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Die
Analyse der Empfindungen
und das
Verhältniss des Physischen zum Psychischen
Dr. E. Mach,
em. Professor an der Universität Wien.
Mit 36 Abbildungen.
Dritte vermehrte Auflage.
Verlag von Gustav Fischer in Jena. 1902.
Von demselben Verfasser sind ferner erschienen:
Die Geschichte und die Wurzel des Satzes
von der
Erhaltung der Arbeit.
Prag. Calve. 1872. 8*^, 58 Seiten mit 8 Holzschnitten,
Optisch-akustische Versuche.
Die spectrale und stroboskopische Untersuchimg tönender Kö
Prag. Calve. 1873. 8^, iio S. mit 39 Holzschnitten.
Grrundlmieii der Lehre
von den
Bewegungsempfindungen
Leipzig. Engelmann. 1875. 8", 127 S. mit 18 Holzschn
Die
jyiechanilv in ihrer Entwiekelung.
Historisch-kritisch dargestellt. Leipzig. Brockhaus. 4. Aufl. igoi. 546 S. mit 257 Abbildur
Leitfaden der Physik
für Studierende.
Prag. Tempsky. 2. Aufl. i8gi. 8^, 24g S. mit 328 Abbildur
Populärwissensehaftliehe Vorlesunge
J>eipzig. J. A. Barth. 2. Aufl. i8g7, 8 <>, 335 S.
Die Prinzipien der Wärmelehn
Leipzig. J. A. Barth. 2. Aufl. igoo. 8", 484 S.
Die
Analyse der Empfindungen
und das
Verhältniss des Physischen zum Psychischen
Dr. E. Mach,
em. Professor an der Universität Wien.
Mit 36 Abbildungen.
Dritte vermehrte Auflage.
f
1
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
1902.
Alle Rechte vorbehalten.
HERRN KARL PEARSON MA. FRS.
Professor der angewandten Mathematik und Mechanik am University College
in London
als Zeichen der Sympathie und Hochachtung
gewidmet vom Verfasser.
Vorwort zur ersten Auflage.
Durch die tiefe Ueberzeugung', dass die Gesammtwissenschaft überhaupt, und die Physik insbesondere, die nächsten grossen Aufklärungen über ihre Grundlagen von der Biologie und zwar von der Analyse der Sinnesempfindung'en zu erwarten hat, bin ich wiederholt auf dieses Gebiet geführt worden.
Freilich habe ich nur wenig zur Erreichung dieses Zieles bei- tragen können. Schon dadurch, dass ich meine Untersuchungen nur gelegentlich, nicht als eigentlichen Beruf, betreiben, und oft nur nach langen Unterbrechungen wieder aufnehmen konnte, mussten meine zerstreuten Publicationen an Gewicht verlieren, vielleicht mir sogar den stillen Vorwurf der Zersplitterung ein- tragen. Um so mehr bin ich jenen Forschern, welche wie E. Hering, V. Hensen, W. Frey er u. A., theils auf den sachlichen Inhalt, theils auf die methodologischen iVusführungen meiner Arbeiten Rücksicht genommen haben, zu besonderem Dank verpflichtet.
Vielleicht erscheint nun die vorliegende zusammenfassende und erg-änzende Darstellung- in einem etwas günstigem Licht, indem sie deutlich macht, dass es überall dasselbe Problem war, welches mir aus den vielen einzelnen untersuchten That- sachen entgegengeblickt hat. Obwohl ich durchaus nicht auf den Namen eines Physiologen, noch weniger auf jenen eines Philo- sophen Anspruch machen kann, hoffe ich doch, dass die lediglich mit dem lebhaften Wunsche nach Selbstbelehrung unternommene
— VI —
Arbeit eines über die conventionellen Fachgrenzen ausblickenden Physikers auch für Andere niclit ganz ohne Nutzen sein wird, selbst wenn ich nicht überall das Richtige getroffen haben sollte.
Die stärkste Anregung- erhielt vor 25 Jahren meine natür- liche Neigung für die hier behandelten Fragen durch Fechner's „Elemente der Psychophysik" (Leipzig 1860), und am meisten gefördert wurde ich durch Hering's J^ösung zweier in den folgenden Blättern (S. 55 und S. 126) näher bezeichneter Probleme.
Lesern, welche aus irgend welchen Gründen allgemeineren Erörterungen g^ern aus dem Wege gehen, empfehle ich, das erste und letzte Kapitel zu überschlagen. Für mich hängt allerdings die Ansicht des Ganzen und die Ansicht des Einzelnen so zu- sammen, dass ich beide nur schwer zu trennen vermöchte.
Prag im November 1885.
D. V.
Vorwort zur zweiten Auflage.
Diese Schrift, welche bestimmt war als Apergu zu wirken, und welche als solches wohl auch gewirkt hat, wie ich aus den gelegentlichen Aeusserungen von Avenarius, LL Cornelius, James, Külpe, Loeb, Pearson, Petzoldt, W^ill}'' u. A. zu entnehmen glaube, erscheint nun nach 14 Jahren in neuer Auf- lage. Es ist dies ein etwas gewagtes LInternehmen. Denn es verträgt sich nicht mit dem Character der Schrift, dieselbe durch P2infügung vieler experimenteller Einzeluntersuchungen und aus-
— VII —
führliche Berücksichtigung der seither erschienenen Litteratur zu einem dicken Buche anschwellen zu lassen. Ich möchte jedoch diese letzte Geleg-enheit nicht vorübergehen lassen, ohne über den mir wichtigen Gegenstand noch einmal das Wort zu ergreifen. Deshalb habe ich die nothwendigsten Erg'änzungen und Er- läuterung^en, meist in Form kurzer eingeschalteter Capitel, ein- gefügt. Das eine derselben, das zweite, habe ich schon in die 1897 erschienene engiische Ausgabe des Buches aufgenommen.
Meinen erkenntnisskritisch-physikalischen und den vorliegen- den sinnesphysiologischen Versuchen liegt dieselbe Ansicht zu Grunde, dass alles Metaphysische als müssig und die Oekonomie der Wissenschaft störend zu eliminiren sei. Wenn ich nun hier auf abweichende Ansichten nicht ausführlich kritisch und polemisch eingehe, so geschieht dies wahrlich nicht aus Missachtung' derselben, sondern in der Ueberzeug'ung, dass derartig-e Fragen nicht durch Discussionen und dialectische Ge- fechte ausgetragen werden. Fördernd ist hier nur, wenn man einen halben Gedanken, oder einen solchen von paradoxem Ge- halt, jahrelang geduldig mit sich herum trägt und sich redlich bemüht, denselben zu ergänzen, beziehungsweise das Paradoxe abzustreifen. Leser, welche nach Ueberfliegen der ersten Seiten das Buch weglegen, weil sie nach ihrer Ueberzeugung nicht weiter zu folgen vermög"en, werden sich eben nicht anders ver- halten, als ich selbst es nothgedrungen mitunter thun musste.
Diese Schrift hat in ihrer älteren Form vielfache freundliche Aufnahme, aber auch starken Widerspruch gefunden. Für Leser, welche auf den Inhalt näher eingehen wollen, möchte es von Belang sein zu wissen, dass Willy in seiner eben erschienenen vSchrift ,,Die Krisis in der Psychologie" (Leipzig 1899), die einen dem meinigen nahe verwandten Standpunkt einnimmt, in Bezug auf viele Einzelheiten meinen Ansichten entgegentritt.
Wien im April 1900.
D. V.
— YIII —
Vorwort zur dritten Auflage.
Gegen alle Erwartung war die zweite Auflage in einigen Monaten vergriffen. Ich habe nicht versäumt hinzuzufügen, was zur Verdeutlichung meiner Ansichten beitragen kann, ohne übrigens den Grundtext von 1886 im Wesentlichen zu ändern. Nur zwei Stellen, Absatz 7, S. 11 und Absatz 11, S. 15 der zweiten Auf- lage erhielten eine schärfere Fassung. Es hat nämlich Herr Dr. A. Lampa, Privatdocent der Physik an hiesiger Universität im Gespräche mit verschiedenen Lesern die Erfahrung gemacht, dass diese Stellen oft in einseitig idealistischem Sinne verstanden wurden, was keineswegs in meiner Intention lag. Ich bin Herrn Dr. Lampa für seine freundlichen Mittheilungen zu aufrichtigem Dank verpflichtet. Die Capitel IX und XV, welche in der zweiten Auflage Angedeutetes weiter ausführen, sind neu hinzu- gekommen.
Wenn nicht alle Anzeichen trügen, so stehe ich mit meinen Ansichten doch bei weitem nicht mehr so isolirt da, als es noch vor wenigen Jahren der Fall war. Neben der Schule von Avenarius finden sich doch auch jüngere Forscher, wie H. Gomperz, welche sich auf ihren eigenen Wegen annähern. Die übrig bleibenden Differenzen scheinen mir nicht unausgleich- bar. Doch wäre es verfrüht, über dieselben jetzt schon zu discu- tiren. „But the question is one in v^^hich it is peculiarly difficult to make out precisely what another man means, and even what one means one's seif". So spricht mit köstlichem Humor der Mathematiker W. K. Clifford (On the nature of things-in- themselves, Lectures, II, p. 88), ein Mann, dessen Forschungsrich- tung der meinigen recht nahe liegt.
Wien im November lyoi.
