziehen koͤnnen, ohne daß die Gefahr beſteht, daß der Unternehmer dies als willkommenen Entlaſſungs⸗ grund benutzt.

Man wird alſo ſoweit man noch nicht, wie neuerdings der Deutſche Metallarbeiterverband, ein eigenes Schulungsheim ſich hat einrichten koͤnnen zu anderen Notbehelfen, zumal für das Seer der Funktionaͤre, greifen muͤſſen. Fuͤr nicht allzu große Bezirke empfehlen ſich die ſog. Wochenendkurſe. Sie koͤnnen am Sonnabend ſpaͤtnachmittags beginnen und bis Sonntagabend durchgeführt werden. Eine Naturfreundehuͤtte, eine Jugendherberge, ein Landheim, im Notfall auch ein größerer Gaſt⸗ hof in einer kleinen Stadt oder dgl. eignen ſich am beſten dazu. In den 8—9 Stunden eines Wochenendkurſes kann man mehr leiſten als in einem allwoͤchentlichen Abendkurſus von 2 Monaten Dauer.

Auch Abendkurſe koͤnnen einen nachhaltigen Erfolg darſtellen, wenn die Hörer delegiert und kontingentiert werden und wenn die einzelnen Rurſus · abende unmittelbar aufeinander folgen. Über 5 Abende hintereinander hinauszugehen empfiehlt ſich jedoch nicht; auch iſt es zweckmaͤßig, durch Vereinbarung der in Frage kommenden Grganiſationen die fraglichen Abende von ſonſtigen Veranſtaltungen frei zu halten. Ganz unwillkuͤrlich gibt eine derartige Ronzentration den Soͤrern den Eindruck, daß ein ſolcher Kurſus für fie von beſonderer Bedeutung iſt, ſpornt fie an und haͤlt dauernd ihr Intereſſe wach. Der Soͤrerabfall bei derartigen Kurfen iſt demgemaͤß ganz minimal.

Dieſe verſchiedenen Kurſusarten in Verbindung mit der Eigenart des proletariſchen Soͤrermaterials und mit dem durch das Beduͤrfnis der Klaſſe und der Klaſſenorganiſationen gegebenen Zweck erfordern eine ſpezifiſche Wahl und Gliederung des Stoffes und eine beſondere Unterrichts⸗ und Ar⸗ beitsmethode. Die Volks hochſchulbehaglichkeit und ⸗Gemaͤchlichkeit iſt in der Arbeiterbildung ausgeſchloſſen. Es iſt wenig Zeit vorhanden, viel Ver⸗ ſaͤumtes nachzuholen, in Eile notdürftig ein Fundament zu legen und der Beduͤrftigen ſind ſo viele. Das gibt der Arbeiterbildung etwas Gehetztes;

Seinrich Schulz, Phaſen der Arbeiterbildung 283

die handwerkliche Gemuͤtlichkeit iſt dem Arbeiterbildner fremd. Den Stoff diktiert nicht feine perſoͤnliche Vorliebe, fein „Spezialſtudium“ er wird ihm vorgeſchrieben von den Beduͤrfniſſen der Schicht, für die er arbeitet und dieſe Beduͤrfniſſe muß er ſelbſt erſt erfuͤhlen; denn die proletariſche Schicht ſelbſt hat nur ein unklares Bewußtſein davon.

Heinrich Schulz Phaſen der Arbeiterbildung

ie Anfaͤnge der Arbeiterbildung tragen noch die Eierſchalen der

bürgerlichen individualiſtiſch · demokratiſchen Epoche, der fie ent-

ſtammen. Eine beſtimmte Zielſetzung beſtand nicht, man ſchaͤtzte das wWiſſen als einen Vorzug ſchlechthin gegenüber dem Nichtwiſſen in der grundſaͤtzlichen Uberſchaͤtzung des Intellektualismus, wie ſie der zweiten Saͤlfte des 19. Jahrhunderts eigen war. Die emporſtrebende bürgerliche Klaſſe ſtuͤtzte ihre Anſpruͤche wirtſchaftlich auf ihre kapitaliſtiſche Über- legenheit, in geiſtiger Beziehung war fie im Bunde mit Wiſſenſchaft und Kunſt der Klaſſe der Junker feit langem über den Kopf gewachſen. „Wiſſen iſt Macht“ war die liberale Loſung, mit der der Einzelne im freien Spiel der Kräfte voran zu kommen trachtete; in den uͤberall auffprießen- den Volksbildungsvereinen ſuchte er ſich ein freiwilliges Plus über das be · ſcheidene geiſtige Exiſtenzminimum der Volksſchulbildung hinaus anzu⸗ eignen. Politiſch pflegten dieſe Vereine einen wohltemperierten Libera⸗ lismus.

Es lag nahe, daß auch die uͤber Demokratie und Liberalismus zum Sozia⸗ lismus gelangenden Arbeiter dieſes wertvolle Mittel zur geiſtigen Befrei⸗ ung an wandten. In den Auseinanderſetzungen des jugendlichen Sozialis⸗ mus mit dem Liberalismus unter der temperamentvoll ſtuͤrmenden Fuͤh⸗ rung Laſſalles loͤſten ſich die erſten Arbeiterbildungs vereine von der libera⸗ len Bevormundung los und ſuchten ſich in den weiten Räumen der ſozia⸗ liſtiſchen Ideologie zurechtzufinden. Dem wirtſchaftlichen Machtfaktor des kapitaliſtiſchen Buͤrgertums hatten fie ihre Zahl und die planmaͤßige Gr⸗ ganiſation entgegenzuſtellen.

Aber noch fehlte der Arbeiterbildung ein beſtimmtes und feſtes Ziel. Wil⸗ helm Liebknecht griff das Schlagwort von der Macht des Wiſſens auf; er gab ihm zwar teilweiſe einen neuen Inhalt, aber die eigentliche Aufgabe ſah er noch nicht, die politiſchen Zeitverhaͤltniſſe und draͤngenden Pflichten ließen ihm keine Zeit zu eindringender Beſchaͤftigung mit dem Problem. Außerdem brach bald die Schreckenszeit des Sozialiſtengeſetzes uͤber die deutſche Arbeiterbewegung herein. Waͤhrend dieſer Zeit waren politiſche Vereine unmoglich. An ihre Stelle traten geheime Vereinigungen oder Vereine, bei denen eine aͤußerlich harmlos neutrale Flagge die politiſche Konterbande decken mußte. Dazu gehoͤrten neben Befang-, Vergnuͤgungs⸗ und Turnvereinen beſonders Arbeiterbildungsvereine, in denen fuͤr die Augen und Ohren der offenen und geheimen Polizei alle möglichen unge;

284 Seinrich Schulz

faͤhrlichen Belehrungsvortraͤge gehalten wurden, um den politiſchen Zweck unauffaͤllig nebenbei zu erreichen.

Die von Wilhelm Liebknecht 189] veranlaßte Gruͤndung der Arbeiter⸗ bildungsſchule in Berlin and auch noch in dieſem Zeichen. Zwar kam in ihr bereits in ſtarker Weiſe die durch den Fall des Sozialiſtengeſetzes geſteigerte Selbſtbeſinnung der Arbeiter auf ihre eigene Kraft und Macht zum Aus druck; aber in geiſtiger Beziehung ſtand die Neugruͤndung noch unſicher auf ihren Süßen. Es fehlte an brauchbaren Lehrern und an geeigneter Literatur. Wohl wurden die Arbeiter in einem eigenen Verein mit fchul- maͤßigem Charakter zuſammengefaßt; aber die Lebrmetbode war unpaͤ⸗ dagogiſch. Der Lehrſtoff wurde ziemlich wahllos allen moͤglichen Gebieten entnommen; man ſah ihn wohl mit ſozialiſtiſchen Augen an, wußte ihn aber noch nicht ſozialiſtiſch zu bezwingen. Dazu füllten Unterrichtsgegen⸗ ſtaͤnde elementarer Art, die mit dem Sozialismus an ſich nichts zu tun bat- ten, wie Schreiben, Rechnen, Buchführung, Stenographie den Hauptteil des Lehrplans. Dieſe Unterrichtsfaͤcher hatten bezeichnender Weiſe gerade den groͤßten Zulauf, was wohl auf einen allgemeinen Bildungswillen der Arbeiter ſchließen ließ, aber doch auch gleichzeitig verriet, daß die Maſſen der Arbeiter das eigentliche Ziel der ſozialiſtiſchen Arbeiterbildung noch nicht erkannt hatten. Alles in allem: viel ehrlicher und guter Wille, aber noch unſicher im Ziel und unzureichend im Erfolg.

Ahnlich ſtand es um die kuͤnſtleriſchen Veranſtaltungen. Während des Sozialiſtengeſetzes hatten die verfolgten und gehetzten Sozialdemokraten genug mit der Erhaltung ihrer nackten politiſchen Exiſtenz, in vielen Säl- len ſogar mit dem Schutz ihres Lebens zu tun. Da blieb für kuͤnſtleriſche Geſtaltung des Lebens weder Zeit, noch Kraft, noch Stimmung. Das Be⸗ duͤrfnis war zwar auch da und ſetzte ſich hier und da naiv · unkuͤnſtleriſch durch. Duͤrftige Photographien oder Bilderkliſchees der Fuhrer ſchmuckten die Wände. Das bekannte Bild, auf dem Laſſalle in heldenhafter Saltung eine Fahne ſchwingt, konnte man in vielen Arbeiterhaͤuſern ſehen, links und rechts daneben hingen ſozialiſtiſche Sinnſpruͤche und geſtickte Sausſegen.

In den Arbeitergeſangvereinen, die ausſchließlich Maͤnnerchoͤre waren, berrfchte die Tendenz unumſchraͤnkt auf Koften der kuͤnſtleriſchen Leiſtung. Die Dichtkunſt kam gleichfalls faſt nur als Tendenzpoefle zur Geltung, gute Dichtungen von Seine und Freiligrath wechſelten mit grundſatzfeſten, aber kuͤnſtleriſch maͤßigen Gelegenheitsgedichten und gereimten Leitartikeln. Vorgetragen wurden ſie von den Arbeitern ſelber, wobei guter Wille und innere Empfindung einſpringen mußten, wenn die kuͤnſtleriſche Leiſtung verſagte. Theaterauffuͤhrungen ſahen die Arbeiter faſt nur bei feſtlichen Gelegenheiten und hier wiederum nur in Form von dichteriſch wertloſen Tendenzſtuͤcken. Alles in allem auch in kuͤnſtleriſcher Beziehung der gute Wille, mit der Kultur gute Beziehungen herzuſtellen, aber mangels ur⸗ ſpruͤnglicher Kraft und ſachverſtaͤndiger Silfe nur gutgemeinte, unzulaͤng⸗ liche Anfänge.

ie zweite Phaſe der Arbeiterbildung reicht vom Ende des Sozialiſten⸗ geſetzes bis zum Ausbruch des Krieges. Sie wird beſtimmt durch das

Dhafen der Arbeiterbildung | 285

gewaltige Wachstum der deutſchen Arbeiterbewegung während dieſes Zeitraumes auf gewerkſchaftlichem und politiſchem Gebiet. Die Behand⸗ lung der Partei durch die bürgerliche Geſellſchaft zwang fie zu einer Politik negativer Gppoſition. Aber mehr und mehr erſtarkten die Erkenntnis und der Wille, als größte Partei des deutſchen Volkes mit Millionen von Reichstagswaͤhlern nicht nur negativ in der Gppoſition tätig zu fein, ſon⸗ dern Kraft und Können der organifierten Arbeiterſchaft auch pofttiv und aufbauend einzuſetzen.

Dieſer Zwieſpalt zwiſchen der klar erkannten Notwendigkeit zu ſachlicher Mitarbeit und der hindernden Saltung der herrſchenden Klaſſen führte in- nerhalb der Sozialdemokratie zu dem jahrelangen Kampf zwifchen Kadika⸗ lismus und Revifionismus. Leider mußten dieſe Kämpfe praktiſch un⸗ fruchtbar bleiben, weil trotz aller theoretiſchen Richtigkeit der reviſtoniſti⸗ ſchen Gedankengaͤnge die ſtaatsrechtlichen und politiſchen Verhaͤltniſſe in Deutſchland und der Geiſt der herrſchenden Parteien praktiſch dem Radika- lismus immer wieder Recht gaben. Aber die Kämpfe führten doch zu einer ſtarken geiſtigen Aufruͤttelung der Arbeiter, zu eingehender Beſchaͤftigung mit den theoretiſchen Grundſaͤtzen und den programmatiſchen Forderungen des Sozialismus. Die Erfolge der Partei bei den Wahlen und der Vor⸗ marſch der Gewerkſchaftsbewegung ſowie die vielen ſiegreichen gewerk⸗ ſchaftlichen Kämpfe ſtaͤrkten immer mehr das Selbſtgefuͤhl und das Kraft bewußtſein der ſozialiſtiſchen Arbeitermaſſen. Alle ihre Energien ſammel⸗ ten ſich wie in einem ungeheuren Staubecken in den großen politiſchen und gewerkſchaftlichen Organiſationen, die die ſcharfſichtigeren bürgerlichen Politiker teils mit Bewunderung, teils mit geheimer Sorge erfüllten. Daraus erklaͤrt ſich auch die Angſt der herrſchenden Schichten bei Ausbruch des Krieges, wohin ſich in jener Schickſalsſtunde des deutſchen Volkes die bisher gebaͤndigten Kraͤfte des Sozialismus wohl wenden wuͤrden.

Die Bildungsarbeit der Arbeiter loͤſte ſich in dieſem ZJeitabſchnitt ſowohl in organiſatoriſcher als auch in geiſtiger Beziehung von der bisherigen buͤrgerlichen Bevormundung. Man gruͤndete nicht mehr Arbeiterbildungs⸗ „vereine“, in denen wohlmeinende buͤrgerliche Ideologen wohlmeinend und bereitwillig von dem Überfhuß ihres Wiſſens an Arbeiter abgaben. Man ſah in der „Bildung“ nicht mehr eine Vereins angelegenheit und eine pflicht von Vereins mitgliedern, ſondern eine ſelbſtverſtaͤndliche Pflicht aller organifierten Arbeiter. So entſtanden die „Bildungsausſchuͤſſe“ als die berufenen Organe zur weckung des Bildungsbeduͤrfniſſes der Arbeiter und zu ſeiner Befriedigung. Das innere Leitmotiv war, daß die Arbeiter ſich nicht laͤnger mehr mit den Broſamen von den Tiſchen der geiſtig beſſer Situierten begnügen dürften. Man beſann ſich auf den Reichtum der ſo⸗ zialiſtiſchen Literatur, auf die hinreißenden Propagandaſchriften Laſſal⸗ les, auf die grundlegenden wiſſenſchaftlichen Werke von Marx und Engels. Dabei wurde zugleich eine planmaͤßige Übermittlung angeſtrebt, die den Nachdruck weniger auf die Maſſe des zu erlernenden Stoffes als auf die Er⸗ ziehung zum logiſchen Denken, auf die ſozialiſtiſche Betrachtungsweiſe und auf die Achtung vor der wiſſenſchaftlichen Arbeit uͤberhaupt legte. In ſtofflicher Beziehung wurden die Wiſſensgebiete bevorzugt, die die unmittel⸗

286 Seinrich Schulz

baren Naͤhrquellen des wiſſenſchaftlichen Sozialismus waren: National · oͤkonomie, Geſchichte, Soziologie ſowie vor allem die Theorie des Sozialis⸗ mus ſelber. Die übrigen Wiſſensgebiete, Naturwiſſenſchaften, Literatur, Philoſophie, das Erziehungsweſen, wurden dabei nicht uͤberſehen. In kuͤnſtleriſcher Beziehung bemuͤhte man ſich, den Anſchluß an die kuͤnſtle⸗ riſche Kultur im allgemeinen, an die unferer Zeit im beſonderen, zu gewin⸗ nen. Die Geſangvereine ſchloſſen ſich zu größeren leiſtungsfaͤhigen Kör- pern zuſammen und verſchafften ſich ſachkundige kuͤnſtleriſche Leitung, ſo daß ſehr bald achtbare Leiſtungen zuſtande kamen. In den Anfang der neunziger Jahre fällt auch die Gruͤndung der Volksbühne, dieſes außer⸗ ordentlich bedeutſamen Faktors für die kuͤnſtleriſche Volkserziehung. Wenn auch eines der Sauptziele bei der Gruͤndung der Volksbuͤhne, die Anregung und Belebung des dramatiſchen Schaffens, nicht erreicht wurde, ſo hat doch die Volksbuͤhne von Anfang an für Spielplan und Darſtellung die ſtreng⸗ ſten kritiſchen Maßſtaͤbe gewahrt. Neben der Volksbuͤhne, die in den erſten 20 Jahren faſt nur in Berlin eine lebensfaͤhige Form gefunden hatte, ſuch⸗ ten im übrigen Deutſchland die Bildungsausſchuͤſſe durch kuͤnſtleriſch wert⸗ volle Volke vorſtellungen in den ſtaͤndigen Theatern den Wunſch der Ar- beiter nach guter Buͤhnenkunſt zu befriedigen.

Mit Kunſtabenden machte die Arbeiterbildungsſchule in Berlin Mitte der neunziger Jahre den Anfang. 1896 begann fie mit einer kuͤnſtleriſchen Peſtalozzifeier zur Erinnerung an den 150. Geburtstag Peſtalozzis. Ihr folgte bald darauf ein Goetheabend, der auf hoher kuͤnſtleriſcher Warte ſtand. Im Jahre 1897 ließ fie einen modernen Dichter und Romponiſten ; abend folgen, in dem lebende Dichter und Muſiker, zum Teil mit bis dahin unveröffentlichten Werken, zu Wort kamen. Ahnliche Abende wurden bald darauf auch in anderen Grten veranſtaltet. Fur alle kuͤnſtleriſchen Deran- ſtaltungen galt der Grundſatz: Feine dilettantiſche Spielerei, ſondern im- mer und in jedem Falle eine einwandfreie kuͤnſtleriſche Leiſtung. Es war nicht einfach, dieſen Grundſatz durchzufuͤhren, da ſelbſt die ausuͤbenden Künftler anfangs mit der allgemeinen Scheu des Buͤrgertums vor der Zu; ſammenarbeit mit der Sozialdemokratie ſelbſt auf völlig unpolitiſchen Ge⸗ bieten zu kaͤmpfen hatten; mehr als einmal wurde ein Kunftabend in Frage geftellt, weil ein Künftler oder eine Nuͤnſtlerin im letzten Augenblick abſagten. Der Vorwand war dabei meiſtens fo durchſichtig, daß man da- hinter leicht die Sorge des Kuͤnſtlers vor der drohenden Verfemung durch feine bürgerlichen Brotgeber erkannte.

Noch ſchwieriger war es, fuͤr die wiſſenſchaftliche Bildungsarbeit die ge⸗ nuͤgende Zahl geeigneter wiſſenſchaftlicher Perſoͤnlichkeiten zu finden. Die wenigen ſozialiſtiſchen wiſſenſchaftler waren faſt alle durch andere Taͤtig · keit gebunden, nichtſozialiſtiſche aber faſt ausſchließlich gleichzeitig anti⸗ ſozialiſtiſch geſinnt. Die erſte Aufgabe der ſich neu organifierenden Bil- dungsarbeit war deshalb die Gewinnung und Seranbildung wiſſenſchaft⸗ licher Perſoͤnlichkeiten mit ſozialiſtiſcher Überzeugung, wie ſie fuͤr die eigent · liche und wichtigſte ſozialiſtiſche Bildungsarbeit: fuͤr die Schulung der Ar⸗ beiter zu ſozialiſtiſchem Denken zum Eindringen in die ſozialiſtiſche Theorie und zum Erkennen der geſchichtlichen Juſammenhaͤnge vom Standpunkt

Phaſen der Arbeiterbildung 287

der materialiſtiſchen Geſchichtsauffaſſung aus unbedingt nötig waren. Fuͤr die anderen Wiſſenszweige, fo für die Naturwiſſenſchaften, war eine fo: zialiſtiſche Uberzeugung des Lehrers keine unbedingte Vorbedingung, aber fie war doch erwuͤnſcht, nicht etwa, um die Naturwiſſenſchaften nach fo- we sa Bedärfniffen zurecht zu biegen, wohl aber um das Gegenteil zu verhůͤten

Die ſozialiſtiſche Bildungsarbeit war demgemaͤß im weſentlichen auf So⸗ zialdemokraten als Lehrer und Soͤrer beſchraͤnkt. Da das geſellſchaftliche Ghetto, in dem die Sozialdemokratie nach wie vor gefangen gehalten wur- de, verhinderte, daß die Arbeiter unmittelbar an die Quellen des kulturellen Lebens heran konnten, mußte die Kultur gewiſſermaßen von außen her mit Eimern in das Ghetto getragen werden. Wenn die Bildungsarbeit jener Zeit dadurch einen ſtark politiſchen Einſchlag erhalten hat, fo lag Schuld daran nicht an der Sozialdemokratie, ſondern an den gefellfchaft- lichen und politiſchen Zuſtaͤnden in Deutſchland, die die Sozialdemokratie zu ſtarker Einſeitigkeit zwangen.

hrend des Krieges begann die dritte Phaſe der Arbeiterbildung. Bis dahin hatte die Bildungsarbeit aus der Not ihrer Iſolierung eine Tugend gemacht: fie hatte ſich auf ihr eigentliches Weſen beſonnen, ihre eigenen Ziele aufgeſtellt und eigene Wege zu dieſen Zielen eingeſchla⸗ gen. Zu der buͤrgerlichen Bildungsarbeit beſtanden keinerlei Beziehungen; wo fie von buͤrgerlicher Seite her verſucht wurden, waren die Arbeiter mißtrauiſch aus der berechtigten Sorge heraus, es koͤnnten politiſche Ne⸗ benabſichten dahinter ſtecken. Daß die ſozialiſtiſche Bildungsarbeit die Me⸗ thoden der bürgerlichen Bildungsarbeit dabei nicht unterſchaͤtzte und aus den Augen verlor und das Gute darin zu erkennen und fuͤr ſich zu verwen⸗ den ſuchte, iſt ſelbſtverſtaͤndlich.

Im ſogenannten „Burgfrieden“ während der ſchweren Kriegszeit wurde auch eine Annaͤherung der verſchiedenen Bildungsorganiſationen ver⸗ ſucht. In Weimar fand im Jahre 1916 eine Konferenz ſtatt, die von den zentralen Bildungsorganiſationen der verſchiedenen Richtungen, den ka⸗ tholiſchen, evangeliſchen, liberalen, interkonfeſſionellen und ſozialiſtiſchen Organiſationen beſchickt war. Ich legte in jener Konferenz Wert darauf, daß Feine Verwiſchung des eigentlichen Wefens der einzelnen Organiſa⸗ tionen angeſtrebt werden duͤrfe; man koͤnne in Fragen der Bildungstechnif weite Strecken gemeinſam gehen und ſich gegenſeitig helfen, duͤrfe dabei aber nicht die eigene Selbſtaͤndigkeit aufgeben, beſonders in der inneren Zielſetzung und Geſtaltung muͤſſe den Verbaͤnden die vollſte Unabbängig- keit verbleiben, einer Majoriſierung in dieſen Fragen würde die ſozialiſtiſche Bildungsarbeit ſich unter keinen Umſtaͤnden unterwerfen. Der „Ausſchuß der deutſchen Volksbildungsverbaͤnde!, der auf dieſer Grundlage zuſtande kam, hat etwa ſechs Jahre lang beſtanden, eine rechte Wirkſamkeit aber nicht entfalten konnen, weil die Gegenſaͤtze über Weſen und Aufgaben der Volksbildung zu groß waren, und zwar ſtets zu langen und gelegentlich auch anregenden Debatten führten, aber praktiſch unfruchtbar blieben.

Der Grundſatz, der den Ausſchuß zunaͤchſt zuſammen gehalten hatte,

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ſetzte ſich indeß doch durch, nachdem mit der Beendigung des Krieges und mit den neuen volksſtaatlichen Verhaͤltniſſen andere Bedingungen für die politiſchen und gewerkſchaftlichen Arbeiterorganiſationen geſchaffen wor⸗ den waren. In vielen Freiſtaaten und in zahlloſen Gemeinden hatten die Sozialdemokraten die Mehrheit in Geſetzgebung und Verwaltung erbal- ten. Zu den Sauptſchlagwoͤrtern während der Revolutions monate gehoͤrte die Forderung der „Volkshochſchule“, unter der organiſatoriſch die ver⸗ ſchiedenſten Dinge verſtanden wurden, die aber doch ſchließlich uberall ma⸗ terielle und ideelle Kräfte für die Volksbildung in Bewegung ſetzte. Dazu trat die Notwendigkeit der Koalition der Parteien auf dem viel ſchwierige⸗ ren politiſchen Gebiete und ein Zuſammenwirken der weltanſchauungen mannigfaltiger Art. Ein Zuſammenarbeiten in der Volksbildungs arbeit ergab ſich daher um ſo leichter, beſonders in den Staͤdten und Gemeinden, in denen vielfach die Volksbildungsarbeit mit Recht! zur offentlichen Angelegenheit gemacht wurde. Die Gemeinde ſtellt Räume und Geldmittel zur Verfugung, in die die verſchiedenen oͤrtlichen Bildungsorganiſationen ſich zu teilen hatten, oder die oͤrtlichen Verbaͤnde ſetzten gemeinſame Aus ſchuͤſſe ein, die im Juſammenwirken mit der gemeindlichen Verwaltung be- lehrende und kuͤnſtleriſche Veranſtaltungen einrichteten.

Dabei verblieb den Bildungsorganiſationen ihr weltanſchauliches Son- derziel zur eigenen Pflege. Die Arbeiterbildung ſieht dieſes Ziel in der Schu · lung der Arbeiter zur theoretiſchen Erkenntnis und zur praktiſchen An- wendung des Sozialismus. Können die Arbeiterbildungsausſchuͤſſe in an- deren Fragen, in kuͤnſtleriſchen Feiern, in naturwiſſenſchaftlicher Beleb- rung, im Buͤchereiweſen, mit den buͤrgerlichen Bildungs vereinen zufam- mengehen, in der Pflege des Sozialismus konnen fie nur allein marſchieren. Je weniger fie genötigt find, wie einſt einen großen Teil ihrer Kraft den unpolitiſchen Aufgaben zuzuwenden, um ſo mehr koͤnnen ſie ihre Mittel und Kraͤfte auf ihr Sauptziel konzentrieren.

In organiſatoriſcher Beziehung konnten die Bildungsausſchuͤſſe bei behalten werden. Sie haben ſich bewaͤhrt und ſind elaſtiſch genug, um auch allen Anſpruͤchen der neuen Aufgaben und Methoden zu dienen. Auch die Gliederung der Arbeiterbildung nach den beſonderen Beduͤrfniſſen der ge⸗ werkſchaftlichen und der politiſchen Arbeit, die ſich ſchon vor dem Krieg zwanglos gebildet hatte, wobei ein Juſammenwirken beider von den oͤrt⸗ lichen Ausfchüffen an bis zu den Zentralen eine Selbſtverſtaͤndlichkeit war, hat ſich erhalten und bewaͤhrt ſich auch weiterhin auf das Beſte.

Neuerdings ſetzt ſich eine Bewegung zu weiterer kraftvoller ZJuſammen ; faſſung und Staͤrkung der Arbeiterbildung durch. Alle kulturell taͤtigen Verbaͤnde der Arbeiterbewegung ſind bemuͤht, ſich zu gemeinſamer Arbeit zuſammenzuſchließen. Seute wirken die kulturellen Beſtrebungen der Ar⸗ beiterklaſſe, die Bildungsbewegung, die Jugendbewegung, die paͤdagogi⸗ ſchen Einrichtungen, die kuͤnſtleriſchen Verbände für Theater, Konzerte und Feiern, die Geſangspflege, die Koͤrperkultur, der Jungſozialismus, die ſozialiſtiſchen Studenten und aͤhnliche Beſtrebungen, nebeneinander, oft durcheinander und gelegentlich auch gegeneinander. Sie alle wollen auf einen gemeinſamen Nenner gebracht und zu einer Geſamtbewegung zu

Pbaſen der Arbeiterbildung 289

ſammengefaßt werden. Dieſe Juſammenfaſſung ſoll aber nicht zu einer ſchematiſchen Zentraliſierung und Schablonifierung führen. Auch durch ein Machtwort kann hier nichts erreicht werden. Die verſchiedenen Ver⸗ einigungen ſuchen zunaͤchſt, in der Regel unter Fuͤhrung der Bildungs⸗ organiſation, fuͤhlung zu nehmen und zu prüfen, ob fie ſich zu einem Zweck verband oder zu einer Arbeitsgemeinſchaft, wenn auch vorläufig nur zu loſer Zuſammenarbeit, verbinden koͤnnen. Es wird ſich bald ergeben, daß es zahlreiche Angelegenheiten kultureller Art gibt, in denen gemein ſames Handeln notwendig iſt. In anderen Fragen wird man ſich auf gegenſeitige Beratung und Unterſtuͤtzung beſchraͤnken.

Es iſt zu erwarten, daß auf dieſe Weiſe eine Fulle von Kraft zufammen-

gefaßt wird, die in gegebenen Sällen als bedeutſamer Machtfaktor nach in- nen wie nach außen eingeſetzt werden kann. Nach innen inſofern, als auch der Partei und Gewerkſchaftsbewegung gegenüber in beſtimmten Faͤllen eine einheitliche Vertretung ſozialiſtiſcher Rulturintereffen notwendig und erwuͤnſcht ſein kann. Nicht um eine ſelbſtaͤndige Politik auf kulturellem Gebiet handelt es ſich dabei, denn die Vertretung der politiſchen Intereſſen der Arbeiter bleibt nach wie vor Sache der politiſchen Arbeiterbewegung, der ſozialdemokratiſchen Partei, wie die Vertretung der wirtſchaftlichen Arbeiterintereſſen Sache der Gewerkſchafts · und Genoſſenſchaftsbewegung bleiben muß. Um aber im Parlament die kulturellen Intereſſen richtig und ſachkundig zu vertreten, um ihnen in vielen Faͤllen uberhaupt erſt den rich; tigen Nachdruck zu geben, kann und wird ein ſozialiſtiſcher Kulturbund, in dem ſich Sach verſtand mit Kraft verbindet, vortreffliche Vorarbeit leiſten. Wenn die „Kultur“ in ihrer allgemeinen Bedeutung ſchon eine ſinnvolle Zufammenfaflung der Menſchen zu beſtimmtem Zweck darſtellt, fo iſt mit Sicherheit zu erwarten, daß der freiwillige Juſammenſchluß der erwaͤhn⸗ ten Organiſationen unter dem Zeichen der gemeinſamen ſozialiſtiſchen Kulturintereſſen ſehr bald die gemeinſame Ideologie und die aus ihr berauswachſenden inneren Werte für Geiſt, Gerz und Willen, ebenſo die beſondere kulturſozialiſtiſche Gedanken · und Gefuͤhlswelt erſtehen laſſen wird. Eine ſolche innere Beſinnung und aͤußere Vereinigung aller Mitarbeiter an der ſozialiſtiſchen Kultur und die Kraft ihres vereinigten Willens wird fuͤr den Sozialismus einen wertvollen neuen Machtfaktor und einen neuen Antrieb fuͤr ſeine raſchere Verwirklichung bedeuten. Es werden da⸗ durch viele noch unerſchloſſene und ungelöfte Kraͤfte im Mutterboden Volk freigemacht und dem Sozialismus zugefuͤhrt werden. Einrichtungen und Menſchen, die ſich der reinen politiſchen oder gewerkſchaftlichen Werbung und Arbeit verſchließen, weil ſie unpolitiſch ſind oder vom Standpunkt ihrer wiſſenſchaftlichen oder kuͤnſtleriſchen Arbeit bis heute keine Bruͤcke zu der politiſchen Arbeit der Sozialdemokratie ſahen, werden durch die ſo⸗ zialiſtiſche Kulturarbeit leichter zu gewinnen fein.

Über die tiefere Bedeutung des Sozialismus, über feine Wirkungen auf die Seele des Menſchen wiſſen wir noch verhaͤltnismaͤßig wenig. Die älte- ren Sozialdemokraten haben davon noch eher einen Sauch verſpuͤrt, da fuͤr fie das Bekenntnis zum Sozialismus ſehr oft zugleich ein ſchweres Opfer Tat xv 20

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war und Maͤrtyrertum und Entſagung bedeutete. Aber bei den jüngeren Generationen und in der Gegenwart bedeutet das Bekenntnis zum So⸗ zialismus laͤngſt kein Opfer mehr, die ſtarke ſeeliſche Anregung, die ſolche Opferbereitſchaft einſt bedeutet, kommt heute kaum noch zur Geltung. Un⸗ f = ua waͤchſt in den Sozialismus wie in eine Selbſtverſtaͤndlichkeit hinein.

Da iſt es eine hohe Aufgabe für die kulturſozialiſtiſche Bewegung, über das engere Gebiet der Politik hinaus das weite Feld des Sozialismus immer wieder neu zu durchforſchen und neue Gebiete zu entdecken und zu beftellen. Moͤge dieſe neueſte Phaſe der Arbeiterbildung den Arbeitern und dem So⸗ zialismus ebenfo zum Segen gereichen, wie dies die fruheren Stufen der Arbeiterbildung im Einklang mit den damaligen wirtſchaftlichen politi⸗ 5 . und Verhaͤltniſſen in fo reichem Maße zu tun ver⸗ mochten |

Hendrik de Man Arbeiterbildung in der Welt

uch die Arbeiterbildung hat ihre Internationale. Ein erſter Ver⸗

ſuch, die Vertreter der wichtigſten nationalen Arbeiterbildungs-

entralen zu einer mehrtaͤgigen Konferenz zuſammenzubringen, die den Teilnehmern einen Überblick über die Ceiſtungen in den andern Laͤn⸗ dern bot, gluͤckte der belgiſchen Arbeiterbildungszentrale im Dezember 1913. Der weltkrieg zerriß den da angeknuͤpften Faden. Er wurde 1922, wiederum auf belgiſche Einladung, erneut aufgenommen. Eine Konferenz der wichtigſten Landeszentralen 35 Delegierte aus JJ Ländern tagte mehrere Tage in den Räumen der Bruͤſſeler Arbeiterhochſchule. Ein ſtaͤn⸗ diges Bureau zur Vorbereitung weiterer Konferenzen wurde beſchloſſen; ſeine Einrichtung wurde dem Amſterdamer Internationalen Gewerk⸗ ſchaftsbund übertragen, der einen feiner Sekretaͤre, J. W. Brown, mit der Geſchaͤftsleitung beauftragte. Die zweite Konferenz, die 1924 in Oxford im „Ruskin College der engliſchen Gewerkſchaften abgehalten wurde, war bereits viel umfaſſender: 61 Vertreter aus 20 Ländern. Über die Brüffeler und Orforder Konferenzen find im Verlag des Amſterdamer Ge⸗ werkſchaftsbundes in Broſchuͤrenform ausfuͤhrliche Berichte erſchienen, die auch eine gedraͤngte Schilderung der Arbeiterbildungseinrichtungen in den vertretenen Ländern enthalten.

Es iſt nicht leicht, in dem Chaos der Einzelheiten, die bei alledem her⸗ vortreten, die weſentlich differenzierenden Geſichtspunkte zu entdecken. Das Bild, das auf einer Konferenz der A.⸗B.⸗ Internationale geboten wird, iſt noch bunter als das einer gewerkſchaftlichen oder politiſchen Arbeiter⸗ internationale. Denn die Organiſationen für Erwachſenenerziehung im Dienſte der Arbeiterbewegung unterſtehen hier einer ſozialdemokratiſchen Partei, dort einem politiſch neutralen Gewerkſchaftsbunde, anderswo einem Genoſſenſchafts verband; alle Geiſtesſtroͤmungen, die in irgend einem

Arbeiterbildung in der Welt 291

Sluͤgel der Arbeiterbewegung eines Landes vorhanden find, finden in ihnen einen Ausdruck. Obwohl Rußland und die Parteien der dritten Interna⸗ tionale in der A.- B.⸗ Internationale nicht aufgenommen find, um die be- ſtehende Verwirrung nicht noch durch Sineintragen politiſch⸗propagan ; diſtiſcher Streitfragen zu vermehren, iſt der Kommunismus aus ihr doch nicht ganz abweſend, denn fein Standpunkt findet auf dem linken Fluͤgel der engliſchen Bewegung beredte und aggreſſive Vertreter.

Es iſt an dieſer Stelle wohl am wichtigſten, ſtatt die organiſatoriſchen Einzelheiten aus aller Serren Länder zu erörtern, die der Intereſſent in den erwähnten Konferenzberichten finden kann, einen Einblick in die gei« ſtige Eigenart der allgemeinen Sauptſtroͤmungen zu gewinnen.

Da treten vor allem vier typiſche Grundanſchauungen hervor, die ich nach ihren hervorragendſten Vertretern die deutſche, die amerikaniſche, die engliſche und die belgiſche nennen möchte. So ſehe ich wenigſtens die Dinge auf Grund meiner nahen perſoͤnlichen Teilnahme an den geſchilderten internationalen Beſtrebungen bis Ende 1922 und meiner praktiſchen Taͤ⸗ tigkeit im Arbeiterbildungsweſen Belgiens, Deutſchlands, Englands und Amerikas, was meiner Betrachtungsweiſe zugleich die objektiven Vorzüge und die ſubjektiven Nachteile des perſoͤnlich Miterlebten verleihen dürfte.

Den deutſchen Typ moͤchte ich politiſch⸗dogmatiſch, den amerikaniſchen gewerkſchaftlich⸗ utilitariſch, den engliſchen eklektiſch und den belgiſchen ſynthetiſch nennen.

Der deutſche Typ iſt neben Deutſchland auch fuͤr die deutſchſprechenden und germaniſchen Länder Europas (Deutſch⸗Oſterreich, die deutſche Schweiz, Holland, die ſkandinaviſchen Länder) maßgebend, wie die So⸗ zialdemokratie und die „freien Gewerkſchaften“ für die Arbeiterbewegung dieſer Länder ů berhaupt. Am beſten kommt er in der Taͤtigkeit des Reichs; ausſchuſſes für ſoz. Bildungsarbeit und der Seimvolkshochſchule Tinz zum Ausdruck. Ich weiß wohl, daß in den letzten Jahren manche dem Geiſte nach davon abweichende Neuerungen zutage getreten ſind: die ſtaͤr⸗ kere Neigung einzelner oͤrtlicher Bildungsausſchuͤſſe vom politiſch⸗auf⸗ Plärerifchen hinweg auf das kulturell · bildende zu, die vom foztal-PonftruP- tiven Geiſte der jungen Republik getragene Akademie der Arbeit und die Wirtſchaftsſchulen, wohl auch manche mehr oder weniger vom traditionel⸗ len Gehalt der politiſchen Ideologie emanzipierte gewerkſchaftliche Be⸗ ſtrebung. Ich weiß auch, daß ſogar die politiſchen und gewerkſchaftlichen Berliner Reichszentralen in letzter Zeit angefangen haben, die Schwen⸗ kung mitzumachen, die ſich in der Gruͤndung von Kulturkartellen und der- gleichen dokumentiert. Jedoch dieſe Abweichungen von dem fruͤheren Ty- pus aͤndern nichts an der Tatſache, daß Deutſchland beſonders in ſeiner Wirkung auf die Nachbarlaͤnder die Norm geſtellt hat, die ſich aus der aus⸗ geſprochen marpiſtiſchen Särbung der deutſchen ſozialiſtiſchen Ideologie er⸗ gibt. Das bedeutet nicht nur: die Arbeiterbildung im Dienſte des Klaſſen⸗ kampfes ſondern darüber hinaus: die Arbeiterbildung als Vermittlerin jenes beſonderen theoretiſchen Wiſſensinhalts, der dem marxiſtiſchen Be⸗ griff des Klaſſenbewußtſeins zugrunde liegt. Die Theorie ſteht hier am An⸗ fang. Ein fertiges Syſtem von ſozialwiſſenſchaftlichen Glaubensſaͤtzen iſt

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ſchon da, und nun gilt es, dieſes Wiſſen den Maſſen, oder wenigſtens ihrer theoretiſch intereſſierten Minderheit, zu vermitteln. Die geiſtige Solgerich- tigkeit und organiſatoriſche Tuͤchtigkeit, womit beſonders ſeit I906 in Deutſchland an dieſem Programm gearbeitet wird, laͤßt fuͤr den Weſteuro⸗ paͤer ſowohl die Vorzuͤge wie die Schwächen dieſer Einſtellung beſonders deutlich hervortreten. Als Vorzug erſcheint dabei die ſcharfe Serausarbei ; tung des Geſichtspunktes, daß die Arbeitermaſſen nicht wie bei der her⸗ koͤmmlichen bürgerlichen Bildungsphilanthropie Objekte, ſondern Sub⸗ jekte der Erziehung ſein ſollen: ihre Bildungsinſtitute ſollen an die be⸗ ſtehende Klaſſenlage, an die Klaſſenintereſſen, an die ſozialen und politi⸗ ſchen Klaſſenzielſetzungen anknuͤpfen. Die Art, wie zum Beiſpiel Seinrich Schulz ſchon vor zwei Jahrzehnten dieſen Geſichtspunkt herausgearbeitet hat, hat im Ausland auch weſtlich vom Rhein vielfach ſtarken Wider⸗ hall gefunden und auch dort bei den kritiſchen Auseinanderſetzungen mit den „bürgerlichen“ Erziehungstheoretikern entwicklungsfoͤrdernd gewirkt. Weniger anziehend erſchien den Sozialiſten des demokratiſchen und in⸗ dividualiſtiſchen Weſtens die Tatſache, daß die deutſche Anſchauung die Forderung des Subjekt ⸗Werdens in ihrer paͤdagogiſchen Tatigkeit auf die Klaſſe beſchraͤnkte, ſtatt ſie auf den Arbeiter als Einzelmenſchen auszu⸗ dehnen. Daher vom weſten aus geſehen eine Beſchraͤnkung auf den Aufklaͤrungsſtandpunkt (die Erweckung zum Klaſſenbewußtſein als Ge⸗ winnung der rationellen Erkenntnis geſellſchaftlicher Entwicklungs⸗ geſetze) auf Koften der individuellen Charakterbildung; daher auch eine ge⸗ wiſſe Geringſchaͤtzung der ethiſchen und aͤſthetiſchen, kurzum der kulturel⸗ len Aufgaben, die nicht mit dieſem Erkenntnisſtandpunkt begruͤndet wer⸗ den konnten; daher endlich der autoritative, oft gar an die Schule des Gbrig⸗ keitsſtaates gemahnende Charakter der Lehrmethoden. Dieſe ſetzen eben beim Lehrenden den Beſitz eines abgeſchloſſenen Syſtems von Schlußfolge⸗ rungen voraus, das dem Lernenden nur noch „mitgeteilt“ und „begreif- lich gemacht“ werden ſoll.

Daraus erklaͤrt ſich wohl, daß auf die Zeit beſonders das letzte Jahr⸗ zehnt vor dem Kriege —, wo die Deutſchen eigentlich die Cehrmeiſter der „Arbeiterbildungs internationale“ zum mindeſten auf dem europaͤiſchen Feſtland waren, eine Reaktion folgte, die bis auf den heutigen Tag an⸗ dauert. Während dieſer Zeit richtete man weſtlich vom Rhein die Blicke vielmehr auf die angelſaͤchſiſchen Laͤnder, wo insbeſondere dank dem Aufſchwung der gewerkſchaftlichen Arbeiterpartei Englands allerlei ge⸗ leiſtet wurde, das zwar auch autochthone Arbeiterbildung im Dienſte einer Klaſſenbewegung war, aber weniger doktrinaͤr⸗aufklaͤreriſch, mehr auf die vielſeitigen praktiſchen Beduͤrfniſſe der individuellen Taͤtigkeit zugeſchnit⸗ ten. In der allerjuͤngſten Zeit macht ſich zwar wieder eine gefteigerte Be⸗ wunderung für deutſche Leiſtungen bemerkbar: das Suchen der Jugend⸗ bewegung nach einer neuen Lebensform, wenigſtens im Seiertäglichen, die neue Feſtkultur bei gewiſſen Maſſendemonſtrationen, die jungſozialiſtiſchen Verſuche zur Verjuͤngung der ſozialiſtiſchen Geſinnung vom etbifch-reli- gioͤſen Erleben her, und die Leiſtungen einiger lokalen Bildungsaus ſchuͤſſe, die wie vor allem die Leipziger mit ihrem „Rulturwillen”

Arbeiterbildung in der Welt 293

die „Klaſſenkampfaufgabe“ bewußt zur „KNulturaufgabe“ zu erweitern ſuchen. Die Keichsarbeiterjugendtage ſeit Weimar und die Frankfurter Arbeiter Olympiade haben in der Sinſicht einen tiefen Eindruck auf die Auslaͤnder gemacht, die dieſe Tagungen als Teilnehmer oder durch Be⸗ richte miterlebt haben. Jedoch man hat bisher im weſtlichen Auslande von den dort empfangenen Anregungen erſt wenig in die Praxis umzuſetzen verſucht: nur in Solland hat man das „deutſche Muſter“ der Kulturbe⸗ wegung der Arbeiterjugend erfolgreich hier und da, wie mir ſcheint, ſo⸗ gar Überlegen nachgeſtaltet, in Belgien find erſt im vlaͤmiſchen Landes teil lokale Anfänge gemacht, und in England iſt kaum eine ſchwache Wir⸗ kung zu verſpuͤren. Wie dem auch ſei: Deutſchlands Arbeiterbildung wirkt in letzter Zeit nur gerade in dem Maße international anregend und befruch- tend, wie fie ſich in ihrer Praxis von dem vorhin geſchilderten „klaſſiſchen“ Typ der marxiſtiſch⸗aufklaͤreriſchen Tätigkeit, wie fie zwiſchen Joos und 1914 ihren Soͤhepunkt erreichte, wieder abwendet. Das Bild, das man ſich im Auslande insbeſondere von den zentralen, „Berliner“ Beſtrebungen der Partei und Gewerkſchaftsorganiſationen in Bildungsſachen macht, entſpricht zu Recht oder zu Unrecht in feinen großen Jugen noch im; mer jenem Bilde der Vorkriegszeit; und die Grunde, die es weniger an⸗ ziehend machen, fallen letzten Endes mit den hiſtoriſchen und national⸗ pſychologiſchen Urſachen zuſammen, die den Weſteuropaͤer und Angelſach⸗ ſen ſchon rein gefuͤhlsmaͤßig gegen den Marxismus einnehmen: er erſcheint ihnen zu trocken und ſtarr, zu abſtrakt · doktrinaͤr, zu zyniſch ⸗materialiſtiſch, zu autoritaͤr in ſeinen Zielſetzungen, zu pedantiſch in ſeinen Methoden. Im aͤußerſten Gegenſatz zu dem deutſch⸗marxiſtiſchen Typ ſteht der ameri- raniſche. Die große Mehrzahl der Arbeiterbildungseinrichtungen in den Vereinigten Staaten, die dem Workers Education Bureau und damit der A.⸗B.⸗ Internationale angehören, ſtehen im Dienſte und unter Aufficht der Gewerkſchaften der American Federation of Labor. Diefe oder viel ; mehr der größte Teil ihrer Berufsverbände, die etwa / der Geſamtmit ; gliedſchaft vertreten tragen das Bureau finanziell mit einer jaͤhrlichen Sonderkopfſteuer. Die drei ſtaͤndigen Arbeiterhochſchulen mit Internat die wichtigſte davon Brookwood in Katoonab im Staate New Nork und die etwa 25 Schulen ohne Internat werden in der Sauptfache von den Gewerkſchaften mit Beiträgen unterſtuͤtzt und mit Schülern und Schuͤle⸗ rinnen beſchickt. In den Staaten gibt es bekanntlich keine ſozialiſtiſche Par⸗ tei, die eine irgendwie erhebliche politiſche Rolle ſpielte; die Gewerkſchaften aber halten mit aͤußerſter Energie an ihrem politiſch neutralen Stand⸗ punkte feſt. Das gilt ſogar für ſolche Verbaͤnde, die, wie etwa die Konfek tionsarbeiter (die an der Bildungsarbeit hervorragend beteiligt ſind), in Mitgliedſchaft und Fuͤhrung uͤberwiegend aus ſozialiſtiſchen oder ſonſt po⸗ litiſch⸗ radikal gerichteten Elementen beſtehen. Die Gewerkſchaft vertritt Berufsintereſſen nichts weiter; allerdings mit allen Mitteln, auch mit Silfe der Geſetzgebung und der Verwaltungstaͤtigkeit, aber dann nicht durch Anſchluß an eine Klaſſenpartei. Dieſe praktiſch · utilitariſche Ein⸗ ſtellung (die übrigens einen gewiſſen idealiſtiſchen Schwung nicht aus- ſchließt, freilich im Rahmen der Berufsſolidaritaͤt und der nationalen

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„Volksgemeinſchaft Ideologie“, nicht in der europaͤiſchen Ausdrucksweiſe des politiſchen Klaſſenkampfes) kommt auch in den Bildungseinrichtungen zum Ausdruck. Dieſe gehen von der Frage aus: was braucht der Arbeiter fuͤr ſeine Taͤtigkeit als Organiſationsmitglied, insbeſondere als Grganiſa⸗ tionsführer? Die Antwort iſt natuͤrlich: vor allem praktiſche Nenntniſſe, wie Grganiſationstechnik, Verwaltung, Buchführung, praktiſche Natio⸗ naloͤkonomie zunaͤchſt vom Standpunkte des eigenen Berufes; dazu Poli tik als Verfaſſungskunde und Geſchichte der Parteien und der Tages⸗ fragen, Sozialwiſſenſchaft als konkretes Material zur eigenen Urteilsbil⸗ dung. Unter ſolchen Umſtaͤnden ſtellt ſich die Frage nach „bürgerlicher“ oder „proletariſcher“ wWiſſenſchaft gar nicht erſt; die allermeiſten Cehr⸗ kraͤfte ſind denn auch Akademiker und Lehrer, die den verſchiedenſten poli⸗ tiſchen Richtungen (natuͤrlich einſchließlich der ſozialiſtiſchen) angehoͤren; der „Arbeiter“ Charakter des Unterrichts ergibt ſich bloß aus der gewerk⸗ ſchaftlichen Initiative, aus der Schuͤlerauswahl und aus der praktiſch · or⸗ ganiſatoriſchen Zweckſetzung. Charakteriſtiſch iſt dabei, daß die wichtigſten Einrichtungen (mit Ausnahme des erwähnten Brookwood College) nach Berufs verbaͤnden gegliedert find. Charakteriſtiſch iſt ferner, daß die einzige amerikaniſche Arbeiterhochſchule, die der Socialist Party unterſteht, die New Norker Rand School, dieſer Geſamtbewegung fernbleibt, und ihre Schüler hauptſaͤchlich aus den internationalpolitiſch intereſſterten, zumeiſt juͤdiſchen europaͤiſchen Einwanderern des East End rekrutiert.

Viel weniger einheitlich iſt das Bild, das Großbritannien bietet. Die Ar⸗ beiterbildungsbewegung iſt hier, wie die Arbeiterbewegung uberhaupt, älter (übrigens auch der quantitativen Leiſtung nach bedeutender) als an- ders wo; es gibt noch Bildungsorganiſationen, deren Anfänge bis in das erſte Viertel des neunzehnten Jahrhunderts zuruͤckreichen. Jede Strömung in der Gedankenwelt der britiſchen Arbeiterbewegung der letzten hundert Jahre, vom liberalen Trade ⸗Unionismus bis zum Syndmanſchen Anglo⸗ Marxismus, des genoſſenſchaftlichen Sozialutopismus und des betriebs- raͤtlichen Syndikalismus nicht zu vergeſſen, hat ihre Spuren hinterlaſſen. Es iſt ein weiter weg von dem aͤußerſten rechten Fluͤgel der W. E. A. (Workers Educational Association), in deren Ehrenausſchuß die ange · ſehenſten Fuhrer aller Parteien und die führenden Beamten des Unter richtsminiſteriums vertreten ſind, bis zu der Plebs League, die in ihren Londoner und Glasgower Internatſchulen den rechtglaͤubigen kommu⸗ niſtiſchen Marxismus verkuͤndet. Das merkwuͤrdige iſt nun, daß die Ge; werkſchaftsbewegung und die Arbeiterpartei als Ganzes ſich ſehr wohl mit dieſem ZJuſtande abfinden: die foͤderaliſtiſche Organiſationsform und vor allem die dem praktiſchen Kompromiß zu-, der theoretiſchen Prinzipien; ſpalterei abgeneigte engliſche Mentalitaͤt ermoͤglicht ein Nebeneinander, wo in jedem kontinentalen Lande nur ein Gegeneinander denkbar waͤre. Nicht als ob dieſe verſchiedenen Organiſationen ſich der Unterſchiede in ihrem Charakter nicht bewußt waͤren. Die kommuniſtiſche Plebs League zumal nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn fie der W. E. A. „geiſtige Lakaiendienſte an die Bourgeoiſie“ oder dem Ruskin College „Pleinbürger- lichen Befinnungsbrei” vorwirft; und als Vorſitzender der zwei erſten in⸗

Arbeiterbildung in der Welt 295

ternationalen A.⸗B.⸗ Konferenzen weiß ich, daß es auch bei ſolchen ZJu⸗ ſammenkuͤnften nicht immer leicht iſt, die Klippe dieſer „innerengliſchen“ grundſaͤtzlichen Rontroverſen zu umſteuern. Jedoch im allgemeinen regen ſich nur die unmittelbar Beteiligten daruͤber auf. Die zahlloſen kleinen und großen Gewerk ſchaftsorganiſationen, die von den ebenfalls zahlloſen Colleges, Classes und Vortrags vermittlungsorganiſationen um Beiträge oder Schülerdelegationen angegangen werden, wäblen einfach diejenige Anſtalt aus, die ihnen nach Lage der Umſtaͤnde am meiſten gefällt. Oft richtet ſich die Wahl nach den perſoͤnlichen Sympathien eines in Ausſicht genommenen Schuͤlers, am haͤufigſten natuͤrlich nach denen der Mehrheit der jeweiligen Grganiſationsleitung, wobei zumeiſt in jedem Berufsver ; bande die Grts · oder Bezirksgruppen ohne Ruͤckſicht auf die Jentralleitung die Stellung einnehmen koͤnnen, die ihrer Geſchmacksrichtung entſpricht. Es iſt durchaus gewoͤhnlich, daß von demſelben Berufsverband ein Teil der Schüler und der Beiträge etwa an das „radikale“ London La- bour College, ein anderer an das „gemaͤßigte Ruskin College oder an die W. E. A. gehen. Dieſen eklektiſchen Standpunkt hat ſich ſogar, nach jahre⸗ langen Bemuͤhungen, die Frage anders zu loͤſen, der Gewerkſchaftskon greß im Jahre 1925 zu eigen gemacht. Von Bildungs organiſationen aller Richtungen einſchließlich der kommuniſtiſch⸗marxiſtiſchen um mora ; liſche und finanzielle Unterſtuͤtzung gebeten, hat er alle einfach miteinander unter ſeine Fittiche genommen. Das war bis zu einem gewiſſen Grade von jeher der Grundſatz der W. E. A. geweſen. Dieſe hat ſich nur dadurch zur größten und leiſtungsfaͤhigſten Arbeiterbildungsorganiſation der welt (wenigftens zur Einrichtung von Abendkurſen) entwickeln koͤnnen, daß fie von vornherein jeder ſie angehenden Grtsorganiſation das vermittelte, was fie ſelber ſich aus einem reichhaltigen Programm wuͤnſchte. Es war da; bei ganz gleich, ob es ſich um einen Kurs über CLokalverwaltung durch einen Fortbildungsſchullehrer, oder um einen über ſozialiſtiſche Theorien durch einen Marxiſten handelte. Ein jeder nach feinem Geſchmack, das Taugliche wird ſich dann als das Brauchbare von ſelbſt behaupten, das Untaugliche von ſelbſt untergehen; nach dem engliſchen Sprichwort „der Beweis des Puddings ergibt ſich beim Eſſen“ ſoll zuletzt die Erfahrung entſcheiden, und die Entſcheidung iſt dann um ſo ſicherer, je ungehinderter und allſeitiger das Experiment war. Das iſt der Standpunkt, den ſich der britiſche Gewerkſchaftskongreß zu eigen gemacht hat, indem er allen darum werbenden Arbeiter ⸗Colleges und anderen Grganiſationen den Anſchluß an den Allgemeinen gewerkſchaftlichen Bildungsausſchuß gewaͤhrte, der der gewerkſchaftlichen Unterſtuͤtzung und Kontrolle ſeit vorigem Jahre verallgemeinerte Wirkſamkeit zu ſichern beſtrebt iſt.

Inzwiſchen ift ein aͤußerer Anreiz zur Jentraliſierung dadurch ent: ſtanden, daß der allgemeine Arbeiterbildungsausſchuß von der Graͤfin warwick, einer langjaͤhrigen Sozialiſtin, das Schloß Easton Lodge ge- ſchenkt erhielt. Sier koͤnnten alle beſtehenden Internatſchulen unter⸗ gebracht werden. Dabei ergeben ſich allerdings Schwierigkeiten, die bis zur Stunde nicht behoben worden find. Junaͤchſt in finanzieller Sinſicht: Zur Inſtandhaltung des Schloſſes wären etwa 50000 Pfund notwendig.

296 Zendrik de Man

Überdies zeigen ſich die beſtehenden Internatſchulen vor allem Ruskin College bis jetzt ſehr abgeneigt, nach Easton Lodge überzufiedeln. Auch wenn es gelingen ſollte, dieſe Wiederſtaͤnde zu überwinden, müßte der Aufbau der zentralen Schule auf einer ſo eklektiſch⸗foͤderaliſtiſchen Grundlage geſichert werden etwa mit nebeneinanderſtehenden Colleges zur freien Wahl der Schüler daß auch in dieſer Form an der Mannig⸗ faltigkeit des engliſchen Arbeiterbildungsweſens grundſaͤtzlich nichts ge⸗ ändert wäre. |

Noch anders iſt die Löfung, die man in Belgien gefunden hat. Sier iſt die age inſofern der britiſchen aͤhnlich, als die Arbeiterbewegung im Ge⸗ genſatz zu Deutſchland von vornherein eine pragmatiſche, foͤderaliſtiſche Faͤrbung gehabt hat; mit anderen Worten, ihre Einheit beruhte und beruht noch auf ihrem Charakter als Intereſſen vertretung, nicht aufdem Bekenntnis zu einer beſtimmten Lehre. Die belgiſche Arbeiterpartei iſt, wie die britiſche V allerdings ſchon ſeit vierzig Jahren eine politiſche Söderation von Ges werkſchaften, Genoſſenſchaften, Wahlvereinen und Arbeiterorganiſationen der verſchiedenſten Art. Zum Unterſchied von England beſteht jedoch eben auf Grund diefer fruͤhzeitigen Nriſtalliſation und der Gedraͤngtheit und Einheitlichkeit der Verhaͤltniſſe eine ſtarke organiſatoriſche Ein⸗ heit. Bekanntlich iſt die belgiſche Arbeiterbewegung die einheitlichſte der welt; Partei, Gewerkſchaften und Genoſſenſchaften ſind tatſaͤchlich von jeher nur drei Slügel derſelben Bewegung, und fo konnte dieſem Körper der vierte Slügel die Bildungsbewegung verhaͤltnismaͤßig leicht anwach⸗; fen. Allerdings war der geiftige Gehalt der A.⸗B.⸗ Bewegung von vorn⸗ herein (in zentraliſierter nationaler Form ſeit 1911) ein Kompromiß zwi⸗ ſchen zwei Willensſtroͤmungen verſchiedenen Urſprungs: ein utilitariſches Motiv, das ſich aus dem unmittelbaren Bedürfnis der Organifationen nach praktiſch geſchulten Fuͤhrern und aus dem unbeſtimmten und etwas wahl⸗ loſen Bildungs hunger der intelligenteren Arbeiterkreiſe ergab und ein theoretiſch⸗propagandiſtiſches Motiv, das gewiſſermaßen von außen, von Fuͤhrern, die ein Gegengewicht gegen die materialiſtiſche Verflachung und „Verbuͤrgerlichung“ der Bewegung ſchaffen wollten, in dieſe hineingetra⸗ gen wurde. Das erſte Motiv war autochthon belgiſch und proletariſch, das zweite nicht nur inſofern „fremd“, als es von marxiſtiſch geſchulten Intel⸗ lektuellen vertreten wurde, ſondern auch darin, daß es bewußt die deutſche ſozialdemokratiſche Bildungszentrale und ihre Ideologie zum Muſter nahm. Im Laufe der Zeit hat ſich dann jene mehr oder weniger organiſche Inte⸗ grierung herausgebildet, die ich den ſynthetiſchen Typ der Arbeiterbildung (wenigſtens im Verhaͤltnis zu den heutzutage in der Welt praktiſch vorhan⸗ denen Stroͤmungen) nennen moͤchte. (Vielleicht bin ich in dieſem Urteil nicht unbefangen, da die Entwicklung des belgiſchen Arbeiterbildungs⸗ weſens, deſſen Leiter ich von 1911 bis I922 war, zu einem erheblichen Teil mit meiner eigenen inneren Entwicklung zuſammenfaͤllt, ſo daß ich das ge⸗ wordene zum Teil nur als eigenes empfinden kann; ich habe aber dem Zefer ja ſchon geſagt, daß auch dieſer Bericht, wie jeder, der in gedraͤngter Form wählen und herausſchaͤlen muß, als ſubjektiv hinzunehmen iſt.) Der ſyn · thetiſche Charakter des belgiſchen A.⸗B.⸗Weſens kommt ſchon im organiſa⸗

Arbeiterbildung in der Welt 297

toriſchen zum Ausdruck: nicht nur die etwa 220 Orts- und 25 Bezirksaus⸗ ſchuͤſſe, ſondern auch die Landeszentrale iſt gemeinſam durch Partei, Ge⸗ werkſchaften und Genoſſenſchaften gebildet und finanziell unterſtuͤtzt, ſeit 1921 mit Silfe einer Ropfſteuer für jeden gewerkſchaftlich, politiſch oder ge- noſſenſchaftlich Organiſierten, was eine Geſamtzahl von etwa anderthalb Millionen Beitraͤgen ergibt. Die Arbeit iſt infolgedeſſen viel vielſeitiger zentraliſiert, als foger in Deutſchland: auch die Betriebsraͤteſchulen (hier nach Induſtrieverbaͤnden gegliedert), die Rurſe für Genoſſenſchaftsverwal⸗ ter, die Jugendleiter, Frauen -, Rommunalvertreter- und ſonſtigen Spe⸗ zialkurſe unterſtehen direkt der Landeszentrale. Dasſelbe gilt für die Arbei terhochſchule (mit vlaͤmiſcher und walloniſcher Abteilung) in Uccle bei Bruͤſſel, die ſeit 1921 Jahreskurſe mit Internat und zweimonatigen Spe · zialiſierungskurſen im zweiten Jahrgang abhaͤlt. In dieſer Arbeiterhoch⸗ ſchule, die naturlich beſſere Moglichkeiten bietet, eine eigene paͤdagogiſche Methode auszubilden, als die (etwa 160) lokalen „Schulen“ (eigentlich nur Abend oder Sonntagskurſe), zeigt ſich die Eigenart der belgiſchen Methode am deutlichſten. Sie iſt „angelſaͤchſiſch“ inſofern, als ſie die gegebenen praktiſchen Beduͤrfniſſe der Organiſationen zum Ausgangspunkt nimmt. Ein vorbereitender Kurs ſorgt für das „Auffriſchen“ bzw. Kichtigſtellen der allgemeinen Vorbildung, beſonders in bezug auf Sprache, Geſchichte, Geographie und elementare Staatskunde; dann kommt die Sauptſache: induſtrielle Organiſation und praktiſche Nationalökonomie, Geſchichte und Aufbau der verſchiedenen Grganiſationsformen der Arbeiterbewe⸗ gung, Sozialgeſchichte Belgiens (insbefondere Geſchichte der Induſtrie und der Arbeiterſchaft), Geſchichte der internationalen Arbeiterbewegung, Ge⸗ ſchichte der Neuzeit, Hygiene, praktiſche Sozialpſychologie, praktiſches Recht. Theorien, auch die ſozialiſtiſchen Lehren, werden nur gelehrt im Rahmen dieſer geſchichtlichen Betrachtungsweiſe, alſo nicht dogmatiſch, nur hiſtoriſch, und zwar ſtets im Zuſammenhang mit der Geſchichte der Bewegung. Aufſchlußreicher als die Aufzaͤhlung dieſer Lehrſtoffe iſt die Methode, die ſtark von der uͤblichen „akademiſchen“ Paͤdagogik abweicht, und daher auch nur zu einem ſehr geringen Teil Akademikern anvertraut iR; die allermeiſten Cehrer find Praktiker, ehemalige Arbeiter, die aus der Bewegung ſelbſt hervorgegangen ſind. Auf eine Stunde Unterricht (der Jahreslehrplan umfaßt etwa 500) entfallen ungefähr 21/, Stunden „prak ; tiſche Arbeit: Beſprechungen mit den ſtaͤndigen Silfslehrern (3 an der Zahl), Seminararbeiten (jeder Schüler muß eine ſelbſtaͤndige Forſchungs⸗ arbeit liefern, vorzugsweiſe auf dem Gebiete feiner eigenen Berufs oder Organiſationstaͤtigkeit), Beſuche von Betrieben und Einrichtungen (min- deſtens SO im Jahre, außerdem einwoͤchige Studienreiſe) mit anſchließen⸗ der Berichterſtattung und Beſprechung uſw. Kurzum, es wird nicht ver⸗ ſucht, Wiflen in Form von „Gedaͤchtnisſtoff“, noch weniger in Sorm von fertigen theoretiſch begruͤndeten Urteilen zu vermitteln, ſondern nur Wege zur perfönlichen Urteilsbildung und zum weiteren Selbſtſtudium zu eröff- nen. Alſo Willens und Gewohnheitsbildung mehr als Belehrung; was durch das Gemeinſchaftsleben in einem Internat (in einem großen Park außerhalb der Stadt gelegen), das zu dem Zwecke in hygieniſcher und aͤſthe⸗

298 Sendrik de Man, Arbeiterbildung in der Welt

tiſcher Sinficht beſonders ſorgfaͤltig ausgeſtattet iſt, mit täglichen Körper: uͤbungen, Spielen uſw. noch weiter gefoͤrdert werden ſoll.

Die paͤdagogiſchen Grundſaͤtze, die alledem zugrunde liegen, habe ich ein⸗ mal in folgenden ſieben Punkten zuſammengefaßt: I. Nichts unterrichten, was der Arbeiter im täglichen Leben und in feiner Grganiſationstaͤtigkeit nicht brauchen kann; 2. immer von Bekanntem und Konfretem ausgehen, alſo etwa in der Nationalökonomie von der Kenntnis des eigenen Betriebs, in der Geſchichte von den miterlebten Ereigniſſen der neueſten Zeit; 3. nichts unterrichten, was außerhalb des Gebietes liegt, wo der Schuͤler die Wahrheit des Geſagten prüfen koͤnnte alſo 3. B. keine Naturwiſſen⸗ ſchaft, weil fie hier nicht experimentell betrieben werden kann; 4. Tat⸗ ſachen mitteilen, die zur ſelbſtaͤndigen Urteilsbildung fuͤhren koͤnnen, keine fertigen Urteile in ſyſtematiſcher und theoretiſcher Form; 5. der Zweck des Unterrichts iſt nicht der Wiſſensſtoff, ſondern die Vorbereitung zur Auto⸗ didaxie als der einzigen allgemein brauchbaren Art, das ganze Leben zum Erziehungsprozeß zu geſtalten, alfo die Bildung der Gewohnheit des Ler⸗ nens und der dazu gehörenden Technik der Geiſtesarbeit; 6. der Lehrer ſoll fuͤr das, was er ſagt, kein Anſehen in Anſpruch nehmen uͤber den inneren Wahrheitswert des Geſagten hinaus, wie er in freier kritiſcher Auseinan⸗ derſetzung geprüft werden kann; alfo keine „Autoritaͤten“; ein Lehrer mit 30 Schuͤlern ſoll gleich fein 31 Schülern und 31 Lehrern; 7. der eigentliche wert jeder Arbeiterbildungseinrichtung ergibt ſich aus der Methode; es kommt weniger auf das an, was ſie lehrt, als darauf, wie ſie lehrt; ſchließ⸗ lich lernt ein jeder nur das wirklich, was er ſelbſt gefunden hat, und der Unterricht ſoll ihm bloß helfen, das ihm Weſensgemaͤße zu finden oder zum mindeſten ihn anregen, es zu ſuchen.

Das Merkwöͤrdige iſt nun, daß trotz dieſes utilitariſchen oder ſagen wir: des pragmatiſchen Ausgangspunktes, der ſynthetiſche, im Sinne eines ſozialiſtiſchen Kulturideals allgemeinbildende Charakter dieſer Me thode ſich in gewiſſem Sinne von ſelbſt ergibt, und zwar einfach auf Grund der Vielſeitigkeit eben dieſes Ausgangspunktes. Dadurch, daß man den Leuten das gibt, was ſie brauchen (nicht was irgend eine Theorie von ihnen verlangt), iſt man wenigſtens bei einer Einrichtung, die nicht auf eine beſondere, etwa die politiſche oder die gewerkſchaftliche Zielſetzung be⸗ ſchraͤnkt iſt einfach gezwungen, ihnen alles zu geben, was zu einer menſchlichen Kultur gehoͤrt. Oder, wenn auch nicht alles, fo doch eine Kich⸗ tung auf Alles, und zwar eine Richtung, die der Stellung des Arbeiters im eben und beſonders in der Arbeiterbewegung entſpricht, ihm die Welt von dem Geſichtswinkel erſchließt, der ſich aus ſeinem urſpruͤnglichen ſozialen Standort ergibt.

Allerdings: das „von ſelbſt“, das ich oben hinſchrieb, hat ſeine Grenzen, und bei dieſen Grenzen wird auch die ſchwache Stelle der belgiſchen Methode ſichtbar. Auch die Arbeiterhochſchule iſt nicht das werk der Schüler: was fie tut, iſt zunaͤchſt von ihren Schoͤpfern und Leitern gewollt von den Schuͤlern erwartet man nur die Bereitſchaft, daß fie mitwollen. Wenn man dreißig Schüler ohne Zeitung und ohne von fruͤherer Leitung geſchaffene Tradition ſich ſelbſt uͤberließe, fo wuͤrde der Ronſervatismus der normalen

Ernſt Michel, Die Akademie der Arbeit 299

menſchennatur hoͤchſtwahrſcheinlich bewirken, daß fie ihr Leben dort ihren fruheren Lebensgewohnheiten und ſchon erreichten Beduͤrfnisſtufe gemaͤß einrichten wuͤrden, ſtatt eine Andersgeſtaltung zu verſuchen; ein materielles Symbol dafuͤr iſt der moraliſche Druck, der erfahrungsgemaͤß ausgehbt werden muß, bevor ſich alle Schüler eines neuen Jahrgangs in Uccle das taͤgliche Brauſebad angewoͤhnen. Die Erziehung „nur aus dem Beduͤrfnis des zu Erziehenden heraus“ iſt eine Fiktion; die Wirklichkeit iſt ſtets ein Spannungsverhaͤltnis zwiſchen dieſem Beduͤrfnis und dem Wol- len von Erziehern, die auf eine Erhoͤhung der Beduͤrfnisſtufe abzielen. Das problem wird dann, dieſes Spannungsverbältnis dadurch moͤglichſt frucht · bringend zu geſtalten, daß ſich das Wollen der Erzieher auf eine Sublimie⸗ rung der ſchon beſtehenden Beduͤrfniſſe richtet; und das wird am beſten dann gelingen, wenn die paͤdagogiſche Zielſetzung ſtatt aus Buͤcherſtudium aus dem fuͤhlenden und forſchenden Miterleben eben jenes ſozialen Schick⸗ ſals abgeleitet iſt, das den Beduͤrfniſſen der Maſſen die Richtung gibt. In⸗ deſſen das iſt ein anderes Kapitel; ich mochte hier nur andeuten, daß die Löſung dieſer Frage dort am leichteſten iſt, wo man die theoretiſche Auf⸗ faſſung des Sozialismus am engſten mit dem inſtitutionellen Gegenwarts charakter der Arbeiterbewegung als fitte- und rechtsumwaͤlzende Kraft verknuͤpft. wichtig iſt hier zunaͤchſt nur die Feſtſtellung, daß auch die bel giſche Methode eine dauernde Spannung zwiſchen dem, was die Maſſe iſt, und dem, was ihre fuͤhrenden Elemente wollen, vorausſetzt. Das zeigt ſich am meiſten in der Maſſenerziehung durch Srtliche Nurſe, Vortraͤge uſw. Hier hat die Bildungszentrale die groͤßte Mühe, der Verſuchung zu ent geben, um der quantitativen Leiſtung willen die Qualitaͤt ihrer Darbie ; tungen dem Maſſengeſchmack zu opfern, der keineswegs „von ſelbſt“ auf das kulturell hoͤherſtehende gerichtet iſt. Je mehr eine derartige Bewegung die Maſſen ergreift, um fo mehr ſetzt fie ſich der Gefahr der bequemen Gber⸗; flaͤchlichkeit, der allzu leicht ůberzeugenden Salbwiſſenſchaft, des allzu leicht sührenden Kitſches, der allzu leicht entſpannenden „Jerſtreuung“, kurzum der Gefahr der Verſpießerung aus. Siermit iſt freilich eine Frage beruͤhrt, die aus dem Rahmen diefer Betrachtung herausfaͤllt, denn fie iſt eine grundſaͤtzlich · univerſelle, die man meiner Anſicht nach noch in keinem Lande ganz befriedigend geloͤſt hat. I

Ernſt Michel Die Akademie der Arbeit

De Akademie der Arbeit in der Univerſitaͤt Frankfurt a. M. iſt als

erſte und bisher einzige deutſche Sochſchule für das „Volk der Ar⸗ beit“ am I. Mai 1921 ins Leben getreten. Sie hat ſoeben ihren fünften Lehrgang abgeſchloſſen. Der Gedanke einer Sochſchule für die Arbeiterſchaft in Verbindung mit der Univerſitaͤt Frankfurt a. M. wurde von Arbeitervertretern aufgewor⸗ fen, als es im Jahre 1920 galt, die Stiftungs · Univerſitaͤt Frankfurt durch

300 Ernſt Michel

ſtaatliche Unterſtuͤtzung aus ihrer Sinanznot zu retten. Die Rettungsaktion für die Univerſitaͤt wurde damals durch die Arbeiterſchaft ermöglicht, aber an die Bedingung geknuͤpft, der zukunftigen Arbeiterhochſchule Sausrecht in der Univerſitaͤt einzuraͤumen.

Fuͤr den Aufbau der Akademie wurde eine Expoſé des vorläufigen Ar⸗ beitsausſchuſſes und eine Denkſchrift des bekannten Profeſſors für Arbeits; recht Sugo Sinzheimer grundlegend.

Die Denkſchrift Profeſſor Sinzheimers ging von den tragenden Kraͤften des neuen demokratiſchen Deutſchland aus, die Lehraufgabe, Lehrmethode und Lehrziel der Sochſchule beſtimmen müßten. Profeſſor Sinzheimer er⸗ blickte die tragenden Pfeiler der neuen Inſtitution: I. im demokratiſchen Gedanken. Dieſer rufe alle Volkskreiſe zur verantwortlichen Mitarbeit und Mitbeſtimmung an den politiſchen, wirtſchaftlichen und ſozialen Aufgaben des neuen Staatsweſens auf, verleihe den Verbaͤnden eine wichtige Mit- beteiligung bei der Geſtaltung des ſozialen Lebens und knuͤpfe die wirt; ſchaftlichen Entſcheidungen mehr und mehr an die Mitbeſtimmung wirt; ſchaftlicher Vertretungsorgane. Die Faͤhigreit zu dieſer Mitarbeit im offentlichen Leben zu entwickeln, ſei die eine Aufgabe der Akademie. 2. Den zweiten Stuͤtzpunkt der Akademie ſah Profeſſor Sinzheimer in der Berufung der abhängigen Arbeit zu neuen geſellſchaftlichen Daſeins⸗ formen, die zur Grundlage einer neuen europaͤiſchen Volksordnung wür- den. Dieſe neue Aufgabe aber verlange eine neue Lehre, eine Lehre, die von der Arbeit ausgeht und den arbeitenden Menſchen im Mittelpunkt der kommenden wWirtſchafts und Geſellſchaftsordnung ſieht. Dieſe neue Lehre zu entwickeln ſei die zweite Aufgabe der Akademie. N

Die ſe Gedanken wurden der Gruͤndungsurkunde der Akademie der Arbeit, dem ee zwiſchen dem preußiſchen Unterrichtsminiſterium und den Spitzen verbaͤnden der Arbeiter, Angeftellten und Beamten zugrunde gelegt.

Mit der ſchwierigen, weil erſtmaligen und vorbildloſen Aufgabe des paͤdagogiſchen Aufbaus und mit der Leitung der Akademie wurde im Fruͤhjahr 1921 Dr. Eugen Roſenſtock betraut, der mit drei hauptamtlichen Mitarbeitern ans werk ging. Die paͤdagogiſche Idee, von der Roſenſtock ausging, und die Cehrform, die er ſchuf, haben ſich in den Erfahrungen der fünf Lehrgaͤnge bewaͤhrt. | Ä

Die äußere Verfaſſung

Do Beſtand der Akademie der Arbeit wird auf Grund eines Vertrages

garantiert durch den Staat (Preußifches Rultusminiſterium mit finan- zieller Unterſtuͤtzung des Reiches) und durch die Gewerkſchaften. Die Univerſitaͤt ſtellt die Räume und trägt die Verwaltungs koſten. Der Staat ermöglicht es, daß zur Zeit drei Dozenten hauptamtlich die Lehrtätigkeit an der Akademie ausüben, und daß nebenamtliche Dozenten, Profeſſoren der Univerfitäten und techniſchen Sochſchulen und Maͤnner aus der Praxis, ihre Fachgebiete lehren. Sür die Auswahl der nebenamt⸗ lichen Dozenten iſt der wiſſenſchaftliche Ruf und die Eignung fuͤr die be⸗ ſondere paͤdagogiſche Aufgabe, nicht aber die weltanſchauliche oder poli- tiſche Richtung maßgebend. Bei der Behandlung grundſaͤtzlich wichtiger

Die Akademie der Arbeit 301

wirtſchaftspolitiſcher und ſozialer Fragen wird jedoch auf die Weltanſchau⸗ ung der Soͤrer in der Wahl der Dozenten gebührend Ruͤckſicht genommen. Die hauptamtlichen Dozenten beruft nach Anhoͤrung des Lehrerkollegiums das Miniſterium, die nebenamtlichen werden durch den Leiter der Akademie im Auftrag des Dozentenkollegiums aufgefordert. Die Behandlung der n Fragen ſteht dem Lehrerkollegium zu. Bei Ausarbeitung des jährlich neu aufzuſtellenden Lehrplans, der die Erfahrungen des vor⸗ ausgegangenen Cehrgangs verwertet und veränderten Aufgaben Rechnung trägt, wird der Derwaltungsausfchuß und der Soͤrerrat gutachtlich gehoͤrt. Im uͤbrigen iſt das Dozentenkollegium in paͤdagogiſchen Fragen ſelbſtaͤndig und frei. Die Tätigkeit des Leiters der Akademie wird von einem haupt⸗ Dozenten ausgeuͤbt und wechſelt für jedes Lehrjahr turnus⸗ ßig.

Die großen Verbaͤnde wählen nach eigenem Ermeſſen die Hörer der Aka⸗ demie aus ihren Reihen aus und beſtreiten ihren Lebensunterhalt fuͤr die Dauer eines Jahres. Der am ſtaͤrkſten beteiligte Spitzenverband, der All gemeine Deutſche Gewerkſchaftsbund erhebt ſeit einem Jahr von ſaͤmt⸗ 18 Mitgliedern einen Kulturbeitrag, aus deſſen Ertrag die delegierten

rer es find in dieſem Jahr allein aus dieſem Verbande 41 und auch deren Familien erhalten werden. Neben den Verbaͤnden beſchicken auch Städte, z. B. Frankfurt, Offenbach, Sannover, Kiel, die Akademie, ferner ſtellen die einzelnen Provinzen, fo die Provinz Seſſen⸗Naſſau und Schles⸗ wig ⸗SHolſtein, Stipendien für Soͤrer zur Verfügung. Daneben werden Soͤrer, die auf eigene Roſten kommen wollen, auf Grund befonderer Eig⸗ nung zugelaſſen. Auch Auslaͤnder ſind zugelaſſen: ſo nahmen 3. B. am zweiten Lehrgang 9 Schweizer teil, die der Schweizer Ausſchuß für Ar- beiterbildung delegiert hatte. Ein „Verein der Freunde und Sörderer der Akademie!“ nimmt ſich befaͤhigter, aber beduͤrftiger Hörer an. Die Soͤrer⸗ ſchaft beſteht alfo und das iſt für alle Dorausſetzung aus Männern und Frauen, die ſich mit einer reifen Lebens und Berufserfahrung einer geiſtigen Arbeit für 9 Monate vollkommen frei zuwenden. Der Unterricht, der ganztaͤgig iſt und woͤchentlich etwa 30 Stunden beanſprucht, verlangt die ganze Kraft der Teilnehmer. Die Zahl der Teilnehmer ſchwankte bisher zwiſchen Jo und 70, im laufenden Lehrgang betrug fie 61, darunter 5 Frauen.

Die Bildungsaufgabe u ie Akademie der Arbeit ſteht als eine ſelbſtaͤndige Inſtitution in der Univerſitaͤt. Obwohl vom Staat und den Gewerkſchaften geſtuͤtzt und

durch fie ermöglicht, iſt fie in ihrer paͤdagogiſchen Entfaltung und in ihrer Lehre doch von beiden Maͤchten unabhaͤngig, ſie iſt darin ſo ſelbſtaͤndig wie in ihrer weiſe die Univerſitaͤt. Aber von der Univerſitaͤt unterſcheidet ſie eindeutig, daß fie eine Sochſchule für den erwachſenen berufstätigen Men; ſchen iſt, daß dieſer erwachſene Berufstätige für ihren Lehrinhalt, für ihre Lehrmethode und ihr Lehrziel beſtimmend iſt. Die Akademie iſt nicht be- gründet auf einem Rompromiß zwifchen den beiden Parteien der Akade⸗ miker und Arbeiter, etwa in der Weife, daß fie die wiſſensfuͤlle der Fakul⸗ täten auf die Beduͤrfniſſe der Arbeiter zuſchneidet und vereinfacht und dann

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dieſes Wiffen mit Silfe geeigneter paͤdagogiſcher Methoden in die Arbeiter- ſchaft hinein verfloͤßt. Traͤfe dies zu, dann wäre die Akademie eine mecha⸗ niſche Verbindung der beiden Lehrhaͤuſer der Univerſitaͤt und der Volks⸗ hochſchule, ein aͤußerlicher Ausgleich im Bildungskampf zwiſchen Ober⸗ ſchicht und Unterſchicht. Im Ergebnis würde die Univerſitaͤt in ihrem Eigenleben dadurch nur geſchwaͤcht werden, ohne daß die echte Bildungs not der Arbeiterſchaft auf dieſe Weiſe wirklich behoben wuͤrde.

Die Vorgeſchichte der Bründung der Akademie der Arbeit läßt erkennen, daß es ſich bei dieſer Inſtitution nicht um einen vorgeſchobenen Poſten der Univerſitaͤt in die Arbeiterſchaft hinein handelt, ſondern um eine Baſtion, die die politiſche Kraft der Arbeiterſchaft in die alte Bildungswelt hinein errichtet hat. Eine der Sauptſchwierigkeiten, die die Traͤger des Akademie⸗ gedankens in den Reihen der Gewerkſchaften zu uͤberwinden hatten, war gerade das Bedenken, es koͤnnte die Akademie ein bloßes Populariſierungs⸗ inſtitut der Univerſitaͤt werden. Und es war deshalb eine der Sauptſorgen der Begruͤnder, der Akademie nicht nur die aͤußere Selbſtaͤndigkeit zu wahren, ſondern vor allem auch die ihr eigentuͤmliche Bildungsaufgabe ſicherzuſtellen. Die Akademie ſollte einen Bildungsweg einſchlagen, auf dem die Arbeiter nicht halbe Akademiker würden, ſondern Arbeiter und Arbeiterfuͤhrer blieben, ja dies immer beſſer wuͤrden: ſie ſollte eine ſelbſt⸗ ſtaͤndige und urſpruͤngliche Kenntnis vermitteln, von keiner anderen hohen Schule abgeleitet, ſondern aus der Kraft und den Beduͤrfniſſen der Arbeit geboren. Mit dieſen Grundgedanken: Einbau der Arbeiterbildung als ſelbſt⸗ ſtaͤndigen Bildungszweig in das Sochſchulweſen des Volkes, Aufbau dieſer Bildung aus den Kraͤften und den Beduͤrfniſſen der Arbeit mit dieſen Grundgedanken war der Typus einer proletariſchen Klaſſenhochſchule und einer Klaſſenbildung abgelehnt. Wie es der neuen Epoche Europas auf⸗ gegeben iſt, eine neue, allen Völkern gemeinſame Volksordnung auf die Ordnung der Arbeitswelt aufzubauen, ſo ſollte die Akademie der Arbeit die dieſer Aufgabe gemaͤße Volksbildungsform fein. Die Akademie der Arbeit liegt auf dem Wege, den die deutſche Arbeiterſchaft nach dem Zu⸗ ſammenbruch Deutſchlands im Jahre I9I8 eingeſchlagen hat. Der Rat der Volksbeauftragten hat im November 1918s die proletariſche Revolution und die Räterepublit nach ruſſiſchem Vorbild abgelehnt zugunſten einer allmaͤhlichen Durchdringung und Neuordnung des Volkskoͤrpers aus den ſozialen und politiſchen Kraͤften des ganzen Volkes, vor allem des Volkes der Arbeit. Die Arbeiterſchaft in Deutſchland hat alſo die alte Welt nicht durch Vernichtung, ſondern durch 5 von innen heraus und unter Schonung des noch lebendigen Erbes zu überwinden geſucht. Auch die Akademie iſt von ihren Mittraͤgern aus der Arbeiterſchaft auf dieſe Grundlage baſiert worden. Man wollte nicht auf den Trümmern der alten Welt ganz von vorne anfangen, ſondern man wollte das beſte, was die Arbeiterſchaft zu geben hat, den Gedanken der Arbeit, in die Univerſitaͤt des Geiſtes hineintragen und mit ihm die alten Gebiete des Wiſſens durch⸗ dringen und durchſaͤuern. Deshalb wurde auch nicht der Name „Arbeiter⸗ Akademie“ gewählt, ſondern „Akademie der Arbeit“. Der Name be⸗ deutet hier ein geiſtiges Programm.

Die Akademie der Arbeit 303

Es verſteht ſich nun, daß die Akademie der Arbeit nicht auf „Perſoͤnlich⸗ keitsbildung“ im üblichen Sinne abzielt, nicht den Arbeiter als Indivi⸗ duum im Auge hat, ſondern als notleidendes Glied kranker Inſtitutionen, eben der ſozial ungeordneten, nur techniſch geordneten Arbeitswelt. Wenn Perſoͤnlichkeitsbildung doch auch Aufgabe der Akademie iſt, dann nur im Sinne der Bildung politiſch verantwortungsbewußter und verantwor⸗ tungsfaͤhiger Perſoͤnlichkeiten. Die Bildung individueller Perſoͤnlichkeiten das Ideal des Jo. Jahrhunderts nuͤtzt in einer Zeit nichts mehr, deren Öffentliche Einrichtungen und Grdnungen verdorben find. Der wahr⸗ haftigſte Menſch muß objektiv luͤgen und in die Irre gehen, wenn die Zebensordnungen des Volkes, die fein geiftiges Leben tragen und beſtim · men, fehlen oder kraftlos geworden ſind.

Unſere Inſtitution wendet ſich mit ihrer Bildungsaufgabe alſo an den taͤtigen Mann, an die taͤtige Frau, die Verantwortung ſpuͤren und Ver⸗ antwortung zu tragen bereit ſind. Erfahrungsgemaͤß iſt aber in dieſen nicht Wiſſen und wiſſenſchaftliche Bildung der zentrale Trieb, um deſſent⸗ willen ſie die Muͤhſeligkeiten eines anſtrengenden Bildungsgangs auf ſich nehmen. Die theoretiſche Frage und der Wille zur geiſtigen Beſinnung ent- ſpringen beim Menſchen des politiſchen Lebens an derſelben Quelle wie ſein politiſches Sandeln, naͤmlich mit der Frage: „Wie kann der Not ab⸗ geholfen werden?“ Dieſe Frage iſt darum auch der Ausgangspunkt des inhaltlichen Denkens und der Stoffordnung der Lehrgaͤnge der Akademie. Die Kenntniſſe aller Art, die zur Loͤſung dieſer Frage notwendig find, geben die Wiſſenſchaften, deren Pflegeſtaͤtten die Univerſitaͤt und die techniſche Sochſchule find. Aber geordnet, beurteilt, ineinandergefuͤgt Fönnen dieſe Kenntniſſe hier nicht wie für den Studenten aus einer logiſchen Syſte⸗ matik werden, ſondern von dem politiſchen Seiltrieb des taͤtigen Mannes her.

Zehrmethode und Lehrinhalt. ie CLehrmethode der Akademie der Arbeit war originaͤr aus ihrer inſti · tutionellen Geſamtaufgabe zu entwickeln: naͤmlich Erwachſenen, die aus dem Arbeitsleben kommen und in es zuruͤckkehren, eine hochſchul⸗ maͤßige Ausbildung zu geben.

Der erwachſene Menſch lernt nun aber anders als das Kind und der Student: I. Er kommt aus dem öffentlichen Leben mit feinen Nöten und Fragen, er bringt ſelbſt bereits eine, wenn auch meiſt ungeordnete und un⸗ gepruͤfte Welt von Vorſtellungen, Begriffen und Bildungselementen mit. 2. Das Element des maͤnnlichen Geiſtes iſt der Rampf. Die Form aber, in der ſich dieſer geiſtige Rampf Erwachſener naturgemaͤß vollzieht, iſt die Kritik, die Diskuſſton, der Widerſtand. Das Forum geiſtigen Kampfes der Maͤnner des Volkes, das Parlament, kann dies bezeugen, wo es noch nicht verdorben iſt. 3. Es iſt eine damit zuſammenhaͤngende grundlegende Er⸗ fahrung, daß der Erwachſene nur aufzunehmen vermag, wenn er zu⸗ gleich ausſcheidet, wenn ſeine Bildung ſich in der Form eines lebendigen geiſtigen Stoffwechſels vollzieht. Von dieſen paͤdagogiſchen Fundamental; ſaͤtzen aus war die Methode des Unterrichts auszubilden.

Es iſt dem Lehrgang die Aufgabe geſtellt, in neun Monaten Ordnung zu

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bringen I. in die Fuͤlle der ſozialen Erſcheinungen, vor der ein Arbeiter⸗ vertreter oder Gewerkſchaftsfuͤhrer oder Beamter heute ſteht und 2. in die Maſſe von Kenntniſſen, die er ſich im Laufe feines Lebens geſammelt bat. Dazu dienen die drei Lehrformen: I. der Gruppenarbeit, 2. der Vorleſung und 3. des Seminars. Es gilt zunaͤchſt, den geiſtigen Stoffwechſel in den Hören in Gang zu bringen. Das geſchieht fo, daß an den Beſitz, an die Begriffs · und Vorſtellungswelt, die der Arbeiter mitbringt, angeknuͤpft und von hier aus ein Klaͤrungs · und Laͤuterungsprozeß eingeleitet wird. Es geht dabei jedoch nicht um logiſche Begriffsreviſion, ſondern vor allem um Prüfung der Echtheit und Tragfaͤhigkeit der mitgebrachten Erkennt · niſſe, Begriffe und Vorſtellungen: um ihre Wirklichkeit im Gedankentraͤger und ihre Pruͤfung an den Tatbeſtaͤnden. Sier liegt fuͤr den erwachſenen Menſchen die Stelle der Erſchuͤtterung: er muß den Mut haben, feinen geiſtigen Beſtand in dieſen Pruͤfungs · und Schmelzprozeß, an dem er doch ſelbſt aktiv teilnimmt, hineinzugeben auf die Gefahr hin, ihn preisgeben zu muͤſſen. Erſt auf Grund dieſes Prozeſſes wird die Aufnahme neuer In⸗ halte mannigfaltigſter Art, wie fie vor allem die Dorlefungen bieten und die gewußt werden muͤſſen, fuͤr den Erwachſenen fruchtbar.

Gilt dieſer methodiſche Grundſatz fuͤr die geſamten Lehrformen der Akademie der Arbeit fo in beſonderem Maße für die Gruppenarbeit, die denn auch im Zentrum ſteht. Die Soͤrerſchaft iſt nach rein aͤußerlichen Geſichtspunkten in drei Gruppen eingeteilt, die von den drei bauptamt- lichen Dozenten in parallel laufenden Kurſen durch das erſte Halbjahr des Lehrgangs geführt werden. Dieſe Gruppenarbeit nimmt woͤchentlich 8 Stunden in Anſpruch. Aufgabe der Gruppenarbeit iſt es, von den Tat- ſachengebieten eigener Lebenserfahrung und eigenen Lebensſchickſals aus⸗ zugehen und ſie in ſelbſtaͤndiger Geſtaltung geiſtig durchzubilden. Damit verbunden werden aber nacheinander die Gebiete materiellen Wiflens: Wirtſchaft, Geſellſchaft, Recht und Staat. Deren Behandlung aber darf ſich nicht mit der nackten Erkenntnis begnuͤgen, ſondern ſoll dieſe in die verpflichtende Erkenntnis, die auf Wirken und Geſtaltung hindraͤngt, uͤber⸗ fuͤhren. Dieſe Aufgabe iſt in jedem Kurs neu geſtellt, und ihr Gelingen haͤngt zum großen Teil auch von den Soͤrern ab: nämlich davon, ob fie aus ſich herausgehen, ſich mit den Dozenten auf der Ebene ruͤckhaltloſer männlicher Auseinanderſetzung begegnen und fo zu wirklichen Mit- arbeitern werden. Nur dann iſt das Ziel zu erreichen, daß der Erkenntnis prozeß des Jahres die Erkenntniſſe fo in die Individualität des Soͤrers ein · baut, daß dieſer fie im Leben verantwortlich vertreten kann. Im uͤbrigen iſt jede Arbeitsgruppe frei in ihrer Entfaltung. Die Vorleſungen werden, ſoweit dies moͤglich iſt, in der Gruppe zur ſyſtematiſchen Frageſtellung verwendet.

Schon von Anfang an laufen neben der Gruppenarbeit die Vorleſungen, die nacheinander Geſamtbilder des Rechts, der Wirtſchaft, des Staates und der Politik, der Arbeitswiſſenſchaft, der Soziallehren, der volkswirt⸗ ſchaftlichen Theorien und der Geſchichte uſw. entrollen und die jeweils durch Spezialvorleſungen beſonders dringlicher Fragengebiete ergaͤnzt werden. Sie werden von den haupt und nebenamtlichen Dozenten ge⸗

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halten und von ſaͤmtlichen Mitarbeitern gemeinfam befucht. Eine Tren; nung nach Fachintereſſen findet nicht ſtatt.

Im zweiten Abſchnitt des Lehrgangs ſetzen dann die Seminare ein, in denen einzelne Fragen oder einzelne hervorragende Schriften bewaͤltigt werden. Sier beſteht für die Hörer die Möglichkeit, ſich je nach ihren be- ſonderen Intereſſen fuͤr das eine oder andere Seminar zu entſcheiden und einem Gebiete oder einer Frage ſich beſonders zu widmen. 7

ie die Lehrmethode, iſt auch der Lehrplan an die Aufgabe gebun⸗ den, berufstaͤtigen Menſchen in einem Jahre der Muße eine geiſtige Bildung zu geben, aus der fie die nachhaltige ſchoͤpferiſche Araft zur Be⸗ meiſterung des Alltags gewinnen. Fauͤr den Lehrinhalt des Bildungsganges iſt daher maßgebend, daß der arbeitende Menſch die Kenntnis eines Berufes, einer Technik, eines Be⸗ triebes, einer arbeitsteiligen Umwelt mit ihren Regeln und ihren Formen ſein eigen nennt. Außerdem hat er meiſt ſoviel Lebenszeit hinter ſich, um auch für die Geſetze eines Lebenslaufs Erfahrungen mitzubringen. Der Stoff der Wirklichkeit, auf den wiſſen und Lehre ſich erſtrecken muß, laͤßt ſich ihm alſo von der Welt der Arbeit her und von ſeinem Lebenslauf her erſchließen und begrenzen.

Die „Lehre von den offentlichen Ordnungen“ geht 3. B. bei dem Lohn⸗ arbeiter aus von ſeinem Arbeitsfeld: dem Betrieb, der Fabrik. Von hier bringt er einen Erfahrungskomplex mit, an den unmittelbar techniſche, wirt- ſchaftliche, rechtliche und ſoziologiſche Betrachtungen anknuͤpfen koͤnnen. Die Rechtslehre knuͤpft an die Erfahrungen und die Gedanken des Arbeiters über die Fabrikordnung, Arbeitsordnung, Verſicherungsweſen und Ar⸗ beitsrecht an; die Wirtſchaftslehre an die Anſchauung vom Tarif, von Lohn, Gebuͤhren, Steuern uſw., die Technik an das Verhaͤltnis zwiſchen Menſch und Werkzeug, Arbeit und Maſchine; die Soziologie an die Pro⸗ bleme der Mitarbeiterſchaft, der Fuͤhrung, der Arbeitsteilung und der Derftändigung in der werkſtatt und in der Organiſation. Die Fabrik iſt fo der Lebenskreis, aus dem heraus das Verſtaͤndnis der größeren Lebens · kreiſe zu entwickeln iſt. Der leibliche Lebenslauf geht auf Sygiene und Medizin, auf Geſchlecht und Krankheit. Schulbeſuch und Berufswahl liefern den Schlüffel zur Erkenntnis der Familiengeſchichte, der Induſtrie, 55 der Kultur, der Kirche und bilden die Grundlagen der Pſycho⸗ logie.

So kann von den Lebenserfabrungen des Arbeiters aus aufgeſtiegen werden zu einer wirklichen Erkenntnis aller Zebensgeſetze, zu einer Er⸗ kenntnis, die nicht an fremden Stoffen demonſtriert wird, ſondern die dem Arbeiter aus dem lebendigen Zuſammenhang ſeines Lebens mit dem Volks⸗ und Menſchheitsleben ſich erſchließt.

Aber bei der Erkenntnis der Ordnungen bleibt der Lehrplan nicht ſtehen. Die Arbeit als das geſellſchaftliche Problem war ja nicht nur der Aus⸗ gangspunkt der Bildungsarbeit der Akademie der Arbeit, ſondern auch ihr Zielpunkt. Es ergab ſich uns ja als Aufgabe der Gegenwart und Zukunft, von der welt der Arbeit aus alle Gliedordnungen des europaͤiſchen Zu⸗ Zar xVnl 2]

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ſammenlebens, Recht, Staat, Wirtſchaft, Geſellſchaft uſw. neu zu er- faſſen und zu geſtalten. In dieſen politiſchen Aufgabenkreis muͤndet die Bildungs aufgabe der Akademie. Die ſachliche Orientierung in den Wiffen- ſchaftsgebieten von Wirtſchaft, Recht, Staat, Geſellſchaft, Pſychologie, Arbeitskunde uſw. iſt ja ſchon im Grunde mitbeſtimmt von der Frage und geht ſchließlich in ſie uͤber: Was ſoll ſein? Und was vermag von den er⸗ kannten Grdnungen und ZJuſtaͤnden Aufbauelement zu fein und was nicht? Um dieſe Frage aufwerfen und in ihre Beantwortung eintreten zu koͤnnen, mußte der Lehrgang die Elemente liefern: die Kenntnis der Geſetze der menſchlichen Ordnungen und die Kenntnis ihrer Tatbeſtaͤnde.

So beherrſchen den letzten Teil des Lehrgangs ſtaats und rechts⸗ politiſche, wirtſchafts · und geſellſchaftspolitiſche Srageftellungen. Und ge rade bei dieſen politiſchen Fragen draͤngt die Tatſache, daß die Frage⸗ ſtellungen von heute die alte wiſſenſchaftliche Gebietsteilung überfchneiden und wie die verſchiedenen Berufe fo auch die Fakultaͤten zu einem Zu⸗ ſammenarbeiten an derſelben Frage zwingen, zu entſcheidenden Folge rungen. Die Dozenten ſind naͤmlich untereinander auf ſtaͤndigen lebendigen Austauſch ihrer Fachgebiete angewieſen und fuͤr manche Fragen iſt das gleichzeitige Zuſammenwirken von Dozenten verſchiedener Fakultaͤten un⸗ entbehrlich: fo 3. B. des Nationalöͤkonomen, Juriſten, Betriebstechnikers, in Sragen der Betriebspolitił und des Sozialrechts, des Mediziners, Pſycho · logen und Soziologen in Fragen der Arbeitswiſſenſchaft und Arbeits⸗ politik. Doch ſteht die Akademie hier vorerſt noch in den Anfängen. Dieſe fo notwendige Aufgabe der wiſſenſchaftlichen Kooperation iſt ein lang⸗ wieriger und ſchwerer Prozeß.

Hörer und Lehrer

er Bildungsgang der Akademie der Arbeit zielt darauf ab, den Arbeiter

tauglich zu machen fuͤr ein oͤffentliches Leben und Wirken, ihn zur geiſtigen Mannwerdung zu führen. Was iſt aber das geiſtige Ziel des Mannes? Verantwortlicher Mitarbeiter zu werden. Dieſe Qualitaͤt kann jedoch nicht durch Kechtsſatz erzwungen, ſondern nur durch die geiſtigen Mittel der Bildung erworben werden. Mitarbeiter iſt deshalb der Bildungs grad, den die Akademie der Arbeit als Saus der Arbeitsgemeinſchaft von Erwachſenen zu verleihen oder deſſen Erwerb ſie wenigſtens anzubahnen vermag. Mitarbeiterſchaft erweiſt ſich daran, daß der Hörer für das, was er hoͤrt, was er annimmt, und was er ablehnt, Verantwortung zu uͤber⸗ nehmen gelernt hat.

Dazu bedarf es aber nicht nur der Aktivität des Soͤrers, des ruͤckhaltloſen Einſatzes feiner Perſon, es bedarf auch einer Solidarität der Zoͤrerſchaft, einer legten menſchlichen Verbundenheit, ohne die wahrhaft politiſche Bil⸗ dung, Bildung von Gewiſſen, Beſinnung und Verantwortung, beim beſten Willen nicht möglich iſt. Nur in einer ſolchen Gemeinſchaft, ge⸗ wiſſermaßen als Urform des offentlichen Lebens, kann der Arbeiter aus ſeinem privaten Daſein fuͤr das oͤffentliche Wirken herangebildet werden.

Damit eine Gemeinſchaft in dieſem Sinne entſtehen kann im Sinne von „Volkheit“ naͤmlich—, iſt gerade die Mannigfaltigkeit der Schuler

Die Akademie der Arbeit | 307

Vorausſetzung: fie follen in der Differenz des Alters, der Berufe, der Ver⸗ anlagung, Vorbildung, weltanſchauung und Strebungen den ZJuſtand unſeres „Volkes“ repraͤſentieren. Als Beiſpiel ſei eine beliebige der drei Arbeitsgruppen der Akademie der Arbeit mit je 21 Mitgliedern (Io Männer, 2 frauen) herausgegriffen. Die aͤußerſte Altersſpanne iſt 2] und 40 Jahre. Den Berufen nach ſetzt ſich die Gruppe zuſammen aus 3 Metallarbeitern, 2 Buchdruckern, J Buchbinder, 3 Schreibern, I Lackierer, J Bergmann, Lagerarbeiter, J Eiſenbahner, I Bauarbeiter, alſo 14 Arbeitern, ferner 3 kaufmaͤnniſchen Angeſtellten, J Betriebsratvorſitzenden, 2 Gewerk⸗ ſchaftsbeamten, I Rommunalbeamten; 17 Mitglieder dieſer Gruppe ge- hoͤren der ſozialiſtiſchen und 3 der chriſtlichen Richtung an. Gerade dieſe Verſchiedenheit der Juſammenſetzung hat fi für den Bildungsgang der Akademie der Arbeit als lebensnotwendig erwiefen.

Denn nur wenn die verſchiedenen Berufe und Anſchauungen des arbei⸗ tenden Volkes in lebendigen Vertretern zuſammengebracht werden, kann die Lehre aus dem Ganzen und fuͤr das Ganze der Volksordnung entwickelt werden.

ls die Akademie der Arbeit ins Leben trat, war der Typ des hauptamt⸗

lichen Lehrers für Erwachſenenbildung noch nicht geprägt. Auch die bisherige Volksbildung lieferte dafuͤr keine brauchbaren Erfahrungen. Inzwiſchen freilich iſt auch in der freien Volksbildung das Problem des hauptamtlichen Volksbildners in den Mittelpunkt geruͤckt.

Der hauptamtliche Lehrer an der Akademie der Arbeit mußte fein Ge⸗ praͤge von den Aufgaben erhalten, Hörer im Mannesalter zu bilden. Das beſagt: es iſt von ihm die Faͤhigkeit und Kraft verlangt, den „Schuͤler“ als Mitarbeiter anzuerkennen und ihn bei der Mitarbeit zu erhalten. An- ders als bei dem Univerſitaͤtsdozenten und dem Schullehrer alſo, ruͤckt für den Lehrer an der Akademie in den Mittelpunkt die Aufgabe zu verhuͤten, daß der Erwachſene die Maske des Knaben im Lernen anlegt, um von der Verantwortung fuͤr das Gelernte frei zu bleiben. Statt deſſen gilt es, eine Serausſtellung des ganzen Menſchen, fo wie er bereits im Leben handelt und wirkt, zu bewirken.

Wie es fuͤr die Akademie, ſoll fie eine wirklich uͤberparteiliche Bildungs; ſtaͤtte für das arbeitende Volk fein, wichtig iſt, daß die Mitarbeiter die ganze Mannigfaltigkeit der Berufe, Anſchauungen, Strebungen uſw. im Volke repraͤſentieren: fo iſt es für fie notwendig, daß auch in der geiſtigen Fuͤhrung die parteiiſchen Kräfte des Volkes lebendig wirkſam find. Eine Somogenitaͤt der hauptamtlichen Dozenten von vornherein, würde gerade die erſt im Geiſteskampfe und in ruͤckhaltloſer maͤnnlichen Begegnung zu begruͤndende Gemeinſchaft, die neue „Volkheit“ unmoglich machen. Denn dies iſt ja die Aufgabe: die Lehrer, die Mitarbeiter ausbilden ſollen, muͤſſen ſelbſt in die Lage kommen, ſich vor ihren Schuͤlern als Mitarbeiter zu zeigen. Das kann nur geſchehen in einer echten Gemeinſchaft von Lehren⸗ den, nicht nur in der Form einer humanen Zollegialität. Die Dozenten⸗ gemeinſchaft muß das Miteinanderarbeiten felbft] beiſpielhaft verwirk⸗ lichen: durch Ausſprache, ſtaͤndige Auseinanderſetzung und Verſtaͤndigung.

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Von der bloßen geiſtreichen Unterhaltung unterſcheidet ſich dieſe Ausein⸗ anderſetzung durch ihre Verantwortlichkeit. Aber auch der Lehrinhalt der Akademie der Arbeit verlangt dieſe Gemeinſchaft. Denn die Lehre, wie ſie hier gefordert iſt, iſt ja in ſelbſtaͤndiger Forſchung aus dem Robftoff des Fakultaͤtswiſſens herauszubilden. Das kann kein Dozent für ſich allein leiſten, dazu bedarf er des lebendigen Austauſches mit den Dozenten der anderen Faͤcher. In dieſen Ausſprachen kann ſich dann die Sprengung eben jener Abkapſelung der Fachſprachen vollziehen, die ſich heute, wo faſt jeder Forſcher ſeine eigene Terminologie hat, in einer kataſtrophalen Sprachenverwirrung auswirkt. was die Dozenten von ihren Schülern verlangen, die geiſtige Umwandlung, das muͤſſen ſie alſo unter ſich ſelbſt auch vollbringen.

Beſteht aber die Rerngemeinſchaft der Sauptdozenten, dann iſt es moͤg lich, nebenamtliche Dozenten jeder Serkunft und Richtung für beſtimmte Gebiete heranzuziehen. Der Einbau der Vorleſungen dieſer Dozenten wird reine grundſaͤtzlichen Schwierigkeiten mehr bieten.

Kuͤckblick und Ausblick M.. dieſer neuen Bildungsform, die aus der Not und den Beduͤrfniſſen der Arbeit Aufgabe und Kraft empfaͤngt, iſt nun der Grund zu einer neuen Volksbildung uberhaupt gelegt.

Die Volksbildungsbewegung des ausgehenden Jo. und beginnenden 20. Jahrhunderts war eine kuͤnſtliche Reaktion auf die Tatſache, daß die echte Volksbildung zerſtoͤrt iſt: naͤmlich als Formung des Volkes durch Gemeingeiſt, beſſer: durch die verbindlichen Lebensordnungen und die Sprachgebilde, in denen dieſer Gemeingeiſt Geſtalt und Ausdruck gewann. Die Neuzeit, vorzuͤglich das Io. Jahrhundert, war aber gekennzeichnet durch den Ruͤckzug des Geiſtes und mit ihm der Bildung aus den Niede⸗ rungen des Volkslebens und feiner Ordnungen auf ideale ohen. Sie war gekennzeichnet durch die Scheidung des Volkes in „Gebildete“ und „Un⸗ gebildete”. Träger dieſer neuzeitlichen Bildung war der dritte Stand, das Buͤrgertum. Sie war liberal und individualiſtiſch und zerſetzte, wo ſie ein⸗ drang, die Volkskultur. Dieſen Weſenszug behielt ſie auch ſie konnte ja aus ihrer Saut nicht heraus in der Verduͤnnungsform der „Volks⸗ bildung”.

An der Arbeiterſchaft als Proletariat ein Endprodukt des Auf: loͤſungsprozeſſes der europaͤiſchen Volksordnungen wurde der Kriſen⸗ zuſtand dieſer neuzeitlichen Bildung immer deutlicher: ſie verſagte vor feinen ſozialen Noͤten, fie widerlegte ſich im Lebensgefühl des Arbeiters, wo dieſes originaͤr durchbrach. Und die faktiſche Sinwendung der Arbeiter⸗ ſchaft zur bürgerlichen Bildung und wiſſenſchaft hat fie immer ſtaͤrker in den Widerfpruch hineingetrieben zwiſchen der Relativitaͤt, Unverbindlich⸗ keit und Vorausſetzungsloſigkeit der modernen Wiſſenſchaft und Bildung und dem Lebensgefühl des Arbeiters, das auf eine neue bindende ſoziale Grdnung und damit auf eine bindende Gedankenwelt hindraͤngt. wenn dem Proletarier es auch ſelbſt nicht bewußt wurde, ſo wurde es doch an ihm klar, daß er eines Denkens beduͤrfe, das auf ſeine wirklichen Noͤte ant⸗

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wortet und verpflichtende Kraft beſitzt. Solange die Arbeiterſchaft in die radikale Gppoſition gedrängt war, war das ſozialiſtiſche Ethos zwar ſtark genug, dieſe nachteiligen Wirkungen zu parieren. Heute aber iſt die Situa⸗ tion veraͤndert, heute iſt gefordert, daß die Arbeiterſchaft ihre errungene Stellung im Volksganzen, ihren Auftrag, zu neuen bindenden Ordnungen durchzuſtoßen, auch als aktive Trägerin neuen geiſtigen Lebens bewahre. Es iſt ihr aufgetragen, auch in der Geiſtesbildung durchzuſtoßen, durch die individualiſierende Bildung der modernen welt zu einer neuen Gemein⸗ ſchaftsbildung. Dieſe muß als originaͤre Bildung von der volkspolitiſchen Berufung der Arbeiterſchaft Aufgabe und Inhalt empfangen. Denn mit der Induſtrialiſierung hub die Entformung der Voͤlker Europas an, mit der von der Arbeiterſchaft mitgetragenen Induſtrie und Arbeitsordnung muß das ſoziale Chaos uͤberwunden werden.