E. Mach.
Inhalt
Seite
I. Antimetaphysische Vorbemerkungen i
■ II. Ueber vorgefasste Meinvmgen 30
III. Mein Verhältniss zu R. Avenarius 37
IV. Die Hauptgesichtspunkte für die Untersuchung der Sinne . 46 V. Physik und Biologie. Causalität und Teleologie .... 66
VI. Die Raumempfindungen des Auges 80
VII. Weitere Untersuchungen der Raumempfindungen .... 97
VIII. Der Wille 127
IX. Eine biologisch-teleologische Betrachtung über den Raum . 134 X. Beziehungen der Gesichtsempfindungen zu einander und zu
anderen psychischen Elementen 146
XI. Empfindung, Gedächtniss und Association 177
XII. Die Zeitempfindung 185
XIII. Die Tonempfindungen ...., 198
XIV. Einfluss der vorausgehenden Untersuchungen auf die Auf-
fassung der Physik 235
XV. Die Aufnahme der hier dargelegten Ansichten 271
Sach-Register 282
Namens-Register 285
L Antimetaphysische Vorbemerkungen.
Die grossen Erfolge, welche die physikalische Forschung in den verflossenen Jahrhunderten nicht nur auf eigenem Gebiet, sondern auch durch Hilfeleistung in dem Bereiche anderer Wissen- schaften errungen hat, bringen es mit sich, dass physikalische Anschauungen und Methoden überall in den Vordergrund treten, und dass an die Anwendung derselben die höchsten Erwartungen geknüpft werden. Dem entsprechend hat auch die Physiologie der Sinne, die von Männern wie Goethe, Schopenhauer u. A,, mit grösstem Erfolge aber von Johannes Müller eingeschlagene Methode, die Empfindungen an sich zu untersuchen, allmälig verlassend, fast ausschliesslich einen physikalischen Character an- genommen. Diese Wendung muss uns als eine nicht ganz zweck- entsprechende erscheinen, wenn wir bedenken, dass die Physik trotz ihrer bedeutenden Entwicklung doch nur ein Theil eines grösseren Gesammtwissens ist, und mit ihren für einseitige Zwecke geschaffenen einseitigen intellectuellen Mitteln diesen Stoff nicht zu erschöpfen vermag. Ohne auf die Unterstützung der Physik zu verzichten, kann die Physiologie der Sinne nicht nur ihre eigenthümliche Entwicklung fortsetzen, sondern auch der Physik selbst noch kräftige Hilfe leisten. Folgende einfache Be- trachtung mag dazu dienen, dies Verhältniss klar zu legen.
2.
Farben, Töne, Wärmen, Drücke, Räume, Zeiten u. s. w. sind in mannigfaltiger Weise miteinander verknüpft, und an dieselben
Mach, Analyse. 3. Aufl. 1
sind Stimmungen, Gefühle und Willen gebunden. Aus diesem Gewebe tritt das relativ Festere und Beständigere hervor, es prägt sich dem Gedächtnisse ein, und drückt sich in der Sprache aus. Als relativ beständiger zeigen sich zunächst räumlich und zeitlich verknüpfte Complexe von Farben, Tönen, Drücken u. s. w., die desshalb besondere Namen erhalten, und als Körper bezeichnet werden. Absolut beständig sind solche Complexe keineswegs.
Mein Tisch ist bald heller, bald dunkler beleuchtet, kann wärmer und kälter sein. Er kann einen Tintenfleck erhalten. Ein Fuss kann brechen. Er kann reparirt, polirt, Theil für Theil ersetzt werden. Er bleibt für mich doch der Tisch an dem ich täglich schreibe.
Mein Freund kann einen andern Rock anziehen. Sein Ge- sicht kann ernst und heiter werden. Seine Gesichtsfarbe kann durch Beleuchtung oder Affecte sich ändern. Seine Gestalt kann durch Bewegung oder dauernd alterirt werden. Die Summe des Beständigen bleibt aber den allmälig'en Veränderungen gegenüber doch immer so gross, dass diese zurücktreten. Es ist derselbe Freund mit dem ich täglich meinen Spaziergang mache.
Mein Rock kann einen Fleck, ein Loch erhalten. Schon der Ausdruck zeigt, dass es auf eine Summe von Beständigem an- kommt, welchem das Neue hinzugefügt, von welchem das Fehlende nachträglich in Abzug gebracht wird.
Die grössere Geläufigkeit, das Uebergewicht des Beständigen gegenüber dem Veränderlichen drängt zu der theils instinctiven theils willkürlichen und bewussten Oekonomie des Vorstellens und der Bezeichnung, welche sich in dem gewöhnlichen Denken und Sprechen äussert. Was auf einmal vorgestellt wird, erhält eine Bezeichnung, einen Namen.
Als relativ beständig zeigt sich ferner der an einen be- sondern Körper (den Leib) gebundene Complex von Erinnerungen, Stimmungen, Gefühlen, welcher als Ich bezeichnet wird. Ich kann mit diesem oder jenem Ding beschäftigt, ruhig und heiter oder aufgebracht und verstimmt sein. Doch bleibt (pathologische Fälle abgerechnet) genug Beständiges übrig, um das Ich als das-
selbe anzuerkennen. Allerdings ist auch das Ich nur von rela- tiver Beständigkeit. Die scheinbare Beständigkeit des Ich be- steht vorzüglich nur in der Continuität, in der langsamen Aenderung. Die vielen Gedanken und Pläne von gestern, welche heute fortgesetzt werden, an welche die Umgebung im Wachen fortwährend erinnert (daher das Ich im Traume sehr verschwommen, verdoppelt sein, oder ganz fehlen kann), die kleinen Gewohn- heiten, die sich unbewusst und unwillkührlich längere Zeit er- halten, machen den Grundstock des Ich aus. Grössere Ver- schiedenheiten im Ich verschiedener Menschen, als im Laufe der Jahre in einem Menschen eintreten, kann es kaum geben. Wenn ich mich heute meiner frühen Jugend erinnere, so müsste ich den Knaben (einzelne wenige Punkte abgerechnet) für einen Andern halten, wenn nicht die Kette der Erinnerungen vorläge. Schon manche Schrift, die ich selbst vor 20 Jahren verfasst, macht mir einen höchst fremden Eindruck. Die sehr allmälige Aenderung des Leibes trägt wohl auch zur Beständigkeit des Ich bei, aber viel weniger als man glaubt. Diese Dinge werden noch viel weniger analysirt und beachtet als das intellectuelle und das moralische Ich. Man kennt sich persönlich sehr schlecht^). Als ich diese Zeilen schrieb (1886), war mir Ribot's schönes Buch „Les maladies de la personalite", in welcher dieser die Wichtigkeit der Gemeingefühle für die Constitution des Ich hervorhebt, noch nicht bekannt. Ich kann seiner Ansicht nur zustimmen.
Das Ich ist so wenig absolut beständig als die Körper. Was wir am Tode so sehr fürchten, die Vernichtung der Beständigkeit, das tritt irri Leben schon in reichlichem Masse ein. Was uns das Werthvollste ist, bleibt in unzähligen Exemplaren erhalten, oder
I) Als junger Menscli erblickte ich einmal auf der Strasse ein mir höchst un- angenehmes widerwärtiges Gesicht im Profil. Ich erschrank nicht wenig , als ich er- kannte, dass es mein eigenes sei, welches ich an einer Spiegelniederlage vorbeigehend durch zwei gegen einander geneigte Spiegel wahrgenommen hatte. — Ich stieg einmal nach einer anstrengenden nächtlichen Eisenbahnfahrt sehr ermüdet in einen Omnibus, eben als von der andern Seite auch ein Mann hereinkam. „Was steigt doch da für ein herabgekommener Schulmeister ein", dachte ich. Ich war es selbst, denn mir gegenüber befand sich ein grosser Spiegel. Der Classenhabitus war mir also viel ge- läufiger, als mein Specialhabitus.
1*
erhält sich bei hervorragender Besonderheit in der Regel von selbst. Im besten Menschen liegen aber individuelle Züge, um die er und andere nicht zu trauern brauchen. Ja zeitweilig kann der Tod, als Befreiung von der Individualität, sogar ein ange- nehmer Gedanke sein. Das physiologische Sterben wird durch solche Ueberlegungen natürlich nicht erleichtert.
Ist die erste Orientirung durch Bildung der Substanzbegriffe „Körper", „Ich" (Materie, Seele) erfolgt, so drängt der Wille zur genauem Beachtung der Veränderungen an diesem relativ Beständigen. Das Veränderliche an den Körpern und am Ich ist es eben, was den Willen i) bewegt. Erst jetzt treten die Bestand- theile des Comple^^es als Eigenschaften desselben hervor. Eine Frucht ist süss; sie kann aber auch bitter sein. Auch andere Früchte können süss sein. Die gesuchte rothe Farbe kommt an vielen Körpern vor. Die Nähe mancher Körper ist angenehm, jener anderer unangenehm. So erscheinen nach und nach ver- schiedene Complexe aus gemeinsamen Bestandtheilen zusammen- gesetzt. Von den Körpern trennt sich das Sichtbare, Hörbare, Tastbare ab. Das Sichtbare löst sich in Farbe und Gestalt. In der Mannigfaltigkeit der Farben treten wieder einige Bestand- theile in geringerer Zahl hervor, die Grundfarben u. s. w. Die Complexe zerfallen in Elemente 2), d. h. in letzte Bestandtheile, die wir bisher nicht weiter zerlegen konnten. Die Natur dieser Elemente bleibe dahin gestellt; dieselbe kann durch künftige Untersuchungen aufgeklärt werden.
3-
Die zweckmässige Gewohnheit, das Beständige mit einem Namen zu bezeichnen und ohne jedesmalige Analyse der Bestand- theile in einen Gedanken zusammenzufassen, kann mit dem Be- streben die Bestandtheile zu sondern in einen eigenthümlichen
i) Nicht in metaphysischem Sinne zu nehmen.
2) Fasst man diesen Vorgang auch als Abstraction auf, so verlieren doch hie- durch die Elemente, wie wir sehen werden, nichts von ihrer Bedeutung. Vgl. die s}jäteren Ausfülirung(;n über den Bcrjriff im vorletzten Capitel.
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Widerstreit gerathen. Das dunkle Bild des Beständigen, welches sich nicht merklich ändert, wenn ein oder der andere Bestand- theil ausfällt, scheint etwas für sich zu sein. Weil man jeden Bestandtheil einzeln wegnehmen kann, ohne dass dies Bild auf- hört die Gesammtheit zu repräsentiren und wieder erkannt zu werden, meint man, man könnte alle wegnehmen und es bliebe noch etwas übrig. So entsteht in natürlicher Weise der Anfangs imponirende, später aber als ungeheuerlich erkannte philosophische Gedanke eines (von seiner „Erscheinung" ver- schiedenen unerkennbaren) Dinges an sich.
Das Ding, der Körper, die Materie ist nichts ausser dem Zusammenhang der Elemente, der Farben, Töne u. s. w. ausser den sogenannten Merkmalen. Das vielgestaltige vermeintliche philosophische Problem von dem einen Ding mit seinen vielen Merkmalen entsteht durch das Verkennen des Umstandes, dass übersichtliches Zusammenfassen und sorgfältiges Trennen, obwohl beide temporär berechtigt und zu verschiedenen Zwecken er- spriesslich, nicht auf einmal geübt werden können. Der Körper ist einer und unveränderlich, so lange wir nicht nöthig haben, auf Einzelheiten zu achten. So ist auch die Erde oder ein Billardballen eine Kugel, so bald wir von allen Abweichungen von der Kugelgestalt absehen wollen, und grössere Genauigkeit unnöthig ist. W^erden wir aber dazu gedrängt, Urographie oder Mikroskopie zu treiben, so hören beide Körper auf Kugeln zu sein.
4- Der Mensch hat vorzugsweise die Fähigkeit sich seinen Standpunkt willkürlich und bewusst zu bestimmen. Er kann jetzt von den imposantesten Einzelnheiten absehen, und sofort wieder die geringste Kleinigkeit beachten, jetzt die stationäre Strömung ohne Rücksicht auf den Inhalt (ob Wärme, Electricität oder Flüssigkeit) betrachten, und dann die Breite einer Fraunhofer- schen Linie im Spectum schätzen; er kann nach Gutdünken zu den aUgemeinsten Abstraktionen sich erheben, oder ins Einzelne
sich vertiefen. Das Thier besitzt diese Fähigkeit in viel ge- ringerem Grade. Es steht sich nicht auf einen Standpunkt, es wird meist durch die Eindrücke auf denselben gestellt. Der Säugling, welcher den Vater mit dem Hut nicht erkennt, der Hund, der durch den neuen Rock des Herrn irre wird, unter- liegen im Widerstreit der Standpunkte. Wer wäre nie in einem ähnlichen Falle unterlegen? Auch der philosophirende Mensch kann gelegentlig unterliegen, wie das angeführte wunderliche Problem lehrt. Besondere Uumstände scheinen noch für die Be- rechtigung des erwähnten Problems zu sprechen. Farben, Töne, Düfte der Körper sind flüchtig. Es bleibt als beharrlicher nicht leicht verschwindender Kern das Tastbare zurück, welches als Träger der daran gebundenen flüchtigeren Eigenschaften erscheint. Die Gewohnheit hält nun den Gedanken an einen solchen Kern fest, auch wenn sich schon die Erkenntniss Bahn gebrochen hat, dass Sehen, Hören, Riechen und Tasten durchaus verwandt sind. Hiezu kommt noch, dass dem Räumlichen und Zeitlichen in Folge der eigenthümlichen grossen Entwicklung der mecha- nischen Physik eine Art höherer Realität gegenüber den Farben, Tönen, Düften zugeschrieben wird. Dem entsprechend erscheint das zeitliche und räumliche Band von Farben, Tönen, Düften realer als diese selbst. Die Physiologie der Sinne legt aber klar, dass Räume und Zeiten ebenso gut Empfindungen genannt werden können als Farben und Töne. Hievon später.
5- Auch das Ich, so wie das Verhältniss der Körper zum Ich, gibt Anlass zum Auftreten analoger Scheinprobleme, deren Kern im Folgenden kurz angegeben werden sollen. Die zuvor statu- irten Elemente wollen wir durch die Buchstaben ABC.... KLM... a ß y . . . andeuten. Die Complexe von Farben Tönen u. s. w., welche man gewöhnlich Körper nennt, bezeichnen wir der Deutlichkeit wegen mit A, B, C . . . . , den Complex, der unser Leib heisst, und der ein durch Besonderheiten ausgezeichneter Theil der ersteren ist, neuen wir K, L,
M den Complex von Willen, Erinnerungsbildern u. s. w.
stellen wir durch a, ß, y . . . . dar. Gewöhnlich wird nun der Complex a, /?, 7 . . . K L M . . . als Ich dem Complex A B C ... als Körperwelt gegenübergestellt; zuweilen wird auch a ß y .... als Ich, K L M .... A B C .... als Körperwelt zusammengefasst. Zunächst erscheint A B C . . . . als unab- hängig vom Ich und diesem selbstständig gegenüber stehend. Diese Unabhängigkeit ist nur relativ, und hält vor gesteigerter Aufmerksamkeit nicht Stand. In dem Complex a ß y ... kann sich allerdings manches ändern, ohne dass an ABC.... viel bemerklich wird, ebenso umgekehrt. Viele Aenderungen in a ß y • . ■ gehen aber durch Aenderungen in K L M . . . nach ABC.... über und umgekehrt. (Wenn z. B. lebhafte Vor- stellungen in Handlungen ausbrechen, oder die Umgebung in unserm Leib merkliche Aederungen veranlasst.) Hiebei scheint K L M . . . . mit a ß y . . . . und auch mit A B C . . . . stärker zusammenzuhängen, als diese untereinander. Diese Ver- hältnisse finden eben in dem gewöhnlichen Denken und Sprechen ihren Ausdruck.
Genau genommen zeigt sich aber, dass A B C .... immer durch K L M . . . . mitbestimmt ist. Ein Würfel wird, wenn er nahe, gross, wenn er fern, klein, mit dem rechten Auge anders als mit dem linken, gelegentlich doppelt, bei geschlossenen Augen gar nicht gesehen. Die Eigenschaften eines und desselben Körpers erscheinen also durch den Leib modificirt, sie erscheinen durch denselben bedingt. Wo ist denn aber derselbe Körper, der so verschieden erscheint? Alles was man sagen kann ist, dass verschiedene A B C . . . . an verschiedene K L M gebunden sindi).
i) Ich habe diesem Gedanken vor langer Zeit (Vierteljahrsschrift für Psychiatrie, Leipzig und Neuwied 1868 „über die Abhängigkeit der Netzhautstellen von einander'') in folgender Weise Ausdruck gegeben: „Der Ausdruck „Sinnestäuschung" beweist, dass man sich noch nicht recht zum Bewusstsein gebracht, oder wenigstens noch nicht nöthig gefunden hat dies Bewusstsein auch in der Terminologie zu bekunden, dass die Sinne weder falsch noch richtig zeigen. Das einzig Richtige, was man von den Sinnesorganen sagen kann, ist, dass sie unter verschiedenen Umständen
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Man pflegt in der populären Denk- und Redeweise der Wirklichkeit den Schein gegenüber zu stellen. Einen Blei- stift, den wir in der Luft vor uns halten, sehen wir gerade; tauchen wir denselben schief ins Wasser, so sehen wir ihn geknickt. Man sagt nun in letzterem Falle: Der Bleistift scheint geknickt, ist aber in Wirklichkeit gerade. Was berechtigt uns aber eine Thatsache der andern gegenüber für Wirklichkeit zu erklären und die andere zum Schein herabzudrücken? In beiden Fällen liegen doch Thatsachen vor, welche eben verschieden bedingte, verschiedenartige Zusammenhänge der Elemente darstellen. Der eingetauchte Bleistift ist eben wegen seiner Umgebung optisch geknickt, haptisch und metrisch aber gerade. Das Bild im Hohl- oder Planspiegel ist nur sichtbar, während unter andern (ge- wöhnlichen) Umständen dem sichtbaren Bild auch ein tastbarer Körper entspricht. Eine helle Fläche ist neben einer dunklen heller als neben einer noch helleren. Unsere Erwartung wird allerdings g'etäuscht, wenn wir verschiedene Fälle des Zusammen- hanges, auf die Bedingungen nicht genau achtend, mit einander verwechseln, den natürlichen Fehler begehen, in ungewöhnlichen Fällen dennoch das gewöhnliche zu erwarten. Die Thatsachen sind daran unschuldig. Es hat nur einen praktischen aber keinen wissenschaftlichen Sinn, in diesen Fällen von Schein zu sprechen. Ebenso hat die oft gestellte Frage, ob die Welt wirklich ist, oder ob wir sie bloss träumen, gar keinen wissenschaftlichen Sinn Auch der wüsteste Traum ist eine Thatsache, so gut als jede andere. Wären unsere Träume regelmässiger, zusammenhängen- der, stabiler, so wären sie für uns auch praktisch wichtiger.