So wird es von der Arbeiterſchaft, als der Grundſchicht der neuen Volksordnung, abhaͤngen, ob der Stoffwechſel zwiſchen Volk und Bildung wieder in Taͤtigkeit tritt. Es geht darum, gerade im Arbeiter den un- gebundenen, willkuͤrlich freien Geiſtesmenſchen zu überwinden durch den oͤffentlich· verantwortlichen Geiſtesmenſchen, im Arbeiter den Geiſt, der bloß feinen eigenen Geſetzen folgt, abzuloͤſen durch den Geiſt, der den Noͤten des Lebens zugewandt iſt und ihnen helfend antwortet.

Denn die neue Bildung kennt ja nicht mehr die idealiſtiſche Freiheit des Geiſtes wie die alte, und infolgedeſſen auch nicht mehr die Spaltung des Lebens in Theorie und Praxis, in „Wille und Vorſtellung“, an welcher Spaltung Europa zugrunde gegangen iſt. Die neue Bildung gruͤndet ſich auf den gebundenen Geiſt, der den Lebenserſcheinungen zugewandt iſt und in ſie eingeht. An notwendige Dinge hat dieſe Bildung anzuknuͤpfen, auf notwendige Fragen zu antworten; denn ſie will ja nicht aufklaͤren, ſondern retten und wirken, das Chaos durch die Bereitſchaft für die werdende Grd⸗

nung überwinden. Umſchau

Grundfragen der Örganifation der Staatlichen Fach ſchulen für Wirt ſchaft und Verwaltung a

liches Bild der Staatlichen Wirtſchaftsſchulen zu geben, fie wollen in der Saupt ; ſache weſentliche Fragen aufwerfen, die für die Organiſation der Wirtſchafts · ſchulen von Bedeutung find. Ihre Vorgeſchichte, Verfaſſung, ſowie Aufgaben, Arbeits weiſe und Bedeutung find in einer Reihe von Artikeln ſchon öfters zur Darſtellung gekommen“. Einzelheiten über die Einrichtung der Wirtſchaftsſchulen bringen außerdem ausfuhrliche Proſpekte und die Wirtſchaftsſchulblaͤtter, die von der Wirtſchaftsſchule Däfleldorf ſelbſt herausgegeben werden und weſentliche Bei⸗ träge aus der taglichen Arbeit enthalten.

Reichsarbeitsblatt Nr. 40/4], 5. Jahrgang 1925. Organiſation und Bedeutung der Staatlichen Fachſchulen für Wirtſchaft und Verwaltung. Die Arbeit. Nr. 5, J. Jahrgang 1924. Staat und Arbeiterbildung. Soziale Praxis. Nr. 32/33, 32. Jahrgang 1923. Aufgaben, Arbeitsweiſe und Bedeutung der Staatlichen Fachſchulen für Wirtſchaft und Verwaltung. Deutſche Arbeit, Nr. 3, Grund⸗ zuͤge der Arbeiterbildung im Rahmen der ſtaatlichen Wirtſchaftsſchulen.

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Fuͤr jede Schulart iſt es von Bedeutung, zu wiſſen, ob ein Bedarf für fie vor banden iſt, und von wem er ausgeht, unter welchen Vorausſetzungen die Arbeit durchgeführt werden kann, und in welcher Weiſe eine Eingliederung der neuen Bildungsſtaͤtte in das Geſamtſyſtem der ſtaatlichen Bildungs einrichtungen möglich iſt. Das Beduͤrfnis nach Wirtſchafts ſchulen ift nun aus der Arbeiterbewegung ge- kommen. Die Notwendigkeit eines geeigneten neuen Bildungsweſens kam einzel nen Fuͤhrern der Arbeiterſchaft um fo mehr zur Erkenntnis, je mehr die politiſche und wirtſchaftliche Mitverantwortung größere Anſpruͤche an fe ſtellte. Ohne gründliche Schulung war die Arbeiterſchaft den größeren Aufgaben einfach nicht gewachſen, die politiſcher Wille und nationales Schickſal ihr geſtellt hatten. Die Beſucher der Wirtſchaftsſchulen kommen deshalb in der Sauptſache aus der Ar- beiterbewegung. Angeſtellte find weniger unter ihnen. Die Angeſtelltenorganiſa · tionen haben ſich im Kuratorium der Wirtſchaftsſchulen beteiligt, ſich im übrigen aber von der Beſchickung zuruͤckge halten. Die Angeſtellten mögen ſich politiſch mit den Arbeiterorganiſationen auf einer Linie finden, ſoziologiſch geſeben fühlen fie ſich faſt ausnahmslos als eine beſondere Gruppe. Sie haben ihre eigenen Bildungs; ziele und mitunter auch ihre eignen Einrichtungen. Eher find Arbeiter verſchiede⸗ ner politiſcher Parteien auf eine Schulbank zu bringen als Arbeiter und An geftellte der gleichen Richtung. Aus dieſer ſoziologiſchen Verſchiedenheit ergibt ſich die andere Bildungsaufgabe der Angeſtellten, die ſich mehr auf Berufsbildung, Allgemeinbildung und Pflege der Geſelligkeit erſtreckt. Die Bildungsbeſtrebungen als Ausdruck der ſozialen Bewegung treten in dem Maße zuruͤck, als ſie ſich bei der Arbeiterſchaft verſtaͤrkt zeigen. Die Arbeiterſchaft iſt gewerkſchaftlich und wohl auch politiſch ſtaͤrker bewegt als die Angeſtellten ſchaft es bisher war. Unter den 5 Einwirkungen der letzten Jahrzehnte hat ſich auch bei den Ange⸗ ſtellten eine Wandlung vollzogen. Die Organiſationen der Arbeiter ſind aͤlter und infolge ihrer Große, die in der elementaren Arbeit begruͤndet liegt, die fie zuſam⸗ menfaſſen, für ein Staatsweſen von beſonderer Bedeutung. Deshalb iſt das Be duͤrfnis nach Bildung innerhalb der Arbeiterſchaft auch ſeitens der Staats: und Rommunal verwaltung als durchaus beachtlich aufgenommen worden. Es find alſo in der Sauptſache Arbeiter die Beſucher der Wirtſchaftsſchulen. Dennoch dürfte es vielleicht eine lohnende Aufgabe fein, auch mit den Angeftelltenorgani- fationen eine ihnen entſprechende Form der Bildungsarbeit zu finden, wie fie 3. B. mit dem Deutſchen Werkmeiſterverband Duͤſſeldorf oder den Angeſtellten der Abei- niſchen Arankenkaſſen bereits geſchaffen worden iſt. Vorläufig macht allerdings die Organiſation der Arbeiterbildung Muͤhe genug, und wir beſchaͤftigen uns im folgenden auch nur mit ihr.

Wer die Wirtſchaftsſchulen beſucht, kommt in den ſeltenſten Fallen als Einzel · weſen um ſeiner perſoͤnlichen Ausbildung willen. Er kommt gleich im Rahmen eines größeren Verbandes, einer beſtimmten Richtung und Weltanf 3 und mit einer beſtimmten politiſchen Jielſetzung. Die Beteiligung am ſozialen Leben iſt die Urſache feines Bildungseifers. Deshalb trägt dieſer Schuͤlerkreis, der Er wachſene von 22 bis 35 Jahren umfaßt, eine beſondere eigengeartete Bildungs⸗ aufgabe in fi, die an bisherigen Bildungsſtaͤtten ſchwerlich in Angriff genommen werden kann. Es iſt nun das Neue in der Geſchichte der Paͤdagogik, daß der Staat ſich bemuͤht, den Bildungsbeſtrebungen dieſes Schuͤlerkreiſes Rechnung zu tragen. In dieſem Bemuͤhen kommt die Fortentwicklung unſerer Geſchichte zum Ausdruck, die unter gewiſſen Vorausſetzungen dieſe Juſammenarbeit von Staat und Ar⸗ beitern ermöglicht. Dieſe hat ihre Probe noch nicht völlig beſtanden und wird vor- laͤufig auch noch längere Zeit um allgemeine Anerkennung ringen muͤſſen, aber wir dürfen vorläufig feſtſtellen, ein Anfang auf dem Gebiete der Bildungsarbeit iſt da, und es iſt ſicher ein Erfolg, abgeſehen von allen Einzelheiten, daß er da iſt.

Vorausſetzung für die Durchfuhrung der Wirtſchaftsſchulen iſt die andere Ein · ſtellung der Arbeiterſchaft, ins beſondere der freigewerkſchaftlich organiſierten Ar⸗ beiterſchaft zum Staate und andererſeits die andere Einſtellung des Staates zur Arbeiterſchaft aller Richtungen. Dieſer Wandel feit 1918, im Kriege bereits weſentlich eingeleitet, iſt naturlich noch nicht vollig geklaͤrt. Es gibt noch große Arbeiterſchichten, die den Weg zum Staate nicht finden können, und es gibt auch

Umſchau 311

Vertreter der Staatsverwaltung, deren Entwicklungsgang ein tieferes Verſtaͤnd⸗ nis für Arbeiterbeſtrebungen unmoglich gemacht hat, obſchon bier ausdrücklich bervorgeboben werden ſoll, daß im allgemeinen die Verwaltungen gerade für Bildungsbeſtrebungen der Arbeiterſchaft größtes Verſtaͤndnis hatten und tatkräftig

ebolfen haben. Gewiß, eine Klarung in den gegenfeitigen Beziehungen er⸗ Torten Zeit. Die Ausſichten ſeitens der Organiſationen der Arbeiterſchaft werden

uͤr eine Juſammenarbeit immer guͤnſtiger. Dafur iſt der Gewerkſchaftskongreß in Breslau 1925 ein Beweis. Nuͤchterne Naturen hatten die Führung auf dieſem Rongreſſe, die ihre Krafte richtig einſchaͤtzten und die revolutionaͤre Taf: ti? ablehnten. Die Enttaͤuſchung über den Bang der Entwicklung in den Maſſen ift von dem Willen zur poſitiven Arbeit durch politiſche und Wirtſchaftsde mokratie abgelöft worden. Dieſe poſitive Einſtellung iſt eigentlich nur eine Rlärung der bis her geäbten Praxis, die ſich jetzt einheitliche Richtlinien ſchafft. Man will nicht mehr zuruͤck in die bloße ohnmaͤchtige Oppoſition, man will mitarbeiten und mitbeſtimmen und braucht zu dieſem Zwede die Ausbildung der Funktionaͤre und Fuͤbrer ſowohl auf techniſchen wie wirtſchaftlichen e Auf Grund dieſer feſtentſchloſſenen Abſicht iſt die Vorausſetzung für die Mitarbeit der Ar⸗ beiterorganiſationen an den ſtaatlichen Wirtſchaftsſchulen durchaus gegeben, auch wenn es in einzelnen Fallen Organiſationen gibt, die dieſen Haren Willen des Gewerkſchafts kongreſſes nicht teilen. Aber auch die Organiſationen follten bei den ſtaatlichen Bildungsanſtalten weniger Wert auf eine beſondere Weltanſchau ; ung legen, ſondern mehr auf die praktiſche Arbeit achten, auf die poſitiven Kei- ſtungen und wenigſtens durch einen Verſuch die Beſucher der Wirtſchafts ſchulen über ihre weitere Beteiligung entſcheiden laſſen.

Man kann aber wohl ſagen, daß bei einer Reihe von Organiſationen und bei dem Geſamtverband der Freien Gewerkſchaften die groͤßten Bedenken uͤberwunden ſind. Bei ihnen iſt der Weg zu einer Ausbildung ihrer Mitglieder an ſtaatlichen Inſtitutionen frei geworden, wenn man auch vielleicht noch zoͤgernd die Erfolge des Experimentes abwartet. Beim Deutſchen Gewerkſchaftsbund haben Sem mungen der Art wie bei den freien Gewerkſchaften nicht beſtanden. Die Be⸗ dingungen für ibre Mitarbeit an den Wirtſchaftsſchulen iſt im weſentlichen die Bereitſchaft, trotz aller Betonung ihrer eigenen Weltanſchauung dennoch in praf: tiſchen Fragen mit den übrigen Organiſationen der Arbeiterſchaft zuſammenzu⸗ gehen, alſo auch eine beſtimmte Fachſchulbildung ibren Mitgliedern mit den An⸗ ge hoͤrigen anderer Organiſationen zuteil werden zu laſſen. Aus den Erklaͤrungen des Generalſekretaͤrs der chriſtlichen Gewerkſchaften Otte iſt dieſe Juſammen⸗ arbeit wohl ohne Zweifel geſichert. Tatſaͤchlich iſt auch bereits ein Juſammengehen in Wirtſchafts ſchulfragen trotz einiger Bedenken im Anfang erfolgt. Aber auch bei den chriſtlichen Gewerkſchaften gibt es trotz dieſer Geſamteinſtellung noch Organi · ſationen, die ſich aus dem einen oder anderen Grunde fernhalten. Ein Organi⸗ ſationsweſen, auf Selbſtverwaltung aufgebaut, iſt eben nicht ſo leicht zu ge⸗ winnen. Bei den Sirſch⸗Dunkerſchen Gewerkſchaften find Zweifel grundſaͤtzlicher Art Aber ihre Mitwirkung nie laut geworden, fie haben ſich im Rahmen ihrer Bräfte ſtets gerne beteiligt. Dieſe neue Einſtellung ſeitens der Arbeiterbewegung in ihrer ganzen Breite iſt die erſte Fee e die Einrichtung ſtaatlicher Wiriſchaftsſchulen. Die neue Einſtellung des Staates iſt die andere Voraus- fegung. Dieſe Einſtellung muß durch die Verpflichtung gekennzeichnet fein, ohne Enge irgendeiner Parteiauffaſſung wirklichem Bildungs verlangen der Arbeiter⸗ ſchaft nachzukommen. Der Staat darf ſeine Silfsbereitſchaft nicht in den Dienſt beſtimmter Intereſſen oder politiſcher Auffaſſungen ſtellen wollen, er muß ſich von reiner Sachlichkeit leiten laſſen; fuͤr ihn kein anderes Jiel maßgebend ſein als das ernſte Be muͤhen, dem Willen der Arbeiterſchaft nach Vertiefung ihrer Bildung entgegenzukommen, damit ſie von ihrer Eigenwelt und ihrem Eigenwillen aus

Protokoll der Verhandlungen des 12. Bongrefles der Gewerkſchaften Deutſch · lands 1925, Seite 36 ff. Entſchließung Nr. 13, IL Abſatz 5, 6 und Jo. Die Deutſche Arbeit. Nr. 9, Jahrgang 1925. B. Otte: „Das Verhaltnis zwiſchen chriſt⸗ lichen und freien Gewerkſchaften.“

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ſich weitere Erkenntnis verſchaffen kann. Der Staat muß allen die Moglichkeit geben, auch denen, die abſeits der vorhin gekennzeichneten poſitiven Einſtellung zu ihm ſtehen, wenn nur der Wille zu wirklichem Studium vorhanden iſt. Das Mini ſterium für Sandel und Gewerbe, dem die Wirtſchafts ſchulen unterfteben, hat dieſe liberale Auffaſſung in der Arbeiterbildungsfrage bisher nicht vermiſſen laſſen, ſo daß Be hoͤrden und Gewerkſchaften alle beteiligten Organiſationen werden das zugeben ohne die geringſten Reibungen im Buratorium zuſammen gearbeitet haben. Nur unter dieſen Vorausſetzungen kann ein der Arbeiterſchaft nottuendes weitergebendes Bildungsweſen uberhaupt geſchaffen werden. Alle freie Bildungs; arbeit, fo durchaus begründet und notwendig fie iſt, muß naturgemäß in den An⸗ faͤngen ſtecken bleiben, wenn dieſe Arbeit nicht zu irgendeinem Jeitpunkte dem Staate übertragen wird.

Wenn Staatsverwaltung und Gewerkſchaft entſchloſſen ſind, unter gegenſeitiger Beachtung ihrer Stellung und unter weſentlicher Unterftügung der offentlichen Meinung, Bildungsmoͤglichkeiten zu ſchaffen, ergibt ſich die weitere Frage, welcher Art dieſe Bildung fein ſoll, und in welcher Weiſe dieſe neuen Anſtalten dem übrigen Bildungsweſen eingereiht werden ſollen. Nun iſt in Deutſchland uns ein durchaus reichhaltiges Bildungs weſen von der Geſchichte her uͤberliefert worden. Es iſt Aus; druck der bis herigen fůͤhrenden Schichten. Die Arbeiterſchaft war weder wirtſchaft · lich, noch politiſch, noch kulturell bisher eine Macht, die ſtark genug geweſen wäre, ſich ein bedeutſames Bildungsweſen zu ſchaffen, wie es die Kirche in den Kloſter⸗ ſchulen, Sandwerk und Baufmannfdaft in den Stadtſchulen, der Adel in der

itterbildung und vor allem das Bürgertum in dem heutigen hoheren Schulweſen und Sochſchulweſen ſich geſchaffen und in Jahrhunderten ausgeſtaltet hat. Alle Aufflärung, alle Ausbildung, die geſamte geiſtige Formung geſchah nicht von der Arbeiterſchaft aus, ſondern wurde von außen her in ſie hineingetragen. Das war bei aller Volksbildungsarbeit, ja faſt ſogar bei aller parteipolitiſchen Bildung ebenſo der Fall wie bei der ſtaatlichen Ausbildung für die Arbeiterkinder in Volks; ſchulen und Berufsſchulen. Dieſe Ausbildung geſchah nicht um der Arbeiterſchaft willen, oft im Gegenſatz zu ihren politiſchen Zielen, oft aus beſtimmten Staats · und Parteizwecken der führenden Kreiſe heraus. Ohne daß man fo weit zu gehen braucht, dieſes ganze Bildungsweſen nur als ein Inſtrument der beſitzenden und führenden Klaſſe hinzuſtellen viel Arbeit iſt in Volksſchulen und Berufs- ſchulen um der Jugend ſelbſt willen geſchehen, ohne Jweckgedanken und mitunter ſogar im Gegenſatz zur behördlichen Auffaſſung oder ohne die freie Bildungs arbeit nur als Fangnetz für beſtimmte Richtungen hinzuſtellen manche Bil⸗ dungsarbeit war, wenn auch der Arbeiterſchaft fremd, durchaus in ihrem Inter ; eſſe fo bleibt doch die Tatſache befteben, daß die Arbeiterſchaft aus ſich heraus nur ſchwache Bräfte hervorbrachte, wegweiſend die Bildungsbeſtrebungen zu be⸗ einfluſſen und auszugeſtalten. Bei einem Juſammengehen von Staat und Gewerk⸗ ſchaft wird in dieſer Beziehung ſich recht bald ein merklicher Fortſchritt zeigen.

Das bisherige Bildungsweſen ſieht nun im Anfang immer einen gewiſſen Grad von Allgemeinbildung vor; Volksſchule, Gymnaſien, Oberrealſchule ſind die Staͤtten dieſer Allgemeinbildung, die dann zum großen Teil für die Beſucher der letzteren Anſtalten auch an den Sochſchulen noch erweitert wird. Dieſe Allgemein bildung begann mit der Freude am Stoff in recht vielen Faͤchern. Sie wurde vom Wiſſensſtolz geleitet und wandte ſich dann von der Wiſſens vermittlung als der bedeutendſten Aufgabe ab, um die geiſtigen Krafte zu ſtaͤrken, um an Stelle der Stoff bildung Fefe zu erreichen. Dieſe Bräfte waren zunaͤchſt intellek⸗ tueller Art, erſt ſpaͤter verſuchte man unter der Reaktion gegen dieſe intellektuelle Bildung mehr den ganzen Menſchen zu erfaſſen, ſein Gefuͤhl, Willen, ſeinen Glauben, fein ganzes Leben zu entfalten. Dieſe neueſte Aufgabe hielt ſich meiſt in den Grenzen eines allgemeinen Menſchentums; der Unterſchied in der ſozialen Cage, die Gruppenpſpche, die das Menſchſein ſtark beeinflußt, fand dabei weniger Beachtung. Man ſah den Menſchen, den deutſchen Menſchen, ohne ſtaͤrkere Diffe · renzierung. Neben dieſer Allgemeinbildung entwickelte ſich die Berufsbildung, allerdings aus der idealiſtiſchen Auffaſſung des 19. Jahrhunderts heraus wenig geſchaͤtzt, vernachlaͤſſigt und oft ſogar verachtet. Sie wurde als Jweckbildung, als

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e und Technik nicht für voll angeſehen. Es mag fein, daß dieſes Urteil ber fie zeitweiſe berechtigt war, zum Teil aber verkannte man doch auch die bilden ; den Kraͤfte, die in dieſer Berufsſchulung ſteckten und von Maͤnnern des Berufs; ſchulweſens auch weſentlich gefordert worden find. Die Berufsſchulbildung war eben nicht bloße Technik, ſie vermochte die intellektuelle Bildung ebenſo gut zu vermitteln und in Verbindung mit der praktiſchen Arbeit den ganzen Menſchen noch viel tiefer zu erfaſſen, da fie ibm aus einem beſtimmten Breife und Berufe und aus einer beſtimmten ſozialen Cage heraus Klarheit und Sicherheit der Lebensführung gab. Wenn Bildung geiſtige Überlegenheit über die Lage eines menſchen und Einführung in die Juſammenhänge eines geiſtigen und ſozialen Geſchehens bedeutet, dann kann auch eine Bildung, die lebenswahr vom Berufe ausgeht, ohne Zweifel als ſolche angeſprochen werden. Leider ift das bis her noch zu wenig geſchehen. Die Berufsbildung leidet immer noch unter der Tatſache, daß man fie als bloße Technik der FHachſchulen einer wahren Geiſtesbildung der Soch · ſchule gegenüberftellt. Es ift wichtig, das feſtzuſtellen, da auch die Wirtſchafts ſchulen in das Berufsſchulweſen eingereiht, ſofort die ubliche Beurteilung er- fahren haben, indem man die Arbeit der Wirtſchaftsſchulen als Vermittlung von Techniken für tägliche und praktiſche Jwecke der Akademie der Arbeit als Soch⸗ ſchule des Geiſtes gegenuber un Die Wirtſchaftsſchulen betonen den Ausgang von der praktiſchen Arbeit, aber fie laſſen ſich nicht entſeelen, auch fie haben ihren geiſtigen und erzieberifhen Gehalt und ihre innere Verbundenheit mit dem Ganzen der ſozialen Lage der Arbeiterſchaft, wenn fie auch nicht verſuchen, eine Sosial- pbilofopbie der Arbeiterbewegung wiſſenſchaftlich fo auszugeſtalten, wie es bei der Akademie der Arbeit der Fall iſt. Die Wirtſchaftsſchulen pflegen nicht eine be⸗ ſtimmte Weltanſchauung, ſie glauben, daß eine geſchloſſene Weltanſchauung aus bildneriſchen Grunden auch nicht notwendig iſt, ganz abgeſehen davon, daß fie als ſtaatliche Bildungsanſtalten nicht das Recht haben, in die innere Einſtellung ihrer Hörer Se

Die Wirtſchaftsſchulen haben im Rahmen des Fachſchulweſens ihren Platz ge⸗ funden, das vom preußiſchen Sandels miniſterium betreut wird. Sie haben infolge · deſſen Abnliche Aufnahmebedingungen wie dieſe und arbeiten nach aͤhnlichen Me⸗ thoden, allerdings nicht von der Technik, ſondern von der ſozialen Seite des Berufes, von der ſozialen Bewegung und Verwaltung ausgehend. Sie meſſen eben der ſozialen Seite des Berufes beim Arbeiter eine beſondere Bedeutung bei. Dieſe Sonderaufgabe im Berufsſchulweſen iſt neu, aber ſie entſpricht den Erforderniſſen unferer Zeit, indem fie den Menſchen nicht als Einzelweſen, ſondern als Gemein ſchaftsweſen, als politiſches Weſen im Berufsverband oder in der ſozialen Be⸗ wegung erfaßt. In dieſer Betonung der ſozialen Ausbildung liegt durchaus keine Verkennung der Technik, noch eine Verkennung der Allgemeinbildung. Die Arbeiter ſchaft braucht Maͤnner mit ebenſo tuͤchtiger Berufs · wie Allgemeinbildung, ſondern in dieſer Bildungsaufgabe liegt nur eine notwendige Spezialiſierung, die be⸗ deutungs voll genug iſt, daß fie eine eigene Schulart ausfüllt. Die Eingliederung in das Fachſchulweſen geſtattet außerdem etatmaͤßig akademiſch gebildete Krafte, wie fie an den übrigen techniſchen Lehranſtalten tätig find, die mit einer gruͤndlichen Fachbildung ſoziale Erfahrungen verbinden, und die andererſeits durch ein Spezia⸗ liſtentum ſich nicht fo weit verloren haben, daß fie den einfachen Bedurfniſſen der Wirtſchaftsſchuͤler kein Verſtaͤndnis mehr entgegenbringen konnten. Die Wirt- ſchaftsſchulen find ein Fortſchritt über Volks und Berufsſchule hinaus. Sie ge waͤhrleiſten, ohne gleich die Anforderungen einer Sochſchule an ihren Schuͤlerkreis zu ſtellen, eine gruͤndliche Schulung und damit die innere Sicherheit der Wirt⸗ ſchafts ſchuͤler, eine ibnen nahe liegende Aufgabe praktiſch in Angriff zu nehmen. Was geboten wird, ift vom Standpunkte der Lernenden aus nuͤtzlich und gleich zeitig Bildung, die über ihre Böpfe nicht hinweg geht. Das Verlangen mancher Arbeiter, insbeſondere der jungen, geht natürlich weiter. Man möchte zum Soͤchſten greifen, uber die Anfaͤnge aller Schulung gleich hinaus, bis an die Sochſchulen, und zwar aus inneren und ganz berechtigten Gruͤnden heraus. Wie oft legt die taͤgliche Arbeit uns Fragen vor, auf die ein Univerſitaͤtsſtudium nur eine befriedigende Antwort geben kann. Dieſe großen Fragen ſind nicht das Ergebnis eines laͤngeren

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Denkprozeſſes unſerer Schüler, fie find ihnen ganz elementar zu eigen, fie tragen fie als ein Stuck ibres Lebens und ihrer Bewegung in fi. Es iſt des halb erklaͤrlich, wie man ſich nach „großen Aanonen“ ſehnt, daß man als Stürmer formlos, ge · ſchichtslos über die Anfange im Deutſchen und uber beſcheidenſte Begriffsbildung hinwegſtolpernd gleich ins Weite bis zu den letzten Quellen draͤngt. Dieſes Sehnen iſt berechtigt und kann doch fo raſch nicht erfüllt werden. Notwendig iſt vielmehr, daß es auf beſtimmten Vorſtufen nun zunaͤchſt eine innere Feſtigung und Ausleſe ermöglicht. Es gibt Bräfte unter den Schuͤlern, die weiter können und wollen, und für die ein Weg gefunden werden muß, der fie für großere Aufgaben der Arbeiter⸗ organifationen vorbereitet. Aber dieſe Weiterbildung iſt nicht moglich, bevor nicht der erſte Schritt geſichert iſt, naͤmlich die Ausbildung im Rahmen des Fachſchul⸗ weſens zunaͤchſt einmal durchzufuͤhren. Nicht der Ausbau nach oben, ſondern nach unten, mit dem Iwecke die Wirtſchaftsſchulen in den breiten Schichten der Arbeiter; ſchaft zu fundamentieren, hat deshalb bisher die ganze Braft der Wirtſchafts · ſchulen beanſprucht. Im Fernunterricht, in Studienzirkeln und kurzen Burfen ſollten die beſten Anrege⸗ und Auslöſe möglichkeiten geſchaffen werden. Es follte das Bildungs verlangen zunaͤchſt einmal in feinen Quellen erfaßt werden, um es dann an den Daͤmmen der Wirtſchaftsſchulen in einem einjaͤhrigen Lehrgang bei vollem Tages unterricht zu ordnen und zu klaͤren. Vier Jahre find mit dieſem Auf; bau der Arbeit vergangen. Jahre werden noch notwendig ſein, die bisherige Arbeit zu vollenden. Sie iſt die grundlegende Arbeit für jede Weiterentwicklung und er- 1 180 uns vom Standpunkt der Arbeiterbewegung aus als die brennendſte. Es ehlt nicht in den Spitzen der Verwaltung, es fehlt in den breiten Maſſen an Män- nern, die dort Selfer und Fuhrer fein konnen, die in den lokalen Organiſationen, die im Betrieb oder in der Jugendbewegung Krafte darſtellen, die geiſtig rege und gelenkig genug find, Verbindungen und Verantwortung zwiſchen Führung und Maſſen herzuſtellen.

Die Arbeit in den Wirtſchaftsſchulen iſt ohne weſentliche Vorbilder und zwar im Sinblick auf die ganze Organiſation ſowohl wie auf den Unterricht. Der Befamt- le hrplan, jedes Fach und jede einzelne Unterrichtsſtunde muͤſſen neu geftaltet werden, und zwar von dem Ausgangspunkt her, der ja auch Urſache der Einrichtung der Wirtſchaftsſchulen war. Das Problem, an dem ſich die Arbeit der Wirtſchafts ſchulen alſo orientiert, iſt die Beziehung zwiſchen Wirtſchaft und Gewerkſchaft. Dieſe Tatſache macht die Tätigkeit der Wirtſchaftsſchule vielleicht umſtritten, 5 ihr aber auch die beſondere Bedeutung. Es iſt wichtig, dieſem Problem zunaͤchſt einmal nicht auszuweichen, ſondern den Standpunkt des Arbeiters innerhalb der Wirtſchaft zu erfaſſen, wie er in ſeinen Organiſationen zum Ausdruck kommt, um von ihm aus die Wege der Ausbildung einzuſchlagen.

Nun iſt das Problem Wirtſchaft und Gewerkſchaft nicht fo einfach. Die Wirt · ſchaft iſt ein weiter Begriff. Sie greift in alle Lebensgebiete hinein und iſt ihrer; ſeits wieder durch außerwirtſchaftliche Grunde beeinflußt. Die Macht des Staates, die geiſtige Einſtellung der Nation, Sitten, Organiſationen uſw. üben ihren Ein fluß aus. Auch die Gewerkſchaft iſt ein weiter Begriff, der ſich dauernd wandelt, auch fie greift in alle Lebensgebiete. Während fie bisher nur ganz beſtimmte hatte, nur ſozialpolitiſch eingeſtellt war, iſt fie nach dem Kriege in jeder

ffentlichen Angelegenheit ftärfer hervorgetreten und bat ſich in weiteſtem Um⸗ fange auf dem Gebiete der Wirtſchaft betätigen wollen und muſſen. Infolgedeſſen muß die Bildung, die von dieſer Einſtellung ausgeht, groß und mannigfaltig ſein und andererſeits wieder Ruͤckſicht auf die Auszubildenden nehmen. Eine mangel hafte Allgemeinbildung muß überwunden werden, wenigſtens in manchen Fällen, auch iſt zu beruͤckſichtigen, daß es im Anfang jedenfalls ſchwierig ift, all das Neue raſch und gründlich zu erfaſſen, wie es die doch immer begrenzte Ausbildungszeit erfordert. twendig ſind des halb ſowohl Allgemeinbildung wie Fachbildung. Die Allgemeinbildung ergibt ſich nicht zum geringſten Teile durch die ſchulmaͤßige Arbeit im Fachunterricht. Es find aber auch Faͤcher wie Deutſch, Engliſch vor⸗ gefeben, deren Beſuch nach drei Monaten fakultiv iſt. Die geſamte Fachbildung iſt obligatoriſch, alſo Betriebswirtſchaft, Volkswirtſchaft, Sozialpolitik und Recht. Sinter jedem Fach ftebt nun eine Perfönlichkeit, die dieſem Gebiete ihr Bepräge

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gibt. Für den Lehrer iſt es ſchwierig, den Übergang vom Fachmann zum Paͤdago⸗ gen zu finden. Die ſchwierigſte Aufgabe an unſerer Anſtalt iſt die methodiſche Auf- gabe, weshalb ſich die Wirtſchaftsſchulblaͤtter immer wieder mit ihr beſchaͤftigen. Aufgabe des Leiters iſt es, in gemeinſamen Bonferenzen zunächſt mit den Do- zenten, und wenn die Schüler ſich eingelebt haben, auch mit ihnen, ſich um die Abſtimmung der einzelnen Gebiete untereinander und die notwendige Ronzentra- tion der Arbeit zu bemuͤhen und andererſeits in feinen eigenen Lehrgebieten wie Arbeiterpaͤdagogik, allgemeine Volkswirtſchaftslehre und Sozialpolitik immer wie · der den Blick der Lernenden auf den Juſammenhang der Faͤcher zu richten. Bei den Beſprechungen mit den Schülern über Plan und Arbeitsweiſe tauchen jedes · mal die verſchiedenartigſten Wuͤnſche auf; es laſſen ſich bei aller Verſchiede nartigkeit zwei Gruppen von Schülern unterſcheiden, die aber auch wieder in ſich durchaus die mannigfachſten N zeigen: ſie laſſen ſich im Extrem als Praktiker und Problematiker kennzeichnen. Die Praktiker wollen Fachunterricht, eine Einfuhrung in beſtimmte Praktiken, Anweiſungen, moͤglichſt mit ſchriftlichen Unterlagen. Sie wollen das, was ein Funktionaͤr in der Arbeiterbewegung braucht, was unerläß- lich für ihn iſt, Arbeitsrecht und Sozialpolitik in erſter Linie, Wirtſchafts⸗ und Staatslehre, ſoweit darin Nützliches enthalten ift. In der Theorie wollen fie moͤglichſt Begruͤndungen für fertige Meinungen, Argumente, die ihre Anſichten unterftügen und ſetzen Erörterungen, die den feſten Beſtand ihrer Auffaſſungen gefaͤhrden konnten, einen inneren Widerſtand gegenuber. Ihr Ziel iſt, innerlich ſicher mit Fertigkeiten ausgerüftet in die Arbeiterbewegung zuruͤckzukehren. Das Begenftäd zu dieſen Schülern find die Problematiker. Sie fordern nicht nur das, was die anderen Schuͤler wollen, ſie fordern eine Bildung, die mehr iſt als Aus⸗ druck der Arbeiterbewegung. Sie wollen eine Anteilnahme an den Kulturguͤtern, an Geſchichte, Philoſophie, am geſamten Bildungsweſen. Sie find im Geſamt⸗ vlan nicht immer zu halten, ſie folgen ſehr ſtark inneren Neigungen und zeigen ein brennendes Verlangen, die Problematik, welche die anderen vermeiden, gerade zu feben. Sie ringen mit ſich, fie hungern um ein neues Buch, fie wollen in die Tiefe alles ſozialen Geſchehens dringen. So ſehen die beiden Richtungen im Extrem aus. In Wirklichkeit finden wir bei den einzelnen Schülern mehr oder weniger ſtarke Übergänge. Das Verhaltnis beider Gruppen zueinander ift in den verſchie⸗ denen Jahrgaͤngen verſchieden. Es iſt auch ſchwer, in jedem Jahrgang feſtzuſtellen, zumal mancher Schüler erſt ſpaͤter ſich ſelbſt entdeckt. Man kann aber wohl ſagen, das Verhaltnis der Problematiker zu den Praktikern iſt im allgemeinen J :5. Je nach der Neigung der Schüler iſt die Einſtellung zu den einzelnen Faͤchern und ihren Dozenten, iſt die Beurteilung der geſamten Piäne und der Arbeits weiſe ver- ſchieden. Eine volle Befriedigung jedes einzelnen Schülers iſt der Wirtſchaftsſchule des halb nicht moglich. Sie muß auf einen Ausgleich der verſchiedenen Beftre- bungen achten, ſie muß eine Geſamtausbildung garantieren, die andererſeits auch im erſten Jahre bereits Raum für eine mehr oder weniger begrenzte Spezialiſierung laßt. Es gibt eine Reihe von Schülern, die ſich ſpezialiſieren können und obendrein der Geſamtarbeit ohne Muͤhe folgen, gerade dieſe durch die Spezialiſierung erft recht in ibrer tieferen Bedeutung erfaſſen. Ich darf in dieſer Beziehung wohl auf die Arbeit von Sans Otto, Nr. 3 der Wirtſchaftsſchulblaͤtter, über „Die Still legungsaktion in der KRaliinduſtrie“ hinweiſen, die nach einem halben Jahr be⸗ 8 entſtanden iſt und wertvolle Betrachtungen über die Entſtehung der Arbeit ngt. mit der Eigenart der Schüler hängt auch die Arbeitsweiſe weſentlich zu fammen*. Im Anfang aller Bildung muß die Anſchauung fleben. Die Arbeiter⸗ ſchaft iſt durchaus theoretiſch eingeſtellt, fie hat nur hoͤchſt allgemeine Vor; ſtellungen von dem, was in Wirtſchaft und Staat vorgeht. Das iſt ganz erklaͤrlich. Der Arbeiter iſt auf einen beſtimmten Platz geſtellt, er kann die großen Aufgaben des Betriebes nicht feben und noch weniger das ganze Woher und Wohin der Be- wegung der Volkswirtſchaft. Übrigens wie wenige in anderen Kreiſen wiſſen

» Siehe Deutſche Werkmeiſter⸗Jeitung Nr. 9, 1925. Die Bedeutung der Wirt ſchafts ſchulen für Wirtſchaft und Gewerkſchaft. |

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daruber Beſcheid, nur iſt das bei ihnen nicht immer wichtig. Sie find mit ihrer Lage durchaus zufrieden und wollen nichts anderes. Beim Arbeiter verbindet ſich jedoch mit feinem Denken die ganze Unzufriedenheit mit feiner Lage, die ſich bis zur revolutionaͤren Bundgebung ſteigert. Deshalb iſt Wiſſen für ibn nicht nur Macht, ſondern vor allen Dingen auch Pflicht. Die tägliche Arbeit geſtattet ihm den wei teren Blick nicht, die Männer der Wirtſchaft ſtellen ſich ibm nicht zur Verfügung, ſo bleibt es eben bei einigen allgemeinen Saͤtzen aus der politiſchen Diskuſſion und einem ſtarken Gefühl für feine Lage. Auch unſere Schuler bringen oft nicht mehr mit, auch wenn ſie ſich bereits auf eigene Weiſe eine weitergehende Bildung ver⸗ ſchafft haben. Am Anfang aller Bildung muß deshalb die Anſchauung von der Wirtſchaft ſtehen, die in den verſchiedenſten Formen, in Wort, Bild und Beſichti⸗ gung und Studienfahrt gepflegt wird. Dieſe Anſchauung muß durch Einführung in beſtimmte Techniken, in die Buchhaltung, Fabrikorganiſation, Statiſtiłk und durch eigene Wirtſchaftsbeobachtungen noch ergaͤnzt werden, die eine weiter⸗ gehende Information geftatten. Erſt auf Grund wirklicher Anſchauung kann eine tiefere Erkenntnis vorbereitet werden, um den Schüler in die Lage zu verſetzen, durch eine theoretiſche Ausbildung dem Leben 0 gerecht zu werden. Es gilt alſo aus der 1 1 heraus das Weſentliche aufzuſuchen, ſich zu einem Syſtem durchzuringen und insbeſondere mit den verſchiedenſten Wirtſchafts ſyſtemen aus · einanderzuſetzen, um dann fo vorbereitet an die Aufgaben der Wirtſchafts politik zu geben, d. b. planvoll in den Gang der Wirtſchaft einzugreifen. Iwar liegen die Schwierigkeiten bei der Wirtſchaftspolitik nicht nur in der Erkenntnis, ſondern auch in der Bewertung, in der Weltanſchauung uſw. Wenn alſo die Schule an dieſer Stelle nicht das letzte bieten kann wir kommen auf dieſen Punkt im Schlußwort noch einmal zuruck fo vermag fie durch ihre ganze Arbeit und nicht nur durch die Lehre, ſondern durch die Atmoſphaͤre, immerhin zu erreichen, daß über die Vergeiſtigung hinaus eine Weſensvertiefung erfolgt. Die geiſtige Schu: lung ſoll an Stelle eines ſtarken Trieblebens, eines aufbrauſenden Gefühls, einer mangelnden geiſtigen Energie und Diſziplin ohne Sinn für Maß und Jahlen eine geiſtig bewegte Initiative ſetzen. Sie ſoll nicht nur die großen Linien zeigen, fon- dern auch zu einem poſitiven Wiſſen und Koͤnnen fuhren. Die Weſensvertiefung wird aber ein Jahr harter Arbeit und Entbehrung von ſelber bringen, indem dieſes Jahr ihnen nahe legt, daß aller Aufſtieg nicht die Möglichkeit eines größeren Cebensgenuſſes als bisher bedeutet, ſondern Überwindung erfordert, Pflicht iſt und die Faͤhigkeit, für eine größere Sache Opfer zu bringen.

Ein Jahr der Ausbildung iſt zu kurz, ein zweites Jahr war von vornherein geplant aber zuruͤckgeſtellt worden, um zunaͤchſt Erfahrungen zu ſammeln. Not ; wendig iſt es; Bildung will Jeit, um reifen zu koͤnnen. Der Erfolg der Arbeit bängt aber nicht nur von der richtigen Durchführung des Studienjahres ab, für ihn iſt die Auswahl der Schüler von vornherein von groͤßter Bedeutung. Es muß einmal Wert darauf gelegt werden, daß der Kreis, aus dem ſich die Wirtſchafts · ſchuler rekrutieren, ſoweit wie moglich iſt, und daß ſich andererſeits in den Be⸗ mäbungen, die Wirtſchaftsſchule zu erreichen, bereits beſondere geiſtige Energien offenbaren. Die erfolgreiche Teilnahme am Fernunterricht von einem Jahre iſt des halb Vorausfegung für die Aufnahme. Über die Art des Fernunterrichts ſchreibt Dr. Schluͤnz, Vr. 2 der Wirtſchaftsſchulblaͤtter, „Methoden und Ziele des 5 in Wirtſchafts fragen“, ſehr ausfuhrlich. Er geht hier auf die

ußeren und inneren Schwierigkeiten der vorbereitenden Arbeit ein, zeigt den ganzen Gang der Arbeit von der Beobachtung uͤber das Studium leichter Werke zur volkswirtſchaftlichen Begriffsbildung. An den letzten Arbeiten, die bereits einige geiftige Braft vorausſetzen, entſcheidet ſich dann die Julaſſung. Eine aͤhnliche Ausbildung erfolgt vorher bereits in Geſchichte und allgemeiner Staats · lehre. Dieſer Vorkurſus macht der Schule ſelbſt viel Muͤhe, trägt aber jeden- falls mit dazu bei, ihr gute Bräfte zuzuführen, die den Aufwand an Arbeit, der vorher getan werden mußte, nachher lohnen. Mit der Weiteefübrung im zweiten Jahre ergibt ſich nun die ſchwierige Aufgabe einer neuen Ausleſe und Differenzierung. Fur fie muͤſſen erſt Erfahrungen geſammelt werden. Ein Teil der Schüler wird nach einem Jahre von ſelbſt an die Arbeit zuruͤckkehren, perſoͤnliche

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Verhaͤltniſſe laſſen mitunter ein weiteres Studium nicht zu, mitunter genügt ihnen aber auch die erhaltene Belehrung. Die Neugierde an der Wi enſchaft iſt be⸗ friedigt. Sie ſind dort angekommen, wo das eigentliche Studium beginnt und wo immer Studierende ſich ſcheiden. Sie wollen nicht weiter und koͤnnten auch kaum über gewiſſe Grenzen hinaus. Sie werden ſich im praktiſchen Leben mitunter durchaus bewähren. Sehr gerne bleibt ein anderer Teil der Schüler, der eine ßere Freude am Studium erhalten hat. Die Problematiker ue Freude an eſtimmten Fachgebieten gewonnen, die Praktiker haben eine Neigung bei fi ſelbſt entdeckt, den geiſtigen Grundlagen ihrer Facharbeit nachzugehen. Ein Teil der Schuler hat wirklich die Gabe der eigenen Arbeit. Eine Weiterfuͤhrung im zwei ten Jahre wuͤrde die geſamte Keiftung der Schule ganz weſentlich heben. Die Alteren konnen den Neuankommenden behilflich fein und dabei ihr Wiſſen und ihre paͤdagogiſchen Fahigkeiten erſt recht entwickeln. Die Tätigkeit der Schule konnte ſich im zweiten Jahre auf weniger Vorträge beſchraͤnken, um im übrigen Zeit zu Ubungen und ſelbſtaͤndigen Arbeiten der Schuͤler zu gewinnen. Es iſt nicht zuviel erwartet, wenn dieſe Weiterarbeit im zweiten Jahr mit der Saͤlfte der Schüler des erſten Jahrganges als beſonders ausſichtsvoll hingeſtellt wird. Dieſe Schuler werden mehr als Funktionaͤre fein, fie konnten geiſtige Kraft in die Arbeiter; bewegung tragen und wabrſcheinlich auch an verantwortlicher Stelle das Beſte leiſten. Ob fie ſich zum Fuhrer eignen werden, das haͤngt nicht nur von ihren KAenntniſſen ab, das kann eine Schule nicht erwirken, aber fie konnten Führern weſentliche Silfe leiſten. Man konnte an dieſer Stelle die Differenzierung der Schule noch weiter ausdenken, naͤmlich überlegen, welche Wege darüber hinaus noch einen Teil der Wirtſchaftsſchuͤler zur Sochſchule führen. Über dieſe weiteren Abſichten wird Sfters geſchrieben“, aber es handelt ſich bei dem gegenwärtigen Stande der Dinge doch wohl mehr um Jukunftsbetrachtungen, um nicht mehr als Skizzen von Syſtemen. Ohne Reifeprüfung wird der Weg zur Univerfität nicht frei. Die jetzigen Gymnaſialkurſe find Umwege, insbeſondere für den Gewerkſchaftler. Fuͤr ihn müßte der Weg über Berufs · und Wirtſchaftsſchulen weitergefuͤhrt werden koͤnnen, wie aber, darüber möchte ich in dieſem Rahmen nicht viel Poſitives fagen. Jedenfalls iſt auch die andere Aufgabe viel wichtiger, zunaͤchſt einmal Grund- legendes zu ſchaffen, und in dieſem Beſtreben haben die Wirtſchaftsſchulen ſich einen feſten Platz erworben. Ju erwaͤgen waͤre hier noch die Verbindung mit der Akademie der Arbeit als mögliche Fortſetzung der Wirtſchaftsſchulen. Da die Aka⸗ demie der Arbeit keine Fachausbildung weiterführen will, ſondern eine grund⸗ legende Geiſtesbildung vermittelt, duͤrfte ſie bei den guͤnſtigen Bedingungen, unter denen fie arbeitet, auch unſeren fruheren Schülern nach der Seite ihrer Geiſtes bildung hin Wertvolles bieten konnen. Es würde ſich aber immer nur um einen 1 Teil von Schülern handeln, die meiften fordern eine Fortſetzung der Fach⸗ ildung.

So beenden wir unfere Arbeit in dem Gefühl, zwar in den Anfängen zu fteben, aber immerhin Grundlegendes getan zu haben. Die erſten ſicheren Schritte ſind eingeleitet. Es ergibt ſich zum Schluſſe noch einmal die Frage, die immer wieder bei jeder Einzelaufgabe ſich von ſelber regt, die zentrale Frage nach den treibenden A n diefer geſamten Arbeit, nach den letzten Beweggründen und den letzten Zielen. Bei der Beantwortung dieſer Frage ergeben ſich die größten Schwierig keiten, wenn man eine Löfung erwartet, die eine Antwort auf die ſchweren Fragen unſerer Jeit und insbeſondere der Arbeiterſchaft gibt. Eine ſolche Loͤſung uͤber⸗ ſteigt die Krafte einer Schule und nicht nur einer Wirtſchafts ſchule, wir find der meinung, auch einer Sochſchule, fo beachtenswert auch deren Loͤſungsverſuche fein mögen. Worauf es bei unſerer Arbeit ankommt, das iſt dies, eine Bildungs · ſtaͤtte zu ſchaffen, in der die Arbeiterſchaft ſich heimiſch fühlt, um ibnen die ge- waltigen Probleme zu zeigen, die heute der Loͤſung harren und den Willen zur praktiſchen Mitarbeit und auch ein gewiſſes Rönnen bei ihnen zu pflegen. Die letzten Entſcheidungen muͤſſen den Schülern ſelbſt uͤberlaſſen bleiben. Das deutſche

Dr. Caſſau, Gewerkſchaftsarchiv, Seft 1/3, 2. Jahrgang 25, Gewerkſchaften und Arbeiterbildung.

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Volk ſteht vor großen nationalen und internationalen Aufgaben, an denen auch die Arbeiterorganiſationen nicht voruͤber koͤnnen, vor nationalen Aufgaben der Sanierung unſerer Wirtſchaft, Aredit , Export · und Organiſationsfragen und Aufgaben der Bräftigung und Organiſation unferes Volkes zum Zwede der größten Leiſtungen und andererſeits vor internationalen Aufgaben, die durch die internationale Wirtſchaftskonferenz, die europaͤiſche Jollunion, die Zufammen- arbeit Deutſchlands mit anderen Landern und durch die Juſammenarbeit der Volker und ihre Freiheit nur andeutungsweiſe geſtellt find. Wir haben das Ge fuͤhl, die großen Aufgaben zu feben, aus denen der Wille gekommen ift, Bildungs · ftätten wie die Wirtſchaftsſchule zu ſchaffen, wir haben die Gewißheit, Schritte getan zu haben, die im Anfang getan werden mußten, wir freuen uns, im Leben zu ſtehen und unſere Sauptforge iſt, dieſe Beziehung zum Leben zu erhalten, und uns innerhalb der Bewegung unſerer Jeit zu ſammeln und auszuwirken.

Dr. 5. Seelbach, Leiter der ſtaatlichen Wirtſchaftsſchule Däffeldorf

ie HGeimvolksho ule Linz ] Die revolutionäre Welle, die über das 2 b hi T 3 alte Deutſchland dahinbrauſte und die in ihrem Schoß auch die Welle der Volks hochſchulbewegung trug, gebar im kleinen, aber kulturell hochſtehenden Reuß die Seimvolkshochſchule Tinz. Einige weit⸗ blickende Führer der reußiſchen Arbeiterbewegung, die über materieller Not und Zielen der Arbeiterſchaft ihre kulturelle Not und die grundlegende Notwendigkeit der kulturell · wiſſenſchaftlichen Vertiefung der Arbeiterbewegung nicht vergaßen, beſtimmten den revolutionaͤren „Arbeiter und Soldatenrat“ von Reuß, aus einem Teil des vom Sürften abgetretenen Vermögens eine Stiftung „Volks hochſchule Reuß“ zu gründen, in derem Mittelpunkte eine Seimvolkshochſchule im alten Fuͤrſtenſchloſſe Tinz ſtehen ſollte. Tinz wurde nach dem Muſter der daͤniſchen Seimvolkshochſchulen aufgebaut, aber feine ſtark ausgeprägte proletariſche JIweck⸗ beſtimmung und fein ſozialiſtiſcher Charakter zwang von Anfang an zu gewiſſen Abweichungen vom nordiſchen Vorbilde. Die weitere, zeitweiſe recht bewegte Be- ſchichte der Schule drängte fie mit innerer Wotwendigkeit zu einer immer tieferen Verwurzelung in den Geiſt der ſozialiſtiſchen Bewegung, die in zwei Richtungen ihren ſtaͤrkſten ſichtbaren Ausdruck fand : in inniger Juſammenarbeit mit den Organi ; fationen der Arbeiterſchaft, die einen Teil der Schüler ſtellen und die Boften für ſie aufbringen, und in einem planmaͤßigen Ausbau der ſozialwiſſenſchaftlichen Unterrichtsgebiete und dem Wegfall aller anderen allgemein bildenden Stoffe.

Dennoch waͤre es falſch, Tinz als eine Parteiſchule oder gar als eine dogmatiſch gebundene Schule anzuſehen, wenn es auch vielfach als ſolche verſchrieen iſt. Tinz bezeichnet ſich und weiß ſich als ſozialiſtiſche Weltanſchauungsſchule. Die paͤdagogi⸗ ſche Berechtigung, als Weltanſchauungsſchule zu wirken, leitet die Tinzer Lehrer · ſchaft von ihrer Überzeugung ab, daß wie es in einer Denk chrift der Schule an die Thüringiſche Regierung beißt „jede Betrachtung der Weltzuſammenhaͤnge, insbeſondere der Vorgänge der ſozialen Welt ſich von vornherein nach gewiſſen ethiſch · philoſophiſchen Zielen orientiert“. Damit iſt auch im Grunde genommen die Scheidung zwiſchen Partei und Weltanſchauung ausgeſprochen. Die angeführte Denkſchrift fiebt den Unterſchied weiter darin, daß die Partei „ein politiſches Jweck⸗ gebilde, die Weltanſchauung Urgrund r Weſens iſt“. Und die der Schule bäufig vorgeworfene ſtarre Feſtlegung auf eine beſtimmte Doktrin weiſt die Denk ſchrift mit folgenden Feſtſtellungen über den Charakter der Tinzer Arbeit ab: „Weltanſchauliche Einſtellung bedeutet nicht Feſtlegung auf beſtimmte Lehrſaͤtze. Die marxiſtiſche Theorie iſt bisher der Gedankenwelt des Sozialismus am meiſten gerecht geworden. Aber als wiſſenſchaftliche Theorie darf fie nicht eine unantaſt · bare Vorausſetzung des Unterrichtes fein, ſondern ſteht nur im Mittelpunkt der wiſſenſchaftlichen Diskuſſion und Arbeit. Sie iſt in Tinz kein Dogma, das erklaͤrt wird, ſondern eine Theorie, um die gerungen wird.“

man wird einwenden, daß dieſe Unterſcheidungen für die Arbeit des Tages zu ſpitzſindig, daß in ihr die Grenzen ſehr ſchwer abzuſtecken ſeien, zumal ja natürlich Lehrer wie Schuͤler gewohnlich beiden Sphaͤren des Lebens, einer Weltanſchau ; ung und einer Partei, zugleich anzugehoͤren pflegen. Damit wird aber zugegeben,

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daß die Schwierigkeit nur eine paͤdagogiſch · pſychologiſche ſei. Sie iſt jedoch nicht unuͤberwindlich, auf dem Boden, auf dem fie entſteht, kann fie auch geloͤſt werden: auf paͤdagogiſchem. Der Lehrer muß natürlich als wiſſenſchaftlicher Menſch jede Erſcheinung vom Standpunkt einer gewiſſen Theorie feben. Will er ibre dogma⸗; tiſche Dekretierung vermeiden, ſo muß er nach Methoden der gemeinſamen Er⸗ forſchung der Erſcheinungen durch Lehrer und Schüler ſuchen. Die Seimvolks⸗ bochſchule Tinz fand bis jetzt als erfolgreichſte Methoden zur Erreichung dieſes Jieles: den arbeitsgemeinſchaftlichen Unterricht, Ubungsabende mit Referaten und Diskuſſionen, ſelbſtaͤndige ſchriftliche Arbeiten. Die Selbſttaͤtigkeit und das ſelb ſtaͤndige, von vorgefaßten oder vermittelten Meinungen ſich emanzipierende Denken, das durch dieſe Methoden gefordert werden ſoll, bleibt in Tinz kein leeres Wort. In lebhaften Auseinanderſetzungen innerhalb und außerhalb der Unterrichts · und Ubungsftunden zwiſchen Lehrern und Schülern und den Schülern untereinander ſpielt ſich der Rampf und die Rlärung der Meinungen ab. Um irgendein beliebiges Beiſpiel aus dem letzten Burfus herauszugreifen: Es wird die Arbeitszeitfrage er- oͤrtert. Der Lehrer wirft die Frage nach der Berechtigung und Bedeutung der Beſtre · bungen zur Verkürzung der Arbeitszeit auf. Man einigt ſich nach langer Debatte, in der, meiſt aus der Mitte der Schůlerſchaft heraus, die Frage von den verſchiedenſten Seiten der volkswirtſchaftlichen, privatwirtſchaftlichen, fanitären, familiaͤren, kulturellen beleuchtet wird, darauf, daß der Schwerpunkt des Problems auf der kulturellen Seite liegt. Aber die L&ſung befriedigt noch nicht ganz. Die Schüler wuͤnſchen eine weitere Rlärung der Arbeitszeitfrage im Seminar. Ein Schöler hält dort ein kurzes Referat, das er auf die Frageſtellung: Starrer oder elaſtiſcher Acht ſtundentag? zuſpitzt. Und nun ſetzt eine Diskuſſion ein, bei der von 30 Seminar: teilnehmern etwa 20 Schuler zu Worte kommen, von denen jeder einzelne die Frage von neuen Geſichtspunkten beleuchtet, Beiſpiele aus ſeiner Berufsſphaͤre anführt und neue Probleme aufwirft. Allmählich rundet ſich das Bild, und der Cehrer kann abſchließend, nachdem alle Argumente für und wider zur Sprache gekommen und gegeneinander abgewogen worden waren, die großen Geſichtspunkte, unter denen die Frage letztlich geſehen werden kann, zuſammenfaſſen.

So wichtig aber das Jiel der Denkſchulung iſt, Tinz würde feinen Iweck ver⸗ fehlen, wenn es ſich keine anderen Jiele ſteckte. Es muß ſeine Aufgabe auch darin ſehen, den ungeheuren Stoffhunger zu ſtillen, der vor allem in den Organiſationen der Arbeiterſchaft lebendig iſt. Die gewaltigen Aufgaben, die heute dieſen Organi⸗ ſationen in Stadt und Staat, in Betrieb und Geſellſchaft geſtellt ſind, ſchreien nach menſchen mit ausgedehnten und ſpezialiſierten ſozialwiſſenſchaftlichen Kennt⸗ niſſen. Aber auch die jungen, vorwaͤrtsdraͤngenden Menſchen ſelbſt, die nach Tinz kommen, dürften nach theoretiſchen und praktiſchen Kenntniſſen, die ihnen ihre bisherige kaͤrgliche Elementarbildung vorenthalten hat, und deren Mangel fie auf Schritt und Tritt in ihrem Leben und in ibrer Arbeit bemmt. Daher muß der Tinzer Schule ein Lehrplan zugrunde liegen, der die wichtigſten ſozialwiſſenſchaft⸗ lichen Stoffgebiete, angepaßt an die Schranken eines Fuͤnfmonatskurſes, umfaßt. Es find im Einzelnen die Gebiete: Wirtſchaftslehre, Geſchichte, Rulturlehre (diefe Unterrichtsſtoffe werden von den drei hauptamtlichen Lehrern behandelt), und von Gaſtlehrern werden die Grundelemente des Verfaſſungsweſens, der Verwaltungs · kunde, des Arbeitsrechts, der Gewerkſchafts probleme und des Erzie bungsweſens behandelt. In Frauenkurſen, die getrennt von den Maͤnnerkurſen abgehalten werden, ſtehen neben den Sauptfaͤchern andere Probleme, wie Frauenfrage, Wohl. fahrtsfragen, Schulweſen, mehr im Vordergrunde. Überhaupt ift der Lehrplan in Tinz nicht ſtarr vorgeſchrieben und ein für allemal feſtgelegt, ſondern ändert ſich im großen wie bis in die Heinften Einzelheiten von Kurs zu Kurs je nach dem wechſelnden Bild des ſozialen Lebens. Die Lehrerſchaft hat ein gutes Barometer cn nicht nur in ihrer wiſſenſchaftlichen und ſozialen Fühlung mit der gefell- ſchaftlichen Umwelt, ſondern auch in den wechſelnden Beduͤrfniſſen der mit ihr in enger Fuͤhlung ſtehenden Organiſationen und vor allem in den Stimmungen und wuͤnſchen der Schälerf chaft, für die ein wichtiges Ventil in der Schulgemeinde ge ·

ſchaffen iſt. Die Schulgemeinde iſt naturlich mehr als ein Ventil. Sie it auch eines der wich⸗

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tigſten Organe des Gemeinſchaftslebens. Es würde zu weit führen, an dieſer Stelle auf die Organiſation und die mannigfaltigen Probleme des Gemeinſchaftslebens in Tinz einzugehen, zumal da fie nicht allzu ſehr von denen anderer Seimvolks hoch; ſchulen abweichen. Wur find dieſe Fragen für eine ſozialiſtiſche Seimvolkshoch · ſchule des halb beſonders intereſſant und aufſchlußreich, da natuͤrlich auch in Tinz immer wieder Spannungen zwiſchen ſozialiſtiſcher Theorie und menſch⸗ licher Praxis auftreten, deren konkretes Studium am eigenen Schulleben einen lebendigen Anſchauungsunterricht über die pſychologiſchen Probleme des Sozia⸗ lis mus ermöglicht. Im großen und ganzen aber darf feſtgeſtellt werden, daß die ſoziale Einſicht, das ſtarke Solidaritaͤtsgefühl, die Selbſtdisziplin die in Tinz in weitgehendſtem Maße die autoritäre Diſziplin erſetzt und die pſychiſchen Ge⸗ meinſchaftsbande, die ſich um die Schulgemeinſchaft ſchlingen, alle Spannungen überwinden.

Die SO jungen, im Alter von JS—30 Jahren ftebenden Menſchen, die aus allen Teilen Deutſchlands zu den Fünfmonatskurſen nach Tinz firdmen, ſetzen ſich aus- ſchließlich aus den Kreiſen der werktaͤtigen Bevölkerung zuſammen. Da die Be⸗ ſchraͤnkung auf Volksſchulbildung allerdings zumeiſt durch die verſchiedenſten Bildungskurſe erweitert zur Bedingung geſtellt iſt, ſind im allgemeinen nur Arbeiter diefe bei den Maͤnnerkurſen in uͤberwiegender Jahl —, Angeſtellte und untere Beamte in Tinz vertreten. Sie werden ungefähr zur Saͤlfte von der Lehrer⸗ ſchaft ausgewaͤhlt, zur andern Saͤlfte auf Roſten der Arbeiterorganiſationen nach Tinz geſchickt. Trotz dieſes ſtarken und wie ſich aus dem Geiſt der Schule und der Juſammenſetzung der Schuͤlerſchaft ergibt begreiflichen und berechtigten Intereſſes der Arbeiterorganiſationen für Tinz wäre es aber verfehlt, anzu- nehmen, daß die Bedeutung von Tinz in der Seranbildung von Funktionären im engeren Sinne des Wortes für dieſe Organiſationen liegt. Tinz ſieht viel- mehr feine Sauptaufgabe und Sauptbedeutung darin, daß es der bildungsfaͤbigſten Jugend der Arbeiterſchaft den Blick zu oͤffnen, den Sorizont zu erweitern und fie vertraut zu machen ſucht mit den geſellſchaftlichen und kulturellen Problemen unſerer Jeit und der Arbeiterbewegung. Die Tinzer Schule ſteht in recht regem Verkehr mit einem großen Teil ihrer fruheren Schuler. Sie vermag daher am weiteren Verhalten und an den weiteren Schickſalen ihrer Schüler feſtzuſtellen, wie weit ihre Beſtrebungen von Erfolg gekrönt find. Und die Ergebniſſe dieſer Feſtſtellungen find im großen und ganzen durchaus erfreulich. Wenn auch naturlich nicht bei allen Schülern dieſe Erfolge ſichtbar nach außen zumindeſt ſind, der größere Teil von ihnen iſt anders geworden, ihr Blickfeld weiter und tiefer. Sie ſehen ihre Aufgabe klarer. Sie zie hen ſich nicht gruͤbleriſch in ſich ſelbſt zurück, fo groß auch die Verſuchung dazu nach der Fülle der in Tinz empfangenen An- regungen iſt, ſondern trachten weiterzuwirken, auszuſtrahlen. Und es iſt be- zeichnend, daß ſie zum großen Teil e Aufgabe in erzieheriſcher und bild⸗ neriſcher Arbeit ſehen, welchen Wirkungskreis auch immer ſie ſich außerhalb ihrer Berufsarbeit ſuchen, ſei es die Arbeiterbildung als ganze, ſei es die Jugend von Partei oder Gewerkſchaften, die Jungſozialiſten, die Kinderfreunde oder die Ar- beiterbewegung. So gliedert ſich Tinz nicht nur als Arbeiterbildungsſtaͤtte, ſondern auch als Schulungsorgan zur Arbeiterbildung in die große, für die Entwicklung der Arbeiterſchaft ausſchlaggebende Arbeit der Arbeiterbildungsorganiſationen ein.

Dr. Alfred Braunthal, Leiter der Seimvolkshochſchule Tinz

f i Die Berliner G b Die Berliner Gewerkſchaftsſchule f x N 55 .

Beſtehens hinter fi. Sie war urſpruͤnglich als ein Internat gedacht, in dem jugendliche Arbeiter einen Studiengang bis zu drei Jahren durchmachen ſollten. Sehr bald zeigte ſich, daß die dazu notwendigen und anfaͤnglich in Ausſicht ge ſtellten ſtaatlichen Mittel und Unterftügungen nicht hergegeben wurden. Wenn man nun das ganze Projekt nicht ins Waſſer fallen laſſen wollte, fo mußte in be- ſcheidenerer Weiſe angefangen werden. Im Fruͤhjahr 1919 begannen die erſten Rurfe unter dem Namen „Freie Sochſchulgemeinde für Proletarier“. Man ſuchte und fand Anſchluß bei dem damaligen Vollzugsrat der Arbeiter und Soldaten ;

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raͤte, weil er die einzige Börperfchaft war, die eine gewiſſe Uberparteilichkeit garan⸗

tieren konnte, da er ſich aus den Vertretern aller drei Arbeiterparteien zuſammen ;

ſetzte. Die Anfangsſchwierigkeiten waren ſehr groß. Sie lagen nicht etwa in der bevollen Aufgabe, einen genügend 5 Hörerfreis zu gewinnen, der in den

Arbeiterraͤten und fpäteren Betriebsräten bereits gegeben war. Tauſende von Mitgliedern dieſer Koͤrperſchaften, damals noch voll hochgeſpannter Erwartungen an den neuen Staat und ſeine Jukunft, warteten geradezu auf eine Schule, die ihnen das Sineinfinden in den neuen Aufgabenkreis erleichtern ſollte. Die Schwie⸗ rigkeiten lagen vornehmlich auf dem Gebiete der Stoffauswahl und der Methode. Es galt ein völlig neues paͤdagogiſches Gebiet zu bearbeiten. Die alten Volks bildung veranſtaltungen, aber auch die fruheren Arbeiterbildungseinrichtungen, konnten nicht zum Vorbild genommen werden. Es kam weder darauf an, ſchoͤn⸗ geiſtige und philoſophiſche Probleme zu waͤlzen, noch darauf (was die Tätigkeit der alten Berliner Arbeiterbildungsſchule der Vorkriegszeit hauptſaͤchlich in An ; ſpruch genommen hatte), ausſchließlich Geſellſchaftskritik zu betreiben. Die neuen Aufgaben der Betriebsraͤte und der 555 erforderten konſtruktive poli- tiſche Fahigkeiten. Konnte man die Aufgabe, die Arbeiterſchaft zum politiſchen Denken zu bewegen wenn auch nur bis zu einem gewiſſen Grade als geloͤſt betrachten, ſo galt es jetzt, ſie politiſch handeln zu lehren. Dieſe Aufgabe war eine draͤngende geworden. Die Arbeiterraͤte 1 einen großen, ihnen noch un⸗ bekannten Wirkungskreis uͤbernommen. In manchen Betrieben hatten ſie damals ſogar ein ziemlich hohes Maß von Dispoſitionsbefugniſſen, denen fie völlig un- vorbereitet gegenäberftanden. Jeder Mißgriff aber mußte ſich nicht nur in ihrer politiſchen Poſition, ſondern in der wirtſchaftlichen Lage der Arbeiter und An⸗ geſtellten ihrer Werke nachtetlig auswirken.

ö Von ihrer Gruͤndung bis zum Inkrafttreten des Betriebsraͤtegeſetzes und noch ein Jahr daruber hinaus, mußte ſich die Schule mit nur geringen finanziellen Beihilfen, erſt des er und ſpaͤter der ſogenannten Vereinigten Be⸗

triebsrätezentrale, hauptſaͤchlich aus eigenen Mitteln erhalten. Erſt nach dem

I. Betriebsraͤtekongreß des Allgemeinen Deutſchen Gewerkſchaftsbundes im

Jahre 1920 wurde u. a. auch in Berlin eine Freigewerkſchaftliche Betriebsraͤte ·

zentrale geſchaffen, als deren Glied die Schule endlich ein feſtes Fundament bekam. Bis kurz vor dem Übergang in die freigewerkſchaftliche Betriebsraͤtebewegung

Hat die Schule noch ohne ſyſtematiſche Gliederung ihres Lehrplanes gearbeitet. Das bei den Vorberatungen im Winter J9J8 aufgeftellte Jiel: Proletariſche Men ſchen mit den Qualitäten von Wirt ſchaftsfuͤbrern und Staats maͤnnern auszu⸗ ſtatten, war zu weit geſteckt, als daß es mit den gegebenen Mitteln in abſehbarer Jeit batte erreicht werden Fönnen. Außerdem find nicht alle Schuler gleichbegabt, und nicht alle haben die gleichen hohen Abſichten. Man mußte aus praktiſchen Gruͤnden dafür ſorgen, daß auch diejenigen, die naͤherliegende Ziele verfolgten, das fuͤr ihre Spesialaufgaben notwendige Ruͤſtzeug ſich in unſeren Auen erwerben konnten. Der aus diefen Erwägungen im Sommer 1920 aufgeftellte Lehrplan, der ſich in zwei Sauptgruppen, „kapitaliſtiſche“ und „ſozialiſtiſche Wirtſchafts kunde“ gliederte, reichte in dieſer allgemeinen Anordnung jedoch nicht aus. Deshalb ord- nete man ihn ſpaͤter folgendermaßen um:

L Einfübhrungskurſe Soziologie des Arbeiters und der Arbeiterklaſſe. (Die Stellung des Arbeit nehmers als Individuum und als Blaffe zur Geſellſchaft. Das Weſen der Befell- Schaft. Der Staat. Staats formen.)

II. wirtſchaftsleben J. Geſtalt und Praxis der modernen Volks und Weltwirtſchaft. (Soweit zum Verſtaͤndnis notwendig, auch Wirtſchaftsgeſchichte, Wirtſchafts geographie und volkswirtſchaftliche Theorien.) 2. Privatwirtſchaft (mit Einſchluß des Sandelsrehts und der Unternehmungs · formen). Betriebslehre und Arbeits wiſſenſchaft.

Lat N Vn 22

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IL Recht

I. Die Stellung des Rechtes im modernen Geſellſchaftsleben an Sand der wich tigſten gegenwärtigen Rechtsprobleme. Rechtsbildung und Rechtsentwicklung.

2. Das moderne Arbeitsrecht (ein ſchließlich der Juſammenhaͤnge mit dem burger lichen Recht) im Sinblid auf die Anwendung in der Praxis des Betriebes und der Organiſation.

3. Betriebsraͤteweſen und Betriebsraͤtegeſetz.

IV. Ge werkſchafts we ſen

Die Gewerkſchaft als Berufs · und Alaſſenorganiſation. Ihre Stellung zum Staat und zur Wirtſchaft, Gewerkſchaften als ſozialpolitiſches Inſtrument der Arbeiterſchaft. Gewerkſchaftliche Jeit⸗ und Streitfragen.

v. Rulturprobleme der Arbeiterſchaft

Die Arbeiterklaſſe als Aulturfaktor. Ihr Aufſtieg und die Frage der Beherr⸗ Be und Überwindung gegenwaͤrtiger Bulturinbalte. Rulturelle Gegenwarts ·

agen und Arbeiterſchaft. Erziebungsprobleme.

Gleichzeitig wurde eine Staffelung des Lehrplanes durchgefuͤhrt, deren Unter- ſtufe durch eine Reihe parallellaufender Einfuͤhrungskurſe gebildet wurde, und deren Mittelſtufe die vorſtehend unter II- aufgefuͤhrten Sachgebiete umfaßte, die ſich jeweils in eine Reihe von aufeinanderfolgender Rurfe aufteilte. Die Ober · ſtufe wurde durch Seminare dargeſtellt, in denen der Wiſſensſtoff der Mittelſtufe durch praktiſche Ubungen wiſſenſchaftlich fundiert und unterbaut werden ſollte. Tabe llariſch ſtellte ſich dieſer Plan, in einem beſtimmten Unterrichtsabſchnitt Srüäb- jahr 1924 fo dar, wie nebenſtehende Tabelle zeigt.

In dieſer Form wurde die Arbeit der Schule mit gewiſſen Modifikationen an- naͤhernd über drei Jahre hinweg durchgefuͤhrt. Die dem wirtſchaftlichen Ju⸗ ſammenbruch des Jahres 1923 folgenden, z. T. pſychologiſch begruͤndeten Ereigniſſe in der Arbeiterbewegung zeigten aber mit aller Deutlichkeit, daß auch die ſe Gliede ; rung noch nicht endgültig fein durfte. Es ſtellte ſich heraus, daß die Arbeiterſchaft im allgemeinen, aber auch ein großer Teil unſerer Schüler im beſonderen, weit gehende Ermuͤdungserſcheinungen und deshalb Neigung zeigten, allen Lehr · und Arbeitsgebieten aus dem Wege zu geben, die eine ſtarke geiſtige Konzentration und eine enge Einſtellung auf konkrete Ziele verlangten. Sie beſchaͤftigte ſich lieber mit Fragen, die vSllig abfeits von den ſchwer zu meiſternden Problemen der Jeit lagen. Dies machte ſich bei uns u. a. dadurch bemerkbar, daß alle volkswirtſchaft lichen und betriebswirtſchaftlichen auch arbeitsrechtlichen BRurfe einen ſtarken Sörerrüdgang erlitten, wohingegen die kulturpolitiſchen Lehrgaͤnge einen ſtarken Aufſchwung nahmen. Darüber hinaus charakteriſierte ſich der geiſtige Jug jener Jeit wohl am beſten dadurch, daß allerhand Afterwiſſenſchaften, Spiritismus, . und aͤhnliche Dinge, zu keiner Zeit eine ſolche Blute erlebt haben,

damals.

Andererſeits ergab ſich gerade aus den politiſ "de und wirtſchaftlichen Derpält- niſſen für die Arbeiterorganiſationen die Aufgabe, nun erſt recht und in noch viel ſtaͤrkerem Maße als bisher, die Mitglieder und Funktionaͤre zu einer Fühlen, ver- ſtandesmaͤßigen Beurteilung der Jeitereigniſſe und ihres Ablaufes zu erziehen. Sinzu kam ferner die Notwendigkeit, für die kommende kriſenſchwangere Jukunft Menſchen mit 8 politiſchem und gewerkſchaftlichem Ruͤckgrat zur Verfuͤgung zu haben. Im Strudel des Serbſtes 1923 und in den erften Monaten der Stabili- ſierungskriſe war natürlich nicht daran zu denken, durchgreifende Anderungen zu vollfuͤhren. Sobald aber die Verhaͤltniſſe durchſichtig genug geworden waren, mußte hieraus die Bonfequenz gezogen werden. Es galt erſtens, das verloren gegangene Intereſſe für die der Arbeiterſchaft naheliegenden Wirtſchaftsfragen wieder zu erwecken und zweitens den Lehrplan der Schule ſo zu geſtalten, daß ein bloßes Serumnaſchen an dieſen oder jenen Wiſſensgebieten unmdglih gemacht wurde, alfo eine gewiſſe Iwangslaͤuſigkeit des Studiums zu erreichen. Andererſeits durfte man nicht vergeſſen, daß ein verhaͤltnismaͤßig großer Teil der Funktionaͤre und Mitglieder der Gewerkſchaften, ſich für ein ſyſtematiſches und langfriſtiges

323

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Umſchau

324 umſchau

geiſtiges Arbeiten uberhaupt nicht eignet und zum anderen Teile auch infolge der Belaſtung mit praktiſcher Organiſationsarbeit zeitlich an der regelmäßigen Wahrnehmung von Unterrichtsabenden behindert iſt. Unter grundſaͤtzlicher Bei⸗ bebaltung des Dreiſtufenſyſtems wurde nunmehr eine weitere Neuordnung vor- genommen. Die Einfuͤhrungskurſe blieben beſtehen, ebenſo die Seminare. Die Mittelſtufe wurde von nun ab nicht mehr in fuͤnf oder ſechs aufeinanderfolgende, oder parallel geſchaltete Burfe zerlegt, ſondern zu einer einzigen Arbeitsgruppe zu⸗ ſammengefaßt. Schüler, die beiſpielsweiſe im Oktober 1924 in eine Arbeitsgruppe der Mittelſtufe eintraten, arbeiteten, möglihft ohne Lehrerwechſel, bis zum Ein ; tritt der allgemeinen Urlaubsperiode, d. b. bis Ende Juni, wobei der Kurs nur durch die notwendigſten Weihnachts · , Oſter⸗ und Pfingſtferien unterbrochen wird. Bis dahin wird die Gruppe als Anfaͤngergruppe geführt. Im Oktober desſelben Jahres tritt die Arbeitsgruppe nunmehr als Fortſchrittsgruppe erneut zuſammen. Sie kann unter Umſtaͤnden durch neue, bereits vorgebildete Hörer ergänzt werden und arbeitet noch einmal von Oktober bis Juni weiter. Auf dieſe Weiſe wird, mit einer Unterbrechung von rund drei Monaten, ein etwa 20 Monate waͤhrender ge⸗ ſchloſſener und ſyſtematiſch aufgebauter Lehrgang geſchaffen, der immerhin ſchon eine ziemlich weitgehende wiſſenſchaftliche Durcharbeitung des in Frage ſte henden Cehrgebietes geſtattet. Die befaͤhigſten Schüler einer ſolchen Fortſchritts · Arbeits geuppe werden am Schluß des zweiten Lehrganges in die Oberſtufe, in das Semi- nar uͤbergefthrt, um dort noch einmal ein bis zwei Jahre hindurch an Sand von praktiſchen Ubungen und eigenen ſchriftlichen und mündlichen Arbeiten einer ge⸗ wiſſen Schlußausbildung entgegengefübrt zu werden.

Aber auch für die oben bezeichnete zweite, für ſyſtematiſche, langfriſtige Arbeit nicht geeignete Gruppe von Schülern mußte geforgt werden. Dies geſchieht jetzt durch die ſogenannten „Verbandskurſe“ der Berliner Gewerkſchaftsſchule. Wir hatten die Beobachtung gemacht, daß ein großer Teil von ehrenamtlich und haupt ; amtlich tätigen Funktionaͤren nicht nur aus Jeitmangel die dargebotene Bildungs; möglichkeit ignorierten, ſondern auch einfach des halb, weil fie zwar einen engen per- ſoͤnlichen Kontakt zu ihrer eigenen Organiſation, jedoch nicht zu den ihr Abergeorb- neten ortlichen Jentralen befaßen. Es war uns klar, daß dieſer Teil der Gewerk · ſchafter einem direkten Rufe des eigenen Verbandes viel eher Folge leiſten wurden als den Proſpekten, die ihnen von uns ins Saus flatterten. Es zeigte ſich, daß dieſe Überlegung richtig war. Wir haben für die einzelnen Verbände eine Reihe von Aurſen veranftaltet, die jeweils nach Cage der Verhaͤltniſſe nur für eine be ſtimmte Gruppe von Funktiondͤren oder für den geſamten Areis der Vertrauens leute oder auch für beſtimmte Mitglieder ⸗Sektionen abgehalten wurden. Natur · gemäß umfaßten diefe Lehrgaͤnge vorwiegend gewerkſchaftliche Fragen der ver- ſchiedenſten Art, aus denen folgende drei Themen hervorgehoben ſein moͤgen:

J. Gewerkſchaftliche Organiſations probleme. Unternehmerverbaͤnde und Arbeiterorganiſationen. Grganiſationsformen der Arbeitnehmer: In ; duſtrie Verband, Berufs Verband. Einheits organiſation. Horizontale und al Gliederung der Wirtſchaft und die Gliederung der Gewerkſchafts ·

ewegung.

2. Die Praxis des Gewerkſchaftsfunktionärs. Der Funktionär im Be⸗ triebe und in der Organiſation. Gewerkſchaftliche Außenarbeit. Berichterſtat · tung. Redetechnik. Schrift · und Protokollfuͤhrung. Verſammlungsleitung.

3. Die geiſtigen Grundlagen der gewerkſchaftlichen Agitation und Aufklärung. Die geiſtig · ſeeliſche Verfaſſung der modernen Lohnarbeiter · und Angeſtelltenſchaft und ihre Bedingungen. Gewerkſchaftliches Leben und ge

E Innenpolitik. Agitation.

Darüber hinaus wurden allerdings auch noch nationalokonomiſche und ſozial⸗ politiſche Fragen behandelt.

Die Berliner Gewerkſchaftsſchule umfaßt ſomit jetzt zwei Abteilungen:

J. Die Gewerkſchaftsſchule im engeren Sinne, mit ihrem auf weite Sicht ab- geſtellten Lehrplan und

2. Die Verbands ⸗Sonderkurſe. .

Nach dieſem Syſtem wird zur Zeit im zweiten Jahre gearbeitet. Dabei hat ſich

umſchau 325

vor allem gezeigt, daß die dreimonatige Unterbrechung der Arbeitsgruppen der Mittelftufe keineswegs zu der von manchen Mitarbeitern befürchteten Schüler- ab wanderung gefuhrt hat. Bis auf wenige Ausnahmen find faſt alle Arbeits ge meinſchaften ziemlich vollzaͤhlig wieder zuſammengetreten, um ihr zweites Se⸗ meſter zu abſol vieren. Die zahlreichen Verbandskurſe ftellen zugleich ein gutes Re · ſervoir dar, aus welchem den Einfuͤhrungskurſen und Arbeitsgruppen ftändig neue, ſchon vorbereitete Schüler zugeführt werden koͤnnen.

Die beſondere Bedeutung der Berliner Gewerkſchaftsſchule und ihre Rolle im Rahmen des Arbeiterbildungsweſens kann ungefähr folgendermaßen umriſſen werden: Sie iſt der erſte ernſthafte und bisher gelungene Verſuch, das ſchmale Silfsmittel des Abendkurſes zu einem ernſthaften Bildungsinſtrument auszu- geſtalten. Ernſthaft inſofern, als ſie durch ihren ganzen Aufbau und durch die Staffelung ihres Lehrplanes eine allerdings langfriſtige aber gruͤndliche und ge- haltvolle nationalòtfonomiſche, ſozialpolitiſche und gewerkſchaftliche Durchbildung ermöglicht. Dabei mag noch hervorgehoben werden, daß die dem Abendunterricht vielfach nachgeſagte Gefahr der Zalbbildung durch eine aus der langen Dauer der Ausbildung ſich ergebende Ausleſe der Schüler faſt völlig ausge ſchaltet wird. Ihre beſondere Note wird auch noch dadurch betont, daß ſie eine ausgeſprochen ſoziali⸗ ſtiſche Schule iſt und ſowohl finanziell als auch ideell nur von den beiden gewerk⸗ ſchaftlichen Spitzenkoͤrperſchaften, dem Ortsausſchuß Berlin des Allgemeinen Deutſchen Gewerkſchaftsbundes und dem Ortskartell Berlin des Allgemeinen freien Angeſtelltenbundes, erhalten wird. Sie lehnt eine Verbindung mit den an- deren Gewerkſchaftsrichtungen bewußt ab und würde auch jede ſtaatliche Unter⸗ ſtůͤtzung, ſelbſt wenn ſie ihr erteilt würde, ablehnen, ſobald ſich daraus irgend- welche richtungs maͤßigen Bonzeffionen ergeben koͤnnten.

Jede ernſthafte Wiſſenſchaftlichkeit wird immer, ganz gleich von welchen welt⸗ anſchaulichen Geſichtspunkten ſie auch ausgeht, ein Söchſtmaß von parteipolitiſcher Vorausſetzungsloſigkeit beſitzen. Sie darf weder in der Forſchungs noch in der Cehrtaͤtigkeit den Wunſch zum Vater des Gedankens machen. Aber jede gewollte und zur Schau getragene weltanſchauliche Neutralitaͤt verhindert den Lehrer, fein Beſtes zu geben: feine Überzeugung. Solche „Neutralität“ gibt es nicht. Wo fie zur Schau getragen wird, bedeutet fie entweder nur eine Seuchelei oder aber vorausgefegt, fie 1 ehrlichem Beſtreben fie führt eine Entgeiſti⸗ gung der Erziebung herbei, weil ſie ihr die wichtigſte paͤdagogiſche Grundlage raubt, den innigen ſeeliſchen Kontakt zwiſchen Lehrer und Hörer.

Die Erfahrungen der Schule ſind, ſoweit ſie ſich bis heute überblicken laſſen, ausſichtsreich. Sie hat in den Jahren 1921 bis Juni 1925 rund J5500 Schüler ge- habt, die im ganzen mehr als 500 Burfe beſuchten. Doppelzaͤhlungen von Soͤrern, die mehrere Burfe zur gleichen Jeit beſuchten, fallen bei dieſer Angabe nicht beſonders ins Gewicht, weil die Schuler von jeher angehalten wurden, ſich mit dem grund; lichen Studium nur eines Lehrganges zu begnügen. Wur ausnahmsweiſe iſt der Beſuch eines zweiten oder gar eines dritten Lehrganges empfohlen und geftattet worden. Der Durchſchnittsbeſuch der Kurſe beträgt ungefaͤhr 30, der Mindeſt · beſuch J5. Unter J5 Teilnehmern werden Lehrgänge nur in Ausnahmefaͤllen durchgeführt. Abgeſehen von dieſen aͤußeren Dingen laſſen ſich die Ergebniſſe der Arbeit natuͤrlich ſchwer feftftellen, weil ein Prufungsſyſtem von uns grundſaͤtzlich abgelehnt wird. Es zeigt ſich aber, daß der Funktionaͤrkoͤrper der Berliner Ge⸗ werkſchaften, trotz aller Schwierigkeiten und trotz mancher politiſchen Verſtim⸗ mung in den letzten Jahren ſich qualitativ im ſtaͤndigen Aufſtieg befindet. Daß dazu nicht allein die ee beigetragen hat, mag als felbftverftändli voraus · geſetzt werden, andererſeits beftätigen uns die Mitteilungen der Organiſations · leitungen und die perſoͤnlichen Beobachtungen einer ganzen Reihe ehemaliger Schuͤler, daß die von uns geleiſtete Bildungsarbeit ihre guten und weitreichenden Erfolge zeitigt. Fritz Fricke, Leiter der Berliner Gewerkſchaftsſchule

1 i Waͤhrend bis zum Kriege die Frage Die Wirtſchafteſchule Leipzig der Ausbildung der Bräfte, denen

Fuͤhrung und Organiſation der in die Wirtſchaft einbezogenen Menſchen an⸗

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vertraut war, nur dieſe Menſchenkreiſe ſelbſt beräbrte und die große Jahl der ſtaatlichen Bildungsinſtitute aus e e und geſellſchaftlichen Gruͤnden den Führern der breiten Schicht der arbeitenden Bevoͤlkerung in der Regel ver- ſchloſſen blieb, begannen nach der Revolution ſowohl der Staat wie faft alle an · deren öffentlichen Geſellſchafts körper ihr Intereſſe der Frage der Ausbildung dieſer „Funktionaͤre“ zuzuwenden. Naturgemäß fehlte es nicht an Stimmen, die von Anfang an jede Mitwirkung des Staates an der Ausbildung von „Intereſſen ; vertretern“ ablehnten. Aber dieſe engſtirnige Auffaſſung konnte der nüchternen Erkenntnis nicht ſtandhalten, daß nun einmal tatſaͤchlich eine ganze Reihe von „Funktionären“ des arbeitenden Volkes teils durch Geſetz, teils infolge der poli- tiſchen Machtverteilung zur Mitarbeit an öffentlichen und halböffentlichen An⸗ gelegen heiten berufen wurde. Die notwendige Folgerung aus dieſer Erkenntnis, daß wenn dieſe Menſchen oͤffentliche Funktionen zu vollziehen hatten, es auch im offentlichen Intereſſe lag, fie dafuͤr zu ſchulen, mußte gezogen werden. So ent ſtanden unter Mitwirkung von Reich, Ländern und Gemeinden neue Bildungs ftätten, die ihrem ganzen Charakter nach in der Mitte ſtehen mußten zwiſchen alten sun chafts · und Parteiſchulen und rein ſtaatlichen Bildungsinſtitutionen alten

t es.

Es bleibt ein dauerndes Verdienſt des ehemaligen preußiſchen Sinanzminifters Cuͤde mann, zunaͤchſt die Errichtung der Frankfurter Arbeiterakademie im weſent · Lo geſichert und ſpaͤterhin die Errichtung der Wirtſchaftsſchulen in Berlin und Duͤſſeldorf durchgeſetzt zu haben. In engem Anſchluß an Lehrplan und Lehr methode der ſtaatlichen Schulen, vor allem der Berliner, deren Lehrplan als der ältefte direkt oder indirekt die Ausgangsform faft aller anderen Lehrplaͤne wurde, entſtanden in einer Reihe von Städten Einrichtungen, die ahnliche Ziele ver folgten. Nach dem Muſter der Berliner Wirtſchaftsſchule wurde insbeſondere die Wirtſchaftsſchule Leipzig ausgebaut. Allerdings beſteht ein grundlegender Unter; ſchied. Während die Schuͤler der ſtaatlichen Schulen für die Dauer des Lehr ganges, der ſich gewohnlich auf ein Jahr erſtreckt, aus dem Berufsleben heraus · genommen werden, fo daß fie ganz ihrer eigenen Ausbildung leben konnen, da zumeiſt Gewerkſchaften, Staat und Gemeinden für ihren Unterhalt Sorge tragen, bleiben die Schüler der Leipziger Wirtſchaftsſchule in ihrer Berufsarbeit und treten nur dreimal in der Woche entweder am früben Morgen oder am Abend zwei Stunden zu gemeinſamer geiſtiger Arbeit zuſammen. Ihr Lehrgang dehnt ſich dadurch auf drei Jahre aus. Es liegt auf der Sand, daß beide Formen ihre Vorteile und ihre Nachteile haben. Wenn es auch vor allem wirtſchaftliche Erwaͤgungen waren, die Leipzig auf die Errichtung einer Ganztagsſchule verzichten ließen, ſo ſprechen doch auch wichtige innere Grunde für dieſe Schulform. Seller, der im

erbſt 1922 die Schule ins Leben rief, ſagt darüber: „Paͤdagogiſch ... iſt der Vor⸗ teil der hier beſchriebenen Einrichtung darin zu fuchen, daß der der Denkarbeit un ; gewohnte Soͤrer nicht mit Stoff überlaftet wird, Zeit zur Verdauung zwiſchen den einzelnen Stunden und uͤberdies die Möglichkeit hat, die durch reine geiſtige Durch · bildung notwendig und immer entſtehende Spannung zwiſchen ihm und feinen Berufsgenoſſen jeden Tag an feinem Arbeitsplatz wieder auszugleichen.“! Das hat ſich fuͤr die 5 durchaus bewahrheitet, waͤhrend die Abendkurſe, vor allem nach Verlängerung der Arbeitszeit, unter manchen Unregelmaͤßigkeiten zu leiden haben. Wach den Erfahrungen, die der Verfaſſer ſelbſt als Leiter der Ber⸗ liner und der Leipziger Wirſchafts ſchule machte, muß im ganzen aus paͤdagogiſchen Grunden doch der Form der Ganztagsſchulen der Vorzug gegeben werden, da ſie ſchaͤrfere Bonzentration und eingehendere eigene Arbeit auch außerhalb der Unterrichtsſtunden moglich macht, wenn auch aus wirtſchaftlichen Grunden nur die Leipziger Form mit einer großeren Verbreitung rechnen kann. Sehr erſchwerend fällt für die praktiſche Durchfuhrung die Wotwendigkeit ins Gewicht, den Lehr⸗ gang Aber drei Jahre auszudehnen. Mancher, der ſonſt ſehr wohl die Voraus · ſetzungen für den Schulbeſuch erfüllte, wird durch die Bindung für diefe lange Je it abgeſchreckt.

* Sermann Seller: Freie Volksbildungsarbeit. Leipzig 1924. S. 42.

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Im Lehrplan iſt die Leipziger Schule nicht ſehr weſentlich von der Berliner Fachſchule für Wirtſchaft und Verwaltung unterſchieden. Nur iſt die ſtaͤrkere Ju⸗ ſammenziehung auf wenige Facher, die ſich auch in Berlin am Ende des zweiten Schuljahres immer deutlicher als notwendig erwies“, in Leipzig folgerichtig durch · gefuhrt. Der Lehrplan für den ſich über drei Jahre erſtreckenden Lehrgang hat beute etwa folgendes Ausſehen: I. Salbjabr: Wirtſchaftslehre, Arbeitsrecht, Betriebslehre. 2. Salbjahr: Wirtſchaftslehre, Arbeitsrecht, Geſchichte der Gewerkſchaften. 3. Salbjahr: Wirtſchaftslehre, Arbeitsrecht, Staatslehre (Verfaſſung des Reiches und Sachſens).

4. Salbjahr: Wirtſ lehre, Arbeitsrecht, Rommunal politik.

S. Salbjahr: n lehre, Einfuhrung in die Rechtswiſſenſchaft, Bilanz u

nde.

6. Salbjabr: Juſammenfaſſende, wiederholende Beſprechungen.

Die Leipziger Wirtſchaftsſchule unterſteht einem Vorſtand, der ſich zuſammen⸗ ſetzt aus Vertretern der Stadt, des Landes Sachſen, der Univerſitaͤt, des Ge · werkſchaftskartells, der Angeſtelltenorganiſationen, der Lehrer und der Schüler der Wirtſchaftsſchule. Die Leitung liegt in der Sand des Leiters der Volks hoch; ſchule, der zugleich das Volksbildungsamt der Stadt führt. Als Schüler kann jeder Wienf aufgenommen werden, der den ernſten Willen und die Fähigkeit zu plan mäßiger mehrjaͤhriger Bildungsarbeit hat. Die Schule hat im Sommer 1925 ihren erſten dreijaͤbrigen Lehrgang beendet, der durch aͤußere Umſtaͤnde, durch Wechſel der Ceitung und der Lehrer die Anfangs ſchwierigkeiten, die jedem neuen Verſuch ent- gegenſtehen, beſonders hart zu ſpuͤren bekam. Von den 44 Schülern des Morgen · lehrganges, die bei Beginn aufgenommen wurden, waren am Ende des 3. Salb ; jahres noch 12, am Ende des Lehrganges noch JO als regelmäßige Teilnehmer übrig geblieben. Der Abendlehrgang, der anfangs 47 Teilnehmer umfaßte, ſ 1 bis zum Ende des 3. Salbjahres auf Is und bis zum Ende des 3. Jahres au 8 Schüler zufammen. Die Teilnehmer beider Rurfe, die bis zum Schluß mit gearbeitet haben, treffen ſich auch weiterhin alle 14 Tage zu einem Ausſprache⸗ abend. Ein im Movember 1925 neu erdffneter Abendlehrgang wird von 34 Teil nehmern befucht, die Eröffnung eines neuen Morgenlehrganges iſt für den Som mer 1926 geplant.

Die Leipziger Wirtſchafts ſchule iſt ebenſo wie die anderen Wirtſchaftsſchulen eine ausgeſprochene Jweckſchule. Als die Aufgabe der Berliner Fachſchule für Wirt- f und Verwaltung wurde feinerzeit feftgelegt: „Perſonen beiderlei Ge⸗ ſchlechts, die mindeſtens eine abgeſchloſſene Volksſchulbildung genoſſen und bereits längere Zeit im Berufsleben geſtanden haben, die Grundlagen einer wirtſchaft lichen, rechtlichen und ſozialen Bildung zu vermitteln, um ſie für die Verwaltung wirtſchaftlicher und ſozialer Angelegenheiten im öffentlichen und privaten Dienſt vorzubereiten.“ Die Leipziger Schule wendet ſich nicht nur an „Funktionaͤre“ ſon⸗ dern an noch weitere Areiſe der Arbeiter, Angeſtellten und Beamten, da fie von der Erkenntnis ausgeht, daß die Beauftragten dieſer Gruppen nur dann ihren Aufgaben gerecht werden konnen, wenn fie innerhalb ihrer Gruppe Ruͤckhalt und Verſtaͤndnis finden bei Menſchen, die in ahnlicher Weiſe wie fie Einblick in die ge · Ec dem 8 Juſammenhaͤnge haben.

n dem Bericht an das Kuratorium der Fachſchule, in dem der Keiter beim Scheiden aus dem Amt die Erfahrungen der erſten beiden Schuljahre zuſammen ; faßt, beißt es: „Es iſt unmoglich, das geſamte Wiſſen unſerer Jiviliſation auch nur auf dem Gebiet der Geſellſchaftswiſſenſchaft in einem Jahr auf den Schuͤler zu uͤbertragen und ſinnlos, aus dieſem Geſamtwiſſen eine bunte Auswahl zu geben. Das Ziel der Schule kann nur die Vermittlung eines geſchloſſenen Bildes der be ſtehenden Wirtſchaft und des herrſchenden Arbeitsrechtes fein. In bewußter Be⸗ ſchraͤnkung darauf ift alles andere als Webenſache zu behandeln. Die Erfah⸗ rungen der zwei Schuljahre haben gezeigt, daß bei ſtraffer Juſammenfaſſung auch mit ſehr verſchiedenartigen, ungleich begabten Schuͤlern Gutes erreicht werden kann. Bei einem weiteren Ausbau der Schule erſcheint noch ſtaͤrkere Ronzentra- tion auf die beiden Sauptfaͤcher und in den beiden Sauptfaͤchern wüͤnſchenswert.

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Es ſei ganz beſonders unterſtrichen, daß der Lehrgegenſtand der Wirtſchafts · ſchule das Wiſſen um dieſe Geſamtzuſammenhaͤnge iſt. In engem Anſchluß an eine ganz falſche Vorſtellung von der Auswirkungsmoͤglichkeit des Betriebsraͤte⸗ geſetzes iſt in weiten Kreiſen die Anſchauung herrſchend geworden, daß die naͤchſte und dringendſte Au Babe der Bildung des Arbeiters dahin gebt, ihn mit den Auf- gaben der Betriebsfuͤhrung, inſonderheit ihrer kaufmaͤnniſchen Seite, vertraut zu machen. Auch der Betriebsrat hat indeſſen praktiſch weder die Aufgabe noch die möglichkeit, ſich mit der Betriebsführung zu befaſſen. Er iſt der Vertreter der Arbeiterintereſſen im Betrieb, und um dieſe richtig zu vertreten, braucht er viel notwendiger ein geſchloſſenes Flares Geſamtbild von der Wirtſchaft als die Rennt- niſſe eines „bilanzſicheren Buchhalters “. Der Betriebslehre und der Bilanzkunde iſt daher 2 in dem une Lehrplan nur ein beſcheidener Platz eingeräumt®. Dagegen follen nach den KLeitfägen der Wirtſchaftsſchule „die Teilnehmer ein ge- ſchloſſenes Geſamtbild von unſerer Wirtſchaft, dem herrſchenden Arbeitsrecht und der ſtaatlichen Organiſation in Reich, Landern und Gemeinden gewinnen”. Im Vordergrunde ſteht alſo die Ubermittelung eines beſtimmten Wiſſens. Dahinter ftebt naturgemäß wie im ganzen Schulbetrieb der Gegenwart die Abſicht der Schulung des ne Die Schule verzichtet dagegen ganz bewußt auf alle Verſuche der „Perſönlichkeitsbildung“ und Entfaltung der Schüler zu „Voll⸗ menſchen “. Ganz abgefeben davon, daß bierfür Zeit und Kraft nicht ausreichen und es ſinnlos erſcheinen muß, erwachſene Menſchen, die das Leben bereits in ſeine Jange genommen hat, durch eine Schule umformen zu wollen, kann als boͤchſtes Ziel, das binter allem aͤußeren Iweck ſteht, für eine Schule, die ſich in erſter Linie an die Intereſſen vertreter des arbeitenden Volkes der Großſtadt wen · det, niemals Entfaltung von Einzelmenſchen fteben. Das leitende Ziel kann nur ein geſellſchaftliches ſein. Auch die mit großer Gebaͤrde vorgetragene Behauptung, daß nur der „Vollmenſch“ der Geſellſchaft und auch ſeiner Geſellſchaftsſchicht wertvolle Dienſte leiſten konne, und daß darum eine Schule die Ausbildung von Vollmenſchen ſich zum Ziel ſetzen muͤſſe, kann nicht darüber hinwegtaͤuſchen, daß tatſaͤchlich in Arbeiterſchulen dieſes hohe Ziel nur ein Verlegenheitsvorwand iſt, weil man ein geſellſchaftliches Ziel nicht ſetzen will oder kann. In Wahrheit bleibt dann die Arbeiterſchule uberhaupt ohne Ziel, das letzten Endes doch hinter dem naͤchſten praktiſchen Jweck die Auswahl des Wiſſensſtoffes beherrſchen und vor allem den Willen der Teilnehmer auf ſich ziehen und damit an Bräfte ruͤhren ſoll, die viel entſcheidender als alle intellektuelle Ausbildung die Lebensrichtung der Menſchen beſtimmen. Es iſt eine ganz falſche Anſchauung von Neutralitaͤt, wenn verlangt wird, daß Einrichtungen, an denen Staat oder Gemeinde beteiligt ſind, überhaupt nicht unter einem einheitlichen Jielgedanken fteben durfen, ſondern ihre Schüler dem Einfluß jeder Jielſetzung entziehen, d. b. praktiſch alle beliebigen Willensrichtungen auf ſie wirken laſſen ſollen. Mit gutem Recht ſteht vor allem der Arbeiter ſolchen ganz zu unrecht als „neutral“ bezeichneten Bildungseinrichtungen ſehr zuruͤckhaltend gegenüber. Erſte Forderung an alle Bildungsarbeit iſt da, wo fie ib an Erwachſene wendet, noch viel gebieteriſcher als da, wo fie dem Rinde gilt, alle die ſchoͤpferiſchen Krafte, die ſich regen, nicht unter einen fremden Willen zu ſtellen und dadurch zu verbiegen, ſondern Sorge zu tragen, daß ſie in ihrer eigenen Willensrichtung ungeſtoͤrt wachſen konnen. Darum muß ſich jede Bildungs; einrichtung, die einer Volksſchicht wahrhaft dienen will, der Grundrichtung des Willens dieſer Schicht einfügen und fremde Einfluͤſſe fern halten. Nicht durch fremde Brille, ſondern mit eigenen Augen, vom eigenen Standpunkt aus ſoll der Arbeiter, der Angeſtellte, der Beamte Wirtſchaft, Recht und Staat ſehen lernen. Die Schule ſorgt nur dafur, daß fein Blick gend end frei und ſein Standpunkt genuͤgend hoch werde, damit er das Ganze uͤberſchauen kann.

Prof. Dr. P. Ser mberg, Leiter des Volksbildungsamtes der Stadt Leipzig

Der Verf. bat dieſe Anſicht näber begründet im „Aulturwillen“, J. Sept. 1925, S. J88 ff. „Die wirtſchaftliche Schulung der Betriebsräte.”

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3 Die Leipziger Volkshochſchulheime In . 49 3 a

beime, deren aͤußere Geſtalt mit wenigen Worten durch folgendes ie wird: In einer Vier bis Sechs · Zimmerwohnung leben acht bis zwoͤlf junge Sand arbeiter im Alter von uber achtzehn Jahren durch zehn Monate hindurch mit zwei Ropfarbeitern zuſammen. Untertags gehen die Zandarbeiter ihrer Berufsarbeit nach und beſtreiten die Roften des Seimes im weſentlichen aus ihrem eigenen Arbeits verdienſt. Iwei oder drei Abende find der 5 Bildungsarbeit ge widmet, an welcher auch einige Außenſchuͤler teilnehmen. Die Bildungsſtoffe ge · bören dem Gebiete der Volkswirtſchaftslehre, Politik und allgemeinen Kultur- lehre eg der engen Lebensgemeinſchaft erwaͤchſt eine umfaſſende Bildungs · gemeinſcha

Dieſe zum Teil zwei bis drei Jahre beſtehenden Volkshochſchulheime haben den Erwartungen, die wir an fie geknüpft hatten, mehr entſprochen als alle ſonſtigen Volksbildungs einrichtungen“. Wenn im folgenden der hohe paͤdagogiſche Wert die ſer Seime kurz begründet wird, fo rechtfertigen ſich dieſe Jeilen in unſerer ſchreib · ſeligen Volksbildnerei, deren Literatur umgekehrt proportional zu ihren Taten iſt, lediglich dadurch, daß Erfahrungen mitgeteilt werden ſollen, die ohne größeren Aufwand ſich auch anderwaͤrts als fruchtbar erweiſen konnen.

In unferen Leipziger Volks hochſchulheimen lebt der Großſtadtarbeiter wirkliche Gemeinſchaft. Diefer Vorausſetzung jeder Weſensbildung entbehrt er ſonſt in der heutigen Geſellſchaftsſtruktur. Ju ſeiner mechaniſierten Teilarbeit ebenſo wie zu Staat, Nation, Partei, Gewerkſchaft und ſonſtigen Verbaͤnden ſteht er faſt aus; ſchließlich in rationaler e Die Kirche hat ihm wenigſtens in prote- ſtantiſchen Gegenden religidfe Bindungen nicht zu bieten. Selbſt die Familie bat infolge der Frauenarbeit, der fuͤrchterlichen Wohnungsverhaͤltniſſe uſw. bei wei ; tem nicht den Charakter weſensbildender Gemeinſchaft, der ihr in buͤrgerlichen Reeifen oft zukommt. In der Seele der beſten unter dieſen intellektualiſierten, naturentbundenen Maſchinenarbeitern ſpielt aber gerade deshalb, weil ſie die bildende Gemeinſchaft in der Erlebniswirklichkeit ſo ſehr entbehren, das Ideal der Gemeinſchaft eine faſt religioͤſe Rolle. Mit allen Bräften eines ehrfurcht⸗ gebietenden Glaubens, von dem der hiſtoriſche Relativismus unſerer buͤrgerlichen Bildungsſchicht keine Ahnung hat, hangt der junge Proletarier an dem ſoziali⸗ ſtiſchen Jukunftstraum einer ſolidariſchen, „gegenſatzloſen“ Gemeinſchaft, die er von der Aufhebung der okonomiſchen Klaſſengegenſaͤtze erwartet. Eine weſentliche Verſtaͤrkung hat diefer „Traum eines lächerlichen Menſchen“ durch die roſarote Gemeinſchafts · Ideologie der bürgerlihen Jugendbewegung erfahren.

Im Volks hochſchulheim erlebt der junge Arbeiter eine oft erſchütternde, aber überaus geſunde Ernuͤchterung durch die Wirklichkeit, einer auf Gemeinſamkeit der Wohnung, der Wirtſchaft und ideeller 7 eruhenden und durch dieſe Wirklichkeit hoͤchſt konfliktreichen Gemeinſchaft. Ohne jede Theorie und ohne Moralpauken wird ihm an den banalſten Alltagsaufgaben, wie Jimmer reinigen, Wirtſchaftsrechnungen fuͤhren, Ordnung halten, Kartoffel ſchaͤlen uſw., mit der

anzen Eindringlichkeit der lebendigen Praxis Har, daß jede Art von Gemein;

chaftsleben tägliches Opfer, guͤtige Nachſicht und dauernden Kampf gegen eigenes Sich geben · laſſen bedeutet. Der letzte Reſt ſentimental · anarchiſcher Gemeinſchafts · duſelei verfliegt, wenn eines Tages alle Seimgenoſſen zur Einſicht gelangen, daß die Gemeinſchaftsordnung nicht der ſtündlichen Willkür und Geneigtheit jedes einzelnen ausgeliefert werden darf, ſondern in ihrer oft hoͤchſt unbequemen Gel⸗ tung unabhangig und gegebenenfalls zwangsweiſe durchſetzbar fein muß. Die Selbſterziehung dieſer nichts weniger als gegen ſatzfreien und doch ſolidariſchen Gemeinſchaft bedeutet ein oft ſchmerzliches, für die reale Umgeſtaltung des kapita · liſtiſchen Atomis mus aber unentbehrliches Ernuͤchterungs erlebnis; ein Erlebnis,

das dem jungen Proletarier in feiner ganzen ſozial · ſittlichen und ſozial· organiſa· beine ins einzelne gehende Beſchreibung des Seimlebens findet ſich in dem von

mir mit zahlreichen Mitarbeitern herausgegebenen Buche „Freie Volksbildungs · arbeit“, Verlag der Werkgemeinſchaft, Leipzig, Roßſtr. 14.

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toriſchen Bedeutung nur in dieſer Enge des menen Volks pochſchulbeimes entſcheidend zum Bewußtſein kommen kann. Denn hier iſt er nicht in der ge⸗ obenen, die individuellen Aanten und Schaͤrfen glättenden Stimmung des Land- olkshochſchulheimes, das inſofern eine ideale und irreale Lebensgemeinſchaft bleibt, als der von ſeiner Sandarbeit befreite und aus feiner Drabt- und Afpbalt- heimat in die freie Natur entlaſſene Großſtadtproletarier bier für vier bis ſechs Feſtmonate dem Alltag entlaufen darf. m großſtaͤdtiſchen Volks hochſchulheim muß der junge Arbeiter ſich innerhalb der gegebenen geſellſchaftlichen Verhaͤltniſſe innerhalb feiner Arbeits · und Lohn · bedingungen, in den Räumen der großſtaͤdtiſ 15 miets wohnung ſich durchkaͤmpfen lernen. Dabei gelangt er dazu, auch feine naͤchſte Umgebung, die Mietwohnung, als den feinem Menſchentum entſprechenden Lebensausdruck all maͤhlich zu ge- ſtalten. Er wird zum Revolutionaͤr gegen die allgemeine Wohnungsunkultur un- ſerer Jeit und gegen das proletariſche Wohnungselend im beſonderen. Namen und Beſtrebungen eines Walter Gropius, Bruno Taut u. a. ſind ihm tatſaͤchlich viel vertrauter als vielen Gebildeten. Schon das Jerſtoͤrende dieſer Revolution, das Ausraͤumen all des luͤgen haften, ornamentalen Miſtes bedeutet hier eine Tat. Der junge Proletarier lernt die Schoͤnheit der reinen Wandfarbe, den Wert einer ehrlichen, auch durch die Maſchine hergeſtellten Geraͤteform und den aͤſthetiſchen wie ökonomiſchen Unwert der zahlloſen heutigen „Dekorationen“ ſchaͤtzen, die meiſtens auch noch fein Eltern haus verunziert haben. Die ernuͤchternde Wahr · baftigkeit iſt auch in dieſem Falle der erſte Schritt zu einer wirklichen Arbeiter⸗ tur.