Der populäre Gedanke eines Gegensatzes von Schein und Wirklichkeit hat auf das wissenschaftlich-philosophische Denken sehr anregend gewirkt. Dies zeigt sich z. B. in Piatons g'eist-
verschiedene Empfindungen und Wahrnehmungen auslösen. Weil diese „Umstände" so äusserst mannigfaltiger Art, theils äussere (in den Objecten gelegene), theils innere (in den Sinnesorganen sitzende) , theils innerste (in den Centralorganen thätige) sind, kann es allerdings den Anschein haben , wenn man nur auf die äussern Umstände Acht hat, dass das Organ ungleich unter gleichen Umständen wirkt. Die ungewöhnlichen AVirkungen pflegt man nun Täuschungen zu nennen".
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reicher und poetischer Fiction der Höhle, in der wir mit dem Rücken gegen das Feuer gekehrt blos die Schatten der Vorgänge beobachten (Staat VII, i). Indem aber dieser Gedanke nicht ganz zu Ende gedacht wurde, hat derselbe auf unsere Weltanschauung einen ungebührlichen Einfluss genommen. Die Welt, von der wir doch ein Stück sind, kam uns ganz abhanden, und wurde uns in un- absehbare Ferne gerückt. So glaubt auch mancher Jüngling, der zum erstenmal von der astronomischen Strahlenbrechung hört, die ganze Astronomie sei nun in Frage gestellt, während doch durch eine leicht zu ermittelnde unbedeutende Correctur alles wieder berichtigt wird.
6. Wir sehen einen Körper mit einer Spitze S. Wenn wir S berühren, zu unserm Leib in Beziehung bringen, erhalten wir einen Stich. Wir können S sehen, ohne den Stich zu fühlen. Sobald wir aber den Stich fühlen, werden wir S finden. Es ist also die sichtbare Spitze ein bleibender Kern, an den sich der Stich nach Umständen wie etwas Zufälliges anschliesst. Bei der Häufigkeit analoger Vorkommnisse gewöhnt man sich endlich, alle Eigenschaften der Körper als von bleibenden Kernen aus- gehende durch Vermittlung des Leibes dem Ich beigebrachte „Wirkungen", die wir Empfindungen nennen, anzusehen. Hiermit verlieren aber diese Kerne den ganzen sinnlichen Inhalt, werden zu blossen Gedankensymbolen. Es ist dann richtig, dass die Welt nur aus unsern Empfindungen besteht. Wir wissen aber dann eben nur von den Empfindungen, und die Annahme jener Kerne, so wie einer Wechselwirkung derselben^ aus welcher erst die Empfindungen hervorgehen würden, erweist sich als gänz- lich müssig und überflüssig. Nur dem halben Realismus oder dem halben KJriticismus kann eine solche Ansicht zusagen.
7- Gewöhnlich- wird der Complex a ^ 7 . . . K L M . . . als Ich dem Complex ABC.... gegenübergestellt. Nur jene Elemente von ABC...., welche a ß y . . . . stärker alteriren,
lO
wie einen Stich, einen Schmerz pflegt man bald mit dem Ich zu- sammenzufassen. Später zeigt sich aber durch Bemerkungen der oben angeführten Art, dass das Recht, ABC.... zum Ich zu zählen, nirgends aufhört. Dem entsprechend kann das Ich so erweitert werden, dass es schliesslich die ganze Welt umfasst^). Das Ich ist nicht scharf abgegrenzt, die Grenze ist ziemlich un- bestimmt und willkürlich verschiebbar. Nur indem man dies verkennt, die Grenze unbewusst enger und zugleich auch weiter zieht, entstehen im Widerstreit der Standpunkte die metaphysischen Schwierigkeiten.
So bald wir. erkannt haben, dass die vermeintlichen Einheiten „Körper," „Ich" nur Nothbehelfe zur vorläufigen Orientirung und für bestimmte praktische Zwecke sind (um die Körper zu ergreifen, um sich vor Schmerz zu wahren u. s. w.), müssen wir sie bei vielen weitergehenden wissenschaftlichen Untersuchungen als unzureichend und unzutreffend aufgeben. Der Gegensatz zwischen Ich und Welt, Empfindung oder Erscheinung und Ding fällt dann weg, und es handelt sich lediglich um den Zusammenhang der Elemente aßy.... AliC... K L M . . . ., für welchen eben dieser Gegensatz nur ein theil- vveise zutreffender unvollständiger Ausdruck war. Dieser Zu- sammenhang ist nichts weiter als die Verknüpfung jener Elemente mit andern gleichartigen Elementen (Zeit und Raum). Die Wissen- schaft hat ihn zunächst einfach anzuerkennen, und sich in dem- selben zu Orientiren, anstatt die Existenz desselben sofort erklären zu wollen.
Bei oberflächlicher Betrachtung scheint der Complex a ß y . . aus viel flüchtigeren Elementen zu bestehen, als A B C . . . .
I) Wenn ich sage, der Tisch, der Baum u. s. w. sind meine Empfindungen, so liegt darin, der Vorstellung des gemeinen Mannes gegenüber, eine wirkliche Er- weiterung des Ich. Al)or aucli nach der Gefühlsseile ergibt sicii eine solche Er- weiterung für den Virtuosen , der sein Instrument fast so gut beherrscht als seinen I.fil), für den gewandten lledner, in dem alle Augenaxen convergiren , und der die Gedanken seiner Zuhörer leitet, für den kräftigen Politiker, der seine Partei mit Leichtigkeit führt u. s. w, — In De]ircssionszuständen hingegen, wie sie nervöse Menschen zeitweilig zu ertragen haben, scliriimiiri das Ich zusanuuen. ICiiu- Wand scheint es von der Welt zu trennen.
II —
und K L M . . . . , in welchen letzteren die Elemente stabiler und in mehr beständiger Weise (an feste Kerne) geknüpft zu sein scheinen. Obgleich bei weiterem Zusehen die Elemente aller Complexe sich als gleichartig erweisen, so schleicht sich doch auch nach dieser Erkenntniss die ältere Vorstellung eines Gegen- satzes von Körper und Geist leicht wieder ein. Der Spiritualist fühlt wohl gelegentlich die Schwierigkeit, seiner vom Geist ge- schaffenen Körperwelt die nöthige Festigkeit zu geben, dem Materialisten wird es sonderbar zu Muth, wenn er die Körperwelt mit Empfindung beleben soll. Der durch Ueberlegung erworbene monistische Standpunkt wird durch die älteren stärkeren in- stinctiven Vorstellungen leicht wieder getrübt.
Die bezeichnete Schwierigkeit wird besonders bei folgender Ueberlegung empfunden. In dem Complex ABC . . . , den wir als Körperwelt bezeichnet haben, finden wir als Theil nicht nur unsern Leib K L M . . . . , sondern auch die Leiber anderer Menschen (oder Thiere) K' L' M' . . . . , K" L" M" . . . . , an welche wir nach der Analogie dem Complex a ß y ähn- liche o! ß' f . . . . , a" ß" y") . . . gebunden denken. So lange wir uns mit K' L' M' . . . . beschäftigen, befinden wir uns in einem uns vollständig geläufigen, uns überall sinnlich zugäng- lichen Gebiet. Sobald wir aber nach den Empfindungen oder Gefühlen fragen, die dem Leib K' L' M' . . . . zugehören, finden wir dieselben in dem sinnlichen Gebiet nicht mehr vor, wir denken sie hinzu. Nicht nur das Gebiet, auf welches wir uns da begeben, ist uns viel weniger geläufig, sondern auch der Uebergang auf dasselbe ist verhältnissmässig unsicher. Wir haben das Gefühl, als sollten wir uns in einen Abgrund stürzen i). Wer immer nur
i) Als ich in einem Alter von 4 — 5 Jahren zum erstenmal vom Lande nach Wien kam, und von meinem Vater auf die Bastei (die ehemalige Stadtmauer) geführt wurde, war ich sehr überrascht, im Stadtgraben unten Menschen zu sehen, und konnte nicht begreifen, wie dieselben von meinem Standpunkt aus hatten hinunter gelangen können, denn der Gedanke eines anderen möglichen Weges kam mir gar nicht in den Sinn. Dieselbe Ueberraschung beobachtete ich nochmals an meinem etwa 3-jährigen
diesen Gedankenweg einschlägt, wird das Gefühl der Unsicher- heit, das als Quelle von Scheinproblemen sehr ergiebig ist, nie vollständig los werden.
Wir sind aber auf diesen Weg nicht beschränkt. Wir be- trachten zunächst den gegenseitigen Zusammenhang der Elemente des Complexes ABC. , . . ohne auf K L M . . . . (unsern Leib) zu achten. Jede physikalische Untersuchung ist von dieser Art. Eine weisse Kugel fällt auf eine Glocke ; es klingt. Die Kugel wird gelb vor der Natrium-, roth vor der Lithiumlampe. Hier scheinen die Elemente (ABC....) nur untereinander zusammenzuhängen, von unserm Leib (K L M . . . .) unabhängig zu sein. Nehmen wir aber Santonin ein, so wird die Kugel auch gelb. Drücken wir ein Auge seitwärts, so sehen wir zwei Kugeln. Schliessen wir die Augen ganz, so ist gar keine Kugel da. Durch- schneiden wir den Gehörnerv, so klingt es nicht. Die Elemente ABC.... hängen also nicht nur untereinander, sondern auch mit den Elementen K L M . . . . zusammen. Insofern, und nur insofern, nennen wir ABC.... Empfindungen und betrachten ABC als zum Ich gehörig. Wo in dem folgenden neben oder für die Ausdrücke „Element", „Elementencomplex" die Bezeichnungen „Empfindung", „Empfindungscomplex" gebraucht werden, muss man sich gegenwärtig halten, dass die Elemente nur in der bezeichneten Verbindung und Beziehung, in der bezeichneten functionalen Abhängigkeit Empfindungen sind. Sie sind in anderer functionaler Beziehung zugleich physi- kalische Objecte. Die Nebenbezeichnung der Elemente als Em- pfindungen wird blos deshalb verwendet, weil den meisten Menschen die gemeinten Elemente eben als Empfindungen (P^arben, Töne,
Knaben bei Gelegenheit eines Spazierganges auf der Prager Stadtmauer. Dieses Ge- fühls erinnerte ich mich jedesmal bei der im Text bezeichneten Ueberlegung, und gern gestehe ich , dass mein zufälliges Erlebniss bei Befestigung meiner vor langer Zeit gefassten Ansicht über diesen Punkt wesentlich mitgewirkt hat. Die Gewohnheit, materiell und psychisch stets dieselben Wege zu gehen , wirkt sehr desorientirend. Ein Kind kann beim Durchbrechen einer Wand im längst bewohnten Hause eine wahre Erweiterung der Weltanschauung erfahren, und eine kleine wissenschaftliche Wendung kann selir aufklärend wirken.
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Drucke, Räume, Zeiten u. s. w.) viel geläufiger sind, während nach der verbreiteten Auffassung die Massentheilchen als physika- lische Elemente gelten, an welchen die Elemente in dem hier gebrauchten Sinne als „Eigenschaften," „Wirkungen" haften. Auf diesem Wege finden wir also nicht die vorher bezeichnete Kluft zwischen Körpern und Empfindungen, zwischen aussen und innen, zwischen der materiellen und geistigen Welt^). Alle Elemente ABC... KLM.... bilden nur eine zusammenhängende Masse, welche an jedem Element angefasst ganz in Bewegung geräth, nur dass eine Störung bei KLM.... viel weiter und tiefer greift, als bei ABC.... Ein Magnet in unserer Umgebung stört die benachbarten Eisenmassen, ein stürzendes Felsstück erschüttert den Boden, das Durchschneiden eines Nerven aber bringt das ganze System von Elementen in Bewegung. Ganz unwillkürlich führt das Verhältniss zu dem Bilde einer zähen Masse, welche an mancher Stelle (dem Ich) fester zusammenhängt. Oft habe ich mich dieses Bildes im Vortrage bedient.
9-
So besteht also die grosse Kluft zwischen physikalischer und psychologischer Forschung nur für die gewohnte stereotype Be- trachtungsweise. Eine Farbe ist ein physikalisches Object, sobald wir z. B. auf ihre Abhängigkeit von der beleuchtenden Lichtquelle (andern Farben, Wärmen, Räume u. s. w.) achten. Achten wir aber auf ihre Abhängigkeit von. der Netzhaut (den Elementen K L M . . . .) so ist sie ein psychologisches Object, eine Empfindung. Nicht der Stoff, sondern die Untersuchungsrichtung ist in beiden Gebieten verschieden. (Vgl. auch Capitel II, S. 34, 35).
wSowohl wenn wir von der Beobachtung fremder Menschen- oder Thierleiber auf deren Empfindungen schliessen, als auch.
ij Vgl. meine Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfindungen. Leip- zig. Engelmann 1875 , S. 54. Daselbst habe ich meine Ansicht zuerst kurz aber bestimmt ausgesprochen, in den Worten : „Die Erscheinungen lassen sich in Elemente zerlegen, die wir, insofern sie als mit bestimmten Vorgängen des Körpers verbunden und durch dieselben bedingt angesehen werden können, Empfindungen nennen".
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wenn wir den Einfluss des eigenen Leibes auf unsere Empfin- dungen untersuchen, müssen wir eine beobachtete Thatsache durch Analogie ergänzen. Diese Ergänzung fällt aber viel sicherer und leichter aus, wenn sie etwa nur den Nervenvorg-ang betrifft, den man am eignen Leib nicht vollständig beobachten kann, wenn sie also in dem geläufigem physikalischen Gebiet spielt, als wenn sich die Erg'änzung auf Psychisches, die Empfindungen, Gedanken anderer Menschen erstreckt. Sonst besteht kein we- sentlicher Unterschied.
lO.
Die dargelegten Gedanken erhalten eine grössere Festigkeit und Anschaulichkeit, wenn man dieselben nicht bloss in abstracter
i-
Fig. I. Form ausspricht, sondern direkt die Thatsachen ins Auge fasst, welchen sie entspringen. Liege ich z. B. auf einem Ruhebett,
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und schliesse das rechte Auge, so bietet sich meinem Hnken Auge das Bild der beistehenden Figur i. In einem durch den Augen- brauenbog-en, die Nase und den Schnurrbart gebildeten Rahmen erscheint ein Theil meines Körpers, so weit er sichtbar ist, und dessen Umgebung^). Mein Leib unterscheidet sich von den andern menschlichen Leibern nebst dem Umstände, dass jede leb- haftere Bewegungsvorstellung sofort in dessen Bewegung aus- bricht, dass dessen Berührung auffallendere Veränderungen bedingt als jene anderer Körper, dadurch dass er nur theilweise und ins- besondere ohne Kopf gesehen wird. Beobachte ich ein Element A im Gesichtsfelde, und untersuche dessen Zusammenhang mit einem andern Element B desselben Feldes, so komme, ich aus dem Gebiet der Physik in jenes der Physiologie oder Psychologie, wenn B, um den treffenden Ausdruck anzuwenden, den ein Freund beim Anblick dieser Zeichnung gelegentlich gebraucht hat 2), die Haut passirt. Aehnliche Ueberlegungen wie für das Gesichtsfeld lassen sich für das Tastfeld und die Wahrnehmungsfelder der übrigen Sinne anstellen ^).
1 1.
Es ist schon auf die Verschiedenheit der Elementengruppen, die wir mit ABC.... und a ß y . . . . bezeichnet haben, hin- gewiesen worden. In der That, wenn wir einen grünen Baum vor uns sehen, oder uns an den grünen Baum erinnern, uns denselben vorstellen, so wissen wir diese beiden Fällen ganz
i) Von dem binocularen Gesichtsfeld, dass mit seiner eigen tbümlichen Stereo- scopie jedermanii geläufig ist, das aber schwieriger zu beschreiben und durch eine ebene Zeichnung nicht darstellbar ist, wollen wir hier absehen.
2) Herr Ingenieur J. Popper in Wien.
3) Zur Entwerfung dieser Zeichnung bin ich vor etwa 30 Jahren durch einen drolligen Zufall veranlasst worden. Ein längst verstorbener Herr v. L. , dessen wahr- haft liebenswürdiger Character über manche Excentricität hinweg half, nöthigte mich eine Schrift von E. Krause zu lesen. In derselben findet sich folgende Stelle:
„Aufgabe: Die Selbstschauung ,Ich' auszuführen.
Auflösung: Man führt sie ohne weiteres aus." Um nun dieses philosophische „Viel Lärm um Nichts" scherzhaft zu illustriren , und zugleich zu zeigen, wie man wirklich die Selbstschauung ,,Ich" ausführt, entwarf ich die obige Zeichnung.
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wohl zu unterscheiden. Der vorgestellte Baum hat eine viel weniger bestimmte viel mehr veränderliche Gestalt, sein Grün ist viel matter und flüchtiger, und er erscheint vor allem deutlich in einem anderen Feld. Eine Bewegung, die wir ausführen wollen, ist immer nur eine vorgestellte Bewegung und er- scheint in einem andern Feld als die ausgeführte Bewegung, welche übrigens immer erfolgt, wenn die Vorstellung lebhaft genug wird. Die Elemente A oder a erscheinen in einem ver- schiedenen Feld, heisst nun, wenn man auf den Grund geht, nichts anderes, als dass sie mit verschiedenen andern Elementen ver- knüpft sind. So weit wären also die Grundbestandtheile in A B C . . . . a ^ 7 dieselben (Farben, Töne, Räume, Zeiten, Bewegungsempfindungen ....), und nur die Art ihrer Verbindung verschieden.
Schmerz und Lust pflegt man als von den Sinnesempfindungen verschieden zu betrachten. Allein nicht nur die Tastempfindungen sondern auch alle übrigen Sinnesempfindungen können allmälig in Schmerz und Lust übergehen. Auch Schmerz und Lust können mit Recht Empfindungen genannt werden. Sie sind nur nicht so gut analysirt und so geläufig als die Sinnesempfindungen, vielleicht auch nicht auf so wenige Organe beschränkt als letztere. Schmerz- und Lustempfindungen, mögen sie noch so schattenhaft auftreten, bilden einen wesentlichen Inhalt aller sogenannten Ge- fühle. Was uns sonst noch zum Bewusstsein kommt, wenn wir von Gefühlen ergriffen werden, können wir als mehr oder weniger diffuse, nicht scharf localisirte Empfindungen be- zeichnen. W. James ^) und später Th. Ribot^) sind der physio- logischen Mechanik der Gefühle nachgegangen und sehen das Wesentliche in zweckmässigen, den Umständen entsprechenden, durch die Organisation ausgelösten Actionstendenzen des Leibes. Nur ein Theil derselben tritt ins Bewusstsein. Wir sind traurig, weil wir weinen, und nicht umgekehrt, sagt James. Und Ribot findet mit Recht den niedern Stand unserer Kenntniss der Ge-
1) W. James, Psychology. New York 1890, II, p. 442.