Zur ſittlichen und aͤſthetiſchen Erziehung, welche ſich durch die wechſelſeitige Ruͤckſichtnahme, durch Anregung und Kritik innerhalb und durch die CLebens⸗ gemeinſchaft von ſelbſt vollzieht, ſowie in dem alltaͤglichen Einfluß des Beiftes- arbeiters beim Ausflug, bei der gemeinſamen Mahlzeit, beim Schlafengehen und Aufſtehen, im kameradſchaftlichen Austauſch zur Wirkung gelangt, tritt noch

inzu die planmößipe intellektuelle Bildungsarbeit. ÖFonomie, Verwaltung und

olitik des Seimes bieten die lebensnahen Bezugspunkte fuͤr die theoretiſchen Er⸗

rterungen. Als ſelbſtverſtaͤndliche Anknuͤpfungspunkte treten hinzu der ver⸗ ſchiedenartige Beruf der einzelnen Seimgenoſſen, fowie feine Partei · und Gewerk ſchaftszugehoͤrigkeit. Auch hier iſt die Selbſterziehung der Gemeinſchaft allein ſchon dadurch in ihrer Wirkung geſichert, daß regelmaͤßig ſowohl ſozialiſtiſche, wie kommuniſtiſche, wie ſchließlich parteiloſe Gemeinſchafts mitglieder, daneben aber auch voͤllig unpolitiſche Naturen vorhanden ſind. Alle dieſe Bezugspunkte muß die Bildungsarbeit planmäßig zu verarbeiten ſuchen. Nach nichts verlangt der junge Proletarier fo ſehr, nichts iſt ihm aber auch fo notwendig, wie die Ordnung ſeiner durchaus chaotiſchen, geifi en Welt. In feinem Bewußtfein find ver- knaͤuelt die ſpaͤrlichen Bruchſtücke feiner Volksſchulkenntniſſe mit einem Bunter- bunt an naturaliſtiſchen und ganz wenigen hiſtoriſchen Daten, die ihm der Zufall der Erfahrung und einige Broſchuͤren vermittelt haben. Mit dieſem FHlickwerk ſucht er wie jeder Menſch in fein Sandeln eine feiner Individualität entſprechende Ein heit und Folgerichtigkeit zu bringen. In keiner Geſellſchaftsſchicht habe ich dieſes Streben nach Einheit von Wollen und Denken fo ſtark und ernſt gefunden, wie gerade beim jungen Proletarier. Und in keiner Geſellſchaftsſchicht ſind die Mittel zur Befriedigung dieſes wahrhaftigſten Bildungsbedüurfniſſes derart unzureichend. Die ſchematiſche Geſchichtskonſtruktion: Am Anfang war die kommuniſtiſche Gemeinſchaft, jetzt iſt die kapitaliſtiſche Geſellſchaft, auf ſie folgt naturnotwendig der Sozialismus, befriedigte jenes Einheits - und Ordnungsbedürfnis fo lange, als die Geſamtkraft der Arbeiterbewegung auf die Erkaͤmpfung der allernaͤchſten und allerdringlichſten oͤkonomiſch · politiſchen Selbſterhaltungs bedingungen ge ; richtet ſein mußte. Sobald dieſe auch nur in geringem Maße gegeben waren, machte ſich die Eigengeſetzlichkeit der perſoͤnlichen Selbſtentfaltungsbedingungen geltend. Wicht als ob der geiftig lebendige Großſtadtarbeiter von heute weniger

Vgl. die ausgezeichnete Urbeiterpfycbologie, die demnachſt im Verlag Mobr, Tubingen erſcheint.

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Sozialiſt wäre als vor zehn Jahren; er iſt es wahrſcheinlich ſogar in hoͤherem, eben weil perſoͤnlicherem Grade. Gerade na wird aber fein Bildungsbeduͤrfnis nicht mehr durch die ſoziologiſchen Blaubensfäge eines dogmatiſchen Maffen- programms . Es drängen ſich ihm ſelbſtaͤndige Srageftellungen auf, er wird zu einer ſelbſtaͤndigeren Auseinanderſetzung mit Kultur und Geſchichte ge: zwungen. Und in dieſer nicht ungefährlichen geiſtigen Situation wird ibm die Lebensgemeinſchaft auch intellektuell zur Unentbehrlichkeit; denn fie allein er- moͤglicht ibm dann, wenn die Stunde innerer Bewegtheit und problematiſcher Aufgeſchloſſenheit gekommen iſt, die Unterredung unter vier Augen mit dem gleichgeſtimmten Altersgenoſſen oder dem geiſtigen Fuhrer. In der Volkshoch ſchule, ſelbſt wenn dieſe, was felten genug geſchieht, dem Ideal der Arbeits: gemeinſchaft moͤglichſt nabe kommt, kann dieſe intime Perſoͤnlichkeit des jungen Arbeiters ſich nie ganz aufſchließen. Die ſeeliſche Scham ebenſo wie die geiſtige Eitelkeit verhindern ihn, eine „laͤcherliche“ Frage zu ſtellen; die zwei oder drei feft- gelegten Abendſtunden in der Woche können nicht den individuellen Augenblick der inneren Spannung abpaſſen, in welchem die Empfaͤngnisbereitſchaft vorhanden iſt. Im engſten Juſammenleben hingegen iſt es ſchon die Gemeinſamkeit von Raum und Jeit, die den dauernden geiſtigen Austauſch bei der Lektuͤre eines Buches beim Leſen der verſchiedenen Jeitungen, die im Seim gehalten werden, bei jeder zufälligen Diskuſſion nicht nur ermöglicht, ſondern faſt erzwingt.

Es genügt aber keineswegs, dieſe ſubjektiven Erlebniſſe der jungen Seim ; genoſſen jeweilig nach Zufall und Willkür zu verarbeiten. Die Ordnung feiner geiſtigen Welt bedarf einer objektiveren Orientierung, der Seim -⸗Unterricht bedarf eines objektiven Lehrplanes (ohne den ubrigens auch die Volks hochſchule auf die Dauer nicht auskommen wird). Im vollſten Bewußtſein davon, wie unzulaͤnglich jeder Lehrplan iſt und bleibt, muß doch der großen Verlockung eines anarchiſchen Unterrichts widerſtanden und aus den Forderungen der ſubjektiven Erlebniswelt des Sandarbeiters ein Lehrplan aufgeftellt werden, der von Jahr zu Jahr einer Vreugeftaltung zu unterziehen iſt.

Was ſich in einigen duͤrren Sägen von dieſer planmäßigen intellektuellen Bil; dungsarbeit des Zeimes zuſammenfaſſen läßt, ſollen die folgenden Zeilen wieder · geben, die eine Überſicht darſtellen über den Unterricht im aͤlteſten, von Gertrud Sermes zuſammen mit Dr. Dietrich geleiteten Seime.

Den Ausgangspunkt des Seimunterrichts bildete die Frage: Was iſt Kultur? Durch Darbietung von verſchiedenen Außerungen des Geiſtes der Barockzeit als anſchaulichem Material wurde auf dieſe Frage die Antwort erarbeitet, daß Bultur da gegeben ſei, wo ſaͤmtliche Lebensgebiete aus einheitlichem Geiſte heraus einheitlich geſtaltet find. Eine Prufung der Gegenwart an der Sand dieſes Maß; ſtabes ließ die Fragwuͤrdigkeit der gegenwärtigen Aulturlage klar heraustreten und führte damit hin zu der hinter aller Bildungsarbeit richtungweiſend ſtehenden Aufgabe der Umgeſtaltung und Neugeſtaltung unferer Kultur. Nach dieſem Vor⸗ ſpiel ſetzte ſofort eine fo breit als nur irgend moglich ausgebaute Behandlung von Wirtſchafts fragen ein. Junaͤchſt wurden die verſchiedenen Erſcheinungsformen des modernen Kapitalismus beſprochen: Das Finanzkapital, das Bankweſen, die Aktiengeſellſchaft, die Bartellierung und Vertruſtung. Darauf war ein Abend der Feſtlegung einiger volkswirtſchaftlicher Grundbegriffe gewidmet; gleichzeitig wurde gezeigt, wie die Volkwirtſchaftslehre in der Gegenwart durchaus allgemein anerkannter, oberſter Grundſaͤtze entbehre. Es folgten Arbeits ge meinſchaften über die Bedeutung des Geldes und des Jinſes; die letztere war zugleich zu einer Aus einanderſetzung mit der Freiland Freigeld · Bewegung geſtaltet. Mit der Be⸗ ſprechung des Taylorſyſtems und des Fordismus ſchloß die Betrachtung deſſen, was auf dem wirtſ ichen Gebiete heute iſt, und der Unterricht wandte ſich den Problemen der Sozialiſierung Fi mit deren ausgiebiger Eròͤrterung die Beband- lung der Gegen warts fragen abgeſchloſſen wurde

Neben dieſen wirtſchaftlichen Unterricht war ſchon ſehr bald die Beſchaͤftigung mit der politiſchen Wirklichkeit getreten. Sierbei wurde ausgegangen von gemein ſamer Lektuͤre von Parteiprogrammen, die jeweils auf die verſchiedenſten poli- tiſchen Gegenwartsfragen hinfuͤhrte. An ſozialiſtiſchen Programmen kamen bier ·

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bei ausfuͤhrlichſt das Erfurter und das Görlitzer Programm zur Beſprechung. SZinzu trat das Spartakusprogramm von 1918 und ein neueres kommuniſtiſches Programm. Iwei Abende wurden endlich auch dem Leipziger Programm der Deutſchen Volkspartei gewidmet. Auf dieſe Auseinanderſetzung mit den Partei · bildungen folgte ſodann ein eingehendes Studium der Reichs verfaſſung, das felbft- verſtaͤndlich auch immer wieder Anlaß gab zur Behandlung aktueller politiſcher Fragen. Ein Gegenbild bekam die Weimarer Verfaſſung durch die Verfaſſung von Sowjet⸗Rußland; ihre Erörterung ſchloß die unterrichtliche Beſchaͤftigung mit dem politiſchen Gebiet.

Die genannten Stoffe nahmen die ganze erſte Saͤlfte des Lehrgangs in Anſpruch. Vieles wird darin vermißt werden; der Grund des Fehlens it immer derſelbe: die Anappheit der zur Verfügung ftebenden Jeit. Bam dieſe ganze Bearbeitung der gegenwaͤrtigen Wirklichkeit dem unmittelbaren Intereſſe des Arbeiters entgegen, ſo war die Jeit des Unterrichts doch nicht bloß die Befriedigung V gewidmet; es ſtand hinter ihm vielmehr noch das andere Ziel, in den Seimſaſſen ein Verſtaͤndnis für die Bedingtheit der Gegenwart durch die geſchichtliche Ver · gangenheit zu wecken; es ſollte immer und immer wieder ein lebendiges Fragen nach dem Warum und Woher der heutigen Verhaͤltniſſe wachgerufen werden. Dieſe Abſicht iſt zwar nicht ganz in dem Umfange erreicht worden; aber es war doch moͤglich, ein ſtarkes . für die in der zweiten Saͤlfte des Cehrganges erfolgende unterrichtliche Behandlung des 19. Jahrhunderts zu ge winnen. Auf ein Jurückgeben hinter das J9. Jahrhundert wurde ſchon aus Jeit⸗ mangel, aber auch aus grundſaͤtzlichen Bedenken verzichtet. Wer in der Arbeiter bewegung Träger eines Weuen zu ſehen glaubt, wird ſich wohl huͤten muͤſſen, die V menſchen durch den Druck umfaſſender hiſtoriſcher Bil⸗

ung zu en.

Das Eingangstor in das J9. Jahrhundert bildete Marx. Es wurden bier nach⸗ einander beſprochen die materialiſtiſche Geſchichtsauffaſſung, das Rommuniſtiſche Manifeſt und die Mehrwertstheorie. Je ein weiterer Abend wurde auf Segels Geſchichtsphiloſophie, auf Fichtes „Geſchloſſenen Sanbdelsftaat”, feine „Reden an die Deutſche Nation“, auf die Romantik und auf Bants Schrift „Zum ewigen Erieden“ verwandt. Dieſe Abende follten in das U ndnis der großen geiſtigen Bewegung zu Beginn des Jahrhunderts einfuͤhren. In einigen wenigen Abenden wurde ſodann die politiſche und wirtſchaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts geſchildert: dabei wurde vor allem auch der Entwicklungsgang, den das Bürger tum nach 1848 gegangen iſt und die Bedeutung Bismarcks für dieſen Entwicklungs; gang herausgehoben. Eine ſehr eingehende Behandlung erfuhr die Geſchichte der ſozialiſtiſchen Bewegung: Engels, Laſſalle, Gothaer Programm, Bebel, Kautskp, Candauer, Lenin bezeichnen die verſchiedenen Etappen und Perſoͤnlichkeiten, die der Betrachtung zugrunde gelegt wurden. Jur Charakteriſierung der geiſtigen Ode in der zweiten Si e des Jahrhunderts diente die Beſprechung des Materialismus, Poſitivismus und Monis mus. Als Ergänzung wurde daneben der Realismus in der Bunft geſtellt. Den Schluß dieſer kulturellen Linie, die neben der ſozialiſtiſchen ber verfolgt wurde, bildete die Bekanntmachung mit Nietzſche, Strindberg und van Gogh. Die Auflehnung gegen den entleerten Geiſt der zweiten Jahrhundert⸗ hälfte war damit ans Ende der Betrachtung geftellt und fo noch einmal ein Aus blick auf die kulturelle Lage der Gegenwart und die durch fie geſtellten Aufgaben gewonnen.

Eine wichtige Ergaͤnzung des im Vorangehenden in feinen Grundzügen ge- ſchilderten Lehrganges bildeten i geb Fahrten, die z. B. nach der Rudelsburg (Rittertum), nach Schulpforta (Mönchtum und mittelalterliche Kirche) und Weimar (Schiller und Goethe) führten. Die alle vierzehn Tage ſtattſindenden Offenen Abende, an denen an der Sand von Werken der Literatur durch Monate hindurch das Problem Schuld und Suͤhne beſprochen wurde, diente der Behand⸗ lung von allen innerſeeliſchen Kragen, die ja fo gut wie alleſamt nicht in den eigentlichen Lehrgang eingeordnet waren. Werke der Literatur wurden auf man ; chen Fahrten, aber auch bei vielen ſonſtigen Gelegenheiten nahegebracht. Außer dem erfuhr der Lehrgang wertvolle Bereicherung durch von Gaͤſten geleitete Be-

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ſprechungsabende: fo wurde an je einem Abend die Frage Sozialismus und Na⸗ tion und die Grundidee eines religidfen Sozialismus beſprochen, an drei Abenden kam die Entwicklungslehre nach dem heutigen Stand der Forſchung zur Bebanb- lung. Dr. Sermann Seller

Die Wirt ſchafts ſchule des Deutſchen Me⸗ 5 no tallarbeiterverbandes in Bad Dürrenberg | ebemaligeRurbaus des Heinen mitteldeutſchen

Badeſtaͤdtchens Dürrenberg feiner neuen Beſtimmung übergeben worden ift. Iwei bundert Arbeiter aus den Betrieben der Metallinduſtrie haben inzwiſchen in dem geräumigen zweckmaͤßigen Bau vollkommen losgeldöft von der bedruͤckenden Enge und Mot ibres Alltags Anregung und Belehrung empfangen dürfen.

Eine Schule der Arbeiterſchaft! Beine „Sochſchule“ oder „Akademie“ | Der Vor; ſtand des Deutſchen Metallarbeiterverbandes, insbeſondere fein um das Bildungs · weſen beſonders intereſſierter und beſorgter Vorſitzender, Robert Dißmann, haben ſich bei der Errichtung und Ausgeſtaltung der Schule davon leiten laſſen, den der⸗ zeitigen geiſtigen Entwicklungsgrad der Arbeiterſchaft zum Ausgangspunkt zu nehmen, die ſchrittweiſe Erziehung zum Iweck der Bewältigung ihrer geſellſchaft⸗ lichen Aufgaben als Ziel zu ſetzen. Das erſcheint eine Selbſtverſtaͤndlichkeit. Doch iſt der Nachdruck auf das Wort „Arbeiterſchaft“ zu legen. Teilnahme am Unter richt in Duͤrrenberg foll für den Schüler nicht oder doch nur als Mittel zu einem hoheren IJweck zur Entfaltung feiner „Perſoͤnlichkeit“, dieſem hoͤchſten Glück der Erdenkinder einer vergangenen individualiſtiſchen Epoche, führen. Nicht um ihrer ſelbſt willen, ſondern um der Sache der Arbeiterſchaft zu dienen, werden die Hörer der Wirtſchaftsſchule nach Duͤrrenberg geſandt. Daraus ergibt ſich, daß das Ziel der Schule nicht die Seranzuͤchtung einiger weniger außergewöhnlich ver- anlagter Sübrernaturen fein kann, vielmehr die Seranbildung eines Stammes von Menſchen, die imſtande find, den geiſtigen und geſellſchaftlichen Emanzipa ; tionskampf des Proletariats durch taͤtige Mitarbeit zu beſchleunigen. So Auf denn auch der Unterrichtsſtoff auf das Verſtaͤndnis und die Erkenntnis der Auf- gaben e ſein, die der Arbeiterſchaft heute entgegentreten, Aufgaben, deren Bewältigung die derzeitige hiſtoriſche Miſſion der Arbeiterſchaft iſt.

War ſo das Jiel allgemein geſteckt, ſo tauchen als erſte Frage auf, welchen Raum im Lehrbetrieb allgemeine weltanſchauliche und theoretiſch ⸗ſoziologiſche Fragen einnehmen ſollten. Der Leiter der Schule, Georg Engelbert Graf in voller Ubereinſtimmung mit feinen Mitarbeitern, Ingenieur Richter und dem Schreiber dieſer Jeilen ſtellen im Unterricht dieſe Dinge bewußt in den Sintergrund. In Dürrenberg werden die für die Arbeiterſchaft akuten Probleme der Welt · und Volks · wirtſchaft, des Rechtslebens, der Betriebs kunde und ee an De Tauden dabei Fragen allgemeiner Natur auf, fo werden fie nicht etwa uͤbergangen, viel; mehr wird am konkreten Beiſpiel gezeigt, wie notwendig fuͤr jeden einzelnen eine feſtbegruͤndete Lebensanſchauung iſt, wie die Entſcheidung und Stellungnahme zu den konkreteſten Fragen des Alltags von der grundſaͤtzlichen Einſtellung zu dem geſellſchaftlichen Entwicklungsprozeß abbängig iſt. Dieſe paͤdagogiſche Methode entſpringt der Erkenntnis, daß für. die Arbeiterſchaft die Weltanſchauung keine Angelegenheit ſpekulativen Suchens iſt, ſondern ſich ihr durch ihre Stellung im Produktions prozeß notwendig aufdraͤngt.

Wird ſomit Weltanſchauung nicht gelehrt, ſo liegt dem geſamten Schulbetrieb in Důrrenberg dennoch eine feſte Lebens anſchauung zugrunde. Der geſamte Unter⸗ richt iſt auf die Denkformen der marxiſtiſchen Lehre eingeſtellt, das Jiel des Unter⸗ richts iſt es, Gegenwartsfragen unter Anwendung der Marxſchen Methode ver⸗ ſtaͤndlich zu machen.

Die Schule iſt eine bewußte Pflegſtaͤtte des ſozialiſtiſchen Gedankens. Jedoch in dem Sinne, daß als das Wertvollſte der Marxſchen Gedankenarbeit nicht die Er⸗ gebniffe feines Forſchens, vielmehr die Methode feines Denkens für die Arbeiter⸗

chtbar gemacht werden ſoll.

Die Schule ſoll aber andererſeits ein Vorbild fuͤr die Arbeiterbewegung ſein be⸗

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zuͤglich der Solidarität und Aamerabſchaftlichkeit aller an ihr Beteiligten. Wenn daher in der Schule der Gemeinſchaftsgedanke gepflegt und gelebt wird, ſo iſt dies nicht nur ein Mittel der paͤdagogiſchen Ausgeftaltung, ſondern foll feine Aus⸗ wirkungen über Schulraum und Schulzeit erſtrecken. Da die Wirtſchaftsſchule ein Internat ift, find Lehrer und Sörer den ganzen Tag zuſammen, ſpielen und eſſen gemeinſchaftlich, verbringen den Sonntag zuſammen auf naturwiſſenſchaftlichen und kuͤnſtleriſchen Exkurſionen, erfreuen ſich als eine große geiftige Familie in den Abendſtunden an muſikaliſchen Darbietungen, guten Novellen oder CLichtbildern.

Dieſes intenſive Juſammenleben von Lehrern und Schülern ermöglicht es auch, die relativ kurze Jeit von drei bis vier Wochen, die für jeden Aurs zur Verfügung ſtehen, nutzbringend auszugeſtalten. Der Verkehr außerhalb der Unterrichts; Runden ſchafft jene Atmoſphaͤre gegenfeitigen Vertrauens, die die notwendige Voraus ſetzung eines jeden Unterrichts im Wege der i in ldatt A

Der Unterrichtsſtoff erleichtert es außerdem, die Hörer zu taͤtiger Mitarbeit während des Unterrichts heranzuziehen. Auf allen Unterrichtsgebieten liegen praktiſche Er⸗ fahrungen zum mindeſten eines erheblichen Areiſes der Soͤrer vor. Alle haben durch Jeitungsartikel und Verſammlungen von den Problemen des Unterrichts gehört. Die erſte Pflicht des Lehrers iſt es, die durch Phraſen und falſch ver ſtandene Schlagwörter ſchiefen Vorftellungen der Hörer richtigzuſtellen. „Kampf der Phraſe !“ ſteht mit unſichtbaren Buchſtaben über dem geſamten Lehrbetrieb.

Sodann aber müflen die vielen Einzelheiten, die der einzelne erlebt und erleſen

t, zu einem ſyſtematiſchen Geſamtbild zuſammengefaßt werden. Sier liegt eine

eſonders wichtige Aufgabe der Schule, dem Arbeiter den rechten Mittelweg zu zeigen, zwiſchen dem ſich in Einzelheiten verlierenden Spezialiſtentum der alteren Funktionaͤre und dem ungehemmten durch keine Sachkenntnis beſchwerten Phil“ fopbieren der Jungen aus der Jugendbewegung. Dieſe Aufgabe wird durch die Tatſache beſonders erleichtert, daß die Schule von Soͤrern im Alter von 20—15

ahren beſucht wird, fo daß die verſchiedenen Betrachtungsweiſen des Geſell⸗ chaftsprozeſſes ſich gegenſeitig ergänzen und abſchleifen.

Ju einem Kurs werden ſtets etwa SO Funktionaͤre des Verbandes alſo Ver; trauensleute und Betriebsräte aus einem Induſtriezweig zuſammengefaßt. Gerade diejenigen Aurſe, deren Induſtrien über das ganze Reich verftreut find ( Elełtrowerke und Automobilbau) ergaben bisher wohl nicht zuletzt infolge der Buntheit der lands mannſchaftlichen Juſammenſetzung die lebendigſten und an; geregteſten Arbeitsgemeinſchaften. Die Juſammenfaſſung nach Branchen er Eiger 2: Anknuͤpfung an die praktiſchen Erfahrungen, namentlich im techniſchen

n t.

Waͤbrend bei allem akademiſchen ſozialwiſſenſchaftlichen Unterricht von den biſtoriſchen Vorkommniſſen ausgegangen werden kann, fällt dies im Arbeiter ; unterricht fort. Der geſchichtliche Sinn wird in Duͤrrenberg durch kunſthiſtoriſche Exkurſionen erzeugt und gefördert, da der Arbeiter durch Eindruͤcke des Au am erſten für einen ihm innerlich fremden Stoff gewonnen werden kann. Iſt ab der hiſtoriſche Sinn erſt einmal erweckt, fo beſteht die Möglichkeit, als notwendige . der akuten Gegenwartsprobleme die geſchichtliche Entwicklung beran- zuziehen.

Das Beſtreben, den Unterricht moͤglichſt anſchaulich zu geſtalten, greift auch auf andere Rechtsgebiete uͤber, fo daß 3. B. im Rechts unterricht den Soͤrern eine voll ſtaͤndige Gerichtsſitzung vorgeführt, Blagen entworfen werden ufw. f

Sicherlich iſt ein Beteiligter, wie der Verfaſſer, nicht berechtigt, uͤber das bis · berige Ergebnis der Arbeit in Duͤrrenberg ein Urteil abzugeben. Er darf jedoch den Wunſch ausſprechen, daß bei der Kritik der anderen der Wille der Schul⸗ leitung anerkannt wird, Wege zu beſchreiten, die in ihrer Art vielfach neu ſind, daß das Beſtreben aller Beteiligten beruͤckſichtigt wird, uͤber den Rahmen der Schule hinaus auf die geſamte Arbeiterbewegung foͤrdernd zu wirken.

Dr. fur. E n ſt Fraenkel

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Die Funktionaͤr ſchule des Arbeiter⸗ 5 j ' Arbeit ifati ift der Bildungs · Inſtituts in Leipsig a. 5 ser

onaͤrkoͤrper, Geſamtheit der e tätigen Vertrauensleute an einem Bet. Sie ſind die Unteroffiziere des großen Seeres, ſtehen zwiſchen den Fuͤhrern und der großen Maſſe. Sie leiſten die Kleinarbeit in der unablaͤſſig noͤtigen Agitation und Be⸗ einfluſſung der Mitgliedſchaft. Sie verteilen die Neues. Werbeſchriften und Mitteilungsblätter. Durch fie weiß die Fuͤhrung ſtets Beſcheid Aber die Stimmung der Maſſe, auch ohne daß große Verſammlungen abgehalten werden. Mit ihr beraͤt fie ſich vor allen Aktionen. Aus dieſer Gruppe kommen die Anwärter für die wich; tigeren Poſten, aus ihr ſteigen die großen Fuhrer empor, die alle erſt ſich in der Kleinarbeit bewaͤhrt haben muͤſſen.

Funktionaͤrausbildung iſt denn auch die erſte und dringendſte Aufgabe der, Bil dungstaͤtigkeit der zentralen Verbaͤnde wie der lokalen Bildungsausſchuͤſſe. Ihr dienen unzählige Rurfe und Arbeitsgemeinſchaften. Weben fie bat der bedeut⸗ ſamſte lokale Bildungsausſchuß der Arbeiterſchaft in Deutſchland, das allgemeine Arbeiter ⸗Bildungsinſtitut in Leipzig eine beſondere Einrichtung geſtellt, die Kunktionaͤrſchule, die gerade ihren dritten Lehrgang beſchließt.

Die Schule dauert drei Jahre. Unterrichtet wird an zwei Wochentagen abends nn Stunden und im Winter jahr zwei Stunden am Sonntagvormittag.

ie e werden von ihrem erein oder ihrer Gewerkſchaft 5 Sie mäflen ſich ſchon in der Organiſation betätigt und ſollen das 32. Lebensjahr nicht ůͤberſchritten haben. Roſten erwachſen ihnen aus dem Lehrgang nicht, dafur beſteht für fie die moraliſche Verpflichtung, nach der Schule ſich der Arbeit in der Organiſation intenſiv zu widmen. Es werden ziemlich große Anſpruͤche an die Schuler geſtellt. Ju dem Beſuch der zwei Abende in der Woche kommt das Stu- dium zu Sauſe, ſchriftliche Arbeiten follen angefertigt werden. Deshalb muß mit dem Eintritt in die Schule jede andere Funktion in den Verbaͤnden niedergelegt werden. Die Schüler ſollen ihre ganze Zeit und Araft dem Studium widmen konnen. Den Kontakt mit ihrer Gewerkſchaft und der Parteiorganiſation dürfen fie natuͤr⸗ lich nicht verlieren, deshalb follen fie einen Abend in der Woche für deren Ver anſtaltungen freihalten. Fur dieſe Beſchraͤnkung während der Schulzeit werden fie ſich um fo erfolgreicher nachher betätigen konnen.

Der Lehrplan wird natürlich durch den Schulzweck beſtimmt. Deshalb ſtehen theoretiſche Faͤcher neben praktiſchen Ubungen und Aneignung organifations- techniſcher Fertigkeiten. Sie verteilen ſich folgendermaßen:

Der eine Abend behandelt die drei Jahre hindurch Aultur · und politiſche Ge · ſchichte und ſchließt mit eingehender Parteigeſchichte. Der zweite Abend iſt vom zweiten Semeſter ab der Volkswirtſchaft gewidmet. Er endet mit der Behandlung aktueller Wirtſchafts probleme. Im erſten Semeſter gibt er eine Einfuhrung in philoſophiſche Gedankengaͤnge. n

Die Sonntagvormittage bringen im erſten Jahre Ubungen im ſchriftlichen Aus; druck, im Reden und in Verſammlungsleitung, im zweiten behandeln ſie Werden und Wirken der Gewerkſchaften und Sozialpolitik, im dritten werden fie wieder zu Übungen verwandt. Die Schuͤler muͤſſen nun ſelbſtaͤndig Referate Aber aktuelle Fragen ausarbeiten, die in den Organiſationen behandelt werden. Bei dieſem Plan iſt zu beachten, daß die Schule für Partei und Gewerkſchaftsbetaͤtigung zugleich ausbildet. Eine Trennung ließe eine größere Spezialiſierung zu. Überrafchen dürfte der Lehrgegenſtand „Einführung in philoſophiſche Gedankengaͤnge “. Be- geben wurde eine Darlegung des Syſtems Kants, Segels, Feuerbachs. Damit ſchien die Voraus ſetzung zu einer tieferen Eroͤrterung des Problems „Siſtoriſcher Ma⸗ terialismus“ geſchaffen zu ſein.

Dieſer gewagte Verſuch, 729 5 Arbeitern Rant uſw. vorzutragen, um ſie zu Funktionaͤren auszubilden, ſcheint glänzend gelungen. Mancher wird darüber den Kopf ſchuͤtteln. Der Zwed ſollte zunaͤchſt reine formale Denkſchulung fein, und der wurde erreicht. Für den Lehrenden waren dieſe Abende koͤſtliche Stunden. Ihm mußte es darauf ankommen, die Schüler die für fie gewiß neuartigen und ſchwie

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rigen Gedankengaͤnge mitdenken, ſie aus den Problemen denkend entwickeln zu laſſen. So ſaßen die Schuler da, ins Denken verſunken, man ſah die Muͤhe auf den ſchweren Stirnen, und es war eine Freude, zu ſehen, wie die Geſichter aufblitzten, wenn die Entdeckung kam, der Begriff erfaßt war. Mag das Inhaltliche des . getragenen auch wieder verlorengegangen fein, die Vertiefung und Schaͤrfung des Denkens ift erreicht worden, iſt geblieben und hat ſich vorteilhaft bei dem ge- ſamten übrigen Unterricht ausgewirkt. Valtin Sartig

e ; Die in dieſem behandelten

des Arbeiterbildungsweſens der Fuͤhreraus bildung. Das leuch ·

tet ohne weiteres ein, wenn man

ihre geringe Jahl mit dem Rieſenheer der organiſierten Arbeiters ft vergleicht.

Freilich, wer fie beſucht, hat damit durchaus keinen Anſpruch auf irgendeine be ·

ſondere Stelle. Aber ſoweit die Schüler delegiert find, verurſachen ſie erhebliche

Roften in den meiſten Fallen muͤſſen ja außer den Schülern noch deren Familien

bei Ganztagesſchulen unterhalten werden. Diefe Ausgaben wird man ſich natür-

lich nur für ſolche Mitglieder machen, auf die man große Soffnungen ſetzt, und die ſich ſchon irgendwie hervorragend betaͤtigt haben.

Akademie der Arbeit in Frankfurt, Wirtſchaftsſchule in Duͤſſeldorf und naͤchſtens auch Berlin, Seimvolkshochſchule Tinz find ſtaatliche Schulen. Die Gewerkſchaften find in deren Auratorium vertreten, fie delegieren die Schuler. Der Beſuch iſt aber auch nicht Delegierten geftattet. Rekrutierungsgebiet iſt ganz Deutſchland und außer für Tinz die Arbeiterſchaft aller Richtungen. Letzteres gilt auch für die re und Volkshochſchulheime des ſtaͤdtiſchen Volksbildungs · amtes Leipzig.

Dürrenberg iſt die Jentralſchule einer einzelnen freien Gewerkſchaft, die anderen dagegen ſind allen Verbaͤnden zugaͤnglich. Gewerkſchaftsſchule Berlin und die Schulen in Leipzig find rein lokale Einrichtungen. Der größte Teil der Bildungs» taͤtigkeit in der Arbeiterſchaft fpielt ſich naturlich außerhalb dieſer Schulen ab. Jentrale und lokale Organiſation uͤberſchneidet ſich dabei. Die Spitze der freien Gewerkſchaften, der Allgemeine Deutſche Gewerkſchaftsbund (ADB. ) hat einen feiner Sekretaͤre Alexander Anoll neben anderen Arbeiten auch mit der Wahr⸗ nehmung der Intereſſen des gewerkſchaftlichen Bildungsweſens beauftragt. Not wendig wäre aber bei der Große und Wichtigkeit der Bildungs und Schulungs- arbeit dafür ein ſpezielles Sekretariat. Weben den vom AGB. getragenen Schulen Frankfurt, Duͤſſeldorf, Tinz befteben noch geſondert Einrichtungen ein zelner Verbaͤnde. An erſter Stelle ſteht der Metallarbeiterverband, der ſogar eine eigene Schule, Dürrenberg, errichtet hat. Andere Verbaͤnde veranſtalten von der Zentrale aus Rurfe für ibre beſonderen Bedhrfniffe, wie der Tertil- und der Fabrikarbeiterverband. Ein eigenes Bildungsſekretariat hat außer dem Metall⸗ arbeiterverband jetzt nur noch der Verband der Gemeinde und Staatsarbeiter.

Über diefe Einrichtungen treten die lokalen Bildungsausſchuͤſſe. Gewerkſchaften, Parteien und die ſpeziellen Arbeiterkulturvereine wirken in mn 1 a

altin Sartig

Dieſem Seft liegt ein Proſpekt der Verlags buchhandlung von Ernſt Hofmann & Co., Darmſtadt, bei, der der Beachtung empfohlen fei.

Schriftleiter: Dr. h. e. Eugen Diederichs, Jena, Cari⸗Jeiſ-Platz 5. Zeitung diefes Seftes:

Daltin Sartig, Berlin 80 33, Schleſiſche Straße 42. Bei un verlangter Juſendung von Manuſkripten

it Porto für Ruck ſendung beizufügen. V Diederichs in Jena. Druck von Radelli e in Leipzig

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Monatsſchri für die Sukunſt ° deut ſcher Kultur

18. Jahrgang Heft 5 Auguſt 1826

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Richard Wilhelm V And Som!-&

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Spaniſche Eindruͤcke [E I | .

E; iſt ein alter Spruch, daß alle Taten, die von uns ausgeh 0

fie den Kreislauf der Wirkungen vollendet, bei uns wieder end Man wird an dieſen Spruch erinnert, wenn man Spanien be⸗ trachtet: Spanien, das einſt die neue Welt entdeckt hat, muß es ſich heute gefallen laſſen, von Europa aus aufs neue entdeckt zu werden. Das iſt ein hartes Los. Aber es iſt unvermeidlich. Beſonders ſeit Muſſolinis Un- freundlichkeiten die deutſchen Erholungsreiſenden von dem alten Ziel ihrer Dilgerfabrten abhalten und der Strom ſich deshalb weiter nach Weſten wendet. Ich habe im einſamſten Winkel von Spanien, in Bobadilla, das nur Eiſenbahnknotenpunkt iſt und wo man unterwegs von Madrid nach Sevilla oder Granada zu Mittag ißt (gut und billig und unter Anwefen- heit eines engliſchen Kellners, der eine „Eingeborene geheiratet hat, aber ſich dennoch gern zu den „Weſteuropaͤern“ rechnet), eine ganze Geſellſchaft von deutſchen Vergnuͤgungsreiſenden getroffen, die lebhaft nach Speiſe und Trank riefen. So aͤndern ſich die Zeiten: fruͤher waren es Weſtgoten und Vandalen und heute find es Sachſen und Schleſier ... (Die Ameri- kaner und die Englaͤnder ſind bei ſolchen Gelegenheiten uͤbrigens auch nicht leichter zu ertragen, namentlich wenn ſie in Maſſen auftreten. Es tut einem nur weher wenn es Deutſche find. Aber das gehort in ein an; deres Kapitel.)

Alſo Spanien wird entdeckt. Man revidiert raſch, was man von Spa- nien gelernt hat. Die Schule beliefert den Menſchen ja mit dem notwen · digen Grundſtock der Allgemeinbildung. Alſo Spanien: Tafelland mit den bekannten ſechs Slüffen, hinter den Pyrenden... fern im Sid. bezaubernde Augen aus Mantilla vorblickend, Dolchſtoͤße im naͤchtlichen Dunkel, wenn Tar xv | 23

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man ſich betoͤren laͤßt, Stierkaͤmpfe, Inquiſition, finſteres Mittelalter, erſtarrtes Beiftesleben, Don Quichote, die Philipps II. IV., der finftere Escurial, die ſchoͤnen Tage von Aranjuez, die aber vorüber ſind, etwas mauriſcher Kitſch: Alhambra, Alcazar und wie die Nachtlokale ſonſt noch heißen, der Jude von Toledo und dann: Sevilla, natuͤrlich Sevilla, wo Carmen zu Sauſe war und Don Juan, wo am Guadalquivir das Leben bluͤht. Der Gebildete hat auch Echegarays wahnſinn oder Seiligkeit ge- leſen, er kennt das ſchoͤne Buch von Kurt Sielſcher „Das unbekannte Spanien“, das die Keiſeluſt erweckt. Und wenn er ganz modern iſt, fo weiß er etwas von Ibanez und Unamuno, deren Werke man kurzlich in Dollenfa auf der Inſel Mallorca bei einem Autodafé verbrannt hat. Mehr weiß man nicht. (Die Weine und die Orangen find billig, das kommt vom Sandelsvertrag, aber das gehoͤrt kaum noch zum weſentlichen uͤber Spanien.) Nur naturlich noch die Maler: Fruͤher war es Velasques, geſtern war es der Greco und morgen wird es Murillo fein. Wenn man fo fort macht, da fällt einem doch noch manches ein. Die Erinnerungen, die Eindruͤcke, die Ahnungen ziehen heran wie nebelhafte Geiſter bei der Evokation. II

Wen man bei Port Bou die ſpaniſche Grenze uͤberſchreitet, fo fällt

zunaͤchſt auf, wie hier in dieſem meerumſpuͤlten Selswinfel der Dyrenden fo plögli Spanien anfängt. Die Soldaten mit ihren bunten Vorkriegsuniformen, die Candjaͤger mit ihren lackierten Dreiſpitzen, die Mädchen, die ſich den Zug und feine Inſaſſen betrachten: alles iſt ein voll · kommen verſchiedenes Bild von dem, was man Jo Minuten zuvor ge ſehen. Und nun geht es durch den daͤmmernden Abend, durch weite ge- wellte Flaͤchen: Wälder von Kiefern, Saine von Gliven wechſeln mit gruͤnen Geldern und Wiefen, wenig Dörfer, das Land it einſam, ganz ſelten ein Sof mit flachem Ziegeldach, eine Ruine, ein Kirchturm. Der Abend iſt ruhig und ohne Aufregung, leiſe ſteigt der Rauch in die Daͤmme⸗ rung empor.

Spanien ſchlaͤft. Schlaͤft es wirklich? Es ſcheint anerkannte Wahrheit zu ſein. Selbſt die Spanier ſagen es entſchuldigend dem Fremden, daß ſie 50 oder Joo Jahre hinter Europa zuruͤckgeblieben ſeien. Das iſt ihre Soͤflichkeit. Und es wirkt unſagbar grotesk, wenn dann ausgerechnet einer von uns Deutſchen, die wir durch den Weltkrieg mehr als irgend ein Volk den Kontaft mit Europa und feinem Leben verloren haben, mitleidig ſtolzen Laͤchelns deutſche Silfe und deutſches Weſen für Spaniens Ge⸗ neſung anbietet Spanien ſchlaͤft nicht. Das Plus ultra des Carlos V. iſt neu erwacht. Der Pulsſchlag Europas iſt in feinen Adern deutlich fuͤhlbar, und nie iſt mir die Einheit unferes Kontinents unmittelbarer deutlich ge worden, als in dieſem weſtlichſten Ausläufer, der fo merkwuͤrdig ſich mit vielem beruͤhrt, das wir als oͤſtlich zu empfinden gewohnt find.

Spaniſche Eindruͤcke 339

Spanien iſt ein Bauernland. Darin liegt feine Große und Sonderart, aber auch feine Begrenzung gegenüber der Zaf der Ztvilifation und dem Kauſch des Sortfchritts. Der Fortſchrittgedanke, der in Nordeuropa wie eine Windebraut durch die Luft fährt und immer wieder alle Faͤden zer reißt, jede Woche faſt eine neue Lebensanſchauung und jedes Jahr einen neuen Kunſtſtil verbraucht und jede Art von Tradition, von ſtillem Wachs · tum durch feine nervoͤs bewußte Selbſtzergliederung immer wieder zer · ſtoͤrt, noch ehe fie orm und Fertigkeit geſchaffen, iſt dem Spanier ſelbſt nicht als Ideal willkommen. Es iſt nicht alles Fortſchritt, was ſich von der Stelle bewegt. Und namentlich wo dieſe Bewegung dem Außen ſtehenden als die Kreis wanderung eines im Wald Verirrten erſcheint, dürfen wir nicht erwarten, daß er ohne weiteres mitwandert. Dem Spa⸗ nier kommen gerade wir Deutſchen luftartig, nebelhaft verſchwommen vor. Es fehlt ihm an uns die gepraͤgte Form. Sier tritt uns das Problem der Klaſſik in merkwuͤrdig deutlicher Formulierung von außen entgegen und beftätigt uns, daß Goethe wirklich nach dem Suden mußte, um deutſcher Seele den hoͤchſten Ausdruck prägen zu koͤnnen. Der Spanier iſt nicht ohne Bewegung, aber dieſe ſeeliſche Bewegtheit iſt, wie Ortega y Gaſſet ein- mal ſagte, die in ſich vibrierende Bewegtheit der Flamme, die leuchtet und wirkt durch die Ruhe im Außeren bei der hoͤchſten Spannung in ſich.

Nirgends erlebt man die ſpaniſche Landſchaft ſtaͤrker, als wenn man von Madrid nach Toledo faͤhrt auf jener eigenſinnig geraden Straße, auf der man fruher tagelang zu reifen hatte. Diefe Straße führt vorüber an dem kleinen Sügel, auf deſſen Spitze ein Areuz den Mittelpunkt Spaniens bezeichnet. Sier ſieht man die Naturgrundlagen des ſpaniſchen Weſens: oben der Simmel mit ſtrenger Sitze und geſetzmaͤßigem Regen, unten die Erde, Nalkboden, nicht uͤppig, mit ihren Geldern und Oliven. In diefen Notwendigkeiten der Natur bewegt ſich das Leben in ſtrengem Dienſt. Sier iſt der Menſch den letzten Realitäten gegenuͤbergeſtellt und hier muß er arbeiten, um fein Leben zu erhalten. Und aus dieſem Verhaͤltnis heraus bekommt das Leben des Spaniers den großen Ernſt, die Gemeſſenheit und auch die Wuͤrde. Das Leben des Kaſtiliers iſt nicht heiter, nicht leicht. Er liebt es nicht übermäßig. Es iſt weit mehr Pflicht als Genuß. Darum findet man ſo wenig Autobiographien in Spanien. Das Leben iſt ernſt genug, um es einmal zu leben. Man hat nicht das Beduͤrfnis, es ruck erinnernd noch einmal durchzukoſten. Aus dieſer Auffaſſung des Lebens als Pflicht entwickelt ſich dann der furchtbar ernſte und große Gedanke vom Leben als Dienſt. Sier hoͤrt man im Geiſt die harten Tritte der Sol · daten Albas droͤhnen, die Europa erſchuͤttert haben. Und aus dieſen Zu; ſammenhaͤngen wird auch der faſzinierende Gedanke des Soldaten Jeſu, Inigo von Zoyola, verſtaͤndlich, der den ſtrengen Pflichtgedanken des Dienſtes auf geiſtige Sphaͤren uͤbertrug. Merkwuͤrdig wie unter fo ganz anderen Bedingungen in dem armen Bauernlande Preußen aͤhnliche Be-

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danken erwuchſen: auch hier die ſtaͤhlerne Zucht des Seeres und aufs Geiſtige uͤbertragen der erhabene Gedanke der Pflicht, wie ihn der Königsberger unter nicht geringerer Selbſtverleugnung ſchuf, als der Baske ſein Ideal des Gehorſams. Merkwuͤrdig nur: der preußiſche Drill iſt weit mehr zwangsweiſe Sormung einer fluͤſſigen Seelenſubſtanz durch den Willen der Zerren (die Friederizianiſchen Soldaten find bei Gelegen · heit von Kuͤckſchlaͤgen oft davon gelaufen), waͤhrend beim Spanier die Beherrſchtheit aus dem tiefen Bauernernſt jedes Einzelnen kommt und jene Phalanx bilder, die in dem Bild des Velasquez von der Ubergabe Bredas den ſtarken Unterſchied zu der individualiſtiſch ſchwankenden Lanze der einde hervortreten läßt. In merkwuͤrdigem Gegenſatz dazu das Geiſtige: Die Pflicht bei Rant als autonome Freiheit des Einzelnen, bei Zoyola als willenloſe Hingabe an den Oberen. Dieſe merkwuͤrdige Verſchraͤnkung gewinnt einen Sinn, wenn wir fagen, daß das Leben dem Spanier eine Aufgabe für das Sandeln, dem Deutſchen ein Problem für das Denken iſt.

III

M. ſpricht fo viel davon, daß Kirche und Inquiſition in Spanien das | geiſtige Leben gehemmt und finftere Freudloſigkeit verbreitet haben. Wie? wenn umgekehrt die ſpaniſche Seele ſich auch ihre Kirche geformt haͤtte, wie fie fie brauchte? Die katholiſche Kirche zeigt die allerverſchieden ſten Ausprägungen und keine Religion verſteht ſich fo lebendig den ſee⸗ liſchen Verhaͤltniſſen der einzelnen Anhaͤnger anzupaſſen wie ſie. Nichts iſt bezeichnender als ein Vergleich der ſpaniſchen und der nordiſchen Bor tik. (Italien hat es ja eigentlich überhaupt nie zur „Gotik“ gebracht.) Im Norden das ſteile Emporſtreben, das Überfliegen der Wirklichkeit, das Schweben in immer luftigere Höhen. Wenn man mit ſolchen Vorſtellungen zum erſtenmal in die Kathedrale von Barcelona eintritt, iſt man über- raſcht und ſteht vor tauſend Fragen. Man befindet ſich in dunkler angſt⸗ voller Nacht. Man ſieht nicht den Boden vor den Süßen ; man iſt wie ge blendet. In dieſer angſtvoll naͤchtigen Soͤhle, die in ihrer hohen Geſchloſſen ; heit auf die, Seele druckt und die noch lebendiger wird, wenn man den Schatten einer Frau unterſcheidet, die auf den Steinen des Bodens kniend ſich im Gebete windet oder wenn verzweifelte Seelen die Laſt ihrer Suͤn⸗ den leiſe und furchtſam durchs Gitter des Beichtſtuhls fluͤſtern, und wenn das Auge ſich ans Dunkel gewoͤhnt, die Schar der Glaͤubigen ſich aus dem Schatten loͤſt: ſtumm, erwartungsvoll lauſchend bis das Große ſich offen · bart. Und nun ertoͤnen Blänge der Orgel zauberhaft durch die Kirche, die Stimmen der Prieſter klingen ernſt und beruhigend durch die Nacht. Und es geſchieht das Wunder. In der Mitte der finfteren Sohle, am Sochaltar ſpielt es ſich ab. Dort wird das erloͤſende Opfer vollzogen. Weihrauch · wolken dampfen auf vom gelben Licht der Kerzen durchgluͤht. Ploͤtzlich

Spaniſche Eindrücke 341

wird der weiße ſeldene Vorhang, der die heilige Sandlung während der heiligen Woche faſt verdeckt, von uͤberirdiſchem Licht getroffen. Ein blauer Strahl aus einem der Senfter hoch droben in der Kuppel fällt ſchraͤg herunter und ſein Reflex erleuchtet die myſtiſche Tiefe, wo ernſt der prächtige Prieſter das heilige Opfer darbringt. Ein Glöckchen klingt. Das große Schweigen kommt und die Gemeinde ſinkt andaͤchtig in die Anie. Nur einen Augenblick dauert das Bild, dann wandelt es ſich mit dem Bang der Sandlung drinnen und der Sonne droben. Aber wenn der Vor⸗ hang ſich wieder zuzieht, hat man etwas erlebt von der ſpaniſchen Seele. Die ſpaniſche Seele iſt zu Sauſe in dieſem Dunkel der weltangſt, fie kennt die ſinſtere Höhle des Lebens und fie iſt bekannt mit dem Licht, das im tiefften Innern glübt.

Es iſt kein Wunder, daß in diefer Umgebung der Mont Serrat ſich er- hebt, der Bralsberg mit feinen Wiyfterien und dem Nimbus von Sagen, der ihn umgibt. Steil ſteigt er aus der Ebene empor, von den Nachbar⸗ hoͤhen getrennt durch das tiefeingefchnittene Bett des Llobregat. Und anders als die Berge in der Runde: Felſen wie Zacken, wie Säulen, wie Pfeiler, wie Tuͤrme, drängen ſich als eine feſte Burg um den Mittelgipfel, ins Bodenloſe ſinken die Selswände ab, an denen ſich mäbfeme wege emporwinden. Schon im Altertum war dieſer Ort geheiligt, ein Venus; heiligtum ſtand hier, das Chriſtentum hat das geheimnisvolle ſchwarze Bild, das der heilige Lukas geformt, hierher gebracht und ein Kloſter ge⸗ gründet. Die Sage hat die Stelle umſponnen und der Mont Sal vatſch, wie ihn die Parzifalſage nennt, wurde zum Ausgangspunkt der gebeim- nisvollen Ritter vom Gral. Wenn man um die Ecke biegt und den Kloſter hof betritt, der von den vielen hochragenden Pilgerherbergen und Sotels umgeben iſt, fo iſt man äberrafcht, man ſieht zu viele Menſchen und zu viele Autos. Aber wenn man in die Kapelle tritt mit ihren dunklen Ge⸗ heimniſſen, wenn man durch das Kloſter geht, wo fromme Benediktiner hauſen, da fühlt man etwas von der Luft, die Menſchheitshoͤhen um- weht, und da kann man verſtehen, wenn je und je dort heilige Entſchluͤſſe gefaßt und Gelůbde abgelegt wurden von Maͤnnern, die bereit waren zum Seil der Menſchen auszuziehen und im geweihten Dienſt ſich zu verzehren. Der Berg mit ſeinen Schluchten, in denen die regnenden Gewitter ſich ſammeln, durch die das Land fo fruchtbar wird, er wahrt dieſe Bebeim- niſſe und gibt ihnen Kraft und Feſtigkeit. Noch jetzt gibt es in Spanien heilige Ritterorden, die im Zeichen geheimnisvoller Breuzblumen fi. um den Thron verſammeln und 3. B. in der Karwoche ihre Gottesdienſte in liturgiſch wůrdiger Weiſe feiern, umdraͤngt von einer großen Menge, die ʒuſchauend teilnimmt an der heiligen Sandlung der Ritter. Und die Idee des Dienſtes an den Bruͤdern, die echt chriſtliche Idee der Demut lebt noch in der Sitte, die den König und die Königin jeden Gruͤndonnerstag zwoͤlf arme Maͤnner und Frauen bei ſich verſammeln laͤßt, denen fie die Süße

342 Richard Wilhelm

waſchen und die ſie bei Tiſch bedienen, nach dem Vorbild des Seilands. Gewiß: das find heute bloße Formen geworden. Aber in dieſen Formen liegt noch die Erinnerung an etwas Großes, liegt die Verpflichtung, die aus der Gnade Gottes entſpringt, der Gedanke, daß das Dienen ein not- wendiges Korrelat des Serrſchens iſt.

IV

Woern wir die ſpaniſche Seele mit der deutſchen vergleichen, ſo finden

wir als weſentlichen Unterſchied den, daß fie eine ſtarke innere Ge⸗ formtheit beſitzt, waͤhrend die deutſche Seele innerlich unbeſtimmter, an- paſſungsfaͤhiger, beweglicher iſt und ſich die Form erſt aͤußerlich aufprägen und anerziehen muß. Von hier aus verſtehen wir die kirchliche Auffaſſung von der Welt als Sohle, wie fie in den ſpaniſchen Kirchen mit ihren Myſte rien vor uns tritt. Don hier aus verſtehen wir auch die Angſt, die der ſpaniſchen Seele innewohnt die ganz verſchieden iſt von Furcht vor aͤußeren Dingen die weltangſt die daraus entſpringt, daß etwas Ewiges, Unendliches umſchloſſen iſt von der Form, die als ſolche ſtets Be; grenzung, Endlichkeit bedeutet. Aus dieſem Zwieſpalt erklären ſich auch die ſtrengen, faſt grauſamen Züge, die uns am ſpaniſchen Leben auffallen: die Inquiſition fruͤherer Jahrhunderte, die Stierkaͤmpfe von heute. Man hat ſich in Deutſchland angewoͤhnt dieſe Zuge als etwas Perverſes, Schreckliches zu betrachten. (Wohl gemerkt, dies ſei in Klammern geſagt, benutzt der deutfche Reiſende gerne die Gelegenheit einmal, eine ſolche grauſame Sache ſich gruͤndlich anzuſehen: ganz ebenſo wie die chineſiſchen „Grauſamkeiten“ von niemand fo gruͤndlich ſtudiert und fo gewiſſenhaft abgebildet wurden, wie von ſcheinheiligen Europaͤern, die voll Abſcheu ůͤber dieſe Dinge fi zu äußern pflegen.) Im Allgemeinen kann man wohl ſagen, daß kein Volk einem andern in dieſer Beziehung viel vorwerfen kann; wir haben unſere Seren verbrennungen gehabt, wie die Spanier ihre Autodafés und die alten deutſchen Burgen und Schloͤſſer zeigen in ihren Verließen und Folterwerkzeugen, daß man es auch bei uns ganz gut verſtand, die Leute zu quaͤlen. Der Sauptunterſchied iſt der, daß es den Spaniern vielleicht mehr Ernſt war mit der Sache. Und wenn wir uns ůber die Grauſamkeit gegen Tiere entrüften, die uns begegnet, fo vergeſſen wir dabei, wieviele Grauſamkeit gegen Menſchen in unſeren Einrich⸗ tungen und Sitten noch lebt. Wir duͤrfen doch nie vergeſſen, daß in dem freien Amerika noch heute von Zeit zu Zeit Neger und andere mißliebige Perſonen ſtraflos umgebracht werden und in dem fortgeſchrittenen Deutſch⸗ land Rommuniſten und ſolche, die man dafür ausgibt, um fie im Bewußt fein des Seldentums morden zu konnen. Wenn wir alſo im Bewußtſein deſſen uns vor allem Verurteilen bäten wollen und nur zu verſtehen ſuchen, was in den Stiergefechten und aͤhnlichen Volksſitten ſich in der Seele regt, fo durfte es eben dieſes verhaltene Gefuͤhl der ſeeliſchen Ein ·

Spaniſche Eindrůcke 343

geſchloſſenheit fein, das in ſolchem Blutvergießen vulkaniſch hervor bricht. Auch in der ſpaniſchen Geſchichte laͤßt ſich manches Graͤßliche und manches Große dadurch erklaͤren, daß ein lange eingeſchloſſenes und zu- růckgedraͤngtes Gefuͤhl ſich endlich gewaltſam Luft macht. Vielleicht iſt hier auch die Erklaͤrung für jenen Wahlſpruch „Plus ultra“ unter dem Amerika entdeckt und erobert wurde und die Entdeckung Amerikas iſt ja ganz weſentlich eine ſpaniſche Tat, ganz einerlei ob Criſtobal Colon fuͤr Spanien in Anſpruch genommen werden kann oder nicht. Die Syſtole der ſpaniſchen Pſyche, wie fie unter den Reyes Chriſtianos (Ferdinand und Iſabella) ſich vollzog und den mauriſchen Gegenpol vernichtete, ging voran, ehe die Diaſtole zur Zeit Carlos V. das Weltreich ſchuf, in dem die Sonne nicht unterging. Man kann dieſe Exploſion nicht hoch genug ein; ſchaͤtzen; denn fie gibt der ganzen Menſchheitsgeſchichte eine neue Wen- dung. Denn fie durchſtieß den Kulturraum, den innerlich durchſeelten Raum, der alten europaͤiſch · vorderaſtatiſchen Kulturen, der ja weſentlich begrenzt war. Und fo entſtand die Grenzenloſigkeit, die im Begriff iſt, alle noch beſtehenden Kulturen in einer großen Gottesdaͤmmerung einzu⸗ ſchmelzen. Denn die Erweiterung des Simmels zum kalten unendlichen weltraum war nur die Ronſequenz diefer Zertruͤmmerung des alten Erd raums. Und es iſt bezeichnend, daß dieſe Durchbrechung des europaͤiſchen Kulturraums grade von dem Volk ausging, das die geformteſte, begrenzteſte Seele hatte: den Spaniern. Die Wikinger waren laͤngſt in Amerika geweſen. Aber das hatte für die europaͤiſche Kultur Feine Ronſequenzen; denn ihr Unendlich keit drang war ohnehin nebelhaft unbegrenzt. Aber als die Spanier nach Amerika tamen, da wurde daraus eine Tatſache, eine harte wirkliche Tatſache mit harten, wirklichen Nonſequenzen für die ganze Menſchheit.

Die Geformtheit der ſpaniſchen Pſyche bedingt noch andere Unter ſchiede gegenůber unſerer nordiſchen „Unendlichkeit“. Einmal die ſtaͤrkere kuͤnſtleriſche Beherrſchung des Raums. Seit wir Deutſchen die mittel alterliche Tradition verloren, ſtehen wir ja bis in die neueſte Zeit hinein der architektoniſchen Geſtaltung des Raums ganz hilflos gegen; über. Wenn wir in unſeren modernen Städten einen Platz haben, fo iſt er einfach ein Loch in der Gegend, eine Leere und es iſt kein Wunder, daß nervoͤs empfindliche Menſchen vor ſolchen gaͤhnenden Raumloͤchern Platz⸗ angſt bekommen. In Spanien iſt ein Platz eine Raumgeſtalt. Selbſt ůͤber den großen Dlägen in Barcelona woͤlbt ſich unſichtbar und doch Be · deutung gebend etwas wie eine Kuppel in die Luft. Der Platz iſt fo an · gelegt, daß er eine Geſchloſſenheit bildet, die man ganz deutlich empfindet, auch wenn man ſich nicht Rechenſchaft daruber geben kann, warum das ſo iſt.

Der andere Unterſchied iſt der auffallende Mangel an unſerer Leiden · (haft für das Reflektieren. Das reflektierende Denken, das Abſtrahieren und Gedankenſpinnen iſt nichts, das dem Spanier am Serzen liegt. Das Sin · und Serwenden der Begriffe um zu feben, was fie an Erkenntniſſen

347 Richard Wilhelm

dadurch hergeben konnen, duͤnkt dem Spanier muͤßiges Spiel. Er bat feine Kirche, feine feſten laren Vorſtellungen von der ſichtbaren und un · ſichtbaren welt. Er wuͤrde die dünne Luft der Abſtraktion, die Unent · ſchiedenheit und Unentſchloſſenheit die daraus entſteht, als etwas GQuaͤlen⸗ des empfinden. Und auf der anderen Seite bedarf er der Geſetzgebung durch das Denken nicht fo ſehr, weil feine Seele viel ſtaͤrker von immanen- ten Geſetzen geformt und regiert iſt, als die vagere und unbeſtimmtere des Nordens. Dem Spanier iſt vieles in Sleifch und Blut übergegangen, was für uns noch Problem iſt. Das Alter der Kultur und die Stärke der Tradition kommt in dieſem Stuͤck zu der ſeeliſchen Struktur als ſteigernde Kraft hinzu.

Vieles von dem, was wir hier zur Sprache gebracht, iſt allgemein roma⸗ niſch. Aber wir werden das ſpeziſiſch Spaniſche erſt ganz verſtehen, wenn wir es 3. B. mit dem Italieniſchen vergleichen. Auch in Italien iſt Geformtheit. In der LCandſchaft und bei den Menſchen: ůberall begegnet uns die ſchoͤne Form. Aber die italieniſche Form iſt nach außen gewendet. Der Italiener iſt geſpraͤchig, freundlich, leicht erregbar, aber auch leicht wieder beruhigt. Alle Schoͤnheit zeigt ſich dem Blick und Verſtaͤndnis ſofort, ſie bietet ſich dem Verſtehen dar. Das ganze Leben iſt außerhalb der Saͤuſer, auf der Straße ſpielt es ſich ab oder in den Kirchen, in denen Stelldicheins ver · abredet werden, durch die Saͤndler und Marktweiber mit Rörben ſchreiten und deren Gottes dienſte auch nicht geſtoͤrt werden, wenn wißbegierige Fremde die Kirche ſtudieren und auf den Sochaltaͤren herumklettern. Der Italiener iſt ſeinem Weſen nach meiſt nach außen gekehrt, extravertiert.

Sier liegt nun der Sauptunterſchied zu dem ernſten Spanier. Die ſpa⸗ niſche Seele iſt in ſich zuruͤckgezogen, introvertiert. Das zeigt ſich ſchon in der Sprache. Die italieniſchen Woͤrter ſind voll und vokaliſch, die ſpaniſchen konzentriert und enden auf Ronfonanten. Und auch in der Grammatik ließen ſich dieſe Unterſchiede verfolgen. Darum iſt es auch ſo ſchwer, gleichzeitig Spaniſch und Italieniſch gut zu ſprechen. Bei aller aͤußeren Ahnlichkeit iſt die ſeeliſche Saltung, die den beiden Sprachen zugrunde liegt, eine direkt entgegengeſetzte. Das gleiche gilt vom Charakter der menſchen. Der Spanier iſt reſerviert, von einer faſt mimoſenhaften Zu; ruͤckhaltung, ehe er einen Schritt zu weit geht, zieht er ſich lieber drei Schritte zuruck. Er iſt weniger zugaͤnglich im erſten Moment, aber zu- verlaͤſſig und ſein Stolz iſt die Buͤrgſchaft, daß er fuͤr ſein Wort und ſeine Verpflichtung eintritt. Das Leben der Familie ſpielt ſich wohl auch im Freien ab, doch nicht ſo ſehr auf der Straße wie im Patio, dem inneren Sof des Sauſes. In der Kirche benimmt das Volk ſich gemeſſen und wuͤr dig und auch von den Fremden erwartet man Ruͤckſicht und Zuruͤckhaltung.

V N ei dieſen ſeeliſchen Eigenſchaften iſt es verſtaͤndlich, daß in Spanien die Tradition eine ſtaͤrkere Kraft iſt, als im übrigen Europa. Italien

Spaniſche Eindrücke 345

hatte feine Renaiſſance, Deutſchland hatte feine Reformation. Und auch durch die übrigen Länder des Nordens und der Mitte Europas geht dieſer Bruch, der das Mittelalter von der Neuzeit trennt. In Spanien zeigt ſich eine viel größere Rontinuitaͤt. Es hat an dem Exlebnis Europas teil- genommen, aber dieſes iſt erſt ſpaͤter in feinen Wellenzugen dorthin ge⸗ kommen und hat ſich daher viel inniger mit dem amalgamiert, was vorher ſchon vorhanden war. Es iſt 3. B. kein Zufall, daß es oft ſehr ſchwer fällt zu beſtimmen, aus welcher Zeit eine Kirche iſt, da man eigentlich nie auf⸗ gehoͤrt hat daran zu bauen und noch heute an ihr geſtaltet und umgeſtaltet wird. So finden wir auch in der bildenden Runſt, daß die Einfluͤſſe des ubrigen Europas nicht revolutionaͤr, ſondern hoͤchſtens anregend wirken. Über zwei Kriſen Europas iſt Spanien ohne Bruch der Tradition hinuͤber · gekommen: Über die Kriſe des 16. Jahrhunderts, die die neue Zeit herauf fůhrte und über die Kriſe des Weltkriegs. Das bedeutet auf der einen Seite entſchieden eine Staͤrke. Die Außerungen von Duͤrftigkeit, die haͤßlichen lecken, die ſeit dem Weltkrieg in unſeren betroffenen Ländern fo ſchreiend hervortreten, finden ſich in Spanien nicht. Es iſt noch in Vorkriegsver⸗ haͤltniſſen.

Manchmal empfindet man das auch als Grenze. Wenn man im Muſeum de Prado die Sale durchſchreitet, fo findet man eine ungeheure Sülle der größten Meiſterwerke. Nicht nur ſpaniſche, ſondern auch andere. Von Rubens 3. B. finden wir fo Vieles und fo Gutes, wie kaum irgendwo an- ders. Aber wenn man nach Rembrandt fragt, ſo kennen die Aufſeher nicht einmal ſeinen Namen. Sier zeigt ſich der Punkt, an dem Spanien ſich aus der europaͤiſchen Geſchichte zuruͤckzuziehen begonnen hat. Aber auch hier muß man ſich vor allzu raſchen Urteilen huͤten. Eine Kunſt, die aus ſich einen Velasquez, Murillo und vor allem den Greco hervorgebracht hat um nur wahllos ein paar Namen herauszugreifen zeigt was Spanien an Eigengut beſaß.

Ich nannte auch Greco unter den ſpaniſchen Malern, obwohl ja in dieſem Beinamen ſchon ausgeſprochen iſt, daß er Grieche und kein Spanier war. Aber Spanien darf ihn mit Recht beanſpruchen. Nicht nur weil er mit ſeinen Freunden unter den bedeutendſten ſpaniſchen Literaten in den Zikadengaͤrten von Toledo zuſammenkam und mit ihnen den beruͤhmten Kreis bildete, den Lope de Vega in feinem „Cigarrales“ geſchildert, ſon⸗ dern ſchon deshalb, weil er ſo lange in Spanien gelebt hat. Denn eben jene ſtarke Bontinuitdt der ſpaniſchen Tradition, kurz geſagt das Alter der ſpaniſchen Kultur, bewirkt es, daß Fremde ſich unglaublich raſch dem ſpaniſchen Wefen angleichen. Wie viele Kirchen und ſonſtigen Gebaͤude ſind von deutſchen oder niederlaͤndiſchen Architekten erbaut, aber alle ſind rein ſpaniſch im Stil und Geiſt. So ſtark wirkt die Kulturſeele auf die Saͤſte, die hier weilen.

SGewiß zeigt die ſpaniſche Kultur gewiſſe Züge, die jeder alten Kultur

346 Richard Wilhelm

eigentuͤmlich find. Man lebt in gewiſſen feſten Geleiſen, man macht die Dinge auf eine beſtimmte Art. Man ſchaͤtzt das Neue nicht ſchon deshalb, weil es anders iſt; und man iſt nicht ein Freund von allzuviel Betrieb. Dieſe Ruhe erſcheint dem Angehörigen jůngerer Nationen oft wie Indo; lenz. Er möchte eingreifen, etwas machen, Leben und Fortſchritt in die Geſellſchaft bringen. Solche Gefuͤhle find kindliche Sarmloſigkeiten des modernen Mitteleuropaͤers, der uͤberzeugt iſt, daß mit ihm eine neue Menſchheitsperiode beginnt. Es iſt aber wirklich fo, wie mein Gaſtfreund, der deutſche Energie mit ſchwaͤbiſcher Ruhe und ſpaniſcher Gelaſſenheit aufs gluͤcklich ſte vereinigte, bemerkte: „Man konnte denken, wenn zwanzig betriebſame Deutſche ins Land kaͤmen, fo wurden fie ſich durchſetzen und in ein paar Jahren alles veraͤndern. In Wirklichkeit aber waͤre es ſo, daß fie fe intelligenter fie wären, um fo ſicherer in ein paar Jahren ſich dem ſpaniſchen Welen angeglichen haͤtten und uͤber ihre fräbere Betrieb · ſamkeit laͤchelten. Diefe Dinge gehoͤren eben zu der unſichtbaren und doch unuͤberwindlichen Stärke alter Kulturen. Es geht den Europaͤern in China ja auch nicht anders und Zaotſe behaͤlt recht wenn er ſagt:

„Der Weſen zahlloſe Menge entwickelt ſich,

Doch jedes wendet ſich zuruck zu feiner Wurzel.

Juruͤckgewandt fein zur Wurzel: das iſt Stille,

Die Ewigkeit erkennen: das iſt Weisheit.“

wenn fo im allgemeinen die Grundzuͤge des ſpaniſchen Charakters feſt

gelegt werden koͤnnen, ſo muß man doch bedenken, daß innerhalb dieſer Einheit eine große Mannigfaltigkeit angelegt il. Wenn Caſtilien im weſentlichen Bauernland iſt, fo iſt La Mancha, die Zeimat von Don Qui⸗ jote, das Land des Weins, der meiſtens nach dem Namen des Grtes Valde⸗ peñas als Tiſchwein bekannt iſt, und wenn man die Sierra Morena durch; quert hat, ſo kommt man in Granada und Andalucia in Gebiete, die ihre deutliche Sonderart haben. Auch hier hoͤrt man die Mandolinen und Lauten und die Maͤdchen auf der Straße ihre Mollmelodien fingen, die dem ſpaniſchen Charakter ſo ſehr entſprechen. Aber innerhalb des Moll iſt mehr Bewegtheit, mehr Aufſchwung, das Dunkle der Stimmung iſt hier mehr ſchwebender Sintergrund. Freilich, wenn man wiſſen will, wie eigentlich die Mandolinen klingen, fo darf man fie nicht als Tiſchmuſik in einem der großen internationalen Sotels hoͤren, ſondern man muß 3u- faͤllig dazu kommen, wie an einem Tordurchgang der Alhambra ein paar Blinde zuſammen ſpielen. Wenn dann gerade die Sonne im klaren Simmel verſunken iſt und die Orangenblůten duften und die Waſſer rauſchen, die aus dem Schnee der Sierra Nevada auf der alten mauriſchen Waſſer⸗ leitung herunter kommen und das Land hier oben in einen Garten ver⸗ wandeln dann weiß man was ſpaniſche Muſik iſt, und dann tauchen auch die Märchen auf von den wie mit Stickereimuſtern verzierten Räu- men der Alhambra, wo beim Plaͤtſchern der Brunnen die ſchoͤnen Frauen

Spaniſche Eindrücke 347

badeten, während oben auf der Galerie die blinden Muſiker ihre Weifen fpielten. berhaupt Granada ! Sier leben noch die letzten Seufzer der uͤber⸗ feinen arabiſchen Kultur, die vor dem Vordringen der „Reyes“ (die hier in ihren Metallfärgen, die wie dünne dunkle Riften ausſehen, in der Gruft unter der Kathedrale ſtehen), zuruͤckweichen mußte. Aus dem Grun ragen noch die Tůrme des alten Palaſtes mit ihren Sagen und Maͤrchen, druͤben hinter dem Darro leben in Erdloͤchern und duͤrftigen Zutten am Suͤgel · hang die Zigeuner noch wie einſt. Und das alles unterbrochen von dem Neuen, das die chriſtlichen Könige darin herum gebaut haben. Nirgends wirkt Karl der Sünfte fo hoffnungslos borniert wie hier, wo er feinen be · ſchraͤnkten Geiſt austoben konnte, wo er mitten in die mauriſchen Ara⸗ besten hinein feine Plus · Ultra ⸗Majolikaplatten an die Wände leimen ließ und ganze Bezirke der alten Gebaͤude niederreißen ließ, um fein Renaiffance- ſchloß, das ausſieht wie eine Arena, quer in die Gegend ſtellen zu konnen. Ein guͤtiges Geſchick hat es verhindert, daß es fertig wurde; ein Erd⸗ beben ſtoͤrte den Bau und ſo war er Ruine noch ehe er fertig war: ein Symbol des Wirkens ſeines Erbauers. Aber auch dieſe Dinge liegen heute jen ſeits von Saß und Liebe. Der Efeu der Jahrhunderte hat ſich um alles geſchlungen und bedeckt gleichmaͤßig mit feinem Grun, was Araber und was Spanier hier erbaut. Und wir lernen hiſtoriſch als notwendig ver; ſtehen, was uns menſchlich betrachtet mit Wehmut erfüllt: den Unter gang einer feinen, aber ůͤberzart gewordenen Kultur unter den ehernen Schritten des beſchraͤnkten, aber ſtarken Einheitswillens des Könige- paars, das durch feine Ehe Spanien geſchaffen hat. Über Andalucien und Sevilla wäre vieles zu ſagen. Man iſt zunaͤchſt enttaͤuſcht, weil das Land mit feinen weiten Seiden und binſenartigen Zwergpalmen durchaus nicht ſo romantiſch ausſieht, wie man es ſich gedacht hatte. Und wenn man nach Sevilla kommt, im Lärm und Gedraͤnge der Semana Santa (Karwoche), die traditionsgemaͤß halb Spanien hier verſammelt, fo iſt das Bewähl in den Straßen fo laͤrmend, daß man eine Zeit lang braucht, bis man das Spaniſche in dieſem Getriebe wieder entdeckt hat. Aber es iſt da und man findet es. Es iſt bewegter als anderswo und weniger ſchwermuͤtig. Der Andaluſter iſt lebhaft, geſchmackvoll, und was er macht hat Stil und An; mut, und wenn im Innern des Landes der ingenioſe Ritter Don Quijote lebte, der gegen die moderne Technik der windmuͤhlen kaͤmpfte und nach einem Zeben ſtrenger Enthaltſamkeit im Schutze des Dunkels feine Dul⸗ cinea Ehßte, fo war Sevilla die Wirkungsſtaͤtte von Don Juan und Carmen. Aber auch hier iſt die ſpaniſche Sinnlichkeit nicht frivol und laſterhaft, ſondern gluͤht aus dem dunkeln Schatten des drohenden Ge · richts hervor, das ihr auf dem Fuße folgt. Auch auf dem erotiſchen Gebiet zeigt ſich im ſpaniſchen Charakter das Verhaltene, Beherrſchte gerade im Gegenſatz zu der leichteren und bequemeren Art, wie ſie Italien zeigt.

398 Richard Wilhelm, Spaniſche Eindruͤcke

VI S hebt ſich Spanien in ſeiner Eigenart ſehr deutlich als ein eigener Bezirk innerhalb der europaͤiſchen Einheit ab. Aber wir důrfen Aber dem Trennenden das Gemeinſame nicht vergeſſen. Der Geiſt der Zeit weht auch hier, und heute empfindet Spanien ſo gut wie wir die weſentliche Bedeutung, die in der jetzigen Weltwende liegt.

Nirgends tritt das deutlicher zu Tage, als in dem literariſchen Leben des modernen Spaniens. Wohl find auch hier die Ritter von der alten Garde noch da, ein Ricardo Leon, ein Palacio Valdez und wie fie alle heißen, die beliebten Meiſter der etwas ſentimentalen, aber hoͤchſt moraliſchen Romane. Aber eine neue Generation iſt herangewachſen. Neue Gedanken werden ausgeſprochen. Und Spanien iſt keineswegs das Land geiſtiger Unduldſamkeit, als das es häufig von ſchlecht unterrichteter Seite be⸗ zeichnet wird. Die Preſſe beginnt ſich zu entwickeln und ein Blatt, wie das bekannte ABC* kann fi vor feinen mitteleuropaͤiſchen Bruͤdern ohne Scheu ſehen laſſen.

Das geiſtige Leben Spaniens konzentriert ſich heute in Madrid. (Die Katalanier find zwar auch rege, aber fie vertreten zentrifugale Prinzipien und beſtreben ſich, eine katalaniſche Schriftſprache aus dem alten Volks⸗ dialekt, der dem ſuͤdfranzoͤſiſchen in mancher Sinſicht nahe ſteht, zu ent⸗ wickeln.) Der Kreis der geiſtigen Fuhrer der neuen Bewegung iſt nicht groß. Aber das hat wieder das Gute, daß man ſich untereinander kennt und miteinander Verkehr hat“. Dadurch bekommt das geiſtige Leben etwas Perſoͤnliches und Intimes. Man wird an die Gemeinſchaften lite⸗ rariſcher Freunde in den Cigarrales von Toledo erinnert, wenn man in den ſchoͤnen, von hoher Kunſt belebten Räumen der Madrider Salons mit den Fůhrern der neuen Zeit in Spanien zuſammentrifft. Und auf der anderen Seite gewinnt man hier einen ganz tiefen Eindruck davon, wie ſehr Spanien zu Europa gehoͤrt und wie ſehr trotz aller Sonderentwick⸗ lung und Eigenart der gemeinſame Geiſt dort weht. Dem tiefer Blickenden iſt es beſonders reizvoll, die rhythmiſche Spannung zu beobachten, durch die das ſpaniſche Geiſtesleben in Schwingung erhalten wird. Spanien, der aͤußerſte Weſten Europas, hat, ſo ſeltſam es klingt, entſchieden manchen Zug von Oſten her in feiner Kultur. Ob das mauriſches Erbe iſt oder aus der Gemeinſamkeit der Naturverhaͤltniſſe hervorgeht, ſoll hier nicht ent · ſchieden werden. Aber es iſt eine merkwuͤrdige Perſpektive, die ſich bei naͤherer Betrachtung aus dieſer Tatſache eröffnet: Spanien, das Land, »Der Redakteur, Herr Sta. Maria, bat übrigens auch für den Fernen Oſten Inter⸗ eſſe und beſitzt ſelbſt eine anſehnliche oſtaſiatiſche RAunſtſammlung. Auch von deutſcher Seite hat man mit dem ſpaniſchen Geiſtesleben Sühlung genommen und eine wiſſenſchaftliche Austauſchſtelle geſchaffen, an der Serr Dr. Molden; bauer ſehr umſichtige und erfreuliche Arbeit leiſtet. Eine ſpaniſche wiſſenſchaft · liche Austauſchſtelle von internationaler Spannweite iſt die Residencia de los Estudiantes, deren Leiter Profeſſor A. Jimenez iſt.

Jelir Braun, Frankreich und Deutſchland 349

von wo Europa zuerſt feine Expanſion nach dem aͤußerſten Welten be- gann, auf der anderen Seite artverwandt mit dem Oſten, von dem die mMenſchheits kultur ihren Anfang nahm. was das Gemeinſame iſt, läßt ſich mehr fuͤhlen als erklaͤren: es iſt letzten Endes das Parfum einer alten Kultur, die eine ununterbrochene Tradition hinter ſich hat und dadurch weiſe geworden iſt und zurůͤckhaltend. Und dasſelbe Spanien iſt durch; drungen von den letzten und weiteſten Zukunftsgedanken, die in Europa die Geiſter mit ihrer Flamme entzünden. So ſchließt ſich der Ring des weltgeſchehens auf merkwürdige Weiſe. Und die Säulen des Serkules, die frůher die Welt abſchloſſen, eröffnen noch einmal den Weg zu dem Plus Ultra einer neuen Weit.

Der Fuhrer des ſpaniſchen geiſtigen Lebens iſt heute Ortega y Gaſſet. Er iſt im deutſchen Geiſtesleben vollkommen bewandert und hat eine Reihe wichtiger deutſcher Werke ins Spaniſche uͤberſetzt. Aber was weit daruber hinausgeht: er gehoͤrt mit zu den Ruͤndern unſerer Zukunft. Und er liebt unſer Europa, deshalb verſteht er es. Und er weiß, daß Europa im Aufſtieg und nicht im Untergang begriffen iſt. Darum iſt er jung und glaͤubig und hilft uns zu befreien von den alten Eulen, die unſeren weg mit Unheilsrufen begleiten.

Es fehlt ihm nicht an Nadikalismus. Ex weiß, daß wir einen ganz neuen Weg gehen muͤſſen und daß nicht ein verſchiedener Geſichtopunkt dem Objekt gegenüber uns helfen kann. Die Objekte haben wir genügend vor unſerem Okular hin · und hergeſchoben. Seute vollzieht ſich ein Wechſel im lebenden und ſchauenden Subjekt. Und dieſer Wechſel ſchafft die neue welt. Die Sachlichkeiten, die Zunft, die Arbeit, die politiſchen Werte: fie alle muͤſſen es ſich gefallen laſſen, daß fie an eine andere Stelle verſetzt werden. Sie bleiben Werte, aber fie muͤſſen an die Peripherie; denn ein neuer Wert iſt im Aufſteigen: das Leben ſelbſt, das durch feine bloße Gegenwart die übrigen Werte in ihrer Geltung herabdruͤckt.

So zeigt das alte Spanien ein neues Geſicht, und es wird für uns wich · tig und wertvoll fein, wenn wir ruͤckhaltlos uns dieſen Einfluͤſſen oͤffnen und unſeren Reigen dadurch bereichern um einen wertvollen und tächtigen Genoſſen bei dem Geſt des Lebens.

Selir Braun Frankreich und Deutſchland Vi Jahr 253 nach Chriſtus 1 die erſten Germanen, darunter

die Franken, uber den Limes in Gallien ein; im fünften Jahr · hundert hatte der Stamm der Salier die Ardennen erreicht. Chlojo,

350 Felix Braun

der erſte Merowinger, eroberte um 430 Cambrai und das Land bis zur Somme. Unter feinen Nachfolgern wird um das ganze „Frankreich“ ge⸗ rungen, 487 der letzte roͤmiſche Statthalter, Syagrius, von dem jungen Chlodowech geſchlagen, das Gebiet zwiſchen Zoire und Somme erobert. Dieſer Sieg bei Soiſſons bedeutete wir folgen hier dem ſchoͤnen Werk: „Das Frankenreich“ von Johannes Bühler (Inſelverlag) „die eigentliche Beburtsftunde” des merkwuͤrdigen, dunklen, uns Seutige urfremd duͤnken⸗ den Reiches der Franken, das faſt vier Jahrhunderte durch gewaͤhrt hat. Karl der Große reſidiert in Aachen, doch auch in Paris; in Rom aber war er gekrönt worden. Noch gibt es kein Deutſchland, kein Frankreich nur ein Neuſtrien und ein Auſtraſien. Karl beſitzt das Imperium, das iſt damals wahrhaft „Europa oder die Chriſtenheit“. Erſt der Verduner Ver · trag (843) teilt das Reich in Reiche, die noch immer bloß Serrſchgebiete des weſtens, Oftens und Südens find, bis 870 die ergänzenden Abmachungen von Merſen zu der endguͤltigen Scheidung Deutſchlands von Frankreich führen 1000 Jahre vor dem Krieg Bismarcks und Moltkes gegen Napoleon. Ein Jahr vor Verdun waren in Straßburg Treueide zwiſchen den Fuͤrſten gewechſelt worden, wobei der Serr des Weſtlandes in der ger- maniſchen, der des Oſtlandes in der romaniſchen Mundart redete. Dieſer Tauſch der Eide war das letzte Zeichen dafuͤr, daß Bruͤder ſich voneinander trennten. „Wie viele Male habe ich unter meinen Freunden, die mir aus Deutſchland gekommen find“, ſagt Romain Rolland in feiner ſchoͤnen Er innerung an Malwida von Meyſenbug, die man in dem ihm gewidmeten Almanach feiner deutſchen Verleger leſen kann, „franzoͤſiſchen Urſprung entdeckt, der unzerſtoͤrlich iſt .. O barbares de la politique, qui ruinez l’equilibre merveilleux de l' union des deux familles d’occident!“

II

Der fraͤnkiſche Beift Frankreichs bleibt lange noch ſichtbar. Die großen

gotiſchen Kathedralen find feine verwandelten Geſtaltungen, und wie auch die deutſche von der franzoͤſiſchen Gotik ſcheidbar iſt: ůber dem Grabe des erſten Capet war die erſte gotiſche Kirche Europas erſtanden, bis weit nach Oſten wirkten die franzoͤſiſchen Bauhuͤtten über, Straßburg und Köln find von ihnen mitgepraͤgt, ſelbſt noch an der Front des Ulmer Muͤn⸗ ſters fpielt ein Sau ſolchen ruhevoll⸗ weiten, Flareren Geiſtes. Der Be- bildete weiß, daß Wolfram von Eſchenbach ohne Chrestien de Troyes, daß unſer Minneſang ohne die Kunft der Trouvères nicht denkbar wäre. Ein mit Ziebe und Fleiß beforgtes Buch: „Alt- und neufranzoͤfiſche Lyrik" in Nachdichtungen von Alfred Neumann (Münden, Allgemeine Verlags · anſtalt) laßt den langwaͤhrenden Zuſammenhang beſonders in der Volks⸗ lyrik und in den anonymen geiſtlichen und epiſchen Geſaͤngen wahrnehmen. Namentlich find es die bretoniſchen Balladen und Lieder, die uns, keines wegs bloß durch den innigen Ton der deutſchen Ubertragung, als ſehr

Frankreich und Deutſchland 351

verwandt anmuten. Dieſer nennen wir ihn nur germaniſche Ton halt im Volkslied an bis in das achtzehnte Jahrhundert, normanniſche, ja ſogar provencalifche Lieder haben ihn unverſehrt bewahrt. Noch zur Zeit der Jeanne d Arc beſeelt dieſe Muſik die Dichter, auch die hoͤſiſchen. Erſt mit Villon und Marot beginnt die neufranzoͤſiſche Lyrik. In eben dieſer Zeit bricht der politiſche Zwiſt aus: Sranz der Erſte bekriegt Karl den Suͤnf⸗ ten, und von nun an find die beiden Nationen des Nordens einander feind; gefinnt, deutſches und franzoͤſiſches Weſen ſchroff voneinander geſchieden.

Die kulturgeſchichtlich zuhoͤchſt intereſſierende Frage: was in Frankreich vorgegangen iſt, daß es wie mit einem Schlag ſein germaniſches Erbteil verleugnete, ſein romaniſches und galliſches aber als ſein eigentliches und ausſchließliches darwies, iſt bisher nicht beantwortet (oder noch gar nicht geſtellt?) worden. Wohl war in der franzoͤſiſchen Gotik dem ger- maniſchen Vertikalismus die Sorizontale des romaniſch Haſſiſchen Ge⸗ dankens entgegengehalten und eine Syntheſe zwiſchen den beiden Prinzi⸗ pien vollzogen worden. Aber um die Mitte des ſechzehnten Jahrhunderts hatte offenbar ein Willensakt des Königs? eines einzelnen Geiſtes? der Nation? Frankreich das Angeſicht gegeben, das uns heute noch ent; gegenblickt, darin kaum ein germaniſcher Zug mehr vorherrſcht, ſondern jene fremde, oft geliebte, oft befehdete, faſt lets bewunderte und doch ſelten das Serz ganz treffende Schoͤnheit, die der Diamant, das Eis und der Geiſt des Menſchen beſitzt; die dann bezaubernd wirkt, wenn das milde Sonnen licht der Golfſtromkuͤſte durch das Laub der hohen Baͤume Claude Lorrain und Corot haben fie gemalt hinſchwebt; jene Schoͤnheit, die das Zierende und Blendende vermag, die ſtreng iſt, aber auch zärtlich ſchmeicheln kann, die alles zur Geſtalt formen will, ſelbſt die Ciebe, und nicht zulaͤßt, daß das Zerz die große Ordnung der Welt und die Heine der menſchendinge allzuſehr ſtoͤre. Das Frankreich Racines wann iſt es entſtanden, und wie kommt es aus dem Frankreich der Kathedralen? Wie haͤngt Voltaire mit der Sainte Chapelle, Mirabeau mit dem Maͤdchen von Orléans zuſammen ? In der Epiſode der Romantik entſannen ſich Dichter und Maler wohl diefer Ahnenſchaft; etwas vom deutſchen Lied war in Verlaines Muſitk verirrt; und heute —- leuchtet nicht in Elaudels Myſterien das lichte Blau der Glasfenſter von Chartres mit?

III ie Kriege Karls des Fuͤnften mit Franz dem Erſten waren Renaiſſance⸗ Streite: die Voͤlker führten fie noch nicht, Soldner fochten gegen · einander. Erſt als nach den Raubkriegen Ludwigs des Vierzehnten das Elſaß an Srankreich fiel, war nationaler Saß erwacht, jedoch durch die Zeit bald wieder beruhigt; ſelbſt Friedrichs Feldzuͤge erregten ihn nicht allzu tief. Goethe erwaͤhnt aus Straßburg nichts, was darauf zu beziehen waͤre. An der großen Revolution nahm der deutſche Geiſt lange mit Leidenſchaft teil.

352 Selig Braun

Die napoleoniſche Ubergewalt erſt ſchuf den Zuſtand der Seindfchaft, der über 1870/71 zu 1914 / Is gedieh und nach jener letzten Übertreibung durch die rohe Siegausnuͤtzung Poincarès in ein Stadium beginnender Ent⸗ ſpannung getreten iſt, auf das wir nun viele Zoffnungen ſetzen.

In geiſtigen Bereichen wechſelten die Strömungen. Leſſing war es, der, ein anderer Friedrich, das große kritiſche Roßbach gegen Voltaire gewann. Aber ſchon Goethe neigte ſich liebend weftäber. Frankreich blieb für Deutſchland ein Kriterium. So oft es Vorbild wurde, bekaͤmpften es Wiffende und Fuͤhrer; aber immer blieb es Wertmaß. Frankreich hin ; gegen glaubte Deutſchland nichts zu ſchulden, ſogar es, ſofern es nicht in waffen ſtand, außer acht laſſen zu dürfen. Romain Rolland war der erſte Sranzoſe, der Deutſchland für feine Muſik dankte. Sein „Johann Chri⸗ ſtoph“ td lange vor dem Kriege als großes Sriedensmanifeft ge- plant geweſen, und als dieſes begrüßte das vollendete Werk 1912 Stefan Zweig, deſſen wirken gleichfalls lange vor dem Kriege der Ver⸗ ſoͤhnung der beiden Volker geweiht geweſen war. Aber dem Symbol des Eidtauſches von Straßburg folgte tauſendein hundert Jahre nach Karls des Großen Tod ein zweites: zwei Freunde, ein deutſcher und ein franzoͤſiſcher Dichter, lagen einander in feindlichen Seerfronten gegen; über: Charles Peguy und Ernſt Stadler. Und fie fielen beide 1914 in den erſten Gefechten.

IV

domain Rollands heroiſche Tat: die Liebe zum Vaterland, die un⸗ ermindert in feinem Serzen blieb, der hoͤheren Liebe zu der Idee einer geeinigten Menſchheit zum Opfer zu bringen, hat vielleicht in keinem Lande reichere Wirkung erzielt als in Deutſchland. Edle Geiſter haben ihm hier mit Dank und Liebe erwidert. Zu dieſen gehoͤrte immer ſchon der junge ̊ſterreichiſche Dichter Erwin Rieger, deſſen Liebe zu Frankreich dem Land, der Sprache, den Menſchen, den Dichtern zu innig war, als daß fie durch politiſche Seindfchaft der Völker hätte beeinträchtigt werden Finnen. Seine eben im Verlag Der Neue Geiſt, Leipzig, erſchienene Sammlung von Eſſays: „Frankreich und wir. Notizen eines Oſterreichers ! it mit ein Anlaß zu der Niederſchrift vorſtehender Zeilen geworden. Nach den Schriften von Ernſt Robert Curtius wird dies neue Buch nunmehr zu nennen ſein, das im ſtrengen Dienſt einer Idee werbend, kaͤmpfend, liebend das Erlebnis

Srankreichs in ſchoͤnen, herzvollen Worten mutig offenbart. von der mittelalterlichen Ciebesdichtung „Aucaſſin und Nicolette“ über Ronſard, Port ⸗Royal, Beaumarchais, Merimée, Théophile Gautier, die Operette Offenbachs, Mallarmẽé, bis zu Rolland und Duhamel wird durch die franzoͤſiſche Literatur eine Linie gezogen, die, ſo willkuͤrlich fie ſcheinen mag, doch an jeder Biegung das Einſetzen einer neuen Generation, eines neuen Stilwillens, anzeigt. Auf „Aucaſſin und Nicolette! folgt, uͤber Jahr⸗

Frankreich und Deutſchland | 353

hunderte hinweg, Ronfard, und vielleicht haben wir bier die Antwort auf unſere Frage nach der Geburtsſtunde des franzoͤſiſchen Frankreichs. Der janſeniſtiſche Geiſt von Port ⸗Royal kann als eine Reaktion des aͤlteren, gotiſchen Frankreichs wohl gedeutet werden, aber ſchon tritt der Vor⸗ laͤufer der Revolution kaͤmpferiſch und herzgewinnend auf, und nun haben die vielen Generationen, die für das neunzehnte und auch das zwanzigſte Jahrhundert charakteriſtiſch ſind, je einen Vertreter in dem Buche: Gautier ſtellt die Romantik, Offenbach das Bürgertum, Mallarmé das Fin de siècle, Rolland und Duhamel unfere Zeit dar. Wer dieſe ſchoͤnen Eſſays gelefen hat, weiß um die franzoͤſiſche Literatur oder doch um ihren Glanz, der die anderen Nationen ſo ſehr zu ihr hinzieht. Natuͤrlich konnte nur ein Durchſchnitt gegeben werden, aber wie ſehr iſt nicht der Teſer bewogen, fortan ſelber weiter zu forſchen und zu lernen!

Der zweite Teil des Buches führt nach Paris und in das Land. Eine ent; zůͤckende „Kleine Pariſer Suite“ ſchildert den unſterblichen Reiz der ein- zigen Stadt von vielen Seiten her. Man ſieht den zauberiſchen Vorfruͤh⸗ ling, der ſein mildes Licht durch die Baͤume von St. Cloud und Verſailles fpielen läßt, man ſieht die Seine glänzen und die Buͤcherruͤcken in den Kaͤſten der Bouquiniſten leuchten. Die vielen Theater oͤffnen ſich, exotiſche Schauſpielerinnen erſcheinen, aber eine wird als die hoͤchſte geprieſen: udmilla Pitoeff, die, ſeit die Duſe vergangen iſt, für die größte, ſicherlich die ergreifendſte der welt erklärt werden darf. Die Revuen, die Varietés, die Tänze koͤnnen nicht in einem Bilde von Paris fehlen und kraft dieſes Sinns für den Wert auch der leichten Künfte, der den Aufſatz über die Geſchichte der Operette ſo leſenswert macht, war der Verfaſſer, wie wenige, befaͤhigt, ſich an die Darſtellung der grazioͤſeſten unter den Städten zu wagen. Ein Bild des Paris der Nachkriegszeit iſt hier fuͤr immer feſt⸗ gehalten. Nicht minder ſchoͤn aber find auch die Landſchaften, das noͤrd⸗ liche Frankreich der Borinage, der wundervolle „Blick in die Normandie“ mit der Beſchreibung Rouens und des Meeres: „Vor dem Savre, vor Sonflene und den Bädern drüben, Trouville und Deauville, liegt es riefen- groß, unvergleichlich, ewig. Im gewaltigen Rhythmus von Ebbe und Flut wirft es ſeine Wogen wie vor tauſend Jahren rauſchend an dieſe Kuͤſten. Segel ziehen über fein Grau, fein Blau, fein Gruͤn, Dampfer gleiten in der Ferne fo lange gleichſam über feine Kante, bis fie ſich fchließ- lich aufloͤſen in ein Nichts, in einen Streifen Rauchs, in ein verſchwinden⸗; des dunkles Puͤnktchen. Zoch in der Luft kreiſen die ſilbernen Moͤwen. wenn die Sonne verſinkt, fo verwandelt fie das Gewaͤſſer in eine faſzi⸗ nierende Palette, in ein ſchimmerndes Email, in tauſendfach ſchillernde und irifierende Seide. Über den Sand aber werfen die Wellen unaufhoͤr⸗ lich ihre weißen Kaͤmme, die fi wie Buchel ungeheurer Straußfedern uͤberſtuͤrzen.

„Frankreich und wir“ ift die hochherzige Rede genannt, die noch einmal Cat XVIII 24

351 Felix Braun, Srankreich und Deutſchland

alle Liebe zu Frankreich in einer leidenſchaftlichen Beſchwoͤrung zur Ver⸗ ſoͤhnung aufbietet. Sache des Öfterreichers muͤſſe es fein, auch hier die pflicht des Mittleramtes zu verſehen um Europas, um der Menſchheit willen. „Richtig zu reifen darauf kommt es an.“ Sehr zutreffende Worte werden uͤber die Notwendigkeit tieferer Einfuͤhlung in das Fremdnationale im fremden Land geſagt und obſchon es durchaus zu den lobenswerten Eigenſchaften des Deutſchen zaͤhlt, dem Fremden treu nachzuforſchen: eine noch intenſivere Vertiefung muß gefordert werden, wenn das boͤſe Prinzip der Grenzen, nicht nur der ſtaatlichen und nationalen, endlich gebrochen werden ſoll. Die „Vereinigten Staaten von Europa“ ſcheinen dem Ver⸗ faſſer dieſer Zeilen nicht wuͤnſchenswert: es iſt genug amerikaniſiert wor den, es wird ja auch hinreichend aflstifiert, Europa aber ſoll Europa, das heißt: eine Buntheit von Staaten und Voͤlkerperſoͤnlichkeiten bleiben. Aber jene oͤſterreichiſche Aufgabe, an der unſere Generation geſcheitert iſt die Nationen unter einer gemeinſam verbindenden Idee zu Brüdern zu machen —, ſcheint wohl lösbar, ihr nachzuſtreben, wuͤrdigſtes Ziel. Und da muß der Anfang in der Laͤuterung der Gefuͤhle zwiſchen Deutſch land und Frankreich gemacht werden. Die glaͤubigen Worte des jungen Dichters, möchten fie den kuͤnftigen Generationen, deren Tat dieſe hohe fein muß, vorleuchten !

V

ier ſei auch die Gelegenheit benutzt, um auf einige neue Uberſetzungen franzoͤſiſcher Literatur zu verweiſen. Victor Sugo ſcheint jetzt für Deutſchland entdeckt zu werden. Der Verlag Erich Reiß gibt feine gefammel- ten Werke in der Übertragung von Carl Johann Perl heraus; in dem aus⸗ gezeichneten „Epikon! des Verlages Paul Liſt iſt fein „1793“ in der edlen Nachgeſtaltung von Alfred Wolfenſtein erſchienen. Ganz vorzuͤglich find Ernſt Sanders Verdeutſchungen von Murgers „Boheme“, Flauberts „Ein ſchlichtes erz“ und Voltaires „Candide“ (in der Reclam' ſchen Univerſalbibliothek); Erzaͤhlungen von Voltaire danken wir auch dem Fleiß und der Singabe Alf Freiherrn v. Tzibulkas, deſſen Band „Die Prin⸗ zeſſin von Babylon“ im Drei Eulen ⸗Verlag in Muͤnchen herauskam. Rollands Dramen, zuletzt der „Triumph der Vernunft“ find, von Erwin Rieger trefflich übertragen, im Zuͤricher Notapfel⸗Verlag, die Jugend- erinnerungen von Erneſt Renan mit einer prachtvollen Einleitung Stefan Zweigs in der Frankfurter Verlagsanſtalt erſchienen. Als eine franzoͤſiſche Gegengabe ſei Georges Duhamels „Anthologie de la Poesie Lyrique Francaise de la fin du XV® siècle & la fin du XIX“ siècle“ (Inſel⸗

verlag) beſonders erwaͤhnt. „Nicht die Gewalt der Arme noch die Tuͤchtigkeit der Waffen, ſondern die Kraft des Gemuͤts iſt es, welche Siege erkaͤmpft“, ſagt Fichte in feiner herrlichen achten Rede an die deutſche Nation, in der auch das bemerkens⸗

Sans Sartmann, Reiſeeindruͤcke aus Frankreich 355

werte Wort ſteht, daß der Menſch nicht einmal ſich ſelbſt zu lieben ver- möge, „es ſei denn, daß er ſich als Ewiges erfaſſe “. Betrachten wir Men⸗ ſchen und Voͤlker auch in ſolchem Bezug auf das Ewige, ſo wird der Wille, der Feindſchaft zu ſetzen und auszudauern entſchloſſen iſt, von ſelbſt ſchmelzen. Paziſismus, der vermeint, es ſei der kriegeriſche Inſtinkt der Menfchen zerſtoͤrbar oder Überhaupt aus der Natur zu merzen, irrt. Erſt dort, wo auf Zeitliches ein ewiger Blick faͤllt, wird es verwandelt, wie ſich das Menſchliche dem Goͤttlichen ohne Gegenwehr, vielmehr mit Liebe, hingibt. Rein Programm der Menſchen wird wahre Verſoͤhnung ſtiften: allein wo der Eigenwille verzichtet, von ſelbſt zu loͤſen, was einzig Gottes iſt, die Seele aber bereit iſt, mitzudienen, kann ſich erfüllen, was ſeit je die beſten Serzen erſehnt haben.

Hans Hartmann

Reifeeindrüde aus Frankreich

s fahren ſchon wieder viele Deutſche nach Frankreich. In Paris, in

Nizza hoͤrt man deutſch ſprechen und in den induſtriellen Norden

find ganze Kolonien von deutfchen Arbeitern wiedergekehrt. Aber Land und Volk lernt man fo nicht kennen, und es hat daher einen eigenen Reiz, abſeits der großen Seerſtraße des Fremdenverkehrs zu reiſen und in die eigentuͤmliche franzoͤſiſche Landſchaft und die Seele des Volkes einzu- dringen.

Durch das liebliche und immer romantiſchere Nahetal geht es ins in⸗ duſtriereiche Saargebiet. Man hoͤrt in der Bahn nur deutſch und iſt erfreut über die ruhige Sicherheit, mit der die Saarlaͤnder dem allmaͤhlichen Ab- bau aller franzoͤſiſchen Unannehmlichkeiten, um nicht zu ſagen Schikanen, bis zum endgültigen Befreiungstage in zehn Jahren hoffentlich fruher entgegenſehen. Auch in Frankreich hofft dein Menſch, daß ſich das Saar⸗ gebiet politiſch werde von Deutſchland trennen laſſen. Was die Wirtſchafts großen alles unternehmen, um das auf ihrem Gebiet zweifellos sorban- dene Saarproblem zu loͤſen, ſteht auf einem anderen Blatte.

Man iſt geſpannt auf die Einreiſe in Lothringen, aber ſiehe da, der Zug haͤlt erſt einmal 11 / Stunde in Saarbrůcken, um den Unterſchied zwiſchen der mittel und weſteuropaͤiſchen Zeit hereinzuholen ! Die Eiſenbahnver⸗ waltungen konnten ſich naͤmlich nur bei den Cuxuszuͤgen über den Fort fall der Wartezeit verſtaͤndigen ! Nun, man freut ſich ſchon, auf der Ruͤck⸗ reife den langen Aufenthalt nicht zu haben. Aber . . nach drei Wochen, in Zauterburg, iſt der gleiche Aufenthalt! Mittlerweile war naͤmlich in Frankreich die Sommerzeit eingeführt worden. Und wiederum hatten ſich nur die Zuxuszuͤge bewogen gefuͤhlt, „mit der Zeit“ zu geben.

24°

356 Sans Hartmann

Endlich gluͤckt es und man ift in Metz. In huͤbſchen Gaſſen findet man verſchwiegene Winkel und vertraͤumte Kirchen, wie 3. B. St. Martin. Aber dann gibt es das induſtrielle Metz, Tauſende von Arbeitern ſieht man und ſpuͤrt den Sauch des Ubergangsgebietes zwiſchen deutſchem und franzoͤſiſchem Land. Auf den Straßen hoͤrt man viel, vielleicht uͤber⸗ wiegend deutſch. Schließlich gibt es noch das „wiedereroberte Metz: mit auffallenden Denkmaͤlern und Tafeln. Ein glänzendes, kuͤnſtleriſch wert⸗ volles Denkmal iſt Deroulè de gewidmet, der 1871 vor allem proteſtierte, davor ein Poilu, eine Trompete blaſend. Nicht weit davon ein Monu⸗ ment: ein Adler, der tot daliegt, gewidmet den „Raͤmpfern für Recht und Freiheit. 27. Io. 70 und 19. II. IS“.

Daneben ſteht das lebendige Denkmal der Metzer Geſchichte, die porte Serpenoiſe, das alte Saupttor der Seftung, und man lieft darauf: 1473 er⸗ folgte ein Überfall auf Metz, das durch den Bäder Sarelle gerettet wurde. 1552 wird der Sauptangriff Karls V. durch den Serzog von Guiſe ab- gefchlagen. 1561: das Tor zerftört. 1851: wieder aufgebaut. Unter deut; ſcher Serrſchaft 1892— 1902 verändert. Dann ſteht zu leſen: Am 29. Ok⸗ tober 1870 iſt Metz durch Verrat Bazaines an die Deutſchen ausgeliefert worden. Einzug der deutſchen Fuͤhrer 3. Oktober. Am 19. November J918 „befreien die franzoͤſiſchen Truppen Metz vom deutſchen Joch und are nach 48 Jahren eee een durch dieſes Tor wieder 3 ck“. -

So ſteht man bier an An hiſtoriſchen Stätte erſten Ranges und fo ſpiegelt ſich da die deutſch⸗franzoͤſiſche, ewig wechſelvolle Geſchichte wieder, von der jeder Elſaß⸗ Lothringer hofft, daß fie in einen Frieden muͤnde, der ihr Land für immer von dem Kluche befreit, ſtets nur der Zankapfel zwiſchen zwei Großmaͤchten zu ſein.

Da wohl faſt jeder Deutſche uͤber die geographiſche Einteilung ganz im Unklaren iſt, ſei hier angemerkt, daß I870 Lothringen aus zwei Departe⸗ ments, Meurthe und Moſelle beſtand. Jedes derſelben verlor etwa die Hälfte an Deutſchland („Deutfch- Lothringen”) und die beiden Reſte, alſo Franzoͤſiſch⸗Cothringen, wurden zu dem einen Departement Meurthe · et · Moſelle zuſammengezogen. Dieſes beſteht jetzt noch, da bei der Wieder⸗ eroberung die urſpruͤngliche Abgrenzung nicht wieder hergeſtellt wurde, ſondern Deutſch⸗ Lothringen als beſonderes Departement Moſelle er⸗ ſcheint. So beſteht alſo Elſaß ⸗Cothringen jetzt aus drei franzoͤſiſchen De⸗ partements: Saut Rhin (Oberelſaß, auch noch nicht wieder vereinigt mit feinem ftets franzoͤſiſch verbliebenen Reſt Belfort, das wie Nizza nicht ein Departement, ſondern nur eine Art freie Stadt bildet), Bas ⸗Rhin (Unter⸗ elſaß), Moſelle (Deutfch- Lothringen). Diefe drei Departements haben eine Anzahl Sonderrechte aus der deutſchen Zeit behalten: Staatsbahn, So⸗ zialverſicherung, deutſcher Unterricht als Pflichtfach in den Volksſchulen u. a.

Aber noch eines fiel mir in Metz auf: ein Zeichen der wirtſchaftlichen

Reiſeeindruͤcke aus Frankreich 357

Not Frankreichs. Im Warteſaal hing ein Plakat mit den Worten: „Der geudet nicht das Brot. Die Getreideeinfuhr bringt das Gold ins Ausland. Sparſamkeit mit Brot wird den Kredit Frankreichs erhoͤhen “. Wie ein Damoklesſchwert haͤngt ja die Valuta Über Frankreich, und gelingt es nicht, dieſe Frage zu loͤſen der einzige Weg: Abruͤſtung! fo wird Frankreich unermeßlichen wirtſchaftlichen Schwierigkeiten entgegengehen. Jetzt gibt es keine Arbeitsloſen und alle Schornſteine rauchen, aber die Stabiliſierung muß kommen, die franzoͤſiſche Pſyche wird die Unſicherheit nicht aushalten, und dann ſind die Folgeerſcheinungen, Exportkriſe, Ver⸗ minderungen des verhaͤltnismaͤßig hohen Zebenoniveaus und Unzu⸗ friedenbeit, unausbleiblich.

Die aͤußeren Reſte der deutſchen ziviliſation, der unglaublich große Bahnhof, eines der Prunkſtuͤcke aus der wilhelminiſchen Zeit oder die blauen preußiſchen Brief kaͤſten, ſollen uns nicht ſentimental ſtimmen. Die innere deutſche Kultur wird den Elſaß⸗Cothringern nicht verloren gehen, und ehe die darauf zielenden Beſtrebungen gewiſſer franzoͤſiſcher Kreiſe Erfolg haben, wird fie ſich hoffentlich zu einem feſten Gebilde ent- wickelt haben, das allen politiſchen Stuͤrmen trotzt.

Sr: am Abend fuhr ich die Strecke nach Verdun, in ſchnurgerader Linie über Conflans⸗Jarny. Wie zwei drohende Ungeheuer ſtanden ſich im Kriege die beiden Seftungen Metz und Verdun gegenüber, keines konnte das andere bezwingen. Der Zug ſteigt und fällt und man befindet ſich in dem hůgeligen Gelaͤnde, das Verdun ſchuͤtzt fo ſehr ſchuͤtzt, daß es den Deutſchen waͤhrend der furchtbaren Verdunſchlacht 1916 ſelbſt am vorgeſchobenſten Punkte nie glüdte, nach Verdun hineinzuſehen. Im Dunkel der Nacht ſehe ich noch die Schuttplaͤtze der zerſchoſſenen Saͤuſer. War doch die Saͤlfte der Saͤuſer total zerfiört, die andere Saͤlfte beſchaͤdigt, einige wenige blieben durch Zufall ganz. Jetzt iſt das Meiſte wieder auf. gebaut, in hellen und weißen Tönen, aber leider ohne jede Griginalitaͤt des Stiles. Und wie haͤtten gerade dieſe zerſchoſſenen Staͤdte (von denen ich weiterhin Reims, Douai, Senin-Lietard, Lens, Amiens ſah) Gelegenheit geboten, etwas wirklich Neues zu ſchaffen! Gerade in der Architektur haftet der franzöfifche Geiſt zu ſehr am Prunk der alten klaſſiſchen Zeit, und es iſt ihm hier noch keine neue Idee, kein neuer Schwung gegluͤckt.

Wie klein mutet neben den Rieſenausmaßen der Verdunſchlacht, die allein eine Million Tote koſtete (/; Deutfche, / Franzoſen), die Erinne⸗ rung an 1870 ſtatt, wo der Stadt Verdun 6 Ehrenkanonen geſchenkt wurden. Das am Bahnhof aufgeſtellte Kriegerdenkmal, deſſen Erz⸗ figuren teilweiſe durchloͤchert find, verzeichnet, daß damals die Verteidiger Verduns (im Gegenſatz zu denen von Metz) von Gambetta ein beſonderes Zob wegen ihrer Tapferkeit geſpendet bekamen.

Ich war der einzige Beſucher Derduns, das in der Sochſaiſon von

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Menſchen aller Nationen uͤberlaufen wird. Ehe ich ein Auto bekam (das mich für II Mark zwei Stunden lang durch das Gelaͤnde fuhr !), fab ich die Stadt genauer an. Zwei Inſchriften fielen mir auf: Eine engliſche auf dem neuen großen Waſſerturm und eine hollaͤndiſche auf dem Monument an der Zitadelle, das einen zu Tode getroffenen Krieger, darüber eine Sar · pye mit entſetzlichem Angeſicht, ein Symbol des Krieges, zeigt. Die eng liſche lautet: „Am 13. Dez. 1920 hat das Komitee von Stadt und Graf ſchaft London beſchloſſen, unter Mac Kenne, für Verdun den Turm zu ſtiften. Wir wollen unſere Sympathie ganz Frankreich aus ſprechen und wir, das Serz und Zentrum des britiſchen Reiches, wählen das Ser; und Zentrum des franzoͤſiſchen Kampfes, um England und Frankreich zu- ſammenzuſchließen, ganz England und ganz Frankreich in der engſten und dauerhafteſten Verbindung“. Dieſer Zuſammenſchluß ſteht nur auf dem Papier des Verſailler Vertrages. In den Serzen der beiden Voͤlker iſt er ſchon laͤngſt nicht mehr vorhanden. Durch die Erinnerung an das ge⸗ meinſam vergoſſene Blut kann er noch eine Zeitlang aufrecht erhalten werden. Aber lange haͤlt es nicht vor; dann wird auch dies vergeſſen. Die Diplomaten ſtehen ſich ſchon fo kuůͤhl wie je gegenüber, und die beiden Zän- der haben ſich infolge der weltpolitiſchen Gegenſaͤtze wieder gegenſeitig iſoliert. Ja, man kann fagen, daß ſich insgeheim beide Volker um eine Annaͤherung an die Deutfchen bemuͤhen. Das tritt kaum oͤffentlich her⸗ vor; aber man hoͤrt doch häufig ſowohl von Sranzofen wie von Eng ; laͤndern, daß ihr Volk eigentlich dem deutſchen Volke verwandter ſei, als dem „verbündeten”. Die Engländer berufen ſich dann auf das gemein- ſam Germaniſche, die Franzoſen auf die uralte kontinentale Kulturver⸗ bundenheit, auf gewiſſe philoſophiſche Richtlinien und eine Stellung zum Leben, wie fie ſich bei den Angelſachſen beider Rontinente nicht finden. Jedenfalls hat hier der deutſche Geiſt noch die große Aufgabe vor ſich, die beiden Kulturen in Verwandtſchaft und Verſchiedenheit immer tiefer zu begreifen eine Aufgabe, der natuͤrlich mit Schlagworten irgend- welcher Art abſolut nicht beizukommen iſt, ſondern nur mit Verſenkung. Die zweite Inſchrift lautet: Zum Ruhm des ewigen Frankreich der un- befiegbaren lothringiſchen Stadt Verdun die treuen Freunde aus Solland, welche niemals am Triumph des Rechts und der Gerechtigkeit verzweifelt find. Dezember 1916, Auguſt 1920.