2) Th. Kil)ot, La psycholgic des senliineiUs 1899.
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fühle dadurch bedingt, dass wir stets nur beachtet haben, was bei diesen physiologischen Processen ins Bewusstsein tritt. Aller- dings geht er zu weit, wenn er alles Psychische für dem Phy- sischen bloss „surajoute", und nur das Physische für wirksam hält. Für uns besteht ein solcher Unterschied nicht.
Somit setzen sich die Wahrnehmungen so wie die Vor- stellungen, der Wille, die Gefühle, kurz die ganze innere und äussere Welt, aus einer geringen Zahl von gleichartigen Elementen in bald flüchtiger bald festerer Verbindung zu- sammen. Man nennt diese Elemente gewöhnlich Empfin- dungen. Da aber in diesem Namen schon eine einseitige Theorie liegt, so ziehn wir vor, kurzweg von Elementen zu sprechen, wie wir schon gethan haben. Alle Forschung geht auf die Ermittlung der Verknüpfung dieser Elemente aus^). Sollte man mit einer Art dieser Elemente durchaus nicht das Auskommen finden, so werden eben mehrere statuirt werden. Es ist aber nicht zweckmässig für die hier behandelten Fragen, die Annahmen gleich von vornherein zu compliciren.
12.
Dass aus diesem Elementencomplex, welcher im Grunde nur einer ist, die Körper und das Ich sich nicht in bestimmter für alle Fälle zureichender Weise abgrenzen lassen, wurde schon gesagt. Die Zusammenfassung der mit Schmerz und Lust am nächsten zusammenhängenden Elemente in einer ideellen denk- ökonomischen Einheit, dem Ich, hat die höchste Bedeutung für den im Dienste des schmerzmeidenden und lustsuchenden Willens stehenden Intellect. Die Abgrenzung des Ich stellt sich daher instinctiv her, wird geläufig und befestigt sich vielleicht sogar durch Vererbung. Durch ihre hohe praktische Bedeutung
i) Vgl. S. 4, 6, 10, 12, 13 der vorliegenden Schrift, endlich auch die allge- meine Anmerkung am Schluss meiner Schrift: Die Geschichte und die Wurzel des Satzes der Erhaltung der Arbeit. Prag. Calve 1872.
Mach, Analyse. 3. Auf!. '^
nicht nur für das Individuum sondern für die ganze Art machen sich die Zusammenfassungen „Ich" und „Körper" instinctiv geltend, und treten mit elementarer Gewalt auf. In besonderen Fällen aber, in welchen es sich nicht um praktische Zwecke handelt, sondern die Erkenntniss Selbstzweck wird, kann sich diese Abgrenzung als ungenügend, hinderlich, unhaltbar erweisen ^),
Nicht das Ich ist das Primäre, sondern die Elemente (Empfin- dungen). Man berücksichtige das in Bezug auf den Ausdruck „Empfindung" S. 17 Gesagte. Die Elemente bilden das Ich. Ich empfinde Grün, will sagen, dass das Element Grün in einem gewissen Complex von andern Elementen (Empfindungen, Er- innerungen) vorkommt. Wenn ich aufhöre Grün zu empfinden, wenn ich sterbe, so kommen die Elemente nicht mehr in der gewohnten geläufigen Gesellschaft vor. Damit ist alles gesagt. Nur eine ideelle denkökonomische, keine reelle Einheit hat auf- gehört zu bestehen. Das Ich ist keine unveränderliche bestimmte scharf begrenzte Einheit. Nicht auf die Un Veränderlichkeit nicht auf die bestimmte Unterscheidbarkeit von andern und nicht auf die scharfe Begrenzung kommt es an, denn alle diese Momente variiren schon im individuellen Leben von selbst, und deren Veränderung wird vom Individuum sogar angestrebt. Wichtig ist nur die Continuität. Diese Ansicht stimmt mit der- jenigen, zu welcher Weis mann durch biologische Untersuchungen (zur Frage der UnsterbHchkeit der Einzelligen. Biolog. Central- blatt, IV. Bd. Nr. 21, 22) gelangt. (Vergl. besonders S. 654 und 655, wo von der Theilung des Individuums in zwei gleiche
i) So kann auch das Standesbewusstsein und das Standesvorurteil, das Gefühl für Nationalität, der bornirteste Localpatriotismus für gewisse Zwecke sehr wichtig sein. Solche Anschauungen werden aber gewiss nicht den weitblickenden Forscher auszeichnen, wenigstens nicht im Momente des Forschens. Alle diese egoistischen An- schauungen reichen nur für praktische Zwecke aus. Natürlich kann der Gewohnheit auch der Forscher unterliegen. Die kleinen gelehrten Lumpereien, das schlaue Be- nützen und das perfide Verschweigen, die Schlingbeschwerden bei dem unvermeidlichen Worte der Anerkennung und die schiefe Beleuchtung der fremden Leistung bei dieser Gelegenheit zeigen hinlänglich, dass auch der Forscher den Kampf ums Dasein kämpft, dass auch die Wege der Wissenschaft noch zum Munde führen, und dass der reine Erkenntnisstrieb bei unscrn heutigen socialen Verhältnissen noch ein Ideal ist.
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Hälften die Rede ist.) Die Continuität ist aber nur ein Mittel den Inhalt des Ich vorzubereiten und zu sichern. Dieser In- halt und nicht das Ich ist die Hauptsache. Dieser ist aber nicht auf das Individuum beschränkt. Bis auf geringfügige werthlose persönliche Erinnerungen bleibt er auch nach dem Tode des In- dividuums in andern erhalten. Die Bewusstseinelemente eines Individuums hängen unter einander stark, mit jenen eines andern Individuums aber schwach und nur gelegentlich merklich zu- sammen. Daher meint jeder nur von sich zu wissen, indem er sich für eine untrennbare von anderen unabhängige Einheit hält. Bewusstseinsinhalte von allgemeiner Bedeutung durchbrechen aber diese Schranken des Individuums und führen, natürlich wieder an Individuen gebunden, unabhängig von der Person, durch die sie sich entwickelt haben, ein allgemeineres unper- sönliches, überpersönliches Leben fort. Zu diesem beizu- tragen, gehört zu dem grössten Glück des Künstlers, P^orschers, Erfinders, Socialreformators u. s. w.
Das Ich ist unrettbar. Theils diese Einsicht, theils die Eurcht vor derselben führen zu den absonderlichsten pessimistischen und optimistischen , religiösen , asketischen und philosophischen Ver- kehrtheiten. Der einfachen Wahrheit, welche sich aus der psycho- logischen Analyse ergibt, wird man sich auf die Dauer nicht ver- schliessen können. Man wird dann auf das Ich, welches schon während des individuellen Lebens vielfach variirt, ja im Schlaf und bei Versunkenheit in einer Anschauung, in einen Gedanken, gerade in den glücklichsten Augenblicken, theilweise oder ganz fehlen kann, nicht mehr in den hohen Werth legen. Man wird dann auf individuelle Unsterblichkeit^) gern verzichten, und nicht auf das Nebensächliche mehr Werth legen als auf die Hauptsache. Man wird hierdurch zu einer freieren und verklärten Lebens- auffassung gelangen, welche Missachtung des fremden Ich und Ueberschätzung des eigenen ausschliesst. Das ethische Ideal,
I) Indem wir unsere persönlichen Erinnerungen über den Tod hinaus zu er- halten wünschen , verhalten wir uns ähnlich wie der kluge Eskimo, der die Unsterb- lichkeit ohne Seehunde und Wairosse dankend ablehnte.
2*
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welches sich auf dieselbe gründet, wird gleich weit entfernt sein von jenem des Asketen, welches für diesen biologisch nicht haltbar ist, und zugleich mit seinem Untergang erlischt, wie auch von jenem des Nietzsche'schen frechen „Uebermenschen," welches die Mitmenschen nicht dulden können, und hoffentlich nicht dul- den werden?^)
Genügt uns die Kenntniss des Zusammenhanges der Elemente (Empfindungen) nicht, und fragen wir, „wer hat diesen Zusammen- hang der Empfindungen, wer empfindet"?, so unterliegen wir der alten Gewohnheit, jedes Element (jede Empfindung) einem un- analysirten Complex einzuordnen, wir sinken hiermit unver- merkt auf einen älteren, tiefern und beschränktem Standpunkt zurück. Man weisst wohl oft darauf hin, dass ein psychisches Erlebniss, welches nicht das Erlebniss eines bestimmten Subjects wäre, nicht denkbar sei, und meint damit die wesentliche Rolle der Einheit des Bewusstseins dargethan zu haben. Allein, wie verschiedene Grade kann das Ichbewusstsein haben, und aus wie mannigfaltigen zufälligen Erinnerungen setzt es sich zusammen. Man könnte ebensogut sagen, dass ein physikalischer Vorgang, der nicht in irgend einer Umgebung, eigentlich immer in der Welt, stattfindet, nicht denkbar sei. Von dieser Umgebung, welche ja in Bezug auf ihren Einfluss sehr verschieden sein und in Specialfällen auf ein Minimum zusammenschrumpfen kann, zu abstrahiren, muss uns hier wie dort erlaubt sein, um die Unter- suchung zu beginnen. Man denke an Empfindungen der niedern Thiere, welchen man kaum ein ausgeprägtes Subject wird zuschreiben wollen. Aus den Empfindungen baut sich das Subject auf, welches dann allerdings wieder auf die Empfin- dungen reagirt.
Die Gewohnheit, den unanalysirten Ich -Complex als eine untheilbare Einheit zu behandeln, hat sich wissenschaftlich oft in eigenthümlicher Weise g'eäussert. Aus dem Leibe wird zunächst das Nervensystem als Sitz der Empfindungen ausgesondert. In
i) So weit auch der Weg ist von der theoretischen Einsicht zum praktischen Verhallen, so kann letzteres der ersteren auf die Dauer doch nicht wiederstehen.
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dem Nervensystem wählt man wieder das Hirn als hiezu geeignet aus, und sucht schliesslich, die vermeintliche psychische Einheit zu retten, im Hirn noch nach einem Punkt als Sitz der Seele. So rohe Anschauungen werden aber schwerlich geeignet sein, auch nur in den gröbsten Zügen die Wege der künftigen Unter- suchung über den Zusammenhang des Physischen und Psych- ischen vorzuzeichnen. Dass die verschiedenen Organe, Theile des Nervensystems, mit einander physisch zusammenhängen und durch einander leicht erregt werden können, ist wahrscheinlich die Grundlage der „psychischen Einheit." Ich hörte einmal ernst- lich die Frage discutiren: „Wieso die Wahrnehmungen eines grossen Baumes in dem kleinen Kopfe des Menschen Platz fände"? Besteht auch dieses Problem nicht, so w4rd doch durch die Frage die Verkehrtheit fühlbar, die man leicht begeht, indem man sich die Empfindungen räumlich in das Hirn hineindenkt. Ist von den Empfindungen eines andern Menschen die Rede, so haben diese in meinem optischen oder überhaupt physischen Raum natürlich gar nichts zu schaffen; sie sind hinzugedacht, und ich denke sie causal (oder besser functional), aber nicht räumlich an das beobachtete oder vorgestellte Menschenhirn gebunden. Spreche ich von meinen Empfindungen, so sind dieselben nicht räumiich in meinem Kopfe, sondern mein „Kopf" theilt vielmehr mit ihnen dasselbe räumliche Feld, wie es oben dargestellt wurde. (Vergl. das über Fig. i, S. 14, 15 Gesagte) i).
i) Schon bei Johannes Müller finden wir einen Ansatz zu ähnlichen Be- trachtungen. Sein metaphysischer Hang hindert ihn aber, dieselben consequent zu Ende zu führen. Bei Hering aber stossen wir (Hermann's Handbuch der Physio- logie, Bd. III I, S. 345) auf folgende characteristische Stelle: ,,Der Stoff, aus welchem die Sehdinge bestehen , sind die Gesichtsempfindungen. Die untergehende Sonne ist als Sehding eine flache, kreisförmige Scheibe, welche aus Gelbroth, also aus einer Ge- sichtsempfindung besteht. Wir können sie daher geradezu als eine kreisförmige, gelb- rothe Empfindung bezeichnen. Diese Empfindung haben wir da, wo uns eben die Sonne erscheint." Ich kann wohl nach den Erfahrungen, die ich gelegentlich im Gespräch gemacht habe , sagen , dass die meisten Menschen, welche diesen Fragen nicht durch ernstes Nachdenken näher getreten sind, diese Auffassung einfach haar- sträubend finden werden. Natürlich ist das gewöhnliche Confundiren des sinnlichen und begrifflichen Raumes an diesem Entsetzen wesentlich schuld. Geht man, wie ich es gethan habe, von der ökonomischen Aufgabe der Wissenschaft aus, nach welcher
Man betone nicht die Einheit des Bewusstseins. Da der scheinbare Gegensatz der wirklichen und der empfundenen Welt nur in der Betrachtungsweise liegt, eine eigentliche Kluft aber nicht existirt, so ist ein mannigfaltiger zusammen- häng'ender Inhalt des Bewusstseins um nichts schwerer zu verstehen, als der mannigfaltige Zusammenhang in der Welt.
Wollte man das Ich als eine reale Einheit ansehen, so käme man nicht aus dem Dilemma heraus, entweder eine Welt von unerkennbaren Wesen demselben gegenüberzustellen (was ganz, müssig und ziellos wäre), oder die ganze Welt, die Ich anderer Menschen eingeschlossen, nur als in unserm Ich enthalten anzu- sehen (wozu man sich ernstlich schwer entschliessen wird).
Fasst man aber ein Ich nur als eine praktische Einheit für eine vorläufige orientirende Betrachtung, als eine stärker zu- sammenhängende Gruppe von Elementen, welche mit andern Gruppen dieser Art schwächer zusammenhängt, so treten Fragen dieser Art gar nicht auf, und die Forschung hat freie Bahn.
In seinen philosophischen Bemerkungen sagt Lichtenberg: „Wir werden uns gewisser Vorstellungen bewusst, die nicht von uns abhängen; andere, glauben wir wenigstens, hingen von uns ab; wo ist die Grenze? Wir kennen nur allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, sobald man es durch Ich denke übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postuliren, ist praktisches Bedürfniss". Mag-
nur der Zusammenhang des Beobachtbaren, Gegebenen für uns von Bedeutung ist, alles Hypothetische , Metaphysische , Müssige aber zu eliminiren ist , so gelangt man zu dieser Ansicht. Den gleichen Standpunkt wird man wohl Avenarius zuschreiben müssen, denn wir lesen bei ihm (Der menschliche Weltbegriff S. 76) die Sätze: „Das Gehirn ist kein Wohnort, Sitz, Erzeuger, kein Instrument oder Organ, kein Träger, oder Substrat u. s. w. des Denkens." „Das Denken ist kein Bewohner oder Befehls- haber, keine andere Hälfte oder Seite u. s. w. , aber auch kein Product , ja nicht ein- mal eine physiologische Function oder ni;r ein Zustand überhaupt des Gehirns." Ohne für jedes Wort von Avenarius und dessen Interpretation einstehen zu können und zu wollen, scheint mir doch seine Auffassung der meinigen sehr nahe zu liegen. Der Weg, den Avenarius verfolgt, ,,die Ausschaltung der Introjection", ist nur eine be- sondere Form der Elimination des Metaphysischen.
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auch der Weg, auf dem Lichtenberg zu diesem Resultate ge- langt, von dem unsrigen etwas verschieden sein, dem Resultate selbst müssen wir zustimmen.
13-
Nicht die Körper erzeug'en Empfindungen, sondern Ele- men tencompl exe (Empfindungscomplexe) bilden die Körper. Er- scheinen dem Physiker die Körper als das Bleibende, Wirkliche, die ,Elemente' hingeg-en als ihr flüchtiger vorübergehender Schein, so beachtet er nicht, dass alle „Körper" nur Gedanken- symbole für Elementencomplexe (Empfindungscomplexe) sind. Die eigentliche nächste und letzte Grundlage, welche durch physiologisch-physikalische Untersuchungen noch weiter zu er- forschen ist, bilden auch hier die bezeichneten Elemente. Durch diese Einsicht gestaltet sich in der Psychologie und in der Physik manches viel durchsichtiger und ökonomischer, und durch dieselbe werden manche vermeintlichen Probleme beseitigt.
Die Welt besteht also für uns nicht aus räthselhaften Wesen, welche durch Wechselwirkung mit einem andern ebenso räthsel- haften Wesen, dem Ich, die allein zugänglichen ,Empfindungen' erzeugen. Die Farben, Töne, Räume, Zeiten . . . sind für uns die letzten Elemente, (vgl. S. 12, 13), deren gegebenen Zusammenhang wir zu erforschen haben ^). Bei dieser Forschung können wir uns
i) Ich habe es stets als besonderes Glück empfunden, dass mir sehr früh (im einem Alter von 15 Jahren etwa) in der Bibliothek meines Vaters Kant 's ,,Prole- gomena zu einer jeden künftigen Metaphysik" in die Hand fielen. Diese Schrift hat damals einen gewaltigen unauslöschlichen Eindruck auf mich gemacht, den ich in gleicher Weise bei späterer philosophischer Leetüre nie mehr gefühlt habe. Etwa 2 oder 3 Jahre später empfand ich plötzlich die müssige Rolle, welche das „Ding an sich" spielt. An einem heitern Sommertage im Freien erschien mir einmal die Welt sammt meinem Ich als eine zusammenhängende Masse von Empfhidungen, nur im Ich stärker zusammenhängend. Obgleich die eigentliche Reflexion sich erst später hinzugesellte, so ist doch dieser Moment für meine ganze Anschauung bestimmend geworden. Uebrigens habe ich noch einen langen und harten Kampf gekämpft, bevor ich im Stande war, die gewonnene Ansicht auch in meinem Specialgebiete festzuhalten. Man nimmt mit dem Wertvollen der physikalischen Lehren notwendig eine bedeutende Dosis falscher Metaphysik auf, welche von dem, was beibehalten werden muss, recht schwer losgeht, gerade dann, wenn diese Lehren geläufig geworden. Auch die über- kommenen instinctiven Auffassungen traten zeitweilig mit grosser Gewalt hervor und stellten sich hemmend in den Weg. Erst durch abwechselnde Beschäftigung mit
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durch die für besondere praktische temporäre und beschränkte Zwecke gebildeten Zusammenfassungen und Abgrenzungen (Körper, Ich, Materie, Geist . . . .) nicht hindern lassen. Viel- mehr müssen sich bei der Forschung selbst, wie dies in jeder Specialwissenschaft geschieht, die zweckmässigsten Denkformen erst ergeben. Es muss durchaus an die Stelle der überkommenen instinktiven eine freiere, naivere, der entwickelten Erfahrung sich anpassende Auffassung treten.