Auch dieſe Inſchrift macht nachdenklich. Das ewige Frankreich? Vielen Ohren find ſolche Worte angenehme Muſik. Aber es iſt ſicher, daß man allein durch das Gewinnen eines Krieges noch nicht Anſpruch auf ewige Bedeutung erlangt. Da entſcheidet nur die innere Qualitaͤt, und es haͤngt alles davon ab, ob in Frankreich der gute, aufopfernde, ritterliche Geiſt zum Siege gelangt oder ein boͤſer, Heinlicher und gehaͤſſiger. Jedes Volk hat Veranlaſſung, an dieſem inneren Kampfe, der über feinen Wert und Beſtand letztlich entſcheidet, mit aller Kraft zu arbeiten.

Reiſeeindruͤcke aus Frankreich 359

Der Fuhrer des Autos erklärte mir die Schlachtfelder bei Verdun aufs genaueſte. Die weitanſteigenden Berge, fruͤher bewaldet, jetzt kahl und mit nachwachſendem Geſtruͤpp bedeckt, find Gefahrzone; fie find noch voll von Blindgaͤngern. Das Gelaͤnde war im Kriege in 54 Sektoren eingeteilt. Die bekannten Forts Vaux und Douaumont beſichtigt man unter Fuͤhrung eines Soldaten. Man ſieht die maſſiven Gewoͤlbe, man ſieht die Maſchi⸗ nengewehrfallen, die, ſobald ſich eine Tuͤr oͤffnete, von ſelbſt in Taͤtigkeit traten, man ſieht die Zimmer der Kommandanten, primitiv bis zum Außerſten; man bört, daß der Rampf um Vaurx 7 Tage und Naͤchte dauerte, kompagnienweiſe in kraſſem Gegenſatz zu den Millionen verluſten auf den durch Sperrfeuer belegten Anmarſchfeldern; man hoͤrt, daß die Deutſchen uͤber das Dorf Fleury mit Joo Saͤuſern, das jetzt durch eine Tafel „hier ſtand das Dorf Fleury“ angezeigt wird, vordrangen und beinahe den entſcheidenden Sang eroberten, als General Mangin zum Gegenangriff vorging, der Verdun rettete des zum Zeichen ein ſchoͤnes Monument von Rene Paris, einen faſt toten Löwen darſtellend, der ſich doch wieder zum Sprunge erheben wird. Man hoͤrt, daß die von den Deutſchen unter unſaͤglichen Verluſten in 7 Monaten eroberten Sek⸗ toren einſchließlich der beiden Sorts in drei Tagen von den Franzoſen unter Anwendung kuͤnſtlichen Nebels wiedergenommen wurden. Man bört, daß die Franzoſen glauben, der Kronprinz habe befohlen, Verdun muͤſſe bis I. Juli 1916 erobert fein, und man hat nicht die Moͤglichkeit das nachzupräfen. Schließlich ſieht man die Bajonette, die aus der Erde herausſtarren, und die zu den 170 Soldaten gehoͤren, die während des Kampfes plotzlich verſchuͤttet wurden. 47 von ihnen hat man nachher wiedererkannt. Ein reicher Amerikaner hat eine Totenhalle daruͤber er⸗ richten laſſen. Man ſieht im Bau das große ossnaire, wo die Sranzofen nach ihrer Sitte die Knochen der Gefallenen in Saͤrgen ſammeln. Aber fie konnten von 400 ooo Soldaten nur etwa Joo ooo zuſammenbekommen, die andern waren voͤllig mit dem Erdboden vermiſcht. Man erfaͤhrt, daß alle Eiſenbahnlinien zerſtoͤrt waren und daß die Franzoſen 8 Monate lang von Bar: le⸗Duc mit Caſtautos ununterbrochen auf der voie sacrde, der „eiligen Spur“ fuhren.

Jetzt liegt das alles in ſchweigender Vergangenheit.

urch die Argonnen geht es nach Reims, der großen zerſchoſſenen

Stadt, mit der herrlich in die Lüfte ſteigenden Kathedrale, die fo un⸗ endlich gelitten hat. Lange vertieft man ſich in ihren Anblick und ent⸗ flieht dann traurig dem kleinen Seitenſchiff, das dem Publikum zugaͤng · lich iſt und das gegen die in Schutt liegende Sauptkirche mit einer Bretter wand abgedeckt iſt. Draußen kann man ſich vom Anblick dieſer wichtigſten Kathedrale Frankreichs, vor der die feine Statue der heiligen Johanna ſteht, gar nicht trennen. 8 Saͤuſer waren in Reims ganz geblieben bei der

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Beſchießung, I000 Zivilperſonen wurden getötet und verwundet. Das Theater iſt grauenhaft zerſchoſſen, man ſieht in die Ruinen des Foyers hinein, aber man kann noch die Engelskoͤpfe mit den für den franzoͤſiſchen Geſchmack charakteriſtiſchen Namen feben: Auber, Corneille, moliere Racine, Mozart.

Über Laon geht es ins Rohlengebiet, dann uber Zens mit feinem ſchauerlichen Barackenbahnhof, Arras, Amiens mit der „ſchoͤnſten Kathe drale Frankreichs“, bei der wirklich jede Einzelheit ſehenswert iſt, nach paris. Aber von den unendlichen Schoͤnheiten von Paris ſei hier nicht die Rede, da die Erfahrungen im Suͤden Srankreichs nicht zu kurz kommen ſollen.

Durch wieſenreiche Flußtaͤler fährt der Zug nach Dijon, nach Lyon und dann das Rhonetal entlang nach Marſeille. In Vielem erinnert die Fahrt an das Rheintal von Mainz bis Baſel, teils iſt es weite Ebene, teils treten die Soͤhen der Cevennen und Voralpen näher heran, zahlreiche Burgen ſchmuͤcken die Berge, die nach dem Sorizonte zu hoch anſteigen und in wolken verſchwinden. Nur ein Unterſchied iſt da: Es gibt keine waͤlder mehr, ſondern nur eine weiße felſige Landſchaft, gelegentlich mit nied⸗ rigen Wuchs beſtanden. Die ſuͤdliche Sonne zaubert nie geſehene Bilder vor das Auge; Pinien und Jypreſſen heben ſich mit ihrem dunklen Grun inmitten der weißen Felſen oder Gartenmauern von dem tiefblauen Simmel ab, man uͤberſchreitet die Olbaumgrenze, die etwas noͤrdlich von Avignon und Grange Gber die Stadt Nyons geht, es wird dunkel, und aufs Freudigſte ůberraſcht wacht man am naͤchſten Tage unter den Palmen der Mittelmeerkuͤſte auf.

Ob man vom Tourmagne bei Nimes, einem ungeheuren alten Turm, in die palaͤſtinenſiſche Landſchaft der Olivengaͤrten ſieht oder von Notre Dame de la Garde auf das wunderſchoͤn gelegene Marſeille, die „Königin der Städte”, ob man von dem Campanile (freiftebender Airchtum) bei Cannes auf dies Seebad der Weltariſtokratie oder vom Donjon auf Nizza la bella, die genießeriſchſte Stadt der Welt und auf das unbeſchreibliche Meeresblau ſieht, das dem FKuͤſteuſtrich den Namen Cöôte d Azur ein- brachte, immer ſtaunt Auge und Serz von neuem. Das merkwuͤrdige Meer⸗ kaſtell bei Antibes mutet wie aus uralten Zeiten an, dann kommt eine Stelle, wo man die Sochalpen fiebt, welche in Nizza und Cannes durch das Küftengebirge verdeckt find, dann wieder ſtreckt ſich das Vorgebirge bei Monte Carlo weit und dunkel ins Meer hinein. OGrientaliſch ſteigt das Dorf Cagnes mit feinen weißen Saͤuſern bis zur alles uͤberragenden Kirche an, an der Vegetation, 3.3. an den glockenblumenartigen, uͤber die Saͤuſer rankenden Pflanzen, kann man ſich nicht ſatt ſehen, man weiß nicht: iſt man in Afrika oder in Aſien oder noch in Europa?

Eine Kultur beſonderer Art hat die Riviera nicht; ſie iſt international, und dies mehr im ſchlechten Sinn des Wortes. Aber es gibt eine boden ·

Reiſeeindruͤcke aus Frankreich 361

ſtaͤndige ſůͤdfranzoͤſiſche Kultur, die zwei Pole hat: die alten proteſtan⸗ tiſchen Zentren Nimes und Montpellier und die auf dem Römertum der Städte Arles und Nimes erwachſene provencaliſche Sprache und Runft Dichter Miſtral), die in dem einzigartigen Schloß der Paͤpſte in Avignon Aus- druck gewinnt und in Marſeille zu ſelbſtaͤndiger geiſtiger Bedeutung gelangt.

Wenn die kleinen Eidechſen in den Ruinen des roͤmiſchen Theaters von Arles ſpielen und der ſůdliche Simmel ſich uͤber der ſtillen Stadt woͤlbt, fo traͤumt man von vergangenen Dingen. Jedes Saus in Arles iſt mit einem ſchoͤnen alten Ornament geſchmuͤckt und hat dadurch hiſtoriſchen Wert. Der Kaiſer Konftantin machte 330 Konſtantinopel zu feiner neuen Saupt⸗ ſtadt, aber er hatte geſchwankt, ob es nicht Arles werden ſollte, das kleine Städtchen in der Provence. Dann wäre die weltgeſchichte anders ver · laufen, Voͤlkerwanderung, Aultur des Abendlandes, Kirche, alles haͤtte ein anderes Geſicht bekommen. Im Geiſt ſieht man die Kämpfe der wilden Tiere untereinander und mit Gladiatoren und kann nachdenken uͤber das unruͤhmliche Ende einer großen Weltkultur, wie es die roͤmiſche war In Nimes, deſſen Bevoͤlkerung ſich ſtolz als Salbroͤmer bezeichnet, iſt dann alles noch viel großartiger, die ungeheure Arena faſt ganz erhalten, und ſeine beiden Tempel, der zerſtoͤrte der Diana und das voͤllig erhaltene maiſon Carre, zeugen von dem religiöfen Sinn der alten Römer, den der franzoͤſiſche Forſcher Lejay ſchildert: „Alles in den Stuͤcken des roͤmi⸗ ſchen Dichters Plautus laͤßt uns die Römer als religioͤs erſcheinen, tief überzeugt von der Rolle der Bötter in ihrem Leben und der Notwendig; keit, fie ſich zu verföhnen.”

Es iſt eine beſondere Kunſt da in der Provence, aber auch eine beſondere leichtere Art zu leben. Die Stierkaͤmpfe ſammeln das Volk in der Arena zu Nimes, im Ganzen kümmert man ſich nicht viel um das, was in der welt vorgeht, und doch findet man eine Anzahl Menſchen, die mit ganzem Ernſt den Problemen des Friedens und des Voͤlkerbundes, der neuen Menſchlichkeit und des Reiches Gottes nachgehen. Es gibt eine große franzoͤſiſche Organiſation „Friede durch Recht“, deren Leitung in Nimes ſich befindet. Überhaupt iſt es nicht wahr, daß Paris Frankreich fei, der Suden darf nicht nur ſprachlich und landſchaftlich, ſondern auch geiſtig und kulturell ſelbſtaͤndige Bedeutung beanſpruchen.

Daß auch einzelne Suͤdfranzoſen ſich durchaus Gedanken Aber die ſchwebenden Fragen machen, zeigte mir das Geſpraͤch mit einem jungen Arzt der Rolonialarmee im Zuge von Toulon nach Nizza. Er gehoͤrt einer paziſtſtiſchen Arzte · Organiſation an und bält die Arbeit am Voͤlkerbund für abſolut notwendig für den Frieden, aber er glaubt zu feinem Leid; weſen, daß nach dem phyſikaliſchen Geſetz des Kraͤfteausgleichs ein Zu⸗ ſammenſtoß des großen Deutſchland mit dem menſchenarmen Erankreich unvermeidlich fein wird. Eine etwas troſtloſe Philoſophie ! Und doch tut man gut, die Dinge ganz realiſtiſch anzuſehen, freilich um dann mit deſto

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größerer Kraft an der Schaffung eines wirklichen und aufrichtigen Voͤlkerbundes zu arbeiten. Ferner meinte der junge Arzt, Frankreich konnte ſich ſelbſt ernaͤhren, nur die 2 Millionen Auslaͤnder machten das unmoͤglich und das Auslaͤnderproblem ſei für die Zukunft eines der ſchwerſten.

Es gibt ein provenzaliſches geflügeltes Wort: Die drei Geißeln der Pro- vence find der Miſtral, jener trockene, ausdoͤrrende, zerſtoͤrende Sturm; wind des Rhonetals, die Durance, die von den Alpen kommend furcht⸗ bare Verheerungen anrichtet, und das Parlament zu Aix, der ehemaligen Sauptſtadt der Provence. Dies Parlament iſt aber nicht, wie mancher in voreiliger Freude meinen koͤnnte, ein Abgeordnetenhaus, ſondern der fruͤhere oberſte Gerichtshof, der oft furchtbar gegen die Bevoͤlkerung wuͤtete. So hat er im 16. Jahrhundert zwei Waldenferftädte vernichten laſſen. Die Waldenſer ſind die „Proteſtanten des Mittelalters“, die unter Fuͤhrung des Lyoner Kaufmanns Petrus waldus die Bibel laſen und verbreiteten, oft verfolgt wurden und dann in den Sochtaͤlern Savoyens ihr religioͤſes Leben führten, das jetzt den Sauptteil des italieniſchen Pro; teſtantismus bildet. Der innerlich ſtarke und hervorragende ſuͤdfranzoͤ⸗ ſiſche Proteſtantismus, der in Aigues⸗Mortes feinen Wallfahrtsort hat, iſt nicht fo ſehr auf Calvin als auf die Waldenſer zuruͤckzufuͤhren. Jener Wallfahrtsort iſt der „Turm der Standhaftigkeit“, in dem ich einen tiefen Eindruck von dem Mut der Sugenotten empfing, die ſich dort unter Zud⸗ wig XIV. und XV. bis zu 34 Jahren gefangen halten ließen, um ihrer Überzeugung willen.

n verſchiedenen provenzaliſchen Dörfern hatte ich noch in Derfamm-

lungen der evangeliſchen Gemeinden geſprochen, in Vezenobres, das ganz wie Nazareth in reiner Weiße leuchtend und weithin ſichtbar am Berge liegt, in dem lieblichen St. Fortunat in einem Seitental der Rhone, wo kurz zuvor eine Deutſche über Voͤlkerbund und Frieden geſprochen hatte, in Chatillon · en · Diois in den Voralpen. Nun verließ ich den Süden und kam über Grenoble, die „Aoͤnigin der Alpen“, nach Aix⸗ les ⸗Bains, dem großen engliſchen Modebad mit ſeinen Denkmaͤlern hervorragender Englaͤnder und ſeinem praͤchtigen langgeſtreckten Alpenſee, dem „Lac du Bourget“, wo die früheren Jollſchiffe der Könige von Savoyen (bis das and 1859 an Frankreich kam) jetzt noch fahren. Dann ging es weiter durch eine ſchoͤne Juragegend von Culoz nach Amberieu auf der „Voͤlker bundsſtrecke Genf Paris, und über Befancon an dem herrlichen traͤumeriſchen Doubs ⸗Fluſſe entlang über Belfort nach Muͤlhauſen. Dieſer Fluß leuchtete noch, als die Nacht bereits hereingebrochen war, in feinem Gruͤn, und unbeſchreiblich iſt die Ruhe, die uͤber dieſer weltabgeſchiedenen, induſtriellen Außlandſchaft liegt. Von Zeit zu Zeit läuft der Rhein · Rhone; Kanal neben dem Doubs, ebenfalls ſtill und grün, um ſich dann wieder für eine kurze Strecke mit dem Fluß zu vereinigen.

Reiſeeindruͤcke aus Frankreich 363

Muͤlhauſen, die fleißige Tertilftadt, brachte mich mit italieniſchen und franzoͤſiſchen faſchiſtiſchen Kreiſen zuſammen. Es kommen naͤmlich viele junge, italieniſche Textil · Induſtrielle auf die Textilſchule, die als eine der beſten Europas gilt. Die intereſſante Bekanntſchaft mit dieſen Kreiſen zeigte mir, daß es tatſaͤchlich eine große Anzahl idealer Faſchiſten gibt, die Muſſolini fůr einen wirklichen Erneuerer auch auf ſozialem Gebiete halten. Sie ſind ihm leidenſchaftlich ergeben und bekaͤmpfen in jeder weiſe den Parlamentarismus.

Voruͤber am Sartmannsweilerkopf mit feinen 60000 Toten, den ich im vorigen Jahre beftiegen hatte, ging die Fahrt nach Nolmar, wo ich im Kreiſe des Verſoͤhnungsbundes uͤber die deutſche Jugendbewegung ſprach. Bolmar iſt die Sauptſtadt von Saut ⸗Rhin (Oberelſaß) und hat ſehr viel intereſſante Gebaͤude, auch aus dem Mittelalter, beſonders den Gerichtshof, der unter Ludwig XIV. ſtets den Elſaͤſſern ſehr freundlich Recht ſprach, um fie für Frankreich zu gewinnen, und der dann deutſches Gberlandesgericht wurde. Trotzdem iſt es nicht gelungen und wird nicht gelingen, die Elſaͤſſer in der homogenen Maſſe der Franzoſen aufgehen zu laſſen, ſondern ſie werden ſich ihr kulturelles Eigendaſein auf Grund ihres Deutſchtums bewahren. Freilich wollen fie es ſelbſt mit ihren Mitteln verteidigen und nie etwa mit Silfe einer deutſchen Armee.

In Straßburg ſprach ich dann mit Nuͤckſicht auf die Franzoſen aus dem „Inneren“ franzoͤſiſch im Kreiſe der ſtark wachſenden Bewegung der Chevaliers de la Paix (Kreuzritter), die von dem fruheren aktiven fran- zoͤſiſchen Sauptmann Etienne Bach geleitet werden. Es war dort, be ſonders infolge der warmherzigen Teilnahme von Profeſſoren, Studen; ten und des Konſiſtorialpraͤſidenten, eine fo ſtarke Sehnſucht nach Srie- den, zumal für das „Bruckenland“ Elſaß, ein fo ſtarker Wille auf Er⸗ neuerung der Welt im Geiſte Chriſti, daß ich dieſen Abend als Krönung der franzoͤſiſchen Reife empfand.

Über die ziemlich oͤden Zandſtriche von Zauterburg, woͤrth, Speyer ging es dann heim. Ich hatte nicht nur ſelbſt unendliche Bereicherung er- fahren und viel neue Beziehungen gewonnen, ſondern ich glaube auch der Sache des Friedens gedient zu haben, die auf Nongreſſen, im Voͤlkerbund, in internationalen, wirtſchaftlichen, wiſſenſchaftlichen und anderen Ver⸗ einigungen nur dann voranſchreiten kann, wenn ihr das Wichtigſte voran; gegangen iſt: Perſoͤnliches Ins Auge · Schauen von Menſch zu Menſch und von Volk zu Volk und Anbahnung eines Vertrauensverhaͤltniſſes, das langſam wachſen und wirken muß und ſo die Atmoſphaͤre von Saß, Verleumdung, Mißtrauen und Nationalduͤnkel allmaͤhlich entgiftet.

36% Meyrick Booth

Meyrid Booth / Das England von heute Kine kultur⸗pſychologiſche Betrachtung

an kann ruhig behaupten, daß der Schwerpunkt des engliſchen

Lebens im Begriff der Perſoͤnlichkeit liegt. Lebensideale, die eine

Beſchraͤnkung oder Aufgeben dieſes bedingen (wie der Begriff des Staates u. a.) haben in England niemals durchdringen koͤnnen.

Im Grunde genommen beſteht das Ziel der Kulturentwicklung in Eng; land (aber nicht in Amerika) darin, moͤglichſt viele unabhängige, Har aus gepraͤgte und moraliſch hochſtehende Einzelperſoͤnlichkeiten auszubilden. (In Amerika tritt die Perſoͤnlichkeitskultur hinter den Gedanken des „good American alfo eine Art Staatskultur weit zuruͤck.)

Die Kultur als ein intellektueller Romplex, als ein Gedanken ſyſtem (etwa nach der Art Segels) oder als ein Staatsgebaͤude iſt für das engliſche Wefen ein beinahe unfaßbarer Begriff.

In den beſten engliſchen Schulen (wie 3.3. den beruͤhmten Internaten Eton, Sarrow oder Winchefter) wird das Schwergewicht der paͤdagogiſchen Arbeit auf die Charakterbildung gelegt. Daß der Schüler ein ſolides Wiſſen erwirbt, kommt in dieſen Schulen erſt in zweiter Linie in Betracht. Un- bedingt notwendig iſt vor allem, daß er „gentleman“ fein muß und ge- wiſſe Charaktereigenſchaften wie Ehrlichkeit, ein ſicheres ſoziales Auf treten, Ritterlichkeit in ſich ausbildet. In keinem Land iſt die intellek⸗ tuelle Kultur uberhaupt fo gering geſchaͤtzt wie in England. Es liegt in dem engliſchen Erzieh ungsideal etwas Spartaniſches, mit feiner Soch⸗ ſchaͤtzung des Rörperlihen. Die Beherrſchung des Körpers durch den Geiſt iſt eigentlich das Weſen der engliſchen Bildung.

Einfluß des franzoͤſiſchen Rittertums in England

iſtoriſch betrachtet erkennen wir hier den Einfluß verſchiedener Aul-

turkreiſe. Zu den grundlegenden germaniſchen Tendenzen geſellt ſich eine ſtarke normaͤnniſch⸗franzoͤſiſche Stroͤmung. Vergeſſen wir nicht, daß durch mehrere Jahrhunderte (ca. Iooo— 1400 A. D.) England auf das engſte mit Frankreich verbunden war fo eng, daß der König von Eng; land ſich zu gleicher Zeit König von Frankreich nannte; und daß infolge deſſen die Ideale des franzoͤſiſchen Rittertums und des ganzen Seudalfyftems nach England drangen und in den hoͤheren Schichten der Bevoͤlkerung feſte Wurzel faßten was franzöfifch war, galt als vornehm, das Germaniſche als plebejiſch (lieſt man 3. B. Scotts Roman „Ivanhoe“). Dadurch erklaͤrt ſich, meiner Anſicht nach, wenigſtens teilweiſe, die ausgepraͤgte Vorliebe des gebildeten Englaͤnders für die Außerlichkeiten des Lebens (verfeinerte Lebensformen, Stil, ſchoͤne Kleider, vornehme Manieren, luxuriös ein-

Das England von heute 365

gerichtete Saͤuſer uſw. ) alles Dinge, die nirgends auf der Welt fo hoch geſchaͤtzt werden wie in England. Sehr typiſch iſt die Tatſache, daß dieſe Liebe zum Außerlichen (hier wohl im ſtarken Unterſchied von Frankreich) normalerweiſe innerhalb der Grenzen eines gewiſſen Asketizismus, einer ſittlichen und oft direkt puritaniſchen Lebensführung bleibt. Der typiſche Englaͤnder iſt nie „Lebemann“. Das England von heute kann am beften charakteriſtert werden mit dem Schlagwort „das Land des perſoͤnlichen Lebensſtils“. Damit haͤngt eine weitere, ſehr charakteriſtiſche Eigenſchaft des Durchſchnitts ⸗Englaͤnders zuſammen, die ein deutſcher Freund einmal mir gegenüber als „feine unglaubliche Unaufdringlichkeit und ſcheinbare Intereſſeloſigkeit / bezeichnet hat, und die man auch als eine Art asketiſchen Sichfernhaltens von der Welt beſchreiben konnte. Auch dieſe Eigenſchaf.⸗ ten find zum Teil aus den Idealen des Rittertums hervorgeholt (wie 3. T. vom Puritanismus). Eines der wichtigſten Gebote fuͤr den vollkommenen Kavalier war die „Meſure“; das Maßhalten. Er mußte maßhalten in allem und jedem maßhalten in Speiſe und Trank, in Gebaͤrde und Rede, und in den Suldigungen an feine Dame (man leſe 3. B. die hoͤſiſchen Ro⸗ mane von Chriſtien de Troyes.) Es iſt nun eine ſehr merkwuͤrdige Tat · ſache, daß dieſes alte Ideal des Maßhaltens ſich bei den Englaͤndern wie ſonſt nirgendwo eingebürgert hat, bis es jetzt die erſte Vorausſetzung des gebildeten Englaͤnders geworden iſt. Aus dieſen Gruͤnden (wie auch aus dem Puritanismus) verabſcheut der typiſche Englaͤnder alles, was irgendwie uͤberſchwenglich und impulfiv erſcheinen koͤnnte. Das Ideal iſt das der vollkommen ſich ſelbſt beherrſchenden und charakterfeſten Perſoͤn · lichkeit. (Ein Vergleich mit den ſehr ähnlichen Idealen des alten Roͤmers iſt hier von Intereſſe.)

Der Freiheitsbegriff

ill man das Wefen des engliſchen Volkes verſtehen, fo iſt nichts wich:

tiger als eine Erklaͤrung des engliſchen Freiheitsbegriffs, der ſich in hoͤchſt weſentlichen Punkten vom deutſchen unterſcheidet. Unter Freiheit verſteht man in England in erſter Linie nur perſoͤnliche und politifche Freiheit; erſt an zweiter Stelle eine intellektuelle, religiöfe oder ethiſche Freiheit, wie ſie viel mehr in Deutſchland erſtrebt wird.

Der ſehr ſtark entwickelte Perſoͤnlichkeitsſinn des Englaͤnders, fein pro- nonciertes Ichgefuͤhl empoͤren ſich gegen jeden aͤußerlichen Zwang. Als hoͤchſtes Gut erſcheint ihm die Entwicklung der Perſoͤnlichkeit, und zwar nicht nur für ſich ſelbſt, ſondern für jeden einzelnen feiner Mitbuͤrger; da⸗ her haͤlt er es fuͤr ſtaatsgefaͤhrlich, wenn die Freiheit des Einzelnen auch nur angetaſtet wird. Viele Ausländer koͤnnen eine ſolche Denkungsweiſe nur als Egoismus deuten fie vergeſſen aber gänzlich, daß die beſten Eng · länder dieſe Freiheit nicht nur fir ſich beanſpruchen, ſondern ganz befon- ders für die Schwaͤcheren —, fo find die Bewegungen für die Sklaven⸗

366 meyrick Booth

befreiung und fuͤr den Schutz der Eingeborenen faſt ausſchließlich von England ausgegangen; ſowie die ſtark von Männern geſtuͤtzte Frauen emanzipationsbeſtrebungen, die Tierſchutzbewegung und der Vegetarianis⸗ mus. Es ſollte auch (und ganz beſonders in Deutſchland) nicht vergeſſen werden, daß der fo oft als „Egoiſt“ bezeichnete Englaͤnder der einzige war (inkluſive einiger Amerikaner), der in hilfsbereiter Weiſe dem deutſchen Volke in den ſchweren Zeidensjahren nach dem Kriege entgegengekommen iſt; die Rinderſpeiſungen in Köln, Leipzig, Frankfurt, Berlin, Wien, Inne bruck, Eſſen und vielen anderen deutſchen Städten waren nur möglich ge weſen durch eine ſehr weitgehende philanthropiſche Tätigkeit, die in faſt jeder engliſchen Stadt Gelder fuͤr das notleidende deutſche Volk geſammelt hat. Soweit ich weiß, war in Frankreich, Italien und Belgien keine Spur von einer ſolchen Sympathie zu merken trotzdem glaubt man immer noch in Deutſchland, daß der Englaͤnder Egoiſt iſt, und die Sranzofen, Italiener und Belgier ſcheinbar nicht!

Nichts iſt mehr bezeichnend fuͤr den Charakter des engliſchen Volkes, als gerade dieſer Trieb nach unmittelbarer Freiheit. Schon der Schuljunge will von elterlicher Kontrolle wenig wiſſen, während er dem unperſoͤn lichen Einfluß der „Public- Schools“ ſich eifrig unterordnet; ebenſo wie die Eltern nur ungern die Erziehung der Kinder in die Sand nehmen, weil in ihnen eine inſtinktive Abneigung gegen Strenge und Zwang ſtaͤrker iſt als alle paͤdagogiſchen Prinzipien, auch weil die Eltern glauben, daß die Kinder anderswo unabhaͤngiger und abgehaͤrteter werden als zu Sauſe. Ebenſo widerſtrebt die engliſche Frau jedem von außen kommenden Zwang, und der Buͤrger verbittet ſich mit Entruͤſtung jede Einmiſchung des Staates in ſein Tun und Laſſen.

Daß eine ſolche Lebensſtellung notwendigerweiſe ſtarke Nachteile mit ſich bringt, braucht man nicht zu betonen. Die damit verbundene Zuruck draͤngung des Gemeinſchaftsgedankens kann ſtaatsgefaͤhrlich werden. In England iſt es faſt unmoͤglich, kooperative landwirtſchaftliche Unterneb- mungen durchzufuͤhren (wie in Daͤnemark mit fo großem Erfolg geſchehen iſt), gerade weil der engliſche „Farmer“ viel zu ſehr Individualiſt iſt. Die Betonung des Perſoͤnlichen auf Noſten der mehr zuſammenbringenden pſychologiſchen Faktoren kann dem Familienleben oft in bedenklicher Weiſe ſchaden; das Auseinandergehen von Mann und Frau in ſo vielen Ehen (auch wenn fie aus traditionellen Gruͤnden ſich nicht ſcheiden laſſen) 5 aus dem einſeitig entwickelten Unabhaͤngigkeitsdrang zu er⸗ klaͤren.

Die Frauenbewegung in England iſt weit mehr als in Deutſchland faſt ausſchließlich von dem Freiheitstrieb aus inſpiriert und durchgefuͤhrt wor · den. Und bei aller Kritik darf man nicht unterſchaͤtzen, was die Bewegung Gutes hervorgebracht hat. Sie hat vor allem eine hoͤhere Wertung der Srau als Menſch bewirkt, ſowie die Stellung der unverheirateten Frau ge⸗

== Ei

Das England von heute 367

hoben und ihren Wirkungskreis ſtark erweitert. Aber gerade durch den Freiheitstrieb iſt die ganze Stellung der Frau in England in eine gefaͤhr⸗ liche Einſeitigkeit hineingeraten. Es kommen dabei die Gemeinſchafts⸗ motive nicht genugend in Betracht. Die Frau iſt nicht nur ein freies Weſen. Sie tft immer zu gleicher Zeit Mitglied der Geſellſchaft, und dieſer Befell- ſchaft iſt ſie gewiſſe unentbehrliche Pflichten ſchuldig. Als Gegengewicht zum Freiheitsideal muß man auch das Ideal der Frau als Zebenstraͤgerin und Dienerin der Menſchheit keineswegs aus dem Auge laſſen auch aus rein pſychologiſchen Gruͤnden, weil bei den meiſten Frauen das Beduͤrfnis nach hilfsbereiter Taͤtigkeit viel ſtaͤrker iſt, als das nach perſoͤnlicher Frei⸗ heit. Es gibt in England eine Unmaſſe Frauen, die eine unbegrenzte Frei⸗ heit beſitzen, aber keine Ahnung haben, was ſie damit anfangen ſollen. Mehr als rein perſoͤnliche Freiheit braucht die Frau inſpirierende poſitive Zebens aufgaben.

England iſt noch viel zu ſehr von dem alten feudalen Ideal der Frau als „lady“ eingenommen. Wie andere Überbleibfel des Mittelalters, iſt dieſes Ideal jetzt vollkommen inhaltsleer geworden, und vermag daher keines wegs, die Seele der modernen Frau zu befriedigen. Einmal hieß eine „lady“ eine Frau, der ganz beſtimmte und kulturell wertvolle Aufgaben zukamen. Sie ſpielte innerhalb des Feudalſyſtems eine unentbehrliche Rolle, die der des Mannes gleich wertvoll war. Der zaͤhe Ronſervatismus des Englaͤn ders hat die aͤußere Stellung der „lady“ aufrechterhalten. Aber die Auf- gaben, die ihrem Leben Wert und Sinn gegeben haben, gehoͤren jetzt nicht mehr zu ihrem Wirkungskreis.

Die Folgen dieſes Zuſtandes find, daß die Frau entweder als „lady“ ein leeres Daſein friſtet, oder ſie geht in irgendeinem maͤnnlichen Beruf auf, der ihren angeborenen Faͤhigkeiten nicht entſpricht. Daher iſt England in ganz beſonderem Maße ein Land der ungluͤcklichen Frauen geworden. (Von der ganz ſonderbaren Stellung der Frau in Amerika werde ich hier nicht ſprechen in den oberen Klaſſen gibt es da einen Typ, der uͤber haupt nur Rechte und keine Pflichten oder Aufgaben beſitzt.)

Die wirkliche Aufgabe der Frauenbewegung die darin beſtehen muß, pofitive Cebensmoͤglichkeiten für die Frau zu ſchaffen, die der des Mannes ebenbuͤrtig ſind iſt in England noch weniger als in Deutſchland, bis⸗ her in Erfuͤllung gegangen.

Sorm und Freiheit oͤchſt paradorerweiſe iſt aber dieſes England, das fo ſehr die Freiheit ſchaͤtzt, gerade das Land, wo die Freiheit der Sitten am allerwenigſten praktiziert wird. Nirgends iſt die Macht der Ron vention, der guten Manie⸗ ren, der traditionellen Sittlichkeit ſo feſt gegruͤndet, ſo tief verankert, wie in England. In der Wirklichkeit iſt das aber gar nicht fo paradox. Weil der Freiheits ·

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trieb des Englaͤnders außergewöhnlich ſtark if, fühlt er inſtinktiv, daß er unbedingt ein Gegengewicht braucht, ein feſtes Syſtem von Konventionen und Sitten, wenn das ganze Leben durch den ungezuͤgelten Freiheitsdrang nicht auseinandergehen ſollte.

Nach engliſcher Meinung (wie auch Fr. w. Soerfter fo kraͤftig in feinen moralpaͤdagogiſchen Büchern betont hat) ſchafft die feſte orm erſt recht die Moͤglichkeit der Freiheit der wahren kulturellen Freiheit, die die Rechte des Anderen auch achtet und die nicht in „licence ausartet. Und nur diejenigen Menſchen, die ſich erſt durch Gehorſam den Normen der Geſellſchaft gegenüber diſzipliniert haben, koͤnnen ohne Gefahr die Srei- heit genießen.

Nichts iſt für England mehr charakteriſtiſch, als die ſehr ſtarke Typifie- rung des Lebens. Alles wird auf wenige, ganz klare, allgemein anerkannte Brundfäge zuruͤckgefuͤhrt, und es wird von jedem Individuum verlangt, daß es ſich dieſen Normen unbedingt unterwirft. Die Kinder der beſten Familien gehen alle in die „public- schools“, wo fie nach dem Typ des „gentleman“ geformt werden; ein Typ, der überall der gleiche iſt und der das ganze engliſche Leben reſtlos dominiert. Wenn man von einem Eng⸗ länder ſagt „Er iſt kein gentleman !“, fo iſt er erledigt! Es iſt, als ob ar von einem preußiſchen Offizier ſagte, daß er der Fahne nicht treu waͤre.

Es liegt auf der Sand, daß in einer ſolchen Kultur individuelle Initia⸗ tive, wie jede geiſtige Eigenart ſchwerlich zur Geltung kommen konnen. Das engliſche Leben iſt uͤberhaupt wenig elaſtiſch. Neue Ideen dringen ſehr ſchwer durch. Es herrſcht ein faſt unglaublicher Ronſervatismus im ſozialen und geiſtigen Leben. Selbſtverſtaͤndlich ſchreibe ich immer vom eng- liſchen Leben, wie es im ganzen it es gibt kleinere Kreiſe (3. B. unter den linksgerichteten Sozialiſten), wo ein anderer Geiſt herrſcht; ſie ſind aber nicht typiſch engliſch. |

Dagegen find im engliſchen Kulturſyſtem große Vorteile. Die feſte Sorm uͤbt eine große ſuggeſtive Kraft; die ſchwaͤcheren Naturen werden dabei gehoben. Sie koͤnnen ſich nicht auf einem niederen Niveau ausleben. Das unbedingte Sichhineinfůgenmůſſen iſt ein nicht zu unterſchaͤtzender mora- liſcher Faktor. Wenn ein junger Student z. B. weiß, daß die Geſellſchaft, worin er lebt, gebieteriſch von ihm ein beſtimmtes Maß Selbfidifziplin ver- langt, wird er ſich viel ener giſcher in Zucht nehmen, als wenn er in einer Geſellſchaft lebt, wo jeder ſich frei ausleben kann. Eine ſo große Freiheit der Sitten, wie es in den ſkandinaviſchen Ländern und (teilweiſe) auch jetzt in Deutſchland gibt, iſt für die Jugend insbeſondere eine große mora ; liſche Gefahr. Daß ein engliſcher Student 3. B. in einem „Verhaͤltnis“ mit irgendeinem Ladenfräulein oder Tippmaͤdel leben ſollte, it von vornherein ausgeſchloſſen. Er koͤnnte dann unmöglich an der Univerſitaͤt weiterftudie- ren. (Es kann fein, ſelbſtverſtaͤndlich, daß einzelne Wenige auch in Eng;

Das England von heute 369

land ſolche Beziehungen haben; fie muͤſſen dann verheimlicht werden, und es entſteht die bekannte „Seuchelei“ des Englaͤnders. Es muß aber nicht vergeſſen werden, daß dieſe Faͤlle ein ſo verſchwindend kleiner Bruchteil des ganzen Studententums bilden, daß ſie eigentlich gar nicht in Betracht kommen. Man kann ſich über den großen Wert der engliſchen feſten Form nicht hinwegſetzen, indem man auf ein paar Ausnahmen hindeutet. Gerade auf dem Gebiet der feruellen Moral find die pſychologiſchen und rein hygieniſchen Vorteile der unbedingten moraliſchen Normen von un⸗ berechenbarer Tragweite fuͤr das engliſche Volk.)

puritanismus

Obe den Puritanismus richtig einzuſchaͤtzen, iſt ein Verſtaͤndnis des England von heute kaum möglich. Seit mehreren Generationen hat dieſe Tendenz große Schichten des engliſchen Volkes (vor allem die Mittel klaſſe) aufs tiefſte beeinflußt. Im Grunde genommen iſt der Puritanismus eine ſehr einſeitige Ausprägung des Chriſtentums; wobei das Saupt⸗ gewicht auf die rein · perſoͤnliche Stellung des Individuums zu Gott gelegt wird. Das Ethiſche wird ſtark betont, dagegen das Soziale ſowie das mehr Subjektive (etwa Schleiermacherſche Art) ſehr vernachlaͤſſigt. Sehr charak⸗ teriſtiſch iſt hier die Angſt vor dem Fleiſch; eine tiefe Abneigung vor allem, was nur im geringſten tieriſch, ſinnlich, brutal iſt; vor allem, was zur un- gebaͤndigten Natur gehoͤrt. Einer der ſchaͤrfſten und objektivſten Kritiker des engliſchen Lebens der bekannte Nietzſche ⸗Gelehrte Anthony Ludo⸗ vici (ein Englaͤnder aus italieniſcher Familie), hat dieſe Tendenz als mo⸗ dernen Manichaͤismus charakteriſtert; fie trennt die Welt in Boͤſe und Gute; der Geiſt iſt gut im Gegenſatz zum Sleifch, wo die Wurzel des Übels liegt. Alle menſchlichen ZLeidenſchaften find eigentlich ſchlecht; gut iſt nur das, was von oben kommt, von der jenſeitigen Welt des rein Geiſtigen. Es kommt hier zum Ausdruck ein im hoͤchſten Grade tranſzendentaler Got · tesbegriff Gott wird als uͤber · irdiſcher Sittenrichter betrachtet. Er iſt kein „lieber Gott“, ſondern der ſtrenge Serr.

Daß das ganze Volk bei weitem nicht unter dieſem Einfluß ſteht, iſt ja wahr aber die eigentuͤmlichen Wirkungen des Puritanismus find in England überall zu finden.

Daß er das Ideal des Maßhaltens, von dem fruͤher die Rede war, noch weiter beſtaͤrkt hat, iſt klar. Was der Auslaͤnder oft als „Nuͤchternheit“ oder „Kaltbluͤtigkeit“ bei den Englaͤndern wahrnimmt und als eine ange: borene Charaktereigenſchaft betrachtet, iſt in Wahrheit etwas muͤhſam Er⸗ worbenes. Sie iſt das in Fleiſch und Blut uͤbergegangene Refultat einer prinzipiellen Diſziplinierung des natürlichen Lebens erſt unter dem Ein; fluß des „Maßhaltens ! (welcher eigentlich nur die oberen Klaſſen berührt hat); und dann durch den viel tiefergebenden Einfluß des Puritanismus. Man braucht nur Shakeſpeare zu leſen, um klar zu werden, wie ſehr wenig Cat m 25

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kaltbluͤtig“ der ganz naturliche Englaͤnder in feinem Zeitalter wirklich war alſo vor der Zeit des Puritanismus (der zum Teil eine bewußte Reaktion gegen die erſchreckende Sittenloſigkeit und rohe ö des damaligen engliſchen Volkslebens war).

Deutſchland und England

| wr man nun den Sauptunterſchied zwiſchen deutſchem und eng;

liſchem Weſen herausfinden will, fo wäre es der folgende: Keiner ſchaͤtzt die äußere Sorm fo hoch wie der Englaͤnder; keiner verachtet fie fo ſehr wie der Deutſche. Die Form iſt die tatſaͤchliche regierende Goͤttin des engliſchen Lebens; und der Kern der engliſchen Kultur liegt in der eigen- artigen Wechſelwirkung von Freiheit und Form.

Die Schwäche des engliſchen Wefens liegt in der Unterſchaͤtzung des lebendigen Inhalts. Der Gefahr, daß die aͤußere Form einen erſtarrenden Einfluß auf das Leben ausüben koͤnnte, iſt England zweifellos nicht ent- gangen. Das iſt 3. B. der Fall mit dem Begriff „gentleman“. In feinem tieferen Sinne enthaͤlt dieſer Begriff hohe ethiſche Werte; und vermag eine kraͤftige erzieheriſche Wirkung auszuloͤſen. Aber wie oft iſt der „gentle man“ nur angeflogen!

Wie nun Prof. Rudolf Eucken in ſeinem Buche „Geiſtige Stroͤmungen der Gegenwart“ fo klar dargeſtellt hat, iſt der Sinn der Religion unmöglich durch die rein tranſzendentale Stellungnahme zu erſchoͤpfen. Die imma⸗ nente pantheiſtiſche Seite der Religion hat auch ihre Rechte; und in Deutſchland, wo der Dualismus noch lange nicht fo ſchroff it wie in Eng; land, kommen dieſe eben zu entſprechend reicherer Geltung. Das Schoͤnſte und Beſte in Deutſchland iſt und bleibt, daß der Deutſche, im Grunde ge- nommen, der Natur und alles was natürlich und ſchlicht iſt, unvergleich⸗ lich viel naͤher ſteht, wie der Englaͤnder oder der Franzoſe. In Deutſchland quillt das Urſpruͤngliche, das rein un verdorben Menſchliche ſozuſagen aus dem Boden heraus. Und gerade der Mangel an feſten Formen in Deutſch⸗ land ermöglicht deſto leichter den Aufbau neuerer und tieferer Formen weil das Alte nicht feſt kriſtalliſiert iſt.

Der Englaͤnder dagegen haͤngt mit ſo viel Jaͤhigkeit an allen traditio⸗ nellen Konventionen und Formen auch wenn fie inhaltlich überlebt find —, daß es unendlich ſchwierig für ihn iſt, die neuen Formen, die die Zukunft doch brauchen muß, herauszuarbeiten. Sierin liegt die größte Ge⸗ fahr fuͤr die Zukunft Englands, naͤmlich der widerſtand Englands allen

modernen Gedanken gegenuͤber.

Die Schwaͤche des Deutſchtums dagegen, ſoweit ich objektiv urteilen kann, liegt in der obenerwaͤhnten Verachtung der Form. Der typiſche Deutſche unterſchaͤtzt ſehr die erzieheriſche Wirkung der feſten Form. wo keine feſtgepraͤgten aͤußeren Formen anerkannt ſind, entſteht viel zu leicht eine vage, bloß ſubjektive, gefuͤhlsmaͤßige Stellung zum Leben, eine Diſzi⸗

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Das England von heute 371

plinloſigkeit im inneren Leben (im Gegenſatz zu der deutſchen Diſziplin in äußeren Dingen).

Profeſſor Sorneffer (Gießen) hat vor kurzer Zeit behauptet, daß das deutſche Volk die preußiſche Diſziplin als „Selbſterhaltungsnotwendig⸗ keit“ geſchaffen hat, um dem naturlichen Subjektivismus des Deutfchen entgegenzuwirken.

Durch engliſche Augen geſehen, zeigt das deutſche Leben einen faſt gren⸗ zenloſen Subjektivismus. Es ſcheinen gar keine Normen zu ſein, die all⸗ gemein anerkannt find. Jeder lebt für ſich, nach feinen eigenen ſelbſt erfun- denen Grundſaͤtzen; ohne jede Rorrektur von ſeiten irgendeiner anerkann⸗ ten religiöfen oder ethiſchen Autoritaͤt.

Der Deutſche gruͤbelt über alles nach. Er ſtellt überall ein Fragezeichen auf. Er gehorcht keiner ethiſchen oder religioͤſen Autorität und glaubt von innen heraus alles ſchaffen zu koͤnnen. Dadurch entſteht eine unend⸗ liche 3erfplitterung der Meinungen und Parteien. Die deutſche Verach⸗ tung der Form auf religiös · ethiſchem Gebiet haͤngt eng zuſammen mit dem Mangel an innerer Einheit im Volk, mit all ſeinen tragiſchen politiſchen Konfequenzen. Wenn ich das ſchreibe, ſage ich nur, was viele von den ein · ſichtsvollſten Deutſchen auch ſelber ſagen. Prof. Rudolf Eucken weiſt immer wieder hin auf die Gefahren des alles zerſetzenden deutſchen Subjektivis⸗ mus, mit feiner Auflöfung der geiſtigen Normen, die als Baſis einer ge- ſunden Geſellſchaft anzuſehen ſind.

Der Deutſche hat den Begriff des Staates geſchaffen, um ſich irgendwo einen feſten Salt zu geben. Aber weil die Menſchen, die in dieſem Staate bohnen, objektive Normen nicht anerkennen, muß es auch an innerer Einheit im Staate fehlen; und man ſieht ſich noch einmal vor das Problem der geiſtig⸗ſittlichen Autorität geſtellt, das man durch die Staats⸗ idee noch nicht losgeworden iſt. So ſcheint die Sache, aus der Ferne be⸗ trachtet.

Die politiſche Einheit in England n Deutſchland bringen die tiefen Gegenſaͤtze der Weltanſchauungen die menſchen tatſaͤchlich vollkommen auseinander. Zwiſchen einem Gſt⸗ preußen 3.3. und einem Berliner Sozialdemokraten gaͤhnt eine Kluft, wie man ſie ſich in England zwiſchen verſchiedenen Parteien gar nicht vor⸗ ſtellen kann.

Der typiſche deutſche Sozialiſt ſteht auf religions feindlichem Boden und iſt in feiner ganzen Lebensanſchauung meilenweit von den orthodox den; kenden Kreiſen entfernt. In England exiſtieren dieſe ungeheueren Anti⸗ theſen nicht. Das durchſchnittliche Mitglied der ſozialiſtiſchen Partei iſt oft zu gleicher Zeit Mitglied der Staatskirche, und in feinen letzten Überzen- gungen ſteht er auf demſelben Boden, wie ſeine politiſchen Gegner. Die Streitfragen ſind eigentlich nur praktiſch⸗politiſcher Natur. Wenn man

25°

372 F. Stäbler

ein wenig tiefer ſchuͤrft, findet man die uͤberraſchende Tatſache, daß im Prinzip die Parteien gar nicht weit auseinander liegen.

Nicht zu vergeſſen iſt hier auch die behagliche Art des engliſchen poli⸗ tiſchen Lebens. Scharfe politiſche Gegner find im privaten Zeben oft eng befreundet. Es kann leicht paſſieren, daß 3. B. im Parlament ein Arbeiter- fuͤhrer die Regierungspartei mit den ſchaͤrfſten Mitteln angreift, und dann den naͤchſten Tag, als intimer Freund, in dem Sauſe desſelben Miniſters verbringt, den er ein paar Stunden vorher heftig angegriffen hat; und daß bei einem „whisky and soda“ die Angelegenheit unter vier Augen weiter diskutiert wird. ä

Das „weekend Leben in den großen Landhaͤuſern ſpielt eine ſehr be⸗ deutende Rolle in unſerem politiſchen Leben. Beim Golfſpiel, auf Spa⸗ ziergaͤngen und bei den Mahlzeiten finden ſich Ronſervative, Liberale und Sozialiſten zuſammen, alle als eingeladene Freunde irgendeiner leitenden perſoͤnlichkeit aus politiſchen reifen. Und die aktuellen Fragen des Tages werden da ungezwungen, ruhig und leidenſchaftslos miteinander durch · geſprochen.

JE" internationales, geiftiges Juſammenarbeiten der Doͤlker iſt nur nn fruchtbar, wenn jede Nation bereit iſt von der anderen etwas zu lernen.

Jeder denkende Englaͤnder wird zugeben, daß die engliſche Aultur von Deutſchland unendlich viel lernen kann. In der ſozialen Organiſation, in der wiſſenſchaftlichen Durchdringung des Zebens, in der Ausbildung eines großzügigen Erziehungsſyſtems, in der Entwicklung des Theaterweſens, ſowie in vielen pſychologiſchen und moraliſchen Beziehungen iſt die deut · ſche Kultur der engliſchen bei weitem voraus.

Auf der anderen Seite möchte ich dagegen die unvergleichlich größere Einheit und Konzentration des engliſchen Lebens betonen. Die engliſche Kultur iſt weniger reichhaltig, weniger umfangreich als die deutſche, aber dafür zielbewußter. Die engliſche Kultur iſt auf einer ganz engen Baſis aufgebaut. Aber auf dieſer Baſis vereinigen ſich faſt alle Volksgenoſſen zu einer ſcharfausgepraͤgten kulturellen Einheit.

§. Staͤbler / Chriſtoph Schrempf

n der Geſchichte der Philoſophie iſt es kein ſeltener Fall, daß bedeu⸗ tende Vertreter erſtmals durch ein in jungen Jahren genial bin- geworfenes Werk bekannt und beruͤhmt wurden. Chriſtoph Schrempf

iſt nicht dadurch bekannt geworden. Vor feinem 3]. Lebensjahr wußte man

auch in ſeiner engeren Seimat Wuͤrttemberg ſo gut wie gar nichts von ihm.

Chriſtoph Schremyf 373

Wohl hatte er, ſiebenundzwanzigjaͤhrig, ein Pamphlet veröffentlicht: „Sören Kierkegaard und fein neueſter Beurteiler in der theologiſchen Literatur- zeitung“, und ein Zeſer dieſes Pamphlets ſoll, wenn ich mich nicht irre, geſagt haben, er wuͤnſchte von dem Verfaſſer dieſer Erſtlingsſchrift deſſen letzte Schrift einmal leſen zu koͤnnen. Wohl veröffentlichte er, dreißig jaͤhrig, eine zweite Schrift: „Die chriſtliche Weltanſchauung und Kante ſittlicher Glaube, eine religioͤſe Unterſuchung“. Aber dieſe Schriften haben die Öffentlichkeit fo wenig bewegt, daß auch Leute, die Schrempfs Schriften „alle“ geleſen zu haben behaupten, von der Exiſtenz dieſer Schriften kaum etwas wiſſen.

Erſt 1891, alſo einunddreißigjaͤhrig, IK Schrempf bekannt, oder ſagen wir beſſer berüchtigt geworden, und zwar charakteriſtiſcherweiſe durch eine Tat, eine Tat, durch die er feine berufliche Exiſtenz und fein buͤrgerliches Anſehen riskierte und dann auch wirklich verlor.

Man ſpricht in wuͤrttemberg, wo Schrempf feine „Tat“ getan hat, nicht gerne von ihr. Die einen halten es fuͤr eine große Ubertreibung und wichtigtuerei, wenn man fo alte Geſchichten wieder „aufwaͤrmt“, die andern ſind froh, daß die Angelegenheit, um die es ſich handelte, dadurch am ſicherſten erledigt und aus der welt geſchafft wurde, daß man fie tot; ſchwieg. Wenn ich entgegen dieſer Gepflogenheit dieſe Tat zum Aus⸗ gangspunkt meiner Darſtellung Schrempfs mache, fo tue ich es weder, weil ich Altes aufwaͤrmen, noch Totgeſchwiegenes wieder lebendig machen möchte ich moͤchte vielmehr nur Schrempfs Entwicklung, das Charak⸗ teriſtiſche feines Denkens erfaſſen und darſtellen. Und je länger ich darüber nachdenke, um ſo deutlicher wird mir, wie entſcheidend dabei gerade dieſe Tatſache iſt, daß Schrempfs eigentliche Entwicklung durch eine Tat ber- vorgerufen wurde.

Schrempf war 1891 Pfarrer in einer kleinen ſchwaͤbiſchen Zand⸗ gemeinde. Aus aͤußerſt einfachen Verhaͤltniſſen ſtammend, war er zuerſt Volksſchullehrer geworden, hatte als Unterlehrer das Maturum nach⸗ gemacht und kam dann als Theologieſtudent in das evangeliſch⸗theo⸗ logiſche Seminar nach Tübingen (das ſogenannte Stift). Dort war er „im Verlauf von vier Jahren von der aͤußerſten Rechten“ noch als Unterlehrer war er eifriger Pietiſt „auf die aͤußerſte Linke hinuͤber⸗ geglitten”. Da er das Geld zu einem Berufswechſel nicht hatte, innere Neigung zum Pfarrberuf beſaß, als „verlobt“ die Pflicht hatte, ſich eine bürgerliche Exiſtenz zu gründen und endlich von der Kirchenbehoͤrde ob ſeiner Gewiſſenszweifel beruhigt wurde, entſchloß er ſich doch, ins Pfarr⸗ amt zu gehen, wurde alſo „liberaler Pfarrer“.

was konnte er, auf der aͤußerſten Linken ſtehend, von ſich aus mit innerer Wahrhaftigkeit ſeinen Gemeindegliedern ſagen, auf welche reli⸗ giöfe Deutung ihres Lebens konnte er fie hinfuͤhren? Wir benutzen zur Beantwortung die oben erwaͤhnte zweite Schrift, die nicht ganz ein Jahr

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vor Beginn feines Kirchenkampfes erſchien. Sie gewährt vielleicht noch einen beſſeren, unbefangeneren Einblick als die „Akten zu meiner Ent⸗ laſſung aus dem wuͤrttembergiſchen Kirchendienſt“, die 1892 heraus⸗ kamen und in denen Schrempf feine damalige religioͤſe Stellung eben- falls Harlegt.

Pfarrer Schrempf ſucht, wohl unter dem Eindruck Kierkegaards, nach einem Geſetz, „das ihn noͤtigt und ihm fo ermöglicht, feinem ganzen Leben und allen einzelnen Teilen desſelben un bedingt ſittlich notwendigen Gehalt zu geben“. Was er für ſich als Lebensgrund feines Lebens ſucht, ſcheint ihm auch wuͤnſchenswert fuͤr jeden andern Menſchen. Doch hat er erkannt, daß nicht jeder Menſch in feiner geiftigen Reife gleich weit fortgeſchritten iſt. Jeder Menſch muß gewiſſe Stadien feiner Ent⸗ wicklung durchlaufen. Um es mit einem ſpaͤteren Ausdruck Schrempfs zu charakteriſieren: Wenn jemand das Einmaleins noch nicht gelernt hat, ſo hat es keinen Sinn, ihn in die hoͤhere Mathematik einzufuͤhren. Und ein Lebrer, der in die hoͤhere Mathematik einführt, iſt kein Lehrer zum Lernen des Einmaleins. Die hoͤhere Mathematik aber iſt das Chriſtentum, der Lehrer der hoͤheren Mathematik iſt Jeſus. wer noch das Einmaleins zu lernen hat, fuͤr den kommt ein Lernen von Jeſus noch nicht in Frage. Oder wie es Schrempf ſchon in dieſer Schrift ausdruͤckt: „Es legt ſich die Frage nahe, ob man nicht zunaͤchſt verſuchen ſolle, wieweit man oh ne Religion zu reichen vermoͤge.“ Ein ſolcher Verſuch iſt allein eines Menſchen würdig.

Die durch das Suchen nach einem unbedingt verpflichtenden Geſetz aufs aͤußerſte geſteigerte und empfindliche Selbſtachtung und Würde eines Menſchen ſtraͤubt ſich nun unwillkuͤrlich gegen die ſittlichen Forde⸗ rungen, die Jeſus ſtellt: „Sich dem Feinde und Unwuͤrdigen zum Dienſte der Liebe verpflichtet zu fuͤhlen und ſo mit Menſchen eine ſittliche Ver⸗ bindung innerlich feſtzuhalten und womoͤglich auch aͤußerlich wiederherzu⸗ ſtellen, welche die Achtung verwirkt haben und von denen man ſelbſt viel- leicht nicht geachtet wird: das ſcheint der Selbſtachtung wirklich zuwider zu laufen, ſo daß der Menſch, der auf ſittliche Wuͤrde haͤlt, ein inneres Widerſtreben uͤberwinden muß, um diefer Pflicht zu genügen.”

Dieſe Sproͤdigkeit, die der Menſch Schrempf in ſeinem Verlangen nach Selbſtachtung gegenuͤber der Lehre Jeſu empfindet, hat aber eben durch Jeſus ſchon einen empfindlichen Stoß erhalten. Er hat von der Perſoͤn⸗ lichkeit Jeſu einen ſolch ſtarken Eindruck, daß er ſich ſeinem Einfluß nicht entziehen kann und nicht entziehen will. Was aber macht ihm dieſen Ein⸗ druck? Nicht, daß Jeſus dies oder das mehr oder weniger zwingend be⸗ weiſt, ſondern daß er „fur ſeine Auffaſſung feine Perfon einſetzt“.

„Siermit hat Chriſtus zugleich auf die einzig mögliche Weiſe andere für eine wirklich ſittliche Aneignung ſeiner Ausſagen vorbereitet. Indem er feine Perſon einſetzte, zeigte er, daß feine Anſchauungen in ihm wahr⸗

Cbriſtoph Schrempf 375

heit ſeien.“ Dadurch muß ſich jeder, dem es im Ernſt um Wahrheit und Sittlichkeit zu tun iſt, „durch Chriſtus in ſteigendem Grade gedemuͤtigt fühlen.” Aber auch inhaltlich wird der Menſch, deſſen Sinn für eine un- bedingte ſittliche Verpflichtung (etwa durch Kant) geſchaͤrft iſt, auf Chriſtus hingewieſen: denn „wer feinem Leben wirklich un bedingt ſittlich not⸗ wendigen Gehalt geben will, braucht ein Geſetz, das ihm Sandlungen poſitiv vorſchreibt. Ein ſolches poſitives Geſetz bietet die theonome Moral Chriſti.“ |

Pfarrer Schrempf ſucht alfo für ſich nach einem ihn unbedingt ver- pflichtenden, fein ganzes Leben und alle einzelnen Teile desſelben beſtim - menden ſittlichen Geſetz, dem er ſich ohne Aufgabe feiner Würde unter · werfen kann. Uberwaͤltigt von der ſittlichen Groͤße Jeſu, erkennt er unter Überwindung einer ſtarken naturlichen Sproͤdigkeit in deſſen Forderungen dieſes unbedingt verpflichtende Geſetz, erkennt er in ihm den ihm un bedingt überlegenen Lehrer. Die Aufgabe feines Pfarramts konnte als · dann nur die ſein, in ſeinen Gemeindegliedern als Vorſtufe, als großes Einmaleins den Sinn dafür, daß das Leben eines unbedingt ſittlich verpflichtenden Gehalts bedarf, zu wecken und ſie dann ſo zu Jeſus hin⸗ zuführen, daß auch fie unter die Macht feiner ůberwaͤltigenden und des muͤtigenden Perſoͤnlichkeit kommen konnten.

Dafuͤr aber war eines ſelbſtverſtaͤndliche Vorausſetzung, daß nämlich pfarrer Schrempf ſelbſt fo unter dem Eindruck der Perſoͤnlichkeit Jeſu ſtand, daß man ihm das anmerkte. War das Überwältigende bei Jeſus, daß er auf feinem Zeidensgang zeigte, daß feine Anſchauungen in ihm Wahrheit waren, fo mußte fein Schüler, wollte er Zeugnis ablegen für die ſittlich umgeſtaltende Kraft Jeſu, in feinem Teil ebenfalls zeigen, daß was er als ſeine Anſchauung ausſpreche, auch in ihm wahrheit ſe i. Die ſchlichte Pflicht innerer und aͤußerer Wahrhaftigkeit war ſelbſt⸗ verſtaͤndliche Vorausſetzung.

Aber nun war ja die Situation des Pfarrers Schrempf eine ganz andere. Es genügte nicht, daß er, ſelbſt in der Schule Jeſu ſtehend, feine Gemeinde⸗ glieder zu dieſer Schule hinfuͤhrte. Er war auf ein Glaubensbekenntnis verpflichtet, das viel mehr enthielt als die Uberzeugung, dauernd von Jeſus lernen zu wollen und lernen zu koͤnnen, das Dinge enthielt, die nun einmal ein durch die moderne Theologie hindurchgegangener Theologe einfach nicht mehr glaubte, die vielleicht ſogar uberhaupt niemand mehr glaubt. Iſt es aber für einen Schüler Jeſu möglich, bei feierlichen kirch⸗ lichen Sandlungen zu bekennen: „Wir (alfo ich und du und du) glauben, wenn er eben nicht alles glaubt und den Verdacht in ſich hegt, daß Ge⸗ meindeglieder ſoundſoviele einzelne Punkte auch nicht glauben?

Dieſe Situation der Unehrlichkeit hat Pfarrer Schrempf auf die Dauer nicht ausgehalten. Nun haͤtte er ſtillſchweigend gehen koͤnnen, wie er ja nachher doch gehen mußte. Weshalb tat er das nicht?

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Schrempf wollte zunaͤchſt fuͤr ſich Ernſt machen, ſagen wir es kurz und ſchlagwortartig mit dem kategoriſchen Imperativ. Er ging zu Jeſus in die Schule, um bei ihm einen pofitiven Inhalt für feinen kategoriſchen Imperativ zu bekommen. Die Durchfuhrung des kategoriſchen Imperativs lernt aber nur, wer ihn in die Praxis feines Lebens umſetzt, d. h. die ſittlichen Ronſequenzen feines Lebens zieht. Pfarrer Schrempf hatte mit feinem Amtsantritt die Verpflichtung eingegangen, feine Gemeinde glieder zu Jeſus hinzufuͤhren, er konnte, innerlich an ſeine Verpflichtung gebunden, nicht einfach Jeſus dieſen Dienſt kuͤndigen. Das konnte er um ſo weniger, als er ja, wenn er den Kampf mit der Kirche aufnahm, gerade für die Sache Jeſu Fämpfte.

Wie nun der ganze Rampf mit der Kirche verlief, hören wir am beſten von Schrempf ſelbſt. Er hat ſich darüber in der Einleitung zu Band 4 von Frommanns philoſophiſchen Taſchenbuͤchern 1922 ausgeſprochen: „Ein Konflikt war unvermeidlich. Alſo bereitete ich mich auf den Ron⸗ flikt vor. Dazu glaubte ich mir die noͤtige Zeit nehmen zu duͤrfen. Sollte der Konflikt richtig durchgefochten werden, fo durfte ich nicht als ertappter Verbrecher daſtehen. Alſo trug ich in Predigt und Katecheſe meine ketze⸗ riſchen Anſichten ſo offen vor, daß ich bei jeder Anklage haͤtte ſagen koͤnnen, ich habe fie ja ſelbſt provoziert. Das war ubrigens ganz ungefaͤhrlich. Man kann von der Kanzel jede Ketzerei predigen: wenn man nur nicht ſelbſt ſagt, das ſei Ketzerei, was man predige. Was verſtehen denn die Glaͤu⸗ bigen von Rechtglaͤubigkeit? Sie find ja ſelbſt zumeiſt auch Ketzer, Geiſt⸗ liche und Laien. Sie haben nur den guten willen, für rechtglaͤubig zu gelten; und den hatte ich boͤſer Menſch boshafterweiſe nicht mehr. Ich offenbarte aber auch meinen Unglauben einem pietiſtiſchen Pfarrgemeinde⸗ rat, ohne von ihm Schweigen zu verlangen. Der gute Mann ſchwieg doch. Er war ſelbſt auch Ketzer, wie ſich's faſt von ſelbſt verſteht. Nur wußte er's nicht.

Sodann ſtudierte ich zur Vorbereitung auf den Konflikt die kirchlichen Bekenntniſſe. Und ich ſtudierte insbeſondere Sören Rierkegaard .

„Ich erkannte, daß ich zunaͤchſt den Rampf allein aufnehmen muͤſſe. Denn daß ich gegen den Feind ſtandhalte, das konnte ich mir noch zu⸗ trauen; ob ich auch gegen die Bedenken und den guten Rat von Genoſſen feſtbleiben wuͤrde, war mir zweifelhaft. Ich erkannte ferner, daß ich nicht mit Vorſtellungen und Bitten beginnen dürfe, ſondern den Rampf mit einer Tat eroͤffnen muͤſſe. Denn fuͤr Verhandlungen fuͤhlte ich mich zu ſchwach; daß ich, zum Angriff vorgegangen, nicht mehr zuruͤckgehen werde, durfte ich mir eher zutrauen. Immerhin mußte ich, vorſichts halber, den erſten Schritt fo groß nehmen, daß ich ihn ſchanden⸗ und ehrenhalber nicht zuruͤcknehmen konnte. Das geſchah, wenn ich gegen meine Amts⸗ pflicht das Apoſtolikum, das ich nicht bekennen konnte, bei der Taufe auch nicht als Bekenntnis verwendete, mich ſelbſt denunzierte und zugleich er⸗

Chriſtoph Schrempf 377

Harte, ich werde es immer fo halten. Wurde der Konflikt ſodann, was nicht zu vermeiden war, oͤffentlich bekannt, fo wurden dadurch die Kollegen, die ſich in gleicher Verdammnis befanden, vor die Frage geſtellt, ob fie nicht ebenfalls ſich ſelbſt denunzieren und erklaͤren wollten, daß ſie das Apoſtoliłum nicht mehr verwenden werden. Und die Univerſitaͤtstheologen waren dann vor die Frage geſtellt, ob ſie noch ferner die veraͤchtliche Rolle weiter ſpielen wollen, junge Maͤnner fuͤr ein Amt vorzubereiten, worin fie die von ihnen übernommene Wiſſenſchaft verhehlen und verleugnen mußten. Und dann konnte auch das Kirchenregiment, Konſiſtorium und Synode, die freilich ſehr heikle Pfarrersfrage nicht mehr ignorieren und vertuſchen. Dann war der Stein ins Rollen gebracht.

Ich tat alſo meinen Schritt.

Nun waͤre ich in große Verlegenheit gekommen, wenn das Konfiftorium, zugleich klug und ehrlich, mir geantwortet haͤtte, ich ſolle ohne Apoſtoli⸗ kum taufen, ſo lange ſich die Gemeinde nicht beſchwere. Denn das KRon⸗ ſiſtorium vielmehr: jeder Ronſiſtorialrat wußte wohl fo gut wie ich, daß das in Württemberg keine ganz ungewöhnliche Praxis war. Die Ge⸗ meinde aber hatte das Verbrechen, das ich vor ihren glaͤubigen Ohren be- ging, nicht bemerkt. Sie haͤtte auch ſeine Wiederholung nie bemerkt.

Doch das Konſiſtorium ging zum Gluck in die Falle. Es verbot mir, ohne Apoſtolikum zu taufen. Nun mußte die Sache bei der naͤchſten Taufe der Gemeinde bekannt werden. Naturlich gab ich dieſer bei der naͤchſten Taufe ſelbſt die nötige Aufklärung; und natürlich von der Kanzel aus. Damit war auch das noͤtige oͤffentliche Argernis da, das meine Auflehnung gegen die Kirchenordnung zu einem ernſten „Fall“ machte.

Das Kirchenregiment hat ſodann meinen Fall mit bureaukratiſcher Ge⸗ wiſſenhaftigkeit und chriſtlicher Gewiſſenloſigkeit korrekt erledigt: ich wurde erſt ſuspendiert, dann abgeſetzt. Die Kollegen verfagten nach einem matten Anlauf. Sie gingen nicht einzeln vor (wenn nacheinander nur zwoͤlf, nur ſechs Pfarrer wegen des Verbrechens der Wahrhaftigkeit hätten abgeſetzt werden muͤſſen, wäre die Schlacht gewonnen geweſen), ſondern ließen ſich mit vereinten Kraͤften beſchwichtigen. Ein einziger (Friedrich Steudel) trieb es bis zur Abſetzung.

Noch klaͤglicher verſagten die Univerſitaͤtstheologen. Sie entdeckten nicht, daß ſie ihre Ehre zu wahren haͤtten, und fanden ſich durch den „Fall Schrempf! nur zu ebenſo gründlichen wie uͤberfluͤſſigen Unterſuchungen uͤber Alter und Wert des Apoſtolikums veranlaßt.

Und das evangeliſche Volk? Nun, es handelte fi ja nicht um die Be- ſoldung des Pfarrers, nicht um kirchliche Wahlen und Steuern, nicht um den Kampf gegen den Ultramontanismus und derartige wichtige Baga⸗ tellen. Es handelte ſich nur um die Seele des Pfarrers. Was geht aber die Seele des Pfarrers das chriſtliche Volk an? Wenn ihm der Pfarrer ein paar zerſtreute Fettaugen auf die magere Suppe ſeines chriſtlichen

378 F. Stäbler

Lebens beſorgt ... Was die Seele des Pfarrers betrifft, fo ruft das chriſt⸗ liche Volk (Kirchenregiment und Univerſitaͤtstheologen eingeſchloſſen) uniſono dem Pfarrer zu: „da ſiehe du zu!“

Ich hatte den Kampf nicht bloß für mich aufgenommen, fondern auch fir andere; vielleicht darf ich ſogar ſagen: weniger für mich, als fuͤr andere. Denn für mich allein hätte ſich wohl auch eine bequemere Löfung der Schwierigkeit finden laſſen. Doch entſprach nur dieſe Art von dem Kirchen; dienſt wegzukommen der Art, wie ich in den Kirchendienſt hineingekommen war. Was dabei von mir und dem Kirchenregiment gefehlt worden war, hatte ſich nun an mir und dem Kirchenregiment geraͤcht. Und an mir wenigſtens zu meinem Seil.“

II

Daß Schrempf in dieſe fatale Situation als Pfarrer hineingeraten war, dadurch zu ſeiner Tat gedraͤngt und dann mit dieſem aͤußeren Mißerfolg aus dieſer Situation herausgeworfen wurde, iſt für feine Ent⸗ wicklung von ausſchlaggebender Bedeutung geworden. Er haͤtte naͤm ; lich alles zeug zu einem tuͤchtigen Gelehrten gehabt: einen ungewoͤhnlichen Verſtand, einen unbeſtechlichen Sinn, ein vorzuͤgliches Gedaͤchtnis. Dieſe Kriſis hat in ihm den Gelehrten zerſtoͤrt. Denn ſie hat ihn in große per · ſoͤnliche geiſtige Not gebracht. Das hat fein Nachdenken über ſich und das Leben aufs aͤußerſte geſteigert, aber doch eben immer in der Richtung auf die Noͤte, in die er als Menſch hineingeraten war und fortlaufend hineingeriet. In dieſer Not hat man keine Zeit und keine Ruhe Gbjek⸗ tives, das eigene Ich nicht Beruͤhrendes leidenſchaftslos zu unterſuchen und zu erforſchen. Man wird, wenn man das Zeug dazu hat, zum ſub⸗ jektiven Denker. Das ſchließt nicht aus, daß der ſubjektive Denker, ja gerade er, weſentliche Einblicke in die objektiven Geſetze des menſchlichen Lebens gewinnen kann. Und die Verdienſte, die ſich Schrempf um die wWiſſenſchaft erworben hat, find, obgleich fie nirgends anerkannt wurden, keineswegs gering. So iſt feine Uberſetzung des ganzen Rierkegaards in der großen Diederichsſchen Ausgabe eine wirkliche gelehrte Ceiſtung, denn feine Uberſetzung iſt zugleich ein Verſuch, die oft faſt unverſtaͤndliche Schreib; weiſe Kierkegaards verſtaͤndlich zu machen. Und aus feinen Schriften uͤber Luther, Leſſing, Goethe, Nietzſche, Jeſus kann auch der Gelehrte Ge⸗ winn ziehen. Aber bezeichnenderweiſe iſt das, was der Gelehrte bei Schrempf lernen kann, immer etwas Menſchliches. Um es ſofort am be⸗ deutendſten Beiſpiel zu verdeutlichen. Die Wiſſenſchaft muͤht ſich um das Erkennen der echten Überlieferung von Jeſus. Schrempf will von Jeſus lernen, als Menſch vom Menſchen fuͤr die praktiſche Geſtaltung des Lebens. Dabei fällt ihm wie dem Gelehrten die Verworrenheit der Überlieferung von Jeſus auf. Will er von ihm lernen, ſo muß er wie der Gelehrte den echten Jeſus fo gut wie moͤglich aus der Überlieferung erſt herausſchaͤlen.

Cbriſtoph Schtemyf 379

Dazu benutzt er aber ein anſcheinend völlig unwiſſenſchaftliches Mittel. Er uͤberlegt ſich: kann ein Menſch, der dies geſagt hat, gleichzeitig auch jenes geſagt haben. Er geht alſo aus von der Einheit der Perſoͤnlichkeit und dem Stil der Perſoͤnlichkeit und findet in dieſer Stilreinheit das ſicherſte Kriterium zur Beurteilung, ob die betreffende Perſoͤnlichkeit einen Gedanken ausgeſprochen haben kann oder nicht. Aber das ſetzt voraus, daß ein Menſch von dem Sinn ausgeſprochener Worte, von der Einheit einer Perſoͤnlichkeit, von ſich aus weiß. Wie will ein Menſch etwas von einer Perſoͤnlichkeit, die geſagt hat, eure Rede ſei ja, ja, nein, nein von innen her verſtehen, der ſelbſt mit einem ſolchen Wort noch nie wirklich Ernſt gemacht hat? Wie will ein Menſch eine Perſoͤnlichkeit, die als wich; tigſtes die Sorge um die Seele bezeichnet hat, von innen her verſtehen, dem diefe Sorge nicht ſelbſt Mittelpunkt feines Lebens geworden iſt? Solche Gelehrſamkeit kann man ſich nicht anſtudieren. Sie kann einem hoͤchſtens ſo nebenbei zufallen. Und Schrempfs Gelehrſamkeit iſt ihm nebenbei zugefallen, weil er durch ſein Schickſal in dieſe Not hinein⸗ gezogen wurde und ſich hat hineinziehen laſſen.

Dadurch wurde fie ihm zum Seil. Aber damit haben wir ſchon vor- gegriffen. |

Das, daß Schrempf aus feiner Arbeit entlaſſen wurde, hatte zunaͤchſt eine ganz andere Wirkung. Er war jetzt frei, frei wie der Vogel. Aber dieſe Freiheit auf geiſtigem Gebiet kann ſehr gefaͤhrlich ſein. Es kann auch der Salt, den die Denkweiſe der Gemeinſchaft dem Denken eines menſchen unwillkuͤrlich gewaͤhrt, genommen werden und dadurch koͤnnen die Zweifel, die in einem Menſchen ſind, ſich ins Bodenloſe erweitern. was iſt es denn mit dieſem Suchen nach einem unbedingt verpflichtenden Geſetz, was iſt es mit dieſer Wuͤrde des Menſchen, was iſt es mit dieſem Glauben, daß hinter allem eine Macht der Liebe ſteht? Iſt es nicht Wahn? Iſt die Wahrheit, die Wirklichkeit nicht etwas ganz anderes?

Wir verlaſſen den abgeſetzten Pfarrer, in dem die wirtſchaftliche Not, die bittere Enttaͤuſchung eines aus edlen Motiven aufgenommenen Kampfes, die große Einſamkeit, in die er dadurch hineingeſtoßen wurde, den Reſt an Glauben anzufreſſen und zu zerſtoͤren droht. Wir uͤberſchlagen, was er an kleineren Schriften in dieſer Zeit veroffentlicht und ſpringen ſofort über zu der erſten großen Schrift, die er neun Jahre ſpaͤter (vierzig · jaͤhrig) veröffentlichte und die den Niederſchlag all dieſer Kämpfe bildet. Es iſt die Schrift: Menſchenlos. Siob, Ödipus, Jeſus, homo sum (Ver- lag Frommann, Stuttgart).

Das Buch beginnt mit einer ganz anderen Stimmung als wir ſie aus der Schrift uͤber die chriſtliche Weltanſchauung und Kants ſittlichen Glauben kennengelernt haben. Wir koͤnnen dieſe Stimmung, das Reſultat eines langen ZJerſetzungsprozeſſes, nicht beſſer deutlich machen als durch wiedergabe eines kleinen Abſchnittes aus dem Praͤludium. (In der Art,

380 S. Staͤbler

wie wir einzelnes durch Sperrdruck hervorheben, folgen wir weder hier noch an anderer Stelle den Griginalen, da die Zitate ja aus ihrem Zu⸗ ſammenhang herausgeriſſen ſind.)

„IR mir ein Leben aufgedraͤngt (in dem ſchrecklichen Maße a d daß ich ſogar leben wollen muß), ein Leben, das mich als Ganzes ab⸗

oͤßt: fo kann und will ich mich keinem einzelnen Reiz, den es hat, inner⸗ lich hingeben. Und daß ich die einzelnen Reize doch fühlen muß, als Reize, die mir ſchmeicheln, die mich taͤuſchen, das wirkt auf mich in meinem allgemeinen Elend nur als bitterer Sohn. So verſtehe ich mich in den Einzelgenuͤſſen des im ganzen ſchweren, aͤngſtigenden, haͤßlichen Lebens.“

„Aber daß ich nicht bloß leben, ſondern leben wollen muß, daß mir, bei meiner gruͤndlichen Verſtimmung gegen das Daſein, doch vor dem Tode graut: ſollte dieſe peinliche Paradoxie nicht darauf hindeuten, darauf beruhen, daß das Leben gerade als Ganzes gut iſt? Daß es mir des⸗ halb aufgedraͤngt werden durfte, weil es unbedingt lebenswert iſt? So daß man ſich auch dem Einzelreize des Lebens hingeben duͤrfte ohne ſich zu beſchimpfen, weil auch er nicht luͤgt, weil er nicht ein Schoͤnpflaͤſterchen iſt auf einem haͤßlichen Ganzen, ſondern nur ein beſonderer, leichter ins Auge fallender Zug in der allgemeinen Schoͤnheit des Lebens!

O, wie mich dieſe Ahnung ſchon befeligte! Und wie es mich ſchon aͤngſtete, daß ich doch ihre Wahrheit einmal erproben muß bewähren oder zerſtoͤren! Daß ich einmal niederſteigen muß in die tiefſten, ſchrecklichſten Tiefen menſchlichen Daſeins, um dort meine in⸗ ſtinktive Anhaͤnglichkeit an das Leben, deren ich mich jetzt faſt ſchaͤme, entweder entſchloſſen abzutoͤten, oder zu einer ihres Sinnes bewußten Freude am Leben zu ſteigern n“

Begleiten wir Schrempf auf dieſer Entdeckungsreiſe, auf der er Tat- ſachen feſtſtellt und über fie reflektiert. Er beginnt fie bei Siob.

Siob iſt als ſchuldlos gottesfuͤrchtiger Mann uͤber Nacht in graͤßliches Elend geſtuͤrzt worden. Mit dieſer furchtbaren Tatſache muß er ſich aus einanderſetzen. Sie tut auch ſofort ihre wirkung. Denn dieſes Elend gibt Siobs „urſpruͤnglich empfindendem, durch eine fromme Dreſſur unter druͤcktem Serzen die Serrſchaft über ihn zuruͤck“.

Siob entdeckt nun, daß es mit ſeiner fruͤheren Anſchauung von Gott nichts iſt. Gottesfurcht ſchuͤtzt nicht vor hoffnungsloſem Elend. Ein ſolches Leiden kann er aber nicht als Strafe auffaſſen; er weiß doch, daß er ſtets ohne Falſch gegen Gott war, jedenfalls nichts getan hat, was eine ſo grauſame Behandlung durch Gott rechtfertigte. Ubrigens ſelbſt, wenn er das getan haͤtte: rechtfertigte das dann „diefe raffinierte Quaͤlerei“? „Das Verhaͤltnis zwiſchen Gott und Menſch iſt alſo gar nicht der Art, daß die Begriffe Recht und Macht, Schuld und Strafe, Empoͤrung und Unter⸗ werfung darin einen Sinn hätten.” „Aneinem unbedingt uͤbergeordneten Wefen kann ſich ein unbedingt untergeordnetes Weſen nicht verſchulden.“

Ehriftopb Schrempf 381

Aber worin ſoll dann der Sinn des Verhaͤltniſſes zwiſchen Gott und dem Menſchen, das in dieſem ſchrecklichen Leiden zum Ausdruck kommt, liegen? Menſchen koͤnnen Siob keine Antwort geben, alſo muß er Gott ſelbſt fragen. Darf er das? „Darf das Gebilde den Bildner fragen: warum haſt du mich gerade fo gemacht? Ja! das empfindende Gebilde, für das es eigene, ernſte Cebensfrage iſt, wie es gemacht, behandelt, ob und wie es in dem Leben, das es leben wollen muß, erhalten wird es muß ſo fragen.“ „Sagen wir es, aller Schweifwedelei gegen Gott zum Trotz keck heraus: ſicherer als das Recht des Schöpfers an das Geſchoͤpf, das ja nicht leben wollte, das zum Zeben einfach beſtimmt wurde, ſteht das Recht des Geſchoͤpfes an den Schöpfer, der es in feiner Willkůr leben hieß.

Das Schickſal Siobs draͤngt zur Frage: „aus welchem guten Gedanken heraus konnte Gott, indem er Siob zu ſchaffen beſchloß, zugleich beſchließen, daß er ihn dieſer Qual ausliefere?“

Eine Antwort auf dieſe Frage gibt und kann der Dichter des Siob nicht geben. Nur das iſt aus Siobs Geſchick noch deutlich, daß Siob erſt durch fein Leiden von dem Gott der Tradition zu dem wirklichen Gott ge führt wurde. Sollte darin der Sinn feines Leidens liegen?

Siob war „unſchuldig “. Aber gibt es uberhaupt ſchuldloſe Menſchen? Wie iſt es mit den Schuldigen und weil ſchuldig Leidenden? Sophokles hat dem ſchuldig Leidenden in „Odipus“ zum wort verholfen, der, ob⸗ gleich vom Grakel gewarnt, feinen Vater, den er nicht kannte, erſchlug, feine Mutter, die er nicht kannte, heiratete, vier Binder von ihr bekam, ſeine Verbrechen entdeckte, vor Entſetzen daruͤber ſich ſelbſt die Augen ausſtach und als blinder Bettler ſtarb.

„Bis zu dem Punkt, da Odipus in ſelbſtmoͤrderiſcher Leidenſchaft ſich blendet, iſt er der Typus dafür, wie der Menſch ins Leben hineingefuͤhrt wird.“ Er, der Menſch muß, das iſt der Schickſalsbeſchluß, der uͤber dem Menſchen ſteht, ſchuldig werden. Denn „der Menſch muß leben. Und für den einen Menſchen iſt der andere ganz objektiv, unabhaͤngig von ſeinem Sinn und Willen, einerſeits Sindernis, andererſeits Mittel, ſich auszu⸗ leben. Als Sindernis und Mittel fremden Lebens behandelt zu werden, empfindet aber die menſchliche Perſoͤnlichkeit als Mißhandlung. Alſo: der Menfch muß den Menſchen miß handeln.“ Das iſt feine Schuld. Denn der Menſch vollzieht dieſe Verſuͤndigung, das iſt wieder Schickſalsbeſchluß, mit dem Bewußtſein der Freiheit. Er erkennt ſtets aus der durch die Tat geſchaffenen Wirklichkeit heraus, daß er eine andere Möglichkeit wählte, als die er waͤhlen ſollte, alſo auch waͤhlen konnte. Die von ihm begangene Schuld muß er endlich, das iſt wieder Schickſalsbeſchluß, auch an ſich ſelbſt raͤchen: er zerfleiſcht ſich ob dieſer Schuld ſelbſt. „Der ganze Apparat des menſchlichen Süblens, Denkens, Wollens iſt hoͤchſt ſinnreich darauf eingerichtet: daß der Menſch ſich ſelbſt quaͤlen ſoll.“

Aber der Dichter des Odipus zeigt nicht nur, wie der Menſch, jeder

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menſch, ins Leben hineingefuͤhrt wird. Er zeigt uns auch einen Odipus, der ſich aus dem Leben herausgearbeitet hat. Wie gelangt der mit ſich ſelbſt, mit den Menſchen, mit den goͤttlichen Maͤchten zerfallene Odipus zur inneren Ruhe?

Odipus gewinnt feine Unſchuld wieder zurück. „Nicht durch Reue, nicht durch Buße, nein, dadurch, daß er die Reue als eine Unwahrheit abwies“, daß er die Verantwortung für fein Leben ablehnt. Denn um die Verantwortung für fein Leben ubernehmen zu konnen, „müßte des Lebens Gang dem wirklichen gerade entgegengeſetzt verlaufen: es müßte mit der Klarheit, dem Wiſſen, der Freiheit beginnen.“ Aber es beginnt im Traum, mit der Bewußtloſigkeit, Unwiſſenheit und Unfreiheit, keine Entſcheidung hat je die Bedeutung eines ganz neuen Anfangs. Der Menſch lebt in Wirklichkeit nicht, ſondern wird gelebt.

Aber ſelbſt, wenn Siob in feiner Unterredung mit Gott, wenn Ödipus in feiner. Unterredung mit den Erinnyen zu einer pofitiven Erklaͤrung uͤber den Sinn ihrer Leiden gekommen waͤren, voͤllig unklar bliebe doch: „was ihres ferneren Lebens Inhalt fein wird.“ Dieſe Frage führt zu Jeſus. Jeſus iſt in der Bußtaufe, der er ſich natuͤrlich nicht nur pro forma unterzog ein Jeſus tut nichts pro forma die Offenbarung zuteil geworden, daß er ja ſchon der liebe Sohn iſt, an dem Gott ſein Wohlgefallen hat. Damit hat er ſich und den Menſchen uberhaupt den Frohſinn, die Unſchuld wiedererobert. Alſo war die einzig mögliche Auf⸗ gabe für ihn von da ab: „Die andern zu neuem Leben in Frohſinn und Unſchuld zu führen.“ Sein Evangelium aber iſt: „Seil euch, die i hr leidet, denn gerade ihr ſollt ſelig werden.“ „Beſteht die Seligkeit darin, daß der Menſch die Sorge fuͤr ſich ſelbſt dem Vater uͤberlaͤßt, ſo muß der menſch, um ſelig zu werden, es erſt verlernen, daß er für ſich ſelbſt ſorgen will.“ Das lernt er aber eben dadurch, daß alles Sorgen ihn immer nur in Leiden und Verſchuldung hineinverſtrickt.

Sat der Vater die Sorge für den Menſchen, fein Kind, ſich vorbehalten, ſo iſt alles, was geſchieht, Gottes Tat. Damit iſt die Sorge als Motiv der Arbeit außer Kraft geſetzt und die Moͤglichkeit geſchaffen, daß ſich der natürliche Zug des Menſchen zum Menſchen als feinem Blutsver⸗ wandten geltend macht. Zwiſchen Gott und dem Menſchen, dem Vater und dem Kind, kann aber auch kein Vertragsverhaͤltnis beſtehen. Damit faͤllt, wie aus dem Verhaͤltnis des Menſchen zu Gott, ſo auch aus dem Verhaͤltnis des Menſchen zum Menſchen der Gedanke der Schuld aus. Der Sinn der Suͤnde kann dann nur noch ſein, daß ſie „zum peinlichen, inneren Zwieſpalt geworden, die maͤchtigſte Triebkraft in der Ent⸗ wicklung der Menſchen iſt.“

Aber Jeſus konnte das Leiden nicht aus der welt ſchaffen. Er konnte nicht Befreiung vom Druck geben, ſondern nur frohen Sinn unter dem Druck. Dadurch trat bald eine Scheidung unter ſeinen Bewunderern ein.

Chriftopb Schzempf 383

Sie wurde verſchaͤrft dadurch, daß auch feine naͤchſten Freunde ihre Rech; nung darauf ſtellten, er werde das uͤberlieferte Ideal eines Königs nach der Weiſe Davids erfuͤllen. Das aber, daß „das Leben, das er darbietet, das echte goͤttliche Leben, von den Menſchen, die feiner fo dringend be⸗ duͤrfen, zum Teil als bloße Unterhaltung genommen, zum Teil kuͤhl ab⸗ gelehnt, zum Teil geradezu bekaͤmpft und verhoͤhnt wurde, das hatte er ſich nicht in Rechnung genommen.“

Der entſetzliche Druck, der für Jeſus darin lag, daß er ein Leiden durch⸗ leiden mußte, das weder Siob noch Odipus kennengelernt hatten: das Leiden um der Serechtigkeit willen, daß er alſo dafür, daß er den Menſchen Evangelium, das beſte und hoͤchſte, was es gibt, brachte, daß er gerade dafuͤr leiden mußte, das noͤtigte ihn am Kreuz „Gott wieder herauszufordern, ihm Rechenſchaft abzuverlangen über die Ab⸗ ſurditaͤt des Weltlaufs “. Und es wurde ihm eine Antwort „wie jedem, der ſich durch Gott drängen läßt, Gott zur Rede zu ſtellen “. Aber „welche Ant wort Jeſu auf fein ſchreckliches: Warum? fein „Warum haſt du mich ver⸗ laſſen? wurde,“ wiſſen wir nicht. „Er hat ſie mit ſich ins Grab ge⸗ nommen.“

Im vierten Abſchnitt des Buches homo sum, „ein Schema, zu paſſen⸗ der Ausfuͤllung mit dem Material des eigenen Lebens jedermann dar- geboten“, nimmt Schrempf die an Siob, Ödipus, Jeſus illuſtrierten Probleme des menſchlichen Lebens noch einmal auf, um fie mehr im Zu⸗ ſammenhang darzuſtellen und zu erweitern.

„Ich lebe nicht, ich werde gelebt.“ Und es iſt ein hoͤchſt ſonderbares Leben, das der Menſch gelebt wird, ein Leben, das weſentlich Leiden iſt, ein Leben, das unausweichlich den Menſchen ſchuldig macht.

Wem diefe feine Situation als Menſch zum Bewußtſein kommt, dem verändert ſich langſam der Anblick des Lebens.

„Die Wahrnehmung, daß ich unwiderſtehlich gelebt werde, hat mich mein Leben erſt recht als mein Leben empfinden laſſen.“ „Zugleich aber loͤſte mich die Wahrnehmung, daß ich doch nur gelebt werde, von mir los, ſtellte mir mein Leben als etwas Gbjektives gegenüber.” „So wurde ich zugleich ganz ſubjektiv und hoͤchſt objektiv zugleich ein Ich und ein Ding.“

Die daraus entſtehende Spannung aber draͤngt immer mehr dazu, ſich der Macht, von der der Menſch gelebt wird mit der ſcharfen Frage gegen⸗ uͤberzuſtellen: was denn das alles heißen folle.

„Ich habe bis jetzt keine Antwort erhalten“, „aber kann ſie mit der Antwort warten, ſo kann ich auf meiner Frage beharren.“ Inzwiſchen aber hat man zeit, ſich zu beſinnen.

Da faͤllt erſtens einmal der „ungeheure Verſtand“ auf, der in der Ein⸗ richtung des Lebens ſteckt. Rönnte nicht die „von mir unmittelbar emp⸗ fundene Unbehaglichkeit des Daſeins im 3 ufammenbange des

384 F. Staͤbler, Chriſtoph Schrempf

Zebens, den ich freilich nicht ſehe, einen anderen, ja gerade den entgegen⸗ geſetzten Sinn haben?“

„Sodann konnte ich mit dem Neſultat meiner bisherigen Entwicklung, ſeltſamerweiſe, eigentlich nicht unzufrieden ſein. Die geſperrte Stellung zum Daſein, die ich einzunehmen gezwungen worden war, gewaͤhrt eine eigentuͤmliche Ruhe, einen ſeltſamen Genuß feiner ſelbſt. Behaglich iſt ſie nicht; das iſt wahr: es friert mich manchmal. Trotzdem moͤchte, koͤnnte ich mit keinem Zeugen menſchlicher Behaglichkeit, auch nicht mit der Un⸗ ſchuld kleiner und großer Kinder tauſchen. Nein! Ich bin, der ich binn Auch dieſe ſeltſame Stimmung verſtehe ich eigentlich nicht; aber ſie iſt eine Wirklichkeit in mir.“

„Indem ich dieſe konſtatierte, kam mir die alte Sage in Erinnerung, daß die Macht, von der der Menſch mit der ganzen welt gelebt werde, Liebe ſei. Eine ſonderbare Liebe; denn fie entſpricht gar nicht meinem gefuͤhlsmaͤßigen Bedürfnis nach Liebe. Wenn aber dies Refultst meines Lebens, das ich doch nicht verwuͤnſchen kann, ein Ziel dieſer Liebe geweſen ſein ſollte? „Alſo muͤßte ich mich zunaͤchſt nur darein finden, mit einer Liebe geliebt zu werden, die ich nicht verſtehe. Alſo dürfte ich nur den Gedanken wagen, daß die Unverſtaͤndlichkeit dieſer Liebe aus ihrer Groͤße fließe, in der Höhe ihrer Abſichten begründet ſei. Alſo müßte ich, um mein Leben zu verſtehen, es von der Vorausſetzung aus be⸗ trachten, daß es gerade fo, wie es wurde, von der Liebe beſtimmt wor- den ſei.“

Unter dieſer Idee als einem Schluͤſſel zum Verſtaͤndnis des raͤtſelhaften Lebens ruckt alles wieder in neue Beleuchtung. Erſt durch die durch das Leben hervorgerufene Sproͤdigkeit gegen die Macht, die einen lebt, bin- durch kann die „rechte, große Liebesleidenſchaft“ ſich losringen. Nur unter dem Ernſt, in den einen das raͤtſelhafte Leben hineinſtoͤßt, kann ſich im Menſchen das langſame Seranwachſen eines zweiten Ichs durchſetzen. Nur wer in allem Sandeln der Menſchen untereinander und gegeneinander das Gelebtwerden entdeckt hat, dringt erſt zur wahren Schoͤnheit menſchlicher Beziehungen vor, denn er erkennt, daß die Men⸗ ſchen gegenſeitig ib Schick ſal find. „So lange die Menſchen ihren Wert füreinander nach ihren Zeiſtungen gegeneinander beſtimmen zu muͤſſen glauben, behaͤlt ihr Verhaͤltnis zueinander etwas Geſchaͤftliches, Unfeines, Schmutziges. Anders, wenn fie ſich in Luft und Schmerz, als ihr Schickſal erkennen, als die zeitliche Form ihres Gelebtwerdens.

Was kann nun für den Menſchen, der gelebt wird, der Inhalt feines Wollens werden, da er doch gar nicht anders, denn als wollend leben kann? Er ſoll ſich leben laſſen. Das Leben ſorgt ſchon dafür, fo iſt es ja in feiner Kaͤtſelhaftigkeit eingerichtet —, daß der Menſch immer etwas zu verarbeiten bekommt. Dem ſoll er ſich hingeben: „Ich habe nie mehr zu denken, zu tun, als wenn ich keine Vorſaͤtze habe. Der Anreiz, mir Vor.

Sermann Seller, Arbeit und Bildung in der Arbeiterbewegung 385

ſaͤtze zu machen, ſtellt ſich immer nur dann ein, wenn der echte Wille zur Tat mir ſpaͤrlicher zufließt. Statt mich der Muße zu erfreuen, die mir ſo gewaͤhrt wird, glaube ich dann ſelbſtherrlich handeln zu ſollen —, um meine ſelbſtherrlichen Beſtimmungen, als untauglich, nachher regelmaͤßig wieder aufgeben zu muͤſſen. (sin abſchließ. Auffatz folgt im naͤchſten Sefte)

Hermann Heller / Arbeit und Bildung i in der Arbeiterbewegung*

-I Grundſaͤtzliches

nſere volkshochſ chulbildungs literatur hat in zahlloſen mehr oder minder geiſtreichen Aufſaͤtzen jenes Wort Wilhelm von Sumboldts einer Paraphraſierung und Interpretierung unterzogen, wonach Bildung etwas fein muͤſſe, was „den ganzen Menſchen in allen feinen Nraͤften und allen feinen Außerungen umfaßt“. Daß ein ungemein we ſentlicher Beſtandteil in der Erlebnistotalitaͤt des Arbeiters ſeine Arbeit iſt, daß alſo Arbeit und Bildung in einer ernſten Arbeiterbildung irgendwie und irgendwo in Bezug geſetzt werden muͤſſen, haben eben jene Volksbild⸗ ner ausnahmslos mit dem Sinweis auf die Bildungsunwirkſamkeit des mechaniſierten Arbeiterberufes endgültig erledigen zu konnen gemeint. Zu; gleich waren es aber eben dieſelben Bildungsſchriftſteller, die ſchneidige Attacken gegen den Waren hauscharakter der traditionellen „allgemeinen Bildung“ ritten. Man will alfo weder eine berufsbezogene, noch eine All gemein ⸗Bildung und erſt recht will man keine weltanſchaulich gebundene oder gar parteibezogene Bildung. Nachdem man alſo immer nur geſagt hatte, was man nicht wolle, hilft man ſich heute über das Manko pofitiver Jielſetzungen mit der theoretiſch nichtsſagenden und praktiſch noch belang-

loſeren, dekorativen Sentenz: Volksbildung muͤſſe Volk Bildung fein, Die Ablehnung einer notwendig verflachenden intellektuellen Univerſali⸗ tät iſt ſelbſtwerſtaͤndlich berechtigt. Ebenſo iſt die Ablehnung eines berufs. ſpezialiſtiſchen Bildungszieles fuͤr die Arbeiterbildung noch weit begrün- deter, als für alle anderen Berufszweige. Die von der bolſchewiſtiſchen Ar⸗ beiterbildung oft geaͤußerte Meinung, der Proletarier muͤſſe deswegen in ein tieferes Verſtaͤndnis feiner Spezialarbeit eingeführt werden, um ſich fo als notwendiges Kaͤdchen im Geſamtmechanismus der Produktion kennen und ſchaͤtzen zu lernen, iſt als Zielgedanke innerhalb der kapitaliſtiſchen Wirtſchaft (lauch im heutigen Rußland) ſicherlich falſch. Noch unendlich viel falſcher iſt es aber, die Arbeit neben der Arbeiterbildung beziehungslos einherlaufen zu laſſen. Solange dieſe grundſaͤtzliche Ignorierung ſtatthat, wird der Proletarier mit Recht von einer „bürgerlichen“ Volksbildung » Diefer Aufſatz mußte wegen Platzmangel im letzten Arbeiterbildungs ſonder⸗ Heft zuruͤckgeſtellt werden. (Leit.) Lat xm ö 2

386 Sermann Seller

ſprechen dürfen. Denn genau fo, wie der buͤrgerlich⸗kapitaliſtiſche Staat, und zwar gerade als Demokratie, vom Arbeiter nur den abſtrakten Teil- inhalt „Staatsbuͤrger“ zur Kenntnis nimmt, den Arbeiter als Arbeiter aber ignoriert und bis vor kurzem die Arbeitsordnung gänzlich dem Privat; recht uͤberließ, ebenſo will die buͤrgerliche Volksbildung unter Ignorierung des beſonderen Arbeiterlebens nur die „allgemeinmenſchlichen Anlagen dieſes Arbeiters bilden. Sicherlich darf keine wahre Bildungsarbeit von einem unmittelbaren ſozialen Utilitarismus abhaͤngig werden; ſie darf aber noch viel weniger ſozial unfruchtbar werden, wie dieſe bürgerliche Volksbildungsarbeit.

Dem gegenuͤber gilt es mit allem Nachdruck feſtzuſtellen: entweder ge⸗ lingt es, die beſondere proletariſche Cebenswirklichkeit zu einer eigenftän- digen Arbeiterkultur zu entwickeln oder aber man ſchaltet dieſe Berufs⸗ und Lebenswirklichkeit aus, fuͤttert den Arbeiter mit den Objektivationen einer ihm fremden Kultur und erzeugt Mißgeſtalten. Daß es dieſe prole⸗ tariſche Kultur heute nicht gibt, wiſſen wir alle. Daß es aber ohne dieſe Geſtaltwerdung des Proletariats, in die auch fein Beruf irgendwie einge gangen fein muß, uberhaupt keine Zukunftskultur geben kann, vermögen ſich nur wenige klar zu machen.

Die Einbeziehung des Berufes in die Arbeiterbildung dat auezugehen von der (übrigens in den verſchiedenen Berufen in ſehr verſchiedenem Maße) gegebenen Mechaniſierung der Handarbeit einerfeits und von dem im Arbeiter lebendigen Umgeftaltungswillen feiner Arbeitsordnung an- dererſeits. Sie wird nicht Spezialiſten ausbildung, ſondern Weſensbildung anſtreben, indem fie an die bildungs wirkſamen Elemente des Arbeitserleb⸗ niſſes anknuͤpfend, dieſe als Bezugspunkte verwertet zum Aufbau der ber ſonderen geiſtigen Welt des Proletariers. Daß es ſolche Bezugspunkte im heutigen Arbeitserlebnis uberhaupt nicht gäbe, iſt unrichtig und darf zu⸗ mindeſt ſo lange nicht behauptet werden, als noch nicht der geringſte Ver⸗ ſuch gemacht wurde, fie in einer Arbeitsſchule des erwachſenen Sandarbei⸗; ters auch nur zu ſuchen, geſchweige denn praktiſch zu verwerten. Gerade weil heute der größte Teil der wirtſchaftlichen Guͤterherſtellung mechani ſiert iſt, geht er durch die Sand des Proletariers und vermittelt ihm ge⸗ nuͤgende, wenn auch zunaͤchſt nur intellektuelle Erlebniſſe, die als An⸗ knuͤpfungspunkte für eine geſellſchafts · und kulturkundliche Bildungs arbeit dienen konnen und dienen muͤſſen. Dieſe Schule der Arbeit haͤtte fo- mit als ihre vornehmſte Aufgabe das berufliche Arbeitserlebnis im Betrieb auszuwerten zum allgemeinen Verſtaͤndnis des geſellſchaftlichen Zuſam ; menlebens und feiner Zultur. Vom Mikrokosmos des Betriebes aus- gehend ſoll fie zum Makrokosmos der Geſellſchaft führen. Wenn in der ſubjektiven Erlebniswirklichkeit des Proletariers die objektive Kultur er⸗ halten, umgeſtaltet und neugeſchaffen werden foll, fo darf die Arbeiter- bildung nicht wie bisher, ausſchließlich von der beſonderen Erlebniswelt

Arbeit und Bildung in der Arbeiterbewegung 387

des Beiftesarbeiters ausgehen, ſondern muß ſich auch auf der fpezififchen Erlebnisgrundlage des Sandarbeiters aufbauen.

Im engſten Anſchluß an den Betrieb würde das Berufserlebnis zunaͤchſt einmal für die Erkenntnis der Wirtſchaft auszuwerten fein. Die Fragen nach der Herkunft der verſchiedenen Rohſtoffe, ihrer wirtſchaftlichen und politiſchen Bedeutung, nach dem Abſatz der Fertigfabrikate, nach der man⸗ nigfachen Bedeutung der jetzigen Arbeitsordnung ſind allein in einer ſolchen, dem Betrieb angegliederten Arbeitsſchule anſchaulich und erleb⸗ nisnah zu erörtern. Das Zuſammenleben im Betrieb wirft aber auch alle anderen Probleme der Vergeſellſchaftung auf, angefangen von der Fami⸗ lie über Gewerkſchaft und Partei zum Staat und uͤberſtaatlichen Leben. Notwendigkeiten und Möglichkeiten einer heutigen und kůͤnftigen Ger ell- ſchaftsordnung werden fo am Berufserlebnis lebendig.

Utopiſtiſcher Radikalismus wird an dieſen praktiſchen Erlebniſſen feine ſicherſte Korrektur erfahren. Zugleich muß ſich aber dieſe Schule der Arbeit es angelegen ſein laſſen, die unumgaͤnglichen Forderungen der heutigen Wirtſchaft in Einklang zu bringen mit der Forderung, die kulturſchoͤpfe⸗ riſchen Kräfte im Arbeiter zu erhalten. Die Schule wird den gewiß ſehr ſchwierigen Verſuch machen muͤſſen, die ſteigende Rationaliſierung der Be⸗ triebsfuͤhrung zur Erzielung techniſcher Soͤchſtleiſtungen in Einklang zu bringen mit den Forderungen einer rationalen Menſchenoͤkonomie. Der ſozialiſtiſche Umgeſtaltungswille des Arbeiters wird auf dieſem praktiſchen Wege am eheſten zu einer neuen Arbeits form und Arbeitsordnung erzogen werden.

Das Zuſammenwirken von Betrieb und Schule kann und muß aber auch in einer Neugeſtaltung der allgemeinen Lebensform fruchtbar werden. Den handgearbeiteten Geraͤten nachzutrauern, iſt eine Sentimentalitaͤt, die der Vergangenheit angehören muß. Die Gegenwart hat die zweckrational und aͤſthetiſch unzulaͤngliche Maſchinenarbeit zu betrauern. Aufgabe der Jukunft iſt eine neue Formgebung, die der Maſchinenarbeit angepaßt, ihre Serkunft nicht verleugnet, ſondern zum buͤndigſten Ausdruck bringt. Dieſes aͤſthetiſche Erziehungsziel, dem die Erfahrungen des Deſſauer Bauhauſes zugute kommen werden, iſt ebenſowohl in einer Schule, die einer Automo⸗ bil, oder Maſchinenfabrik angegliedert iſt, zu erreichen, wie in der Arbeits ſchule einer Fabrik, die Kleider, Möbel, Saushaltungsgegenſtaͤnde uſw. herſtellt. Von hier aus wird das Kunſterlebnis des Arbeiters auf viel ech terem und produktiverem Wege geweckt werden, als es heute durch Vor⸗ träge und Lichtbilder geſchieht. Weil an jedem Punkte um das Ganze ge- kaͤmpft wird, muß das Zuſammenleben in der Fabrik und im Seim der Ar⸗ beitsſchule, ausgehend von den berufsethiſchen Problemen, auch zu den letzten Fragen des Geiſtes und der Seele fuͤhren. 5

Der Plan einer ſolchen Schule der Arbeit, die der deſonderen Berufs und Bildungs Situation des Großſtadtarbeiters Rechnung trägt, war bereits

26

388 Sermann Seller

im Jahre 1922 vom Volksbildungsamt der Stadt Leipzig erörtert wor- den“. Im Srübjabr 1923 waren die Beſprechungen fo weit gediehen, daß die Moglichkeit der Verwirklichung nahegeruͤckt ſchien. Der völlige Ju⸗ ſammenbruch unſerer Währung, der damals eintrat, machte dieſen ſowie viele andere Plaͤne zu nichte. So traurig auch unſere gegenwaͤrtige Wirt; ſchaftslage ſein mag, dieſe Form der Arbeiterbildung erſcheint uns doch ſo wichtig und dringend, daß nicht nur gegenwaͤrtig ein neuer Verſuch ge⸗ macht wird, eine ſolche Schule der Arbeit in Sachſen zu verwirklichen, fondern der Plan auch einer weiteren Gffentlichkeit unterbreitet werden ſoll. Wie eine Schule der Arbeit, die einer Fabrik für Saushaltungsgegen⸗ ſtaͤnde angegliedert wäre, im einzelnen ausſehen ſoll, wird auf den folgen- den Seiten gezeigt, die einer von Gertrud Hermes ausgearbeiteten Denk⸗ ſchrift entnommen find. Selbſtwerſtaͤndlich laͤßt ſich der Verſuch auch in kleinerem Umfange unternehmen, z. B. durch Angliederung der Schule an die Reparaturwerkſtaͤtte eines Großunternehmens.

II Die Grganiſation des Ganzen

Nie Schule der Arbeit beſteht aus einer Fabrik von mindeſtens Joo Ar-

beitern und einem Seim. Die Fabrik arbeitet als ein in ſich feſt ge⸗ ſchloſſener Betrieb. Etwa / der Belegſchaft keftebt aus ſtaͤndigen Arbei- tern, die 8 Stunden arbeiten und für dieſe 8 Stunden den tariflichen Stun; denlohn bekommen. / der Belegſchaft wechſelt alljaͤhrlich. Dieſes Drittel bildet die Schuͤlerſchaft (Alter 20—25 Jahre). Die Schüler arbeiten nur 6 Stunden und erhalten fuͤr dieſe 6 Stunden ebenfalls den tariflichen Stundenlohn, fo daß Leiſtung und Entlohnung bei allen Arbeitern der Fabrik in gleichem Verhaͤltnis ſteht und nicht etwa die Vollarbeiter irgend⸗ ein Opfer für das Ganze zu bringen haben. Aus ihrem Lohneinkommen beſtreiten die Schüler gemeinſam ihren Unterhalt in einem zu errichtenden Seime. Die Geſchaͤftsfuͤhrung des Seimes iſt von derjenigen der Fabrik vollkommen getrennt.

Die Schule der Arbeit, alſo Fabrik und Seim als gemeinſames Unter⸗ nehmen, wird gegründet in der Form der G. m. b. 5. Das Unternehmen wird nach den Normen einer G. m. b. 5. organiſiert und verwaltet, fo daß den Geſellſchaftern, alſo den Kapitalgebern, der maßgebende Einfluß auf die Fuͤhrung des Ganzen rechtlich geſichert iſt. Das Unternehmen hat 2 lei⸗ tende Organe:

I. den Aufſichtsrat 2. den Vorſtand.

In dem Aufſichtsrat wird den Geſellſchaftern der entſcheidende Einfluß zahlenmäßig ſichergeſtellt (etwa ;/ der Mitglieder). Daneben haben An- geſtellte, Schuͤler und Vollarbeiter ihre Vertretung. Die Mitglieder des

Vgl. Seller u. a. Freie Volksbildungsarbeit, Verlag der Werkgemeinſchaft Leip⸗ zig, Roßſtr. 18.

Arbeit und Bildung in der Arbeiterbewegung 389

Aufſichtsrates find zur einen Hälfte aus den Kreiſen der Sachverſtaͤndigen der Induſtrie oder ſonſtiger im Wirtſchaftsleben erfahrener Perſonen, wie ſie in jedem Aufſichtsrat vertreten ſind, zu entnehmen; die andere Saͤlfte ſetzt fi) aus Männern oder Frauen der volksbildneriſchen Praxis zuſam · men. Den Vorſitz führt eine in der Volksbildungsarbeit praktiſch erfahrene Derfönlichfeit, deren Stimme auch bei Stimmengleichheit den Ausſchlag gibt. Die naͤheren Beſtimmungen uͤber wahl, Ausſcheiden und wieder; wahl der Mitglieder bleiben offen.

Der Auffichterat ernennt und entlaͤßt die Geſchaͤfts führer, die ihm ver⸗ antwortlich find, ihre Geſchaͤftsfuͤhrung jedoch ſelbſtaͤndig ausuͤben. Er hat in ſtaͤndiger Fuͤhlung mit dem Unternehmen zu bleiben, es durch Rat und Tat zu fördern. Ihm ſtehen noch weiter zu beſtimmende Rontroll rechte zu. Fuͤr ſeine Muͤhewaltung wird er in einem zum Reingewinn an⸗ gemeſſenen Verhaͤltnis entſchaͤdigt.

Der Vorſtand beſteht zu gleichen Teilen aus den Geſchaͤftsfuͤhrern, welche die Fabrik leiten, und den Lehrern der Schule. Letztere werden von den öffentlichen Rörperfchaften ernannt, die die Gehaͤlter zahlen. Die Geſchaͤfts · fuͤhrer ſind kaufmaͤnniſch und techniſch gebildete und erfahrene Fachleute. Sie fuͤhren den Betrieb in techniſcher und kaufmaͤnniſcher Sinſicht ſelb⸗ ſtaͤndig. Der techniſche Zeiter muß ein Mann von volkepaͤdagogiſcher Ein · ſicht fein. Er muß die Bildungsarbeit aufbauen helfen, deren Zeitung je; doch in den Saͤnden der Lehrer liegt. Die Lehrer genießen hinſichtlich der Schulleitung dieſelbe Selbſtaͤndigkeit wie die Geſchaͤftsfuͤhrer im Fabrik betrieb, unbeſchadet des Selbſtverwaltungsrechtes der Schüler (vgl. Seim). Über die Ein⸗ und Angliederung der Bildungsarbeit in die Fabrik entſchei⸗ det der Vorſtand im Ganzen. Den Vorſitz im Vorſtand hat der paͤdagogiſche Leiter; bei Stimmengleichheit gibt feine Stimme den Ausſchlag. Diefe Vorzugsſtellung der paͤdagogiſchen Fuͤhrer in Vorſtand und Aufſichtsrat ergibt ſich aus dem Zweck des geſamten Unternehmens. Denn der Zweck der Anſtalt, die Bildungsarbeit, muß unter allen Umſtaͤnden fuͤr die Leitung des Ganzen entſcheidend ſein. Unſere heutige Bildungsarbeit krankt zum überwiegenden Teile daran, daß fie letzten Endes an anderen, als an Bil⸗ dungszwecken orientiert iſt. Soll dieſes Mißverhaͤltnis in der Schule der Arbeit vermieden werden, fo muß der Wirtſchaftsbetrieb, der in dieſem Salle nicht um ſeiner ſelbſt willen da iſt, den Bildungszwecken dienen und nicht umgekehrt. Von den paͤdagogiſchen Fuͤhrern aber muß erwartet wer⸗ den, daß fie Einſicht und Verantwortung genug beſitzen, um nicht die wirt ſchaftliche Baſis des Ganzen, den Fabrikbetrieb, aus Mangel an Rüdficht auf feine Lebensnotwendigkeiten zu gefährden.

III Die Fabrik De Fabrik iſt als normaler Induſtriebetrieb aufzubauen. Sie ſtellt Saushaltungsgegenſtaͤnde her, und zwar wenige einfache Maſſenartikel,

390 Hermann Seller

der Metallinduſtrie zugehörig. Die Rentabilität des Betriebes, der mit der Schule in keiner Weife finanziell belaftet wird, iſt wie bei jedem normalen Unternehmen unter allen Umſtaͤnden zu ſichern. Der Betrieb arbeitet ohne alle Zuſchuͤſſe, wie jeder andere Induſtriebetrieb. Betriebserweiterung und Intenſivierung aus zu erzielenden ÜUberſchuͤſſen find anzuſtreben. Bei der Organiſation des Betriebes iſt alles Experimentieren mit unausgebildeten Unternehmungsformen (Bommuniftifche Gemeinſchaften uſw.) zu ver meiden. Der Charakter der Beſitzverhaͤltniſſe ergibt ſich eindeutig aus dem Charakter des ganzen Unternehmens als einer G. m. b. 5. Sat ſich der Be⸗ trieb als leiftungsfähig erwieſen, fo wird mit Verſuchen in der Richtung der Betriebs demokratie langſam und vorſichtig vorzugehen fein. Eine Umgeſtaltung der Beſitzverhaͤltniſſe wird hier wie im Ganzen der Wirt- ſchaft erſt dann Wirklichkeit werden konnen, wenn die geiſtig⸗ſeeliſche Reife für eine Betriebs demokratie erworben iſt und ihre Formen gefunden find. Fuͤr die Bearbeitung diefer ſachlichen wie perſoͤnlichen Vorausſetzungen kann der Betrieb ſehr weſentliche Vorarbeit leiſten.

Ebenſo iſt die Auswahl aller Mitarbeitenden durchaus nach den Grund · ſaͤtzen der Induſtrie zu treffen. Die Tauglichkeit allein hat zu entſcheiden, nicht Einflůſſe anderer Art. Der Betrieb kann Feine Verſorgungsanſtalt für verdiente Männer und Frauen aus den reifen der das Unternehmen finanzierenden Organiſationen ſein. Die leitenden Angeſtellten ſind nach den in der Privatinduſtrie ublichen Saͤtzen, die übrigen Angeſtellten und die Arbeiter nach den von den Grganiſationen vereinbarten Tarifloͤhnen zu bezahlen.

Mit befonderem Nachdruck iſt zu betonen, daß die Aufpfropfung der Schule auf einen derartig kapitaliſtiſch aufgezogenen Fabrikbetrieb nicht Not behelf, ſondern bewußte Abſicht iſt. Wir erſtreben keine Experimente, die das Vorhandene ſeinen eigenen Geſetzen entgegen umbiegen. Der Weg geht für uns durch die kapitaliſtiſche Wirtſchaft hindurch. Nur die Ent⸗ faltung des Vorhandenen zu immer hoͤheren Formen, nicht wirklichkeits⸗ fremde Weltverbeſſerungeplaͤne kommen für uns in Frage. Das gilt auch fuͤr dieſen Verſuch einer neuartigen Arbeiterbildung. Er iſt dem modernen induſtriellen Großbetrieb ein / und anzugliedern. Nur auf dieſem Wege kommen wir dem Problem der Maſſenbildung, das wir bejahen, langſam naͤher. Laßt uns daher nicht unausgereifte wirtſchaftliche Experimente machen, die von der Entfaltung der modernen Induſtrie abfuͤhren, fon- dern laßt uns eine Form herausſtellen, die auch bei hoͤchſter Betriebskon⸗ zentration, bei hoͤchſter Entfaltung der Maſſenarbeit anwendbar iſt. Schaffen wir einen Typus, der ein Prototyp werden kann, d. h. der faͤhig iſt zur Aus · und Weiterbildung innerhalb der gegebenen wirtſchaftlichen Sormen, um dann mit dieſen Formen in langſamem wachstum neuen Moglichkeiten entgegenzureifen.

Arbeit und Bildung in der Arbeiterbewegung 391

IV Das Seim

as Seim beruht auf dem Grundſatz der Selbſtverwaltung. Da die

Seimſaſſen das Seim aus ihrem ZLohneinkommen finanzieren, haben fie in allen Angelegenheiten des Seimes ſelbſtaͤndig zu entſcheiden. Sie ver⸗ walten ihre Einkuͤnfte, ſie geben ſich ihre Ordnung, ſie berufen und beſol⸗ den die Sausangeſtellten. Die Lehrer ſtehen ihnen beratend und helfend zur Seite, haben jedoch im Rat der Seimſaſſen nur Sitz und Stimme wie die Schuler. Saus und Inventar werden den Seimſaſſen von der Geſell⸗ ſchaft oder von einer anderen Stelle zur Verfuͤgung geſtellt. Das darin an; gelegte Kapital iſt von den Seimſaſſen zu normalem Zinsfuß zu verzinſen, ſo daß dem Geſamtunternehmen aus dem Seim keinerlei Unkoſten er⸗ wachſen und die oben erwaͤhnte reinliche Scheidung in der Geſchaͤftsfuͤh⸗ rung ſich ermöglicht. Wenn der Plan eines ſolchen autonomen Schuͤler⸗ beimes Bedenken erregen follte, fo ſei darauf hingewieſen, daß die Erfah⸗ rungen der Leipziger Volkshochſchulheime in jeder Sinſicht fuͤr ihn ſprechen. Als einzige Laft, die dem Geſamtunternehmen aus der Schule erwaͤchſt und die nicht aus ſeinen eigenen Mitteln zu begleichen iſt, verbleiben die Boften für die Beſoldung der Lehrer. Sie muͤſſen aus Zuſchuͤſſen von Staat und Gemeinde gedeckt werden. Fuͤr einen Schuͤlerkreis von etwa 30 Mann wurden 2 vollamtlich beſchaͤftigte Lehrer oder entſprechend viele halbe Kräfte erforderlich fein, deren Gehalt ſich den Sägen der ſtaatlich angeſtellten Lehrer an hoͤheren Schulen anzupaſſen hat. Akademiſche Dor- bildung iſt für den wiſſenſchaftlichen Unterricht erforderlich. Die aͤußeren Bedingungen des Unterrichts würden etwa folgende fein: Die Seimſaſſen haben morgens einige Stunden fuͤr geiſtige Arbeit frei. Sie arbeiten dann 6 Stunden im Betrieb. Die Abendſtunden ſtehen wieder; um der Bildungsarbeit in mannigfachen Formen zur Verfuͤgung. Die ſo erzielten 145 Stunden für geiſtige Taͤtigkeit wuͤrden im Vergleich zu der heutigen Zage einen außerordentlichen Gewinn bedeuten. Denn die Ver⸗ kuͤrzung der Arbeitszeit bringt einen ſehr viel größeren Kraftgewinn mit ſich als dem Zeitgewinn entſpricht. 6 Stunden koͤrperliche Arbeit und etwa 4 Stunden geiſtige Arbeit ergeben für einen gefunden Menſchen ein Gleich⸗ maß, das zu hoher Produktivität koͤrperlicher und geiſtiger Art befähigt, jedenfalls ein ſehr viel beſſeres Gleichmaß, als etwa der Arbeitsrhythmus des heutigen geiſtigen Arbeiters es ermöglicht. Der Unterricht wuͤrde uͤber⸗ wiegend im Seim ſtattfinden, das feinen Eßraum dafuͤr zur Verfuͤgung ſtellen kann, wenn andere Naͤume aus Mangel an Mitteln nicht zu be⸗ ſchaffen find. Je nach der Art der zu behandelnden Probleme kann der Un⸗ terricht auch in der Fabrik ftattfinden und muß dann fo eingeordnet wer · den, daß er keine A mit ſich bringt.

392 umſchau

Umſchau Taine hat Balzac mit Shakeſpeare ver⸗ Bemerkungen zu Balzac] lichen. Die „menschliche Komödie“ fei

neben dem Werk Shakeſpeares die größte Sammlung von Dokumenten über das menſchliche Weſen. Sugo v. Sof mannsthal nennt Balzac die größte ſubſtanziellſte ſchoͤpferiſche Phantaſie ſeit Shakeſpeare. Gewiß ift bei beiden die gleiche unendliche empiriſche Weltbreite und wimmelnde Geſtaltenfuͤlle. Gewiß muß man an Balzac die Opferung ſeines Lebens an ſein Werk ebenſo bewundern wie die faſt an Be⸗ ſeſſenheit grenzende Energie, mit der er nicht Romane ſchrieb, ſondern in Romanen eine ganze Welt aufbaute, eine Welt, die, wie er in der Vorrede zur „Menſchlichen KNomòdie ſagt, ihre eigene Geographie und Genealogie, ihre Familien, Orte und Dinge, Perfonen und Tatſachen, ihre Adligen und Bürger, Sandwerker und Bauern, Politiker und Dandys hat, kurz: Die feine eigene und eine ganze Welt iſt. Und dennoch hat man das Gefuͤhl, auch wenn man alle Romane nacheinander lieft man muß alles leſen, kein Werk enthält ihn in der Eſſenz, heißt es an der · ſelben Stelle bei 3. v. Sofmannsthal daß dies nicht die ganze Welt iſt. Dieſe Einſchraͤnkung ſoll dem wahrhaft ungeheuerlichen Werk keinen Abbruch tun; aber man muß die Grenzen ſehen oder man hat nichts geſehen.

Gewiß hat auch Shakeſpeare die gleiche unendliche Weltbreite. Aber das iſt nicht alles. Nicht durch ungeheure Addition iſt ſein Werk ſo groß. Plötzlich bricht bei ibm der Boden, und wir verſinken aus dem realſten Alltag, aus politiſcher oder menſchlicher Aktion, in die Tiefe, in der alle Dinge zuſammenhaͤngen, unter ſich und mit Gott; es gibt wahrhaft myſtiſche Augenblicke, wo Geſchehnis mit dunk . lem Schatten weltverbundenen Schickſals ſichtbar wird, wo die Dinge der Welt plotzlich das Geſicht einer anderen Welt bekommen, wo ein Wort, eine Szene die Begebenheiten in ein geradezu metaphyſiſches Licht huͤllt, wo das Spiel ſchwer wird von Ernſt, Beziehung, Symbolik und das Wort geſaͤttigt mit unausdenk⸗ barem Sinn. Solche Augenblicke fehlen in Balzacs Werk: es hat nur zwei Dimen⸗ ſionen, nicht dieſe dritte der Tiefe ins innerſte Jentrum der Welt. Dies als Tadel zu nehmen, wäre, wie geſagt, dem gigantiſchen Werk gegenüber eine Anmaßung. Es iſt aber ein Sinweis, was man von Balzac, im ganzen geſehen, zu gewaͤrtigen babe und was nicht. Man muß das, was man bei einigen deutſchen Dichtern fand und vielleicht als ſehr deutſch ſehr liebt, deren Werk faſt ausſchließlich in dieſer dritten Dimenſion lebt (Jean Paul, Novalis, Hölderlin) bei Balzac nicht ſuchen. Er bat mit einer Glut an ſeiner Welt gehangen, fie mit einer mon omaniſchen Wut aus feinem Sirn geſtaltet, die, wenn fein Gegenſtand ein religidfer geweſen wäre, ihn zum tanzenden Derwiſch, zum verzückten Stigmatiſierten gemacht haͤtte. Dieſes perſoͤnlich Ungeheuere und faſt Titaniſche muß man zur Realität feines Werkes binzunehmen: auch dies als eine Art dritter Dimenſion, aber nicht in die Tiefe der Welt, ſondern in den Grund und Abgrund eines der Welt vollkommen verfallenen Zerzens.

Man hat auf das Symboliſche der Wirkung Napoleons auf Balzac bingewiefen. Man kennt fein Wort von der Feder, die Mapoleons Werk fortfegen ſollte. Beider Realitaͤts hunger und Machttrieb iſt der gleiche. Sollte nicht aber auch dies eine Parallele ſein: Daß Napoleon den Werther mit ſich herumtrug, iſt nicht ein

umſchau 393

Zeichen, daß er in ſich ein Ahnliches getragen haͤtte oder es müßte in Schichten der Seele geweſen fein, die heute die Pſychoanalyſe aufgraͤbt —, ſondern daß er aus einem Gefuͤhl des Mangels ſeine Sphaͤre mit jener kompenſi eren wollte. Ge⸗ nau fo iſt Balzacs Myſtizismus nicht aus feinem eigenen Blut und Weſen geboren; deshalb wirft fein Louis Lambert, fein Seraphitus nicht ganz echt; des halb ſchlaͤgt fein Gefuͤhl leicht in Sentimentalität um; des halb iſt feine Stellung zur Reli gion fo rationaliſtiſch und unreligiòs wie moglich, da er in ihr nur die geſellſchafts · und ſtaats erhaltende Macht ſieht, ein Mittel, die ſtarke Beſtie zu zaͤhmen; daher wird in ſeinen Romanen ohne Seele geliebt oder mit zu viel Seele (Die Lilie im Tal).

Balzac ſchafft nicht Menſchen im eigentlichen Sinne, trotz ſeiner großen Ge⸗ ſtaltungs kraft, ſondern er ſtellt immer wieder die heißeſten menſchlichen Affekte, Triebe, Begierden dar zu ihnen hat er ein Verhaltnis, nicht zu feinen Geſtal⸗ ten —, ferner die menſchlichen Beziehungen, die durch dieſe Triebe geſchaffen wer⸗ den, ja dieſe ſind ihm faſt das Weſentliche. So wird die Geſellſchaft, dieſes wilde Meer menſchlicher Bindungen und Zufammenftöße ſichtbarer als die Menſchen dieſer Geſellſchaft, es wird als furchtbares Bräftefpiel grandios ſichtbar; alle feine Romane find „Scenes“ dieſes Spiels; er hat, wie er im Vorwort eines Romans ſagt, „Die unermeßliche Phyſiognomie eines Jahrhunderts nachgezeichnet. Eine Geſtalt wie die Vautrius, unvergeßlich (vielleicht weil fie der negative Exponent dieſer Geſellſchaft iſt), gepraͤgt, rund, daͤmoniſch wie die Lears (mit dem man den Vater Goriot nicht vergleichen ſollte), wie die des Biſchofs Nikolas in den Aron⸗ praͤtenden, iſt im Werk Balzacs eine Seltenheit. Seine anderen Menſchen find einander in weitgehendem Maße aͤhnlich, nicht nur wie alle Geſtalten Kellers oder Stifters eine Familienaͤhnlichkeit aufweiſen. Man vergleiche Eſther Gobſeck, das Madchen mit den Goldaugen, und Coralie; den alten Sechard (Verlorene Illuſionen), Gobſeck und Eugenie Grandets Vater, und man konnte einige Dutzend ahnlicher Reihen aufweifen. Das macht, daß die Triebe das Weſentliche dieſer Figuren ſind, nicht ihre Figuration, ihre Menſchlichkeit, ihre Seele. Und die Triebe find eintönig immer die gleichen: Gier nach Ruhm, Gold, Liebe, Macht.

Auch Doſtojewski, der Balzacs Charaktere Schöpfungen eines weltumfaſſenden Geiſtes nennt, der die „Eugenie Grandet“ uͤberſetzt und der ſich wohl in einigem mit Balzac innerlich verwandt fühlte, hat nur den Menſchen der Geſellſchaft dargeſtellt; auch bei ihm finden wir kein Verhaltnis zur Natur, zur Landfchaft, zum aͤußeren Kosmos; auch dort eine Welt zuͤgelloſer Triebe, ſchrankenloſen Begehrens. Und dennoch iſt der Geſamteindruck anders. Dieſe Welt iſt weiter und tiefer; weiter, denn fie umfaßt alle ſozialen Schichten, auch die der Armen, Blenden, Erniedrigten und Beleidigten mit der gleichen Inbrunſt glühender Menſchlichkeit; tiefer, denn fie ſtoͤßt in Schaͤchte und Schichten der Seele vor, wo alles Menſchliche als Schickſalhaftes als kosmiſche und religidfe Verbundenheit ſichtbar wird. Wie geradlinig, felbft- ſicher, einfach ſind in dieſer Beziehung Balzacs Menſchen. Balzac ſchildert in der Einleitung zu einem Roman (ſ. Geſchichte der Dreizehn) mit großartiger Anſchau⸗ ungskraft das Geſicht von Paris. „Paris iſt die Sölle“; aber ſie brennt ihn nicht; iſt ibm nicht ganz wohl in ihrer Wärme? Und er ſucht nicht nach einem Simmel in oder über dieſer Welt wie Doſtojewski. Vielleicht ſteht uns darum Doſtojewski doch naͤher. Balzac, der Franzoſe, der Romane, der Weſtler; Doſtojewski der Slawe, der oͤſtliche NMenſch; und wir —? Vielleicht geht wirklich, wie Frobenius fagt, die Grenze zwiſchen Morgen · und Abendland am Rhein?

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Abnliche Vergleiche, die die Groͤße eines Dichters relativieren, aber auch die Phy · ſiognomie der Volker im Spiegel ihrer großen epiſchen Schöpfer erkennen laſſen man lieſt ja in einem gewiſſen Alter ſchließlich nicht mehr aus Stoff · und Begeben⸗ heits hunger und um des aͤſthetiſchen Reizes willen, ſondern mit dem ſtaͤrkeren oder ſchwaͤcheren Tone des Erkennenden aͤhnliche Betrachtungen werden uns neuer⸗ dings ſehr nahe gelegt durch eine wundervolle Sammlung Haſſiſcher Romane der Weltliteratur, die der Verlag Paul Hift, Leipzig, unter dem Titel „Epikon“ in vornehmer Ausſtattung erſcheinen läßt. Die Reihe ſoll auf 30 ſtreng ausgewählte Werke erweitert werden. Jeder Band enthaͤlt ein charakteriſierendes Nachwort durch einen unferer lebenden anerkannten Dichter. Thomas Mann ſchrieb über die Wablverwandtſchaften, Serm. Seſſe über den Siebenkaͤs, Zugo v. Sofmannsthal über den Nachſommer; aus tiefſter innerer Verbundenheit und liebevollſter Bennt- nis verſuchen dieſe Epiloge dem Leſer das Werk in zeitlicher Bedingtheit und zeit⸗ loſer Größe nabezubringen. Bisher find zehn Bände erſchienen. Wenn die Samm⸗ lung in demſelben Geiſte fortgefuͤhrt wird, durfte fie geeignet fein, Europa im Ro⸗ man repraͤſentativ zu vereinigen. Die ſoziologiſche Funktion des Romans, dieſes breiteſten und aufnahmefaͤhigſten kuͤnſtleriſchen Behälters, in das ſich der Geiſt ganzer Zeiten und der verſchiedenſten Voͤlkerindividuen ergießen kann, ſoll ein Schluß band aufweiſen. Balzac, deſſen Werk vielleicht nur von dieſem Gedanken aus richtig zu werten und einzuordnen iſt, iſt mit dem Vater Goriot vertreten. Gleich; zeitig werden im Jahre des 75. Todestages zwei Balzac · Geſamt ⸗Ausgaben vollſtaͤn · dig.“ Über die Ausſtattung der Bucher des Inſel · Verlags iſt kein Wort zu verlieren, ſie iſt ruͤhmlichſt bekannt. Sehr wertvoll wird dieſe Ausgabe durch eine (oben zitierte) Einleitung von 3. v. Sofmannsthal (das Schönfte, Liebevollſte, was über Balzac geſagt worden iſt), durch einen umfangreichen, gruͤndlichen und Hugen Eſſay von Wilh. Weigand, fo wie durch Balzacs Vorrede zur „Menſch lichen Romò die. Die Rowohlt Ausgabe beſitzt den Vorzug dußerfter Sand; lichkeit: Heine ſchmucke Taſchenbaͤnde, die man Überall mit hinnehmen kann, um aus unſerer Wirklichkeit in die Phantaſiewelt Balzacs zu ſpringen, was wie Sofmannstbal, zur Charakteriſtik Seas bedeutfam, fagt eigentlich gar keines Sprunges bedarf.

An das wertvolle Drei · Meiſter Buch Stefan Iweigs, das befannt genug ift und deſſen erſte Arbeit das Weſentliche über Balzac in geradezu meifterbafter, ge; draͤngteſter Form tief und ſchoͤn zu fagen weiß, darf wohl nur erinnert werden (ebenfalls im Inſel · Verlag).

Wer ſich nach der Lektuͤre des Werkes von Balzac noch einmal von kundiger Sand durch die unermeßliche Welt dieſes Mikrokosmus führen laſſen will, damit er alle großen Linien dieſes Gebaͤudes erkennt und aus der verwirrenden Vielfalt die Weſenszuͤge Harer erblicken lernt, der ſei auf das große Balzac · Buch von E. R. Curtius Friedrich Cohen, Bonn 1925) verwieſen. Dieſer intimſte Renner des gegenwaͤrtigen literariſchen Frankreich zeigt Werk und Perſoͤnlichkeit von immer neuen Geſichtspunkten aus, in ruhiger, ſachlicher, dennoch menſchlich warmer Darſtellung, die nicht den Schwung des Sofmannsthalſchen dichteriſchen Worts und die kuͤnſtleriſche Geſchloſſenheit von Stefan Iweigs Eſſay beſitzt, da⸗ für aber aͤußerſte philologiſche Gruͤndlichkeit und eine erſtaunliche Kenntnis der

»Die Inſelausgabe, die das Rieſenwerk in Jo Duͤnndruckbaͤnden (zu je 9. AT ſammelt, und die 47 baͤndige des Verlags Ernſt Rowohlt, Berlin (Leinen je 4. .

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zeitgeſchichtlichen literariſchen und philoſophiſchen Juſammenhaͤnge bekundet, ftets bis in den Mittelpunkt führend, fo daß die innere Einheit des Werkes mit dem Dichter und beider ſelbſt ſichtbar wird. In dieſem Buche iſt Balzacs Weſen er⸗ ſchoͤpft. Paul Wegwig

| . Bein vlaͤmiſcher Schriftſteller ift in feinem zwei Confcience Lorſchung ſprachigen Vaterland fo allgemein bekannt und

beliebt wie Seinrich Conſcience. In den immer zahlreicher werdenden Volksbiblio⸗ theken Belgiens find feine Romane und Erzaͤhlungen noch immer die begehrteſten. In der vlaͤmiſchen Saͤlfte wird er naturlich hauptſaͤchlich in der Urſprache, in dem walloniſchen Teil dagegen in der franzoͤſiſchen Überfegung genoſſen, die bei dem bekannten Pariſer Verleger Levy feit dem Jahre 1854 erſcheint und von den Bel⸗ giern Wocquier und Coveliers herſtammt.

Das Leben Conſciences wurde oft, niederlaͤndiſch und franzöſiſch, beſchrieben, meiſt von Freunden, die den berühmten Dichter noch perſoͤnlich gekannt, mit ihm den herben Aampf für die vlämifche Mutterſprache angebunden hatten. Über Confeience beftebt alfo eine ausgedehnte Literatur. Die Forſchung wurde erſt wiſſenſchaftlich bei der Jentenarfeier feiner Geburt, um 1912. Ein junger Ant⸗ werpener Germaniſt, Dr. Anton Jacob, tat ſich um jene Jeit beſonders hervor mit einem Buch, das die allgemeine Beachtung verdient. Dieſes Buch beißt: „Brief- wisseling ven, met en over Hendrik Conscience, ul de jJaren 1837 tot 1831, met een inleiding en aanieckeningen.”, Gent, W. Siffer. 1913.

Der erſte Band, alles was bis jetzt erſchien, umfaßt, nach einer dokumentierten Abhandlung über die „Zauptſtroͤmungen im vlaͤmiſchen Rampf von feinem Ent⸗ ſtehen bis zum Jahre J85J”, bio- und bibliograpbifche Notizen über Conſcience. Dieſe disiecte membre zeigen uns, welche Rolle der Dichter, Sohn eines fran- zoͤſiſchen Vaters aber eines Antwerpener Volks maͤdchens, in dem Aampf um die Rechte der vlaͤmiſchen Sprache geſpielt bat. Wichts iſt fo beredt für die erſten Dichterjahre des ſtark beneideten und vielfach geſchmaͤhten Conſcience wie die zahl⸗ reichen Auszüge aus längft vergeſſenen Tageblättern, Jeitſchriften, Regiſtern, Büchern, die wir hier von der Seite 52 bis zur Seite 422 durchkoſten.

Im zweiten Band wären die eigentlichen Briefe laͤngſt erſchienen, wenn der Arieg nicht dazwiſchen gekommen wäre, Der junge Dr. Jacob wählte, während der deutſchen Beſetzung Belgiens, die Partei der ſogenannten Aktiviſten. Er wurde Dozent an der vervlaͤmiſchten Genter Sochſchule, blieb nach dem Waffenſtillſtand im Lande und wurde zu mehreren Jahren Gefaͤngnis verurteilt. Da feine Con; ſcience · Briefe von der Roninkihte Viaamsche Academie voor Taal- en Leiter- kunde” herausgegeben wurden, erſchien der zweite Band, obſchon beinahe voll ſtaͤndig abgedruckt, bis jetzt noch nicht. Und dieſes iſt ſchade. Ich kann es unum ; wunden fagen, weil ein Zufall mir ein Exemplar dieſes un veröffentlichten zweiten Bandes in die Sande ſpielte und ich die Lektre dieſer 237 Briefe ſeltenes Vor; recht! genießen durfte. Zwar fehlen hier die gelehrten Motizen und das In halts verzeichnis, vielleicht auch ein Vorwort des in Ungnade geratenen Philo; logen, aber was macht es ſchließlich aus? Man verſetzt ſich auch fo in längft ver; floffene Zeit zuruck und zum Schluß denkt man ſich dabei : „Wie doch die arme Welt ſich gleich bleibt! Wie Eiferſucht und Verleumdung vor vielen Jahrzehnten auch fo wucherten l Wie feurig fo ein Dichter iſt und wie FHleinlich oft die Welt um ihn

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Man denke nicht, daß alle Briefe in vlaͤmiſcher Sprache verfaßt find. Viele find franzoͤſiſch, u. a. der Brief, den Alexander von Zumboldt den 27. September 1847 an den Dichter ſchrieb und in dem der alte Naturforſcher unter mehr ſagt: el eu le plaisir de lire mol meme au Rol et à la Reine, au haut de la colline historique de Sanssouci, quelques-unes des nobles productions de Votre senslbillte, interprètées per un Prince de I Eglise diene de Vous comprendre.” Siermit wird der Füuͤrſtbiſchof Wor. Melchior von Diepenbrock gemeint, mit feinem 1845 zu Regens burn er ſchienenen „Flaͤmiſchen Stilleben“.

Einige Briefe find in deutſcher Sprache: zwei von Dr. Barl Andree, einer von Aarl Baedeker, einer von J. M. Firmenich, zwei von Guſtav Soͤfken, einer von Auranda. Ein Brief von dem König von Bayern, den 12. Auguſt 1846 aus Aſchaffenburg verſandt, ſcheint nur in vlaͤmiſcher uberſetzung erhalten. Ein Schreiben von dem bekannten deutſchen Folkloriſten J. W. Wolf, dem Autor der „Niederlaͤndiſchen Sagen“ (Brockhaus 1843), iſt auf vlaͤmiſch verfaßt.

Gewiß, ſelbſt wenn dieſer für die Kenntnis der Jugend Conſciences und der erſten Jahre der vlaͤmiſchen Bewegung fo wichtige Band, endlich mit den unent⸗ behrlichen Notizen vervollſtändigt, das Licht der Öffentlichkeit erblickte, fa bliebe noch immer die zweite Hälfte des Lebens des Dichters, von 1852—1883, auf aͤhn⸗ liche Weiſe zu bearbeiten übrig. Wird Dr. Anton Jacob die Kinte ins Born werfen? Er hat, wie mir mitgeteilt wurde, neue Conſcience - Briefe im Laufe der letzten Monate entdeckt. Wird die leidige Politik ihn in ihren Blauen behalten?

Die letzt erſchienene Biographie, „Hendrik Conscience en de opkomst ven de Viaamsche Romantiek” von Eugen de Bock (Antwerpen, Verlag „de Sikkel“), ſteht im Jeichen der ſtrengen Wiſſenſchaft und fußt ſich auf die von Dr. Jacob zu · tage geförderten Bauftoffe und auf zahlreiche Dokumente. Nicht allein iſt keines der fruͤher veroͤffentlichten Lebensbilder des Mannes, „der fein Volk leſen lehrte“, fo ausführlich und wahr bis in die Einzelheiten, ſondern auch die Wuͤrdigung der Tat · ſachen und der Werke ift objektiv, gerecht und begründet. Das Verzeichnis der be⸗ nutzten Dokumente iſt ſo lang, daß der Autor vom Drucken desſelben Abſtand hat nehmen muͤſſen. Seine Meinung über den behandelten Dichter faßt er in dem fol; genden Ausſpruch zuſammen: „Wer kritiklos die niederlaͤndiſche Literatur der achtziger und neunziger Jahre durchgemacht hat, wird Conſcience keine Freude mehr abgewinnen konnen, aber urſpruͤnglich und kraͤftig gebliebene Naturen er kennen ſeinen Glanz und ſeinen Duft an.“

Unter den zahlreichen von Eugen de Bock befragten Buͤchern zitiert er die ebenſo ausfuhrliche wie vorzuͤgliche Abhandlung des Genter Stadtarchivars Dr. Victor Fris : „De Bronnen van de historische romens von Conscience“, worin die Beweiſe geliefert werden, daß der vlaͤmiſche Dichter ſich moͤglichſt vollſtaͤndig dokumentierte, beſonders für den „Löwen von Kandern“ (1838), den „Jakob van Artevelde“ (1849) und den „Bauernkrieg“ (1853). „Die Legende des geſchichtsunkundigen Conſcience“, ſagt er, „hat ausgedient. Verſchwunden iſt das Hächeln, das die Cippen ſogar gebildeter Dlamen umkraͤuſelte, wenn man des hiſtoriſchen Wertes des Löwen von Flandern Erwaͤhnung tat.“

Bei der Beſprechung des „Jakob van Artevelde“ ſagt der gelehrte Siſtoriker: „Vergleicht man die Menge von Conſcience benutzter urſpruͤnglicher Quellen und damals erſchienener Werke über den Genter Volkstribun mit meinem vollſtaͤndigen Verzeichnis in der „Bibliographie de l'histoire de Gand“ (Gent, 1907, S. 196 bis

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III), fo ſtaunt man über die Gewiſſenhaftigkeit und die Ausführlichkeit der Vor⸗ arbeiten Conſciences. Was bleibt nun von der Legende der Unbeleſenheit unſeres Dichters übrig?“

Auch franzoſiſche Siſtoriker zollten unſerem Schriftſteller ihre Bewunderung. ¶anzac de Laborie ſagte in feinem Werk: „La domination francalse en Belgique” (Paris 1895) uͤber den „Bauernkrieg“: „Das allgemeine Schema dieſer Bauern⸗ bewegung bat der vlaͤmiſche Autor Seinrich Conſcience geſchildert.“ Und weiter: „Der Leſer, der den urſpruͤnglichen Charakter dieſes Aampfes kennen lernen und begreifen will, wodurch er ſich von dieſem oder jenem Aufſtand in Frankreich oder in Italien unterſcheidet, wird den Roman Conſciences zu Rate ziehen mäffen. Geſtůtzt auf Lokalůberlieferungen hat der große vlaͤmiſche Romanſchriftſteller das Ae mpenland von 1708 auferfteben laſſen, wie der Graf Leo Tolſtoi das Rußland von 1812.“

„Die Quellen der geſchichtlichen Romane Conſciences“ gehören zu einem Banb „Kritieken en Studien”, der J9J3 zu Antwerpen (Verlag Bouchery) erſchien und noch manches Intereſſante für das Geſamtwerk des großen vlaͤmiſchen Erweckers enthalt. Aber über Conſciences Verleger ſchrieb keiner. Auch ein vollſtaͤndiges kritiſches Verzeichnis der unzähligen Uberſetzungen ſteht noch aus.

Conſcience iſt für unſer Volk der vollkommene Erzaͤhler. Ein ſolcher tut uns jetzt not. Aeiner der Modernen hat weder ſeine Stelle eingenommen, noch ſeine feſſelnde, erziehende Art übernommen. Übrigens, die modernen vlaͤmiſchen Pro⸗ ſaiſten Streuvels, Buyſſe, Sabbe, Teirlinck, Timmermans, Vermevlen uſw. wer- den hauptſaͤchlich in Holland verlegt, finden daſelbſt die größere Anzahl ihrer Leſer. Conſcience hatte das Gluck, den unternehmenden Antwerpener Ernſt Buſchmann im Beginn ſeines Aufgangs auf ſeiner Bahn zu treffen. Nachher, ich vermute kurz vor Buſchmanns Tode, trat ein anderer Antwerpener, van Dieren, an ſeine Stelle. Die erſten Aufgaben find teuere Selten heiten geworden; ſelbſt die große, zweiſpaltig gedruckte und von Eduard Dujardin illuſtrierte van Dierenſche Geſamtausgabe in zehn großen Bänden kommt felten noch im Antiquariat vor. Nach dem Sin · ſcheiden des Dichters erſchienen feine ſaͤmtlichen Werke im Brüͤſſeler Verlag J. N. Cebegues, aber ein typographbiſches Meiſterwerk konnen fie ſchwerlich genannt werden.

Über das von Conſcience verherrlichte Aempenland kam neulich ein intereſſantes Buch heraus: de Kempen, als erſter Band von Sieden en Landschappen” (Antwerpen, de Sikkel). Die Einfuhrung beißt: „Die Kempen unſerer Schrift ſteller und Bünftlee” und iſt aus der Feder des bejahrten und gewürdigten fran; zoͤſiſchſchreibenden Vlamen Georg Eekhoud, der diesmal feine Mutterſprache ge braucht hat. Möoͤge dieſes von Spezialiſten verfaßte, reich illuſtrierte, billige Buch auch in Deutſchland Leſer finden! Julius Pee

In der norwegiſchen Landſchaft Norwegiſche Volkshochſchule f

eine norwegiſche Bauern · Jugend ſchule kennen. Ich habe fpäter eine Reihe ſolcher Volks hochſchulen in dem ſchoͤnen nordiſchen Lande beſucht. Aber dieſer erſte Ein⸗ Der zweite Band handelt über Mecheln, der dritte über Antwerpens Safen, der vierte Aber Cowen, der fünfte über Weſt Brabant, das ſogenannte Payot⸗ tenland, das unſer Dichter Pol de Mont neulich in einem feiner treffendſten Ge dichte beſungen hat. | "

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druck prägte ſich mir ganz beſonders beglüdend ein. In dem heiter · ſchlichten Gym⸗ naſtikſaal alle dieſe Schulen find Solzbauten ſaß eine baͤuerlich · kraftvolle Jugend. Die Mädchen zumeiſt in ihren leuchtend farbigen, beſtickten Trachten, buntgewebte Bänder in die Joͤpfe geflochten. Auch unter den Burſchen einzelne in der Fleidfamen, enganliegenden Bauerntracht, alle mit friſchen Geſichtern ſchoͤnes junges Volk. |

Über gebirgsumſchloſſene Seen, durch enge Waſſerarme in Fjorde hinein war meine Fahrt gegangen. Es iſt eine fo feierliche Stille und Weihe in dieſer nordi ; ſchen Natur. Aus herbſtlichem Walde aufſteigend graues Urgeftein, rein und ſcharf geſchnitten ſtehen die Ronturen der Gebirge in dem klaren Abendhimmel. Der Menſch legt da all fein Saſtwerk ab. Die Natur mahnt ihn zu ruhigen, ſtarken Be fühlen und kraftvollem, reinem Selberſein. Dieſes Land nimmt den Wanderer, der aus Europas unruhvoller Mitte kommt, auf wie in eine naturlich ⸗geiſtige Pflege. Und nun ſtand ich alſo in dieſer baͤuerlichen Schule. Man bat mich, einige Worte des Grußes von deutſcher Jugend zu ſagen. Als ich denn zu erzaͤhlen anfing, ge⸗ wahrte ich, wie dieſe jungen Menſchen, die mir zunaͤchſt nur kernig in ihren ſtarken Sei matkraͤften zu wurzeln ſchienen, voller einfach · großer Fragen waren, durſtig nach der weiten Welt. Immer wieder erlebte ich das ſpaͤter an dieſer norwegiſchen Jugend: eine ſtarke, geiſtige Fragekraft iſt in ihr, welche die ganze Weite der Welt anſchaun moͤchte und innerlich bereit iR, unmittelbar aus engftem, volklich ſtarken Seimatgefuͤhl das tiefere Brudertum, die Uberheimat des Mlenfchen zu ſuchen, ſich ihe zu oͤffnen. Man fühlt ſogleich, wenn man mit dieſen Volks hochſchulen vertraut wird: eine lebendige, religidfe Kraft, die ſtets bereit iſt, den wahrhaft guten Willen zu bekunden, hat hier ihre Stätte und gute Burg. Und wie überall, wo ſolche Avaͤfte ſich urſpruůͤnglich, ungebrochen und unentmutigt auswirken durfen: etwas eigentuůmlich Freies, Offen · Sinniges weht einem entgegen aus dem Areiſe dieſer Schuler und Lehrer, der ſich hier Winter um Winter neu zuſammenlebt als freie Schulgemeinde. Examina gibt es nicht an dieſen Schulen. Meiſt iſt es Jugend zwiſchen 17 und 21, die ſich bier zuſammenfindet, den ganzen Winter hindurch vom Oktober bis in die Oſterzeit. Meiſt kommen die Schüler aus den Tälern der anbdſchaft, die ſich die betreffende Schule ſchuf. Oft genug kommen fie aus fer- neren Gegenden des weitgebauten Landes ber. Der norwegiſchen Jugend iſt vieles geſchenkt und in lebendiger Überlieferung bewahrt worden, was in Deutſch· land eine Jugend dem älteren Geſchlecht abkaͤmpfen mußte und durch eine Reihe von Abſpaltungen hindurch in eigenen Scharungen und Buͤnden ganz neu ge⸗ ſtalten mußte. Ums Jahr J900 kann man in faſt allen germaniſchen Völkern den Anbruch einer eigenen geiſtigen Bewegung der Jugend feſtſtellen. In Skandi⸗ navien hatte fie das Gluck, ihre beſonderen Lebensſtaͤtten ſchon vorzufinden: die Volks hochſchulheime. Die Volks hochſchule aller ſkandinaviſchen Lander verdankt ihr Entſtehen dem großen daͤniſchen Führer Grundtvig, einem Renſchen von großem Ausmaß, ſeheriſch und praktiſch verwirklichend zugleich. Grundtvig litt tief an der geiſtigen Unfruchtbarkeit, womit er das Volkstum des Wordens zu feiner Jeit geſchlagen fab. Er ſah ein neues Voͤlkerſahr anbrechen, ein geiſtiges Wiedererwachen der germaniſchen Volker. In feinem großen Gedicht „Neujahrs morgen“ rief er feinen Weckruf dem ganzen Voͤlkernorden zu. Gier die erſte Strophe:

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Gottes Friede und Morgenruf An Sochgebirg und Aue; Was mir die grimmen Sorgen ſchuf ch nirgendwo mehr ſchaue. m Mittnachtsduͤſter, Da der Selhahn ſchrie, Da Finſterniſſe aufbegehrten Und ſich der hbeilgen Sonne wehrten: Tagglanz mit der Nacht der Sel, mit dem Drachen den Michael Um den Norden fabe ich kaͤmpfen.

Grundtvitz ſah die Volkskraͤfte des Nordens erſtickt durch die falſchen Anſpruͤche einer vorgeblich klaſſiſchen Bildung. Ihm ging es um eine Art zweite Reformation. Sübrte Luther den Schlag gegen das Roͤmiſche im Kirchentum, fo rief Grundtvig zum Aampfe auf gegen das Römiſche im Schulweſen. Univerfität und Katein- ſchule waren ihm Schulen des Todes, denen er eine Schule des Lebens entgegen; ſtellen wollte, eine in den Volksgeiſt des Wordens gegruͤndete: in Wahrheit eine Volke. Sochſchule. Von Grundtvig ſtammt das noch heute denkwuͤrdige Wort: „Anders kann ich es mir nicht denken, als daß Revolutionen wie Todeskaͤmpfe rund durch die Voͤlkerwelt gehen müffen und aufloͤſen werden die gelehrte wie die laien hafte Geſellſchaft, wenn man dem nicht damit vorbeugt, daß man das Schul⸗ grab reformiert in eine Pflanzſchule des Lebens.“ Satte ja auch der alte Goethe ahnungsvoll geſprochen von einem großen Bampfe „zwiſchen Toten und Leben ; digen”. „Er wird auf Leben und Tod gehen, man wird erſchrecken, man wird unter · ſuchen, Geſetze geben und nichts ausrichten.“ Auch Goethe verwies nur auf ein einziges ſicheres Seilmittel für die Volker: die paͤdagogiſche Provinz. Grundtvig bat jahrzehntelang feinen heilenden Schulgedanken gepredigt, erſt nach langen Mißerfolgen wurde er gehort. Reiften Bold wurde der eigentliche Begründer der Volks hochſchule. Und nachdem ſich der Schulgedanke Grundtvigs, nicht immer ganz in ſeinem Sinne, einmal in Daͤnemark durchgeſetzt hatte und insbeſondere in der Zeit des nationalen Unglücks feine große, das Land von innen aufbauende Kraft erwieſen hatte, griff er bald uber auf die anderen ſkandinaviſchen Länder. Die Gründer der norwegiſchen Volkshochſchule waren Schüler Grundtvigs, die innerlichſt ergriffen waren von dem geiſtigen Feuer des großen Daͤnen.

Auch in Norwegen brauchte es feine Zeit, bis das Werk in Bang kam. Der erſte, der Grundtvigs Erziehungs werk hier aufnahm, war Ole Dig. Aber er ſtarb ploͤtz⸗ lich in jungen Jahren. Und erſt fein Schuler, Olaus Arveſen, zuſammen mit Ser; mann Anker konnte 1864 die erſte Schule gründen. Es waren beſcheidenſte An faͤnge, aber dieſe Menſchen waren beſeelt von einem ſtrahlenden Willen. Woch heute leuchten ganz ſeltſam die Augen der Alten, die von den erſten Jeiten der Volkshochſchule zu erzaͤhlen wiſſen. Wenige Jahre fpäter trat Chriſtopher Bruun auf den Plan, unzweifelhaft die bedeutendſte Geſtalt der norwegiſchen Volkshoch ; ſchule. Er begann fein Werk in Bubdbrandsdalen, einem der königlichen Täler Norwegens. Anfang der 70 er Jahre hielt er eine Reihe von Vorträgen in der Sauptſtadt, in welchen er das geiſtige Programm der neuen Schule entwickelte, eine Ariegserklaͤrung nach zwei Seiten hin, die bezeichnend iſt für den Geiſt des Grundtvigianismus: einmal wandte er ſich gegen das „unmenſchliche Chriſten · tum der pietiſtiſchen Stroͤmungen zugunſten einer hoher und freier verſtandenen

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Chriſtusnachfolge. Jum anderen wehrte er ſich gegen das Entſeelte des „akade⸗ miſchen“ Bildungsgutes. Und er forderte, ganz im Sinne Grundtvigs, vom neuen Jugendlehrer, daß er die Macht des „lebendigen Wortes befige. Denn „es iſt uns eine Sauptſache bei dieſen Schulen, den Jungen Begegnung zu ſchaffen mit dem Adler der Begeiſterung, der um uns ſauſet auf breiten Schwingen“. Nach Chri⸗ ſtopher Bruun will „die Volks hochſchule eine Jugendſchule fein, beſonders be⸗ ſtimmt für junge Bauern. Sie will ihnen eine Stätte bieten, wo fie in der Zeit, wo fie frei find von körperlicher Arbeit, ein echtes Jugendleben fuhren konnen, wo fie Ruhe finden konnen für ein nach innen gekehrtes Leben im Gedanken und im Traum”. Worte, die uns Mitteleuropaͤern vorwunderlich klingen, zumal wenn wir hoͤren, daß fie in den 7oer Jahren des vorigen Jahrhunderts zu der Jugend eines germaniſchen Volkes geſprochen wurden. Worte, denen Taten auf dem Suße folgten. Denn nun folgte Landſchaft auf CLandſchaft dem Beiſpiel der Pioniere. Ohne jede Beihilfe des Staates, mehr oder weniger von der gebildeten Welt ver · achtet und beſpottet, wuchſen dieſe Schulen. Seute hat Norwegen 30 Volkshoch ; ſchulen, über das ganze Land verteilt, meift in ausgeſucht ſchoͤnen Gegenden. Dazu kommen noch etwa 22 Jugendfchulen, die ganz dem Stile der Volks hochſchulen entſprechen, jedoch aus mehr pietiſtiſcher Richtung eine Art „ANorrektur“ der Grundtvig · Schule beabſichtigen. Doch wirken fie alle als Lebensſtaͤtten der laͤnd lichen Jugend, alle dienen der Sache der neu · norwegiſchen Sprachbewegung, welche die alte Volks ſprache, wie fie in den reichen Dialekten noch lebendig iſt, wieder zur Sprache des ganzen Landes machen mochte. Denn die Stadtſprache iſt in fruheren Jahrhunderten ſtark vom Daͤniſchen beeinflußt worden, was zu dem merkwürdigen Sprachſtreit geführt hat, den die Norweger. heute unter ſich aus kaͤmpfen.

Die Geſchichte der Volks hochſchule in Skandinavien iſt ein muftergältiges Bei ſpiel dafur, wie der erzieheriſche Geiſt eines großen Menſchen in den mannig- faltigſten Verwandlungen ausſtrahlen kann und die Lebenswirklichkeit ganzer Volker zu ergreifen und an entſcheidenden Stellen umzubilden vermag. Immer gelingt das dem Genius, wenn er ſich nicht ſcheut, ſich mit den oft genug fo un ; ſcheinbaren Forderungen des Alltags zu verbinden. Der geiſtige Impuls Grundt⸗ vigs lebt in der ſkandinaviſchen Volks hochſchule noch beute, wenn ſchon abge⸗ ſchwaͤcht und nicht immer kongenial weitergeführt. Darum mehren ſich auch die Stimmen innerhalb der nordiſchen Schulen, welche die KAriſis nicht länger ver- ſchleiert haben wollen, und man kann bereits die Loſung bören: „Wir müſſen zuruck zu Grundtvig und muͤſſen in feinem Geiſte die großen Fragen der neuen Zeit anſchauen und loͤſen lernen.“ Der Titel einer Volks hochſchule will heute aus neuen Vorausſetzungen heraus neu erworben ſein, auch in Skandinavien. Bis in die entlegenfte norwegiſche Bauern ⸗Jugendſchule hinein wirkt die tiefe ſoziale Un · ruhe des heutigen Voͤlkerlebens. Die Zeit iſt eben gekommen, wo neue, beilfame Erziehungskraͤfte nur gewonnen werden konnen aus der illuſionsloſen Erkenntnis einer Notlage, welche alle Volker Europas betrifft, und letzten Endes aus einer neuen Weisheit vom Menſchen ſelbſt. Bevor Chriſtopher Bruun fein geiſtiges Programm der Volkshochſchule entwickelte, bat er um die Erlaubnis „vorerft etwas fagen zu dürfen über das Leben des Menſchen “. „Daß wir unſer Leben auf eine beſſere und hoͤhere Weiſe leben, dazu allein will uns die Volks hochſchule wie jede andere Schule verhelfen. Aus dem Leben des Menſchen heraus ſoll darum

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dieſe Schule erklaͤrt werden. Aus dem Leben des Menſchen l Welche einfache und doch immer von neuem geheimnisvolle Loſung! Erich Trummler, Osle

7 Gewiſſe Wahrheiten über Öfter-

Dfterreichifche Sentimentalitaͤten VVV als Öfterreicher kennt. Wenn fie von einem Reichsdeutſchen geäußert werben, dann iſt der Leſer oder Sörer in Gſterreich gleich geneigt, ſie als eine „preußiſche Taxtloſigkeitꝰ zu verdaͤchtigen. Wimmt ein Öfterreicher felber das Wort, dann iſt der Arger in gewiſſen unentwegten altöfterreichifchen Kreiſen zwar nicht geringer, aber ein gern benuͤtzter Vorwand, Unkenntnis und Anmaßung des Kritikers, kann nicht mehr erhoben werden. Und ſo erbitte ich als Öfterreicher Raum in dieſem Blatte, um ein paar Worte über ein vielleicht geringfuͤgiges, doch bezeichnendes und aͤrgerliches Vorkommnis zu ſagen.

Vor kurzem iſt ein Buch erſchienen, das für jenes in Gſterreich ſehr häufige ſen⸗ timentale Gemiſch von Denken und fühlen ſehr bezeichnend iſt, das in Form und Inhalt vor einem ſachlichen Urteil nicht beſtehen kann, das in feinen Behaup⸗ tungen auf weite Strecken falſch und willkuͤrlich iſt und in feinen daraus gezogenen Schluͤſſen von Fehlern wimmelt. Es beißt „Ein Jahrtauſend deutſcher Roman tik“, erſchien in dem bekannten katholiſchen Verlage Tyrolia in Innsbruck und ſtammt von dem bekannten katholiſchen Schriftſteller Joſeph Auguft Kur, der in ein paar nicht unerheblichen Romanen und anderen Buͤchern eine nicht erhebliche, aber doch ſympathiſche Kraft bewies. Vor kurzem ſchilderte er in einer der katho⸗ liſchen Jeitſchriften feines Verlages Tyrolia in fortgeſetzten lyriſierenden Stim- mungsbildern, wie er aus einem Unglaͤubigen ein Glaͤubiger wurde. Es gelang ihm wohl kaum, einem Menſchen, der nicht ſelbſt ſchon drauf und dran iſt, glaͤubig zu werden, über die ſeeliſchen und geiſtigen Vorgänge in feinem Falle eine irgend wie verſtaͤndliche Auskunft zu geben, weil er über die, ich möchte ſagen, entzuͤckte Cobpreiſung der Formen und Formeln feiner „Ronverſio“ hinweg nicht in den Bern feiner Wandlung geriet.

Nun, das iſt ſeine Sache und wenn es den Leſern jenes konfeſſionell gebundenen Organes genügt, was er zu offenbaren hat, fo haben wir anderen kein Recht und keinen Anlaß, uns darum zu kümmern. Da er aber in dem genannten Buche den engen Kreis feiner religiͤſen Bonfeffionen verläßt und Anſpruch auf allgemeines Gehoͤr erhebt, hat man das Recht und die Pflicht, ihm zu begegnen.

err Lux behauptet in feinem Buche mit einer Leiden ſchaft, die wir lieber an einer beſſeren Sache ſich bewaͤhrend, als hier verſchwendet fähen, daß fo ziemlich alles, was die deutſche Literatur bisher geleiſtet hat, öſterreichiſcher Serkunft, öſterreichiſcher Arbeit iſt. Er ſchreckt vor den wunderlichſten Schluͤſſen und Ver⸗ zerrungen nicht zuruck, um uns feine Theſe einzureden. Laͤngſt abgetane und ſpur los vorhbergegangene Zeiten öſterreichiſchen Dichtens Drama der Jefuiten, Schulkomòodien, Balladen und Gedichte der reimenden habsburgiſchen Patrioten im Is. und J9. Jahrhundert) entdeckt er als ungemein bedeutende und fortwirkende Ceiſtungen. Bümmerlinge und Treibbauspflansen fest er kühn in Vergleich mit beeitäftigen Saftbaͤumen, wenn jene habsburgiſcher Zucht, dieſe aber reichs, be⸗ ſonders norddeutſcher Erde entſtammen. Das ift der eine Fehler dieſes aͤrgerlichen und bedauerlichen Buches, daß es aus Saß / Abſicht oder Sentimentalität hier ver- Kleinert, dort vergrößert. N ö Lat Vm 27

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Der zweite Fehler iſt eine unertraͤgliche und ganz unangebrachte Raunzerei. Ju behaupten, daß jene Großen der deutſchen Runſt, die aus den Alpen · oder Donau⸗ laͤndern kommen, im „Reich“ ſchnoͤde mißachtet wurden, iſt angeſichts der Ver · ebrung, die unſere Grillparzer, Raimund, Neſtroy, Anzengruber, Stifter, Eſchen⸗ bach uſw. im „Reich“ genießen, eine große Ungerechtigkeit. Weiß denn Serr Lux nichts von den zahlreichen ſchoͤnen Ausgaben öͤſterreichiſcher Dichter bei reichs · deutſchen Verlegern, weiß er nichts von den vielen wiſſenſchaftlichen und kritiſchen Arbeiten reichsdeutſcher Köpfe uͤber fie? Gibt es denn für ihn nur Kiteratur- geſchichten, die von Patern ſtammen und von Biſchoͤfen approbiert find? Glaubt er ernſtlich, daß den Öfterreichern, die wirklich etwas zu fingen und zu ſagen hatten, von der deutſchen Literaturkritik Unrecht geſchieht?

Es wäre für ihn ſehr leicht, ſich ein richtiges Bild zu verſchaffen, wenn er wollte. Ob er aber will, das iſt freilich eine andere Frage.

Auch die andere, hoͤchſt unkritiſche und verzerrende Methode ſeines Buches, das Totſchweigen, iſt ärgerlich und laͤcherlich. Damit macht man unfere oͤſterreichiſche mittelmaͤßigkeit nicht groß, daß man die Brößen des proteſtantiſchen Nordens einfach nicht erwähnt und nicht in Vergleich ſetzt. Das kann nicht Überzeugen, wenn man dem Norden alle ſeine Sünden wider den deutſchen Geiſt vorrechnet und beim Suͤden ruͤckſichts voll verſchweigt. Wenn etwa ein Mecklenburger eine mecklenburgiſche Literaturgeſchichte ſchriebe, Fleinfelig und doͤrflich wie Serr Lur feine öſterreichiſche, dann kaͤmen wir Oſterreicher ſchoͤn weg! Aber feine Arbeit waͤre ſo verwerflich wie die des Oſterreichers Lur.

Wenn err Lux politiſch wird, dann redet er wie ein Maturant, der vollgeſtopft mit dem offiziellen patriotiſchen Phraſengedreſch der alten Monarchie von der k. und k. Schulbank auf die Bierbank eines Dorfes uͤberſiedelt iſt, eines Dorfes, das im Schatten eines Legitimiſtenſchloſſes der Oſtſteiermark oder Oberoͤſterreichs ruht.

mir iſt der Mangel an Wiſſen, Ruhe, Würde, Sicherheit in dieſem Buche unbe⸗ greiflich. Wur einer, der ſeiner Sache und Art ſehr unſicher iſt, kann von ſich felber in fo aufgeregten Aus ſprachen daherreden. Wenn alles, politiſch und literariſch fo wäre, wie es Herr Lux fiebt, warum geht es uns heute fo ſpottſchlecht? Warum find wir von den Launen und Gnaden naͤherer und fernerer Nachbarn abhaͤngig, wenn denn die Sabsburger gar fo tücdhtig, fo ſchlau und fo großzuͤgig geweſen find, wie Serr Lur will? Und was hilft fein langwieriges, ſich felber zehnmal wieder⸗ holendes Gefaſel von der Große und der Leiſtung in der Vergangenheit, wenn die Spuren, die Fruͤchte dieſer Vergangenheit, ein verſtuͤmmelter Staat, eine verrädt gewordene Wirtſchaft, ganz anders ausſehen, als fie, wenn err Lux recht haͤtte, ausfeben müßten?

Nein, mit dem raunzeriſchen Selbſtlob des Seren Lux und feiner politiſchen und literariſchen Freunde kommen wir Oſterreicher nicht weiter, damit machen wir uns nur lächerlich, wie der Ungeiſt uͤberheblicher Kleinſeligkeit ſich immer laͤcherlich macht und damit das Gegenteil von dem erreicht, was er will.

In den gewiſſen altöfterreihifhen Ronventikeln wird dieſem unwiſſenſchaft⸗ lichen, gefuͤhlsſeligen und raunzeriſchen Machwerk naturlich begeiſtert zugeſtimmt werden. Daruber hinaus kann es aber nicht einmal ſo weit ernſt genommen wer⸗ den, daß man ſich eingehend mit ſeiner Widerlegung beſchaͤftigt.

Wie denn uberhaupt öſterreichiſche Sentimentalitaͤten dieſer und ahnlicher Art nicht ernſt genommen werden dürfen. Der Vollzug des Anſchluſſes Öfterreihs an

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Deutſchland wird fo linde und leicht nicht fein, als man gemeinhin glaubt. Sieber, Kriſen der Wirtſchaft, des getſtigen und politiſchen Lebens können nicht aus bleiben. Aber das ſind Fieber nach einer gelungenen Operation und Anzeichen, daß ſich ein kraͤftiger und geſunder Rörper zum Leben meldet. Serr Lux aber und die bei ibm die Schar wird freilich immer Hleiner und ſieht immer wunderlicher und altertuͤmlicher aus wollen den Kranken in feiner zerlemperten Stube, in ſeinem ſchlechten Bette halten und von Aurpfuſchern zu Tode kummern laſſen. Daß die Sache ſo ſteht, hat ſogar, ſo ſcheint es, die ruhige Sachlichkeit eines Seipel laͤngſt eingefeben. Aber freilich, bis ſoviel Einſicht nun zu den Unterläufen binunter- tröpfelt, das braucht feine Zeit.

Es ſteht doch fo: nur Gewalt oder Eigenſucht verhindert, daß Oſterreich ſchon beute ein Teil des größeren Deutſchland iſt. Der Anſchluß iſt keine Frage der Be- ſinnung mehr, ſondern nur noch eine Frage der Zeit und Arbeit. Donaureich, Wie- derkunft der Habsburger uſw., das find doch abgetane Dinge. Bis auf ein paar Narren und Auͤmmerlinge, auf ein paar, denen der truͤbe Strom der Tatſachen die Kronen, Arònchen und Apanagen fortgeſchwemmt hat, denkt doch niemand mehr ernſtlich an ſie.

Und wenn wir nach Deutſchland kommen, wird unſere Arbeit geſchaͤtzt werden, unſere Kraft, unſere Begabung, die Möglichkeiten der Wirtſchaft, unſer Anſpruch auf Liebe und Freundſchaft wird nach unſeren Leiſtungen beſtimmt werden, nicht nach unſerer fragwuͤrdigen Begabung fürs Backhaͤndeleſſen, die wir ja Gott ſei Dank in dieſem Juſammenhange ſage ich Gott ſei Dank nun lange genug nicht üben konnten.

Seim müflen wir, beim kommen wir. Natur, Serkommen, Schickſal wollen dieſen Weg. Befühlsdufeleien werden diefen Weg nicht verhindern, fie werden ihn auch nicht beſchleunigen. Wenn mit bettelbaften Phraſen im Aufzug des feſchen KAerls für den Anſchluß gearbeitet wird, fo iſt das Suͤnde wider den Geiſt ebenſo, wie wenn man den Seren Lux und Genoſſen das Wort läßt, um aus perſoͤnlichen Trieben oder ſachlicher Unkenntnis dem Geiſte zu widerſtreben. Sinn unſeres Da⸗ feins wir find kaum das kleine Zehntel eines großen Volkes iſt, nach der ruhigen, ewigen Einfügung in den Strom deutſchen Lebens zu ſtreben. Mit Deutſchland leben, mit Deutſchland ſterben, in der deutſchen Werkſtatt unſer ge · rechtes Teil arbeiten, das iſt unſere Aufgabe. Wenn wir das konnen, wollen wir von unferen Rechten reden. Seute und vorläufig doch wohl nur von unſeren Pflichten. Jedes Wort daruber iſt Sentimentalität.

Was not tut, iſt die Beſcheidenheit des Mannes, der feiner Art und feines Ver⸗ dienſtes gewiß iſt. Was not tut, iſt Araft und Wurde. Was not tut, vor allem, iſt Arbeit. Wenn wir ſingen, waͤhrend wir ſchaffen, iſt das unſere Freude. Aber auf die Arbeit kommt es an. Joſeph Papeſch

Dem ſchwäbiſchen Volferum und feiner Pflege] 0, Ser:

Unter dieſem Leitwort hat man ſich hin und her im deutſchen Vaterland nach dem Juſammenbruch nach einer dauerhaften Grundlage zum Wiederaufbau umgeſehen. Schwaben, das feit Uhlands Tagen mit unter den erſten daran war, die befon- deren volkstůmlichen und ſtammheitlichen Werte zu erfaſſen, durfte dabei unter den deutſchen Staͤmmen nicht fehlen. Dieſer Wille kam darin beſonders deutlich

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zum Ausdruck, daß 1920 bei der Umgeſtaltung des Wuͤrttembergiſchen Landes · amts für Denkmalpflege dieſem eine beſondere volkskundliche Abteilung eingeglie⸗ dert, und Auguſt CLaͤmmle mit ihrer Fuͤhrung betraut wurde. Lämmle bat erneut zur Sammlung der volkskundlichen Überlieferungen aufgerufen und inzwiſchen ſchon als Probe davon, wie er ſich die Arbeit denkt, zwei Bändchen ſchwaͤbiſch · volkskundlichen Stoffs veröffentlicht: „Schwaͤbiſche Volkslieder“ und „Der Volks⸗ mund in Schwaben“, beides von Lämmle felbft herausgegeben; ein drittes, über ſchwaͤbiſche Geſchlechts namen vom Unterzeichneten, iſt unter der Preſſe, ein weite res, wiederum von Lämmles Sand, über ſchwaͤbiſche Ainderlieder, angekündigt.

Wie ein wuchtiges Vorwort zu dieſer volkskundlichen Sammelarbeit nimmt ſich Caͤmmles neues Buch „Unſer Volkstum“ aus. Der Titel iſt: Auguſt Lämmile, Unſer Volkstum. Veröôffentlichungen des Wuͤrttembergiſchen Landesamtes für Denkmalpflege. 3. Buch. Stuttgart, Verlag Silberburg, 1925. 157 S. 4 m. Es zer; faͤllt in zwei aͤußerlich etwa gleiche, in ihrer Bedeutung aber recht verſchiedene Teile. Der zweite enthalt ſechs Aufſaͤtze aus unterſchiedlichen Gebieten der ſchwaͤbiſchen Volkskunde, über den Schwank, das Kinderlied, die Mundart, die Bedeutung der Namen, uber Volkstrachten, endlich über die geiftige Beſonderheit des Schwaben gegenuͤber dem Franken, der ja zu einem Heinen Teil noch die Bevoͤlkerung Wuͤrttem ; bergs mit ausmacht; von dieſen ſechs Aufſaͤtzen iſt der letzte ganz beſonders treffend und leſens wert. Lämmle gewinnt durch Vergleich mit dem Nachbarſtamm der Fran · ken die weſen haften Züge des Bildes der ſchwaͤbiſchen Seele: „Der Schwabe iſt, zu: mal in der Jugend, raſch, ungeduldig und unduldſam, ſtuͤrmiſch,, ein Sigeblig‘, un- uͤberlegt, leidenſchaftlich. Er wird erſt mit vierzig Jahren geſcheit. Er lernt nur aus der eigenen Torheit. Der Franke iſt abwartend; fein Grundſatz iſt: „'s langt fi' noch l' Er iſt kuͤhl und ſieht zu, bis feine Zeit da iſt. Der Schwabe iſt Fremden gegenüber leicht ſcheu, verlegen, ja mißtrauiſch. Es geht ihm das Wort, nament- lich das hoͤfliche und liebe, nur ſchwer durch das Gehege der Zähne. Seine Weich; heit, feine Gute, feine Froͤmmigkeit ſucht er nach außen hinter kurzangebundenem, unfreundlichem Weſen zu verſtecken. Wenn er „nein“ ſagt iſt damit nicht bewieſen, daß er nicht eigentlich ‚ja‘ meint. Darum iſt ihm, dem uͤberdeutſchen Deutſchen, Grobheit ein Jeichen von Aufrichtigkeit und Maͤnnlichkeit, die er über alles ſtellt. Er iſt behlingen zart, beblingen lieb, hehlingen fromm, aber offen luſtig, offen brutal, offen derb“. Dieſe Art, die Fragen an der Wurzel zu faſſen, bezeichnet noch mehr den erſten Teil des Buches. In dreizehn Abſchnitten wird hier vom Weſen und Werk des Volkstümlichen und Volkskundlichen, von feinem künſtleriſchen, ſittlichen und religidfen Gehalt, von Entſtehung, Verkuͤmmerung und Pflege des Bode nſtaͤndigen gehandelt. Was Lämmle daruͤber fagt, iſt ein Stuck feiner Welt · anſchauung, ein Stuck Bekenntnis. Und es geht hier wie mit allem Bekenntnis⸗ mäßigen: es iſt nicht bloß zum Leſen da, auch nicht zum gedankenloſen Nach⸗ reden; ohne Hare Auseinanderſetzung mit ſolch grundlegenden Bildungsfragen bleiben derartige Gedanken tot. Am ſchwierigſten und tiefgreifendſten iſt dieſe Aus · einanderſetzung da, wo es um die religidfe Frage geht, dann um die Frage: Seimat · kultur und Fremdkultur, da wo geſchichtliche Tatſachen und perſoͤnliche Stimmun⸗ gen um ihre Ausgleichung kaͤmpfen. Als Proben von Lämmles Stellung zu dieſen Fragen mögen ein paar beſonders ſcharf geſchliffene Säge angeführt fein: „Es bat jedes Ding, jeder Menſch, jedes Volk fein Geſetz, feine Art, fein Leben, feine Aufgabe, feine Sehnſucht mit einem Wort: feine Seimat. Und es iſt nicht moͤg⸗

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lich, obne diefe Seimat in Frieden zu leben, feine Aufgabe zu erfüllen, fein Leben fruchtbar zu geſtalten, zu ſich ſelber zu kommen, fo wenig es moglich iſt, ohne Be- rechtigkeit und ohne Gott zu leben.. . Fremdes Volkstum iſt oft herrlich und be · wunderns wert. Aber wir konnen nichts daraus lernen, wenn wir nicht feſt im eigenen Volkstum verwurzelt find. Es kann überhaupt nur der Meiſter, der fer⸗ tige, reife, prufende, bewußte Menſch aus fremder Runft, Sprache und Art, frem⸗ dem Recht, Brauch, Volkstum lernen. Fehlt ihm Urteil und Maßſtab, fo wird leicht das fremde Bild zum Vorbild, was zur Verworrenheit, Entwurzelung und Seimatlofigkeit führt. . . . Das Religidfe und das Auͤnſtleriſche iſt ein Teil des menſchlichen Weſens. Es lebt im Volk ein Soͤhberes, Groͤßeres, eine alle Natur und alle Welt überragende ſittliche Kraft, der Glaube an ein goͤttliches Weſen . . Aber trotzdem hat die Volkskunde wenig rechte Freunde: den Vornehmen iſt die Sache zu vulgaͤr, den Sortfchrittleen zu ruͤckſtaͤndig, den Frommen zu weltlich, den Freien zu fromm. Der Gebildete geht meiſt geringſchaͤtzig daran vorüber, die Ungelehrten erkennen felten ihren Wert, denn die Dinge der Volkskunde find ja nicht weit ber. ... Aber es lohnt trotzdem, ſich um das Geheimnis eines Menſchen und eines Volkes zu muͤhen.“

So faßt Lämmle in dem Buch nicht nur die Grundfragen der ſchwaͤbiſchen Volkskunde in ihrer Tiefe an, ſondern die des Volkstümlichen im Verhaltnis zu den Fragen des geiftigen Daſeins und feiner Geſtaltung uberhaupt. Und darum wird das Buch auch außerhalb der ſchwarz · roten Grenzyfaͤhle verdientermaßen Freunde finden. Rudolf Rapff

Die Fahigkeit des feinnervigen

Deutſche Myſtik und Romantik VPN Schellenberg, ſich in die Welt anderer Seelen einzufuͤhlen, ift gar manchen dankbaren Ceſern aus feinen ſchoͤnen Übertragungen franzöfifcher Lyriker bekannt. Wenn er es unternimmt, deutſche Myſtik und Romantik darzuſtellen, fo wird man von vorn; berein eine edle Gabe erwarten dürfen, weil man aus feinem ſonſtigen Schaffen weiß, daß jene beiden Reiche deutſchen Seelenlebens feine eigentliche geiſtige Sei · mat find. Sein Buch „Die deutſche Myſtik““ bietet (in ſchoͤnem Druck) eine Ein · führung ins Weſen der Myſtik, ſoweit fie ſich in deutſchen Menſchen in immer neuen Wellen der Gotterfuͤlltheit bekundet. In der liebewarmen Sprache, die dem Verfaſſer eigen iſt, werden nicht fo ſehr die einzelnen myſtiſchen Perſoͤnlichkeiten wie die allen gemeinſamen Weſenszuͤge gezeigt, doch wird auch hier Ecke harts uber · ragende Meiſtergroͤße fuͤhlbar. Beſonders klar erweiſt ſich, wie die Myſtiker, und gerade die deutſchen, wie Ecke hart, Böhme, Fichte und manch anderer als wahre Nachfolger Jeſu, als „Anbeter im Geiſt und in der Wahrheit“ aufs neue und im- mer wieder die ſtarre juͤdiſche Religionslehre und nicht minder alles „chriſtliche“ KAirchentum recht eigentlich überwinden. Die Bildbeigaben des Buches, die trefflich ausgewaͤhlt find und ebenſo die angefuͤgte Betrachtung „Bach, der Myſtiker und die Gotik“ zeigen, wie auch die Aunſt in ihren machtvollſten Meiſtern mit gewaltigem Ton in den „chorus mysticus einſtimmt. Wer eine Verjüngung unſerer Lebens; baltung und unferer Lebensformen für den Einzelnen wie fürs ganze Volk erſehnt und fühlt, daß dieſe Sehnſucht ſich dort erfüllt, wo das Reich Gottes in den Serzen

Verlag für Kultur und Menſchenkunde. Berlin · Cichterfelde. Preis geh 2.20 M; geb. 3.50 m 2., überarbeitete Aufl.

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wahrhaft maͤchtig iſt, den kann dieſes Buch zu den großen Propheten deutſcher Seele führen, die zu allen Zeiten als Sucher und Runder, als liebende, ſorgende Bruder aller ringenden und ſehnenden Gemüter erſchienen. Am Anfang, in der Mitte und am Schluß hat der Verfaſſer vier feiner ſchoͤnſten Gedichte beigeſteuert. Während Schellenbergs „Myſtik“ ein handliches Buͤchlein Heineren Formats bildet, iſt fein „Buch der deutſchen Romantik mit dem Untertitel „Die Sehnſucht nach dem Unend⸗ lichen“ ein umfangreiches Werk. Die große geiſtige Bewegung, von der die Genera · tion, die etwa ein Menſchenalter jünger war als Goethe, ergriffen wurde, hat in den letzten Jahrzehnten feit Rudolf Sayms erſtem wiſſenſchaftlichen Eindringen von mancherlei Blickpunkten aus verſchiedenartige Beleuchtung erfahren. Ricarda Suchs Werk enthält viel liebevolle Darſtellungen, aber auch viel Schiefes, Verzeich⸗ netes (Sol derlin l). Gundolf hat in der Einleitung feiner „Romantikerbriefe (Jena, Diederichs, leider ſchon lange vergriffen l) ſcharf den Sinn der Bewegung und ihre weſentlichſten Träger umriſſen und ſpaͤter im letzten Kapitel feines Meiſterwerkes „Shakeſpeare und der deutſche Geiſt“ Aar und knapp Klaſſik und Romantik ein ander gegenuͤbergeſtellt und ihre tiefe Verwandtſchaft, ibren gemeinſamen Ur⸗ ſprung ſowie ihre polare Gegenſaͤtzlichkeit herausgearbeitet. In gleicher Richtung iſt dann Fritz Strich weiter vorwärts gegangen. Was E. C. Schellenberg uns darbringt, ſoll nicht in erſter Linie ein wiſſenſchaftliches Werk im Sinne Gundolfs oder Strichs fein, es iſt, weit mehr als etwa Ricarda Suchs Arbeit, das Liebes und Glaubensbekenntnis einer dem romantiſchen Weſen innig verwandten Seele. Da- bei zeigt ſich der Verfaſſer nicht etwa kritiklos gegenuber den Gefahren, die die ro⸗ mantiſche Saltung in ſich ſchließt oder gegen die Schwaͤchen einzelner Romantiker wie etwa Friedrich Schlegels. Aber er ſucht in verſtaͤndnis vollem Eingehen dar⸗ zutun, was jene romantiſchen Menſchen eigentlich wollten, von welchen Erleb · niſſen fie ausgingen und welche Ziele ihrer Sehnſucht oft unerreicht und uner · reichbar vorſchwebten und wie ſie dieſen Jielen, ein jeder auf ſeinem Wege, nachgingen, als Denker, Dichter, Maler, Toͤner. Demgemaͤß werden zuerſt die all- gemeinen Vorausſetzungen der Bewegung erörtert: die „myſtiſche Einſicht“, von der jene neue Jugend in bewußtem Gegenſatze zur gealterten und verflachten Auf⸗ Flärung ergriffen war, und die Saltung des romantiſchen Bünftlers immer an Sand der erſten Urkunden romantiſchen Fuͤhlens, Glaubens und Denkens ge- kennzeichnet. Von dem ſo gewonnenen Blickpunkt aus führt das Buch in drei gründlichen Kapiteln nacheinander durch die Bereiche romantiſcher Dichtung, Malerei und Muſik, vom Biograpbiſchen immer nur ſoviel ausleſend, als zum Begreifen der kuͤnſtleriſchen Leiſtung noͤtig iſt. So vermag das Werk eine Fuͤhrung durch den weiten bunten Garten der Romantik, der ſonſt manchem als Irrgarten erſcheinen mag, zu bieten, und man wird bei dieſer Führung, mag man auch im einzelnen manches anders ſehen, beſonders beglückt inne, welch großes und tiefes Stuͤck deutſchen Geiſteslebens dieſes romantiſche Reich darſtellt. Es iſt ein Buch deutſcher Bildung im beſten Sinne. Wilhelm Willige

Wir nennen die zweite Hälfte des J8. Jahr⸗ Menſch und Ubermenſch hunderts das Zeitalter der Sumanitaͤt. Mit vollem Recht: fie tft die humanſte, die menſchlichſte Zeit, von der wir wiſſen, nicht

Im gleichen Verlage. 1924. 323 Seiten. Preis: in fteifer Broſchur 15. M; geb. 20.— m Mit 84 Abbildungen in Offſetdruck.

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nur im gewöhnlichen Sinne, ſondern auch in der eigentlichſten Bedeutung des Wortes: eine 3eit, in der man vor allem men ſch fein wollte und darin das Soͤchſte ſah. Niemals ſonſt hat das Wort „Menſch“ einen fo vollen, ſtarken, berauſchenden Blang gehabt. Selbſt die Muſik ſingt von feiner Serrlichkeit. „Mit Würd' und Zoheit angetan, mit Schoͤnheit, Stark und Mut begabt, gen Simmel aufgerichtet, ftebt der Menſch, ein Aoͤnig der Natur.“ Noch brauſender klingt der Symnus, mit dem Schiller den Menſchen „an des Jahrhunderts Neige“ feiert. Und in der Jau⸗ berfloͤte Hören wir: „Er iſt ein Prinz! Er iſt mehr als das; er iſt ein Menſch!“ zum großen Mißvergnägen von Doktor Überbein (Ch. mann, Königliche Soheit). Dieſe begeiſternde Araft hat das Wort im I. Jahrhundert gruͤndlich ver⸗ loren und dafür geradezu einen uͤblen Geruch angenommen. Schon Fr. Th. Viſcher gebraucht fuͤr das Bedenkliche und Unlautere im Tun der Menſchen die Wendung „es menſchelt“, und Nietzſche prägt in demſelben Sinne im Titel eines feiner Buͤcher einen Ausdruck, dem ſtarke Flügel gewachſen find: „Menſchliches ⸗Allzu⸗ menſchliches. Und fein Jarathuſtra lehrt den Ubermenſchen als den Sinn der Erde und ftellt ihm als das Veraͤchtlichſte den „letzten Menſchen“ entgegen. Und die folgenden Geſchlechter jubeln ihm begeiſtert zu.

Nun iſt es ja ſelbſtverſtaͤndlich nicht derſelbe „Menſch“, den Schiller fo enthu⸗ ſiaſtiſch preiſt und Wietzſche fo ingrimmig verachtet. Sondern für jene Jeit be deutete das Wort ein Ideal, das hoͤchſte, das fie kannte, deſſen Serrlichkeit ihnen aus dem Bilde der Beſten widerſtrahlte, während die Gegenwart dabei an die em» piriſche Wirklichkeit denkt, die, als Durchſchnitt und Maſſenerſcheinung genommen, jenem Ideal wenig ahnlich ſieht, und ihr Ideal im Bilde des Übermenfchen aus Beprägt hat. Aber es ſteht doch auch keineswegs fo, daß es ſich ſozuſagen in der Sauptſache um einen Unterſchied der Terminologie handelte, daß die neuere Jeit mit „ubermenſch“ ungefaͤhr ebendas meinte, was jene fruͤhere ſchlichter „Menſch“ genannt habe. Sondern der Wandel des Wortgebrauchs druckt hier zweifellos eine innerliche und weſentliche Wandlung im Inhalte des Ideals aus. Es kann ja nicht gleichgültig fein, ob wir das hoͤchſte Ziel unſeres Strebens mit dieſem oder jenem Namen nennen. Menſch das ſind wir ſchließlich alle, und wie hoch wir auch das werten, was der Name einſchließt, fo iſt uns doch, als ob wir es alle ohne wei⸗ teres bätten oder wenigſtens haben konnten. Das Ideal „Menſch“ ſcheint zum Greifen nahe und für alle erreichbar, ſoweit nicht ſchon erreicht. Und dieſe Siege ſtimmung, „wie wir es fo herrlich weit gebracht“, iſt in der Tat im Js. Jahrbundert außerordentlich verbreitet. Sie ſpricht beſonders aus einem großen Teile der Frei⸗ maurer · iteratur mit einer YIaivität, die uns halb zum Lachen reizt, halb Wider⸗ willen erregt. Jene Jeit ſchwelgte im Selbſtgenuſſe ihrer Tugend und Vortrefflich · keit. Und nicht ohne Grund. Um nur an das bekannteſte und augenfälligfte zu er⸗ innern: die Aufhebung der Leibeigenſchaft, die Abſchaffung der Folter, das Auf hoͤren der Serenprozeſſe, die Erweichung der ſtarren Standesſchranken, wie fie ſich beſonders in der Freimaurerei auswirkte wann waren je in ſo kurzer Jeit ſo ge⸗ waltige und ſegens volle Fortſchritte erreicht? Aber jene Zeit nahm zu leicht Worte für Taten; fie berauſchte ſich am hohen Schwunge ihres Gefuͤhls und war ſich nicht bewußt, wie groß und ſchwer die Aufgabe iſt, praktiſch dauernd auf der Höhe des Ideals zu leben und die Welt ibm gemäß zu geſtalten. Dieſer leichtherzige Opti · mis mus hat nicht ſtandgehalten. Schon Kant ſetzt eine herbere, maͤnnlichere Le⸗ bensanſchauung an feine Stelle, und bei Kleiſt erleben wir den Umſchlag des

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frohen Fortſchrittsglaubens in radikalen Peſſimis mus. Seute ſind wir vor ſolcher Selbſtgerechtigkeit geſchuͤtzt. Ju gründlich haben wir mit Grauen erlebt, wie mäd- tig immer noch die Beſtie im Menſchen iſt, und wie wir noch in den Anfängen der Menſchwerdung fteben.

Dem gegenuber ſchaͤrft das u bermenſchen · Ideal mit aller Energie ein, daß etwas ganz Neues und Andersartiges verlangt wird, eine neue Geburt predigt dies noch nachdrüͤcklicher als die chriſtliche Idee der Wiedergeburt oder Brands „neuer Adam.“ Aber dieſe Sochſpannung bedeutet zugleich mindeſtens die Gefahr der Überfpannung. Ein allzu tranſzendent gefaßtes, ohne Beziehung zur gegen · waͤrtigen Wirklichkeit entworfenes Ideal kann hoͤchſtens ein Gegenſtand der Sehn · ſucht, aber nicht mehr Jiel des Strebens fein und muß daher das Streben ent mutigen. Der Übermenfch tft etwas, das wir nicht werden und nicht hervoe⸗ bringen, ſondern nur erſehnen, erhoffen, erwarten und allenfalls vorbereiten

nen.

Aber noch entſcheidender iſt ein anderes. Das Ubermenſchen · Ideal tft feiner Na⸗ tur nach ein Ideal nicht für alle, ſondern für wenige, für eine Auswahl von Aus · nahme · Naturen, ein ariſtokratiſches Ideal. Es iſt eine deutliche Reaktion gegen den Geiſt des J8. Jahrhunderts und fein Sieg haͤngt zuſammen mit der er⸗ boͤhten Bedeutung, die allerlei Trennungen und Beſonderungen auf Boften des allgemein Menſchlichen gewinnen. Die Zeit der Aufflärung hatte die Idee des Menſchen ſchlechthin mit feinen angeborenen Menſchenrechten geſchaffen und ihn über alle Klaſſenſchranken und Gegenſaͤtze erhoht. Ihre praktiſche Auswirkung war die franzoͤſiſche Revolution, die Aufhebung der Standes vorrechte, die Gleich; ſtellung aller vor dem Geſetz, der Siegeszug des politiſchen Demokratis mus und Parlamentarismus. Aber ſehr bald ſetzt die Gegenbewegung ein, die ſich mit ihr kreuzt: das Erwachen der ſolange ſchlummernden Nationalitaͤten und ihr Rampf um ihre Selbſtaͤndigkeit, das Wiedererſtarken des Katholizismus, der Beginn des wirtſchaftlichen Klaſſenkampfes. Damit wird jenes allgemeine Menſchheits ideal praktiſch zerſtoͤrt, denn nun fühlen ſich die einen in erſter Linie als Deutſche oder Stanzofen, die andern als Arbeiter oder Unternehmer, und der Menſch kommt hoch; ſtens an zweiter Stelle.

Das uber menſchen · Ideal, genauer angefeben, vereinigt in ſich zwei Bonzep tionen recht verſchiedener Art. In ihm ift enthalten das Ideal des ſchoͤpferiſchen Menſchen, des Genies, des Propheten oder Büänftlers. Das iſt ja freilich ein Aus · nahmefall, der von gewohnlichen Menſchen artverſchieden und hoher zu werten iſt. Nur iſt dieſer in der Sauptſache ein Glůcksfall der Natur, der daher kein ethiſches Ideal abgeben kann. Zur andern Saͤlfte beſteht er in der Übung derſelben Tugen- den, die auch für den Durchſchnitts menſchen gelten der Singabe und Treue, des geſammelten Willens zum Jiel, nur in erhöhtem Maße. Von innerem Losge⸗ ſprochenſein von den allgemein ⸗menſchlichen Pflichten, von einem grund ſäaͤtzlich abweichenden Ideal kann mithin keine Rede ſein. Aber damit verquickt ſich dann das andere: der Serrenmenſch, der Menſch der ſtarken Fauſt und des rüͤckſichts⸗ loſen Willens zur Macht. Schon bei Nietzſche ſteht dies im Vordergrunde, ſobald er ſein Ideal nicht in abſtrakter Predigt anpreiſt, ſondern geſchichtliche Beiſpiele ſucht und bei den Gewaltmenſchen der Renaiſſance findet. Und nur in dieſem Sinne hat ſeine Lehre ins Breite gewirkt. Aber der Ausdruck „die blonde Beſtie“ iſt ver⸗ raͤteriſch: er ſagt, und ſagt mit Recht, daß bier nicht der Ubermenſch, ſondern der

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Unmenſch, d. b. der Untermenſch vor uns ſteht, die mit Vernunft ausgeſtattete, aber dadurch nur böfer und gefährlicher gewordene Beſtie. Dieſer Geiſt der Beſtie, der durch keine ſittlichen und Menſchlichkeitsruͤckſichten gehemmte Wille zur Macht um jeden Preis bat in der Tat im Laufe des 19. Jahrhunderts in wachſendem Maße von der Menſchheit Beſitz ergriffen, hat alle politiſchen und wirtſchaftlichen Verhaͤltniſſe durchdrungen und den Bampf aller gegen alle, Volk gegen Volk, Stand gegen Stand, entfeſſelt, der Europa zum Juſammenbruche geführt hat und an dem es gänzlich zu Grunde gehen wird, wenn es ihn nicht zu überwinden und zu bannen weiß. Dies aber kann nur gelingen, wenn wir ihm den Geiſt wahrer Menſchlichkeit entgegenſtellen, den uns das 18. Jahrhundert als koſtbarſtes Erbe hinterlaſſen hat. Laßt uns wieder Menſchen im vollen Sinne werden, dann brauchen wir den ubermenſchen nicht! Laßt uns den menſchen wieder als die große, unendliche Aufgabe faſſen, die volle Entfaltung alles deſſen, was in uns an ſittlichen Araͤften und ſchoͤpferiſchen Möglichkeiten angelegt iſt! (Wie Kant feine Pbiloſophie definiert hat als die Wiſſenſchaft, „die Stelle geziemend zu erfüllen, welche den Menſchen in der Schöpfung angewieſen iſt, und aus der er lernen kann, was man fein muß, um ein Menſch zu ſein“.) Dann wird ſich auch in den Be ziehungen der Menſchen unter einander, der Einzelnen wie der Volker, von ſelbſt die wahre Menſchlichkeit herſtellen, denn wir werden uns erkennen und ehren als Bruder und Weggenoſſen im Streben nach dem gemeinſamen Jiele. Menſch ſein in dieſem Sinne iſt freilich das hoͤchſte Ideal und höher als jedes Teil / und Sonder ; Ideal, denn alle Gute und Freiheit, alle Größe und Schoͤnheit, die dem Menſchen zu denken möglich iſt, iſt darin eingeſchloſſen. Wir danken der neueſten Dichtung Franz Werfel, Ernſt Toller, Leonhard Frank u. a. —, daß fie das Ideal des Men · ſchen wieder ſo energiſch vor uns aufgerichtet hat, aber wir bleiben uns bewußt, daß wir damit nur in die Bahn unſerer Haſſiſchen Jeit wieder einlenken; jener Jeit, wo Deutſchland, wenn nicht politiſch, fo geiſtig eine Großmacht war und eine Welt geltung hatte, die es heute politiſch und geiſtig gleich gründlich verloren hat. Seinrich Meyer -⸗Benfey

D In dieſen Tagen feiert der Dichter und Denker Paul Muͤh ·

Paul Muͤhſam ſam feinen fuͤnfzigſten Geburtstag. Er iſt Rechtsanwalt in Börlig. Und muß im angeſtrengten Beruf einen muͤhe vollen Lebensweg voll; bringen, um nur in ganz kurzer Urlaubszeit einmal im Jahre zum dichteriſchen Schaffen ſich Muße zu gönnen. Mühſam ! Sein Name klingt, als follte er Aus druck fein für des Menſchen Wandern durch das graue Land der Mühe. Aber feine Buͤcher wiſſen nichts von grauer Muͤhe, uͤber ihnen liegt ein Glanz, eine Poeſie, ein Klang, als habe ein Vogel aus dem Paradies es dem Dichter ins Serz ge fungen, das ganze Wundergeheimnis vom Leben von dem Leben, wie es immer in Gott ruht, von dem Menſchlichen, wie es immer von Gott getragen wird, und doch von ihm getrennt ringt, und nicht weiß, daß es um ihn ringt und doch noch zum Jiel kommen wird. In herrlichen rhythmiſchen Geſaͤngen rauſcht es auf, voll hoher dichteriſcher Schoͤnheit. „Alingen nicht alle Sonnen zu⸗ ſammen zu einer Weltenſymphonie fo wonnedurchflutet, daß noch ihres Wider; balles Widerhall als Simmelsmuſik durch die Seelen der Menſchen laͤutet?“ Serzens kraft innigſter Innerlichkeit ſtroͤmt wie eine reiche Quelle aus feinen Buͤchern in die Jeit. Schauen und Wiſſen iſt in ihm, und verarbeitet das Leben,

#10 Aulturpolitiſcher Arbeitsbericht

es umgeſtaltend dem Menſchenblick, voll Geiſtkraft wie die alten Propheten, voll Poeſie wie die zarteſten neuen Dichter. Und dann wiederum gibt er praktiſche Rat ſchlaͤge der Lebenstechnik, jungen Menſchen, ſuchenden Menſchen, und er faßt fie alle ins Gerz, und weiß ihnen allen Rat, der Jungfrau und dem Juͤngling, dem Binde und dem Sterbenden, dem Traurigen und dem Suchenden, dem Reichen und dem Armen, dem Dichter und dem Schmetterling, und dem Baum; dem Un erloͤſten, und noch Satan.

Von ganz beſonderer Bedeutung iſt das Buch „Der ewige Jude“ (Verlag Olden · burg, Leipzig, worin er ſich als Jude mit dem Schickſal feines Volkes aus einanderſetzt, es zur Erloͤſung weiſend im reinen Menſchentum, das hinter aller Trennung iſt. Denn er iſt Jude, dieſer Dichter, einer von den Juden, die mir das erfüllen, was ich oft verheißen, wenn ich forderte: „Bämpfen wir doch nicht gegen die Juden! Bämpfen wir doch gegen den Materialismus! Im Kampfe mit ihm werden wir edle Juden immer auf unferer Seite finden!” Nun, ein Jude wie paul mühſam wiegt im Bräftefpiel der Jeit unzählige Materialiſten auf, welcher Raſſe auch immer. Moͤgen feine Bucher zu vielen Menſchen kommen und ihnen helfen, das Leben mit Augen zu ſchauen, die hinter den bunten bannenden Schein der truͤgenden Materie blicken. Seine andern Bucher find alle im Verlag Grunow, Leipzig, erſchienen: Geſpraͤche mit Gott, Aus dem Schickſalsbuch der menſchheit, Worte an meine Tochter, Mehr Menſchl, Vom Glück in dir, Auf ſtillen Wegen. Gertrud Prellwitz

5 5 ö I. Die Airche hat die geiſtige Kirche und Volksbildung / Leitſaͤtze e

2. Sie muß darum die Frage der Volksbildung viel ernſter nehmen als bisher.

3. Mit aͤußerlicher Betriebſamkeit (Gruͤndungen, Organiſationen) iſt nichts ge; wonnen. f

4. Die Airche muß vielmehr die geiſtige Sehnſucht des Volkes verfteben und mit erleiden, erſt dann wird ſie zu ihrer Erfuͤllung bereit werden.

5. Der Begriff einer „Evangeliſchen Volksbildungsarbeit“ iſt daher zu verwerfen.

6. Vielmehr wird der „Chriſt“, der in irgend einer Weiſe in der Volksbildungs⸗ arbeit ſteht, dort an wahrer chriſtlicher Bildung mitſchaffen.

7. Denn er weiß um den Sinn aller Bildung: Aufgeſchloſſenheit für die leben ſchaffende Wahrheit.

8. Um folder Wahrheit willen wendet ſich die Kirche gegen alle parteimäßige, nationaliſtiſche, aͤſthetiſche Volksbildung und weift ſtets in Abwehr und Aufbau auf die ſchoͤpferiſchen Wahrheiten der Bibel hin.

(Dieſe Leitſaͤtze lagen einem Vortrag auf der Solinger Kreisſynode zugrunde.) ans Hartmann

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Engliſch · deut ſche Seit der CLocar · England nimmt dauernd zu. An den Verſtändigung | no.Bonferenz | Univerfitäten in London, Oxford und macht ſich im offentlichen Leben Eng⸗ Cambridge finden Sommerkurſe für lands ein ſtark fpürbarer Umſchwung auslaͤndiſche Hörer ſtatt. Um aber auch

zugunſten Deutſchlands be merkbar. Die Nichtſtudierenden Gelegenheit zum Be⸗ Zahl der deutſchen Studierenden in Jſuch Englands und der Aurſe zu geben,

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iſt von Mr. F. 5. Cutcliffe (45 Broad Street, Oxford) eine Sommerſchule ins Leben gerufen worden, die in Ox⸗ ford vom 6. bis 30. Juli abgehalten wird. Als Lehrer ſind Profeſſoren der Univerfitäten Oxford und London taͤ⸗ tig. Der Lehrplan umfaßt Gramma⸗ tie, Phonetik, Engliſche Literatur und Geſchichte. Die Boften für alle Vor⸗ leſungen uſw. betragen M 75. —. Alles Naͤhere iſt durch den Veranſtalter Mr. F. 5. Cutcliffe zu erfahren.

Eine freigewerkſchaftliche] von Religionsgemeinſchaft | deut⸗ ſcher Art und Sitte reden wir gern im deutſchen Vaterland, aber durch die Tat beweiſen wir ſie oft recht wenig. Nicht ohne Berechtigung nennt man unſer Zeitalter die Zeit der Rompro⸗ miſſe. Daher findet man auch den Glau⸗ bens kompromiß ſelbſtredend, um nicht zu ſagen am ſelbſtverſtaͤndlichſten. Baum bedenkt man dabei, daß der Seuchler in Glaubensſachen das Allerperſoͤnlichſte preisgibt, daß ſolche Menſchen die Ju⸗ träger des Untergangs ſind. Niemand wird ſich gegen Glaͤubige wenden, die in einer wie auch gearteten Glaubens gemeinfchaft den Ausdruck ihrer Welt; anſicht finden. Aber unwahr nehmen ſich neben dieſen diejenigen aus, die innerlich laͤngſt mit dem Dogma gebro⸗ chen haben, und doch weiterhin aus Be; quemlichkeit oder geſellſchaftlichen Ruͤck⸗ ſichten in der oder jener Birdengemein- ſchaft bleiben, die ihrem wahren We ſen gar nicht entſpricht.

Fuͤr Manche ſcheint allerdings der deutſche Freiſtaat darin zu befteben, daß ſie noch unfreier, wie fruͤher, ſich ein⸗ bilden, Geſetze konnten die innere Frei⸗ beit erſetzen. Unfrei ſind die, die ſitt⸗ liches Verantwortungsgefühles ent⸗ behrend, im Seiligſten heucheln.

Auf meiner Suche nach einer reli⸗ gidfen Seimſtatt ſtieß ich auf eine ganz eigene, leider im Reich recht unbekannte Gemeinſchaft in Rheinheſſen zwiſchen Worms, Mainz und Bingen. Dort fand ich eine ſchlichte Landgemeinde zu Al- zey, deren Vorbild im Reich Nachah⸗

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mung verdiente. Sie wendet ſich gegen viele undeutſche Formen offizieller Air⸗ chen und Sekten, um in Einfachheit und Ehrlichkeit ihre Mitglieder zu er⸗ bauen. Tapfere, deutſche Menſchen ohne die Enge, die leider oft den ſoge · nannten Vaterlaͤndiſchen bei Heinen Geiſtern anhaftet. mit Tam - Tam · ſtimmung haben dieſe Gemeinden nichts zu tun, das widerſtrebt auch im Grunde dem deutſchen Volks charakter. Im Jahre 1876 find die erſten dieſer Ge⸗ meinden erſtanden, in einer Jeit, in der man auf den Lorbeeren der deutſchen Siege von 1870 / 7 glaubte ausruhen zu durfen. Schon vorher regte ſich bei den ſtrebſamen, auf eigner Scholle an · ſaͤſſigen Bauern eine freiere Auf⸗ faſſung der kirchlichen Lehre. Als dann 1872 die neuorganiſierte heſſiſche Lan · deskirche die Abgabe von Steuern an den Staat verlangte, und eine Airchen⸗ austrittsbewegung einſetzte, begann man eine freiproteſtantiſche Religious · gemeinſchaft in das Leben zu rufen. Die Lebensfaͤhigkeit der Gruͤndung be- weiſt ihre Feier des So jaͤhrigen Be⸗ ſtehens in dieſem Jahre, in welchem fie 2500 Seelen trotz der bald eintreten den, notwendigen Siebung zählt.

Seit ihrer Gruͤndung betont die Ge · meinſchaft ihre religidfe Einſtellung, fie will eine Freie Gemeinſchaft Su- chender ſein, die Religion nicht mit kirchlicher Bindung gleichſetzen. Unter Fuͤhrung ihres tuͤchtigen Seelſorgers, pfarrer Walbaum · Alzey, wehrte fie ſich gegen das Sereinfließen unreli⸗ gidfer Elemente und bewahrte fo ihren Charakter. Im Einklang mit dem Geiſt der Wiſſenſchaft lehnen dieſe Freiprote ſtanten einen einſeitig theiſtiſchen oder einen rein deiſtiſchen Gottesbegriff ab, wehren ſich aber auch gegen einen pantheiſtiſch verſchwommenen Begriff eines Gottes, um mehr und mehr die Anſchauung eines überſinnlich ſitt⸗ lichen Geiſtes zu pflegen, in dem unſer Daſein verankert iſt, und deſſen We fen in unſerem perſoͤnlich individuellen Geiſt zur Erſcheinung kommt. Alſo eine panantheiſtiſche Gottesanſchau⸗

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ung. Dem Einzelnen laſſen fie volle Freiheit zu dieſer Frage, wie zur Un⸗ ſterblichkeit, Stellung zu nehmen. Ge⸗ meinſam iſt allen die Betonung eines Glaubens an eine irgendwie zu denken de Erhaltung unſeres Lebenswerkes und grundes. Eine beſtimmte SErfid- rung über die Art unſeres Weiter⸗ lebens zu geben, halten fie für un⸗ richtig.

Sie wenden ſich vor allem gegen das Apoſtolikum, weil ſie darin eine dem heutigen Stande religidfer und wiſſen ſchaftlicher Erkenntnis nach unmsdg⸗ liche Bindung erblicken. Nicht mit Un- recht weiſen ſie dabei auf die oft etwas oberflaͤchliche Art mancher Kirchen · kreiſe bin, die meinen, Jeder dürfe das Apoftolitum nach eigenem Gutdünken auslegen. Sie halten dies fuͤr ein theo⸗ logiſches nicht angaͤngiges Verfahren. Der Geiſt des offiziellen, landeskirch⸗ lichen Bekenntniſſes kann innert der Airche nur nach einem Geſichtspunkt, dem der Kirche, ausgelegt werden. Dies ſcheint mir für ihre innere Wahr · haftigkeit zu ſprechen. Sie verlangen auch ein vorbildliches Leben ihrer Mit⸗ glieder. Weder Bibel noch geiſtliche Autorität foll das Gewiſſen des Ein⸗ zelnen binden; er ſoll ſeiner ehrlichen überzeugung leben. Die Offenbarung des göttlihen Geiſtes im Gewiſſen ſoll den Freiproteſtanten leiten, womit er nicht die Tages vernunft, ſondern die ewige Vernunft meint, die der einzelne Wahrheitsſucher in einzelnen, gewiffen- haften Genien der Menſchheit bewun ; dert. Toleranz iſt eine Selbſtverſtaͤnd⸗ lichkeit für den Freiproteſtanten. Daher ſtehen die Gemeinden auch in Verbin⸗ dung mit den Unitariern aller Laͤnder, die die Einheit Gottes gegen den Trini ; taͤtsbegriff der vom römifchen Chriſten ; tum her geſpeiſten Gemeinſchaften be; tonen. Wie fie kirchliche Dogmen ab · lehnen, ſo wenden ſie ſich auch gegen naturaliſtiſch⸗moniſtiſche Dogmen, die ebenſo der Freiheit und Entwicklung des Menſchen den Weg verfperren.

Wir größen dieſe Gemeinden zu ihrem 50. Beſtehen als wackere Vor⸗

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kaͤmpfer religiöfer Freiheit und Tole⸗ ranz. Wie die Sachſen in Siebenbuͤrgen halten ſie deutſche Art hoch, das freie Bekenntnis, das einſt Ulfilas den Ahnen brachte gegen welſchen Iwang und Nizaͤnum. Aus deutſchem Geiſte ge⸗ boren, deutſchem Empfinden angepaßt ſtehen dieſe Gemeinden da. Jeigen wir ihnen, daß im deutſchen Volk noch Ver⸗ ſtehen herrſcht fur konfeſſionelle Ehr⸗ lichkeit, wenn wir vielleicht auch aus die ſer gleichen Ehrlichkeit heraus an⸗ dere Wege für uns wählen. Wer denkt, wie ſie, deſſen Weg muß den ihren kreuzen. Man wende ſich mit Bitten um evtl. weitere Auskunft recht zahlreich an Pfarrer Walbaum in Alzey, der gern feine Kraft der Verbindung uni⸗ tariſch denkender Menſchen widmen wird, um dieſe untereinander bekannt zu machen. Otto Maria Saenger

Im vergan- genen Juli beging eine Samburger oöͤf⸗ fentliche Einrichtung die Feier ihres 25 jährigen Beſtehens, die fo eingegangen ift in das Leben der Stadt, daß man wie bei einer guten Sausfrau nicht das Wir- ken merkt, ſondern nur das Fehlen emp⸗ finden würde. Im Juli J90J gründete der damalige Amtsrichter Dr. W. Sertz, jetzt Direktor des ſtaatlichen Jugend amtes Samburg, auf Veranlaſſung des Senators Dr. Traun mit Walter Elaf- fen, Paſtor W. Kießling, Fraͤulein Anna Röfter und einer Anzahl juͤnge⸗ rer Akademiker der guten bürgerlichen Are iſe Samburgs nach dem engliſchen Muſter der Settlements das „Zam⸗ burger Volksheim“. Juerſt wurden in Rothenburgsort mitten im dicht bevoͤl⸗ kertſten Arbeiterviertel Räume ge mietet, und in ihnen außer offentlichen Rechtsauskunftsſtellen Vorträge ge⸗ halten und Clubs eröffnet. Gier fanden ſich Maͤnner und Frauen der Arbeiter⸗ ſchicht in ihren Mußeſtunden zuſam⸗ men, und Arbeiter wie Buͤrgerliche erſtrebten Aber die wirtſchaftlichen Kampfe der Zeit hinweg, ſich verſtehen zu lernen, jeder dem anderen nach beſten Kraͤften zu dienen. Dr. Jaques,

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jest Regierungsrat im Samburger Wohlfahrtsamt, ſammelte auf der Straße Lehrlinge um ſich. Bald war in dieſem Lehrlingsverein, nach dem Vorbild des Paſtor Clemens Schultz in St. Pauli lebendiges Treiben, daß die gemieteten Raͤume zu eng wurden. Stiftungen ermöglichten 1904 den Bau des eigenen Volksheims am Bill boͤrner Muͤblenweg. Inzwiſchen hatte die Bewegung auf andere Stadtteile übergesriffen. Walter Claſſen wirkte in Sammerbroof, Paſtor Kießling in Barmbeck. Auch hier erhoben ſich um 1907 eigene Volksheimhaͤuſer. Was dieſe Seime in den ſcharfen Kaͤmpfen bei Emporſteigen des Klaſſenkampf⸗ Gedankens bedeuteten, erſieht man aus der allgemeinen Aufmerkſamkeit des damaligen Deutſchlands auf dieſe Ar⸗ beit in Samburg. Es kamen junge Buͤrgerliche mit ſozialem Fuͤhlen bier- ber, um zu lernen und in Wien oder Leipzig den dortigen Verhaͤltniſſen an; gepaßt Gleiches zu errichten. Es iſt die · ſelbe Jeit, wo wir Freien Studenten in Charlottenburg die erſten Arbeiter; Bildungskurſe von Studenten ins Ceben riefen. Winterhude, Eimsbüttel, Eppendorf hatten bald auch ihre ge⸗ mieteten Heime, und es war in guten Beeifen, ſprechen wir es aus, „Mode“, im Volksheim ſich als junger Arzt oder Referendar zu betätigen. Auch Stif- tungsmittel floſſen reichlich. Dann kamen Jugendbewegung, Krieg und Revolution. Sie pochten an die Pfor- ten des Volks heims, und die vertieften Gegenſaͤtze zwiſchen Proletariat und Bürgertum machten ſich bier gleich · falls bemerkbar. Die bürgerlichen Breife zogen ſich teilweiſe zuruck, und die Arbeiter verſtanden unter Volks; heim nur ein Seim fuͤr das Volk der Arbeiterſchaft. Gottlob war den leiten · den Maͤnnern das Bewußtſein ihrer Verpflichtung dem ganzen Volkstum gegenuber geblieben, und trotz aller Bämpfe vor den Toren des Volks heims wurde in ihm eine Stätte be- wahrt, wo nur der Menſch gewertet wird, und wo die Kampfe nicht in der

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Außenſeite des Lebens, ſondern mit dem Wunſch Menſchentum zu bilden ausgetragen werden. Es gibt etwas wie einen Volksbeimgeiſt, der in dieſen Heimen berrfcht, wenn man ihn auch nicht in Begriffe faſſen kann. Es waͤre an der Jeit, daß wie in den erſten Jahren mehr der noch heute kultur⸗ tragenden Schicht im Volksheim für deutſche Volkheit wirkten. Sie wür- den hier ſicher mehr lernen als in einſei⸗ tig eingeſtellten Parteiverſammlungen. Wollen wir in Deutſchland die klein lichen Parteivorurteile überwinden, muͤſſen wir es wie in den Volks heimen anfangen. Es handelt ſich bier nicht um ein Vertuſchen von Gegenſaͤtzen, ſondern Jeder behauptet ſeine Art, aber er ſucht Verſtaͤndnis für den Eigenwert der Anderen. Aus Ver⸗ fteben Vertrauen, das iſt das unſicht⸗ bare Leitmotiv aller Volks heimarbeit. Das Volksheim beſitzt eine eigene Jeit ſchrift „Spiegel“ (Monatliche Mit⸗ teilungen). In ihr werden alle das

Volksheim bewegenden Fragen mit

Eindringlichkeit, aber im Geiſte der Verſoͤhnung behandelt. Ju den Be ſchaͤftsfuͤhrern des Volksheims ge⸗ börten Dr. Schomerus, jetzt Jeiß⸗ Werke, Jena, Profeſſor Dr. Seinz Marr, jetzt an der Univerfität Frank⸗ furt, Dr. Wilhelm Stapel, Gerhart Guͤnther, Serausgeber der Deutſchen Bühne in Samburg.

Jetzt ſoll es mein Beſtreben ſein, Vergangenes mit Jukünftigem in bie ſem Wirkungskreis zu verbinden. Die Arbeit in Jugendbewegung, Ereier Studentenſchaft, Volks hochſchulen hat mich gelehrt, daß man Bauten der Erde nicht in den Wolken beginnen kann. Auf Vergangenem muß die Ju⸗ kunft fußen, und je mehr ſie im Weſent⸗ lichen verankert iſt, um fo hoher läßt der Bau ſich in den Simmel des Ideals türmen. Neue Kultur waͤchſt auf dem Urgrund der Vergangenheit. Wer dies weiß, blickt nicht zuruck, ſondern nach vorwaͤrts, wo die ewigen Jiele locken.

Dr. Robert Corweg b

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111 l. Birken heider Börper-| Eine ſchulungswoche 1926] Veran-

ſtaltung, die mehr hielt, als fie ver ſprach. Vierzig junge MRenſchen bei Gymnaſtik, Spiel und Sport auf der Seide, auf den Hügeln und im See. Nackte Leiber in Sonne, Luft und Waſſer. Morgenfeiern am Seeufer, Ausſprachen unter Kiefern, Abend ſtunden am flackernden Feuer.

Die Birkenheide wurde zum um⸗ faſſenden Erlebnis.

Aus 20 Madchen und Frauen und ebenfo vielen Mannern, die aus Thuͤ⸗ ringen, Sachſen, Anhalt, Branden⸗ burg und Pommern, aus Berlin und ſogar vom Rhein am 22. Mai in dem Dorfe Aallinchen zuſammenkamen, ent · ſtand unter dem Einfluß einer ziel⸗ Haren Bewegung in kaum 8 Tagen eine Gemeinſchaft von wundervoller Ubereinſtimmung.

5 Uhr 30 wecken, Waldlauf über die betaute Seide, durch naſſe Wieſen, über den weißen Sand. Am ſpiegelglatten See finden ſich die Gruppen zur Mor⸗ genfeier zuſammen. Ein kurzes Wort, eine Slötenftimme, ein Lied in Senſels Satz.

Dann knallt das Tamburin, und Ella und Charly Straeßer fuhren ein in die Börperfhulung der Birkenheider. Es iſt etwas Merkwuͤrdiges um ihre Gymnaſtik. Sie iſt gruͤndlich und hart und doch beſchwingt, ſie iſt tief emp⸗ funden und doch nirgends weich oder ſentimental. Vielleicht iſt ſie das, was ein Teilnehmer von ihr behauptete, „sie Syntheſe der gymnaſtiſchen Be wegung“.

Schluß der Gymnaſtik und Baden im quellklaren See.

Nach dem Fruͤhſtüͤck (Vollkornbrot mit „dener“ oder „Nuſſana“ und milch) kommt die „Geiſtigkeit“ zu ihrem Recht. Notwendiges Aber Aoͤr⸗ perbildung, Atmung, gymnaſtiſche Sy⸗ ſteme, über L(ichtbewegung und Licht⸗ verbaͤnde wird beſprochen.

Von II bis J2 Uhr Gymnaſtik mit Mebdizinbällen, Bugeln und Rund- gewicht, Speerwerfen, Bugelitoßen,

Fauſt - und Voͤlkerballſpielen. Wieder Schwimmen. Der Nachmittag iſt frei. Von 5 bis 6 Uhr rhythmiſche Gym naſtik nach Muſik im Saal, Schwuͤnge und Spränge.

Der Abend findet uns am lodernden Feuer oder auf den Suͤgeln, von denen der Blick weit in das maͤrkiſche Land hinein ſchweift. Einmal veranſtalteten die Birkenheider einen Vorfuͤhrungs· abend, der eine Hare Überficht Aber die B Arbeit des Arbeitskreiſes gab.

Die vegetariſche Lebens weiſe erwies ſich als das einzig Richtige für derartige Veranſtaltungen. Auch Fleiſcheſſer fübl- ten ſich dabei durchaus wohl und blieben voll leiſtungsfaͤhig trotz größter körperlicher Inanſpruchnahme.

Fridel Aupke

Über Veranſtaltungen des Birken; beider Arbeitskreiſes erteilt Auskunft die Geſchaͤftsſtelle: Fritz Beyes, Bln.⸗ Lichtenberg, Irenenſtr. 21.

Eine zweite Woche findet vom J. bis 7. Auguſt ſtatt.

Deut ſche Richt wochen

Die „Richtwoche“ will deutſch ; eſinnte Menſchen vor allem Jungvolk und vor allem ſolche, denen eine Fuͤhrerpflicht ob⸗ liegt zu einer freien Unter⸗ richtsgemeinſchaft zuſammen⸗; ſchließen, in der die Grund⸗ lagen unferes Volkstums be⸗ ſprochen werden, ſo daß ſie da⸗ bei aus dem Dunſt der Tages⸗ meinungen und Schlagworte beraustreten und in ihren tiefe⸗ ren Juſammenhaͤngen verſtaͤnd⸗ lich werden. Der Iweck der Woche iſt alſo kurz geſagt: Richtung zu geben, und zu⸗ gleich das Bewußtſein der per⸗ ſoͤnlichen Verantwortlichkeit für unſer Volkstum in den Teil

nehmern zu wecken. (Aus dem Unterrichtsplan der

erſten Richtwoche.)

Als Teilnehmer der dritten deutſchen Richtwoche, die als erſte in Suůͤddeutſch⸗ land in dem ſchwaͤbiſchen Staͤdtchen

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Seubach am Nordoſtabhange der Alb ſtattfand, kann ich meine perſoͤnlichen Eindrücke und Erlebniſſe ſchildern.

Georg Stammler, der ſchon in vielen Schriften und Büchern voͤlkiſche Auf- bauarbeit geleiftet hat, vor allem, in- dem er auf Grund eigener Lebenser⸗ fahrungen und tiefer Denkarbeit zur Seranbildung einer jungen, verant- wortungsbewußten Fuͤhrerſchicht bei- trug, bat feit letzten Serbſt dieſen neuen Erzie hungsweg die Richtwochen eingeſchlagen. Gelingt es erſt einmal, weitere Breife zur Teilnahme und Unter⸗ terftägung des Werkes heranzuziehen, dann wird damit recht Erſprießliches für die deutſche Jukunft geſchaffen fein. Denn Fuhrer im ganzen Sinne tun uns überall not: im Dorf, in der Fabrik, überhaupt in jedem Beruf, ganz abgeſehen von der politiſchen Ebene.

In der Woche nach Pfingſten kamen wir zuſammen, Burſchen und Madel, etwa 25 Leute, aus allen Berufen und Cebenslagen. Ausſprachen, eine mehr oder minder kurze Erzaͤhlung des Le⸗ benslaufes eines jeden, das tägliche Singen, dazu das gemeinſame Leben des Tages, ſchufen in kurzer Zeit eine innige Gemeinſchaft: die ſeeliſchen Werte, die Leuchtkraft und Wärme einer ſolchen Gemeinſchaft mußten ja die unbedingte Vorausſetzung einer fruchtbaren Geiſtesarbeit ſein. Die Richtwoche trug eine ſtarke Geſchloſſen⸗ beit an ſich, die dadurch bedingt war, daß Georg Stammler ſaͤmtliche Vor · träge übernommen hatte, die Aus- ſprache ſtraff leitete und fo vor Ab- wegen bebätete.

Nach reichlicher Nachtruhe trat man morgens zum Turnen und Baden an und befreite feine Luft an der Serrlich⸗ keit des jungen Maimorgens im Liede. Uber haupt war durch Bewegung, durch die Mittagspauſe, durch den täg- lichen Abendtanz am Dorfbrunnen, bei dem die Dorfjugend friſch mittat, und durch das Singen für hinreichende Aus ſpannung des Geiſtes geſorgt und die nötige Friſche die ganze Woche hin⸗ durch bewahrt.

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Draußen am Bergeshang ſtand ein alter Nußbaum, und dehnte ſich freier Raſen um ihn. Dort lagerten wir uns, um miteinander unter des Führers kundiger Leitung die Runen deutſchen Schickſals, deutſcher Not und deutſcher Aufgaben zu leſen. Der weite Simmel wölbte ſich über uns, rings um uns rauſchte der Wald und am Fuße der wuchtigen felsgekroͤnten Berge ſpran⸗ gen die Quellen zu Tage, das alte Lied der geimat raunend. Und wir lauſchten dem Liede unferer Urmutter: ein Erbe in uns, und ein Erbe um uns, und unfer inneres Erbe verkettet mit Tau ; ſenden von Brüdern ſeit alters her. Dort gruͤßte der Sohenſtaufen beräber ; dort ging der Bauer zur Arbeit und die Sirenen der Fabriken tönten, oft minder ſchoͤn, in unſere Arbeit. Aber ſprach das nicht alles zu uns? Das iſt alles Wirklichkeit: Romantik und harte Arbeit, Ideales und recht Materialiſti⸗ ſches, Glück und Leid. Wir leben in Notzeit. Was konnen wir tun? Sind wir im Berne vergiftet? Wo liegt die Schuld? Was konnen wir aus der Be- ſchichte, was aus den Bewegungen der Nachkriegsjahre lernen? Was iſt der Weſens und Werdewillen unſeres Volkes? welche Löſungen all der ſchweren Fragen ſind denkbar? Was iſt uns der Staat? Wo haben wir mit⸗ zuſchaffen?

Solcher maßen draͤngten ſich die Fra⸗ gen. Es tut zuweilen recht gut, daß man ſeine alten, halbſteckengebliebenen Adfungsverfuhe und Meinungen ein⸗ mal voͤllig aufgibt, ſie abſterben laͤßt, um wiedergeboren neu und unberäbrt an ſolche Fragen heranzugehen. Was Stammler nun gab, das waren nicht etwa neue Reformprogramme, neue „Wahrheiten“, „neuer Geiſt“. Nein, Stammler iſt Feiner jener Markt- ſchreier und Anpreiſer, die durch viel armen die Leute aufmerkſam machen wollen für ihre Ware. Wohl kann auch er zuͤrnen, wenn er der Bequemlichen, wenn er der Schändung deutſcher Sei⸗ ligtůmer denkt. Aber fein Beſtes, was er gibt, iſt das: er zeigt in allen Fragen

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die tiefe Wirklichkeit, ihe Weſen, und er weift uns die Richtung auf den Nord⸗ pol hin, das ewige Jiel.

Bein Grund zur Verzweiflung l Das

Weſen des Deutſchen hat ſich nur ver ; krochen, atmet nicht mehr nach außen. Überall find wir in fremde Formen ein- geſchlůpft und das bringt ohne Zweifel Gefahren mit ſich fuͤr unſer Blut, un⸗ ſere Freiheit, unſere Geſundheit, un⸗ feen Beſtand. Stadt und Land, Arbei- terſchaft und Bauernſtand, haben eine unglückliche Entwicklung genommen in ihrer Geſchichte. Eine verbängnis- volle Rolle ſpielte das eindringende roͤmiſche Recht. Aus dem bei aller ſach ; lichen Gebundenheit dennoch freien mitſchaffen aller Deutſchen am Staats · leben, das noch im Mittelalter vorban- den war, wurde das ſchlimme Verbaͤlt⸗ nis von Serr und Anecht, von Sürft und Untertan, von Ausbeuter und ent- rechteter Maſſe. All maͤhlich bildete ſich das heutige, volks fremde Staatsbuͤrger⸗ tum heraus, die Geſellſchaft an Stelle der Gemeinſchaft und der Privatnutzen an Stelle des Gemeinnutzens. Was wir jetzt brauchen, iſt eine neue Fuͤhrerſchaft, die wieder tief im Volke wurzelt und die in ihre Verantwortung gegen den Gottgedanken kennt, der es geſtalte t. Der Fuͤhrergeiſt muß auch in den Berufen Einzug halten und an Stelle des bloßen Fachgeiſtes treten. Und wir brauchen Lebenserneuerung, ein Gefühl der Einheit von Leib und Seele. Echte Leibeszucht das heißt nicht engherziges Reformertum, fon- dern Befreiung der beften Bräfte in uns zum Dienſte am Volk!

Wir wollen uns ſchon jetzt fuͤhlen als ein Glied einer zukuͤnftigen Volksge⸗ meinſchaft und in dieſem Sinne ſchaffen. Wir wollen mit dem, was wir ſind, dienen. Vom Opfer lebt das Leben. Und wahre Freude beſteht nur, wo Jucht iſt. So klangen die Gedanken aus. Freilich wird die Not noch größer werden, aber ſie wird dazu dienen, das

Kulturpolitiſcher Arbeitsbericht

deutſche Volk „lebendig zu ſchlagen , wie Emil Gòͤtt ſagt. Deß ſind auch wir gewiß!

Wer weiteres erfahren will, der wende ſich an die Kanzlei der Deutſchen Richtwochen in Mählbaufen in Thuͤ⸗ ringen. Mithilfe tut einem ſolchen Werke dringend not, ſei es, daß man den Boden fuͤr eine Woche vorbereitet, oder ſei es, daß man die wirtſchaft⸗ lichen Grundlagen der Arbeit unter⸗ ftögt. Die Richtwochen find ein Er⸗ zie hungswerk, das die ernſte Beach⸗ tung aller Breife verdient, die ſich für ein neues Volkswerden verantwortlich fühlen. Tun wir demnach l Otto Schmid

Sommerfurfe | 1926 veranftalten die unten angegebenen Labanſchulen Ferienkurſe in der Waldkolonie (Natur⸗ park) bei Wurzburg, auf dem Gelaͤnde der neu gegründeten Akademie für Tanzkunſt. Die Burfe der einzelnen Schulen geben eine Einfuhrung in die Cabangyvmnaſtik und die Elemente der Bewegungslehre. Daruber hinaus werden ſaͤmtliche Teilnehmer zu leben- diger taͤnzeriſcher Gemeinſchafts arbeit zuſammengefuͤhrt durch choriſche Gruppe nſpiele unter perſoͤnlicher Leitung Rudolf von Labans, Die Burfe können in beliebiger Dauer, von 14 Tagen an, belegt werden. Einheits⸗ preis für 14 Tage, bei einer Doppel; ſtunde taͤglich M 30.—. Unterkunft und Verpflegung, je nach Anſpruͤchen, werden bei feſter Anmeldung vermittelt. Naͤbere Auskunft und Anmeldungen (bis Jo. Mai. Später nur in Ausnahme⸗ fällen) bei den Bursleitern.

El- Corret, München, Mandlſtr. 3b.

Sertha Fe iſt, Berlin - Salenſee, Georg · Wilhelm ⸗Straße 9 —1 1

Martin Gleisner, Jena, Diet richsweg ] Il.

Albrecht Anuſt, Schwanenwik 38,

Cotte Wedekind, Berlin, Bleift- ſtraße Jo.

Zamburg 24.

Schriftleiter: Dr. h. e. Eugen Diederichs, Jena, Carl -Jeiß - Platz 5. Bei unverlangter Juſendung von Manuſkripten it Porto für Rücfendung beizufügen. Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena Druck von Radelli & Sille in Zeipzig

Monatsſchri deutſcher Kultur

Js. Jahrgang Heft 6 September 1926

8. Stäbler / Chriſtoph Schrempf

Cortſetzung und Schluß) III

a es ſich in dieſem Artikel nur darum handeln kann, die eigentuͤm⸗ | liche Art des Schrempfſchen Denkens moͤglichſt klar wiederzugeben,

indem wir verſchiedene für fein öffentliches Auftreten weſentliche Zeitpunkte herausheben und an ihnen feine Entwicklung, aber auch feine gleichbleibende Grundeigenart andeuten, uͤberſpringen wir wieder zwanzig Jahre feines Lebens. 1920 veroffentlichte der Sechzigjaͤhrige, der in⸗ zwiſchen natuͤrlich mancherlei herausgegeben hatte, fein zweites Saupt- werk: Dom offentlichen Geheimnis des Lebens (Verlag From⸗ mann, Stuttgart).

In der erſten von uns beſprochenen Schrift ſuchte Schrempf nach einem fein Leben beſtimmenden kategoriſchen Imperativ. In „Menſchenlos“ ſehen wir, wie ſich der Wahn der freien Selbſtbeſtimmung in Schrempf zerſetzt: der Menſch kann nicht ſein Leben durch ein unbedingtes Wollen geſtalten; er wird gelebt. Und kann nichts anderes tun, als ſich leben laſſen. „Doch entſpricht ein bloßes Sich⸗leben⸗laſſen meiner Natur durch⸗ aus nicht. Ich mußte und muß alſo eine mir entſprechende Form aktiven Lebens finden.“

Achten wir alſo beim Durchblaͤttern des Buches zunaͤchſt auf dieſe Frage.

Das Buch gliedert ſich in drei Abſchnitte: Der Heiland, von Gott, vom ewigen Leben.

Im Lauf feiner Darſtellung Jeſu, die ſich gegenüber der in „Menſchen⸗ los“ an einigen Punkten ſtark geaͤndert hat, kommt Schrempf auf die entſcheidende Frage, zu der Jeſus ihn immer wieder veranlaßt: „Kann Jeſus mir wirklich zu etwas verhelfen, was ich mir ſelbſt nicht verſchaffen kann?“ Man braucht Jeſus nicht zu allem. „Zur Entlaſtung von, Pflicht“ und ‚Schuld‘, von Unzufriedenheit und Neid, von der Wichtigtuerei der Lat vin 28

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Sorge brauche ich Jeſus nicht.“ „Die Entlaſtung von „Pflicht und ‚Schuld‘ aber hat mich auf einen toten Punkt gebracht, über den ich mir ſelbſt nicht hinweghelfen kann. Der Druck von Pflicht und Schuld war doch auch eine bewegende Kraft; ſeit er weg iſt, ſtehe ich eigentlich ſtill. Oder, da mir Stilleſitzen unmoglich iſt: Ich bin ſeither wohl noch taͤtig, habe aber ſtreng genommen nichts mehr zu tun.“ „Sier verſagt meine eigene Kraft. Kann mir Jeſus weiterhelfen?

Was iſt in der Verbindung mit Jeſus zu lernen?

Der Blick auf ihn erſchwert das Klagen. Der Blick auf ihn zeigt, was einem eigentlich fehlt.

Das Geheimnis ſeiner Kraft aber iſt:

„Daß er unter einem Zwang der Liebe ſteht, die ihm das Dienen zu einer Freude macht, worin alle Anſtrengung, die es erfordert, alles Leiden, das es nach ſich zieht, untergeht;

Daß er nicht bloß ins Allgemeine liebt, ſondern ſich mit einem be⸗ ſtimmten Auftrag betraut weiß; ſo daß er nicht nur weiß, was er zu tun hat, ſondern auch weiß, daß er nicht vergeblich arbeitet;

Daß er als Geſandter auch weiß: was ihm zuſtoßen mag, Boͤſes wie Gutes, ſei auf die Erfuͤllung feiner Sendung abgezweckt, fo daß er auf keinen günftigen Zufall zu warten braucht, keinen tuͤckiſchen Zufall zu fuͤrchten braucht;

Daß er in dem Tod kein Ende ſieht, nur die Verſetzung in eine voll⸗ kommenere Form des Lebens, das er jetzt ſchon als fein wirkliches Leben lebt; wobei alle für ihn wirkliche Freude Freude bleibt, das Leiden aber zu einer bloßen Reiſebeſchwerde herabſinkt, die bloß uͤberſtanden werden muß.“

Aber wie kann von Jeſus gelernt werden? Jeſu Kraft, Glauben, Liebe kann nicht durch einen Zauber uͤbergeleitet werden: „Rein Sakrament, auch kein Beten, auch kein Glauben hat dieſe Kraft.“ „Es hat auch keinen Wert, Jeſus glauben zu wollen.“ „Es iſt unmoglich, von dem wirklich uͤberzeugt zu werden, was man glauben will.“ „Man kann nur auf Jeſus hoͤren und dann abwarten.“ „Das weitere muß und wird fi von ſelbſt ergeben nicht im Verlauf der naͤchſten fünf Minuten oder fünf Stunden oder fünf Tage oder fünf Wochen oder fünf Monate; aber vielleicht im Verlauf der naͤchſten fuͤnf Jahre. Es koͤnnen aber auch zehn, zwanzig, fuͤnfzig Jahre werden.“

„Der wirkliche Fortſchritt in der Schule Jeſu geſchieht dadurch, daß ſich im Verkehr mit Jeſus, durch den Einfluß Jeſu, der Sinn wandelt.“ „Dabei handelt es ſich weſentlich um das eine: Daß es immer anmaßender, aͤrm⸗ licher, unnatuͤrlicher erſcheint, ſich dienen zu laſſen; und daß andererſeits zu dienen immer ſelbſtverſtaͤndlicher, natürlicher, auch größer erfcheint.” So kann man von Jeſus Liebe lernen. Liebe iſt keine Naturgabe, Liebe wird nur gelernt. Wer fie lernt, lernt damit auch, was er in Liebe

Chriſtoph Shrempf 419

dem andern als wirklich guten Dienſt leiſten kann, findet alſo in ihr die entſprechende Form aktiven Lebens.

Was Schrempf im Abſchnitt „von Gott“ geſchrieben hat, gehoͤrt wohl zum bedeutendſten, was er überhaupt geſchrieben hat. Es zeigt am deut⸗ lichſten, wie ſtark er ſich weiterentwickelt hat. Aber es gehoͤrt auch zum ſchwerſten. Denn dem ganzen Abſchnitt liegt ein beſtimmtes Erlebnis zu- grunde, ein beſtimmtes Erleben einer beſtimmten Seite der Wirklichkeit. wer dieſes Erlebnis nicht kennt, kann eigentlich nicht verſtehen, was hier von Schrempf ausgefuͤhrt iſt.

Um es gleich zu ſagen: das von Schrempf angedeutete Erlebnis der Wirklichkeit „Gott“ kenne ich nicht.

Ich muß alſo den Leſer in noch viel ſtaͤrkerem Maße als bisher auf das Zefen der Schrempfſchen Schriften ſelbſt verweiſen und kann gerade bier, wo Ausfuͤhrlichkeit und Anlehnung an den Wortlaut beſonders not; wendig waͤren, nur eine kurze Andeutung ohne viele Zitate machen.

Gibt es etwas, das man mit gutem Sinn als „Gott“ bezeichnen kann, ſo muß es die eigentliche Wirklichkeit, die Wirklichkeit, die aller Wirlichkeit zugrunde liegt, ſein. Wirklichkeit kann jeder Einzelne aber nur fuͤr ſich aus ſeinem Erleben der Wirklichkeit heraus feſtſtellen. Alſo gilt es, und darauf laͤuft alles reelle Nachdenken uͤber Gott immer wieder hinaus, in ſeinem eigenen Erleben der Wirklichkeit nachzuſehen, ob man auf etwas geſtoßen iſt, was man nicht anders bezeichnen kann als etwa „Gott“. Naturlich wird man auch bei anderen Menſchen nachſehen, auf welche Wirklichkeit fie in ihrem Leben geſtoßen find, was ihren Ausſagen über Gott an Wirklichkeit zugrunde liegt. Aber von einem ſelbſt geſchaute Wirklichkeit wird fie nur als eigenes Erlebnis.

An der von Schrempf aus feinem Leben heraus erlebten und geſchauten wirklichkeit „Gott“ iſt mir etwa folgendes noch verſtaͤndlich; doch mehr logiſch, als aus eigenem Erleben heraus: Im Zeben des Menſchen ſpielt der „Zufall“ eine große Kolle. Es iſt ein bedeutſamer „Zufall“, welche Eltern man ſich auserleſen hat. Es iſt ein bedeutſamer „Zufall“, in welchem Milieu man aufwaͤchſt. Wichtiger iſt, alſo ein umſo bedeutſamerer „Zufall“, mit welchen Perſoͤnlichkeiten man in ſeinem Leben zuſammengefuͤhrt wird, in welchem Stadium ſeines Lebens man mit ihnen zuſammentrifft; es iſt insbeſondere einer der bedeutſamſten „Zufaͤlle“, mit welchem Men · ſchen man das innigſte Erlebnis perſoͤnlicher Verbindung erlebt uſw. Nur eine andere Form, aber dieſelbe Erſcheinung des Zebens iſt es, daß alles „immer anders geht, als man ſich's gedacht“ hat, daß jedes Erlebnis, vor dem man ahnend, hoffend, ſehnſuͤchtig ſteht, nachher durch irgendeinen Zufall, aber auch, weil man ſichs falſch vorgeſtellt hatte anders wird, als man glaubte.

Dieſe „Zufälle” nehmen keine Rüdficht aufeinander. Sie nehmen auch keine Ruͤckſicht auf den Menſchen: bald find fie glüdliche, bald zerſtoͤren

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fie das Glück. Sie ſcheinen, als zufällig, eben willkürlich, unberechenbar und weſentlich betrachtet, ſinnlos zu fein.

Nun kann es aber fein, daß ein Menſch im Verlauf feines Lebens ruck waͤrtsblickend immer wieder entdeckt, daß durch alle dieſe Zufaͤlle hindurch, mit Silfe dieſer Zufaͤlle das Leben ſich in einer ganz beſtimmten Richtung ent · wickelt hat. Nicht ſo, wie man es ſich gedacht hat, nicht ſo, wie man es ſich gewuͤnſcht hat, nicht fo, wie man es willentlich geſtalten wollte, aber fo, daß man, was dabei herauskommt, doch nicht verwuͤnſchen kann. Man ſieht oder ahnt hinter all dieſen Zufaͤllen einen Zuſammen⸗ hang. Nicht, daß man dieſen Zuſammenhang in die Zufaͤlle hineindeutet. Nein. Er ſpringt einem unwillkuͤrlich, in Augenblicken, wo man deſſen gar nicht gewaͤrtig iſt, plotzlich entgegen, als eine Wirklichkeit, der man ſich nicht verſchließen kann.

Doch iſt weſentlich, daß man das immer erſt hinterdrein entdeckt. Und dieſe Entdeckung iſt fo, daß fie keine Schluͤſſe auf die Zukunft zulaͤßt. Was einem zuftößt, behaͤlt den Charakter des Zufälligen, alſo Unberechen⸗ baren. Es kommt nach wie vor immer wieder anders, als man es ſich denkt. Es kann ſich in einem nur das Zutrauen, daß auch die neuen Ju⸗ faͤlle in ſinnvollem Zuſammenhang mit dem Bisherigen des Lebens ſtehen werden, ſteigern. Gewißheit kann es nicht werden. Kiskiert iſt es immer. Und worin der Zuſammenhang beſteht, wird einem immer nur ungewollt, uͤberraſchend hinterher offenbar.

So viel etwa verſtehe ich auf Schrempf hoͤrend von dieſer durch die an⸗ ſcheinend ſinnloſen Iufälle hindurch ſich offenbarenden Wirklichkeit. Ich verſtehe auch, daß, wenn dieſe Wirklichkeit iſt, ihre Offenbarung an keine Zeit und an keine Perſon gebunden iſt, daß fie alſo auch Bedeutung für mich gewinnen kann. Ich verſtehe endlich noch, daß dieſe Wirklichkeit ſicherlich keine Ruͤckſicht nimmt auf die wuͤnſche des Menſchen, daß alſo das von ihr ausgehende Leben ein Leben jenfeits von Luſt und Leid iſt, daß dieſe Wirklichkeit auch keine Ruͤckſicht nimmt auf das ſittliche Urteil des Menſchen das von ihr ausgehende Leben iſt jenſeits von gut und boͤſe —, daß in dieſer Wirklichkeit alle Vorſaͤtzlichkeit und Abſichtlichkeit untergeht. Aber kennen tue ich dieſe Wirklichkeit trotzdem nicht!

Doch haben die in dem Abſchnitt „von Gott“ ausgeführten Gedanken Schrempfs fuͤr mich eine andere, mir viel weſentlichere Bedeutung. Er hat mir klar gemacht, daß das reelle Nachdenken uͤber Gott ausgehen muß von der Frage nach der Wirklichkeit. Sehe ich aus meinem Leben heraus eine Wirklichkeit, die ich mit Sinn Gott nennen kann? Das iſt die Frage, auf die er mich hindraͤngt. Alſo muß ich beiſeite legen, was mir in Schule und Religions unterricht und ſonſt an Meinungen über Gott beige⸗ bracht wurde. Stoße ich aber in meinem Leben auf keine ſolche Wirklich keit, ſo iſt es das Beſte, ich ſtreiche das Wort Gott aus meinem Leben. Nicht fo, daß ich deſſen Wirklichkeit leugne. Wie kann ich eine Wirklich;

Chriſtoph Schrempf 121

keit leugnen, von der ſo ſolide Denker wie Schrempf als von etwas wirklich Erlebtem reden! Aber ſo, daß ich dieſe Wirklichkeit einfach ignoriere, oder beſſer, da ich eigentlich nicht ignorieren kann, was ich nicht kenne, daß ich mir einfach meinen Tatbeſtand nüchtern klarmache, und der iſt, daß ich mein Leben lebe und leben muß ohne Gott. Auch das läßt ſich bei Schrempf lernen.

Verſtaͤndlicher iſt mir wieder, was Schrempf in dem 3. Abſchnitt feines Buches ausfuͤhrt: vom ewigen Leben. Wichtig iſt auch hier, Schrempfs Tendenz richtig zu erfaſſen. Er bricht keine Lanze fuͤr den Glauben an das ewige Leben. Er will gewiß niemand zum Glauben an das ewige Leben überreden. Der beſte Beweis dafür, daß ihm das ferne liegt, iſt, daß er ſich an feinen eigenen Glauben an das ewige Leben in keiner Weiſe gebunden fühlt. Sat er ihn (oder beſſer, hat der Glaube ihn), fo hat er ihn, hat er ihn nicht, ſo iſt er der letzte, der ihn zu halten verſucht.

Alſo kann er auch das ewige Leben nicht poſtulieren. Das ewige Leben iſt entweder Wirklichkeit oder es iſt nicht Wirklichkeit. Daran wird nichts geändert, ob man an das ewige Leben glaubt oder nicht glaubt, ob man es poſtuliert oder nicht poſtuliert. Wer das eingeſehen hat, dem vergeht mit der Sinnloſigkeit des Poſtulierens das Poſtulieren.

Dagegen iſt es möglich, auf Wirklichkeiten im Leben hinzuweiſen, unter deren Erleben ſich der Glaube an ewiges Leben unmittelbar und unwill ; kuͤrlich und ſinn voll einſtellt. Damit iſt das „ewige Leben” nicht „bewieſen “. Es bleibt alſo offene Frage, ob „ewiges Leben” Wirklichkeit iſt oder nicht. Aber beweiſen laͤßt ſich hier auch nichts. Die Antwort auf dieſe offene Frage iſt, wenn fie überhaupt erlebt wird, nur durch den Tod hindurch zu erleben.

Die Tatbeſtaͤnde des Lebens, die hier in Betracht kommen, ſind etwa folgende: |

Der Menſch wird, entwickelt fi, hat eine Geſchichte. Seine eigentliche Geſchichte iſt durch folgende Beſtrebungen beſtimmt:

„Erſtens babe ich das urſpruͤngliche, unwillkuͤrliche Beſtreben, die Wirk⸗ lichkeit, in der ich lebe, kennenzulernen, zu uͤberſchauen und zu durch⸗ ſchauen.“

„Zweitens habe ich das unwillkuͤrliche, urſpruͤngliche Beſtreben, mich mit Meinesgleichen zu verſtaͤndigen und zu verbinden.“

„Drittens habe ich das urſpruͤngliche, unwillkuͤrliche Beſtreben, was ich im Einzelnen erlebe, zu einer Einheit des Lebens zu verarbeiten, indem ich mich über mein Erleben mit mir ſelbſt zu verſtaͤndigen und das mir zu⸗ gewobene Gewebe meines Lebens nach dem darin angedeuteten Muſter weiterzuweben verfuche.”

„Dieſes dreifache Beſtreben aber, in deſſen Durchfuͤhrung meine eigent- liche Geſchichte beſteht, kann und will ich nicht aufgeben, obgleich ich deut lich ſehe, daß ich es bis zu meinem Tode nicht zu Ende fuͤhren kann, alſo

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in meinem Tode das Drama meines Lebens nicht vollendet, nur abge brochen wird. Und dabei draͤngt ſich mir ſogar, je laͤnger ich lebe, deſto mächtiger das Urteil auf, daß an der Länge des Lebens weniger liegt, als an dem Stil des Lebens, die Sorge um die Erhaltung des Lebens alſo der Sorge um den Stil des Lebens untergeordnet werden muß.“

Dieſe Beobachtung der Wirklichkeit des eigenen Lebens ſtimmt mit der Beobachtung des wirklichen Lebens der anderen Menſchen überein.

Es gibt kein Menſchenleben, das nicht den Eindruck eines bloßen Frag · ments machte.

„Es gibt nicht wenige Menſchen, die das Leben aufs Spiel geſetzt haben, um dem Drang der Erkenntnis, der Liebe zu genügen ; die ſich das Leben lieber nehmen ließen, als daß fie ſich das Leben verpfuſcht hätten ob- gleich fie ja, wenn fie das Leben verloren hatten, an dem Drama ihres Lebens nicht mehr weiterarbeiten konnten.“

Wie iſt das zu erklaͤren?

„Daß ich nach Unerreichbarem ſtrebe, und in dem Streben nach Unerreich⸗ barem ſogar die Möglichkeit des Strebens aufs Spiel ſetze: das tue ich nicht aus Gruͤnden, mit einer Abſicht, ſondern weil ich muß, in einem gewiſſen Inſtinkt. Und dieſer Inſtinkt iſt von der Ahnung begleitet, daß das nicht fuͤr nichts iſt, daß ich gerade ſo mein Streben durchſetze; daß das eben, das mir als mein Leben (als das Leben meines in der Entwicklung und SGeſchichte erſt entſtehenden und wachſenden Ichs) im Sinn liegt, überhaupt erſt durch den Tod erreicht werden kann. Der Inſtinkt für das ewige Leben erzeugt die Ahnung ewigen Lebens. Deshalb erreicht die Ahnung ewigen Lebens dann die hoͤchſte Klarheit und Stärke, wenn durch Gefaͤhrdung des eigentlichen Lebens, das mir im Sinne liegt, der Inſtinkt fuͤr deſſen Erhaltung aufgereizt wird. Verſchwindet die Gefahr, ſo tritt der Inſtinkt außer Taͤtigkeit und dann verblaßt auch die Ahnung zu einer Meinung, die gerade noch ihre Möglichkeit behauptet. Die Leb; haftigkeit der Ahnung ſteht in geradem Verhaͤltnis zu der lebendigen Kraft des Inſtinkts; und dieſe ſteht in geradem Verhaͤltnis zu der Dringlichkeit der Gefahr.“ |

„Von diefer Erfahrung aus verftebe ich meine Geſchichte als einen Kampf um mein Leben: naͤmlich um das Leben, das ich allein als mein Leben anerkenne. Aber ich kaͤmpfe darin, wie ſich von ſelbſt verſteht, nicht bloß um deſſen Erhaltung, ſondern auch um deſſen Erweiterung, Stei⸗ gerung, Klärung, Konzentration, Abrundung zu ewigem Leben. Wohl gemerkt: als einen Rampf um das ewige Leben; nicht um den Glauben an das ewige Zeben. Um den kaͤmpfe ich nicht. wozu auch? Der ſtellt ſich mit der Notwendigkeit des Kampfes um das ewige Leben von ſelbſt ein.”

„Wie lange ſich nun diefer Rampf hinziehen mag, kann ich nicht über: ſchauen. Das aber iſt mir klar: daß er fur mich mit meinem Tode noch nicht

Cbriſtoph Schrempf 123

zu Ende gekämpft iſt. Und nun glaube ich, daß die Stetigkeit meiner Ent⸗ wicklung, die ich in dem mir ſichtbaren Teil meines Lebens mit gen gender Sicherheit erkenne, auch durch den Tod nicht unterbrochen werden wird. Ich erwarte alſo nicht, daß ich ſterbend einen Sprung ins ewige Leben mache. Vielmehr werde ich den Rampf um das Leben, das ich ſchon in dieſem Leben allein als mein Leben erkenne und anerkenne, in einem anderen Leben nur fortſetzen. Irgendwie, doch fo, daß ich die weſentlichen Kämpfe in der Entwicklung zum ewigen Leben, die ich in meinem jetzigen Leben nicht ſiegreich zu Ende gekaͤmpft habe, wieder auf: nehmen muß.“ |

Dann iſt aber ſelbſtverſtaͤndlich, daß die jetzige Stufe nicht nur Ergebnis der Entwicklung ſeit der Geburt iſt, ſondern daß die eigentliche Geſchichte der einzelnen menſchlichen Perfönlichkeiten ſchon viel älter und länger iſt. Die Unterſchiede unter den Menſchen, die unzweifelhaft vorhanden ſind, wuͤrden, weſentlich betrachtet, in der Verſchiedenheit ihres Ewigkeits alters liegen.

IV

ch mußte annehmen, daß die wenigſten Lefer dieſes Artikels Schrempf

naͤher oder uͤberhaupt kennen. Deshalb habe ich ihn bei der Beſprechung feiner Sauptwerke fo ausführlich felbft zu Worte kommen laſſen. Damit hoffe ich erreicht zu haben, daß der Leſer einen unmittelbaren Eindruck von ſeiner Eigenart bekommen hat. Doch war ich bei dieſer Wiedergabe feiner Gedanken genoͤtigt, mich an einen kleinen Ausſchnitt des in dieſen Buͤchern Dargeſtellten eng anzuſchließen. Dadurch konnte manches nicht deutlich, manches uberhaupt nicht hervortreten, was für das Verſtaͤndnis Schrempfs doch weſentlich iſt. Ich muß alſo noch ä in freier Dar; ſtellung einiges nachzuholen.

Schrempf geht bei der Beurteilung des Menſchen von der Frage aus: was iſt das Element, in dem der Einzelne ſich wohl und natuͤrlich befindet? wenden wir dieſe Frage ſofort auch auf ihn an.

Offenbar befindet ſich Schrempf in dem, was „dieſe Welt“ an Schaͤtzen und Gutem zu geben bat, nicht in feinem Element. Er fuͤhlt ſich nicht eben wohl in ſeiner Saut. Die Gruͤnde dafuͤr hat er einmal in einem nicht veröffentlichten Entwurf eines Nachwortes angedeutet. Ich muß ſie aus dem Gedaͤchtnis wiedergeben.

Um in dieſer welt“ leben zu koͤnnen, muß man über ein gewiſſes maß von Robuftizität verfügen. Nun beſitzt Schrempf auch feine Robuſtizitaͤt. Er iſt ein, was man ſo heißt, kerngeſunder Menſch, koͤrperlich betrachtet. Er iſt 3. B. viel zu robuſt, um „okkulte ! Dinge erleben zu koͤnnen. Auch in feinem Denken beſitzt er Robuſtizitaͤt. Er faßt die Probleme des Lebens nicht mit Samthandſchuhen an. Was er zerſtoͤren kann weil es naͤmlich unecht, Schein iſt, Echtes läßt ſich nicht zerſtoͤren —, das zerſtoͤrt er, uner- bittlich, roh, grob. Aber dann beſitzt er doch in feinem Gemuͤt eine Weich;

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beit, eine Empfindſamkeit, die man nicht vermutet. Um es ſofort auf den Begriff zu bringen: er empfindet die ZLiebloſigkeit, die in der Welt iſt, aufs Schaͤrfſte. Und gerade dafuͤr ſollte ein Menſch Robuſtizitaͤt beſitzen. Denn kann ein Menſch, dem es eine innere Qual iſt, mit einem andern um irgend welchen Beſitz zu ſtreiten, dem alle Konkurrenz innere Unmoͤglich⸗ keit iſt, der aufs aͤußerſte dafuͤr empfindſam iſt, nicht, daß man ihm zu nahe tritt, ſondern daß er einem Menſchen zu nahe tritt kann ein menſch das Leben auf „dieſer Welt“ mit Freudigkeit durchleben? Und bringt nicht gerade die Liebe, die fern von aller Exkluſivitaͤt jeden, mit dem das Schickſal einen ernſthaft zuſammenfuͤhrt, zu umfaſſen ſucht, in die ſchwerſten inneren Noͤte, kann nicht gerade der, der in Liebe ſich vergißt, in dieſem Vergeſſen die größte Ciebloſigkeit begehen? Das Leiden unter den unvermeidlichen Liebloſigkeiten des eigenen Lebens, das Mit⸗ leiden unter der Lieblofigkeit, die den Menſchen um einen herum zuftößt, die erdrůͤckende Schauerlichkeit, die aus der, faſt möchte man ſagen, aus Aiebloſigkeit zuſammengeſetzten Welt einem entgegenſpringt fie find es, die Schrempf in „dieſer Welt“ vor allem nicht heimiſch werden laſſen, die; den eigentlichen Stachel in feinem Denken immer wieder bilden. Denn daß ein unbedingt lebenswertes Leben nur in einem Zeben felbfiver- geſſener Gůte beſtehen kann, daran hat er nie gezweifelt. Aber gibt es das? Iſt ein ſolches Leben dem Menſchen uberhaupt möglich? Und gibt es eine Macht hinter allem, die aus Liebe die Welt fo geſchaffen hat, wie fie iſt? Worin kann dann bei dieſer anſcheinenden Liebloſigkeit die Liebe be⸗ ſtehen?

Schrempf iſt noch mit etwas zweitem behaftet, das das Leben in dieſer Welt empfindlich erſchwert. Jeder Menſch hat fein eigenes Maß von Bieg- ſamkeit und Sproͤdigkeit. Man muß, um mit den Menſchen zuſammen⸗ leben zu konnen, nachgeben koͤnnen. Nun iſt Schrempf durchaus kein recht; haberiſcher Menſch. Machtbeſtrebungen gar liegen ihm voͤllig fern. In den meiſten Faͤllen gibt er ohne weiteres nach. Sie ſind ihm einen Streit nicht wert. Aber dann gibt es Dinge, in denen fuͤr ihn ein Nachgeben gar nicht in Frage kommt, wo er unerbittlich, unerweichlich iſt, wo ſeine Natur eine unuͤberwindliche Sproͤdigkeit beſitzt. Das hat fi in feinem Pfarr amt gezeigt. Das zeigt ſich auch ſonſt in feinem Zuſammenleben mit Men⸗ ſchen. Dieſe Unbedingtheit, die, wenn ſie in die Erſcheinung tritt, keine Kuͤckſichten kennt, macht das Leben nicht leicht, erſchwert es vielmehr außerordentlich. .

Endlich beſitzt Schrempf eine Leidenſchaft, die es wiederum erſchwert, im Leben heimiſch zu werden. Er iſt beherrſcht von der Leidenfchaft des Denkens, vom Suchen nach Wahrheit. Dieſe Leidenſchaft führt zur Ke · flerion. Reflexion ſteigert die Bewußtheit des Lebens. Bewußtheit aber tötet die Unmittelbarkeit, alles Natuͤrlich inſtinktive des Lebens. Schrempf iſt, um einen vielberuͤchtigten Ausdruck der modernen Pſychologie zu be⸗

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nuͤtzen, voller „emmungen ! Die Bewußtheit und Reflektiertheit unter⸗ bricht den Rhythmus des Lebens.

So iſt es kein Wunder, daß Schrempf ſich nicht heimiſch fuͤhlt auf dieſer welt, ſich in ihr nicht in ſeinem Element fuͤhlt. Aber das Merkwuͤrdige dabei iſt: er kann dieſe zweifelhafte Mitgift der Natur und feine in dieſer Richtung verſchaͤrfend wirkende Entwicklung nicht verneinen, nicht be⸗ dauern. Er kann gar nicht wollen, daß er weniger empfindlich fein möge für Liebe und Ziebloſigkeit, daß er in wichtigen Dingen des Lebens bieg- ſamer, daß ſein Suchen nach Wahrheit ſchwaͤcher ſei. Gerade darin liegt ja die Groͤße eines Menſchen, liegt ſeine Wuͤrde. Und wenn dieſe Dinge das Zeben erſchweren und hemmen, liegt in ihnen nicht gerade ſtarkes, großes Leben?

Wenn ein Menſch in dieſer Stimmung lebt, leben muß, daß er ſich auf der einen Seite nicht heimiſch fuͤhlt, auf der andern Seite darin, was ihm das Leben unheimiſch macht gerade das erlebt, was dem Zeben Wert gibt, ſo kommt er dem Zeben gegenuͤber in ein merkwuͤrdig geſpaltenes Ver⸗ haͤltnis. Er kann es nicht bejahen dazu birgt es zuviel Leiden er kann es nicht verneinen dazu hat es zu ſtarke Anſaͤtze, die auf die Moͤg⸗ lichkeit unbedingten Lebens hindeuten —, er muß es ſich gefallen laſſen, in einer, zwiſchen Bejahung und Verneinung vibrierenden Lebensftim- mung bin- und hergeworfen zu werden, muß feine Stimmung dem Leben gegenüber in der Schwebe halten.

Auf etwas aͤhnliches ſtoßen wir beim Denken.

Schrempf’s beherrſchende Zeidenſchaft iſt die Ceidenſchaft des Denkens, das Suchen nach wahrheit. Aber nicht nach der Wahrheit einzelner end- licher Dinge. Was er ſucht, iſt die Idee, die über feinem Leben ſteht und über der Welt. Nicht als Idee der Santafie, des Wunſches, ſondern als Wirklichkeit.

Nun iſt leicht einzuſehen, daß die letzten Dinge des Lebens, wenn fie uͤberhaupt einem Menſchen offenbar werden, doch nicht auf Befehl und Wunſch ſich offenbaren. Man kann Gffenbarungen nicht erzwingen, kann vielmehr nur abwarten, ob einem Offenbarung wird. In der Zwiſchen⸗ zeit kann man nur das, was man bisher an wirklichkeit glaubte erlebt zu haben, oder was andere einem von der von ihnen erlebten wirklich keit geſagt haben, daraufhin unterſuchen, ob tatſaͤchlich Wirklichkeit iſt, was man fuͤr A haͤlt. Es gilt e die Illuſtonen des Lebens zu zerſtoͤren.

Da Schrempf dieſe zern dende Arbeit oft zum Vorwurf gemacht wird, muͤſſen wir hier eine Bemerkung einſchalten. Jeder Menſch kann immer nur wirken auf Menſchen ſeiner Art oder verwandter Art. Wem die Frage nach dem Sinn des Lebens, das Leben als Totalitaͤt genommen, Lebens⸗ frage geworden iſt, der kann nur wirken und will nur wirken auf Menſchen, denen dieſe Frage ebenfalls Frage ihres Lebens geworden iſt, oder die im

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Begriff ſtehen, die mit dem Aufleben dieſer Frage verbundenen Erſchuͤtte⸗ rungen zu durchleben. Wem aber dieſe Frage Zebensfrage geworden iſt, der iſt damit aus dem Bannkreis der Sitte und Ronvention, des Denkens wie „man“ denkt hinausgetreten. Er will Wahrheit, Wirklichkeit, will grundſaͤtzlich fein Leben nicht auf einer Illuſion aufbauen, iſt dank bar für jedes Zerſtoͤren einer Illuſion. Wer nicht grundſaͤtzlich fo denkt, iſt nicht von der Frage nach dem Sinn des Lebens beherrſcht. Doch iſt ſolches Zerſtoͤren im Einzelfall immer ſchmerzlich. Es iſt um fo ſchmerz licher weil es ohne Ruͤckſichtsloſigkeit, ohne Pietaͤtloſigkeit, ohne Ehr furchtsloſigkeit dabei nicht abgeht. „Grundſaͤtzlich zum Gehorſam gegen Gott entſchloſſen, verweigere ich Gott grundſaͤtzlich den Gehorſam.“ „Da auch der Satan ſich in einen Engel des Lichts verkleiden kann, reſpektiere ich keinen Seiligenſchein. Ich zweifle an, was zum Zweifel irgendwelche Veranlaſſung gibt. Stellt mir das Daͤmoniſche die Machtfrage, ſo ſtelle ich dem Daͤmoniſchen die Machtfrage. Will Gott mich zwingen, fo ſoll er mich zwingen. Sein Recht iſt, daß er mich zwinge; mein Recht iſt, daß ich mich nur dem Zwang ergebe.

welche Mittel gibt es nun, Illuſionen zu zerſtoͤren, Wirklichkeit feſt zuſtellen?

Erſtes Mittel fuͤr Schrempf iſt die einfache Anwendung des geſunden Menſchenverſtands. Er iſt ein großer Verehrer des guten Verſtands. Da⸗ mit iſt er freilich ſehr unmodern. Er iſt deshalb auch laͤngſt als „Intellekt tualiſt“ erledigt. Sein Intellektualismus beſteht aber darin, daß er von der Frage nach dem Sinn des Lebens erfaßt, zur Klarlegung feiner Situation in erſter Linie einmal feinen Kopf benuͤtzt, rationale Tiber- legungen anſtellt, ſolange er ſolche uͤberhaupt anſtellen kann.

Daß aber mit dem Verſtand nicht alles zu machen iſt, ſieht Schrempf, nachdem er ſeinen Verſtand gruͤndlich benuͤtzt hat, mit ſeinem Verſtand auch ein. Wirklichkeit laͤßt ſich in letzter Linie nur dadurch feſtſtellen, daß man es mit ihr riskiert, ſie dadurch, daß man ſie als Wirklichkeit benutzt, auf die Probe ſtellt. Von der wirklichen Geſinnung eines Menſchen kann ſich nur uͤberzeugen, wer es auf Grund ſeines Eindrucks von ihm mit ihm riskiert; von der Wahrheit der Lehre eines Menſchen kann ſich nur überzeugen, wer es mit dieſer ehre ernſthaft verſucht; von der Wahrheit, daß Gott immer ſchon fuͤr den Menſchen geſorgt habe, kann ſich nur überzeugen, wer feine Sorge in einem Ernſtfall einmal auf Gott wirft, das eben riskiert. So fpielt der Gedanke des Riſikos bei Schrempf eine große Kolle; es iſt gewiſſermaßen das Gegengewicht gegen den zer⸗ ſtoͤrenden Zweifel. | Die Arbeit der Zerſtoͤrung der Illuſionen, des Erprobens der Wirklich- keit, iſt nun eine Arbeit, die ſich auf lange Jahre, auf ein ganzes Leben hin erſtreckt und erſtrecken muß. Wer in ihr drin ſteckt, kommt damit wiederum in eine eigentuͤmliche Situation: er kann nicht leugnen, kann

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nicht behaupten, kann nicht bejahen, kann nicht verneinen, kann was er noch nicht mit Sicherheit durchſchaut, feſtgeſtellt, erprobt hat, nur dahin⸗ geſtellt ſein laſſen, nur als offene Frage behandeln. Ahnlich wie wir es bei der für Schrempf charakteriſtiſchen Lebensſtimmung geſehen haben, kommt hier auch in das Denken dieſes Vibrieren zwiſchen ja und nein, dieſes das Denken in der Schwebe halten muͤſſen. So iſt es fuͤr Schrempf charakteriſtiſch, daß er nie vom einen Extrem ins andere uͤbergeſprungen iſt (als er den Gottesglauben aufgab, wurde er nicht Atheiſt), er hat viel- mehr alles Fixierte, das Poſitive und Negative, die Orientierung nach rechts oder links gleichzeitig aufgegeben, hat ſich die Moͤglichkeit nach jeder Richtung hin freigehalten und geſchaffen. Das konnte er allerdings er hatte ja keinen Glauben mehr offiziell zu vertreten. Wer wehrte ihm, heute ſo zu denken, morgen ſo? Dieſe Freiheit des Denkens aber, die er ſich durch feine Loͤſung von allen offiziellen Banden erwarb, die ihn auch davon freimachte, an ſeine eigene Vergangenheit gebunden zu fein, fie hat ihm die Beweglichkeit und Möglichkeit, lernen zu koͤnnen geſchaffen. Denn dieſes Vibrieren zwiſchen ja und nein iſt der natuͤrliche Juſtand des Werdenden, des ſich Entwickelnden, des Lernenden.

Iſt der Schwebezuſtand der richtige, natuͤrliche, geſunde Juſtand des Werdenden, fo muß er in allen Lebensäußerungen zum Ausdruck kom; men, kann ſich alſo nicht nur auf Lebensſtimmung und Denken, muß ſich vielmehr auch auf das Wollen eines Menſchen erſtrecken.

Jeder Menſch iſt beherrſcht von dem Verlangen nach Gluͤck. In wem aber dieſes Verlangen ſich zu einem Verlangen nach unbedingtem Gluͤck verdichtet hat, wer dadurch erkennt, daß alles Einzelne im Leben feine richtige Beleuchtung und ſeinen eigentlichen Wert erſt vom Abſoluten bekommt, der kann je länger, je weniger, fein Verlangen nach Gluck auf einen einzelnen beſtimmten Wunſch konzentrieren. Er muß auch ſeine Wuͤnſche und das daraus entſpringende wollen in der Schwebe halten.

Das aͤußert ſich darin, daß er nichts mehr erzwingen will. Das hat auch ſeinen Grund darin, daß man in dieſer Stimmung einſieht, daß die wichtigſten Dinge des Lebens unwillkuͤrlich, frei geſchehen und eintreten muͤſſen. Liebe kann nicht erzwungen werden. Man kann fie ſich ſinngemaͤß nicht ſelbſt abtrotzen und abringen, man kann ſie von keinem andern er⸗ zwingen. Ziebe kann nie und nimmer zur Pflicht gemacht werden, ſonſt iſt es keine Liebe mehr. Liebe muß wachſen, reifen, muß einem als Ge⸗ ſchenk, als Uberraſchung zufallen. Wer das ſieht, wer auch bei ſich ſelbſt die Begrenztheit der Liebe zu ſeinem Entſetzen und Schmerz ſieht, der kann doch nichts daran aͤndern und aͤndern wollen: er kann in ſeinem Sinn und Gemuͤt daran feſthalten, daß nur ein Zeben der Liebe ein lebenswertes Leben iſt, kann aber ein ſolches Leben nicht erzwingen. Sonſt iſt es gemacht, forciert, und alles Sorcierte, Gemachte iſt unecht, wertlos.

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Diefes Leben in der Schwebe iſt Fein leichtes Leben. Dabei ſcheint das Zeben fo eingerichtet zu fein, daß je ſtaͤrker ſich ein Menſch in dieſer Situation des ſich Entwickelns und Keifens entwickelt und reift, daß in gleichem Maße für ihn das Leben immer ſchwerer wird, daß er ſich im Leben immer weniger heimiſch fuͤhlt.

Was ſoll das bedeuten?

Diefe ihm aus feinem Leben und dem Leben anderer Menſchen ent- gegenſpringende Paradoxie drängt Schrempf unter vielen Schwankungen doch auch mit großer Stetigkeit immer wieder darauf hin, gerade in ihr den Fingerzeig, die Richtung zu ſehen, in der die Löfung des Raͤtſels liegt.

In dieſen Schwierigkeiten des Lebens naͤmlich wird, waͤchſt, reift die menſchliche Perſoͤnlichkeit. Durch fie wird der Menſch in Zwieſpalt mit ſich ſelbſt gebracht; durch fie wird er zu bewußtem Leben gedraͤngt, durch ſie wird er genoͤtigt, ein bewußtes Verhaͤltnis zu ſich und der welt zu bekommen; durch ſie wird er uͤber ſich hinausgeſtoßen, durch ſie waͤchſt er auch hinaus über die Einzelheiten des Lebens, erwacht in ihm der Anſpruch und das Verlangen nach unbedingtem, abſolutem, ewigem Leben.

„Die hoͤchſte Aufgabe des Menſchen ift, mit ſich ſelbſt, im ſtrengſten Sinne des Wortes, ins reine zu kommen. Das iſt die Sauptſache; alles andere iſt Nebenſache. Ob es uns beſſer oder ſchlechter geht, iſt Neben⸗ ſache. Fur was wir gelten, iſt Nebenſache. Das Leben ſelbſt iſt Neben⸗ ſache. Die Hare, ſtarke, in ſich geſchloſſene Perſoͤnlichkeit, die mit ſich ſelbſt über ſich ſelbſt völlig ins reine gekommen iſt: Das iſt das Endziel der Schule des Lebens, die wir jetzt durchlaufen.“

V

N ſtarke perſoͤnliche Denker zwingt zur perſoͤnlichen Auseinanderſet⸗ zung. Perſoͤnliche Auseinanderſetzung iſt in und aus der Diſtanz nicht möglich. Wer nie mit einem Menſchen die Diſtanz verloren hat, wird ihn nie erkennen. Diſtanz zu verlieren iſt aber immer etwas Riskiertes. Wir möchten deshalb zum Schluß in aller Kürze noch auf das Riſiko hin⸗ weiſen, das der auf ſich nimmt, der ernſthaft von Schrempf lernen will. I. Man läuft bei Schrempf tatſaͤchlich Gefahr, fo in den Bann feiner perſoͤnlichkeit zu geraten, daß man ſich an ihn verliert. Wer uͤberhaupt ein Organ dafuͤr hat, ſpuͤrt auf jeder Seite von ihm, bei jedem Vortrag: Das geht dich an, da handelt es ſich um deine eigenſten Angelegenheiten. Nichts feſſelt aber ſo an einen Denker, wirkt anziehender und abſtoßender, abſtoßender und anziehender zugleich, wirkt ſuggeſtiver, als wenn er zu

ſprechen vermag, wie wenn man zu ſich ſelbſt ſpraͤche. Auch wird einem bei Schrempf deutlich, daß nur ſolch perſoͤnliches Lernen, bei dem man zugleich ſich ſelbſt zu verlieren in Gefahr iſt und

Chriſtoyh Schremyf 12

auf ſich ſelbſt zuruͤckgeworfen wird, fruchtbares Lernen iſt. Weshalb man heutzutage ſo wenig vom Zernen verſteht, iſt, weil es fuͤr die groͤßte Schande gilt, in ſolche innere Abhaͤngigkeit von einem anderen Menſchen zu kommen.

Iſt die Gefahr, ſich zu verlieren, ernſthaft da darin liegt das Kiſiko —, ſo ſorgt doch das Leben, auf das Schrempf hindraͤngt, dafuͤr, daß dieſe Gefahr nicht zu groß werde. Muß, wie wir ſahen, das Leben immer mehr in der Schwebe gehalten werden, wird ferner das Leben mit fort- ſchreitender Entwicklung immer ſchwerer, fo iſt ein ſolches Leben auf die Dauer nicht auf die Autoritaͤt eines andern hin zu ertragen. Man wird gezwungen, auf eigenen Fuͤßen zu ſtehen oder unterzugehen.

2. In der Schule Schrempfs wird einem das Zeben zur offenen Frage. man verliert den feſten Boden unter den Fuͤßen. was fuͤr ſichere Wahr⸗ heit gegolten hat, verflüchtigt ſich. Solange man aber unter der Frage ſteht, was das Leben als Ganzes zu bedeuten habe, kann man nicht leben. Das Leben in der Schwebe iſt der Tod des unmittelbaren, inſtink⸗ tiven, unreflektierten Lebens. Man muß alſo diefen Tod riskieren.

Doch wird wohl in dieſes Sterben niemand hereingeriſſen werden, in dem ſich das Leben nicht ſchon von ſelbſt zu zerſetzen beginnt. Die ſelbſt⸗ verſtaͤndliche Ablehnung, die Schrempf allgemein erfaͤhrt, zeigt, wie ſicher hier der Selbſterhaltungsinſtinkt des Menſchen reagiert.

3. Beweiſt nicht ſchon dieſes Abſterben des Lebens, daß man ſich auf einer falſchen Bahn bewegt? Iſt es nicht Wahnſinn, wenn der Menſch nach einem Generalnenner für fein Leben ſucht? Verfuͤhrt Schrempf nicht zu einer falſchen Frageſtellung? Und ſtellt er den Blick, ausgehend von diefer Srageftellung, nicht auch noch auf eine falſche Richtung ein, ſo daß man natuͤrlich nicht zum Erkennen der wirklichkeit kommen kann? Denn er geht ja aus nur vom einzelnen Menſchen, ſein Blick iſt ſtarr auf den einzelnen Menſchen gerichtet. Fließt aber nicht die Wahrheit aus der Gemeinſchaft, kann nicht erſt im Untertauchen und ſich taͤtig Ver⸗ lieren in der Gemeinſchaft der Sinn des Lebens erfaßt werden?

Ich würde nicht vom „Kiſiko“ ſprechen, wenn mir ſolche Einwendungen nicht als ernſthaft zu nehmende Möglichkeiten Eindruck machten. Wes; halb fie nicht die Kraft haben, mich von der Torheit meines „Kiſikos“ zu uͤberzeugen, iſt, weil ich mich tatſaͤchlich nicht entſinnen kann, von einem Menſchen ernſthafteres, echteres Über das Verbundenſein mit an- deren Menſchen gebört zu haben, als von Schrempf. Alſo muß er doch auch darum wiſſen. Außerdem haͤtten wir mehr Menſchen, die im Schrempfſchen Sinn Einzelne geworden wären, es entſtuͤnde eine andere Gemeinſchaft als wir fie jetzt haben. Der Weg Schrempfs iſt für die Ge⸗ meinſchaft voͤllig ungefaͤhrlich, denn er macht den Menſchen los von Selbſtſucht und dadurch faͤhiger zur Singabe.

4. Aber wird nicht durch die gewalttaͤtige, pietaͤtloſe, zerſetzende und

430 F. Stäbler, Chriſtoph Schrempf

zerſtoͤrende Art des Schrempfſchen Denkens, auch durch das in Vorder grund rüden des Denkens überhaupt, gerade das Feinſte im Menſchen zerſtoͤrt, feine Weſenheit, die nur durch ein im beſten Sinne frommes Sin horchen erlebt und zum wachstum gebracht werden kann und in der eben erſt die dem Menſchen erfaßbare letzte Wirklichkeit beſchloſſen liegt?

Auch hier das „Kiſiko“ . Was aber wieder hindert, dieſe Gefahr als un- vermeidlich anzuſehen, vielmehr zwingt darin liegt das Weſen des Kiſikos beide Möglichkeiten, die Möglichkeit des Zerſtoͤrens wie die des Wachſens als möglich zu ſetzen, iſt die Beobachtung, daß in Schrempf ſelbſt die in ihm liegende Feinheit des Denkens und Empfindens nicht zerſtoͤrt wurde.

5. Mit Sinn riskieren tut nur, wer für das Kiſiko gute Gruͤnde hat, und wem durch das KRiſiko hindurch ein Ziel winkt, das des Riſikos wert iſt.

Es iſt nicht zu vermeiden, daß ich in dieſem Punkte perſoͤnlich werde.

Was mich an Schrempf anzieht, iſt zunaͤchſt die Soliditaͤt feiner Perſoͤn⸗

lichkeit. Er nimmt nichts unbeſehen hin, läßt ſich durch keine Wuͤnſche beſtechen, durch keine Verſprechungen blenden, durch keine Suggeſtionen be- nebeln, durch Mattwerden nicht verleiten, aus dem Schwebezuſtand herunterzuſinken. Da er natuͤrlich im Einzelnen gegen Wuͤnſche, Der ſprechungen, Suggeſtionen auch kein Allheilmittel hat, iſt er beſtrebt, wenn fie ihm den Kopf warm zu machen drohen, dieſe Wärme durch die kuͤhle ſcharfe Luft des Denkens abzukuͤhlen, um dadurch ſicherer feſtſtellen zu koͤnnen, was echt iſt oder nicht. Das erweckt mir fuͤr das, was bei ihm zu lernen iſt, ein guͤnſtiges Vorurteil. Was mich weiter an Schrempf anzieht iſt, einen Menſchen, einen Denker, einen Philoſophen vor mir zu haben, den nicht gelehrte Dinge intereſſieren, ſondern Fragen, wie fie mir in meinem unwiſſenſchaftlichen Leben auch aufſtoßen, und daß ich bei ihm Einblick bekommen kann in das Vib⸗ rieren einer werdenden Perfönlichkeit.

Ceſte Reſultate werden mir da allerdings nicht uͤbermittelt. Aber was fange ich mit den Lehren eines Menſchen an, in deſſen Werden ich keinen Einblick bekommen kann, der mich alſo auch nicht lehren kann, wie man Schritt für Schritt einer Wahrheit naͤher kommt; bei dem ich nicht fühle und ſpuͤre, daß er aͤhnliche Situationen hat durchleben muͤſſen wie ich und bei dem ich nicht nachſehen kann, wie er dieſe Situationen ausgeſchoͤpft hat? | Ä

was mich aber am meiften an Schrempf feſſelt, ift, daß er bei aller feiner Menſchlichkeit, die es mir moͤglich macht, von ihm zu lernen, bei all ſeiner Uferloſigkeit des Zweifelns ein wenn auch nicht ſicheres Wiſſen von Dingen zu haben ſcheint, die ich nicht kenne. Ein Wiſſen oder Ahnen um die Wirk⸗ lichkeit Gott, ein Wiſſen um Unbedingtes. Beides iſt mir raͤtſelhaft. Aber gerade dieſes Rätfelbafte zieht in feinen Bann und zieht umſomehr in

Barl Mödel, Das eilige Reich der Deutſchen 131

den Bann, je unbeſtechlicher, nuͤchterner, unſchwaͤrmeriſcher die betreffende Perſoͤnlichkeit ſonſt iſt.

Doch iſt es mir mehr als fraglich ob dieſes Raͤtſelhafte mir nicht immer ein Raͤtſel bleiben wird. Der Ernſt meines Verhaͤltniſſes zu Schrempf liegt deshalb auf anderer Linie. |

Schrempf bewegt und entwickelt fi zwiſchen zwei Polen. Der eine Pol iſt die hoͤchſte Steigerung der Freiheit und Selbſtaͤndigkeit und Un⸗ bedingtheit des Ichs, der andere das ſich Vergeſſen des Ichs in der Sür- ſorge fuͤr andere. Man redet bei uns nur immer vom letzteren. Man ver⸗ gißt, daß erſt ein freigewordenes, ſelbſtaͤndiges, unabhaͤngiges Ich dienen kann. Freiwerden muß aber das Ich von der Sucht ſeines Ichs und von der Abhaͤngigkeit von Beſitz, Macht, Ehre. Das wird es nur, wenn es durch die Unerbittlichkeit des Verlangens nach Wahrheit, nach Wirklichkeit, nach Unbedingtheit, nach Freiheit und Selbſtaͤndigkeit Diſtanz gewinnt zu ſich ſelbſt.

So ſcheint es mir wenigſtens. Jedenfalls wird mir auf Schrempf hoͤrend, immer wieder deutlich, daß die bedingungsloſe Liebe lebendig werden kann nur in einem Menſchen, in deſſen Leben Unbedingtes hereinragt und der unter der Zucht dieſes Unbedingten Perſoͤnlichkeit geworden iſt.

| Karl Mödel | Das Heilige Reich der Deutſchen

s ſcheint einer undurchbrechbaren Geſetzmaͤßigkeit alles pſychiſchen Eee zu entſprechen, daß wir unſer durch gewaltſam erlittene

Derlufte urſpruͤnglichſter ſeeliſcher Gegebenheiten geſtoͤrtes bio» logiſches Gleichgewicht kuͤnſtlich, auf imaginaͤrem Wege, durch Phantaſie⸗ Erſatz wieder herzuſtellen und auszubalancieren verſuchen. Wenn einmal die Zeit erfuͤllt ſein wird, wo die Erkenntniſſe und Einſichten moderner Seelenkunde dem Verſtaͤndnis geſchichtlicher Vorgaͤnge und Epochen nutz · bar gemacht werden koͤnnen, dann wird uns, das iſt mit hoher Wahrſchein lichkeit anzunehmen, manches hiſtoriſche Faktum in ganz neuartigem Lichte erſcheinen. Vielleicht, daß wir dann auch jene Epoche unſerer Gei⸗ ſtesgeſchichte um 1800, die wir zuſammenfaſſend und vielſagend als deutſchen Idealismus! bezeichnen, mehr unter dem Geſichtswinkel einer „Verdraͤngung“ von zu tiefſt in der Seele jener Generation eingelagerten Erwartungen, Soffnungen, Sehnſuͤchten begreifen und verſtehen werden. Denn nachdenklich muß es immer ſtimmen, ob wir, die wir im Sinblick auf jene Aufgipfelung deutſcher Geiſtigkeit die ehrende Auszeichnung eines Volkes der Denker und der Dichter erfuhren, eben dieſe Leiſtung im Neiche

432 Barl Möckel

des Gedankens hätten vollbringen koͤnnen, wenn wir im ſicheren Beſitze und im ſatten, behaglichen Genuſſe eines ſtaatlich geeinten Vaterlandes freier Bürger und einer geruhſamen und ſich ſelbſt genugſamen Lebens⸗ ſtimmung gewefen wären. Viel verſchlungen find die Wege, welche die „iſt der Geſchichte“ wandelt.

Nun ſcheint mir Leopold Zieglers neueſtes Werk nach eben derſelben Richtung hinzuweiſen. Und zwar in einem zweifachen Sinne. Einmal ift bier meines Wiſſens zum erſten Male der Verſuch gemacht, die Ge⸗ ſchichte unſeres Volkes von eben der bezeichneten Seite ausgehoͤhlter, ent · leerter, ungeſtillter und darum ſchmerzlich verlangender, titanenhaft wol lender, unerſaͤttlich hungriger Seelenhaftigkeit zu verſtehen; und zum an- dern: dieſes Werk ſelbſt iſt der Niederſchlag enttaͤuſchter Soffnungen, aus gebliebener Erwartungen, ſchmerzlicher Reſignation. Wäre das politiſche Reich der Deutſchen wenn auch nicht in feinen aͤußeren, verfaſſungs⸗ rechtlichen Formen, fo doch in feinem ideell · irrationalem Gefuͤge ! nicht in jener letzten Rataſtrophe unſeres Feſtlandes zuſammengebrochen, fo wäre das „Seilige Reich der Deutſchen“ wohl kaum geſchrieben worden.

Wenn Ziegler noch nicht die Stellung im Geiſtesleben der Gegenwart einnimmt, die ihm gebübrt, fo dürfte einer der Bründe in dem Umſtande zu ſuchen ſein, daß wir heute noch gar nicht in der Lage ſind, den Reichtum feines Denkens, ſoweit es bis heute vor uns liegt, auch nur annaͤhernd aus · zuſchoͤpfen und innerlich zu bewaͤltigen. In ſeiner Geſamteinſtellung zu den Grundlagen unſerer ideellen Exiſtenz iſt er von ſo radikaler Abgruͤndig⸗ keit und Konfequenz, daß es faſt ein Akt innerer Notwehr, Gebot eines geiſtig⸗ſittlichen Selbſterhaltungstriebes iſt, ſich dieſem vernichtenden Trom ; melfeuer von Ideen zu verſchließen.

Um ſich in dieſer fuͤr den Augenblick ſo labyrinthiſch anmutenden Ge⸗ danken · und Phantaſiewelt beſſer zurechtzufinden, mag, als methodiſcher Notbehelf, die Einführung eines gewiſſen begrifflichen Schematismus ge- ſtattet fein, der geeignet fein duͤrfte, den Weg in dieſe neuartige und eigen- artige Welt etwas zu erhellen, vielleicht, daß dann die Grientierung in dieſem ſteilen Sochgebirge leichter faͤllt, vielleicht auch, daß es dann, befreit von der Sorge, den Pfad zu verlieren, eher möglich fein wird, ſich der fon- nenbeglaͤnzten Gefilde zu erfreuen, die zu beiden Seiten dieſes Weges uns entgegenlachen.

Zieglers geſamtes Denken ſcheint mir einer zweifachen Wurzel zu ent⸗ ſpringen. Sie heißt: Leiden und Aeligion. Aus der Spannung zwiſchen beiden erwaͤchſt feine Philoſophie. Sebbel hat einmal geſagt, daß jeder tiefer veranlagte Menſch in ſeiner Jugend die „metaphyſiſche Krankheit“ zu durchleben und zu durchleiden haͤtte. Die polariſche Gegenſaͤtzlichkeit, die fuͤr Zieglers Einſtellung zum All ſo bezeichnend iſt, ſcheint ſich bereits ſei⸗ nem jugendlichen Erleben in der Form eines ausgeſprochen doppelſeitigen, zwieſpaͤltigen Ergriffenſeins von den Einwirkungen ſeiner Umwelt tief

Das Seilige Reich der Deutſchen 433

eingeprägt zu haben. Schon der Pennaͤler ift Peſſimiſt. Er leidet an ſich, an den Menſchen, dieſem „Pack, das er aus Serzensgrund verachtete . Er leidet nicht weniger an den Kulturzuſtaͤnden eines Deutſchland, in dem er ſich nie hatte wohl fuͤhlen koͤnnen. Aus ſolch zwiefach ſchmerzlichem Er⸗ leiden erfolgte ſchon früh die Sinwendung zur Religion, als der Erloͤſerin von eben dieſem Leid, erwuchſen ſchon fruͤh, im Alter von Is und 21 Jah⸗ ren, die beiden erſten Schriften uͤber die „Metaphyſik des Tragiſchen“ und „Das weſen der Kultur“, beide im Geiſte Eduard v. Sartmanns ge⸗ ſchrieben. In der „Metaphyſik ! wird der Verſuch gemacht, der Gegebenheit des Leidens, die ſich ihm vor anderen Gegebenheiten eingedruͤckt zu haben ſchien, einen metaphyſiſchen, vielleicht eher noch einen religioͤſen Sinn ab⸗ zuringen, im „Weſen der Kultur“ hingegen wird zum erſten Male die Tat ſache der Rultur metaphyſiſch im Sinne der großen Syſteme des deutſchen Idealismus gedeutet, als der geſchichtlich⸗uͤbergeſchichtliche Vorgang der Selbſtverwirklichung Gottes. Aus beiden Jugendarbeiten aber geht ber- vor, daß es die Gegebenheit des Leidens iſt, die ihn hellſichtig machte fuͤr metaphyſiſche Schauungen. Denn Zeiden, und das iſt im Reiche der Er⸗ fahrung immer ein Leiden am Dualismus, das Erleben des Wunſches nach ungetruͤbter Ganzheit angeſichts erlebnis wirklicher Nicht ⸗Ganzheit, Zwie⸗ ſpaͤltigkeit, albheit, iſt immer der Antrieb zu letzter hoͤchſter metaphyſiſcher Beſinnung. Zeidend fein und Erloͤſung wuͤnſchen, heißt: ſich als Wiſſen · der und Ganzer in Reinheit wuͤnſchen, frei von Zufall, frei von Stoff. lichkeit. Dieſe Sinwendung: aus dem Erleiden des Dualismus heraus und hin zur Kategorie der Ganzheit, das iſt es, was Zieglers Denken kennzeich net und es von der heutigen akademiſchen Philoſophie unterſcheidet. Dieſe nämlich identifiziert ſich mit bloßen Teilen, Erſcheinungsformen des Sei- enden, zu denen ſogar der Geiſt ſelbſt, die Idee ſelbſt, gehoͤren. Eine Geiſtig · keit von Zieglers Art dagegen ſteht in beſtaͤndiger Verflechtung und Aus · einanderſetzung mit dem Weltgefamt. Denn was iſt Philoſophie? „Philo; ſophie, ſinngemaͤß in deutſches Denken uͤbertragen, heißt Weltverwurzelt⸗ beit, der Philoſoph iſt der Weltverwurzelte. Er fuͤhlt ſich mit allem, was iſt und was Welt iſt, beſonders aber auch mit allen widerſaͤtzlichen Bebil- den, tief verwurzelt, eben darum mit allem, was iſt und Welt iſt, letzthin irgendwie identiſch, mit allem, fag’ ich, und deshalb nicht mit dieſem oder jenem, ſei es das Geiſtigſte, ſei es der Geiſt felber.”

Noch in einem anderen Sinne traͤgt ſein Denken den Charakter der „weltverwurzeltheit “. Es tritt nämlich, im Gegenſatze zu anderen Meta⸗ phyſikern, herzhaft und unerſchrocken mitten in dieſe uns umgebende, tat- fächliche Welt, an deren Rätfeln wir ſinnen, an deren Gebrechen wir leiden. Es hat die Scheu (oder auch den Stolz?) gegenüber der Welt von hier und jetzt abgelegt. Nicht eine „Welt an ſich“, ſondern unſere, ganz beſtimmt ge⸗ artete Welt, die gilt es zu verſtehen, aus ihr ſind die Imperative unſeres Wollens abzuleiten. So will dieſe Philoſophie befruchtend auf die Zeit wir⸗ Tat XV 2

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ken, wie fie umgekehrt fi immer aufs neue aus den Umſchwuͤngen der Zeit her befruchten läßt („Zeitloſe Zeitſchriften“ hat er feine großen Werke gemeinſam überfchrieben l).

Schon feit dem Marokko ⸗Ronflikt war ihm bewußt geworden, daß wir mitten im Prozeß einer geſellſchaftlichen, geiſtig⸗ſeeliſchen Umſchmelzung begriffen waͤren, die unter einem ungeheuren Druck von Atmoſphaͤren ſtattfand. Aufſteigende Angſt vor dem Geſpenſte eines europaͤiſchen Arie ges paarte ſich mit dem leiden ſchaftlichen Wunſche, der befuͤrchteten Kata⸗ ſtrophe wenigſtens gedanklich zuvorzukommen, geiſtig vorzubeugen, fo- weit das einem Menſchen möglich wäre. Noch während einer dahinzielen⸗ den Arbeit Über „die Kriſis der Ideale! brach die Kataſtrophe herein; hin geriſſen von dem ungeheuren Erleben, wurden die erſten kurzen Aufſaͤtze, Aufrufe, niedergeſchrieben, die ſpaͤter als „Der deutſche Menſch“ in Buch⸗ form erſchienen. Ihnen folgten drei Eſſays: „Volk, Staat und Perſoͤnlich· keit“. Beide Arbeiten, unmittelbarer Niederſchlag des Kriegserlebniſſes, waren nur die Ouverture zu der gewaltig hinbrauſenden Wort und Ge⸗ dankenoper der nun folgenden monumentalen Werke: dem „Geſtaltwan⸗ del der Soͤtter“, dem „Ewigen Buddho“ und dem „Seiligen Reich der Deutſchen . Das Gemeinſame aller drei Werke beſteht darin: dieſer welt verwurzelte Denker unternimmt es, die Kataſtrophe unſeres Feſtlandes von der Religion her, freilich von einer Religion her, wie er fie verſteht, philoſophiſch zu begreifen, naͤmlich als den verheerenden Ausbruch bis; her gefeſſelter uralt · unewiger Lebens und weltmaͤchte, wobei er erfüllt iſt von dem Glauben, daß dieſer Untergang einer alten Welt zugleich der Aufgang einer neuen iſt. „Was wir unter Kraͤmpfen und Zuckun⸗ gen miterleben, iſt eine der Geburten Gottes. Wo aber Gott geboren wird, da iſt er ſtets auch zuvor geſtorben.“

Was im „Geſtaltwandel der Goͤtter“ und im „Ewigen Buddho“ ge⸗ lehrt, gepredigt wird, weisheitsvoll, hoheitsvoll, prophetiſch⸗ſeherhaft, mit apoſtoliſcher Glaubensinnigkeit, das iſt nicht mehr und nicht weniger als eine Religion ohne Gott, eine atheiſtiſche Religion, eine Religion, die ihm nicht nur moͤglich, ſondern in unſerer gegenwaͤrtigen Weltlage als die einzig mögliche, ja mehr, als die einzig notwendige erſcheint. Im Gegen; ſatz zur „pofitiven Theologie“ ariſtoteliſcher Definitionen über die Exiſtenz und Beſchaffenheit Gottes, iſt ihm die Frage nach der Exiſtenz Gottes für alle Religion gleichguͤltig. Wie ſchon Nikolaus von Cues und die „nega⸗ tive Theologie der mittelalterlichen Myſtik richtig geſehen haben, iſt Gott das ſchlechthin Undefinierbare, das Nichtbeſtimmbare, Nichtab⸗ grenzbare, das „Diesſeits⸗Jenſeits aller Differenzen und fo auch aller Ron⸗ kordanzen “, die Aufhebung aller Gegenſaͤtze in einer fie uͤberhoͤhenden, fie umſchließenden, einſchließenden allerletzten Einheit, einer „coincidentia oppositorum‘“. Die zuſtaͤndige Rompetenz aber, die Stelle, wo dieſe Vor; ſtellung von Gott eingeloͤſt und erfüllt wird, iſt nicht die Erkenntnis, ſon ·

Das Seilige Reich der Deutſchen u 435

dern dieſer Gott kann nur in unſerm Leben verſucht, erprobt, verwirklicht werden. Das iſt der einzige Gottesbeweis fuͤr dieſen uralt · neuen Gott.

Wie aber das? Die moderne Pſychologie, die analytiſche und noch mehr die „ſynthetiſche“, hat nach allen Richtungen des Seelenlebens an tauſend uͤberraſchenden Erfahrungen erhaͤrtet, daß unſere Gedanken, Gefuͤhle, Vorſtellungen, Begriffe Kraͤfte find, die aus dem Zuſtande dynamiſch ener getiſcher Latenz mit oder ohne unſer Dazutun mächtig hinausdraͤngen. Sie hat diefe ſeeliſchen Energien als ſchwaͤngernde, keimende weltkraͤfte erkannt, die den Strom urtuͤmlicher Triebe in uns nach wahl und Abſicht von feinem Laufe ablenken koͤnnen. Damit ſtimmt der ſeelenaͤrztliche Be- fund ůberein, wonach jedes Menſchenleben auf perſoͤnlicher Stufe von einer feſten Zeitabſicht geführt erſcheint, die vielleicht noch unbewußt, dann und wann aber ſchon bewußt, unſere Maßnahmen, Sandlungen, Entſcheidungen beeinflußt, ja hervorruft. Bedenkt man nun, daß dieſe mehr oder weniger verbeſſerungsbeduͤrftigen, aber auch verbeſſerungs ; fähigen Cebensabſichten der einzelnen Individuen einander aufs ſchroffſte widerſtreiten, verneinen, ausſchließen muͤſſen, falls ihnen nicht beizeiten ein Ausgleich gelingt in einer ſie insgeſamt umſpannenden Viſion und Suggeſtion ſchlechthin univerſen, ſchlechthin mundanen Charakters, worin alle einzelnen Zeitabſichten, Lebenspläne eingeſchmolzen, ausgeglichen, harmoniſiert ruhen dann wird man verſtehen, daß die Vorſtellung „Gott“, ungeachtet ihres negativen Erkenntniswertes, jetzt in der Tat ein ungeheures Gewicht für unſere praktiſche Lebens · und weltgeſtaltung er- bäle. Als idée -force ſtellt dieſer Bottesbegriff die weltgeſuchte und welt⸗ erſehnte Vereinheitlichung aller in ſich zerſplitterten und zerkluͤfteten Ver · wirklichungsabſichten der einzelnen Lebensträger und Zebenskraͤfte dar, Gott, der Niemals - und Nirgends Wirkliche, er koͤnnte Verwirklichung er- fahren als „uͤberwirklicher Schnitt und Richtungspunkt aller vereinzelten Kraft · und Cebenslinien, die ihre Verſoͤhnung, ihren Ausgleich in einem Jenſeits ihrer kreatuͤrlichen Gegebenheit ſuchen !“. Gott iſt nicht mehr das „Ding an ſich“, ſondern das projtzierende „Ding zu ſich hin“ (Otto Flake). Die Kreatur Menſch, wie elend, wie nichtswuͤrdig es auch heute noch um fie beſtellt fein mag, es bleibt ihr gar nichts anderes uͤbrig, als eines Tages die ungeheure Zaſt für Gottes Verwirklichung auf Erden auf ihre ſchwachen Schultern zu nehmen: das iſt die neue und letzte und groͤßte Verantwortung des Menſchen, dieſe Welt, feine Welt menſch · goͤttlich zu

eſtalten.

Religion philoſophiſche Überlegungen dieſer Art wird man im Auge behalten muͤſſen, wenn man den Juſammenhang zwiſchen den ausge⸗ ſprochen religionsgeſchichtlichen Büchern des „Geſtaltwandels“ und des „Buddho“ auf der einen und des hiſtoriſchen werkes vom „Seiligen Reich der Deutſchen“ auf der anderen Seite verſtehen will. Wenn Ziegler ſelbſt alle drei Werte als „Zeitloſe ZJeitſchriften“ zuſammenfaßt, ſo iſt damit ſchon

29°

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angedeutet, daß ſie einer gemeinſamen Intention entſprungen ſind. Welche iſt dies? Der „deutſche Gott“ im „Seiligen Reich der Deutſchen“ iſt derſelbe Gott wie im „Geſtaltwandel“ und im „Buddho“, nur hat er wie⸗ der einmal feine Geſtalt gewandelt, nur iſt er aus den unendlichen Tälern und Ebenen des Oſtens weſtwaͤrts gewandert zu den Deutſchen und hat ſich ihnen aufs neue offenbart. In dieſem Sinne dürfte es vielleicht geſtattet fein, das „Seilige Reich der Deutſchen“ als die Fortſetzung des „Geſtalt⸗ wandels“ auf deutſchem Boden zu bezeichnen.

„Gott“, jene auf univerſelle Nivellierung und Sarmonifierung aller Gegenſaͤtzlichkeiten und Widerſaͤtzlichkeiten hinzielende Lebens / und welt; geſetzlichkeit, ſtirbt und wird wiedergeboren auf allen Kontinenten, von Ewigkeit zu Ewigkeit. Sein Sterben und Geborenwerden iſt es, das den Pulsſchlag der Welt, den weltprozeß ausmacht. In den gewaltigen Ge · ſittungen des vorchriſtlichen Oſtens, im Taoismus, Brahmanismus, Buddhismus wie in der philoſophiſchen Kultur des griechiſchen Suͤdens, bei Pythagoras, Seraklit, Plotin ſehen wir einzelne Phaſen jenes Welt- prozeſſes Geſtalt werden. Heute nun, in unſerm Weltalter, will Gott aufs neue geboren werden: die Deutſchen find von allen Voͤlkern des Kontinents das gebenedeite Volk des Seren. Sie find es, in die ſich jener uralte „Gott“ aufs neue eingeſenkt hat, damit ſie ihn aufs neue aus ſich herausgebaͤren ſollen. Ein neuer Welttag it im Anbruch! Die Zebensgeſchichte des deut ſchen Volkes iſt die Geſchichte einer neuen Menſchwerdung Gottes

Ziegler wurde zu dieſem Aſpekt geführt, als er, erſchuͤttert durch den Zuſammenbruch unferes Volkes, nach einem Auswege ſuchte, wie wohl dieſer Zuſtand, dieſer Notſtand zu ertragen, zu uͤberwinden wäre. Er wäre innerlich zu überwinden, fo argumentierte er, wenn wir unſer Schick ſal kennen würden. Wuͤßten wir, was unſer Schickſal iſt, was es mit uns vorhat, dann koͤnnten wir uns in Zukunft mit Bewußtſein und Freiheit in feinen Dienſt ſtellen, nachdem wir bisher unfrei · zwangslaͤufig dieſen Dienſt verrichten mußten. Um die Stimme des deutſchen Schickſals zu vernehmen, fragt er das Leben unſeres Volkes, ob es wohl Kunde zu geben vermochte von den heimlichen Zeitabſichten unſeres kollektiven Lebens. Die Ant⸗ wort, die unſere Geſchichte gibt, heißt: „Immer ſtrebe zur Ganzheit!“ Das iſt die Idee unſeres geſchichtlichen Daſeins und Soſeins. Durch alle Jahrhunderte, durch alle Bezirke unſeres kollektiven und individuellen Lebens drängt der Zug des deutſchen Serzens, der des deutſchen Schickſals Stimme iſt, hin zur Überwindung des Gegenſaͤtzlichen, hin zur Vereinheit⸗ lichung des Widerſaͤtzlichen. Wo immer dieſe Einheit je in unſerm geſchicht ; lichen Daſein verwirklicht wurde, in dieſen fluͤchtigen Stunden, feierlich wie die Pauſen einer großen Symphonie, feierlich wie die Glocken des Mittags und der Mitternacht, war der „deutſche Gott“ tatſaͤchlich bis zu einem ge- wiſſen Grade verwirklicht. Wo dies aber nicht gelang, wo dieſe Einheit nur mit Zauterkeit und Beharrlichkeit erſtrebt ward, da wurde dieſem

Das Seilige Reich der Deutſchen 137

Gott, dieſem unſern Schickſal, immerhin mit Treue gedient. Noch hat dieſes Volk ſeine Beſtimmung nicht erkannt. Noch iſt es ein unvollendetes, unfertiges Gebilde, das ſeine angemeſſenen Bindungen in Staat und Öffentlichkeit, in Geſellſchaft und Sitte, in wWirtſchaft und Kunſt, in Er⸗ kenntnis und Lebensführung noch ſucht. Ein Sucher und wandervolk! Der Deutſche ein ewig fahrender Befell, niemals befriedigt, nirgends be⸗ hauſt, daͤmoniſch umhergetrieben von Ort zu Ort. Nicht fo, als ob ihm jener andere Zuſtand des Fertigſeins, des Vollendetſeins, des In · ſich⸗ge⸗ formt · und Abgeſchloſſenſeins fremd wäre! Er liebt ihn aber nicht, will ihn nicht. Sat er ihn einmal verwirklicht, gleich zerſtoͤrt er ihn wieder mut; willig, um ſich aufs neue in den ruheloſen Strom des Werdens zu ſtuͤrzen. So kommt es, daß der Deutſche zwar ein Zeitalter der Klaſſiker kennt, aber keins der deutſchen Klaſſik. Niemals iſt die Welt der Klaſſiker ins Volk ge⸗ drungen. Stets grauſam eingeklemmt zwiſchen zwei Polaritaͤten, Duali⸗ täten, Rontradiktionen, ſtrengt ſich der Deutſche über menſchliche Faͤhig keiten hinaus an, den Ausgleich dieſer Begenfäge in einer Art coinciden- tia oppositiorum in ſich ſelbſt herzuſtellen. Als Theologe moͤchte er vor allem Vater und Sohn, Gnade und Freiheit, Wort und Fleiſch, Katholtizis⸗ mus und Proteſtantismus miteinander verſoͤhnen. Als Philoſoph ver einigt er in immer neuen Syntheſen Weſen und Erſcheinung, Wille und Vernunft, welt und Seele, Geſetz und Freiheit. Als Ethiker trachtet er, peſſimismus und Optimismus, Seteronomie und Autonomie, Egoismus und Altruismus zu verſoͤhnen. Als Politiker iſt er emſig beſchaͤftigt, Uni- verſalismus mit Nationalismus, Sozialismus mit Kapitalismus, Groß- betrieb mit Kleinhandwerk und was noch zu verbinden. „Andauernd auf dem Wege zum Ausgleich, gelangt fo der Deutſche niemals ſelbſt zu wirk⸗ licher Ausgeglichenheit; ſein unbaͤndiges Beduͤrfnis nach Syntheſen ſchleudert ihn haltlos zwiſchen Extremen hin und wider. Um ſo viele Dinge verſchmelzen zu koͤnnen, muß er ſeine ſeeliſche Temperatur immer auf den Schmelzpunkt erhohen, und kein Wunder! in der Naͤhe des re- praͤſentatiwen Deutſchen herrſcht eine Sitze wie um einen Sochofen.“ Ein laſtender, ja ein laͤſtiger Aberſchuß an Gefuͤhl, heißt die beklagenswerte Erbſchaft, mit der wir uns ſeit unſerer frühen Vergangenheit zu ſchleppen haben. „In ſchroffen Wechſeln, fiebernd zwiſchen heiß und kalt, bewegt ſich der Deutſche zwiſchen euphoriſchen und depreſſiven Zuſtaͤnden des Ge⸗ muͤtes faſt rhythmiſch hin und wider und wird hoͤchſt ſelten nur zu gleich- ſchwebender Temperatur und Sarmonie begnadet.“

In Anlehnung an das sacrum imperium des Mittelalters, hat Ziegler das Geſetz unſerer ſpeziſiſchen Menſchlichkeit, jenen Gott der coincidentia oppositorum, das „Seilige Reich“ genannt und es aus dem Geiſte der Gegenwart und mit allen Mitteln heutiger Erkenntnis philoſophiſch zu erneuern verſucht. Dieſes zweibaͤndige Werk ſtellt ſich die Aufgabe, jenen ungoͤttlichen „deutſchen Gott“ in der Geſchichte unſeres Volkes aufzu⸗

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ſuchen. Ein Wagnis von grandiofem Ausmaße, ein unerhört Fühnes Abenteuer des Gedankens, das ſeinesgleichen in der Gegenwart kaum haben duͤrfte.

Der erſte Band unternimmt es, jene deutſche Lebens und Weltmeta- phyſik von der coincidentia oppositorum nachzuweiſen im geſchichtlichen Leben und Erleben des deutſchen Volkes (J. Buch: Der Wanderer; 2. Buch: Daͤmonie des Suͤdens). Der zweite Band ſpuͤrt dieſer Geſetz⸗ maͤßigkeit im geiſtigen Leben und Erleben des deutſchen Volkes nach (3. Buch: Bosmologis = deutſch: Welt ⸗Dienſt). Der erſte Band zeigt, wie das deutſche Schickſal von den Deutſchen gelebt und erlebt wird in ſeiner politiſchen Geſchichte. Der zweite Band fuͤhrt aus, wie dieſes Schickſal von den Deutſchen gedacht und weitergedacht wird in ſeiner Geiſtesgeſchichte, um in einem weihevoll feierlichen Finale auszuklingen, wie dieſes Schick⸗ ſal von den Deutſchen geglaubt und in Jukunft von einer neuen Menſch⸗ heit weiter geglaubt werden wird (Mutter Erde Vater Simmel).

Die Geſchichte der Deutſchen iſt die Geſchichte der deutſchen Seele. Dieſe Geſchichte verlaͤuft, wie alles Weltgeſchehen, dem ſie eingeboren iſt, in zweidimenfionaler, gegenſaͤtzlicher Richtung. Raͤumlich⸗geographiſch ver · anſchaulicht iſt es die oͤſt weſtliche Bewegung unſerer politiſchen Geſchichte von der Voͤlkerwanderung bis zum Untergange des letzten Kaiſerreichs. Das iſt die eine, die horizontale Rurve unſerer „Lebenslinie“ („Schuͤrzungen der einen Reihe“). Dieſe Bewegung aber treibt, entſprechend der dualen Struf- tur alles Geſchehens, eine gegengerichtete, gegenſinnige Bewegung hervor. Kaͤumlich · geographiſch ſtellt fie ſich als die Nord · Sud · Richtung der deut ſchen Seele dar, wie ſie in den erleſenſten Geiſtern vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert als Sehnſucht nach der Welt der Klaſſik zutage tritt („Schůͤrzungen der anderen Reihe“). Auf der erſten Fahrt fischen die Deut⸗ ſchen das Reich der Römer, auf der zweiten das Reich der Griechen. In der welt der Klaſſik finden beide Lebensſtroͤme ihre Aufhebung, ihren Aus- gleich. Das war der geheime Wunſch beider Lebens richtungen durch die Jahrhunderte hindurch: den Ort zu finden, wo aus ihren Gegenſaͤtzlich⸗ keiten die höhere Einheit, Ganzheit hervorgehen koͤnnte, wo fie Ruhe vor ihrer eigenen Unruhe, Raſt von ihrer eigenen Unraſt, Erloͤſung von dem Fluche ewigen Umherirrens finden konnten. Sier war der „deutſche Gott“ verwirklicht. Das iſt der Sinn der Klaſſik, daß fie „nachweislich ſelbſt aus dumpf chaotiſcher Beſeſſenheit eines ahasveriſchen Fluchs geboren, ſich von eben dieſer gebaͤreriſchen Beſeſſenheit mild erloͤſen möchte und in wahrheit auch erloͤſt. In der Klaſſik ſchlichtet und uͤberwindet ſich, fo kann und muß man ſagen, die Daͤmonie des Suͤdens (als welche unverkennbar die Daͤmo⸗ nie des Nordens iſt) von innen her: und ſo ſchlichtet und uͤberwindet die KAlaſſik uberhaupt jegliche Daͤmonie, die mit der Tatſache des Lebens und werdens, wie wir ſahen, feſt verflochten iſt“.

Drei Reiche hat die deutſche Volkskraft im Laufe ihrer politiſchen Ge⸗

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ſchichte aus ſich herausgeſtellt: das Reich Karls des Großen, das mittel alterliche sacrum imperium und das Reich Bismarcks. Und dreimal hat das deutſche Volk dieſe Staatengebilde wieder zerſtoͤrt! Was andere Volker durften, andere Volker mußten: Volk unter Voͤlkern zu fein, heimatlich befriedet und behauſt unter eigenem Dach, wir, wir und die Juden wir durftens nicht. Wandern, wandern ohne Raſt und Ziel, das iſt unſer ſchickſalhaftes Teil. „Wanderer heiße ich.“ Wanderung heißt die fruͤheſte Erſcheinungsform deutſcher Daͤmonie, von der die Geſchichte erzaͤhlt. „Denn was jene aufgewirbelten Volker ſuchten, als fie mit immer größerer Beſtimmtheit ihre Richtung nach dem roͤmiſchen Suͤden nahmen, wer will es ſagen? Baum iſt die äußere Seßhaftigkeit im Frankenſtaat erreicht, fo beginnt innerhalb des jungen fraͤnkiſchen Staatsgebildes eine vertikale Wanderung der einzelnen ſozialen Schichtungen von unten nach oben, die bis heute noch nicht zur Ruhe gekommen iſt. Einen neuen Antrieb zu weiterer Fortbewegung erfährt der fraͤnkiſche Lehnsſtaat durch feine An teilnahme an der lebendigen Tendenz der Kirche, die doch katholiſch, d. h. univerſal war, der Gegenſatz zwiſchen dem nationalen Staat einerſeits, deſſen Träger die Stammesherzoͤge find, und dem univerſalen Staat, dem „Imperium“, dem „Reich“ anderſeits, deſſen Saupt der „roͤmiſche Kaiſer deutſcher Nation“ iſt, iſt damit gegeben. „Daß der Menſch aus teutoniſchem Geblůt zwiſchen dem nationalen Staat und dem univerſalen Reich in deſſen niemals die eindeutige Wahl getroffen hat; daß er im Gegenteil ſtets beides wollte, die Einengung und die Ausweitung, den Aushauch und den Ein hauch, die Ganzheit und die Teile, das Unbegrenzte und die Grenze, daß er ſeine Stammesart zwar um jeden Preis wahren will, aber die ſchier ſchmerzhaft ſpannende Vorſtellung, Gegenſtellung des all⸗einſchließenden Reiches nicht opfern kann und mag das iſt Beſtimmung, Schickſal und vielleicht Verhaͤngnis dieſes teutoniſchen, dieſes deutſchen Menſchen in ſeinem Mittelalter und vielleicht, wer weiß, noch in ſeiner ſpaͤten und ſpaͤteſten Zeit. Im Reiche Karls des Großen nimmt der „deutſche Gott“ zum erften Male Geſtalt an; fein Reich it wahrhaftig ein „Seiliges Reich“, wenn auch nur auf wenige fluͤchtige Stunden des großen Weltentages; denn „nur fluͤchtige Stunden des ſchwebenden, nie des ruhenden Gleich⸗ gewichtes gönnt die Daͤmonie des Werdens uns daͤmoniſch Umgetriebenen und Gehetzten “. Drei Gegenſaͤtze waren in dieſer univerſal ⸗hiſtoriſchen coincidentia oppositorum gleichſam ausgewogen: I. ſetzt Karl das ge- faͤhrliche Widerfpiel des Bauern · und Priefteradels einigermaßen ins Gleiche; 2. bringt er als erſter des Feſtlandes den Oſten und weſten in fruchtbare Berührung, und 3. findet er die geſchichtliche Form, die fraͤn⸗ kiſche Art feines Staates zu wahren und trotzdem das Reich des di vus Augustus in ungeahntem Ausmaße imperial, univerſal, katholiſch neu zu gründen als Franke und Römer, Kaiſer und König, Held und Seiland in einer Perſon.

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Wehrverfaſſung und Erbfolgerecht aber tragen den Todeskeim in den ſcheinbar fo gefunden, ſtrotzenden Körper dieſes Reiches.

Das zweite Reich, das sacrum imperium, beginnt als Friedensreich der Gttonen. Anders als Karls Gründung, die nur auf dem Umweg uͤber die Kirche für heilig galt und von der Kirche Gnaden lebte, übernimmt dieſes Reich mit zunehmender Verweltlichung der Kirche deren Seilsfunktion. „Fides“, die himmliſch⸗irdiſche Doppelbindung der Seele, iſt die Klammer, die das Feſtland Europa, mit Ausſchluß des weſtens, jetzt zuſammenhaͤlt. Aber in einer geſchichtlichen Rataſtrophe von hoͤchſtem Ausmaße ſprengt das alte Plus ultra des deutſchen Schickſals auch dieſes zweite Reich. Von außen geſehen, ging es am Machtrauſche der Staufer zugrunde. Je voll kommener in den Augenblicken ſtolzeſter Ghibellinentriumphe dem Aſien · traum Erfuͤllung winkte Seinrich VI. und Friedrich II. hatten das Im⸗ perium orientaliſiert deſto verderblicher wirkten ſich die Folgen jenes konſtruktiven Fehlers der Stauferpolitik aus, welche, um die Paͤpſte ihren Abſichten gefuͤgig zu machen, die Achſen des Imperiums von Donau und Rhein ins Mittelmeer verlegt hatten. Die Zeit iſt da, wo ſich die Dialektik des univerſalen, imperialen Gedankens mit zerſtoͤrender Wirkung gegen ſeine Urheber wendet.

An Stelle der univerfalen Tendenz tritt ein neues geſtaltendes Prinzip in die Geſchichte der naͤchſten ſiebenhundert Jahre ein: der Gedanke der „Proteſtantik“, d. h. ganz allgemein der „Inbegriff aller differenzierenden und individualiſterenden Kräfte”. Der Staat Friedrichs II. von Preußen wird der Grt, wo ſaͤmtliche proteſtantiſchen Tendenzen des Nordens (abſo⸗ luter Staat und Nation; Natur-, Vernunft und Völkerrecht; moderne Wirtſchaft und kapitaliſtiſche Geſinnung; dritter und vierter Stand) zu⸗ ſammentreffen. Mit der Verlagerung des deutſchen Kraͤfteſpiels nach dem Norden aber geht jetzt, was das Bedeutungevollſte iſt, Sand in Sand eine Befamtveränderung der deutſchen Menſchlichkeit. „Von der urſpruͤnglich deutſchen Daͤmonie geht viel verloren, . . . das beſte !!“ Jetzt wird dieſe Menſchlichkeit „kuͤnſtlich in Zucht genommen, wohlgemerkt in die Zucht eines Staates, der ſeine koloniale Abkunft nicht verbergen kann“. „Die krampfhafte Konzentration auf das eine Jiel des abſoluten Staates, welcher jedoch im Unterſchied zum hochmittelalterlichen Imperium jeder religiöfen und oͤkumeniſchen Verankerung entbehrt, wird erkauft durch eine allgemeine Depotenzierung der pſychologiſchen und biologiſchen Typik in beaͤngſtigenden Graden. Während ſich der Wille, namentlich bei der führen- den Schicht, muſterhaft diſzipliniert, geht die geſamte Vitalitaͤt als ſolche zweifellos zurůck und mit ihr auch die Produktivitaͤt im hoͤheren Sinne. Preußen, das wird der Name der geſchichtlichen Provinz, wo ſich die Depoten- zierung der deutſchen Seele, der deutſchen Menſchlichkeit je und je vollzog“. Vergebens verſucht Stein, dieſem Staate befruchtende Antriebe zuzu⸗ führen und ihn von der Idee her neu zu beleben. Da Preußen auch nach

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1848 von feinem feudal ⸗ariſtokratiſchen Anteil nichts abgibt, während es gleichzeitig mit den fortgeſchrittenſten größten Weltmächten des Kapitals in Wettbewerb tritt, ſo zeigt es von Stund an ein doppeltes Geſicht, ein Raͤtſelantlitz, von ihm ſelbſt fo wenig wie von anderen Voͤlkern erraten. Mit diefem Januskopfe waͤchſt Preußen immer tiefer in den Körper Deutſchlands hinein, bis ihm die Gruͤndung Bismarcks eine Form gibt, die ihm Dauer verleihen follte. g

Das toͤdliche Gift, das dieſem dritten und letzten Reiche von Anfang an eingeimpft war, beſtand darin, daß es ausſchließlich auf die Machtſtellung des preußiſchen Königs geſtuͤtzt war, während ihm jeder werbende Ge⸗ danke fehlte. Wir ſahen nicht die neue rieſengroße Aufgabe, die das Schick⸗ ſal dieſem Reiche ſtellte. Wir glaubten ausruhen zu koͤnnen auf den Lor⸗ beeren Friedrichs II. und wußten nicht, daß nicht ruhiges Behagen, fon- dern Wandern unſer Schickſal war. Und weil wir die uns geſtellte Auf- gabe nicht ſahen, nicht ſehen wollten, deshalb ſind wir daran zerſchellt.

Ein neuer Univerſismus war, wie einſt im Mittelalter, heraufgezogen und forderte das junge Reich zu einer Auseinanderſetzung mit feinen Ten- denzen heraus. In der geſchichtlichen Tatſache des Sozialismus und der ſozialen Demokratie war die katholiſche, die oͤkumeniſche Frage des Mittel alters in neuer Prägung geſtellt. Ein Rampf von gigantiſchem Aus- maße kuͤndigte ſich an. Wo war der Prophet, der hier den Weg zeigte? Nietzſche zog ſich in die Einſamkeit zuruͤck. Und Bismarck? O, der wußte, dieſen Kampf würde das Reich nicht Überleben. Unfaͤhig, ſich auf den neuen Univerfismus einzuſtellen, zerbrach Bismarcks Großpreußen. Die Geſchichte, die immer Mittel in Bereitſchaft hat, das freiwillig Ungeleiſtete zu erzwingen, gibt das dritte Reich dem Untergange preis, weil es der deutſchen Beſtimmung abtruͤnnig geworden war, als es mit Serrn Treitſchke waͤhnte, daß es nunmehr ſatt und am Ziele ſei, Volk unter Völkern, um in Frieden ſeinen Reichtum zu mehren, ſelbſtgenugſam, einig, deutſch, wo doch feine Beſtimmung Sunger war.

Gleichzeitig mit den Wanderjahren des deutſchen Volkes, die eine aͤußere Seßhaftigkeit, eine Seßhaftigkeit des Leibes erſtrebten, verwoben ſich neue Zuſammenhaͤnge im Leben dieſes Volkes, die Anlaß und Ausgang einer neuen Lebensunruhe werden ſollten. Das Zebens · und Weltgefuͤhl des heidniſchen Germanen war durchaus irrational geweſen: die Welt an und für ſich iſt unausdenkbar, unausrechenbar, unergruͤndlich, undurch⸗ dringlich, dunkel. Da kommt die Kirche! Sie uͤbernimmt das Befchäft, dieſe verworrene, unſinnige Welt dem Verſtande, der Logik zu. unterwerfen: das Leben bekommt einen Sinn, ohne daß freilich derartige Bemuͤhungen jemals vollſtaͤndig gelungen waͤren. Immerhin: die Folge iſt, daß die Seele des mittelalterlichen Europaͤers mehr und mehr zerriſſen wird von einer Teilhabe an einem zweifachen Reich von Licht und Finſternis, welches in himmliſch · hoͤlliſchem Clair Obscur unentſchieden durcheinander wogt und

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flimmert. Der Widerſpruch beherrſcht von jetzt ab die Welt und das Denken des deutſchen Menſchen. Eingeſpannt in dieſe harte Gegenſaͤtzlichkeit, ver- ſucht er immer von neuem zu vermitteln, zu vereinigen, zu uͤberbrůcken. Um aber ſo vieles Gegenſaͤtzliche verſchmelzen zu koͤnnen, bedarf es eines überreichen, wuchernden Gefuͤhlslebens. Das iſt die beklagenswerte Erb⸗ ſchaft, mit der wir uns ſeit unſerer fruͤheſten Vergangenheit zu ſchleppen haben. „Überfüllung der Gefaͤße mit erſtickenden Gefuͤhlen, die fi ſchmarotzeriſch zum Selbſtzweck aufgeworfen haben, daraus abgeleitet eine zunehmende Truͤbung der vorſtellenden, zunehmende Stauung der wollen; den Kräfte, das iſt die Kennzeichnung eines endemiſch deutſchen Krank⸗ heitszuſtandes in vergangenen Jahrhunderten“. Das Seilmittel aber, das ſich die ſeltenen Deutſchen verſchrieben, wenn fie dieſes Ubel als ihre innerſte Bedrohung empfanden, hieß: nach Rom! nach Rom! nach paͤſtum! nach Athen! Am lichten Marmorleib antiker Klaſſik ſuchte ſich das erhitzte Blut des noͤrdlichen Europaͤers immer aufs neue zu Fühlen. In der Dämo- nie des Suͤdens überwindet ſich die Daͤmonie des Nordens. War es nicht möglich, auf endloſen Wanderzügen eine Seßhaftigkeit des Leibes zu fin- den, fo ſchenkte die Klaſſik wenigſtens dieſer weltauf-, weltabgeſcheuchten wandererunraſt eine Seßhaftigkeit der Seele: zwiſchen Gott und Dämon, im Reiche des rein Menſchlichen. So geſehen, hat man unter dem Begriff, hat man unter dem „Geſicht“ der Klaſſik „eine ſtehende Urform menfch- heitlicher Selbſtbindung und Selbſtbeheimatung durchaus zu ver⸗ ſtehen.—

Und doch! Auch in die ſer neuen Seimat leidet es den deutſchen Menſchen nicht auf die Dauer. So ſehr die Klaſſik das Ende einer jahrhunderte; langen Unraſt bedeutet, ſo wird fie doch zugleich und damit tritt auch hier die polare Struktur alles Lebens in Erſcheinung der Anfang einer neuen Wanderfahrt. Das deutſche Lebens · und weltgefuͤhl erhebt ſich in der Klaſſik, um eine ganz neue Welt, feine eigenſte Welt, geiſtigſter, uni⸗ verſellſter, originellſter Art zu erobern. Dieſe Entdeckungs fahrt des deut ; ſchen Idealismus um 1800 in bisher unbekannte Welträume war heraus; geboren aus dem „Geiſt des Widerfpruchs” zu der uns umgebenden Welt des Juden und Chriſtentums, die gerade auf Grund ihrer Gottgeſchaffen⸗ heit, Stoff und Koͤrperhaftigkeit, Ungeiſtigkeit, mit dem irdiſchen Makel der Zweitrangigkeit, Untergeordnetheit, Minderwertigkeit unausloſchlich behaftet, lebendiges „Argument gegen Goͤttliches“ und zeitliche Seimat von Übel, Irrtum, Schuld und Tod iſt. Gegenuͤber dieſer Welt des Chriſten⸗ gottes und der chriſtlichen Tradition, gegenüber der Welt Roms, Genfs, wittenbergs, ſtarr unaͤnderlich, geſchichtslos, das Werk eines Gottes mit dem vielſagenden Namen: Ich bin, der ich fein werde, ohne Möglichkeit, ohne Freiheit, ſich zu entwickeln und zu vervollkommnen gegenüber dieſer Welt leuchtet ſonniggolden die Welt Jenas und Welmars auf, durch; flutet und durchglůht von der Feuerkraft der Idee eines ſelbſtſchoͤpferiſchen,

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ſelbſtgeſchaffenen Alls, aufgeſpalten in polariſch antithetiſche Ja · und Neingegebenheiten, Ja · und Neinwerte, welches Goͤttliches und wider goͤttliches zumal in unendlicher Abſtufung umfaͤngt und, in unendlichem Fortgang eins am andern, eins mit dem andern immer wieder ůberwin⸗ dend, ſich eben dadurch mit immer reiferem, mit immer reicherem Gehalte erfuͤllt und in unendlicher Reihung und Staffelung zu immer volllomme- nerer Ganzheit und Sarmonie aufgipfelt. zwei Welten, zutiefſt gegenſaͤtz⸗ lich ſich verfeindet der deutſche Menſch um I800 beginnt zu ahnen, daß er hier in Sachen Gott Welt, in Sachen der Religion, eine „grandioſe Ini tiative !, eine letzte Entſcheidung zu treffen habe. Furchtlos iſt die Philoſo⸗ phie des deutſchen Idealismus dieſen weg gegangen. Der Sinn dieſer neuen „welt“ Religion iſt: Sarmoniſierung des Weltganzen. Der be⸗ rufene Träger und Täter dieſes Welt Sinns iſt der Menſch. Seine Aufgabe, ſein „Dienſt an der welt“ iſt es, mitzuarbeiten an der Vervollkommnung der Welt. Dieſe Aufgabe allein rechtfertigt fein Auftreten auf dem Schau ⸗; platz der Schöpfung. So wie die außer · und untermenſchliche Weſensreihe im All unbewußt in dumpfem Mechanismus befangen, Polaritaͤten zu To⸗ talitaͤt bindet, fo iſt dem Menſchen von allen weſen der bekannten Schöp- fung die Seilandstat anvertraut, dieſelbe Aufgabe mit Bewußtſein und Freiheit innerhalb der eigenen Weſensſchichtung zu leiſten. Vorausſetzung dieſer Welt · und Zebensmiffion des Menſchen iſt jedoch die Vervollkomm ; nung der eigenen Perſoͤnlichkeit. Nur wer ſich ſelbſt, ſeine eigene innere Zerriffenbeit und Iwieſpaͤltigkeit ůͤberwunden hat, wird befaͤhigt fein, jenen „Dienſt an der welt“ zu vollbringen. Erſt Dienſt am Ich, dann Dienſt an der Welt.

Zwei Verfahrungsweiſen wiederum polariſch gegenſinnig hat die Philoſophie des Klaſſizismus in Verfolg der Selbſterziehung der Einzel⸗ perſoͤnlichkeit aus ſich herausentwickelt.

Das eine Verfahren („Welt wegauf“), am eindringlichſten entwickelt in Schillers „Briefen über die aͤſthetiſche Erziehung“, argumentiert fo: die im Menſchen auseinanderſtrebenden Kraͤfte werden dadurch in ihrer Aus wirkung unterbunden, daß fie auf den ſchoͤnen Gegenſtand abgelenkt wer- den. Nicht ohne Liſt werden ſie auf dieſe Weiſe phychologiſch gleichſam neutralifiert, ihres eigentlichen Inhaltes entleert und zu einem „Trieb überhaupt” herabgeſetzt. So werden fie kuͤnſtlich wieder zuruͤckgebettet in den Zuſtand ihrer fruͤheren Einheit, dem fie entwachſen find, aus dem Zu⸗ ‚fand der Aktualitaͤt in den der „Latenz Potenz“. Sarmoniſche Totalitaͤt iſt nach der Auffaſſung der Klaffif uberall dort moͤglich, wo aktuell ⸗antagoni⸗ ſtiſche Funktionen der Seele in die Catenz · Potenz zuruͤckgenommen werden. (Beweis für die Tragfähigkeit dieſes zunaͤchſt pſychologiſchen Geſetzes dürfte es fein, daß die heutige Forſchung wieder auf dieſen Sachverhalt zuruck gekommen iſt. So wird er von Drieſch unter dem aufſchlußreichen Begriff der „proſpektiwen Potenz“ benutzt zur Erklaͤrung der Entſtehung der Gr⸗

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ganismen; und der Begriff der „Energie des Nullpunktes“ in den Unter⸗ ſuchungen des Phyſikers w. Nernſt bedeutet nichts anderes als eine Über- tragung jenes pſychologiſchen Geſetzes auf aſtrophyſiſche Zuſammenhaͤnge im Kosmos.) |

Zum erften Male nach der mittelalterliden Myſtik hatte damit der Weſten der Erde ein ſeeliſches Verfahren entwickelt, wie es aͤhnlich der große Oſten vor Jahrtauſenden ſchon in den drei gewaltigen Befittungen und Reli- gionen des Taoismus, des Brahmanismus und des Buddhismus ausge⸗ tragen hatte. Nachdem das wiſſen davon in dem chriſtlichen Jahrtauſend zwar nicht vergeſſen, wohl aber unter die Schwelle des Bewußtſeins herab⸗ geſunken war, kuͤndigte es ſich in der deutſchen Klaſſik von neuem an als ein Dienſt der Seele an Sein und Sinn der welt, ein Dienſt um der welt willen und dennoch heiliger, fordernder und umgebaͤrender als jeder Dienſt an bloßen Göttern „welt ⸗Dienſt!“.

Der zweite weg, der die beſtehenden Gegenſaͤtzlichkeiten zu ůberbruͤcken verſucht, iſt der Weg der Dialektik. Er bettet die polaren Juſtaͤndlichkeiten der Seele nicht ruͤckwaͤrts in ihren gemeinſamen neutralen Urzuſtand, fondern er uͤberwindet fie fortſchreitenderweiſe, über ſich hinaus („Welt wegab“). Die ſogenannte Wirklichkeit, weit entfernt als „Ding an ſich“ ſtill zu verharren, ſie braut und ballt und tuͤrmt ſich vielmehr erſt allmaͤhlich aus zahlloſen mittleriſchen Setzungen an des Geiſtes ſchimmernden Sori⸗ zonten zum hohen Gebaͤude der welt zuſammen. Es gibt in dieſer welt des Dialektikers nichts Unmittelbares, Gegebenes, Feſtſtehendes, Geworde⸗ nes alles fließt! Verſteht man, weshalb dem Deutſchen fo ſchwer wird, bis zur Wirklichkeit vorzuſtoßen? Warum es ihm bis heute verſagt blieb, eine Wirklichkeit zu fein? „Ihm ward von ſaͤmtlichen Völkern zugeteilt, die Mittelbarkeit alles Wirklichen zu durchſchauen. Dieſe Offenbarung, ein Schickſal wie keine zweite, will und muß abgebüßt werden. Der werbende Gedanke auch der Dialektik iſt: Dienſt an der Welt um der welt willen. Iſt doch auch diefe Dialektik eine Theorie und Praxis zumal des discors con- cors, dient doch auch ſie der Welt in Geſtalt eines anderen Verſuchs, das Gegenſaͤtzliche zu verſoͤhnen und das Unvereinbare zu vereinigen. Frei lich: im Übermaß tragiſch, heroiſch, dramatiſch iſt dieſer Weg, der Welt zu dienen. Der Menſch, der feiner Welt auf dieſe Weife dient, iſt, wie Seld Se⸗ tables, der dem Tyrannen Erxechtheus diente: jedem vollbrachten Werke folgt bereits das naͤchſte; wo ein Zwieſpalt eben ausheilt, klafft beim naͤch⸗ ſten Schritte vorwaͤrts ſchon ein neuer, und wie in polaren Regionen zieht eine via mala uber abſchuͤſſige Eis ſpalten und Gletſcherſchruͤnde. Weh dir, wenn du auf deiner ſchlichten Setzung ſtillſtehſt, ſtatt den Widerſacher in dir ſelber aufzuſtacheln und dein eigener Feind zu fein! Wehe des falſchen Friedens, der vor der Zeit geſchloſſen und befiegelt wird! Der Menſch, der ſich dieſer „Unruhe zu Gott“ verſchrieb, iſt berufener Unruhſtifter, Unruh ; ſchuͤrer der Schöpfung. wohl gibt es fo etwas wie eine Sarmonie des Un;

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vereinbaren, Gegenſaͤtzlichen, aber dieſe Harmonie iſt eine niemals ruhende, immerdar wandernde vom Nein zum Ja, ein Durch und Übergang, kein Anfang und kein Ende ein abſchreckendes Ideal bewußt herbeigefuͤhrter Unſtetigkeit und Unfriedſamkeit des Geiſtes, ein gotamidiſches Asketen ; ideal der Saus · und Seimatloſigkeit auf allen Wegen und Stegen. „Wan derer heiße ich. Eine Welt ohne Feierabend und Siebenten Tag, mithin auch ein weltdienſt ohne Feierabend und Siebenten Tag man beginnt zu ahnen, weshalb es der Menſch in dieſer uͤberſchrittigen „Welt wegab“ allein auf die Dauer nicht aushaͤlt. Es entſpricht einer tiefen und unab⸗ wendbaren Notwendigkeit, daß der werbende Gedanke der Dialektik an dieſer Stelle unvermeidlich in ſein Gegenteil umſchlaͤgt. Dieſe Urbewegung weltab, ununterbrochen anſteigendes Gewinde von Setzung, Gegen⸗ ſetzung, Soͤherſetzung ſchlichter Gegebenheiten, fie wirbt um die ergaͤnzende gegenfinnige Urbewegung „weltauf”, die oben als die Aufhebung der Gegenſaͤtze in der Latenz · Potenz bezeichnet wurde. Beide Bewegungen zu⸗ ſammen ergeben erſt den vollen, lebendig ausſchwingenden Pulsſchlag der Welt. Aus zwei Bewegungen ſetzt ſich dieſe unſere Welt zuſammen, aus zwei Bewegungen mithin auch der Dienſt an ihr. „Das heilige Ja laßt uns bekennen das heilige Nein laßt uns bekennen!“

Ju allen Zeiten hat man in dieſen beiden Urbewegungen den letzten Welt- Sinn, das alleinige weltgeheimnis geſehen ſchon die vorgeſchichtliche Menſchheit. Es iſt das hohe Verdienſt Schellings, zuerſt bemerkt zu haben, daß ſich die religioͤſe Vorſtellungswelt der Menſchheit vorgeſchichtlicher Zeit um das Bild der „Großen Mutter“, der Allgebaͤrerin und Allzerſtoͤre · rin Erde zuſammenballte, und daß dieſe ganze religiös · mythologiſche Dor- ſtellungswelt in dem Myſterium der „Großen Bötter von Samothrake“ am reinſten dargeſtellt worden iſt.

welches it das „Seil“, die hoͤchſte Soffnung dieſer Menſchheit? Im My⸗ ſterium der „Seiligen Sochzeit“ hat ſie ihre kultiſche Ausformung ge⸗ funden. Es iſt dieſes Myſterium ſchlecht und recht eine Form der ſakramen⸗ talen Begattung, die der Einzuweihende mit der Großen Mutter begeht. Auch dieſes Myſterium iſt ein doppelſtelliges, doppelſchrittiges: als ero⸗ tiſches Myſterium bedeutet die „Heilige Sochzeit“ den Akt des Seraustritts der Frucht aus dem Mutterleib (Geburt), als ekſtatiſches iſt es auf die Kuͤck · gaͤngigmachung eben dieſes Vorganges gerichtet, indem es die Aufhebung dieſer unheiligen, durch die Geburt bewirkten Loslöfung vom Mutterleib bezweckt (Tod). Geborenwerden heißt: aus dem Urſtand unmittelbarer Lebensgemeinſchaft mit der Großen Mutter heraustreten, Sterben heißt: aus dem durch die Geburt bewirkten ZJuſtand der Vereinzelung, Verein; ſamung wieder heraus · und zuruͤcktreten in die fruͤhere Lebensgemeinſchaft mit der Erdmutter. Die hoͤchſte Hoffnung, die jene Menſchheit an diefe ſakral⸗ſakramentale Verſchmelzung knuͤpfte, war der Unſterblichkeits⸗ wunſch. Freilich war dieſe Art Unſterblichkeit, welche das Myſterium der

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Großen Mutter bieten konnte, Peine Unvergaͤnglichkeit des inzelwefens, ſondern eine der floff- und geſtalthaften Wandlungen als ſolcher. Aber der Augenblick iſt nicht fern, wo ſich der Menſch mit einer ſolchen Unfterblid- keit nicht mehr zufrieden gibt, wo er vielmehr das Auge von der Erde weg zum Simmel erhebt nach einer beſſeren, uraniſchen Unſterblichkeit. Als der Gott Ryrios Dionyſos die Soͤttin Semele aus der Erdtiefe herausfuͤhrt und ſie als Thyone an den Simmel verſetzt, um ihr durch dieſen Akt eine neue, eine individuelle Unſterblichkeit zu verleihen, iſt das Zeitalter der Erd⸗ mutter abgeſchloſſen, und es bricht etwa im erſten Jahrtauſend vor un⸗ ſerer Zeitrechnung das Zeitalter des Sonnengottes an. Es bedeutet den Sieg des Lichtes über die erdhaft · ſtofflichen Gewalten, den Sieg des Geiſtes uͤber die Materie. Dieſes Zeitalter hat eine Verwuͤſtung und Veroͤdung aller vegetativen und animaliſchen Funktionen im Gefolge der Geiſt triumphiert! Gewiß war dieſes Zeitalter des Sonnengottes die folgen; ſchwerſte „Verdraͤngung“, welche die Menſchheit zu erleiden hatte, gleich; wohl bedeutete es keine Verirrung der Menſchheit. Vielmehr tritt in dieſer Aufeinanderfolge der beiden Zeitalter nur der geſetzmaͤßige Ablauf jener beiden Urbewegungen zutage, welcher dieſe Welt im Innerſten zuſammen ; haͤlt. Gleichzeitig findet jetzt das Myſterium der Großen Mutter feine Um kehrung im Myſterium der chriſtlichen Maria. War jene Große Mutter der pelasger Trägerin des Myſteriums der „Seiligen Sochzeit “, fo wird Maria die Trägerin des Sakraments der Ehe. War ehedem der Vorgang der Be⸗ gattung geheiligt, ſo wird er jetzt fuͤr die Dauer von zwei Jahrtauſenden mit dem Stempel der Unheiligkeit und Unkeuſchheit gebrandmarkt. Gleich⸗ wohl hat auch das neue Myſterium an beiden Urbewegungen teil, nur ge⸗ rade im entgegengeſetzten Sinn von ehedem: aus dem alten erotiſch · ekſta⸗ tiſchen Myfterium iſt ein asketiſch⸗gnoſtiſches geworden, das in abbauenden Akten der Entſinnlichung, Entwirklichung Gott als die Wahrheit ſchaut und ſichtet. Was ehemals hereintritt in die unendliche Reihe ſtofflicher Ge⸗ burten und Tod hieß, das ſchmachtet jetzt nach Aufhebung, und was ehe dem Seraustritt aus der weltabgeſonderten Vereinſamung des Einzelweſens war, das fordert jetzt Fortdauer der Perſoͤnlichkeit in einem „ewigen Leben”.

Über Gebuͤhr vernachlaͤſſigt, rächen ſich heute jene uralten Weltmächte einer chthoniſch⸗hyliſchen Weltordnung, die der neue Geiſt und Sonnen; gott bei Übernahme feiner Serrſchaft gerichtet, verbannt und uns furcht ; bar verfeindet hat. Denn alles aus dem Seelenraum der Menſchheit Ver⸗ ſtoßene muß, wenn es zum Ewigen in uns gehoͤrig iſt, immer und immer wiederkehren. In dieſe Richtung weiſen die Jeichen der Zeit: ein neues drittes Reich der Weihe iſt im Anzuge, ein Weltalter, wo Erde und Sim- mel einander wieder nahe ſein werden. Wir Deutſchen aber werden die froͤmmſten Diener dieſer beiden letzten Goͤtter der Mutter Erde und des Vaters Simmel fein; dann endlich friedlich beheimatet und IT in dem, was unſer ift: im heiligen Reich der Deutfchen.

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In Zieglers Buch hat jener Prozeß der Selbſtbeſinnung, wie er ſich als ein Akt geiſtig · ſittlicher Notwehr und Selbſtbehauptung gegenüber dem fortſchreitendem Verfall unſerer Lebensgrundlagen nach dem Zuſammen⸗ bruch durchſetzte, feinen philoſophiſch tiefften, ſittlich ernſteſten und lite · rariſch vollendetſten Ausdruck gefunden. Nur ein Deutſcher ſelbſt, einer von den ſeltenen, die in dieſen Jeiten ihres Namens Ehre wahrten, die ſelbſt Teil haben an allem Fluch und Segen einer ſchickſalhaft verſchlunge ; nen Menſchlichkeit, konnte im Beſitze jenes geheimnisvollen Schlüffels fein, der die geheimſten unterirdiſchen Kammern unſerer Geſchichte erſchließt; nur ein ſolcher konnte derartig heimliche Zwieſprache halten mit den Gei⸗ ſtern der Abgeſchiedenen in einer ZLebensbeichte ohnegleichen, mit einer Wahrhaftigkeit ohnegleichen. Weit mehr als eine bloß wiſſenſchaftliche Jergliederung des kollektiven Befundes „deutſcher Menſch“ zu fein, zieht dieſe deutſche Beichte alles hervor ans Licht des Tages, was wir uns ſelbſt am unbewußteſten erſtrebten und verfolgten, welcher Beſtimmung wir, geleitet von einer ziel · und ſinngebenden Geſetzlichkeit, heimlich zuſtrebten. Daß wir krank find am Ideal, daß in dieſer Krankheit unſer Schickſal, un ſere geſchichtliche Tragik und die Not unſeres individuellen und kollektiven Daſeins liegt, das iſt die ſchmerzliche, aber offenbarungsreiche Erkenntnis dieſes Buches. Wir ſind das Volk, das in allem und zu jeder Zeit wie von einem ſtillen, bleichen Stern um Mitternacht begleitet, geleitet, geführt und verführt wird. Wir find die Argonauten, ewig unterwegs nach dem Gol · denen Dließ des Ideals, unruhvoll gepeinigt und gepeitſcht von ungeftill- ter Sehnſucht, die das Gluͤck immer nur dort findet, wo ſie ſelbſt nicht iſt. Wir ſind das Volk, das nie mit ſich zufrieden iſt, welches ſich ſtets anders, ſtets beſſer, feiner, freier, ſchoͤner, vollſtaͤndiger gewollt hat. Wie ſchufen wir nicht Voͤlker und Raſſen uns zum Bilde: jo wie wir wären, falls wir die Talente und Geſchicklichkeiten der anderen haͤtten, fo, wie die an- deren fein koͤnnten, wenn fie unſere reiche Seele haͤtten ! Weil wir uns unbeſcheiden genug an dem Ideale eines „Volkes ſchlechthin“ meſſen, an einem Volke, an dem eines Tages alle berechtigten Eigenheiten der übrigen Voͤlker zur Entfaltung kommen ſollen, deshalb, weil wir dieſen Maßſtab anlegen, müffen wir uns immer klein, unfertig, bedeutungslos vorkommen. Aus dieſem Gefuͤhl des Abſtandes vom Ideal find wir fort- während und das iſt der letzte Grund für unſere Auslaͤnderei mit unſerer Selbſterziehung und Selbſtwervollkommnung beſchaͤftigt. Es war der Schmerz, aber auch das hohe Gluck unſerer Geſchichte, daß wir an an- deren heranreifen, an anderen in die Soͤhe klettern, daß wir erſt Efen fein mußten, wenn wir uns verdienen wollten, Baum oder Säule zu fein. Des- halb find wir heute noch weit davon entfernt, ausgeglichen, fertig, aus; gewachſen zu ſein. Noch ſind wir immer unterwegs, alles Gute, alles Beſte aus aller Welt zuſammenzutragen und hineinzu verarbeiten in unſer wunſch und Leitbild eines vollendeten geſellſchaftlichen Zuſtandes. Je

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mehr wir uns auf das geiſtige Erbe unſerer Vergangenheit befinnen und es aufs neue in Verwahrung, in Verwaltung nehmen, nachdem es Gene⸗ rationen hindurch vernachlaͤſſigt, verachtet war, um ſo eher muß es uns gelingen, von der guten Saat in aller Welt zu ernten und ſie bei uns zur Tat werden zu laſſen. Das iſt der Weg, den dies „ſeltſame Buch“ vom My⸗ thos des deutſchen Volkes zeigt.

Rudolf von Delius Das Geheimnis Hegels

an erzaͤhlt ſich eine Anekdote uͤber Segels Tod. In ſeiner letzten Stunde habe Segel geſagt: „Von allen meinen Schuͤlern ver⸗

ſtand mich doch nur einer. Nach wenigen Minuten habe er aber dann hinzugefuͤgt: „Und dieſer eine hat mich auch nicht ganz verſtanden.“ Dann ſei Segel geſtorben.

Dieſe Geſchichte iſt frei erfunden, aber fie gebört zu jenen ſymboliſchen Anekdoten, die eine innere Wahrheit enthalten, eine Wahrheit, die oft tie ; fer iſt, als es die lachenden Erzaͤhler ſelber ahnen.

Es iſt auch heute noch den meiſten Menſchen völlig unmöglich, die Ge⸗ danken Segels zu verſtehen. Das liegt aber durchaus nicht an ihrer „Dun⸗ kelheit / oder gar an dem ſchlechten Stil (Segels Geiſt iſt geradezu von uner- börter Schärfe und Klarheit): es liegt daran, daß Segel nicht, wie die an- deren Philoſophen, irgendwelche ähnliche neue Gedanken neben die ublichen von fruher gewohnten Gedanken ſtellt: Segel verändert die Subſtanz des Denkens ſelbſt, er ſchafft eine vollkommen neue Art des Denkens.

Dies iſt Segels Geheimnis, der Schluͤſſel zu feinem Werk. Sat man diefen Schluͤſſel ergriffen und hält ihn feſt in der Sand, fo gibt es kein einfacheres, lichtſtrahlenderes Syſtem als das Segelſche.

wenn man ſich Segel nähert, iſt alſo das Erſte, Wichtigfte, Entſcheiden de: dieſe neue Denkart ganz zu verſtehen, ja in ihr denken zu lernen.

ie iſt die übliche Art des Denkens? Unſer Geiſt hat die Faͤhigkeit zur Abſtraktion. Das heißt: der Verſtand trennt von der Fuͤlle des Be- gebenen einzelne Momente ab, dieſe fixiert er, verſteinert ſie gleichſam und hebt fie fo als ſtarre Abſtraktionen im Gehirn auf. Die Logik und Wiſſen⸗ ſchaft beruht nun darauf, dieſe Begriffe zu vergleichen, ſie nebeneinander zu ſtellen oder untereinander, daraus neue Konſtruktionen zu errichten. Die Welt des Geiſtes iſt fo eine Sammlung losgelöfter und feſtgemachter Einzelheiten. Sie laſſen ſich zaͤhlen, ſie laſſen ſich vervielfaͤltigen und teilen, aber jeder Teil in ſich iſt eine beſtimmte Große. Manche Stuͤcke widerſprechen ſich, dann ſagt man: entweder oder. Ein Drittes gibt es nicht. Auf dieſe Konſequenz iſt der Verſtand ſogar beſonders ſtolz.

Das Geheimnis Segels 449

egel verwirft nun diefe Art, zu denken, zwar nicht voͤllig, aber er zeigt,

daß es eine ganz primitive Art des Denkens iſt, die es ſich ſelber un⸗ moglich macht, das Wefen der Dinge zu erfaſſen. Denn das Weſen iſt leben · dig, ein Prozeß, ein Fluten und Werden, ein Ubergehen und Sich · Verwan; deln. Jedes Moment ſchlaͤgt um und wird ein anderes. Jeder Teil iſt unlös- bar und pulſend verkettet mit allen anderen Teilen, er iſt nur verſtaͤndlich als mitſchwingend in einem Ganzen.

Die Methode des Verſtandes, die einzelnen Momente des Prozeſſes ſtarr feſtzulegen als Abſtraktionen, verſperrt ſich damit ſelber den weg zur Wahrheit. Wir muͤſſen in uns eine neue Stufe des Denkens entwickeln: wir muͤſſen fließend, bewegt, organiſch denken; das Lebendige erfaſſen und es denken in der Bewegung ſelber. Dann zerſchmelzen jene ſtarren Abſtrak⸗ tionen. Wir denken den Prozeß, in dem das Einzelne immer zuruͤckgenom⸗ men wird in das Ganze, heraustritt als Offenbarung einer Tiefe, aber nicht zu iſolieren iſt, ſofort auch wieder verſchwindet im quellenden Grund.

Dies iſt Segels neue Denkart: ſo denken, wie das Leben lebt.

V tiefe Geiſter der Geſchichte haben ja ſchon an dies Problem ge⸗ ruͤhrt, beſonders die großen Myſtiker. Segel hat zuerſt mit dieſer Revo; lution ganz Ernſt gemacht: das organiſche Denken in den Mittelpunkt ſeines Syſtems geruͤckt. Die Abſtraktion und der Verſtand ſind bei ihm aus ihrer Serrſcherſtellung endgültig vertrieben.

Alles bisherige Denken tötete das Leben, zerſchnitt es in Stucke und klagte dann uͤber die Ode ringsum. Segel zuerſt laͤßt die Welt heil und ganz. Alles iſt Prozeß und fließendes Geſchehen; Subjekt und Gbjekt nicht zu trennende Einheit. Alles wird, bewegt ſich, ſpruͤht im Rhythmus des ſich felber Geſtaltens und Vorwaͤrtsſtoßens.

Der Menſch lockere die verkrampfte Sucht des harten Auseinander- reißens. Er ſpuͤre, wie die Gegenkraͤfte magnetiſch eins im anderen find. wie gar nichts iſoliert it. Wie uberall Totalitaͤten ihre geſunde Ganzheit behaupten.

Das Negative, Bornierte, Enge hat kein Recht mehr und keine Stelle. Es iſt aufgelöft als kleines Mittel zu einem großen Zweck. Widerſpruch und Schmerz ſind nur Faktoren des Aufwaͤrts · Triebes. Die Wirklichkeit ſteigert ſich ſelber immer hoͤher empor.

Denn: lebendiger Geiſt it erz und Kern jeder Wirklichkeit. Geiſt aber iſt Sellerwerden, Freierwerden: Souveränität. Das zeigt der Weg des bis herigen Weltgeſchehens: ein immer leichteres Sich⸗Durchlichten des Stof · fes, ein immer zarteres Schweben und In ſich⸗ Ruhen. Immer klarere Macht des Zentrums, immer feineres Spiel der Teile, immer geſchloſſenere organiſche Form.

So ſtroͤmt aus Segels Philoſophie eine Gluͤcksfuͤlle ohnegleichen. Die Entwicklung geht aufwaͤrts. Alle Momente, auch die qualvollſten, ſind tat xm 30

450 J. O. Plaßmann

notwendig eingefügt in das Ganze. Durch Spannung und Gegenſatz er- zeugt ſich erſt die wahre Harmonie.

An dem Sieg des Weltgeiftes kann kein Zweifel fein. In jeder Epoche vollkommener tuͤrmt ſich der Bau. Nichts geht verloren, was je da war. Es wird aufgehoben und bewahrt als Teil und ZJierat in der ſtets reicher ſich entfaltenden Architektur menſchlicher Schoͤpfungen.

Der Weltgeiſt marſchiert. Welche Seligkeit, mit an der Spitze zu fechten!

J. O. Plaßmann Voͤlkerbuͤnde im Mittelalter D Geſchichte Europas, im Großen geſehen, zeigt einen beſtimmten

Rhythmus, einen in großen Zeitraͤumen ſich auswirkenden Wechſel von uͤberſtaatlicher Organifation und Wiederauflöfung ſolcher Überordnungen, bei denen das auflöfende Ferment oft genug gerade in ůberlebten Einrichtungen und Trägern jener alt und morſch gewordenen Organiſationen zu finden iſt. Siſtoriſche Parallelen hinken bekanntlich immer; gleichwohl iſt es von Reiz, Analogien zu feben, wenn es ſich um Geſtaltungen und Entwicklungen auf demſelben hiſtoriſchen Boden han; delt, auf dem uralte Entwicklungstendenzen oft genug in modernem Ge⸗ wande wieder auftreten. Vielleicht kann man in dieſem Rhythmus von Aufloͤſung und Ordnung, ohne Optimiſt zu fein, doch ein ſchließliches Ziel entdecken, dem die geſamte Bewegung in dem dauernden Auf und Nieder mit allen Semmungen und Ruͤckſchlaͤgen zuſtrebt.

Als ein ſolches Ziel erſcheint die Zuſammenfaſſung des geſamten Europa zu einer ideellen und praktiſchen Einheit, zu der die bewußten und un; bewußten hiſtoriſchen Kraͤfte ſeit dem Siege des roͤmiſchen Reiches und ſeiner Mittelmeerkultur im Grunde immer hingeſtrebt haben. Auch die durchaus zentripetalen, proteſtierenden Kraͤfte, die jeweils gegen die be ſtehende Überordnung ſich auflehnten, haben im Grunde die Forderung der Einheit an ſich nie geleugnet, ſondern nur das Uberwuchern einer be- ſtimmten Formel, Rörperfchaft oder geiſtigen Prägung bekaͤmpft. Solche Reaktionen traten mit Regelmaͤßigkeit ein, wenn die Vertreter einer über- ſtaatlichen oder ůͤbernationalen Autorität beſtehende Individualitaͤten leug⸗ neten und ignorierten, oder wenn dieſe in einem hoͤhern Maße als bisher zum Bewußtſein ihrer eigenen Beſonderheit gelangten. Andentungeweiſe ſei hier nur auf die lombardiſchen Städte, die Kriege von Kaiſer und Dapft, die Reformation und das Aufkommen des Nationalbewußtſeins als beſtimmender politiſcher Faktor hingewieſen.

Im ganzen kann man ſagen, daß die bisherigen Einigungsverſuche im weſentlichen daran geſcheitert find, daß die uͤberwoͤlbenden Mächte ent ·

voͤlrerbuͤnde m Mitt tee 844851

weder nicht individuell genug waren, oder die von ihnen vertretenen Ideen eben nicht die innere Kraft behielten, um ſich Tendenzen zentri- fugaler Art mit eigenen Ideenkomplexen gegenuber zwingend zu behaupten. Solche Ideen, die im Mittelalter vorwiegend religioͤſer Art in roͤmiſcher praͤgung waren, zerbrachen an der Entdeckung der religisfen Individuali⸗ tät, waͤhrend die parallele ſtaatliche Idee ſchließlich an der Entdeckung der nationalen Individualität ſcheiterte nicht ohne dem bisherigen Träger dieſer Idee, der deutſchen Nation, die nationale Einheit ſelbſt unwieder⸗ bringlich zu rauben. Denn im Grunde ſind wir das einzige Volk in Europa, deſſen ſtaatlicher Organismus noch nicht reſtlos auf das nationale Prinzip aufgebaut iſt.

Seit im neueſten Europa Kriege unter den großen Nationen zur Ge⸗ wohnheitseinrichtung geworden ſind, hat man ſich wieder auf eine Idee beſonnen, deren innere Kraft imſtande waͤre, die auseinanderſtrebenden Kraͤfte zu binden und wenigſtens eine Selbſtvernichtung des ungeheuer umfangreich und empfindlich gewordenen ziviliſatoriſchen Organismus zu verhindern. Da die beiden Leitideen des Mittelalters keine allgemeine Gultigkeit mehr haben, und beſonders die letztere im Weltkrieg mit dem alten Oſterreich den Reſt einer ſtaatlichen Verkoͤrperung verloren hat, blieb keine andere als die abſtrakte Idee des Rechtes. Allerdings eines Rechtes, dem hiermit eine Weſensaͤnderung zugemutet wird; denn Rechts⸗ normen oder ein ideell begründeter Mechanismus, der grundſaͤtzlich das Einſetzen der phyſiſchen Gewalt zu verhindern beſtimmt iſt, beſtand bisher nur innerhalb einer geſchloſſenen ſtaatlichen Gemeinſchaft, waͤhrend ſolche Normen zwiſchen verſchiedenen Gemeinſchaften wohl auf Grund der Frei willigkeit und beiderſeitiger Juſtimmung vertragsweife geſchloſſen werden, aber doch noch nicht eine über den Parteien ſtehende Unbedingtheit be · ſitzen. Eine ſolche Autoritaͤt im eigentlichen Sinne ſollte im Saager Schiedsgericht zum erſten Male erſcheinen, hat aber leider die größte Nata⸗ ſtrophe, die ſie verhindern ſollte, nicht abwenden koͤnnen. Nach dieſem eindruck vollſten Beweis ihrer Notwendigkeit mußte fie aber nur um fo ſtaͤrker wieder aufleben und fand dann im Voͤlkerbunde eine vorläufige, aber auch nur ſehr vorläufige Löfung. |

Im Grunde unterſcheidet ſich dieſe ůͤberſtaatliche Rechtsidee weſentlich von der mehr ſtaatlich gebundenen roͤmiſchen; ſie iſt im Weſen mehr dem germaniſchen Denken entſproſſen; wie auch der reine Voͤlkerbundsgedanke feine durchdachteſten Ideen viel mehr aus England als etwa aus Frank; reich bezieht. Der Germane war im antiken Europa der erſte, der Staaten · gebilde errichtete, die im Weſen uͤbervoͤlkiſch waren. Auch der einzige Staat dieſer Art im modernen Europa, die Schweiz, traͤgt in ſeinem ganzen Aufbau das Gepraͤge einer germaniſchen Demokratie. Wir werden ſehen, wie ſich im Mittelalter unter beſchraͤnkteren, aber ſonſt aͤhnlichen Verhaͤlt niſſen wie heute auf dem ureigenſten Boden germaniſcher Rechtstradition

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ein Voͤlkerbund bildete, der feinen Zweck erfůͤllte und auch uber die Grenzen ſeines Entſtehungsgebietes werbende Kraft entfaltete.

Dieſer Boden war Weftfalen, die deutſche Landfchaft, in der ſich aͤlteſter germaniſcher Rechtsſinn das ganze Mittelalter hindurch in einzigartigſter Weife gehalten hat. Schon die politiſchen Vorbedingungen zeigen hier, wie ein theoretiſcher Univerſalismus ſein ſtaatliches Ziel unter Vernichtung einer individuell gewachſenen Stammestradition zu erreichen ſuchte und damit nur die Aufloͤſung des geſchloſſenen Territoriums erreichte, ohne die Organiſterung des Ganzen auf die Dauer durchfuͤhren zu koͤnnen. In Barbaroſſa hatte die theoretiſche Univerſalgewalt Aber die nationale Stammesgewalt, die durch Seinrich den Loͤwen vertreten war, geſiegt; das Ergebnis war aber nur das geweſen, daß der ehemals ſtaͤrkſte ſtaaten · bildende Block der Sachſen zerſchlagen war und ſich in eine Menge von politiſchen Gewalten aufloͤſte, unter denen Fehden und Kriege in Heinerem Maßſtabe nun erſt recht losbrachen. Am meiſten galt dies für den weſt lichen Teil Sachſens, fuͤr Weſtfalen und Engern, da hier alte einheimiſche Dynaſten mit den von Weſten heruͤbergreifenden geiſtlich - ſtaatlichen Ge⸗ walten um den Einfluß ſtritten. So fand auch die zweite der Univerſal⸗ maͤchte des Mittelalters Einfluß auf einem Boden, der an ſich die Auelle einer ganz anders gearteten Volkstradition demokratiſcher Art war.

Zugleich mit einem mächtigen Aufſchwunge von Sandel und Verkehr er- lebten auf dieſem Boden im Sochmittelalter auch die kriegeriſchen 3er- ſtoͤrungen ihre hoͤchſte Steigerung. In eine ſolche Epoche fallen die Be- muͤhungen des Kaifers Karl IV., den Landfrieden zu fördern und zu ſchuͤtzen. In weſtfalen war dieſen Beſtrebungen ſchon dadurch vor⸗ gearbeitet, daß man unabhaͤngig von allen politiſchen Beſtrebungen und Verflechtungen das Urteil über Friedensbrecher einer reinen Rechtsein · richtung zuwies, die ihre Berechtigung aus uralter Tradition herleitete und an die freien Leute als Kern des Volkes und Träger der germaniſchen Urdemokratie geknůpft war. Das war das weſtfaͤliſche Freie Gericht, oder die Feme, wie ſie meiſtens genannt wird; ein Schiedsgericht, das ſeine Ur⸗ teile ohne Anſehen der Perſon oder der politiſchen Macht zu faͤllen hatte.

137J wurde den weſtfaͤliſchen Landesherren und Städten das erſte Land · friedensprivilegium durch Kaiſer Karl IV. erteilt, und zwar auf Grund ihres gemeinſchaftlichen Erſuchens, nachdem ſie ſich vorher zu einer Art konſtituierender Voͤlkerverſammlung zuſammengetaͤn hatten. Die wefent- lichſte Beſtimmung in dieſem Vertrage war der Schutz des perſoͤnlichen Eigentums und der perſoͤnlichen Sicherheit aller Bewohner unbeſchadet gelegentlicher Fehden und Kriege. Die Kriege ſelbſt gänzlich abzuſchaffen, unterfing man ſich ebenſowenig, wie heute noch der Voͤlkerbund; doch wurde, wie heute, die Eroͤffnung von Seindfeligkeiten von der Voraus⸗ ſetzung abhaͤngig gemacht, daß ſie zur Bewahrung der Ehre geſchehe; und auch dann ſollte Fein Angriff ftattfinden, wenn er nicht drei Tage zu;

voͤlkerbunde im Mittelalter 453

vor in aller Form angekündigt fei. Damit war immerhin eine ſtarke Moͤg⸗ lichkeit gegeben, unuͤberlegte Sebden überhaupt auszuſchalten und auch fonft einer friedlichen Vermittlertaͤtigkeit die Wege zu ebnen. Der Friedens brecher, der gegen dieſe Satzungen verſtieß, wurde mit der Acht des Reiches und aller vertragſchließenden Bundesangehoͤrigen belegt und fiel der Feme anheim. Beſonders bedeutſam war die Beſtimmung, daß derjenige, der ohne Ankuͤndigung eine Fehde vom Jaune bricht, binnen I$ Tagen ge⸗ richtet und zum Schadenerſatz verurteilt werden ſoll. Eine wichtige Ent · wicklungsmoͤglichkeit lag ſchließlich darin, daß es der Landfriedens verſammlung freiſtand, benachbarte und ſonſt intereffierte Serren und Staͤdte in den Bund aufzunehmen.

Die wichtigſte Frage eines Voͤlkerbundes war nun auch damals ſchon, wer über das Vorliegen eines Landfriedensbruches gegebenenfalls zu rich⸗ ten hatte. Dazu war auch hier in erſter Linie die Derfammlung des Bundes berufen, die aus den Deputierten der beteiligten Fuͤrſten und Städte be- ſtand. Fuͤr ſchnelles Eingreifen und in Fallen, an denen mehrere Saupt⸗ maͤchte des Bundes direkt intereffiert waren, war dieſe Verſammlung in vielen Lagen nicht hinreichend unparteliſch und auch dem Spiel der poli- tiſchen Kraͤfte zu ſehr ausgeſetzt. Sier fand man eine Inſtanz, die vermoͤge ihrer ganz unpolitiſchen Grundeinſtellung als urſpruͤnglich reine Rechts inſtitution in hervorragender Weiſe zu dieſem Schiedsamte berufen war und gerade dem weſtfaͤliſchen Landfriedensbunde feine beſondere Prägung verlieh: die Freigrafen und Schöffen der weſtfaͤliſchen Semgerichte. Sie führten ihr Amt auf die von Karl dem Großen eingeſetzten Freigrafen zuruͤck, gingen aber in wirklichkeit wohl auf noch ältere Urſpruͤnge zuruck und waren in den Zeiten des Feudalismus ein Sort der aͤlteren germaniſchen Freiheit gegen die dynaſtiſchen Anſpruͤche. Sie erkannten auch als oberſten Gerichtsherrn nur den Kaiſer an, unter deſſen Banne die Stuhlherren Recht zu ſprechen hatten; ja in manchen Dingen behaupteten fie ein Ent ſcheidungerecht gegen Kaiſer und Papſt zu beſitzen. Laͤngere Zeit im Ver⸗ borgenen geblieben, traten die Gerichte jetzt wieder mit neuen kaiſerlichen Privilegien hervor und erhoben ſich bald zu gewaltigem Anſehen, das gerade in ihrer voͤlkerrechtlichen Aufgabe begründet war.

Eine Zeitlang bewährte ſich der Sriedensbund in den Grenzen feiner Zwecke und Moͤglichkeiten ausgezeichnet. Es waren vor allem die auf⸗ gebluͤhten Städte, die an oͤffentlicher Sicherheit und an friedlichen Zu⸗ ſtaͤnden das groͤßte Intereſſe hatten und daher auch in dieſem kleinen Voͤlkerbund eine bedeutende Stellung einnahmen. In einem neuen Bunde von 1374, in dem die vier weſtfaͤliſchen Sauptſtaͤdte Mänfter, Soeſt, Oena⸗ brůck und Dortmund an erſter Stelle ſtehen, ſchloſſen fie mit den urſprůͤng · lichen Gruͤndern, den Biſchoͤfen von Paderborn, Muͤnſter und Osnabruͤck und dem Grafen von der Mark noch einen engeren Bund, der genaue Be- ſtimmungen über die Exekution gegen Friedensbrecher enthielt. Schon da⸗

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mals findet man die Gepflogenheit, von Bundes wegen ein oder mehrere Mitglieder mit der Beſtrafung und Bekaͤmpfung des Friedensbrechers zu betrauen. Eine ſolche wurde gegen etliche raͤuberiſche Burggrafen und Feudalherren zur Ausfuhrung gebracht. Alle, die an dem Fortbeſtehen un ; ſicherer Zuftände ein Intereſſe hatten, haben denn auch bald die Ein⸗ richtung als laͤſtige Zwangsanſtalt empfunden, gegen die mit allen Mitteln Sturm gelaufen wurde.

Gleichwohl breitete ſich die Inſtitution und der Gedanke mit ziemlicher Schnelligkeit auch ůͤber andere Gegenden Deutſchlands aus, zumal in Gſt⸗ ſachſen, Thüringen und am Gberrhein, wo viele Fuͤrſten dem weſtfaͤliſchen Friedensbunde beitraten. In den meiſten Bundesländern wurden Friedens gerichte nach dem Vorbilde der weſtfaͤliſchen errichtet; ja die Einrichtung der Feme ſelbſt verbreitete ſich weit über ihr eigentliches Seimatland hinaus und gab den eingeſeſſenen weſtfaͤliſchen Freiſchoͤffen Gelegenheit, ihre Wirkſamkeit über einen großen Teil des Reiches auszudehnen. Auch Batfer Wenzel ließ der Einrichtung zunaͤchſt angelegentliche Forderung an · gedeihen. Schon ſeit längerer Zeit tagte auf dem Burghof zu Arnsberg das oberſte Freigrafenkapitel, das zugleich der oberſte Schiedsgerichtshof für Voͤlkerſtreitigkeiten war. 1385 verſammelten ſich ſaͤmtliche weſtfaͤliſchen Stände, Biſchoͤfe, Grafen, Abte und Städte zu Soeſt, um die alten Bundes ſatzungen zu bekraͤftigen und zu ergaͤnzen. Als heilig und unverletzlich galten fortan Ackerleute, Reiſende und Geiſtliche, ſowie Jaͤger mit ihren unden; insbeſondere wurden auch das Muͤnzweſen und der Geldverkehr aller Bundesangehoͤrigen als wichtigſter Teil des Wirtſchaftslebens der Aufſicht des Zandfriedensrichters unterſtellt. Das war eine ſehr weit⸗ gehende Bindung der ſonſt auf ihre Unabhängigkeit bedachten Kontra» henten an ein gemeinſames Programm.

Die Nutznießer der alten Gewaltpolitik empfanden den Zwang dieſes Friedensbundes als fo laͤſtig, daß fie ſchließlich 1387 auf dem Reichstage zu Würzburg bei Raifer Wenzel feine Aufhebung durchſetzten. Doch hatte dieſer Akt nur formale Bedeutung, denn ſchon hatten ſich die Gedanken des Bundes ſelbſt als fo nůͤtzlich und wirkſam erwieſen, daß er nach einigen Jahren in viel imponierenderem Umfange ſeine Auferſtehung erlebte. Dem Bunde der weſtfaͤliſchen Staͤnde ſchloß ſich der Erzbiſchof von Mainz als nunmehriger Vorſitzender an; hinzu traten die Serzoͤge von Juͤlich und Braunſchweig, die Landgrafen von Seſſen und Thüringen und zabl- reiche ſelbſtaͤndige geiſtliche und weltliche Fuͤrſten und Städte in verſchie⸗ denen Gegenden Deutſchlands. Außer den überlieferten Satzungen wurden jetzt regelmaͤßige Bundestagungen eingefuͤhrt, auf denen uͤber neue Bundesverordnungen und laufende Faͤlle beraten wurde. In der Tat wurde von den Friedensrichtern, beſonders den Freigrafen, manches Urteil in politiſchen Streitigkeiten gefällt; wir ſehen hier das für die Feudalzeit außerordentliche Schauſpiel, daß freie Bauern kraft ihrer überlieferten

voͤlkerbuͤnde im Mittelalter 255

Rechtsbefugniſſe aus der Vorzeit über die Streitigkeiten von Fuͤrſten und Grafen zu Gericht ſitzen. Zu dieſen traten die größeren Städte, die bald eine Anzahl der Freiſtuͤhle in ihren Beſitz zu bringen wußten und ſo auch auf den Bundestagungen als Teilhaber der Schiedsgerichtsbarkeit einen bedeutenden Einfluß aus ůbten. Das Anſehen der oberſten Schiedsgerichte in weſtfalen war fo groß, daß von allen Freiſtuͤhlen des ganzen Reiches an die Sauptfreiſtuͤhle zu Arnsberg und Dortmund appelliert werden konnte.

Der tatſaͤchliche Einfluß der Friedensbuͤnde iſt daraus zu erſehen, daß gerade die Idee des unparteüſchen Schiedsgerichtes, aus aͤlteſter Über · lieferung übernommen, in ganz Deutſchland noch einen ſolchen Anklang fand, daß die Schiedsgerichte ſelbſt ſich in ihrer urſpruͤnglichen Form in ganz Deutſchland einbuͤrgerten. Aus der Verbindung von leidenſchaftlicher Steiheitsliebe und leidenſchaftlichem Rechtsgefůͤhl erwachſen, waren die Gerichte überall geachtet und gefuͤrchtet, wo fie ihrem eigentlichen Zweck, den Frieden zu bewahren, treu blieben. Ceider aber mißbrauchten fie ihre Macht bald zur Einmiſchung in allerlei Rechts haͤndel, die außerhalb dieſes Berufes lagen; und fo bůßten fie außerhalb Weſtfalens bald ihre Eigen⸗ ſchaft als unparteiifche Schiedsrichter in politiſchen Streitigkeiten ein. Die Stiedensbünde, die auf der Idee der Schiedsgerichts barkeit aufgebaut waren, haben jedoch auf die Entwicklung ſtaatlichen Denkens und die Konzentrierung wirtſchaftlicher und ideeller Kräfte trotz aller in der Zeit liegenden Maͤngel einen nicht geringen Einfluß gehabt. Zum erſten Male ſehen wir hier politiſche Gruppen nicht durch Aber ihnen ſtehende Ge⸗ walten phyſiſcher oder ideeller Natur, ſondern durch freie und ſelbſtaͤndige Vereinbarung zu groͤßeren Verbaͤnden mit einer Gemeinſchaft der Inter⸗ eſſen zuſammengeſchloſſen; gebunden durch eine Autoritaͤt, die ſich nicht aus einer mittelalterlich ⸗tranſzendenten Bedeutung, ſondern aus dem Rechtsgedanken ſelbſt herleitet. Und auch dieſer ſtammt nicht aus dem for⸗ malen Recht in ſtaatlicher Ausprägung, er iſt als ein Teil des natürlichen Rechtes auf eigenem Boden erwachſen und beſaß die Faͤhigkeit, einen großen Kompler verſchiedenartiger Gebiete zu ůberwoͤlben. Karl IV., den man wohl den erſten Monarchen mit modernem ſtaatlichen Denken nennt, ſcheint dieſe Ideen in ihrer Tragweite erkannt zu haben.

Don beſonderem Reiz iſt es, die Anknuͤpfung einer modernen Idee an eine altdeutſche Rechtstradition zu beobachten, die durch dieſe Verbindung plotzlich aus halber Vergeſſenheit erwacht. Solche Anſaͤtze wurden aller⸗ dings bald durch die einſetzende machtſtaatliche Entwicklung im roͤmiſchen Sinne uͤberholt, die ſchließlich in Frankreich und England zum Zentralis⸗ mus, in Deutſchland aber zu deſſen Gegenteil führte. Man hat Deutſch⸗ land wohl ein Klein · Europa genannt, das die inneren Gegenſaͤtze des großen Europa auf ſeinem Boden durchzukoſten und auszugleichen be⸗ rufen ſei. Bünde ohne machtpolitiſche Spitze, die nur Frieden und Recht

456 Oskar Schärer

als oberſte ZLeitgedanken anerkennen, hat es bei uns ſchon gegeben. Wenn ſolche immer weitere Kreiſe ziehen, konnten fie ſchließlich das ganze alte Europa umfaſſen. Die Idee des Friedensbundes und des Schiedsgerichtes iſt an ſich germaniſcher Geiſtesbeſitz und daher auch dem deutſchen Weſen im Kerne nicht fremd. Solche hiſtoriſchen Ruͤckblicke in die Vorzeit koͤnnen auch praktiſchen Wert gewinnen, wenn ſie geeignet ſind, die Grundideen des kommenden europaͤiſchen Friedensbundes zu erläutern und zu klaren.

Oskar Schuͤrer / Einige Geſichts⸗ punkte zur Entwicklung des Induſtrialismus

er Induſtrialismus ſcheint heute zu einem gewiſſen Abſchnitt in ſeiner Entwicklung gelangt zu ſein, zu einer Selbſtfindung ſeiner

7 Dar Dieſer Ablauf erſtreckt ſich über ein Jahrhundert. Man ver ·

1 gleiche unſere Gegenwart mit dem Beginn des vorigen Jahrhunderts. Auch damals ſetzte angeſichts der Ceiſtungen der jungen, ſich konſolidie⸗ 8 . 32 renden Induſtrie ein realiſtiſch eingeſtellter Zukunftsoptimismus ein. Den ed 2 3 Weologifhen Überbau lieferte die Saint ⸗Simoniſtiſche Bewegung. Den

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Abnftlerifchen Niederſchlag zeigen Balzacs Werke aus den dreißiger Jah ren. „Unſer Jahrhundert wird das Reich der iſolierten Kraft, die ihren Reichtum in originale Schoͤpfungen ergießt, verknůpfen mit der Serrfchaft der gleichfoͤrmigen, aber nivellierenden Kraft, welche die Produkte egalifiert, ſie maſſenweiſe hervorbringt und damit einem unitariſchen Gedanken ge⸗ horcht, der letzten Ausdrucksform der Geſellſchaften (Balzac). Intelligenz und Produktion ſind verſchwiſtert, das iſt der Grundgedanke jener Wirt⸗ ſchaftsoptimiſten. Die neue induſtrielle Ara iſt Etappe einer großen Menſch ; heits aufgabe: der Beherrſchung der Erde. Der Saint · Simonismus hatte die induſtrielle Energie mit den ſittlichen und geiſtigen Kraͤften des ſchaffen · den Willens zu verknuͤpfen gewußt. Was ſich durch das Jahrhundert an In; duſtrialismusideologie dann weiterſchleppte, das war im Grunde immer nur Nachwirkung diefes erſten, im Jahrhundertbeginn aufgebrochenen Im pulfes. Und genauere Unterſuchung würde zeigen, wie verwaͤſſert und op⸗ portunifiert dieſer Nachhall wirkte.

Erſt heute, im neuen Jahrhundertbeginn, bricht wieder eine geiſtige Einſtellung dem induſtriellen Schaffen gegenüber auf, die impulſiv und eigen wuͤchſig es wagen darf, jenen Gedanken ſich an die Seite zu ſtellen. Erſtaunlich, wie aͤhnlich heutige Manifeſte der Induſtriebegeiſterten lauten. Und dies ohne jede direkte geiſtige Berührung mit jener. Nur aus der gleichen Spannung heraus, in der der Geiſt zu der als wirklich empfun-

Einige Geſichtspunkte zur Entwicklung des Induſtrialismus 357

denen Sachlage ſich befindet. Der tiefer ſuchende Blick allerdings wird Unterſcheidungen treffen muͤſſen: die ſtaͤrkere Betonung von Realismus und Bewußtheit im Seute, die ſtaͤrker ans „Menſchliche“ gebundene Stim · mung dort. Die Sauptrichtung der Gedanken iſt die gleiche: Erſparnis von Kräften durch intelligente Arbeitsmethoden, Anwendung der be freiten Kraͤfte fuͤr das Durchgeiſtigung des Lebens. Und daraus möchte man auf ſehr ähnliche Situation auch der ſtofflichen Bedingungen ſchlie⸗ ßen. Bedeutet dies: Wiederkehr gleicher Utopien, oder aber Verwirklichung von damals nur gewaͤhnten und erhofften Zielen auf höherer Spiralen kurve.

Wir folgen der Entwicklung geiſtiger Syſteme, die uns wichtige Kuͤck⸗ ſchluͤſſe auf die materielle Entwicklung des Induſtrialismus geſtattet. Die Ausgeſtaltung der Lebre Saint · Simons vor allem durch feine Schuͤler zeigt indirekt, die ſpaͤteren Werke Balzacs direkt, wie an die Stelle des anfaͤng ; lichen Jukunftsoptimismus immer ſtaͤrker eine Reſignation der Geiſtigen in bezug auf Bezwingung der materiellen Gegebenheit Platz greift. Gegen den Mammonismus, der der induſtriellen Ara als Baſtard entſteigt, richten ſich jetzt alle poſitiv⸗evolutionaͤren und negativ · oppoſitionellen Strebun- gen des Zeitalters. Was war aus der jungen, fo hoffnungsvollen Macht des Induſtrialismus geworden. An die Stelle des Erfinders war die Selbft- geſetzlichkeit der Maſchine getreten. Satte der Menſch zuerſt glauben dürfen, mit Silfe feiner ingenioͤſen Mittel den Stoff zu bewältigen, ihn unter ſeine Forderungen zu zwingen, ſo trat ihm jetzt das erſtarkte Mittel ſelbſt entgegen. Die Maſchine wilderte, die in ihr gebundene Macht raſte auf und entzog ſich der Serrſchaft des Menſchen. Schlimmer: fie rief feine niederſten Inſtinkte wach. Maſſenerzeugung und Profit waren jetzt die Sebel, die ohne verantwortungsbewußte Korrekturen von feiten des Geiſtes die Entwicklung beberrfchten. Der Erſinder wie hatte ihn Bal ; zac in allen Variationen verherrlicht! trat hinter der ausbrechenden Maſchinengewalt zuruͤck. Der geriebene Geldmenſch machte ſich die neue Situation zunutze. Der Kapitalismus ſtand im Flor.

So ſpiegelt ſich die Entwicklung in den geiſtigen Schoͤpfungen der Zeit. Balzacs Jubel weicht einer tiefen Verzweiflung. Der Saint ⸗Simo⸗ nismus wird nur noch geiſtig religiös gefärbter Rommunismus. Doch blicken wir auf den Induſtrialismus ſelbſt. Was leiftete er um die Jahr hundertmitte und daruͤber hinaus. Er knechtete die Menſchen unter die Maſchine, er zwang den Stoff in feine willkuͤrlichen Forderungen. Die Monſtren der Fabriken ſchoſſen auf und riſſen den Arbeiter in ihre ent- menſchten Schluͤnde. Die Rohſtoffe wurden je nach Faͤhigkeiten der Ma⸗ ſchine in Zeiftung und Form gepreßt, die nicht ihrem eigenen Geſetz ent⸗ ſprach. Ein Abſolutismus der Maſchine wucherte, verbarg ſich aber hinter haͤßlicher Verlogenheit. Nach der ſozialen Seite hin wurde er wirtſchafts opportuniſtiſch verbraͤmt nach der materialen, werkformlichen Seite

458 Oskar Schärer

bin wurde feine Unform unter wefensfremde Stilformen verborgen. Sin- ter all diefen Lügen aber verduͤſterte fein wahres Geſicht die Zeit: eine rohe Naturgewalt ſchien ſich richtungslos zu verſtroͤmen.

Die weltanſchauliche Reaktion dieſes Entwicklungsſtadiums war der Marxismus. Ihm war die Welt auseinandergeborften in Unternehmer und Arbeiter, in Bapitaliften und Proletarier. Der Menſch, der von der Maſchi⸗ nengewalt bedraͤngt wurde, zerfleiſchte ſich alſo auch noch in ſich ſelbſt. Erſt das ausgehende Jahrhundert erkannte die eigentliche Gegnerſchaft, die der maſchine zum Menſchen ů berhaupt. Arbeitgeber und Arbeitnehmer ſuchten die unter ihnen ausgebrochenen Gegenſaͤtze einander anzugleichen, einen gemeinfamen Intereſſenſtandpunkt gegenůber der brutalen Gewalt der mMaſchine zu finden. Aber auch dieſes Buͤndnis haͤtte noch wenig gegen deren unheimliche Kraͤfte vermocht, wäre nicht zugleich eine viel tiefere Einſicht in die Forderungen des Stoffes erwacht, haͤtte dieſer nicht ſeine eigentlichen Kraͤfte geoffenbart, die ihrerſeits den Menſchen zu feinerem Aufhorchen zwangen, und in den Reſultaten dieſes Aufhorchens neue Moͤglichkeiten anboten.

Dieſe Neueinſtellung dem Stoffe gegenüber, die ſich im Lauf der in- duſtriellen Entwicklung durchſetzt, iſt wichtig. Nicht nur die Entdeckung ganz neuer Energiequellen ſpricht da hinein. Bezeichnender faſt fuͤr den Umſchwung innerhalb der Entwicklung iſt jene immer eindringlichere Be⸗ obachtung und ihr folgend: Bewertung der bekannten Stoffbeſtaͤnde der Metalle 3.8. die auf ihre Faͤhigkeiten hin in den verſchiedenen Stadien und Gaͤngen beruͤckſichtigt werden. Als Station der Entwicklung bedeutet das: Der menſchliche Geiſt draͤngt ſich wieder an die Stoffgeſetze heran, richtet ihnen gemäß feine Methoden und zwingt die Maſchine zu⸗ ruck in deren Forderungen. Und auch von der anderen Seite her wird die Macht der Maſchine eingedaͤmmt: der Taylorismus darf nicht einſeitig als Anpaſſung des menſchlichen Organismus an die Maſchinenforderungen geſehen werden in berechtigterem Sinne kann er als Überliftung der Maſchine durch den Geiſt gedeutet werden, als Errechnung der geringſten Muͤhe zu ihrer Beherrſchung. Die weitgetriebenen Arbeits und Zeitſtudien unſerer Tage liefern da beredtes Material. Die Maſchine iſt heute wieder Werkzeug im induſtriellen Dienſt geworden. Und bier ſteht der Induſtrialis· mus heute.

Caͤßt ſich ſchon die Entfaltung von Kraͤften aus dieſer kurzen Skizzie⸗ rung der Entwicklung herausleſen? Der Weg der theoretiſchen Neak⸗ tionen dieſer Entwicklung ſcheint nur negative Auskunft zu geben: Von weltanſchauung : Saint · Simonismus über Wirtſchaftsanſchauung : Marxismus zur Methode —: Taylorismus. Läuft auch die Aktion ſelbſt dieſen kulturfeindlichen weg? Man muß unter beſtimmten Geſichts punkten nach Kräften forſchen, die fi hier entfalten.

IJunaͤchſt nach dem Geſichtopunkt von Menſch und Stoff. Es iſt deut

Einige Geſichtspunkte zur Entwicklung des Induſtrialis mus 45

lich, wie ſich in dieſem einen Jahrhundert Induſtrialismus ein immer poſtti⸗ veres Verhaltnis zwiſchen beiden herausbildet. Was den Saint ⸗Simonis⸗ mus Balzacs 3. B. zur Ideologie ſtempelt, iſt ja zutiefſt in jenem falſchen Spannungsverhaͤltnis des Menſchen zur welt begründet, wie es ſich in der wilden Eroberungsluſt des beginnenden Induſtrialismus äußert. Seine eigentlichen Kraͤfte wildern ins Zeere, er entgleiſt ins wirtſchaftsgetriebe des Kapitalismus, verliert fein ſchoͤpferiſches Jentrum, das Balzac ſchon richtig geahnt hatte, und findet ſich zu ſich ſelbſt zuruck erſt, als feine auf die Realität abzielenden Kraͤfte wieder Boden finden, als der jaͤbe Ausbruch ingeniöfer Energie ſich einſchmiegt in die Gegebenheiten des Stoffes, als Wille und Werk ehrlichen Rontakt zur Wirklichkeit gefunden haben.

Mit dieſen Kraͤften, die zur werkgemaͤßen Wahrheit und geiftgemäßen Realiſation hindraͤngen, haͤngen andere zuſammen, die wir unter dem Ge⸗ ſichtspunkt von Kraft und Richtung erfaſſen. Sür den Beginn der in duſtriellen Bewegung iſt die Richtungsloſigkeit des Ganzen charakteriſtiſch. Wie ein Vampir ſtreckt die junge Macht ihre Fangarme aus, überall hin, wo Beute lockt. Und dieſe Richtungeloſigkeit bleibt faſt für das ganze vorige Jahrhundert bezeichnend. Wie Verſteinerungen dieſes ungeſchlachten Triebes muten uns heute jene brutalen Sabriftomplere an, die labyrinthiſch und duͤſter in die Städte hineingeworfen, an die Berge angefangt, in die Ebenen hinausgeſchleudert das menſchliche Gefůhl verletzen. Aber dieſer Richtungsloſigkeit der dinglichen Erſcheinung entſprach eine Richtungs⸗ loſigkeit der ideellen. Schaffen um jeden Preis das war von Beginn an Parole. Aber: Verdienen um jeden Preis das wurde immer mehr die Parole. Damals trieb der Induſtrialismus ins kapitaliſtiſche Fahrwaſſer. Seine Leiftungen zerfplitterten ſich in Ronkurenzkaͤmpfen. Seine Pro⸗ dukte litten unter der Notwendigkeit des Unterbietens, der verfuͤhreriſchen Abſatzmoͤglichkeiten. Der Induſtrielle des vorigen Jahrhunderts, ſoweit er ſich Rechenſchaft gab uber feine Stellung, bekannte ſich zum Kapitalis⸗ mus. Ja, die Macht des Induſtrialismus als Ganzes ordnete ſich der kapi⸗ taliſtiſchen Weltordnung unter. Das Kapital war Serrſcher. Um ſich zu vermehren, bedurfte es eines willigen, zu allem bereiten Anechtes. Der im Induſtrialismus wirkſame Schaffenstrieb, der ſich noch nicht als ſelbſt⸗ ſtaͤndig, als eigenmaͤchtig erkannt hatte, der nach Betätigung ſchrie, ord- nete ſich willig unter. Und das bedeutete fuͤr den Induſtrialismus ein ge⸗ faͤhrliches Mißverſtehen feiner ſelbſt. Die Definition der Begriffe macht es deutlich. Kapital iſt angehaͤufte Macht, die Ausnutzung fordert. Dieſe Weſensbeſtimmung ſchließt den Begriff der Ronkurrenz in fi. Induſtri alismus iſt taͤtige Macht, die Neuſchaffen fordert. Und das ſchließt den Begriff der Konkurrenz nicht nur aus, ſondern verlangt im Gegenteil den Zuſammenſchluß aller gleichgerichteten Krafte. wie der Induſtrialismus dieſes erſt nur dumpf gefuͤhlten Zieles immer deutlicher ſich bewußt wird, iſt intereſſant zu verfolgen. Die Sorizontalſchichtung der Induſtrien, wie

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fie unter dem Einfluß des kapitaliſtiſchen Ronkurrenzſyſtems ſich ausgebaut hatte, wich der Vertikalſchichtung. Nicht mehr die gleichartigen Induſtrien ſchloſſen ſich zuſammen zur Ausſchaltung oder Unterdruͤckung der Kon ; kurrenz, ſondern im Produktionsprozeß aufeinander angewieſene Werke ſtaffelten ſich zum werkkompler, innerhalb deſſen die induſtrielle Leitung dem gefamten Prozeß vom Rohmaterial bis zum letzten Fertigprodukt be- ſorgte. Der Gegenſatz von Schwerinduſtrie zu verarbeitender Induſtrie 3. B. faͤllt immer mehr fort. Summierung weicht der Örganifierung. Auch wo wie in der jüngften Entwicklung wieder Sorizontalſchichtung auftritt. Aus⸗ ſchlaggebend iſt der Zweck, die Zuſammenſchluͤſſe, die ſich zu ůberrationalen Syſtemen ausbauen. Alle im Konkurrenzkampf unnötig ausgegebene Kraft wird frei für jenen Urwillen des Induſtrialismus, der zum Ganzen ſtrebt. |

Die Etappen des Weltkrieges zeigen dieſe Entwicklung im großen. Die ubliche wirtſchaftsgeſchichtliche Betrachtung ſieht im weltkrieg den Kampf gegneriſcher Intereſſentengruppen. Sur ſolche Anſchauung mußte eine international eingeſtellte Balanceideologie die praktiſche Zöfung er- geben. Sie wurde von den Erben des internationalen Kapitalismus vor⸗ geſchlagen. Aber die Selbſtfindung des Induſtrialismus trieb ſchon über fie hinaus. Seine eigentlichen Kräfte durchſchlugen die Daͤmme kapitaliſti ſcher IJdeologieen. Jene zentripetalen Maͤchte, die in ihm trieben, zeigten zum erſtenmal ſkrupellos ihr entmenſchtes Antlitz. Im Ausgang des Ruhr⸗ krieges zeigte es ſich unausweichlich auf. Man kann im Ruhrkrieg die Fort · ſetzung des Weltkriegs mit andern Mitteln ſehen. Wieder wie im welt⸗ krieg hinter nationalverbraͤmten Sorderungen der Anſpruch wirtfchaft- licher Intereſſentengruppen. Da plotzlich: die Aktion der Induſtriellen: Die ſcheinbaren Gegner vom nationalen Standpunkt aus ſchließen ſich zuſammen. Die Weltmacht Induſtrialismus diktiert die Beendigung des Kampfes. Unter ſolchem Geſichtspunkt bedeutet das Vorgehen der Rubrkönige weder Verrat an der nationalen Sache, noch Einſicht in wirt⸗ ſchaftliche Unterlegenheit unter den Gegner. Sie bedeutet nichts anderes als das offene Bekenntnis des Induſtrialismus zu der im Grunde treiben⸗ den Kraft, die alle formalen Scheidungen auch die nationalen nieder; zwingt und alles Weſensgleiche zuſammenreißt zur einen Weltmacht.

Jetzt iſt ſich der Induſtrialismus feiner tiefſten Kraͤfte bewußt. Jetzt ſchuͤttelt er das Joch des Kapitalismus von ſich. Er befreit ſich nicht nur von der nur jenem gemaͤßen Ideologie zu ſeiner eigenen, ſondern er zwingt nun ihn in ſeine Botmaͤßigkeit. Er fordert nun die Gelder, er peitſcht nun die Banken zu ſtets neuer Auftreibung der Mittel, deren er bedarf zur Befriedi ; gung ſeines Produktionshungers. Unter ſeiner Machtentfaltung hat ſich die Sunftion des Kapitals entſcheidend gewandelt. Erſchließung neuer Ener giequellen, das iſt ihm Anlage und Zins. Immer geſteigerte Produktion iſt fein Ziel. Zur Realifierung der im Stoff verborgenen Krafte fügt er deren

Einige Geſichtspunkte zur Entwicklung des Induſtrialismus 4061

Sebung ins Produktive. Die beſondere Art der induſtrialiſtiſchen Produk tivitaͤt wird uns Har, wenn wir nochmal auf den unter dem erſten Geſichtspunkt aufgedeckten Realismus zuruͤckblicken. Die im Stoff la⸗ tenten Kraͤfte werden befreit und als freie in den Produktionsgang ein-

geſchaltet. Ihre Eigenenergieen werden nicht mehr umgebogen in dem willkuͤrlichen Zweck gefuͤgige, ſondern fie werden in ihrer organiſchen Funk⸗ tion belaſſen und fo im werkganzen verwertet. Der ZIweck beſtimmt ſich jetzt aus der Kraft, nicht mehr umgekehrt. Die ingenioͤſe Energie fügt ſich alſo in eine objektive Wirklichkeit. Die ganze Wucht der Weltenergie formt ſich zu dieſer, für den heutigen Induſtrialismus typiſchen objektiven Pro⸗ duktivitaͤt ſchaffender Kräfte.

Bleibt noch die Frage nach Arbeit und Form. Im Verhältnis der Lei; ſtung und der Art, wie dieſe Zeiftung zuſtande kommt, ſpricht ſich immer eine zum Wefen der Erſcheinung gehoͤrige Kraft aus. Wie iſt das Arbeits gefuͤge des heutigen Induſtrialismus beſchaffen. Auch hier ließe ſich wieder eine Entwicklung zum weſens notwendigen hin innerhalb dieſes Selbſt⸗ findungsjahrhunderts aufweiſen. Die oben bezeichnete Richtungeloſigkeit des jungen Ungetüms galt zuerſt auch für die Beziehung der Arbeitsgaͤnge untereinander. Ein Sich ⸗Einſpielen der verſchiedenen im Komplex zu⸗ ſammengefaßten Zeiſtungen ruckt gleichzeitig mit der äußeren Richtungs- findung vor. Immer peinlicher richten ſich die Einzelprozeſſe aufeinander, ſpringen fuͤr einander ein, ergaͤnzen ſich gegenſeitig. Bis heute dieſer Wun · derbau eines modernen Werkkoloſſes vor uns ſteht, in dem die tauſend Räder faſzinierend ineinandergreifen. Ja, dieſer peinliche, aufeinander ab- geſtimmte Innenorganismus kontraſtiert auch heute noch ſeltſam mit dem dumpf vorwaͤrtsdraͤngenden, nur durch feine Zeiſtungsfaͤhigkeit vital re- gulierten Außen. Denn was oben vom Kichtungs finden des Induſtrialis⸗ mus geſagt wurde, gilt nur fir feine umfaſſenden Tendenzen. Als Einzel; erſcheinung mutet er aͤußerlich noch immer undiſzipliniert, naturgewaltig roh, ja brutal an. Und diefer zentripetal ſich ſteigernden Richtungsloſigkeit der Geſamterſcheinung antwortet nun ein unerhoͤrt praͤzis ineinander ge⸗ richtetes Innenwerk, ein relativiſtiſches Gefuͤge in ſich verklammerter Be⸗ ziehungen. Gerade dies Ineinander von orm und Unform am gleichen Phänomen; dieſe Gegenſaͤtzlichkeit von Innen und Außen, macht die bis zum Befremden erſtaunliche Eigenart des Induſtrialismus aus. Doch eben dieſe Gegenſaͤtzlichkeit ſcheint auch die Quelle nie verſiegender Kraft für ihn zu ſein: Die vorſtoßende Macht des Ganzen iſt nur aus dem peinlich ſich ſelbſt erfuͤllenden Innenorganismus zu verſtehen, und umgekehrt ge- winnt dieſe ungeheuerliche Innendynamik ihren Schwung und ihre Not⸗ wendigkeit an der Sochſpannung des Ganzen. In der vermeintlichen Sinn; loſigkeit dieſes Ineinanders von Form und Unform liegt alſo ein zunaͤchſt nur ſchwer zu faſſender Sinn. Erſt im inneren Gefuͤge reifte dieſer ſchon aus. Sier bedingte er dieſe fachliche Ausgewogenheit, dieſe peinliche Be⸗

462 Gskar Schürer, Einige Geſichtspunkte zur Entwicklung des Induſtrialis mus

dingtheit aller Teilvorgaͤnge durch das Ganze, wie ſie ſonſt eben nur im Organismus zu finden ift. Sier waltet eine Stimmigkeit der Mechanismen, die faſziniert. Dies Statiſch · Gerichtete des Ganzen, aus dem ſich nicht ein einziger Teil herausnehmen läßt, ohne daß das Ganze zerſtoͤrt iſt, dieſe ſtreng relativiſtiſche Einheit des Komplexes im Innern, das iſt wohl der bezeichnendſte Weſenszug des Induſtrialismus. Aus eigenen Geſetzen heraus erzwang er eine Wahrheit, die ſich der Naturwahrheit an die Seite ſtellt. Notwendig wie dieſe, jedes auf ganz andere Kräfte und Geſetze zuruckzufuhren: eben auf jenen Zwang zur Sachlichkeit, wie er ſich immer eindeutiger im Induſtriegefuͤge bekundet. Das Naturgeſetz groͤßt · moͤglicher Entfaltung jeden Einzelweſens wird tranſponiert in das Werk. geſetz groͤßtmoͤglichſter Beſtimmtheit jeden Einzeldings. Dieſes Werk. geſetz it nur Glied eines Kanons, der alle Einzelbeſtimmtheiten wieder fügt und relativiert zum Funktionsſinn für das Ganze. Dieſer Trieb wird ſich ſeiner ſelbſt bewußt in der Ronſtruktion. Und dieſe Bewußtheit des Machens, des Nonſtruierens an ſich, iſt die typiſche Arbeitsform des Indu ; ſtrialismus.

Die Entwicklung der aus dieſer Arbeitsform reſultierenden Werkform gehoͤrt ſchon unter die Botmaͤßigkeit der dieſen Kraͤften entſpringenden, geſtaltenden Geſetze, mußte alfo gefondert betrachtet werden. Sier ſei noch kurz zuſammengefaßt, was wir aus der Entwicklung dieſes Jahrhunderts Induſtrialismus an Grundkraͤften herausgetrieben fanden. Junaͤchſt die ſes machtvolle Sinftreben zur Realität, dies immer tiefer ſich Sineinbohren in die Forderungen der Wirklichkeit, dieſe Anerkenntnis des Seienden und ſeiner Geſetze. Dann die Zuſammenraffung aller Kräfte unter der einen der Pro- duktion, und zwar einer Produktion, die ſich aus der objektiven Energie der Dinge ſpeiſt. Als drittes die Relativierung aller teilhabenden Prozeſſe zur Grundform der Ronſtruktion, die alles Gewachſene ins Reich des Gemachten objektiviert. Realismus, Produktivitaͤt, Ronſtruttion das find die Grundkraͤfte des Induſtrialismus. Nach dem Geſagten erübrigt es ſich, des Zangen feſtzuſtellen, was es mit der Analogie des heutigen und ehemali⸗ gen Werkoptimismus auf ſich hat. Erſt heute iſt die Idee des Induſtrialismus ihrer Verwirklichung naͤher gekommen. Erſt heute kann ſich auf ihn eine Ideologie auf bauen, die nicht mehr wie damals uͤber zuſammenbrechendem Unterbau der Tatſachen zur Utopie ſich verfluͤchtigen muß. Materielle Grundforderungen find erfüllt, der Geiſt kann beginnen”.

* Diefe Bemerkungen entſtammen dem größeren Verſuch einer Jeitanalyſe: Induſtrialismus und Kunſt, deſſen Juſammenhang erſt den weſentlichen Sinn der aufgeführten Geſichtspunkte erläutert. O. S.

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Umſchau

Geſolei⸗Eindruͤcke Durch mich geht's ein zur Stadt der Qualerkorenen.

Naͤmlich durch die Pforte der Salle für Soziale Sürforge auf der Duͤſſeldorfer Geſole i. Es ſpaziert ſich ſonſt fo buͤbſch zwiſchen netten Blumenbeeten von Salle zu Salle, in den Sallen von einem intereſſanten Gegenſtand zum andern, und auch die Salle fuͤr Soziale Fuͤrſorge iſt ſo lehrreich und anſchaulich aufgebaut, daß man ſeine wahre Freude daran haben kann. Man hat auch mehrfach den beruhigenden Eindruck, daß es dank dem vereinten unab ; laͤſſigen Bemuͤhen von Behoͤrden und Verbänden privater Art bie und da tat ſaͤchlich gelingt, den Zundertſatz der Unglädsfälle, der Todesfälle an Tuberkuloſe uſw. herabzudruͤcken, und doch muß der kein Serz in der Bruſt haben, der nicht tief ergriffen, ja erſchůͤttert dieſe Salle verläßt. Freilich liegen keine Bettler auf den Stufen, folgen deinem Schritt weder Aruͤppel noch ſonſt Mißgeſchickte, hat der Zeichner ſelbſt Aber die bitterſten Wahrheiten, die beſchaͤmendſten Tatſachen einen leiſen Schimmer verſoͤhnenden Zumors gebreitet: wenn er dem Storch bei Kriegsbeginn die Pidelbaube, im dritten Ariegsjabr den Stahlhelm, J9J8 die Jakobinermuͤtze aufſetzt, und ihn, wie die Kinder, die er bringt, immer weniger und immer kuͤmmerlicher werden, endlich hoͤchſt erſtaunt ſagen laͤßt: „Nanu!“ Es iſt auf den erſten Blick auch geradezu drollig zu feben, wie auf einer Scheibe kon zentriſcher Breife ſich aus den Kirchentuͤren rechts dem Mittelpunkt am naͤchſten nur ganz wenige Paare heraus und binüber in eine eigene Wohnung drehen, während nach außen zu immer mehr Paare teils in die bis berige Wohnung des Braͤutigams, oder gar in die bisherige elterliche Wohnung ſich zwaͤngen; wie in einem andern ſolchen Spielzeug zum Aufziehen im Jeitmaß I: JO000 ein Brautpaar nach dem andern vorm Altar angerollt kommt, um ſich von einem mehr Verkehrs ſchutzmann als Geiſtlichen in raſcher Folge trauen zu laſſen, ſich dann in langer Schlange auf der Straße anſtellen, wie aber die Saͤuſerzeile, die für fie gebaut wird, immer hoffnungsloſer hinter der raſtlos wachſenden Kolonne zuruͤckbleibt. An trefflichen Modellen wird uns Har, wie viel bumaner heute namentlich jugendliche Strafgefangene behandelt werden, als in der guten alten Zeit, aquarienbaft von hinten oben ſonnig beleuchtete Dioramen landſchaftlich beinahe beneidenswert gelegener RAindererholungs heime oder Lungenheilſtaͤtten zeigen, was alles heutzutage fuͤr die leidende Menſchheit getan wird, aber ſo oft wir aufatmen wollen und meinen, wir brauchten uns alſo nicht weiter darum zu kuͤmmern, es werde ſchon von den verantwortlichen Stellen das Menſchenmsdg⸗ liche getan, ſchließlich zahlten wir doch eben darum einen guten Teil der Steuern, um auch an unferm Teil dieſen Armen zu helfen, die wer weiß wohl ſelbſt an ihrem Unglüd ſchuld find, ebenſo oft beaͤngſtigt uns fo manche bedrohlich an- ſteigende Burve, verfolgen uns überhaupt die jammervollen Blicke derer, die un · genannt und ungefeben hinter all dieſen 5, 6, 7 ſtelligen Jahlen fteben. Viel leicht laſſen wir uns nur verbläffen? Sind's gemeſſen an den Aber · und Aber: millionen Menſchen in Deutſchland gar nicht fo ſchrecklich viele? Fällt uns nur uberall Ungluͤck und Elend doppelt unangenehm auf, wird von Jeitungen, Ainos, Bußpredigern allzu grell an die Wand gemalt, damit nur ja auch uns an · dern die Freude am Leben vergällt wird, auch wir Befunden in Gefahr geraten,

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angeſteckt zu werden, der Brand, ſtatt eingedaͤmmt zu werden, nur immer neue Yrabrung erbält? Wie nüglid wäre es doch, wenn ſowas moglich wäre, wenn wie in der guten alten Jeit die Ausſaͤtzigen vor die Tore der Stadt in beſondere Spi- täler, oder auch heute noch Seuchenverdaͤchtige in Quarantaͤne kommen, alle dieſe Tauſende von Unglädliden in beſtimmte Bezirke, einzelne Gemeinden, in für dieſen IJweck zu gruͤndende Siedlungen abgeſondert werden konnten, am beften alle zuſammen in einer entlegenen Provinz des Reiches, damit man doch mal eine uͤberſicht hätte, wie viel eigentlich einigermaßen gefundes deutſches Volk übrig bleibt und ein heimlicher Antrieb beſtünde, die fo nicht an auswärtige Gegner, ſondernfan die inneren Feinde der Krankheit und des Laſters ehrlicherweiſe ab- getretenen Gebiete durch nicht minder zaͤhen Grenzkampf als ſonſt Polen und Tſchechen gegenuber geſchieht, zuruͤckzugewinnen, allzeit Mehrer des Reichs des Lichts, der Guͤte und der Freude zu fein. Niemand wird im Ernſt daran denken, dieſen Plan auch nur teilweiſe in die Wirklichkeit zu uͤberſetzen. Wurde doch den fahrlaͤſſig Leichtfertigen, die fo ſchon ihre Augen zu gern vor der grauſigen Wirk. lichkeit verſchließen, ihre Gleichguͤltigkeit gegen die Wot ihrer Mitmenſchen gar zu bequem gemacht. Aber gerade je weniger ſich dieſes Verfahren für die Durch ; führung in der Welt der Wirklichkeit eignet, weil aber andererſeits große Jahlen die Saſſungskraft der bloßen Vorſtellungskraft erfahrungsgemäß überfteigen, darum ſollte zunaͤchſt einmal in der Salle der ſozialen Fuͤrſorge auf der Befolei, ſpaͤter in moͤglichſt jeder Schule, in jedem Rathausaufgang, ein Modell nicht fehlen, das fo wie fonft wohl Städte und Landſchaften auf Schautiſchen dargeſtellt werden, die Stadt der Qualerkorenen, das Jammertal unferes Volkes in genau berech · netem, von Jahr zu Jahr veraͤnderlichem Großen verhaͤltnis unausweichbar vor die Augen führt. Schlägt man etwa die Seiten des inhaltsſchweren ſtatiſtiſchen Jahrbuchs für das Deutſche Reich von 1923 auf der Beſucher der Geſolei wird leicht die meiſten Angaben für die Gegenwart richtigſtellen können —, fo würde ſich ergeben, daß wir keine Sandvoll, nein, eine ganze Stadt wie Zilden, Wetzlar oder Wolfenbüttel voller Ta ub ſt um mer, eine Stadt wie Zittau, Gießen oder Weißen ; fels voller Blinder haben. Ganz Bonn wäre voller Epileptiker, eine Groß · ſtadt wie Crefeld oder das ſchoͤne Lubeck mußten wir den 20000 Trunk ſuͤch · tigen räumen. Für J56000 Krüppel wäre kaum in Augsburg und für J80000 Geiſtes kranke kaum in Salle Platz. Es würde ſich ferner ergeben, daß jahrlich in Deutſchland an Rrebs ſoviel Menſchen ſterben, alſo auch zu gleicherzeit ſchwer krank darniederliegen, wie eine ganze Stadt wie Merſeburg oder Eisleben oder Wittenberg etwa in ihren vielen Saͤuſern, auf Märkten und Gaſſen betriebſame Ein · wohner hat. Magen- und Darmqualen erliegt Jahr für Jahr eine ganze Stadt wie Beeftemände, Ronſtanz oder Paderborn, Serzkrankheiten raffen ganz Jena, Bamberg oder Salberſtadt hinweg, durch Lungenentzündung geht jedes Jahr eine Stadt wie Gottingen, Gotha oder Worms zugrunde und die verzehrende Lungentuberkuloſe verſchlingt gar dies Jahr Sildes beim, das naͤchſte Trier oder Ulm, im uͤbernaͤchſten Deſſau oder Kaiſerslautern l Unglücks fälle aller Art vernichten jahrlich die Bevölkerung einer ganzen Stadt wie Lune · burg, Söchſt a. M. oder Naumburg a. d. S., Tag für Tag müßten auf dem Fried; bof einer dieſer Städte 80 Graber geſchaufelt werden. Für alle fo Verzweifelten, daß fie noch dieſes Jahr ſich ſelbſt erhaͤngen, erſchießen oder vergiften, bietet kaum ganz Lindau am Bodenſee Raum, ja follte es fo fein, daß in einem ganzen Land⸗

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ſtrich, wer ſonſt eines naturlichen Todes ſtirbt, von nun an durch Selbſt mord endigt, fo Fäme nur eine Kaͤche wie die beiden Mecklenburgs zuſammen in Be⸗ tracht! In ganz Baden wuͤrden nur noch tote Kinder geboren, oder ſoviel jahrlich, wie wir durch die Abtretung von Eupen · Malmedy an Belgien an leben · den Menſchen uberhaupt einmalig verloren haben ! Alle Binder, die in Oſt. und Weſtpreußen, in Pommern und Poſen, in Schleſien und Brandenburg geboren werden, find umſonſt geboren, geben mehr oder minder jaͤmmerlich vor Ablauf des erſten Lebensjahres zugrunde! Berlin allein könnte mit feinen tubertuldfen Aindern ganz Kolberg, mit feinen bedenklich unterernähr : ten Rindern ganz Lübeck bevölkern! Die ganze große Stadt Coblenz wäre ein einziges Rieſen waiſen baus, in dem Kinder vatermutterliebeleer aufwachſen, weil Vater und Mutter durch eigne oder fremde Schuld zu fruͤh ins Grab ſanken. Alle Ariegsbeſchäͤdigten brauchten einen Raum wie Anhalt und Braun⸗ ſchweig zuſammen, alle Er werbsloſen, alſo Ausgeſtoßenen, Lebens muͤden ganz Pommern oder Thüringen oder drei fo volkreiche Städte wie Eſſen, Böln und Duͤſſeldorf! Jahr für Jahr gehen uns Staͤdte wie Tilfit, Greifswald und Stral⸗ fund durch A us wanderung verloren. Die Dörfer und Städte links und rechts der Weſer von den Shen der Rhoͤn und des Thuͤringer Waldes bis zum Meere müßten aus lauter Befängniffen beſtehen, an ihren Ufern wohnten nur ſolche, die dieſes Jahr zu kuͤrzerer oder laͤngerer Haft verurteilt worden find, im ganzen Saargebiet nur gerichtlich belangte und verurteilte Jugendliche! In ganz Bielefeld oder im ganzen Lande Coburg nur lauter fo unglückſelige Eheleute, die lebenslang · lichem Streit und gader die Schmach der E heſcheidung immer noch vorziehen, oder was dasſelbe heißt: alle Ehen, die in der geſamten Provinz Sachſen ge- ſchloſſen werden, ſehen fo ungluͤcklich aus, daß fie wieder geſchieden werden mäflen. Unfer Sauptwiderſacher aber, der Satan Alkohol verdirbt uns bereits im Mutterleibe jahrlich ſoviele Binder, als die Stadt Muͤnſter Einwohner zählt und fordert mehr Todesopfer, als uns an Menſchenzahl durch die Abtretung von ganz Deutſch · Suͤd⸗Weſt oder NWordſchleswig verloren gegangen find! Vier Mil- liarden Mark werden jäbrli in Deutſchland vertrunke n. Davon konnten eine Million Familien, könnte ein fo dicht bevoͤlkertes Gebiet wie der Freiſtaat Sachſen auskòmmlich leben, koͤnnten 300 Talfperren gebaut, könnte ganz Württemberg mit ſeinen ſaͤmtlichen Staͤdten und Doͤrfern noch einmal aufgebaut werden, und genau fo jedes folgende Jahr, obne daß ſonſt geſammelt oder geſpart zu werden brauchte und es uns an irgend etwas anderem fehlte, als woran es dem tuͤchtigen Finnland, dem gluͤcklichen Nordamerika nicht etwa auch fehlt! Was befagen die 7 Juͤnglinge und 7 Jungfrauen, die Athen alle neun Jahre dem Minotauros auf Breta opfern mußte, gegen dieſe Sunderttauſende bluhender Menſchenleben, die wir vor der Jeit unſeliger Vernichtung durch noch immer geſundheitswidrige Lebens verhaͤltniſſe „normalerweiſe“, „regelmäßig“ opfern? In den vier Briegs- jabren haben wir auf dem Schlachtfeld nicht mehr Väter, Bruder, Söhne, Gatten verloren, als wir Väter, Mütter, Brüder, Schweſtern, Söhne, Töchter, Männer und Frauen allein durch Tuberkuloſe, Lungenentzündung und andere Branf: beiten der Atmungswege, durch den Staub und die ſchlechte Luft dumpfer Woh⸗ nungen und Straßen alſo, in denen ein großer Teil unſeres Volkes zuſammen⸗ gepfercht lebt, ſowie durch Krebs und Magen · und Darmkrankheiten, unver: nünftige Lebens · und Ernaͤhrungsweiſe alfo, bereits innerhalb der naͤchſten Tat XVII 31

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zwoͤlf Jahre ebenfalls unter die Erde gebracht haben werden, nachdem ihr halbes Leben kein wahres Leben, wie doch zumeiſt bei jenen in der Jugend dabin ge⸗ rafften, ſondern ein ſich von Sprechzimmer zu Sprechzimmer, von Seilanſtalt zu Seilanſtalt ſchleppen geweſen iſt! Und wenn dann ſo auf der Ausſtellung all dieſe Unglädsftädte, dieſe Jammertaͤler den Beſuchern in ergreifenden Bildern und Modellen vorgeführt find, dann erſcheine wie etwa im Planetarium über ihnen der geſtirnte Simmel, ſo durch Jauberkraft unter ihnen das Bild ihres Vater⸗ landes, ibres Volkes mit Kennzeichnung dieſer von den Erzverderbern beſetzten Staͤdte, der Landſtriche und Provinzen, die dieſen ſchlimmſten Erbfeinden aus- geliefert erſcheinen. Dann Aberlaffe man den Einzelnen ſtummer Betrachtung und ſeinen eigenen Gedanken. Der und jener hat ſichs wohl noch ſchlimmer vorgeſtellt und wird von übertriebener Verzagtheit geheilt, einfeben, daß es für Männer, ſich zu rühren, noch immer Tag genug iſt. Alle anderen aber, die bis her mit Ver⸗ achtung auf fremde Völker und vergangene Jahrhunderte herabſahen, werden mit ſich ſelbſt zu Rate gehen, ob ſie ein Recht dazu hatten, ob nicht auch ſie ſtatt zu Feſtreden auf Rommerſen, an der Front gebraucht werden, ganz da vorn, wo Schritt um Schritt Tod mit dem Leben, Licht mit der Finſternis ringt. Sränzel

Schloß Elmau und ſeine kulturelle Bedeutung 5 1

behauptet wird, die Kulturkriſis, in der die Menſchheit ſteht, eine Folge des Krieges, dann dürfte man getroſt damit rechnen, daß fie, wie andere Folge⸗ erſcheinungen, mit der Jeit überwunden werden wird. Aber es verbält ſich doch gerade umgekehrt: Unter andern Symptomen zeigt der an allen moglichen Stellen der Erde immer neu aufflammende und, wo die Waffen ruhen, mit politiſchen und wirtſchaftlichen Gewaltmitteln geſchuͤrte Weltbrand nur den ungeheuren Ernſt und die rieſenhaften Ausmaße dieſer Kriſis, die für die einen Anlaß zur Ver⸗ zweiflung, für andere Grund zu der Erwartung iſt, daß nun der Anbruch eines neuen Aons ſichtbar wird.

Daneben aber gibt es eine Weltanſchauung, oder, wie richtiger geſagt werden muß, eine Seelen haltung, in der ein eigentliches Verwundern über den nunmehr offenbaren Juſtand der Menſchheit darum keinen Raum hat, weil ibr ein grund- ſaͤtzlicher Peſſimismus gegenüber „dieſer Welt“ und dem Ablaufe ihrer Geſchichte eignet; ein Peſſimis mus, der freilich auf dem Grunde des denkbar tragfaͤhigſten Optimismus, naͤmlich des Glaubens, beſteht, der nun und nimmer wirklichen Fortſchritt vom Ablauf der Geſchichte erwartet, ſondern ſich einer „neuen Schöp- fung“ verfiebt, ſich alſo durch noch fo reiche und koͤſtliche, am Baume der Zivili- ſation reifende Fruͤchte nicht beirren laͤßt, ſondern die ganze ſichtbare Geſchichte im Bleinften wie im Allergroͤßten nicht anders denn als Gleichnis bewertet, hinter dem ſich die eigentliche Geſchichte verbirgt. Mit andern Worten: Der Glaube iſt nicht fo ſehr auf die flüchtige Erſcheinung der Dinge, als vielmehr auf das Weſentliche aus und nimmt ſeine dementſprechende, nur ihm eigentümliche Saltung ein.

Solange der Glaube im menſchlichen Seelenleben eine Wirklichkeit iſt, und in demſelben Maße, in dem er menſchliche Verhaͤltniſſe durchdringt und geſtaltet, beſteht Kultur. Ihre gegenwärtige furchtbare Beifis iſt die Kriſis des Glaubens.

Sie iſt durch zwei eng miteinander zuſammenhaͤngende Momente gekenn⸗

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zeichnet: Der Menſch dieſer Jeitwende iſt durch und durch Individualiſt, und weil er es iſt, durch und durch Intellektualiſt.

Im engen Rahmen dieſer Ausfuhrungen kann nur angedeutet werden, inwie⸗ fern ſich in dieſen beiden Momenten die Bulturkeifis auswirkt, und inwiefern fie Glaubens kriſis iſt:

Die geiſtesgeſchichtliche Entwicklung hat den abendlaͤndiſchen Menſchen aus der ſtrengen religidfen Gebundenheit der eigentlichen Blütezeit unſerer Kultur, des boben Mittelalters, über Renaiſſance, Sumanismus und Reformation, über Auf⸗ Hlaͤrung, franzoͤſiſche Revolution und Serrſchaft des Materialismus in den mo⸗ dernen Induſtrialismus, in die Mechaniſierung und Techniſierung des ganzen Daſeins geführt. Alle dieſe Emanzipations bewegungen haben unter allmaͤhlicher Auflöfung der naturlichen Bindungen an Familie, Seimat, Stamm, Stand, Volkstum, Natur, ſowie der uͤbernatuͤrlichen Bindungen an Kirche, Religion, Gott die menſchliche Geſellſchaft atomiſiert: Jeder lebt in der Vereinzelung; jeder fühlt ih nur als Individuum, als unteilbare Einheit, und in dem Lebensgefühl der allerwenigſten hat zugleich das Bewußtſein Raum, daß wir in erſter Linie Glieder am großen Ganzen find. Dieſes verſtuͤmmelte Lebensgefühl iſt das all⸗ gemeinfte Übel und die vornehmſte Urſache der ſchlechthin heilloſen Verfaſſung, in der ſich die Menſchheit befindet. Kultur iſt der geiſtig⸗ſeeliſche Juſammen⸗ klang der vielen Verſchiedenartigen in Einem, namlich im Weſentlichen, unſer Individualismus aber iſt das Gegenteil davon: Jerfall jeglicher Einheit in kleine und kleinſte Teile und Splitter, deren jeder, indem er nur ſich fühlt, obne Gefuͤhl für das Ganze iſt und darum auch ohne Anteil am Ganzen und der es durchwirken⸗ den ſchoͤpferiſchen Kraft. Kultur iſt Verinnerlichung; unſer Jerfall aber im Gegenſatze dazu hemmungsloſe Veraͤußerlichung. Kultur iſt blühendes, frucht; bares Leben, unſer Juſtand aber, der den Schein des Lebens hat, der Juſtand jedes von feinem Geſamtorganismus losgelöften Gliedes fei es des Fingers einer Sand, ſei es des Aſtes eines Baumes —: Ver- Weſung. Kultur iſt Geiſt; denn in den durch ihren Weſenszuſammenhang mit dem Ganzen lebendigen Gliedern wirkt ſich das geiſtige Prinzip des Ganzen aus; in ihnen verwirklicht ſich Gott, und ihr durch die Gebundenheit an Gott beſtimmter Juſtand iſt Glaube. Wo hingegen dieſe Gebundenheit, die nicht im Bewußtſein, ſondern im Weſen beſteht, geloͤſt iſt, wo fie im Lebensgefuͤhle des Menſchen uberhaupt nicht mehr, jedenfalls nicht mehr beſtimmend ſchwingt, wo an die Stelle der Allheit die Ich heit getreten iſt, alſo an die Stelle goͤttlicher Fuͤhrung ſelbſtiſcher Eigenwille, da wird der Glaube, der Kraft und Leben des Ganzen im einzelnen iſt, durch den In⸗ tellekt, das aus dem Sumpfe der Vereinzelung aufflackernde Irrlicht, verdraͤngt.

So bietet die Menſchbeit der Gegenwart in der Tat das Bild vollendeter Un⸗ kultur, und wer fie fo ſieht, müßte fie verloren geben, wenn nicht eben trotz alle⸗ dem der Glaube im menſchlichen Seelenleben eine Wirklichkeit waͤre.

Es gibt namlich Gott fei Dank auch heute Menſchen, die ſich dem Jeit⸗ geifte entgegenſtemmen, indem fie unverruͤckbar auf dem Boden des Wefent- lichen ſteben; Menſchen, die dem Drange der zentrifugalen Machte nicht nach · geben, ſondern zentripetal den Weg der Verinnerlichung geben ; Menſchen, die, weil fie gliedhaft dem Ganzen eingeordnet find, nicht wie Spreu von jedem Winde aufgehoben und irgendwohin verweht werden, ſondern, der das Ganze durchwaltenden Kraft teilhaftig, ſchoͤpferiſch find; keine Gemaͤchte ihrer Umwelt,

3]°

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ſondern deren Geſtalter, „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“. Sie find die Keimzellen neuen geſunden Lebens am kranken Geſamtorganismus Menſchheit. Sie leben uberall „in der Jerſtreuung“, in allen geſellſchaftlichen Schichten, in allen und außerhalb aller Bekenntnisgemeinſchaften. Und wo fie find, iſt Aul⸗ tur, und was fie find, wirkt Aultur, und weil fie find, wenn auch an Jahl viel leicht gering, iſt die Frage, ob die Rulturkrifis zum Tode oder zur Geſundung führen wird, durchaus keine verzweifelte. Im Gegenteil berechtigt das Vorban- denſein folder Menſchen zur Hoffnung auf Neubelebung.

Denn es gibt nicht nur anſteckende Arankheiten, ſondern auch anſteckende Ge⸗ ſundheit, wenigſtens auf geiſtig ⸗ſeeliſchem Gebiete. Und eine ſolche iſt die Aultur. Freilich ſcheinen viele gegen innere Geſundung immun zu ſein; unheilbar heillos. Andere aber brauchen nur einmal eine Jeitlang unter diaͤtetiſch · hygieniſch guͤnſtige Bedingungen gebracht zu werden, und alsbald regen ſich in ihnen die ſchlummern⸗ den Araͤfte, quellen auf, erneuern, wirken ſich aus.

Eine „Seilſtätte“, die dieſen Vorausſetzungen entfpricht, in der „Mumien des Seelentums“ ganz unvermerkt zu „lebendigen Leibern“ werden, iſt Schloß Elmau.

Johannes Müller hat es begründet und vor zehn Jahren eröffnet. Theo⸗ loge, den feine innere Berufung frübzeitig von dem gewohnlichen Wege der Theologie, der auf Kanzel oder Lehrſtuhl zu führen pflegt, abgedraͤngt bat, war er jahrelang ein wortgewaltiger Wanderredner, der in der Sprache des Gegen warts menſchen die Verkehrtheit der inneren Verfaſſung und die Verderbtheit im Einzelleben und im Geſamtleben unnachſichtlich aufdeckte und mit intuitivem Blick und prophetiſcher Vollmacht die Urſachen der Seilloſigkeit bloßlegte. Aber ſeine Bußpredigt war immer eng mit der Seilspredigt verbunden. Er iſt kein Verneiner, ſondern im Gegenteil ein leidenſchaftlicher Bejaher, der in allen und im allem die immanenten Moglichkeiten liebt und die göttliche Verheißung gruͤßt und verehrt. Wenn er mit kraftvollen Spatenſtichen Scholle um Scholle hebt und wirft, und die tauſendfach verfilste kümmerliche Narbe unſerer Oberflaͤchen · „Kultur“ damit immer wieder tödlich trifft, fo fahndet er nach Quellen in der Tiefe, fo ſucht er die Grundwaſſer bloßzulegen, fo bereitet er den Boden zur Auf nahme des Samens, den er ausſtreut und den er von dem empfängt, dem er in ſtolzer Demut dient, von Jeſus.

Das iſt Müllers eigentliches Charisma, daß er Jeſus „verdeutſcht und vergegen · waͤrtigt “/. Anders ausgedrückt: Er erkennt nicht nur die zeitloſe und entſcheidende Bedeutung Jeſu, ſondern indem er fie beſtaͤndig erlebt, laͤßt er fie feinen Soͤrern zum Erlebnis werden, mißt er den Menſchen, ohne ihm Gewalt anzutun und ohne dogmatiſche Befangenheit am Menſchenſohne. So gegenwaͤrtig iſt ibm und wird durch ihn Jeſus, daß er an ihm die im Geiſterreiche ewig gültigen Geſetze auf ſolche Weiſe aufleuchten laͤßt, daß ſich vor ihrer lauteren und durchdringenden Klarheit die Probleme des Daſeins Idfen und helle Wege ins Leben eröffnen.

Nachdem nun die Zahl derer, die ſich durch Müllers Wort vor letzte Entſchei⸗ dungen geftellt faben, groß geworden war, begann er mit der Herausgabe feiner „Gruͤnen Blätter”, mit denen er ein geiſtiges Band um feine in aller Welt zer- fireute Gemeinde ſchlang und ſie in lebendiger Verbindung mit ſich hielt. Aber es bedurfte eines engeren Juſammenſchluſſes, den er durch Errichtung der Ge⸗ meinſchaftsſtaͤtte Schloß Mainberg in Unterfranken ermöglichte. Da fie ſich nach ·

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Jahren gefegneten Beſtandes als zu klein erwies, erbaute er in ©ber-Bayern zwiſchen Garmiſch · Partenkirchen und Mittenwald am Fuße der gewaltigen Wetterſteinwand das Schloß Elmau.

Muͤller ſelbſt nennt es bisweilen ein „Sanatorium für Befunde”. Es iſt eine Seilſtaͤtte, in der die Geſundheit anſteckend wirkt. Selbft wer ahnungslos hin · kaͤme, würde dort finden, was der von ihm geſuchten Erholung erſt die ſolide Grundlage gäbe: die Quellen innerer Araft.

Müllers ſonntaͤgliche Vorträge und die Frage ⸗Beantwortungen, die er je nach Bedarf veranſtaltet, find die vorne hmſten geiſtigen Gaben des Schloſſes. Es dürfte kaum vorkommen, daß nicht vielen unter den Gaͤſten zum entſcheidenden Erlebnis wurde, was fie dabei empfangen. Denn jede Rede Muͤllers und jede perfönliche Beratung, die etwa von ihm erbeten wird, ift mit dem Ernſte hoͤchſten Verant · wortungsgefübls belaſtet. Er ſchließt keine Kompromiſſe weder mit beißen, muͤden Sommertagen noch mit dem Unterbaltungsbesürfnis ſolcher, die etwa ihre Ferien in ungeftdörtem Behagen verleben moͤchten; ſondern er zeigt immer den ganzen Ernſt der Sünde und die unermeßliche Gnade Gottes.

Andern Bcedärfniffen wird im Schloſſe auf andere Weiſe Rechnung getragen; vor allem durch die Pflege edelſter Muſik und durch den Tanz. Beides gerade auch der Tanz fügt ſich hier harmoniſch dem Sinne des Ganzen ein. Es kann nichts Froͤhlicheres geben als ihn, aber es gibt kein Schwatzen und Hirten dabei, ſondern es iſt in ihm bei völliger Singabe an den Rhythmus und bei hell auf- flammender Freude eine gewiſſe ſtrenge Sachlichkeit.

Der El mauer Tanz kann geradezu als Symbol den Sinn der Elmau enthüllen: Wie der Menſch, indem er ſich dem Tanz Rhythmus ergibt, mit froher Bejahung in ihm ſchwingt, fo daß er mit feiner ganzen Perſon, mit Seele und Leib, die Me⸗ lodie geſtaltet, ſo iſt er beſtimmt, von ſeinen inneren Verkrampfungen und den Umklammerungen durch widrige Machte, die in ihm ſelber um ihn ſtreiten, gelöſt, erlöft, und dadurch faͤhig zu werden, fein Leben zu erfüllen, indem er deſſen Melo⸗ die, fein Schickſal, geftaltet. Was Johannes Müller unermuͤdlich kündet, was ſich durch die Rlänge edler Muſik uͤbermaͤchtig dem Gefühl mitteilt, was den Empfaͤnglichen (und die es nicht find, werden es hier) mit ſtummer, doch beredter Sprache die große Gebirgswelt ſagt, das bringt der El mauer Tanz mit ſchmei ; chelnden Weiſen an alle Sinne heran: Menſch, werde weſentlich l, erſchließe dich der Wirklichkeit, ſchaue in feiner Offenbarung Bott! laß dich aus deinen Ver⸗ krampfungen und Umklammerungen Idfen! werde flirt!!!

Dieſe Mahnungen aber, die auf Schloß Elmau wunderbar zuſammenklingen, fo daß jede die andere unterſtreicht und deutet, ſchließen die dort vereinten Menſchen zu einer Erlebnis · Gemein ſchaft zuſammen. Ohne daß fie ſich voreinander ent; puͤllen, erkennen fie ſich tiefer, als ſonſt und anders wo. Unter den ſtarken gemein; ſam empfangenen Eindruͤcken Hlingt in ihnen das Menſchlich Gemeinſame und übertönt die fonft fo ſchrillen Diſſonanzen auseinanderſtrebender Intereſſen. Trotz aller Trennung iſt ein Gemeinſames da, und es wird zur Gewißheit, daß dies das Weſentliche iſt.

Die Geſundheit der Seele iſt auf Schloß Elmau fo anſteckend, daß nur ro⸗ buſteſte Seilloſigkeit ihr auf die Dauer widerſtehen kann. Der Bazillus, mit dem die Atmoſphaͤre dort geſchwaͤngert iſt, heißt Glaube. Und es iſt kein ſchweifender Stimmungsglaube, keine verſchwommene Gefuͤhls ⸗Religioſitaͤt, ſondern der

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Glaube als Kontakt mit dem lebendigen Gott, dem Vater unſeres Serrn Jeſus Chriſtus.

Bultur im abſoluten Sinne kann ſich auf Erden nicht verwirklichen. Wir konnen nur von Kulturen in der Mehrzahl reden. Jede von ihnen iſt durch Raſſe und Volkstum, durch Bodenbeſchaffenheit, Klima und vieles andere beſtimmt und bedingt. Sie ſind ſo verſchieden voneinander, wie etwa die Sprachen oder die Re⸗ ligionen; bei aller Verſchiedenartigkeit aber doch, wie die ſe, Ausdruck eines Geiſtes.

Uns handelt es ſich um deutſche Aultur, die durchaus keine andere als chriſtliche Rultur fein kann. Es bedeutet kein herzloſes ſich Verſchließen gegen die Not der andern, wenn wir um unſere und nur um unſere Geſundheit beſorgt ſind; denn Aultur iſt anſteckende Geſundheit. Wie wir geneſen, geneſen die andern. Die Hoffnung aber auf unfere Geneſung zu wahrer Kultur iſt wohlbegründet, ſolange es „Seilſtaͤtten“ wie Schloß Elmau gibt. Eduard Le Seur

Eine urchriſtliche Gemeinde im Jahrhundert 3

ſtrecke Schluͤchtern Wurzburg, noch eine Stunde zu Fuß mitten hinein in die Rhön, liegt in einem Talkeſſel der Hecken Sannerz. Ein wortkarges, hartſtirniges Volk. chen ſind die Bewohner des Ortes, genau ſo ſtumm und hart wie die Fichten und Eichen, die ringsum von den Bergen grüßen. Aber wenn man ſich über ſteile Saͤnge, dichtes Geſtruͤpp hin durchgearbeitet, můhſam den Weg über ſcharfes Ge⸗ roͤll überwunden hat, Öffnet ſich der Zauber dieſes herb ⸗ſchoͤnen Rhoͤnlandes und von der Höhe herab ſieht man das Tal in dem Sannerz liegt, wie von weicher ſorgender Sand gebettet. Und alle die hierher kommen in das ſchlichte Landheim am Eingang des Dorfes und mit ben Menſchen um Eberhard Arnold in Süb- lung treten, ſpuͤren etwas von dem befreienden, frohmachenden Geiſt, den dieſe menſchen ausſtroͤmen .

Es bedurfte einer entſcheidenden Veranlaſſung um den feit vielen Jahren rin⸗ genden, mit ſich und Bott Sadernden, zum endgültigen, konſequenten Entſchluß der Nachfolge Chriſti zu bringen. In den Revolutionstagen von 1921s kam dieſe Entſcheidung zum Ausbruch. Blitzartig fielen alle kuͤnſtlichen Buliffen tbeolo- giſchen Wiſſens vor der Gewalt inneren Sehens. Wichts vermochte mehr die Lieb⸗ loſigkeit des organiſierten Chriſtentums ſchaͤrfer zu zeichnen, als ſie auch hier, an⸗ geſichts des Brudermordes, ihre Chriſtusaufgabe verleugnete. Chriſtis heiligſtes Vermaͤchtnis aber lautet: Liebet Euch untereinander liebet Eure Feinde! Und das Wiſſen von dem grauſamen: Kreuziget, kreuziget | derjenigen, denen die innere Not der Liebeſebnenden ein immerwaͤhrendes Gemahnen an ihre Phariſaͤerſeele war brachte in den Menſchen um Arnold den einen einzigen Wunſch zum Durch bruch, im immerwaͤhrenden Ringen um Glauben in Gott, die Liebe zu finden, die alles trägt, allem dient und ſich verſchenkt.

Und in dieſem ſtets erneuten Ringen um den Glauben aus der Liebe heraus, ſieht Arnold die Aufgaben des Neuen Werks das neue Werk. Sie wollen nicht beſſeres, nicht religidferes, aber auch nichts Seiligeres oder gar Neues, fon- dern einfach und ſchlicht Diener der Liebe ſein, die im unbedingten Glauben an dieſe einzigſte Macht in der Welt, ganz aus dieſer Gewißheit heraus, leben. Sie fuͤhlen ſich lediglich als das, was fie nur fein koͤnnen Menſchen. Und dieſe primi- tive Einſtellung, die keine kuͤnſtliche oder theoretiſche ift, fuhrt fie zum immer er;

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neuten Wagnis, aus dem Lebensgeſetz der Liebe heraus, alles zu wagen, um auf praktiſchem Wege zur Brüderlichkeit, zur Haſſenloſen Geſellſchaft, zur Wirtſchafts⸗ und Guͤtergemeinſchaft zu finden. Die Gemeinſchaft iſt der echte Ausdruck alles Lebendigen. Die Auswirkungen des Geiſtes, der wirtſchaftlichen Entwicklung, bringt die Bewegung in die radikale Chriſtengemeinde, die ihr den eruptiven Charakter verleiht und fie lebensfaͤhig erhaͤlt. Denn in der gegenſeitigen Überwin- dung aus der Jentralſtellung der gemeinſamen Liebe, des gemeinſamen Glaubens, liegen die Bräfte, die eine ſolche Gemeinſchaft trägt. Aber dieſe Tatſache iſt es, die ihr auch den Mut und die Freude ſchenkt, in harter Arbeit unter Aufgabe aller Exiſtenzſicherungen, eine mit ganzer Liebe zur Tat draͤngende Arbeit zu leiſten.

Exiſtenzwille genügt nicht zu einer erfolgreichen Lebensgemeinſchaft. Dieſe kann nur aus dem Geiſte, aus dem Überfluß an Leben, geboren werden. Und Gott ift die Quelle. Nur aus der uͤberfließenden Gottesliebe ift eine fruchtbare, „gluͤck⸗ felige” Gemeinſchaft Aller möglich. Lieben aber iſt dienen. Und im felbftverftänd- lichen Geben liegt die aufbauende Araft, die dem egoiſtiſchen Trieb im Menſchen die Spitze nimmt, und ihn als Gemeinſchaftsglied aus Wiſſen um das gemeinſame Schickſal, dem Menſchen die inneren Zweifel nimmt. Das iſt der praktiſche Jweck der Neuwerkler: Aufheben der Gegenſaͤtze die Vorurteil geſchaffen und an ihrer Stelle Einſetzen des Verbindenden, die gottgeborene Liebe.

Die liebende Gewaltloſigkeit iſt das oberſte „Geſetz“ der Gemeinde. Und die Er⸗ kenntnis, daß der Menſch, entkleidet aller Macht, die er ſich auf Boften feiner Mit menſchen anmaßt, doch nur ein bilflofes Weſen, ganz dem Geſchick der Welt an⸗ beimgegeben iſt, hat fie zu ſchlichten, demuͤtigen Menſchen gemacht, denen Be⸗ ſitz, Rang, Titel oder das Recht auf Recht, ſprich Juſtiz, als unberechtigt und un⸗ gerecht erſcheint: „Wir fühlen uns gluͤcklich an keine anderen Waffen als an die des liebenden Geiſtes zu glauben, wie er in Jeſus Tat geworden iſt. Die beſitzloſe, ge⸗ waltloſe und rechtloſe Liebe verſtehen wir als gemeinnuͤtzige, produktive Arbeit für ein menſchenwuͤrdiges Leben aller Menſchen.“

Und aus dieſer Einſtellung heraus ſteht das Neuwerkhaus in Sannerz im Dienfte jener Menſchen, denen die Sehnſucht nach Freiheit und Natürlichkeit, nach Gerechtigkeit und innerer Befriedigung Lebensziel iſt. Ob ſie im Chriſtusglauben ſtehen oder nicht, ihnen allen ſteht das ſtille Saus in der Rhoͤn offen. Friedens freunde aller Art treffen fi dort im gemeinſchaftlichen Suchen nach Bruͤderlich keit und Lebensgemeinſchaft.

Praktiſch gehen die Wege der Neuwerkler uͤber Gaſtfreundſchaft ohne Unter⸗ ſchied und ohne Geldforderung, Kinderhilfe, Erziehung, Unterricht und Familien gemeinſchaft ohne Entgelt.

„Unſer Dienſt iſt Erziehungsarbeit in dem neuen Sinne, daß durch den leben⸗ digen Chriſtus von innen her die guten Entſchluͤſſe und Rräfte und Arbeiten wie von ſelbſt aufbrechen. Junaͤchſt gehort unſere Arbeit den Kindern. Fuͤr fie find wir alle da. Alte und neue Sprachen, Naturleben und Aunſt follen außer den not wendigſten Realfaͤchern nahe gebracht werden.“ Dazu die praktiſchen Arbeiten auf den Gebieten des Saus haltes und Sauswirtſchaft im weiteſten Sinne. „Wir kennen keine Aindererziehung, die nicht in erſter Linie eine Erziehung an den Er⸗ zie hern iſt, groß wie klein prüft gemeinſam die gemeinſame Erfahrung.“ In dieſer Form ſoll ſich die Landſchule und die Lebensſchule entwickeln, die wir heute leider noch „Volkshochſchule“ nennen.

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Die Tätigkeit des Neuwerk · und Eberhard Arnold Verlages iſt dem Dienſte dieſer Gemeinſchaftsarbeit eingeordnet. Er hilft den Suchenden und Fernſtehenden auf dem Wege zur inneren Freiheit und Wahrhaftigkeit. Alle anderen Einrich ; tungen der Neuwerkler, wie Sandwerkerftätten, Candwirtſchaft und Bärtnerei, Bunftgewerbe, dienen zur Intenſivierung des Willens zur Arbeitsgemeinſchaft. Denn „Arbeitsgemeinſchaft ſucht die Wurzeln des gemeinſamen Lebens und wird zur Glaubensgemeinſchaft.“

Und alles durchſonnt der warme Strom innigen Gottesglaubens. Im raſtloſen Eifer der Neuwerkler ſpuͤrt man den lebendigen Liebesgeiſt der ſtaͤndig um Blau- ben kaͤmpfend, immer wieder den Willen zur Liebe zeigt, fo daß man nicht anders ſagen kann, die Tat Eberhard Arnolds und ſeiner Getreuen bedeutet eine freudige Zoffnung aller derjenigen, denen die Lüge um die Geſtalt Jeſus Chriſtus ein Ekel wurde.

Und die „Religion“ dieſer Menſchen? Ihre Religion iſt Chriſtus. Sie wiſſen, ohne feine Araft vermögen fie nichts. Das iſt ihre Religion.

Das Ganze iſt fo ſchlicht, das „Problematiſche“ fo unweſentlich, daß der „wiſſen ; ſchaftlich“ Unterſuchende mit einem verlegenen Lächeln die Machtloſigkeit feiner Kunſt einſehen muß, denn das Einfache macht uns ſchweigen vor feiner Einfach⸗ beit.

Und wir ſtehen wieder am Anfang der Tage, als der Seiland ſegnend den Ain⸗ dern die Sand auflegte und ſprach: Wenn ihr nicht werdet wie die Rinder, werdet ihr das Simmelreich nicht ſchauen

Das iſt der Bern der Urchriſtengemeinde in Sannerz. Glauben und Lieben unter Abſtreifung aller intellektuellen, kulturellen und ſonſtigen Vorurteile, denn alles iſt einfach eingerichtet, aber um es zu wiederholen das Einfache macht uns Schweigen vor feiner Einfachheit. Das Romplizierte ſchafft ſich der Menſch felbft in feiner inneren Not und Ohnmacht gegenüber feinem Schoͤpfer. Aber der Glaube an dieſe einzigſte Wahrheitsquelle läßt jene Liebe erſtehen, durch welche Kraft das neue Werk lebt! Zeinz Ploum

Jede Betrachtung der gegenwärtigen Don der Alaſſe sum Stand ſtaatlichen und geſellſchaftlichen Verhaͤlt · niſſe kommt irgendwie zu dem Ergebnis, daß das Brundübel die völlige Atomi ; ſierung des Volkes, die Aufldfung aller naturlichen und gewachſenen Gemein⸗ ſchaftsbindungen iſt. Die „Ideen von 1789“ glaubten, die Freiheit zu bringen, in- dem fie alle veralteten Bindungen des Einzelnen zerſchlugen und zugleich das Ent · ſtehen neuer Bindungen verboten. Die franzoſiſche Revolution verneinte ent · ſchieden das Roalitionsrecht, da man darin die Moglichkeit neuer Feſſelung des Individuums ſah. Das Volk aber vermag nicht als aufgeloͤſte Maſſe von Einzelnen zu wollen und zu entſcheiden. Wur in feſten Gemeinſchaften waͤchſt Urteil, Wille, Entſcheidung für Jukuͤnftiges. Indem das Werden und Wachſen neuer organiſcher Bindungen bekaͤmpft wurde, verlor das Volk in Wahrheit ſeine Freiheit. Denn entſcheidend iſt nicht die Freiheit wovon? (das Jerbrechen überlebter Formen), ſondern die Freiheit wozu? (organiſche Willensbildung in neuen, organiſchen Ge ; meinſchaften). Das ganze J9. Jahrhundert iſt ein Suchen nach neuen, den wirtſchaftlichen, politiſchen und kulturellen Verhaͤltniſſen angemeſſenen Gemeinſchaftsformen. Die

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ſtaatsrechtlichen Beſtimmungen baben diefes neue Werden unbeachtet gelaſſen. Im Gegenteil: im ſelben Augenblick, als die Umriſſe der neuen, gewachſenen Ge⸗ meinſchafts bildungen ſichtbar wurden, erfuhr der ſtaatsrechtliche Formalis mus in der Weimarer Verfaſſung feine letzte Uberſteigerung.

Aber die immer ungeheuerlicher werdende Wahlenthaltung (Badiſche Landtags; wahl 19225 rund 500% ͤ; preußifche Provinziallandtags wahlen 30—50% wahl beteiligung l) zeigt, daß das Volk den Unfug des Wahlſyſtems, wenn auch nicht durchſchaut, ſo doch ablehnt. Nach dem ſehr richtigen Wort Richard Wagners braucht ein Volk ja nicht zu wiſſen, was es will, wenn es nur genau weiß und merken läßt, was es nicht will! Die Scheinfreiheit des das Volk atomiſierenden Millionenwahlrechts aber lehnt das Volk mehr und mehr ab!

Wie aber ſoll neue Bindung, neue organiſche Gemeinſchaft werden?

Auch bier haben die letzten Jahre die Überfteigerung eines Grundſatzes gebracht, der nun daran zugrundegehen muß: die Alaſſenorganiſation!

Man kann naͤmlich die Menſchen einteilen und verbinden nach dem Maß von Rechten, deſſen ſie teilhaft ſind, oder das ſie miteinander erobern wollen. Dann teilt man etwa: in Serrſchende und Beherrſchte, in Befe hlende und Gehorchende, Fuͤhrende und Gefuͤhrte. Und vor allem auf wirtſchaftlichem Gebiet: in Beſitzende und Nichtbeſitzende, Ausbeuter und Ausgebeutete, Rapitaliften und Proletarier. Was nach dem Maß feiner „Rechte“ zuſammengehoͤrt, bildet eine Alaſſe. Und wie eine Seuche hat die Sucht nach klaſſenmaͤßiger („horizontaler“) Organiſierung den ganzen Volkskörper durchraſt. Was iſt heute nicht alles organiſiert

Und trägt doch den Namen „Organiſierung“ zu Unrecht! Denn find das lebens faͤhige, eigenwuͤchſige Glieder eines lebendigen Ganzen? Was find Befehlende für ſich, ohne die Gemeinſchaft mit den Gehorchenden? Was find Ausführende allein, ohne die Gemeinſchaft mit dem leitenden Kopf? Ihr Daſein erbält ja erſt Sinn durch ihre Funktion. Dieſe aber ift nur moglich im Juſammenwirken beider Pole, die die Blaffenorganifation auseinanderreißt!

Ganz anders, wenn die Menſchen ſich gliedern nach der Art der Pflichten, die ſie im Leben des Volksganzen zu erfüllen haben. Wie der lebendige Aoͤrper Organe braucht für die verſchiedenen Lebens verrichtungen, fo auch der Volkskörper. Deſſen Organe aber find die Staͤnde. Stand iſt alſo alles, was dem Ganzen gegen · über die ſelbe Pflicht hat; gleichgültig, ob der Beitrag zur Erfüllung dieſer Pflicht durch Befehlen oder Gehorchen, durch Angeben oder Ausfuͤhren geleiſtet wird. Von der Pflicht aus geſehen gehort deshalb aufs engſte zuſammen, was das „Klaſſenrecht“ ſcheidet. Der echte Stand iſt der gerade Gegenpol der Alaſſe.

Saben wir ſolche Stände?

Die Erinnerungen der Vergangenheit, die Bitterkeit der Gegenwart, die ſtaats · und geſellſchaftsrechtlichen Formulierungen ſind ihrem Wachstum entgegen. Aber größer als die wirtſchaftliche Not und ſtaͤrker als die Scheidung nach den Rechten iſt der Drang des Menſchen nach einem Sinn für feine Arbeit und für fein Leben. Der Sinn der Arbeit liegt aber niemals in ihrem Ertrag für mich, ſondern in ihrer lebendigen Beziehung zum Volksganzen. Daher erbält fie ihre Wertbetonung und ihre Wuͤrde. Wo darum der Wert des Menſchen ſich an ſeiner Pflicht ermißt, da ver · Vgl. die prachtvollen Darſtellungen der Stände, ihrer Entwicklung und ihres

Ethos in „Die Deutſchen Stände in Einzeldarſtellungen“ (J2 Bände, je 7 m, Jena, Eugen Diederichs.)

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läuft die Scheidung oft ſehr anders, als wenn mechaniſch nach dem Recht gefragt wird. Wie hoch waͤchſt da die Wuͤrde von manchem, deſſen Maß an „Rechten“ ſehr gering iſt !

So traͤgt die echte Standesgeſinnung vor allem ihren Lohn in ſich ſelbſt. Sie gibt dem Menſchen einen Sinn für feine Arbeit uber die bloße Lohnbeziehung hinaus, ſie macht ihn zu einem in ſich wertvollen Glied des Volkskoͤrpers und gibt ihm darin ſeine Menſchenwuͤrde, die nie eine abſtrakte Satzung, ſondern immer kon⸗ kretes Erlebnis ſein muß.

Und dieſe Geſinnung waͤchſt doch da und dort in allen Staͤnden. Mehr und mehr wird es möglich, daß ſich Leiter und Geleitete, Vorgeſetzte und Untergebene auf dem Fuße der Gleichheit zuſammenfinden, der Gleichheit, die das Bewußtſein der ge meinſam zu erfüllenden ſozialen Aufgabe ſchafft. Der größte Verſuch der Art war die „Arbeitsgemeinſchaft“ der Unternehmer und Arbeiter, die Stinnes und Cegien im Serbſt 19 1s begruͤndeten und die in welcher Form auch immer das Jiel der ſozialen Bewegung ſein muß. Abnlichen Beſtrebungen begegnen wir in vielen Berufsgruppen (3. B. auch bei den Buchhaͤndlern), wo überall das Gefuͤhl gleicher Verpflichtung gegenüber dem Volksganzen gleiche Wurde gibt und damit Gemeinſchaft webt zwiſchen Leitenden und Ausfuͤhrenden.

Beſonders ſichtbar iſt die ſtaͤndiſche Juſammengehoͤrigkeit, das Merkmal Porn gleichen Pflicht, bei denjenigen, denen das Werk der Bildung und Erziebung des Nachwuchſes der Nation anvertraut iſt. Aber wie hat trotzdem auch den Lehr ſtand die Peſt der KAlaſſenſcheidung zerfreſſen. Welche Blüfte zwiſchen oben und unten, zwiſchen akademiſchen und Volksſchullehrern, zwiſchen Miniſterial · und Aufſichtsbeamten und Klaſſenlehrern, zwiſchen Univerſitaͤt und Dorfſchule ! Be⸗ ſteht hier uͤberhaupt noch eine Ahnung gleicher Verpflichtung gegenüber dem Volksganzen, ein Beim ſtaͤndiſcher Gemeinſchaft? Auch der Lehrſtand ift wie die Bildung felbft weithin der klaſſentrennenden 3erfläftung verfallen. Gier iſt des halb kein unwichtiger Anſatzpunkt für das Werden neuer, organif cher Volks; gemeinſchaft.

Wir ſind beſcheiden geworden. Aber ſchon, daß ſich die ſo verſchiedenen „Alaſſen“ angehörenden Gruppen eines Berufsſtandes einmal zu einer gemein; ſamen Arbeit zufammenfinden, hat Bedeutung weit über den Wert des dadurch zunaͤchſt Geſchaffenen hinaus. In dieſem Sinn, als auf ein Symbol keimhafter ſtaͤndiſcher Gemeinſchaft, möchte ich auf das „Jahrbuch badiſcher Cehrer“ hin⸗ weiſen, das Beitraͤge aller Gruppen von Lehrenden, von der Volksſchule bis zur Sochſchule und zum Unterrichtsminiſterium, enthalt. Sein Erſcheinen allein be- weiſt, daß man ſich der Gemeinſamkeit gleicher Dienſtſchaft am Volk bewußt zu werden beginnt.

Aber auch abgeſehen von dieſer ſymboliſchen Bedeutung bietet dieſes Jahrbuch ein feſſelndes Bild des Aulturwillens im Lehrſtand der deutſchen Suͤdweſtmark. Enthaͤlt es doch u. a. Beiträge von 5. Rickert, dem Saupt der „ſuͤdweſtdeutſchen Schule“ („Der Befang der Erzengel in Goethes Fauſt“); Ernſt Krieck („Die Idee einer deutſchen Bildungs verfaſſung“); Ernſt Soffmann ⸗Seidelberg („Aarl Witt“); Spitz müller („Muſik im Mittelalter“); J. A. Beringer („Der romantiſche Schwarz zer W. Andreas (Ordinarius in Seidelberg : „Die erzieheriſche Bedeutung der

Das Jahrbuch der Pa DER Cehrer“ (Verlag G. Braun, Karlsruhe; 260 S. 14 Bildtafeln; 3 6. N geb.)

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Geſchichte für die Diplomatie”); RA. A. Bergmann („Mittelalterliche Dichterperſoͤn⸗ lich keiten der Reichenau“) uſw. Dieſes Jahrbuch darf des halb weit über Badens Grenzen hinaus Beachtung beanſpruchen. Sein Wert wird durch 14 Bildtafeln nach badiſchen Bänftleen allein ſchon zu einem dauernden gemacht.

Pbilipp Sördt

g Programm An der Schwelle des vierdimenfionalen Feitalters“?] 5 en

laden mit Überbliden und Ausblicken, getragen von dunklen Energien, bilden ein Jeichen unſerer Gegenwart auf allen Gebieten, wo man denkt und ſchreibt. Das Buch Friedrich Kleins verfolgt, wie ſchon fein Titel verrät, die Abſicht, dem Ceſer Harzumachen, daß und inwiefern wir mitten in einer Jeitwende ſtehen. Es will nicht beſtimmte Forſchungsergebniſſe bringen, vielmehr die Tragweite des neuen Schöpfertums erfaſſen (S. 97), das die Gegenwart erfüllt und das berufen iſt, einer neuen wahrhaften Bultur den Weg zu bereiten. Ju dieſem Iwecke lieſt es aus dem in Suͤlle und Fülle vorliegenden geſchichtlichen und ethnographiſchen material das aus, was für die neue Kultur entſcheidenden Wert zu haben ſcheint (S. 99) und was der Forderung entgegenkommt, ſich zu großen Linien ſchoͤpferiſch geſtalten zu laſſen (S. Joo). Es iſt unmoglich, dies in einem Referat mit einiger Vollſtaͤndigkeit auch nur anzudeuten. Ich will die wichtigſten Leitgedanken heraus · beben, indem ich mich zum Teil woͤrtlich an die Ausdrucksweiſe des Verfaſſers halte.

In Kap. I., überfhrieben „Betrachtungen über die tieferen Urſachen der Welt⸗ kataſtropheꝰ, zeichnet der Verfaſſer den Gang der deutſchen Geſchichte nach, wobei er abweichend vom ublichen „Schema! ben pſychologiſchen und den geographi⸗ ſchen Momenten uͤberragende Bedeutung beimißt. Juerſt gedenkt er der Ur⸗ feindſchaft Deutſchlands und Frankreichs, die in einer Art Bruderhaß gründet und mit einem Jwieſpalt innerhalb der deutſchen Seele ſelber zuſammenhaͤngt. Die deutſche Seele trägt eine Doppelheit von germaniſchem und romaniſchem Geiſt in ſich, die bisher eine Syntheſe noch nicht gefunden, die die Deutſchen verhindert hat, ſich ſelbſt zu finden, und fie wiederholt zum Rulturbünger fremder Volker ge⸗ macht hat. Die ihnen etwa zugewieſenen „Aufgaben“, z. B. die Aufgabe einer Aul⸗ turmiſſion im Oſten (Areuzzuge), wurden mißverſtanden, d. h. als voͤlkiſche nicht begriffen (S. 16). Als Grundeigenſchaften ſpricht Verf. dem Deutſchen u. a. zu: einerſeits Geſchaͤftstuͤchtigkeit, Wuͤchternheit; anderſeits Pedanterie, Mangel an ele mentarſtem Rechtsgefuͤhl, Luft am Renommieren und (neudeutſche) Prahl · ſucht (S. 19). Gerade dieſe guten wie ſchlechten Eigenſchaften mußten bezw. mu · fen kraß hervortreten in einer Periode, wie wir fie ſeit der Reichsgruͤndung erlebt haben, naͤmlich in einer Periode der Veraͤußerlichung und Materialiſierung. Waͤhrend nun gegenwärtig das Nationalgefuͤhl über alle Maßen uͤberreizt und mit Saß durchſetzt iſt (S. 18), bat in Wahrheit die Idee der Nation im alten Sinne ihre Rolle feit dem Weltkriege ausge ſpielt. Sie war die Idee des J9. Jahrhunderts. Vorher diente alles der Idee der Kirche, und künftig foll es anderen, neuen Soff⸗ nungen und Jielen dienen (ſ. unten lh).

für Kap. 2., uͤberſchrieben „Weſtöoͤſtliche Aultur vermittlung“, iſt grundlegend die Unterſcheidung zweier Aulturtypen, eines urſpruͤnglich nordiſchen und eines

F. Klein, An der Schwelle des vierdimenſionalen Jeitalters. Auriga ⸗Verlag. Darmſtadt / Berlin. 1924.

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oͤſtlichen. Dem erſten entſpricht eine patriarchaliſch telluriſche Kultur (mit den Ceitbegriffen der Zeit, der Bewegung, des Schaffens, und mit der „3“ als Jahl · fpmbol) ; dem Sftliden Typ entſpricht eine matriarchaliſch⸗ chtoniſche Aultur (mit den Leitbegriffen des Raumes, der Ruhe, der Geſtaltung, und mit der „1“ als Jahlſymbol). „Unſere“ eigentliche Wiege iſt die hypothetiſche See · Aultur der Nord volker. Dieſe brach ſpaͤter in die matriarchaliſch chtoniſche Aultur ein und wurde zwar von ihr befruchtet, ging aber dabei als ſelbſtaͤndige Aultur ein (S. 28). Sie iſt ſeitdem auf den Oſten angewieſen als den unverſiegbaren Born zur Er⸗ neuerung namentlich in den uͤberſinnlichen Belangen (S. 27). Leiser hat Europa bis her einſeitig nur „die intellektuellen Mutterwerte des Oſtens weiter ausgebaut, aber die gefüblsmäßigen vernachlaͤſſigt“ . Folge: die europaͤiſche Salbbildung, Mangel an kultürlicher Durchdringung aller Bevoͤlkerungsſchichten, und daher jene „exzentriſch · wirtſchaftlich ⸗kapitaliſtiſche Einſtellung .. „, die heute Europa zum Chaos führt“. (S. 33). Nach einem Überblid über die oͤſtlichen Völker der Chineſen, Japaner, Inder, Perſer, Araber, Agypter werden ſchließlich dem ruſſi⸗ ſchen Volke, in dem ſich der Anſturm zweier kultureller Welten zur Syntheſe voll⸗ ziehe, die böchften Chancen zugeſprochen, ſowohl in kultuͤrlicher wie politiſcher Sinſicht (S. 43). Immerhin nur inſofern, als feine Reimkraft nach des Verfaſſers Anſicht die führende Idee einer Weltkultur konzipieren wird, während die vor handenen kulturellen Anfäge auf überwiegend deutſchen Anteil hinweiſen (S. 48). Die kulturellen Anſaͤtze werden in Aap. 3 behandelt unter der von dem Verf. als früherem Militaͤr wohl nicht zufällig gewahlten Überfchrift „Aufmarſch der ver⸗ ſchiedenen Disziplinen zur neuen Aultur“. Das Bapitel ſoll vornehmlich die „epo chale Bedeutung“ aufzeigen, die dem „ungeſtuͤmen Drang der deutſchen Jugend“ beizumeſſen iſt (S. 48). (Jugend hier natuͤrlich nicht im Sinne von phyſiologiſcher Jugendlichkeit verſtanden !) Jch säble die hauptſaͤchlichſten Namen auf, die bier an uns vorüberzieben : Gei⸗ len (als Verfechter eines neuen Unendlichkeitsbegriffes), Einſtein, Sörbiger, Spengler, Frobenius, Banſe, Steiner, France, Seim, Selmuth Schenck; ſodann insbeſondere F. Senning, Adrien Turel, Ferd. Jezek und Fuhrmann als Vertreter eines „Quaternismus“, d. h. einer Weltanſchauung, in der die Jahl „1“ grund legend wirkt und namentlich auch die Struktur der kommenden Geſellſchaft be⸗ ſtimmen ſoll. Von dieſen Namen abgeldft treten folgende Sachthemata in den Ge⸗ ſichts kreis: Pſychoanalyſe und allgemeine Medizin, Raſſenkunde, Schul und Ju⸗ gendbewegung, bildende Bunft, Muſik, Dichtung und hier, in der Dichtung, er- ſcheint der Ruſſe Doſtojewsky als der Titan des Oſtens, als der Chriſtus der neuen Jeit. Nachdem dann noch verſucht iſt, die Marxiſtiſche Bewegung als eine ge; ſchichtliche „Stilwidrigkeit“ größten Stiles nachzuweiſen, als einen aus Saß ge- borenen Jwiſchenakt, der den ruhigen Strom geſchichtlicher Entwicklung unter- brochen hat (der Rezeption des roͤmiſchen Rechts darin vergleichbar), werden ge- wiſſe neueſte Errungenſchaften wie Betriebsräte, Arbeitsgemeinſchaften, Plan- wirtſchaft u. a. als Neuanknuͤpfungen der in der Renaiſſance abgeriſſenen Faͤden charakteriſiert. Einſtweilen, fo Klingt das Kapitel aus, „bat die Prieſter⸗ ſchaft das Wort“ Prieſterſchaft im Sinne einer heute noch unſichtbaren Zunft der erkennenden. Deutſchland aber, „des Chaos vielgeliebter Sohn“, wird keine andere Wahl haben, als entweder der geiſtige Lieferant der anderen Volker zu wer; den, oder aber in Form einer Symbioſe ſich eine neue Weltgeltung zu erringen (S. 94).

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Das leitet über zu den Gedankengaͤngen des letzten Kapitels („Löfungsverfude der Jeitprobleme“), die um die Ideen der Gemeinſchaft und des Gpfers kreiſen (S. 100) und in die Vorausſchau einer Epoche hoͤherer Kultur auslaufen. Diefe denkt der Verf. ſich politiſch mit einer als Ideal geſetzten neuen Allmenſchheit ver⸗ bunden, zu der wir vielleicht auf dem Wege über ein Alleuropa (S. Jos), freilich nicht mit paziſiſtiſchen Methoden, gelangen, und in die der Deutſche als metaphy · ſiſcher Einſchlag und als Opfer eingeht (S. Jos / o7).

em Verfaſſer ſchien die Aufgabe, die er ſich geſtellt hat, ſo dringlich, daß, wie

er ſelbſt im Vorwort fagt, „Eile die Feder beflügelte“ und ihn antrieb, zunaͤchſt einmal in Bauſch und Bogen auszuſprechen, was ihm auf dem Serzen lag. Wer in bezug auf formale Akrurateſſe Anſpruche ſtellt, wird erſt über einige unguͤnſtige „Vorzeichen“ hinwegkommen müflen. Der Verf., dem es offenbar leicht fallt, einen fläffigen, ja einen recht guten Stil zu ſchreiben, leiſtet ſich unnoͤtigerweiſe ſicht · lich nur aus feinem Eiltempo heraus im einzelnen ſprachliche Sorgloſigkeiten, die durch nochmalige Feilung der Säge muͤhelos zu befeitigen wären. Eben ſo wäre das die Lektuͤre erſchwerende und m. E. zu tadelnde Fehlen jeglichen Inhalts⸗ verzeichniſſes ohne große Muͤhe gutzumachen. Eher Umarbeitung als Nach; beſſerung wurde es fein, das unüberſichtliche Durcheinander halb fachlicher, halb perſonaler Geſichtspunkte in Kap. 3 durch eine ſtraffe logiſche Gliederung zu er ; ſetzen.

Man verzeiht gern ſolche „Außerlichkeiten“ ‚wo man hinter ihnen ſtarke und echte Impulſe vermuten darf; und das iſt hier zweifellos der Fall. Alein teilt mit Spengler die Gabe, weite hiſtoriſch · ethnographiſche Juſammenhaͤnge zu über- ſehen und fo zur Syntheſe zu bringen, daß es einen Alang gibt. Alein gibt weniger als Spengler: naͤmlich nur eine vorläufige Uberſchau, die kaum erkrnnen läßt, was in dem Autor an originaler Kraft ſteckt. Aber Alein gibt, nach meinem Geſchmack, beſſer als Spengler: weil ihm naͤmlich alles Auffpielerifche und Proteſtſuͤchtige (gegenüber der akademiſchen Forſchung) fehlt, trotz feiner Sympathie mit den Außenſeitern der Wiſſenſchaft, und feines ſchoͤnen Verantwortlichkeitsgefühls gegenüber den unbekannteren „einſamen geiſtigen Vorkaͤmpfern“ der Jeit (S. Joo). Ich perſoͤnlich glaube in dem Buche manche guten Qualitaͤten eines deutſchen Offi⸗ ziers zu fpären. —- Der Verfaſſer tritt in dem Sauptteile, d. b. in Aap. 3 und 4, gar nicht als Wiſſenſchaftler auf; eher wie ein liebenswuͤrdiger Gaſtgeber, der die Wiſſenſchaften zu ſich eingeladen hat und fuͤr jeden ſeiner Gaͤſte ein paar anerken · nende Worte zu finden weiß. Sinter dem Gaſtgeber aber ſteckt der Aulturingenieur, der Mann des Tuns, der Befinnung, des Bauwillens: ein Menſchentyp, wie * unſere Jeit wohl braucht.

Daß der Verf. ganz poſitiv gerichtet iſt und Kritik an feinen „Gaͤſten“ moͤglichſt niederhaͤlt, iſt gewiß ein feiner Jug. Aber wir muͤſſen doch fragen: find die „Gaͤſte“ nicht zu ſubjektiv ausgewählt, fpiegelt ihre Juſammenſtellung nicht zu ſehr noch die „zufällige” Geſchmacksrichtung des Verfaſſers ſtatt der objektiven Vertretung unſeres heutigen Befamtgeiftes? War es Abſicht, fo Vieles und Weſentliches zu uͤber · geben, was heute von ernſthaften Gelehrten vielleicht ſchwereren Gewichtes als der vom Verf. fo ſehr gelobte Soͤrbiger geleiſtet wird? Sicher nicht; der Verf. hat dafür geſorgt, daß man ihn richtig verſtehen kann, wenn man will:

„Mein kompilatoriſcher Geiſt und mein Univerſum reichten nicht aus, alle die

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Repraͤſentanten des neuen Lebensſtiles in einem Verſuchsrahmen zu vereinigen, oder gar in die wiſſenſchaftlichen Fachgebiete einzudringen.“ (S. 99.) Dies läßt hoffen, daß der Verſuchsrahmen ſpaͤter einmal erweitert werden möchte.

Über die logiſche Durcharbeitung des Aleinſchen Gedankengefuͤges aͤußerte ich mich bereits. Im übrigen will ich mit N. nicht daruber rechten, wie weit es ihm ge- lungen ift, feine Leitbegriffe überall klar · und namentlich ſicherzuſtellen. Jwiſchen manchem Geſchliffenen und Blitzenden findet ſich auch noch genug des Ungelaͤuter ten, um nicht zu ſagen: des Vagen. Das Letzte ſcheint mir ganz beſonders von der den Buchtitel hergebenden „Vierdimenſionalitaͤt“ zu gelten, die doch die Phyſiog⸗ nomie der Fünftigen Geſellſchaft beſtimmen ſoll und daher im Sinne des Buches eine zu ſchwer wiegende Bedeutung hat, als daß ſie mit wenigen Bemerkungen hier und da (3. B. S. 80 / 81) genugend erflärt wäre. Unter der 4. Dimenſion wird naͤmlich nicht etwa die Zeit verſtanden, ſondern etwas Raͤumliches, wobei es ſich, fo wie ich es nur zu verfteben vermag, lediglich um raͤumliche Symbole gewiſſer tranſzendenter (d. h. denn doch raum · wie zeitloſer l) Verhaͤltniſſe handelt. Die hier gemeinten tranſzendenten Verhaͤltniſſe verraten ſich in den zahlreichen Analogien, die alle Erſcheinungen der Natur durchſetzen, und find als metaphyſiſche „Korre ; ſpondenzen (Entſprechungen l) zu denken. Klein fpricht zu dieſem Thema nicht etwa nur feine Privatmeinung aus, ſondern macht ſich zum Wortfuͤhrer einer Gruppe neuerer, intuitioniſtiſch arbeitender Denker, die ſich als „Quaterniſten“ zu einer Arbeitsgemeinſchaft zuſammengetan haben, und zu denen u. a. die oben er⸗ waͤhnten Turel und Senning gehoren. Ihnen wie mir war es gleichermaßen Über · raſchung, uns in der heiligen Vierzahl zu begegnen, im „Numerus mystficus“, wie ich ibn in meinem Werke „Chaotica ac Divina“ proviſoriſch genannt habe. Was die „Quaterniſten“ den „neuen Raum“ nennen, ſcheint mir ein neues Weltbild zu fein, das die Welt unter Bevorzugung des Geſichtspunktes der Statik als ruben- des Gewoͤlbe, als Dom (S. 68) ſpiegelt. Ein ſolches Bild zu ſinden: daran arbeiten in Deutſchland heute allerdings viele Böpfe und Serzen. Und bei mancher Ver⸗ ſchiedenheit im übrigen weiß ich mich gerade im Bilde eines zu bauenden Domes mit dem Verf. einig, und es ſei mir erlaubt, auf S. 8 der „Chaolica ac Divina“ zu verweiſen. Aber nicht dieſe formale, ſondern andere „wichtigere“ ubereinſtimmun · gen find es, die meine bejahende Grundhaltung gegenüber dem Kleinſchen Buche beſtimmen. |

I. Alein ſagt: alle menſchlichen Wahrheiten find relativ, doch der moderne Rela⸗ tivismus beutet dies aus, „um der angefaulten Moral einer dekadenten Kultur die Kruͤcken für ihre Geſetzmaͤßigkeit zu leihen“. Glaͤnzend.

2. Klein fordert eine organiſche Erfaſſung von Welt und Leben, er fordert Be- meinſchaftsbetaͤtigung und „Mitatmen mit der Natur“ (S. Jos) im Gegenſatze zu analyſierender Jerſetzung. In dieſer Forderung find ſich heute ſchon die Fuͤhrenden einig.

3. Blein bejabt, im Gegenſatze zu Spengler, eine weitgehende Gemeinſamkeit aller großen Kulturen (S. 27) und macht fie auch glaubhaft. Nur fie laͤßt die Soff⸗ nung wachſen auf dereinſtige Syntheſe der Volker. Doch möchte ich glauben, daß dieſe Syntheſe nicht ſich darin erſchoͤpfen kann, „Extrakt aus den Geiſtes · und Be fuhls werten der ganzen Erde“ zu fein (S. 40), ſondern daß „Allquid novi“, etwas Neues, als zuſammenſchmiedendes Element hinzukommen muß.

4. KAleins Optimismus geht fo weit, den Gemeinſchaftsgedanken auf die bisher

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unter ſich nicht verbundenen Außenſeiter der Wiſſenſchaft ausdehnen zu wollen. Eine Jentralſtelle fol fie, dieſe Repraͤſentanten des unbewußten Schoͤpfertums unſeres Geiſtes, zuſammenfaſſen und ſich den Univerfitäten zu Silfsdienſten an- bieten (S. 101/102). Wie etwa Senry Ford fragt: „Warum arm fein?!" fo fragt Klein ganz glaͤubig: warum follen ſich große Ideen erſt nach dem Tode ihres Ur⸗ bebers durchſetzen? (S. 3). Ja, warum? Es hat denn doch wohl einen tiefen Grund. Mit dem Serzen wohl, doch mit dem Kopfe kann ich hier mit dem Verf. nicht mitgehen. Um einer tieferen Begruͤndung (von der notwendigen Tragik ſchoͤpferiſcher Einſamkeit) auszuweichen, ſage ich dies: ich glaube nicht an Univer⸗ fitäten, die an ein „grandioſes CLaienſchöͤpfertum glauben konnten und Luft haͤt⸗ ten, es wohl noch zu fördern. Sier wird eine Coincidentia oppositorum verſucht, eine Juſammenſpannung von Unvertraͤglichkeiten. Wohl laufen Wolkenwaſſer und Quellwaſſer zuletzt in einem Gemiſch zuſammen, doch nie werden Wolke und Quelle ſich um ihren Rang einigen; jede wird ſich wichtiger vorkommen, jene Iffentlich am Simmel haͤngend und legitimiert, diefe heimlich verborgen und nur yfaktiſch“ freigegeben, ſoweit fie durch Riſſe und Spalten eben einen Weg zu finden vermochte! Anderſeits werden auch die wahren Schöpfer einerlei ob Akade ; miker oder Laien unter ſich nicht fo in Gemeinſchaft arbeiten konnen wie die Fachgelehrten unter ſich. Wohl geht Wolke mit Wolke zwanglos zuſammen aber Quelle mit Quelle.. . Zier iſt irgend etwas Weſentliches noch nicht richtig gewuͤrdigt etwas, was uͤberhaupt unſere unter Programmworten ſtehende Jeit völlig uͤberſieht. Der Verf. und viele moderne Sucher wurden es zu ihrer Über- raſchung und Bereicherung finden in einem Buch des Bölner Philoſophen 5. Pleß ner: „Grenzen der Gemeinſchaft“. (Dies Buch 1924 bei Friedrich Cohen in Bonn erſchienen wird bald von ſich reden machen; vgl. auch Aufſatz des gleichen Titels von Ren. Supfeld in „Jeitwende“ 1925, S. 604ff.).

S. Im Üͤbrigen iſt die optimiſtiſche Grundeinſtellung Kleins das Beſte an ihm und ſeinem Werke. Sie vor allem hebt ihn vorteilhaft ab gegen Spengler, deſſen Jukunftsbild nicht fo ſehr eine notwendige Zukunft mit angeblichem Caͤſaris mus uſw. als vielmehr den Gewaltmenſchen Spengler ſelbſt charakteriſiert, der in Monſchen Roßherden fiebt und unter Peitſchenknallen fein Buch ſchreibt. Ein großer Teil der heutigen Menſchen iſt fo feminin, daß er gerade dies liebt. Aller- dings hat der ausgereiftere Spengler vor dem erſt anfangenden Klein umfpannen- dere Blicke voraus, aber auf keinen Fall beſſer ordnende oder gar reinere Blicke. Nicht beſſer ordnende: da doch die logiſche Baͤndigung im „Untergang des Abend⸗ landes“ ſchlechthin alles zu wuͤnſchen übrig laͤßt. Wicht reinere: da feine Unfaͤhig · keit, an ewige Wahrheiten zu glauben, bei der Hlaͤglichen Frage landet und ſtrandet: was wird geſchehen? demgegenuͤber vermag ich in der Schrift Rleins ein Schwert aufblitzen zu ſehen, das Schwert des Wollens, das die Frage fo ſtellt: was ſoll ge- ſchehen?

uſammenfaſſend möchte ich ſagen: mit den Unvollkommenheiten ſowohl einer Erſtlings als auch einer Laien Arbeit im bloß theoretiſchen Sinne behaftet, bildet das hier beſprochene Werk im praktiſchen Sinne eine intereſſante Skizze, die von Berufeneren als mir daraufhin geprüft zu werden verdient, wieweit fie zur Grundlegung einer neuen Kultur dienen kann. Sie ift geſund durch ihre Impulſe, durch Geradheit und eine freundliche Saltung des Wohlwollens gegenuͤber den

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Menſchen, endlich last not least! durch einen Natur und Geiſt, Geſchichte und Gegenwart und Zukunft frei und groß einſchließenden Rahmen, der „richtige An ſaͤtze für die Einzelprobleme liefert. Friedrich Grave

Hermann Seſſe hat vor Jahren einer Dichtung und Dichter der Zeit Keinen Scheift, die ſic mit dem eufſiſchen, vor allem dem Doſtojewſkiſchen Weſen und feiner ſtuͤrmiſchen Aufnahme in die deutſche Seele befaßt, einer tief nachdenklichen und melancholiſchen Schrift, den Titel „Blick ins Chaos“ gegeben. Uberſchaut man die Literatur des letzten Jahrzehnts, fo fragmentariſch immer ihre ungeheure Fulle einem zur Aenntnis gekommen iſt, ſo draͤngt ſich dieſe beaͤngſtigende und beklemmende Formel mit aller Staͤrke auf, und man ſieht ſich wirklich am Rande eines Araters, in deſſen Tiefen es chaotiſch brauſt. Es gab immer in Wendezeiten und in einer gewiſſen gefunden Periodizitaͤt ſchon Sturm und Drang, und auch die literariſche Revolution der achtziger Jahre war durchaus kein ſanftes Wehen; aber fo ſtuͤrmiſch und draͤngend wie in juͤngſt vergangenen Tagen, ſo radikal nicht nur, ſondern ſo entwurzelnd geſchah keine kuͤnſtleriſche Bewegung wie dieſe. Warum? Weil fie viel mehr wie jemals der Aus · druck einer allgemeinen Geiſtesbewegung, die Spiegelung einer im Tiefften und Allgemeinſten aufgewüblten, in ihren politiſchen, wirtſchaftlichen, weltanſchau · lichen Grundfeſten wankenden Jeit war. Daß dieſes Chaotiſche fruchtbar ſei, daß fi in ihm Untergang, Übergang und Aufgang zunaͤchſt unlösbar, ſpaͤter aber im · mer genauer trennbar und erkenntlich verſchlingen, iſt die Soffnung aller, die mit dem Glauben an die unverwuͤſtliche Araft des Geiſtes geſegnet find; mit einer, wie mir ſcheint, faſt biologiſch fundierten Juverſicht in den Gang und die Fuͤhrung alles Geſchehens, ſofern man aus der Biologie die Überzeugung gewinnen kann, daß das Lebendige dort, wo es ſich fortpflanzen und neu werden will oder auch nur Wiederherſtellungen, „Reſtitutionen“, des verletzten Organismus zu leiſten ſich anſchickt, gleichſam heimkehrt in das Undifferenzierte oder Vordifferenzierte, das doch einem an Form, Ordnung, Geſtalt gewohnten Auge als das ſchlechthin Form⸗ loſe, Ordnungsloſe, Geſtaltloſe, als das Chaotiſche und auch wiſſenſchaftlich im- mer ein wenig Unheimliche, in feiner Raͤtſelhaftigkeit einerſeits Erſchreckende, an · dererſeits faft Heilige erſcheinen muß. Der Analogieſchluß vom Biologiſchen auf das Geiſtige mag nicht zwingend fein, Hoffnungen mögen ſich im eigentlichen Sinne nicht begründen laſſen, und Vertrauenswuͤrdigkeit iſt keine mathematiſch beweis · bare Tatſache; ſicher iſt, daß der „Blick ins Chaos“ ohne Hoffnung und Vertrauen auf ſeine Fruchtbarkeit und Traͤchtigkeit unertraͤglich waͤre und fuͤr den, der beides von Innen her nicht aufbringen kann, auch unertraͤglich iſt.

Wer einen tieferen Blick als den gelegentlichen in das Chaos der Jeit, wie es ſich in der Literatur ſpiegelt, tun will, dem ſei Alb. Soergels neue Folge ſeiner „Dich⸗ tung und Dichter der Jeit“ ſehr empfohlen. Mit der gleichen Gründlichkeit, die ſchon das 191] erſchienene, in 60000 Exemplaren verbreitete, jetzt vergriffene Buch gleichen Titels auszeichnete und daß die Jeit von 1880—1 910 umfaßte, iſt bier die kuͤrzere aber noch erfülltere und aufregendere Spanne von 1910 bis etwa 1920 geſchildert. Wenn man zunaͤchſt die Art dieſer Literaturgeſchichtsſchreibung kenn ; zeichnen ſoll, fo könnte dies mit dem Wort: liebevolle Kritik oder kritiſche Liebe ge- ſchehen. Es laßt ſich eine geiſtreich elegantere, ſozuſagen weltmaͤnniſch · ůberlege · » Verlag von R. Voigtländer, Leipzig, 1925, geb. N 24.—

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nere Form, die Geſchichte der Literatur zu buchen ebenſo denken, wie eine ener⸗ giſchere, robuſtere Jeichnung der geiſtigen Linie im hiſtoriſchen Geſchehen, aber es gibt nicht leicht eine andere Darſtellung, die eine gleiche innere Anteilnahme und Singabe mit ſoviel ſchlichter Juruͤckbaltung, wohlwollendem Verſtaͤndnis und un ; beſtechlichem Bemuͤhen um Gerechtigkeit im Urteil verbindet. Der Autor nennt feine Darſtellung ſelbſt „eine in gewiſſem Sinne dienende“ gegenüber der „an alten Stoffen heute mit Recht gehbten königlichen Art, die die Kenntnis aller Werke vorausſetzt, die Neudeutung und Neubeleuchtung it“. In dieſem Satz, in dem ſich eine unvoreingenommene Selbſterkenntnis und Beſcheidenheit ſympathiſch aus · ſpricht, iſt auf die Arbeiten Gundolfs und Bertrams hingedeutet. Von dieſer Art nun iſt die Soergelſche allerdings nicht; auch wenn eine ſolche Leiſtung heute ſchon moglich wäre, was zu bezweifeln iſt, fo wäre doch mit ihr dem weitaus größten Teil der Leſer nicht in dem Maße gedient, wie hier beabſichtigt iſt, wo nicht fo ſehr Wertungen und Deutungen gegeben werden ſollen, als die Beiſpiele, die eine ſolche ermöglichen. Dieſes Buch traͤgt mit mehr Recht den Namen einer „Schilderung“ der deutſchen Literatur als manches andere, weil es wirklich Dichtung der Jeit auch zeigt, Wortkunſt zu Worte kommen läßt, nicht nur beredet oder analyſiert und ſyſte⸗ matiſiert. Es iſt überreih an Proben, faft eine Anthologie moderner Dichtung. Daneben find einzelne Kapitel zu vollſtaͤndigen und geſchloſſenen Eſſays Aber Ein zelperſoͤnlichkeiten angewachſen, bemerkenswert die größeren Aber Sermann Stehr, Strindberg, Paul Ernſt, Georg Baifer, Wilh. v. Scholz, die kleineren über Seym, Trakl, Stadler, Werfel, Mombert, Barlach, beſonders erfreulich das Kapitel über Rudolf Pannwitz, dem bier das erſtemal in größerer Offentlichkeit Gerechtigkeit widerfaͤhrt. Reizvoll iſt es, zu verſpuͤren, an welchen Geſtalten das Gerz des Dar ſtellers haͤngt, die immanente Kritik und Wertung ohne viel richteriſche und ge⸗ ſetzgeberiſche Worte an dem Gefuͤhlston zu erkennen, der an dieſen Stellen die Sprache waͤrmer macht. Wenn man merkt, wieviel naher (und hoher) dem Ver faſſer Georg Aaiſer ſteht als Sternheim, Sanns Johſt als Saſenclever, Sermann Stehr als Seinrich Mann, der Charonkreis als der „Sturm“, fo wird mancher Kefer eigene Meinung und Zuneigung zu feiner Freude beftätigt und beſtaͤrkt finden.

Beſonders erwuͤnſcht erſcheint es, daß durch Soergels Darſtellung in die einiger- maßen verwirrende Fuͤlle von Richtungen, Dichtern und Werken Ordnung und eine gewiſſe Folgerichtigkeit kommt. Das ganze Jahrzehnt wird als im Banne des Expreſſionismus ſtehend bezeichnet. Das erſte Buch ſchildert nach einer Charakte ; riſtik der allgemeinen Jeitlage um JYJO Vorbereiter und Vorläufer; hierauf folgt im zweiten Buch Schilderung des Durchbruchs der neuen Richtung, dieſe nicht als Bunftfoem, ſondern als eine Erſcheinungsform der Jeitſeele, die Erſcheinungs · form der Jeitſeele erfaßt, als im Allerallgemeinſten der Drang vom Bild der Welt zum Sinn der Welt (ja, könnte man ſagen, zum Sinterſinn der Welt, zu einem Sinn, der ſich nicht in der Welt offenbart, ſondern den die Welt der Dinge, Erſchei⸗ nungen, Geſtalten verbällt, verzerrt, verſchuͤttet, verdirbt und den man nur los · geloſt und entleibt rein hinſtellen kann unter Abſehung von jeglicher Geſtalt und durch Jertrůmmerung derſelben). Es wird letzten Endes die Miſſion des Expreſſio⸗ nismus klar: Die Aunſt metaphyſiſch vertieft zu haben. Aber ebenſo Har der Irr weg oder Umweg des Verſuchs, den Geiſt, das Metaphyſikum an ſich darſtellen zu wollen. Und es wird auch andeutungsweiſe ſichtbar, wohin der Weg gehen dürfte: Tat Vn 32

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zu einer Bunt, für die die Wirklichkeit wieder in jedem einzelnen Ding Sinnbild, im Ganzen, Nos miſchen Mythos werden kann.

Moch in einer anderen Sinſicht iſt dieſes Buch Beiſpiel und Bilderbuch. Über dreihundert Abbildungen kommen dem Wort zu Silfe, Bilder und Rarrikaturen der Dichter, Illuſtrationen, Buͤhnenbilder, Proben von Revolutionszeitſchriften, Dadaiſten · Augſchriften, Sandſchriften proben, Verlags zeichen und Vignetten, fo daß man einen ſtarken Eindruck von der Verbundenheit der bildenden Bunft mit der Literatur erbält, die ſchließlich ohne Kenntnis der Barlach, Marc, Hofer, Felix; mueller, George Groß, Chagall, Archipenko, Maſereel, Meid und ſelbſt Schwitters nur halb bekannt und charakteriſiert waͤre. Durch dieſe Beigaben wird das Wort doppelt lebendig.

Alles in allem: kein chaotiſches Werk über eine chaotiſche Zeit, eins, das weder die Literatur noch die Zeit zu beeinfluſſen ſucht, das nicht richten will, weder im mo · raliſchen noch im aktiviſtiſchen Sinne, das nur zu verſtehen verſucht, das eine freundliche Duldſamkeit auch den bizarrſten und ſkurrilſten Erſcheinungen gegenuber bewahrt, faft eine heimliche Freude bat auch an den knolligen und mißwüchfigen Gebilden im Garten der Literatur und das im Ganzen ein liebenswertes und un⸗ gemein kenntnisreiches und erkenntnis bereicherndes Buch iſt, für das wiederum viele CLeſer dem Verfaſſer Dank wiſſen werden.

Wer eine kuͤrzere Darſtellung der Periode zu ſtudieren wünſcht, die bei Soergel feine beiden umfangreichen Bände füllt, fei auf das hier ſchon vor Jahren ange⸗ zeigte, jetzt in 2. Auflage erſchienene Buch von Sans Naumann: „Die deutſche Dichtung der Gegenwart verwieſen, eine aͤußerſt vornehme und feinſinnige Schilderung, die ſich ebenſo wie die Soergels im Ganzen freudig bejahend trotz der vielen unſympathiſchen Ihge im Antlitz der zeitgenoͤſſiſchen Literatur an das Ju⸗ kunftstraͤchtige und Vorwaͤrtsweiſende halt. In drei großen Aapiteln, die Drama, Roman und Lyrik geſondert behandeln, werden mit bewunderungswürdiger ſeeliſcher Feinfuͤhligkeit die Entwicklungslinien Hlar und uͤberzeugend gezeichnet. überraſchende Juſammenhaͤnge erſchließen ſich und man erkennt, wieviel Grund vorhanden iſt, dankbar zu fein, daß man in dieſer Epoche leben darf. Das Rilke. ſche Motto des Buches charakteriſiert aufs ſchoͤnſte die Haltung des Verfaſſers: „Man fuͤhlt den Glanz von einer neuen Seite, auf der noch alles werden kann“.

Noch gedraͤngter, ſkizzenhaft, iſt eine Darſtellung die Oskar Walzel von der „Deutſchen Dichtung der Gegenwart“ gibt. Wenn es das Weſen und den Reiz der Skizze ausmacht, daß fie durch Weglaſſen und Andeuten und durch Sinlegen weni · ger markanter Züge ein Bild des Ganzen wirkt, fo kann der um die Dinge ſchon Wiſſende dieſen Reiz hier genießen.

Allen drei Schilderungen, fo verſchieden an Umfang und Art, eignet übrigens das Gemein ſame, daß fie darauf hinweiſen, die Jeit der Gaͤrung ſei vorüber und auch in der Dichtung bahne ſich eine ruhigere und Hlarere fruchtbare Periode an. von der noch viel zu erwarten iſt. Paul Wegwig

(Fünfter Lehrgang, veranſtaltet vom Seminar für Sprechkunde Jentralinſtitut für Erziehung und Unter- richt, Berlin, vom 26. Oktober bis 5. Dezember 1925, geleitet von Dr. Erich Drach,

J. B. Metzlerſche Verlags buchhandlung, Stuttgart, 1924, geb. mn 9. . Ver ; lag Quelle & Meyer, Leipzig, 1925, br. M o. so.

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Lektor an der Univerſitaͤt Berlin.) Wir müflen heute ganz von vorne anfangen bei all unſerm Werk. Lehren kann nicht, wer nicht gelernt hat. Wir alle haben nicht ge; lernt. Wir wiſſen, aber wir konnen nicht. Beimendes Leben waͤchſt in Sprache, Muſik und Tanz. Waͤchſt im Antlitz der Bilder, im Antlitz der Saͤuſer, in Bruͤcken der Technik, in Bauten der Arbeit. Aber es gehort zum Schickſal der Jeit, zum Schick⸗ ſal der Großſtadt, daß wir, kaum begonnen, frübreif Gedanken kriſtalliſieren, Wie⸗ derentdecktes verphiloſophieren. Wir kranken an der Salbfertigkeit. Rhythmiſche Tänze, Jugend ſpiele, Sprechchoͤre und Singabende bringen wir gleich auf das Fo⸗ rum, arbeiten halb unbewußt zweckgerichtetet fuͤr die Öffentlichkeit, ſtatt im Stillen zu tun und wieder zu tun. Nur fo doch konnen wir neu entdecken, Urfprünge finden und all jene Dinge von Linie, Farbe und Klang, von Söͤhe und Weite, Puls ſchlag und Atem, Dauer und Raum, Wechſel und Einheit von Körper und Seele, Aral und Gegenkraft, Pauſe und Spannung, die heute in vollem Kuſſe find und die wir erſt wiedergewinnen müflen. Wicht fo wie wir heute noch „Technik“ treiben: nicht fo wie wenn wir Tonleitern üben, auf und ab, ab und auf; nicht fo wie wenn wir Woten abſpielen im Dreivierteltakt, vom Willen diktiert. Sondern vom Koͤrperzentrum bewegt, indem wir den Ton in uns Hingen bören in rhythmiſcher Bindung mit andern; indem wir die „Pauſe“ als Auf- „Takt“ empfinden und ſchwingen und beben im Rhythmus. Wicht fo wie wenn wir den Korper „lockern“ im bloßen Wiſſen der muskelfunktion, in Arbeit und Training des einzelnen Teils; ſondern in Freude des ganzen Menſchen, Schwingung des Ganzen im Meinften Spiel. Wicht fo wie man Schauſpieler ſprechen lehrte, nach phyſikaliſchen Grundgeſetzen, ſtreng nach den Regeln der Anſatzphonetik. Sondern in Wellen ausftrömenden Atems, fon- dern in Hingenden Tönen der Brüder, ſondern verhaltenen Schwunges der Leiber, fondern in Spannung und Tiefen und Höhen, Farbe und Freude in „ſinnloſen“ Rlängen, leiſem Jubel und hellem Traum, Freude des Rlingens hinein in den Raum. Sprache iſt Tanz, Sprache Muſik, Sprache iſt Schwingen und Beben des Ceibes. Rein Sichdruͤcken an Grunden des Wiſſens, aber die helle Erkenntnis um feine Unzulaͤnglichkeit, wo mehr es fein will als Forſchungsergebnis und ftreng nachpruůfende Sicht. Wir wurden ja ſtolpern beim Fleinften Wort, fprächen wir es in bewußteſter Übung der Muskelfunktionen. Wir geben im Arampf, wir fteben im Krampf, wir konnen nicht ſprechen, noch fingen. Weil all unſer Tun nur mittel · und zweckgerichtet iſt. Ja ſelbſt im Geringſten und gerade in ihm ſchwinge der ganze Menſchl Das hieß bei uns begnadetes Bünftlertum, wo ein Kind es am beſten lehren koͤnnte. Und wenn wir ein Runſtwerk nicht bloß er⸗leben, ſondern in uns verlebendigen wollen, ſo wiederholen wir ſeine Geſtalt in uns und durch uns in Gemeinſamkeit. Die Lebens · (Erlebnis ·) Schule, die noch mit den Wellen ro⸗ mantiſcher Jugendbewegung in Parallele gelaufen war, hatte geglaubt, den Iweckapparat der alten Lern · und Nuͤtzlichkeitsſchule dadurch vernichten zu kon nen, daß fie durch Einfuͤhlung oder die Kraft des Temperaments im jungen Men; ſchen Erlebnis und Stimmung beſchwor. Stimmungen aber verflattern wie We; bel, und ſelten nur wurde die vom Objekt aus geformte Geſtalt, d. b. eine Wieder⸗ gabe im Sinne des Schöpfers gepraͤgt. Im Bonzertfaal iſt es kaum anders; auf den Podien unſere Sprecher, unſere Schauſpieler auf der Buͤhne ſpielen ſich ſelber und nicht das Werk. Bereits eines Gerber weite Vorausſchau erkannte, daß Wachs · tum der Seele aus der Sinnlichkeit ſchreitet. Wie waͤchſt ein Werk? Doch fo, daß die Körper ⸗Seele des Schoͤpfers die Kraft dem Stoffe eingraͤbt. Wir muͤſſen alfo,

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wenn wir das Werk des Schöpfers durchleben, vom Schoͤpfungskoͤrper und nicht von dem Ich aus ſchreiten, weil ja aus dem Schoͤpfungskoͤrper allein noch der Geiſt des Schoͤpfers uns ſtrahlt: Wir müflen von der „Schallform“ der Dichtung, wir müflen von dem Sinnenobjekt der Muſik und all feinen unzerlegbaren Teilen ausgehen; von all jenen Dingen des Rhythmus, des Raumes, der geordneten Kraft, der Sprechmelodie, der Atempauſe, der Linienführung und in der Sprache als mitteilbarkeit naturlich auch ihrem geiſtigen Leben, dem Leben, deſſen Geſtalt zu uns ſchreitet. Nicht ſo, daß wir dies Alles zerlegen, ſondern es leben gemeinſamen Werks. In dieſe Gedanken paſſen die Worte, die einer der Lehrer des Sprechſemi⸗ nars, Seinrich Roͤmer, ſprach. Das eine: An unſeren Buhnen nehmen wir keinen mehr, der nur noch vom Temperament aus ſpielt. Das andere: „Und Jakob rang mit dem Engel Gottes die ganze Nacht. Und er obſiegte ibn. Aber er lahmte an der linken Sufte.” Gewiß, ein Teil der eigenen Braft wird durch die Andersartig · keit des Objekts gedaͤmmt. Aber ſelbſt fo geſtalten wir dennoch das Aunſtwerk nur nach Möglichkeit „objektiv“, weil das Objekt ja immer noch durch die eigene Aör⸗ per · Seele gefärbt und geſtaltet wird. Und nur wenn wir ganz dem Objekt uns geben, wenn wir die Richtung kennen, bewahren wir die geſammelte Kraft, an- ſonſt zerſtiebt fie in Raumloſigkeit und trägt bei jeder neuen Prägung des Werks verſchiedenes Geſicht.

Und wie die Kultur und ihre Entwicklung undenkbar wären ohne die Sprache, fo greift auch das Sprechenkoͤnnen, Vortragen · Erzaͤhlen · und Redenkoͤnnen in alle Gebiete des Lebens und damit der Schule hinein. Nicht aus formalen, aͤſthe⸗ tiſchen, nicht aus hygieniſchen, zweckgerichteten Gründen ſollen wir ſprechen lernen, ſondern weil der Menſch nur fo voll leben kann.

Es regt ſich ſchon an manchen Orten. Die Sprecherziebung von Vilma Moͤncke⸗ berg in Samburg und Münſter und, ſoviel ich vermuten kann, die Muſikerziebung der Sochſchule in Charlottenburg ſchreiten in der gezeichneten Richtung oder in einer ahnlichen. Auch das Sprechſeminar in Berlin hat eine verheißungs volle Ju⸗ kunft. Zwar liegt feine Begrenzung in der knapp bemeſſenen Jeit von ſechs Wochen und in der notwendig unorganiſchen Juſammenſetzung der Arbeitskreiſe. Aber die Anregungen in wechſelſeitigem Austauſch von Geben und Nehmen zwiſchen Lehrern und Schuͤlern fielen bei oft kraſſen Gegenſaͤtzen durchweg auf guten Bo · den. Das Ich trat zuruck vor dem ehrlichen Wollen der Arbeit. Nicht zum wenigſten trug die Jielſicherheit der Leitung dazu bei. Unter den Jo7 Teilnehmern fab man Schillerkragen, Schweſtern in Ordenstracht, Schauſpieler, Berufs ſaͤnger, etwa ein Dutzend maͤnnlicher Studienraͤte aus dem ganzen Reich, ſogar zwei Direktoren, eine Anzahl Frauen und beſonders Lehrer der Grundſchule. Vertreter der Lern ; ſchule, der Erlebnisſchule und der im Sinne der oben gezeichneten Formung tätigen Arbeitsſchule. Aber durchweg alle gehalten von der Achtung vor dem andern, der Spürbarkeit eigener Unzulänglichkeit, je mehr man in die Dinge hineinſah, der Scheu vor fruchtloſen Ausſprachen und dem ſtrengen Willen zu praktiſchem Tun. Durchweg getrieben, auch die „Alten“, von einer oft unbewußten Sehnſucht nach all jenen Dingen des Lebens und der Gemeinſchaft, die heute irgendwo in der Luft liegen und die von den meiſten wenigſtens erahnt werden konnten. Das großzügig angelegte Programm des Seminars bot zuviel der Anregungen und verriet 3. T. noch die Spuren einer Jeit, in der man gewohnt war, ſich in logiſchen Denkpro⸗ zeſſen mit dem Leben auseinanderzuſetzen.

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Die ſprachpſychologiſchen und · philoſophiſchen Sorfchungsserundlagen von Dr. Mäller- Sreienfels und die buͤhnengeſchichtlichen Vorleſungen von Dr. Sans Cebede hätten, trotz feſſelnder, das Weſentliche ſtreng heraus arbeitender Darſtellung doch 3. T. auch in den bekannten Büchern der beiden Dozenten erleſen werden koͤnnen. Wichtig waren allerdings, auch für dieſen Arbeitskreis, die Behandlung des Dramas im Unterricht und die Anknuͤpfung an die neuen Richtlinien, die Ab⸗ grenzung von Berufstheater, Dilettantenbühne und Laienſpiel und die Aus⸗ ſprache über das Jugendſpiel überhaupt. Prof. Slatau führte an der Sand von plaſtiſchen Nachbildungen und Präparaten in die Bau und Lebenserſcheinungen der Sprechorgane ein; ſeine Hiniſchen Ubungen gaben einen praktiſchen Einblick in die Seilpaͤdagogik der Stimme und Sprache. Dr. Erich Drach gab an Sand des Leitfadens „Sprecherziehung“ (Dieſterweg, Frankfurt a. M.) und feines Buches „Die redenden Bünfte” (Quelle u. Meyer, Leipzig) eine ſtets anregende und die Ge⸗ meinſchaft zu Kritik und Mitarbeit geradezu reißende Einfuͤhrung in die Methodik der Sprecherziehung. Seine Aſſiſtenten leiteten mit ſachlichem Verantwortungs⸗ bewußtfein die wöchentlich vierſtündigen Ubungen der einzelnen Arbeitskreiſe zu einem „gefunden, lautrichtigen, tragfäbigen und wohlklingenden Sprechen”. Dra⸗ maturg Seinrich Roͤmer, der in feiner beſondern Eigenart zunaͤchſt von vielen mißdeutet wurde, erfüllte die Jielforderungen der neuen Sprecherziehung durch ebytbmifche Atem⸗ und Sprechgymnaſtik und durch die ſuggeſtive Kraft zu einer Sammlung erzwingenden Konzentration, die weg vom „privaten“ Selbſtgeſpraͤch einer Dichtung zur Schwingung in Raum und Gemeinſchaft führte. Dr. Michaelis führte an Sand deutſcher Proſameiſter durch praktiſche Übungen, aus eigener In⸗ ſtinktſicherheit für die Muſikalitaͤt und den geiſtigen Gehalt der Sprache und aus einer gepflegten Sprechbegabung, in die Werkſtatt des vortragenden Sprechers, der zaͤh und ausdauernd um letzte Feinheiten der Sprache und ein ſtrenges Seraus ; arbeiten der jeweiligen Aunſtform ringen muß. Die unter feiner Regie veranſtal⸗ teten Sonntagvormittage von guten Sprechkünſtlern der Gegenwart boten eine beſonders wertvolle Erganzung zur Arbeit des Werktags.

Es ſoll hier nicht Aufgabe fein, alles Gebotene aufzuzaͤhlen, viel weniger noch zu deuteln, zu maͤkeln, ſondern mitaufzubauen und in dem Sinne weiterzuhelfen, wie eingangs dargeſtellt wurde. Aus der Überfälle gebotener Anregung: der zahl⸗ reichen Schulbeſuche zu einem „moͤglichſt vielſeitigen Überblick über die neuen Arbeitsweiſen“ des deutſchen Sprachunterrichts, der Probearbeiten von Jugend- bühnen und Sprechchoͤren, der koſtenfreien Theaterbeſuche ſeien noch beſonders hervorgehoben die paͤdagogiſch geſchickte Sprecherziehung von Dr. Chriſtians in der Höheren Schule, von Bäte Stobbe in der Grundſchule und der Einblick in das Leben der proletariſchen Arbeitsſchule von Jenſen.

Der Lehrgang war vom Arbeitsgedanken einer Sprecherziehung geleitet, welche „die Mutterſprache als lebendige Perſoͤnlichkeitsleiſtung des Einzelnen“ werten und pflegen wollte. Mag fie darüber hinaus zu einem Werk an der Gemeinſchaft, für die Gemeinſchaft, durch die Gemeinſchaft werden. Der Wunſch vieler Teil- nehmer ging zu einem noch kraͤftigeren Tun in gemeinſamer, vom Takt getragener Arbeit aneinander im einzelnen und choriſchen Ausdruck. Lehrer und Schüler waren einig in dem Verlangen, den naͤchſten Lehrgang, vielleicht in ſtiller Abge⸗ ſchiedenheit von den ſcheinbar zugehorigen, in Wirklichkeit nur ablenkenden Ein fluͤſſen der Broßftadt, nur der lebendigen Tat und den dazwiſchen liegenden Atem⸗

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pauſen zu weihen. Der Wame „Sylt“ in Verbindung mit choriſcher Bewegungs kunſt Hänge verheißungsvoll.

Das bayriſche Schulweſen iſt dem preußiſchen auf dem Wege der Sprecherziehung vorangeſchritten. Wenn wir uns auch klar darüber find, daß die Schule nicht den Geiſt eines Volkes baut, ſondern daß jede Kultur ihre Schule ſich felber bildet; wenn auch die heutige Staats ſchule nur „reformieren“ kann, fo könnten doch viel⸗ leicht mehr, als die neuen preußiſchen Richtlinien zunaͤchſt nur wünſchen, für dieſe fo wichtige Angelegenheit einer Lebenserneuerung und eines Eigenſtiles praf- tiſche Möglichkeiten geſchaffen werden. Der ganze Weſten Deutſchlands 3. B. iſt bis · ber von den Segnungen Berlins auf dieſem Gebiete ſo gut wie verſchont geblieben. Bis dahin aber arbeitet jeder an ſeiner Stelle im eigenen Umkreis und freut ſich, wenn er wirklich ein Stück erfüllen kann, damit wir am Ende keine Lebens⸗ Schule, aber ein neues Schul Leben im Aufbau ſehen. Leo JSußhöller

: j Georg Chriſtoph Lichtenberg, deſſen n dringliche Meinungen wahrlich alles andere eher enthielten als fortſchritts ·

glaͤubigen Optimismus, hat irgendwo aphoriſtiſch vermerkt, daß man ſich wohl irre, wenn man glaube, daß alles Neue der Mode zugehoͤre; es ſei etwas Seſtes darunter. Fortgang der Menſchheit dürfe nicht verkannt werden. So verbürgt ſchließlich dieſer „Fortgang“ auch trotz Spenglerſcher Sppotbefen in den großen geiſtesgeſchichtlichen Belangen des Menſchengeſchlechtes heute iſt, ſo wenig Tatſaͤchlichkeit ſcheint man ihm in punkto Runſt und KRuͤnſtlertum zuzu⸗ ſprechen, der Stelle alfo im Bereich des Menſchlichen, an deren beſonderen ſozio⸗ logiſchen Bedeutung die außerordentlichſten paͤdagogiſchen Werte anſchießen, foweit man uberhaupt die letzteren als unabſichtliche Verſuche nimmt, die Idee einer Wurde des menſchlichen Geſamtbildes konkret zu machen.

Ein Bemühen darum beweiſt im beſonderen die darſtellende Runft der Gegen⸗ wart. Sie hat es fertig gebracht, auch an den Erzeugniſſen des platteſten litera- riſchen Snobismus noch die Wichtigkeit menſchlicher Beziehung zu demonſtrieren. So anmaßend es waͤre, zu einer Jeit, in der der Menſch nur noch den geſpenſter⸗ haften Umriß eines Vakuums vortaͤuſcht, in dem die verſchiedenſten Experimente zum Iwecke des Seelenheils durcheinanderſpuken, in ſolchen Dingen apodiktiſch urteilen zu wollen, fo mutig muß man fein, wenn es gilt eine poſitive Bereiche rung zu dokumentieren: Das Filmtheater beginnt in die Reihe der legitimen Bunftftätten einzuruͤcken.

Freilich müflen dazu zwei notwendige Praͤmiſſen Beruͤckſichtigung finden. Die eine liegt beim Publikum. Wer ſich nicht durch die Tatſache voreingenommen, daß der Bildſpieler eigentlich nur vor einer Kamera agiert der Fiktion zu ent- aͤußern vermag, die uͤber ein weißes Laken huſchenden „Schatten“ von Menſchen und Dingen ſeien den Vorgängen auf der Sprechbuͤhne gegenüber „unlebendig“, dem mangelt das Organ des neuen Verſtaͤndniſſes. Der hat noch nicht begriffen, daß das Erlebnis der Stimme des Menſchen dieſem beſonderen Myſterium der Sprechbühne dem Erlebnis feines Antlitzes dieſem geheimnis vollen Privi · leg des Films völlig gleichkommt. Beides iſt dasſelbe; naͤmlich Erſcheinung (Lautwerdung) menſchlicher Inneneriftenz als Erweis der metaphyſiſchen Situa⸗ tion, in der fie ſich im Stande des Schickſals (der Sandlung) befindet. Die zweite

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Voraus ſetzung liegt beim Darſteller. Mit Emil Jannings ift der Film in diefen Tagen auf den ihm adäquaten Typus des darſtellenden Bünftlers geſtoßen, eines Typus, der die neue Berufung als folgerichtige Abwandlung alter, beſter Tradi⸗ tionen ahnend begriff. Das zufällige Verdienſt liegt hier zweifellos bei den Deut- ſchen. Wer fie fo etwa als Vertreter europaͤiſchen „Beiftes” amerikaniſchem Bon» frontierte, müßte zu den aufregendſten Schluͤſſen kommen. Erläuterungen konnte von Fall zu Fall die monographiſche Betrachtung liefern.

wenn der Aarrikaturiſt eines letzten Simpliziſſimustitelblattes Jannings „im Filmparadies voll Behaͤbigkeit geſicherten Erfolges zu Chaplin ſprechen läßt: „Ich ſage dir, in dieſem Augenblicke verkracht in Deutſchland ein Theater“, ſo hat er damit nicht nur die Meinung ironiſiert, die Jannings ja von ſich haben oder nicht haben mag, ſondern er hat auch, indem er wohl aus un verdorbenem Gefuͤhl für das Jweckentſprechende natürlicher Anordnung die Figur des Auͤnſtlers zum Mittelpunkt des Bildes und zum devoten Intereſſe der ubrigen machte, fein un⸗ beabſichtigt Teil zu unſerem Thema beigetragen. In demſelben Maße naͤmlich, in dem heute die deutſche Filminduſtrie an Kapital und Umfang von der den Welt⸗ markt beherrſchenden amerikaniſchen übertroffen wird, übertrifft die deutſche Produktion an Sinngebung und Geſtaltungs moͤglichkeit des filmkünſtleriſchen Phänomens nicht nur dem Grade, ſondern auch der Art nach jede andere. Um nicht in den Geruch ignoranter Deutſchtuͤmelei zu geraten, ſei im voraus geſagt: Von dem zweckvollen Aufwand an Energie und Jaͤhigkeit, von der geradezu glaͤubigen Einſtellung des amerikaniſchen Bünftlers zu feinem Berufe und der entſprechenden Diſziplinierung feiner aͤußeren Exiſtenz wiſſen die deutſchen Film; ſpieler noch ſo wenig, daß man ihnen eingehende Unterrichtung dringlich an⸗ empfehlen darf. Ein zweites Sollywood gibt es nicht. Aber man ſoll fie auch in dem Wiſſen darum beſtaͤrken, daß derlei Dinge für die talentierte Keiftung wohl eine wichtige, aber untergeordnete Rolle ſpielen; daß fie überall da Beachtung ver⸗ dienen, wo wirklich vorauszuſehen tft, daß durch bloßes Wollen Bönnen erreicht wird. Iſt dieſe Vorausſicht getruͤbt, fo bewirkt das bekanntlich eine Brenzver- wiſchung zwiſchen ſtrebſamem und begnadetem Bänftlertum. In Deutſchland find derartige Vorkommniſſe leidige, aber vollkommen uͤberſehbare Affaͤren, in Amerika aber bilden ſie ein dauerndes charakterologiſches Malbeur. Den Erweis bietet vor allem der Spieler ſelbſt: Sein Beſtreben iſt auf vollendete eigen haͤndige und füßige Bewältigung des meiſt dekorativen und monumentalen Ereigniſſes ge- richtet, wobei das mimiſche Moment, alſo das einzige, das dem Film Gelegenheit gibt, aus der Sphaͤre des Artiſtiſchen in diejenige autonomer Runſt zu ruͤcken, nur als ſtereotype, ſeelenferne Funktion einer vSllig von außen ber zugerichteten Sandlung auftritt. Auch der gern als „naturlich“ gefeierte Ausdruck bekannter Amerikageſichter, jener vermeintliche direktere Weg von innen nach außen, den ibr Weſen zu bezeugen ſcheint, iſt nur die Silfloſigkeit eines einſeitig orientierten Weltgefuͤhls; für jeden wiſſenden Europaͤer die bedauernswerte Sanswurſtiade eines menſchlichen Serzens, dem das geiſtige Nahrungsbeduͤrfnis bereits perver · tiert iſt. Wenn der darſtellende Kuͤnſtler tatſaͤchlich das auserleſene Mittel iſt, die makelloſeſte Stelle des Menſchenweſens ehrfurchtheiſchend von der perſonellen zur ideellen Exiſtenz feines Selbſt hinzuwenden, dann iſt das typiſch amerikaniſche Fumſzenarium das untauglichfte Feld der kuͤnſtleriſchen Betätigung. Aber ſchließ · lich tut jeder, was er noͤtig hat. Das amerikaniſche Publikum iſt ſchon von einer

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derart wahllos · und ſelbſtgezuůͤchteten Gewoͤhnlichkeit des Geſchmacks infiziert, daß es ſauer reagiert, wenn man ihm giftfreie Roſt bietet. Als der Ufa · Exportſilm „der Letzte Mann“, der bekanntlich mit Jannings in der Sauptrolle eine außerordentliche Höhe der Darſtellungskunſt aufwies, ſowie techniſch und kunſt⸗ gewerblich vollkommen war, in New Nork aufgeführt wurde, ſollen die Theater {don nach dem erſten Teil die Hälfte ihrer Juſchauer verloren haben; die anderen hätten nicht mißzuverſtehend gelacht und ihren Beifall gepfiffen. Immerhin konnte die Preſſe nicht umhin, ſich zum Teil ſehr günftig uber den Film zu aͤußern, was die deutſche Exportfilminduſtrie veranlaſſen follte, unbeirrt zu bleiben und nur da Bonzeffionen zu machen, wo es die Wahrung und Körderung allgemeinen deutſchen Einfluſſes ratſam erſcheinen läßt.

Runft wird nun einmal wie einiges andere auch nicht von unten nach oben, ſondern umgekehrt gemacht. Der Bünftler, der am hoͤchſten in der Erkennt; nis menſchlichen Schickſals geſtiegen iſt, iſt auch zuerſt berufen, es darzuſtellen. Deshalb heißt es das Verdienſt großer Mimen ſchmaͤlern, wenn man es bintan- haͤlt. Wer das Spiel Jannings, dieſe bewußt geſtaltete Daͤmonie menſchlichen Ge · ſchicks, etwa in einem der künſtleriſch geſchloſſenſten Filme, im „Varieté“, erfahren bat, muß auch geſpuͤrt haben, daß durch die filmiſche Apparatur mit dem Antlitz die ſes Menſchen vielleicht erſtmalig das Antlitz der Bunft leuchtet. Es kann einem dabei plotzlich bewußt werden, daß jener techniſche Einfall der Erſindung der Kine · matographie, dieſer rühmliche Anlaß zur Spannungsbereicherung heutiger Vita; lität, als einer der ſeltſamen, aber unerlaͤßlichen Umwege der modernen Seele zu ſich ſelber und zur Kultur entlarvt iſt. Und nur dadurch, daß die filmkünſtleriſche miſſion eines Jannings den Menſchen wieder zum Maß der Dinge machte, er⸗ halten auch die Fakten, die bis dato nur technologiſcher Plunder waren, mit dem man die laͤcherlichſten Maͤtzchen arrangierte, eine gewiß zugewieſene, aber eine um fo finnfälligere, eine Bedeutung von Rang.

Es tft noch keineswegs bewieſen, daß die Große unſerer Zeit in ibren „Er⸗ rungenſchaften liegt. Dieſe find nämlich nie um ihrer Selbſt willen da, ſondern haben immer auch heimliche, auf Menſchenwert und weſen bezogene Abſichten. Der Film iſt einer ihrer manifeſten Erſcheinungen. Wer ſich ibm gegenuber nicht in letzter Stunde zur kritiſchen, unvoreingenommenen Betrachtung entſchließt, mag mit Lichtenberg wünſchen: „Ich wollte, daß ich mich alles entwöhnen konnte, daß ich von neuem ſehen, von neuem bören, von neuem fühlen konnte.“ Denn „Gewohnheit“ verdirbt nicht nur die Philoſophie, ſondern auch die Kunſt.

Fritz Bühler

; Es war eini Der neue Reichsbund für Lebens: und Seilreform 5

Ausbruch des Weltkrieges, da wanderten an einem nebligen Serbſtmorgen ein paar Dutzend Menſchen, die durch Tracht, Saltung und ihre markanten Böpfe auffielen, von der Station Oranienburg nach der Obſtbaukolonie Eden. Der bekannte Kebensreformer Guſtav Simons, der im Verein mit feinen Bruͤdern das ſog. Simonsbrot in den Sandel gebracht hat, hatte fie zuſammenberufen. Seinem Rufe waren außer Lebensreformern auch politiſche Fuhrer, Wirtſchafts · reformer und andere Lebenserneuerer gefolgt. Es war eine eigentüämlide Bon- ferenz, die damals in Eden tagte. Guſtav Simons ſuchte, wie er es nannte, den

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„Generalnenner“ für die geiftigen Strömungen in Deutſchland. Mit anderen Worten, mit Silfe der Ronferenz und mit Silfe der Geladenen, wollte er den „Geiſtigen Generalſtab“ ins Leben rufen für das neue, werdende Deutſchland. Guſtav Simon ſtarb bald darauf, feine Konferenz war gewiſſermaßen fein Ver⸗ maͤchtnis an die Überlebenden. Die Tagung war aber gleichzeitig der Auftakt für folgende ahnliche Veranſtaltungen. Ein Jahr fpäter fand in Samburg der erſte große Kongreß für biologiſche Hygiene ſtatt. Was Eden vorbereitet hatte, das wurde 1912 in Samburg Wirklichkeit. Während in Eden nur einige Dutzend fuͤhrender Böpfe auf dem Gebiet der Lebens und Seilreform ſich eingefunden hatten, war es Hugo Erdmann, dem damaligen Serausgeber des „Allgemeinen Beobachters“, gelungen, mehrere hundert Fuhrer des geiſtigen Deutſchlands in Samburg zu einem Kongreß zu vereinigen. Das von Dries mans vorgeſchlagene „Aulturparlament“, welches das Gewiſſen des deutſchen Volkes in allen Aultur⸗ fragen werden ſollte, fand ſchließlich einſtimmige Annahme. Nur wurde auf An⸗ trag des alten Prof. Foerſter⸗ Friedenau die Bezeichnung „Volksrat“ angenommen, weil dieſes Wort volkstümlicher und allgemein verftändlicher ſei, als der von Dries mans geprägte Ausdruck „Bulturparlament”.

Dieſes Rulturparlament blieb, wie fo vieles andere, auf dem Papier ſtehen. Zwar wurden die Vorbereitungen für den Volksrat in die Sand genommen, in Bonn war bereits ein zweiter Rongreß vorbereitet, aber da kam der Weltkrieg und fegte alles hinweg, was nicht auf die augenblickliche Not der Stunde eingeſtellt war. Klaͤgliche Verſuche, in der Schickſalsſtunde unſeres Volkes den Volksrat doch noch zu begründen, namentlich im Sinblick auf die drohende Unterernäbrung, ſchlugen fehl. Der in Samburg gewaͤhlte Volksrat war alſo noch nicht das Ge⸗ wiſſen der deutſchen Volksſeele.

An Verſuchen, den geſcheiterten Volksrat nach Kriegsende wieder ins Leben zu rufen, bat es nicht gefehlt. Schließlich gelang es dem Bund für Lebens erneuerung unter Fuͤhrung von Friedr. Scholl in Weimar (Pfingften 1923) ſowie Sugo Erd⸗ mann, dem Organiſator des zweiten Bongrefles für biologiſche Hygiene (Dresden im Serbſt 1924), die ſeit Samburg (Serbſt 1912) zerriſſenen Jäben wieder aufs neue zu knuͤpfen. (Über dieſe Verſuche habe ich in der „Tat“ ſchon bei früheren Ge⸗ legenheiten berichtet.) So unermüdlich die beiden Genannten auch tätig waren, wieder alle Krafte zu ſammeln, die eine Erneuerung des ganzen deutſchen Volkes vom biologiſchen Geſichts punkte aus erſtrebten, ſo ſchien doch das Papſttum und die Eigenbroͤdelei in den einzelnen in Frage kommenden Organiſationen unuͤber⸗ bruͤckbar zu fein. Nach einem Jahr vergeblicher Verhandlungen und Bemuhungen gaben fie den Verſuch auf. Eine Juſammenfaſſung der verſchiedenſten Richtungen und Stroͤmungen auf dem Gebiete der Seil · und Lebensreform ſchien augenblick lich nicht moͤglich, obwohl man Har erkannt hatte, daß ſich ſehr bald die Mot; wendigkeit ergeben würde, im Bampfe gegen die Allopathie, die Repraͤſentantin der Vergangenheit auf dem Gebiete der Seilkunſt und Geſundheitspflege, eine ge- me inſame, ſtraffe Abwehrfront zu bilden.

Im letzten Augenblick (wiederum ift im Reichstag ein Geſetz gegen die Burier- freiheit eingebracht worden, allerdings unter dem Deckmantel der Bekaͤmpfung der Geſchlechtskrankheiten), bat die Wot der Stunde doch endlich eine Juſammen⸗ faſſung der Bräfte moglich gemacht. „Im Namen des Gewiſſens der Bewegung“ bat der Regierungsrat Engelhardt, Überlingen, zum I. Dezember nach Berlin

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etwa SO führende Kopfe der großen Volksſtroͤmung für biologiſche Lebens · und Seilweiſe einberufen, die heute bereits etwa ein Siebentel des Volkstums umfaſſen duͤrfte . Was ich nun nach den bisherigen uͤblen Erfahruntzen nicht mehr fuͤr mög» lich gehalten hatte, gelang trotzdem. Unter Leitung von Bergmann, Samburg (Bund der Naturheilfreunde) und Prof. Verweyen (Univerſitaͤt Bonn) wurde in zwei Tagen wertvolle Arbeit geleiſtet. Iwar fehlte es am erſten Tage der Ron ferenz nicht an den unter Deutſchen ublichen uferlofen Debatten, aber am zweiten Tage wurde faſt nach engliſchem Vorbild gearbeitet, Antrag auf Antrag nach kurzer Debatte angenommen.

Nun das Ergebnis. Als notwendige Spitzenorganiſation ſaͤmtlicher Stroͤ⸗ mungen auf deutſchem Sprachgebiete, die eine Erneuerung der Seilkunſt, Lebens · fuͤhrung und Geſundheitspflege erſtreben, wurde der „Reichsbund für Lebens und Seilreform“ getzruͤndet, dem ſofort eine Reihe von Verbänden mit einer An bängerfchaft von ISO OOO organiſierten Mitgliedern beitraten. Den Vorſitz über⸗ nahm Prof. Verweyen, Bonn, die Geſchaͤfts führung liegt in Sanden von Seren Wergyn, dem Schriftleiter des „Volksbeil“, die Praͤſidentſchaft iſt dem alten Vor⸗ kaͤmpfer unſerer Bewegung, Geheimrat Faßbender, angetragen worden. Dem engeren Vorſtand, der aus ſieben Köpfen beſteht, iſt ein „Beirat“ angegliedert. mitglieder dieſes Beirates find einmal die Delegierten der dem Spitzenverband an · geſchloſſenen Organiſationen, ſodann ſolche Perſoͤnlichkeiten, die ſich um die Cebens · und Seilreform Verdienſte erworben haben. Letztere werden von dem engeren Vorſtand vorgefchlagen, von der Generalverſammlung gewählt.

Als die wichtigſten naͤchſten Aufgaben wurden feſtgelegt: J. Erkäͤmpfung der Gewiſſensklauſel nach engliſchem Muſter, 2. Erhaltung der Burierfreibeit, die zur Stunde ſehr gefaͤhrdet iſt, 3. Die Einführung der Parität der Seilmethoden im Arankenkaſſenweſen. Bei Punkt J ſoll moͤglichſt Sand in Sand mit dem großen Bund der Naturheil vereine gearbeitet werden, welcher in der Frage der Gewiſſens Hauſel den Volksentſcheid ins Auge gefaßt hat. Die Abwehrfront gegen den letzten Geſetzentwurf im Reichstag ( Punkt 2) ſoll nach Moglichkeit in Gemeinſchaft mit der Geſellſchaft für Medizinalpolitik und mit dem biochemiſchen Bunde ge; bildet werden. Die Forderung unter Punkt 3 wird zur Reviſion der ganzen ſozialen Verſicherung führen, ſowie insbeſondere zur völligen Umgeſtaltung des ganzen heutigen Arankenkaſſenweſens. Die aufgeklaͤrten, intelligenteren Böpfe der Ar- beiterſchaft wänfden für ſich und ihre Angehoͤrigen, daß auch ihnen die Wohl · taten der Lebens ·⸗ und Seilreform zuteil werden, wahrend in den bisherigen KArankenkaſſen, Rrankenhaͤuſern und Erholungsheimen fie nur nach den Regeln und Anſchauungen der Allopathie behandelt werden koͤnnen. So iſt es kein Wun ; der, daß ſich ſchon heute im Stillen Beſtrebungen bemerkbar machen, die darauf hinausgehen, daß die einzelnen Arankenkaſſen ſich zuſammentun und ſelbſt Sana⸗ torien erwerben follen, in denen die Mitglieder dann völlig freie Sand in bezug auf die Behandlung haben. Andere Länder, 3. B. England, find in dieſem Punkte ſchon viel weiter. Es iſt ein verhaͤngnis voller Irrtum, zu glauben, daß wir Deutſchen wie einſt noch immer an der Spitze des ſozialen Verſicherungs · wefens, insbeſondere der Kranken verſorgung, marſchierten.

Ghne die Abſtinenzbewegung 9 dieſe große Volksſtroͤmung auf deutſchem

Sprachgebiet über etwa JSO Jeitſchriften, mehr als doppelt ſoviel wie das gefamte uͤbrige Ausland aufweiſt!

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Als weitere dringende Aufgaben wurden dann noch die Wohnungsnot und die Bekaͤmpfung der Tuberkuloſe bezeichnet. Dieſe beiden Fragen ſind ja nur im Verein mit der Bodenreform zu Idfen. Daher tft es erfreulich, daß die große Organiſation der Bodenreformer ſich dem Reichsbund ſofort angeſchloſſen bat.

Herner ſoll in Angriff genommen werden: Irrenweſen, Brotfrage, Volksernaͤh · rung, Sauttultur (Luft- und Sonnenbaͤder !), Großſtadtproblem (Gartenſtadt, Siedlung, „Kulturgürtel“), Eugenik (vorgeburtliche Erziehung), Aörperkultur und Gymnaſtik und andere Fragen.

Betont wurde ſchließlich, namentlich von einem Vertreter der Jugend (Pfad⸗ finder · Bewegung), daß Lebensreform unbedingt der Seilreform vorangehen muͤſſe. Erſt müfle und folle man im Sinne der Jugendbewegung ein heiler, ein ganzer menſch werden, vorher koͤnne man eigentlich kein richtiger Seiler ſein. Dieſer Forderung gemaͤß ſoll die naͤchſte große Fuͤhrertagung der geſamten deutſchen Jugend⸗ bewegung von dem Reichs bund für Lebens · und Seilreform einberufen und auf der · felben die verſchiedenen Aufgaben und Ziele der Lebensreform dargeſtellt werden.

Auf der Konferenz in Berlin wurde auch zum erſten Male deutlich zum Ausdruck gebracht, daß die Staͤrke der Bewegung in zwei Punkten beruhe, in der Betonung der Lebensreform und in der Abwehrfront der Allopathie gegenüber. Über Wefen und Aufgaben der Lebensreform berrſchte eine ziemliche Einmütigkeit in der ge- famten Bewegung, dagegen auf dem Gebiete der Seilreform ſei es bisher nicht ge lungen, die Jentralidee einer neuen, deutſchen Seilkunſt herauszuarbeiten. Daß die Seiſkunſt der Jukunft den Juſatz „deutſche“ tragen wird, ergibt ſich ſchon aus der einfachen Tatſache, daß alle neueren Seilmethoden (Spagyrik, Somòopathie, Biochemie, Naturheilverfahren, Aneippkur, Magnetopathie, Felkekur uſw.) deut · ſchen Urſprungs ſind. Auf deutſchem Sprachgebiet vollzieht ſich eben ſeit einem Jahrhundert eine gewaltige Umgeſtaltung in den Fragen der Krankheitslehre und der Seilkunſt. Aber dieſe geiſtige Bewegung iſt heute noch nicht zum Abſchluß ge- kommen. In dem Augenblick aber, wo die Idee der Seilreform fo klar umriſſen da- ſtehen wird, wie es heute ſchon die Idee der Lebensreform tut, wird die Allopathie in deutſchen Landen von der Buͤhne abtreten muͤſſen. Die Stellungnahme von Schulze, Arndt, Bier und anderen Forſchern deutet bereits die Aufgabe der erſten Poſition ſeitens der Schulmedizin an. Dringend geboten erſcheint daher die baldige Einrichtung einer freien Akademie für biologiſche Pathologie, Therapie und Sy- giene. Ohne eine ſolche Akademie dürfte die Uridee der Seilreform, beſſer geſagt die Uridee der neuen, deutſchen Seillehre kaum zu finden fein. Wie ſtark man in dieſer Sinſicht auch auf der Konferenz in Berlin noch im Dunkeln tappte, zeigte die For⸗ derung, die ſeltſamer Weiſe der Vertreter der mediz.⸗biolog. Geſellſchaft ftellte* : Der Reichsbund ſolle die Ideen Gandhis ubernehmen, der Abwehrkampf gegen die Allopathie dürfe nur im Sinne Gandhis geführt werden. Dieſer Reformarzt überfab vollſtaͤndig, daß es eine biologiſche Unmoͤglichkeit iſt, auf deutſchen Boden zu verpflanzen, was in Indien gewachſen iſt. Seine Forderung wurde von der Ver⸗ ſammlung auch einmuͤtig abgelehnt, die deutſche Volksſeele iſt auf Gandhi noch nicht eingeſtellt. Erſt generationenlang durchgefuͤhrte Lebensreform und Askeſe wären nötig, um in Deutſchland eine Gandhi Bewegung ins Leben rufen zu Fönnen. Und dann würde fie kein oſtariſch brah maniſches, ſondern weſtariſch⸗ katholiſches Gepraͤge tragen »Die mediziniſch ⸗biologiſche Geſellſchaft umfaßt etwa 200 Reformaͤrzte.

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Gelingt es dem Reichsbund für Lebens und Seilreform, unter Fuͤhrung von Prof. Verweyen, der ja ein Meiſter im geiſtigen Brückenbau iſt, das Siebentel unſeres Volkstumes, das bereits Träger der neuen, biologiſchen Ideen tft, in einer geſchloſſenen Einheit zu ſammeln, dann wäre allerdings auf biologiſch medizi niſch · hygieniſchem Gebiet der erſte Schritt getan, der aus der deutſchen Jerriſſen · heit der Gegenwart wieder zur Einheit, Geſchloſſen heit und Sarmonie führt.

Struͤnckmann

Warg. Naumanns ſchoͤpferiſche, handwerkliche Erziehung

Auf der „I. Magdeburger Frauenwoche“, gemeinſam veranftaltet vom „Verband deutſcher Frauenkleidung und Frauenkultur“ und der Volks hochſchule, erſtritt den ſtaͤrkſten Erfolg neben einer großsägigen Geſtaltung des Phänomens „Frauen bewegung” durch Gertrud Baͤumer und einer uͤberraſchend neu und vertieft ge⸗ febenen, fein ausgeformten Begenäberftellung von „Frauenbewegung und Ju⸗ gendbewegung durch Eliſabeth Buſſe⸗Wilſon der Vortrag von Margarete Nau ; mann: „Die Entfaltung der fchöpferifchen Krafte durch handwerkliche Erziehung“. m. M. entwickelte in demſelben mit Silfe reichen Lichtbildermaterials und plau · ſibler graphiſcher Darſtellung innerer Vorgänge eine neue, von ihr gefundene und feit über JO Jahren praktiſch erprobte Geſtaltungslehre. Dieſe erſchien mehr, als Worte und Lichtbild es vermochten, vom Leben unmittelbar beglaubigt durch eine Ausſtellung von Erziebungsarbeiten 14 “s jaͤhriger, faſt nur der Volks · ſchule entſtammender Schuͤlerinnen M. N. s, eine Ausſtellung von wahrhaft uͤberwaͤltigendem Reichtum an neuen Formen, Verſuchen, Geſtaltungen.

Sachleuten, führenden Bunftersiebern und Kuͤnſtlern iſt M. N. laͤngſt durch Werkbund und Sonderausſtellungen und die Leipziger Entwurf · und Modell. meſſe, in deren Jury fie als einzige Frau wirkt, bekannt als Schöpferin einer neuen Textilkunſt. Aber auch unverbildete, ſchoͤpferiſche Menſchen witterten in ihrer ſeltſam ſelbſtherrlich, zwecklos, abſeits von jeder herkömmlichen Technik und Stiltradition gewachſenen Bunft Yreuland. So hoch jedoch in unſerer chaotiſchen, zergruͤbelten Zeit eine fo eigenſtaͤndige, ſichere, aus innerer Fülle ge- ſpeiſte Geſtaltung wie die M. N. s gewertet werden muß viel weſentlicher für unſere lebendige Kultur ift ihre in Magdeburg wieder von allen führenden ᷣrauen -;, Fach:, Schul, Runſtperſönlichkeiten unter der zahlreichen, auch von auswärts kommenden Beſucherſchaft erkannte Bedeutung als Erzieherin der ſchoͤpferiſchen Volkskraͤfte.

Mm. M. iſt im Vogtlande inmitten einer von jeher mit dem Haden vertrauten Bevoͤlkerung geboren. So lag ihr ſelbſt textile Begabung im Blute, vielleicht auch ein beſonderes Verſtehen des Schickſals ihrer ebenfalls mit feinfuͤhligen, ſchoͤpfe riſchen Sanden begabten Mitſchweſtern, die bei Sungerlöͤhnen von 5 und 6 Pf. für die Stunde lebenslang ſchematiſch verarmende, unkuͤnſtleriſche Gebilde zu vervielfaͤltigen gezwungen find. M. N. felbft iſt in dem herkömmlichen Aunſt⸗ ſchulenbetrieb bei Reißbrett und Stift ausgebildet, alſo in einer vorwiegend nach; ſchaffende Krafte entwickelnden Tendenz, die fie in ih rer eigenen Geſtaltungs · lehre verwirft und bekaͤmpft. Trotzdem ruhte ihre ſchoͤpferiſche Natur nicht, bevor fie das für fie in der Luft liegende Problem geloͤſt hatte, die Spitze von der berkoͤmmlichen Beſchraͤnkung auf die Fläche zu erlöͤſen, fie durch Auswirkung auch

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in die dritte Dimenfion das Raumproblem unferer Zeit auch in der Tertiltunft zu befruchten. Sie erfand eine neue Faden verknotung, Fadenſicherung, die Margaretentechnik. Was damit gewonnen war, bezeugte ihre Ausſtellung 1914 auf dem Werkbund in Aoln mit einer unerhört vielſeitigen Fulle bald fpinnweb- feiner, bald maſſivgewirkter, flaͤchiger und körperlicher Ranken, Sterne, Blüten, Gruppen, Szenen aus Spitze. Eine ſpaͤtere Ausſtellung 1919 uͤberraſchte faſt noch mehr durch den Beweis, daß dieſe Margaretentechnik nicht bloß Spitzen; faͤden, ſondern Wolle, Seide, Baſt, Perlen, Gold und Silberfaͤden, Filigran⸗ draht zu kuͤnſtleriſchen, dabei aber ingenieurhaft konſtruktiv vollendeten Ge⸗ bilden zuſammenzufuͤgen geeignet war. Es entſtanden jene Perlgeſtaltungen, wie in den Maͤrchengaͤrten von Tauſendundeiner Nacht gewachſen, Betten, Anhaͤnger wie Jwiſchengebilde von Blute und Frucht, Perlkinder, Perltiere, Geſchoͤpfe aus ein paar Perlen und Golddraht, mit dem Weſensausdruck, der Geſte des Tieres, kindlich lebendig erlebt.

Prof. Forkel, der Leiter der Plauener Bunftfchule, erkannte als Erſter die paͤbagogiſche Bedeutung M. N. s und ſetzte ihre Berufung an die Plauener KAunſtſchule durch, um fie für die Spitzenprovinz Deutſchlands fruchtbar zu machen. Vielbewunderte, vielausgeftellte, viel nachgebildete Schälerarbeiten m. N. s bezeugten ihre hervorragende, erzieheriſche Fahigkeit. Ihr Juſammen⸗ wirken mit Prof. Forkel zeitigte noch bedeutſame andere Verſuche auf dem Ge⸗ biete der Maſchinenſpitzeninduſtrie. Satte die Maſchine bis dahin und noch heute immer nur handgearbeitete Spitze nachgeahmt, alſo Erſatz, Taͤuſchung produziert, fo entdeckte M. N. und Prof. Forkel, daß ihr, auf ihre eigenen Mog lichkeiten geſtellt, ganz neue, wieder der Sandarbeit unmögliche Gewebe vor- behalten find, von denen die Föftlichen ſog. „Sommerfaden“ / oder „Forkelſpitzen“ nur den Anfang neuer Entwicklungen bedeuten. Leiden wurde dies fruchtbare Juſammenwirken durch Prof. Forkels fruhen Tod abgebrochen, M. NM. wurde entlaſſen, ihre erzieheriſche Tätigkeit von der Behörde als „ohne Erfolg“ atte⸗ ſtiert.

Ein neuer Wirkungskreis erwuchs ihr mit der ſtaatlichen Umwaͤlzung in Sachſen und der damit gegebenen Bereitſchaft zur Umſtellung der Schulen und mehr kultureller Fürſorge für den Arbeiter. Der Freiſtaat Sachſen ſchuf M. M. ein eigens fuͤr ſie eingerichtetes Seminar zur Ausbildung von Textilarbeitern im Spitzen · Stickerei , Perl und Nahtgewerbe.

Obſchon dies neue Inſtitut von vornherein neben der Studienabteilung ſofort Verwertungsabteilungen vorfab, alſo mit der wirtſchaftlichen Aufgabe, ſich moͤglichſt ſelbſt zu erhalten, belaftet war, zeigte gerade der Vortrag und die Aus ſtellung M. N.s in Magdeburg, in welchem Grade fie dieſe zweite Wirkungs periode zu einer Vertiefung ihrer Geſtaltungslehre und fruchtbaren Erweiterung ibrer Schaffensgebiete ausgewertet hat.

Ihre Geſtaltungslehre gruͤndet fi auf einem ſehr eingehenden Studium der drei verſchiedenen Kraftzentren im Menſchen und ihrer gegenſeitigen Wirkungen. m. MN. ſetzt nach ihren Erfahrungen in jedem Menſchen, wenn auch in verſchie denem Grade, nachſchaffende, ſchoͤpferiſche und kuͤnſtleriſche Kräfte voraus. Es iſt ein Trugſchluß der fruheren Erziehung, die ſchoͤpferiſchen und künſtleriſchen Araͤfte vorwiegend zuerſt durch Gebrauch der nachſchaffenden entwickeln zu konnen. Im Mittelpunkt einer gefunden Volkswirtſchaft muß der ſchöoͤpferiſche

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Menſch ſtehen, im Mittelpunkt einer ſinnvollen Erziehung zum wertvollen, gluͤcklichen Menſchen die Entwicklung feiner ſchoͤpferiſchen Krafte. Die nach ſchaffenden Krafte hemmen die ſchoͤpferiſchen, fie ſtaͤrken das Abhaͤngigkeits⸗ bewußtſein, ſtatt des ſchoͤpferiſchen Ichbewußtſeins, in ihnen iſt der horizontal gerichtete Wille zur Lagerung von KAenntniſſen mächtig, nicht der Auftrieb zu künſtleriſcher Selbſtverwirklichung.

Urſache der Verarmung unſerer Formenſprache iſt nach M. N., daß zwiſchen die ſchoͤpferiſchen Bräfte und die taſtende Sand Reißbrett und Stift geſchoben find. Schoͤpferiſches Sandwerk entſteht nicht beim Nachbilden oder gedanklichem Vorſatz, als Frucht von Vorſtellung und Entwurf, ſondern beim ſchoͤpferiſchen Experiment. Das Weſen des Schoͤpferiſchen liegt ihr im Eindringen beim Ex⸗ periment in die Geſetzlichkeit der körperlichen Bewegung und der eigenwilligen Natur des Rohſtoffes. Alle Erziehung iſt plan volles Stellen von Aufgaben, die durch vergleichendes Experiment zur Beobachtung zwingen und logiſch und kon · ſtruktiv die Geſtaltung aus dem Geſetz der Sandgriffe und des Rohſtoffes heraus. wachſen laſſen.

So zeigte die Magdeburger Ausſtellung eine ſehr vielſeitige Reihe von L- ſungen einer Geometrieſtundenaufgabe: Darſtellung der ſich verjuͤngenden Wellen · linie, und zwar, um gleich den kuͤnſtleriſchen Impuls zu wecken, in Form einer Wunderſchlange, die das Simmelstor bewacht. Die Wunderſchlange, das Wolken · tor uſw. wird nicht gezeichnet, ſondern ſofort ausgeſchnitten und nach Selldunkel⸗ oder Raumwirkung folange im gegebenen Raum hin · und hergeſchoben, bis die bildmaͤßige Raumaufteilung erreicht iſt. Es wird den Schülern ein Kicken ge- geben mit der Aufgabe, ihn zu beſticken mit der Betonung der Laͤngsachſe, als künſtleriſcher Impuls: Märchenwald. Die entſtandenen naiv herzlichen, von quellen; der Vegetation uͤberwucherten Wollſtickereien ergeben, zuſammengefuͤgt, einen kuͤnſtleriſchen Wandteppich und den Beweis, daß auch heute noch aus einer Idee geſchaffene Geſtaltungen noch fo verſchiedener Menſchen geſchloſſene Ein heiten zu bilden vermögen wie die Werkſtaͤttenbilder alter Meiſter oder orien · taliſche Teppiche im Kickenſtil.

Aus der Fuͤlle von Spitzenſtudien lieſt ein aufmerkſames Auge bald, wie der Schuler all maͤhlich vom vielleicht noch zu gedanklichen Überwältigen des Fadens zu jenen wundervoll rhythmiſchen letzten Adfungen der „Spannfadenſpitze“ kommt, deren ſelbſtverſtaͤndliches Veraͤſteln, Teilen, Quellen und wieder Schließen und Verknoten dem Gemüte eine fo heitere, unbefangene Wohltat bereitet wie ge⸗ wachſene Pflanzennatur. Gier hat ſich der ſchoͤpferiſche Menſch in die Eigen⸗ geſetzlichkeit des Fadens bineingefühlt und laͤßt fie durch feine ſchaffenden Saͤnde ſtroͤmen. Ein kleines Madchen erhalt die Aufgabe, fein wichtigſtes Ferien erlebnis darzuſtellen. Es bringt ein handgroßes Spitzengaͤrtchen, wie aus zarteſtem Rauhreif gefeoren, mit Suͤgel, Jaun, Baumgruppe und Bank darunter. Auf der Bank ſitzt ein Liebespaͤrchen, hinter ibm im Gebuͤſch verſteckt ſich eine Cauſcherin die Meine Bünftlerin, welche das Stelldichein der Schweſter mit dem Urlauber belauſcht hat, ihr wichtigſtes Ferienerlebnis. Aber fie hat es durch; aus nicht naturaliſtiſch geſtaltet, ſondern für jedes Gebilde, ob Baum, Terrain oder Figur, die fadengeſetzliche Überfegung in eine Spitzenformel gefunden. Letzte kuͤnſtleriſche Moglichkeiten der Faden verknuͤpfung find plaſtiſche Masken, groteske Selbſtkarrikaturen in Spitzenkoͤpfen oder rieſige, koſtbar gefund- und

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ſtarkfarbige Wollblumen, aus ſchweren Stoffdraperien quellend. Eine große braune Glas perle ergibt, naturaliſtiſch erfaßt, den Rumpf eines braunen Schaͤf⸗ chens; ſtreng ſtiliſtiſch in Reihen gebunden, das ſtarre, heilige Kleid der Simmels · koͤnigin; zu letztem Ausdruck geſteigert das demuͤtig geneigte Antlitz des pracht⸗ vollen, in ritterlicher Einfalt vor ihr knienden Königs echte, kindliche Aus druckskunſt, weit über bloß „Dekoratives“ hinausgewachſen. Vor den diskret ſchoͤnen, beruͤckenden Schmuckſchoͤpfungen der Naumannſchule, aus unerſchopf lich vielartigen Perlen mit Gold / und Silberdraht kuͤnſtlich verknuͤpft, jenen Schluß» ſtuͤcken, die an Orchideen, ſeltſame Früchte oder ſchoͤne Tiere gemahnen, erhellt der kulturloſe, rein auf den materiellen Tauſchwert des „Edelſteins“ gegründete Cha; rakter unſerer Maſſenſchmuckinduſtrie. Da wirkt der geheimnis voll im Heuer aus Saͤuren und Salzen zuſammengefloſſene Rohſtoff, das Glas, mindeſtens ſo adlig wie der herkoͤmmlich abgeſte mpelte, aus einem raren Zufall im Erdenſchoße ge wachſene Edelſtein. Denn kůnſtleriſche Krafte haben feine Schoͤnheit · und Aus⸗ drucks werte entbunden.

Wie unabhängig Geſtaltungs werte von der Koſtbarkeit des Rohſtoffes find, lehren die Papierarbeiten der NMaumannſchule. Gier iſt fruchtbar etwas geſchehen, was den Selbſttaͤtigkeits und Werkunterricht der Grundſchule beeinfluſſen müßte, was Gropius für die Begabungsausleſe mit feinen Rohſtoffpeſtaltungs · verſuchen in den Ausgangs- und Mittelpunkt feines Bauhauſes geſtellt, aber vielleicht wegen des heterogenen oder ſchon von vornherein verbildeten Schäler- materials nicht zu dem gewollten Reſultat hat führen koͤnnen. Sier iſt durch koͤrper⸗ liche Bewegung, durch Rollen, Abſpalten, Einkniffen, Falten des Papiers die eigenwillige Bewegung dieſes Rohſtoffes zuerſt zu einfach logiſchen Verſuchen mit feinem Aufbaͤumen, Ausſpringen, Einrollen, dann zu rhythmiſch ornamen⸗ talen Geſtaltungen, endlich zur Ausdruckskunſt geſteigert in den tragiſchen Masken, aus gefaltetem Papier, CLandſchaften, Burgen, Wundergarten, in dem Chriſtus ; ſchrein, aus gerolltem Papier. Der leitende Architekt der in Magdeburg ge- planten großen Theaterausſtellung erblickt in M. N.s („Maske 1926“ Spitzen · plaſtik, ibren Baſtmasken fuͤr ein Faſtnachtsſpiel, in ihren Perlkronen fuͤr ein Maͤrchenſpiel (das Ganze dieſer Maͤrchenſpielausſtellung iſt ihr genommen und an das Plauener Stadttheater verkauft), vor allem aber in ihren Papier⸗ geſtaltungen Anſaͤtze für eine neue Theaterkunſt. Es charakteriſiert unſere Jeit, wie viele Beſchauer, gerade auch altere Gewerbe · und Sandarbeitslehre · rinnen, mit dem reinen Iweckgedanken an ſolche Erziehbungsausſtellung heran ; treten. Sie find beglädt von allem Schmuckhaften darin. Welche Berechtigung haben aber Spitzenbaͤumchen, Brautkronen, Perltiere, noch fo beruͤckende gold · geknuͤpfte Medicikragen und venetianiſche Sauben, die heute niemand trägt? Ihnen antwortet M. N.: Warum muß Spitze flach fein? Warum ſoll fie ſich nicht auch plaſtiſch auswirken? Alles, was geſchieht, bat recht. Die Erziehung darf nicht ſpekulativ ſein, nur zweckmaͤßige, praktiſche Dinge ſchaffen wollen. Die Seele kann an unpraktiſchen, aber ſchoͤpferiſchen Experimenten großen Ent wicklungsgewinn haben. Wur vor den ganzen Menſchen vom Volkskuͤnſtleriſchen ber, nicht bloß den zweckhaft eingeſchienten ergreift, entfaltet ſchoͤpferiſche Araͤfte.

Fuͤr den ſozialen Menſchen iſt die große Ernte dieſes Frauenwerks, daß faſt nur junge, „ungebildete Menſchen zu dieſen Beftaltungen kamen und jede einzelne die innere Freude, Singabe und Anlage! bekundet. Sier iſt der Beweis erbracht,

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daß eine neue Volkskunſt, eine Erlöſung des Maſſenmenſchen in beſeelter,

ſchoͤpferiſcher Arbeit möglich iſt. a

Man ſollte meinen, von allen Seiten, von paͤdagogiſcher, induſtrieller, ſozialer, vor allem volkswirtſchaftlicher her müßte M. N. s Geſtaltungsle hre aufgegriffen, geſtůtzt, ausgewertet werden z man müßte ihr ſchaffen, was fie braucht: Ein; fluß auf die Arbeitsſchule, den weiblichen Sandarbeits unterricht, Schulen, Werkſtaͤtten, bilbſame Saͤnde!l Denn die mit M. N. bezeichneten Erzeugniſſe find bereits im Ausland geſchaͤtzt, vorteilhafte Einladungen rufen M. N. nach Amerika, bier iſt ein billiger Rohſtoff veredelt zu deutſcher Exportwertarbeit! Aber wann find ſtarke neue Kraͤfte nicht unbequem, unheimlich und verdaͤchtig geweſen? Auch ihre zweite Wirkſamkeit, ihr Textilſeminar, iſt M. N. 1924 in zwei Tagen bei der politiſchen Umſtellung des Freiſtaats Sachſen abgebrochen als „eefultatlos” l In dem Rechtsſtreit um Recht, Patent und Werk wird mit allen heute ublichen Mitteln, auch denen perſoͤnlicher Verunglimpfung, für eine Frau beſonders fühlbar, gegen fie gearbeitet. Wur dem entſchloſſenen Eingreifen des Werkbundes verdankt M. N. die Rettung wenigſtens dieſer äußeren letzten Darſtell ung ihrer Geſtaltungslehre, dieſe Ausſtellung.

Dieſelben Machte, die hinter der Szene unſere Wirtſchaft, unſere politifche meinung, unſer Schickſal machen, die wünſchen keine „uberflutung“ der In duſtrie mit ſchoͤpferiſch gebildeten, naturlich koſtſpieligeren Arbeitskräften. Ihnen liegt auch an der durchſichtigen Preiskalkulation, die M. N. infolge vraͤziſer Ar; beitsftundenerrechnung auf Grund normalern Jeitaufwandes bei den verſchiedenen Techniken und ausgebildeten Bräften einführen konnte, gar nichts. Bureau⸗ und Verwaltungs menſchen alten Stils, wie fie beute noch fo vielfach unſer Schul. weſen an ausſchlaggebenden Stellen beberrfchen, iſt ihre Lehre viel zu wenig ſchematiſch, zu wenig bildungs · und Haſſenbewußt, zu ſehr auf undiſziplinierbare Seelengebiete, Intuition, Phantaſie, naiv Aeligidfes, eingeſtellt und in ihrer Anwendung doch wieder zuviel Logik, konſtruktive Planarbeit beanſpruchend. Seutige Machthaber wittern ein unberechenbares Annen und die neue Frau.

So ſcheint es wirklich, als ob der Bulturtat ſolchen volkserzieheriſch ſchoͤpfe⸗ riſchen Sandwerks keine Stätte auf deutſchem Boden beſchieden fein ſollte, und als ob das reiche, kulturbungrige abnen- und mythosloſe Amerika, in dem die Gefahr der Verkitſchung oder geſchaͤftlichen Ausbeutung droht, die Zuflucht m. N. s werden ſollte wieder eine der verpaßten deutſchen Möglichkeiten, wenn ſich nicht die entſcheidenden Vollbringer für die andere Bulturtat finden, m. W. endlich zu dauernder Arbeit an der Entfaltung unſerer ſchoͤpferiſchen Volks kraͤfte zu verhelfen. meta Gerloff

Anmerkung der Redaktion: Im vorigen Seft, XVIIl. Jahrgang, Seft 5, iſt im Aulturpolitiſchen Arbeitsbericht ein ſinnentſtellender Fehler ſtehengeblieben. Es muß in der Überſchrift des Aufſatzes Seite 411 „Eine VV Re ligionsgemeinſchaft“ und nicht wie gedruckt freigewerkſchaftliche heißen.

Schriftleiter: Dr. h. e. Eugen Diederichs, Jena, Carl-3eiß-Plag 5. Bei un verlangter Juſendung von Manuſkripten it Porto für Rücfendung beizufügen. Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena Druck von Radelli & Sille in Leipsig

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