14. Die Wissenschaft entsteht immer durch einen Anpassungs- process der Gedanken an ein bestimmtes Erfahrungsgebiet. Das Resultat des Processes sind die Gedanken elemente, welche das ganze Gebiet darzustellen vermögen. Das Resultat fällt natürlich verschieden aus, je nach der Art und der Grösse des Gebietes. Erweitert sich das Erfahrungsgebiet, oder vereinigen sich mehrere bisher getrennte Gebiete, so reichen die überkommenen geläufigen
Physik und Physiologie der Sinne, sowie durch historisch-physikalische Studien habe ich (etwa seit 1863), nachdem ich den Widerstreit in meinen Vorlesungen über Psycho- physik (im Auszug in ,,Zeitschr. f. prakt. Heilkunde", Wien 1863, S.364) noch durch eine physikalisch-psychologische Monadologie vergeblich zu lösen versucht hatte, in meinen Ansichten eine grössere Festigkeit erlangt. Ich mache keinen Anspruch auf den Namen eines Philosophen. Ich wünsche nur in der Physik einen Standpunkt einzunehmen, den man nicht sofort verlassen muss, wenn man in das Gebiet einer andern Wissen- schaft hinüberblickt, da schliesslich doch alle ein Ganzes bilden sollen. Die heutige Molekularphysik entspricht dieser Forderung entschieden nicht. Was ich sage, habe ich vielleicht nicht zuerst gesagt. Ich will meine Darlegung auch nicht als eine be- sondere Leistung hinstellen. Vielmehr glaube ich, dass jeder ungefähr denselben Weg einschlagen wird, der in besonnener Weise auf einem nicht zu beschränkten Wissens- gebiet Umschau hält. Meinem Standpunkt nahe liegt jener von Avenarius, den ich 1883 kennen gelernt habe (Philosophie als Denken der Welt nach dem Princip des kleinsten Kraftmaasses, 1876). Auch Hering in seiner Rede über das Gedächtniss (Almanach der Wiener Akademie 1870, S. 258) und J. Popper in dem schönen Buche „Das Recht zu leben und die Pflicht zu sterben", Leipzig 1878, S. 62, bewegen sich in ähnlichen Gedanken. Vergl. auch meine Rede „Ueber die öconomische Natur der physikalischen Forschung" (Almanach der Wiener Akademie 1882, S. 179 Anmerkung). Endlich muss ich hier noch auf die Einleitung zu W. Preyer's ,, Reine Empfindungs- lehre" sowie auf Riehl's Freiburger Antrittsrede S. 40 und auf R. Wahle's ,, Gehirn und Bewusstsein", 1884, hinweisen. Meine Ansichten hatte ich 1882 und 1883 zuerst ausführlicher dargelegt, nachdem ich dieselbe 1872 und 1875 ^^'-'''^ angedeutet hatte. Wahrscheinlich müsste ich noch viel mehr oder weniger Verwandtes anführen, wenn ich eine ausgebreitere Literaturkenntniss hätte.
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Gedankenelemente für das weitere Gebiet nicht mehr aus. Im Kampfe der erworbenen Gewohnheit mit dem Streben nach An- passung entstehen die Probleme, welche mit der vollendeten Anpassung verschwinden, um andern, die einstweilen auftauchten, Platz zu machen.
Dem blossen Physiker erleichtert der Gedanke eines Körpers die Orientirung, ohne störend zu werden. Wer rein praktische Zwecke verfolgt, wird durch den Gedanken des Ich wesentlich unterstützt. Denn ohne Zweifel behält jede Denkform, welche unwillkürlich oder willkürlich für einen besondern Zweck ge- bildet wurde, für eben diesen Zweck einen bleibenden Werth. Sobald aber Physik und Psychologie sich berühren, zeigen sich die Gedanken des einen Gebietes als unhaltbar in dem andern. Dem Bestreben der gegenseitigen Anpassung entspringen die mannigfalltigen Atom- und Monadentheorieen, ohne doch ihrem Zweck genügen zu können. Die Probleme erscheinen im Wesent- lichen beseitigt, die erste und wichtigste Anpassung demnach aus- geführt, wenn wir die Elemente (in dem oben S. lo bezeich- neten Sinne) als Weltelemente ansehen. Diese Grundanschau- ung kann (ohne sich als eine Philosophie für die Ewigkeit aus- zugeben) gegenwärtig allen Erfahrungsgebieten gegenüber fest- gehalten werden ; sie ist also diejenige, welche mit dem geringsten Aufwand, ökonomischer als eine andere, dem temporären Ge- sammt wissen gerecht wird. Diese Grundanschauung tritt auch im Bewusstsein ihrer lediglich ökonomischen Function mit der höchsten Toleranz auf. Sie drängt sich nicht auf in Gebieten, in welchen die gangbaren Anschauungen noch ausreichen. Sie ist auch stets bereit, bei neuerlicher Erweiterung des Erfahrungs- gebietes einer besseren zu weichen.
15- Die Vorstellungen und Begriffe des gemeinen Mannes von der Welt werden nicht durch die volle, reine Erkenntniss als Selbstzweck, sondern durch das Streben nach günstiger An- passung an die Lebensbedingungen gebildet und beherrscht.
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Darum sind sie weniger genau, bleiben aber dafür auch vor den Monstrositäten bewahrt, welche bei einseitiger eifriger Verfolgung eines wissenschaftlichen (philosophischen) Gesichtspunktes sich leicht ergeben. Dem unbefangenen, psychisch voll entwickelten Menschen erscheinen die Elemente, die wir mit ABC., bezeichnet haben, räumlich neben und ausserhalb der Elemente K L M . . und zwar unmittelbar, nicht etwa durch einen psychischen Projections- oder einen logischen Schluss- oder Constructions- process, der, wenn er auch existiren würde, sicher nicht ins Be- wusstsein fiele. Er sieht also eine von seinem Leib K L M . . verschiedene, ausser diesem existirende ,,Aussenwelt" ABC.. Indem er zunächst die Abhängigkeit der ABC., von den, sich immer in ähnlicher Weise wiederholenden, und daher wenig be- merkten, K L M . . nicht beachtet, sondern den festen Zusammen- hängen der ABC., untereinander nachgeht, erscheint ihm eine von seinem Ich unabhängige Welt von Dingen. Dieses Ich bildet sich durch die Beachtung der besonderen Eigenschaften des Einzel- dinges K L M . ., mit welchen Schmerz, Lust, Fühlen, Wollen u. s. w. aufs Engste zusammenhängen. Er bemerkt ferner Dinge K' L' M', K" L" M" . ., die sich ganz analog K L M verhalten, und deren Verhalten im Gegensatz zu demjenigen von ABC., ihm erst recht vertraut wird, sobald er sich an dieselben ganz analoge Empfindungen, Gefühle u. s. w. g'ebunden denkt, wie er dieselben an sich selbst beobachtet. Die Analogie, welche ihn hiezu treibt, ist dieselbe, die ihn bestimmt, an einem Draht, an dem er alleEig'en- schaften eines elektrisch durchströmten Leiters, mit Ausnahme einer jetzt nicht direct nachweisbaren, beobachtet, auch diese eine als vorhanden anzusehen. Indem er nun die Empfindungen der Mitmenschen und Thiere nicht wahrnimmt, sondern nur nach der Analogie ergänzt, während er aus dem Verhalten der Mit- menschen entnimmt, dass sie sich ihm gegenüber in demselben Falle befinden, sieht er sich veranlasst, den Empfindung-en, Erinne- rungen u, s. w. eine besondere, von ABC...KLM... verschiedene Natur zuzuschreiben, die je nach der Kulturstufe ungleich aufgefasst wird, was, wie oben g-ezeigt wurde, unnöthig
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ist und auf wissenschaftliche Irrwege führt, wenn dies auch fürs praktische Leben von geringer Bedeutung ist.
Diese, die intellectuelle Situation des naiven Menschen be- stimmenden Momente treten je nach Bedürfniss des praktischen Lebens in diesem abwechselnd hervor und bleiben in einem nur wenig schwankenden Gleichgewicht. Die wissenschaftliche Welt- betrachtung betont aber bald das eine, bald das andere Moment stärker, nimmt bald von dem einen, bald von dem andern ihren Ausgangspunkt, und sucht in ihrem Streben nach Verschärfung, Einheitlichkeit und Consequenz die entbehrlichen Auffassungen, so viel als ihr möglich scheint, zu verdrängen. So entstehen die dualistischen und die monistischen Systeme.
Der naive Mensch kennt die Blindheit, Taubheit, und weiss aus den alltäglichen Erfahrungen, dass das Aussehen der Dinge durch seine Sinne beeinflusst wird; es fällt ihm aber nicht ein, die ganze Welt zu einer Schöpfung seiner Sinne zu machen. Ein idealistisches System oder gar die Monstrosität des Solipsismus wäre ihm praktisch unerträglich.
Die unbefangene wissenschaftliche Betrachtung wird leicht dadurch getrübt, dass eine für einen besonderen engbegrenzten Zweck passende Auffassung von vornherein zur Grundlage aller Untersuchungen gemacht wird. Dies geschieht z. B., wenn alle Erlebnisse als in das Bewusstsein sich erstreckende „Wirkungen" einer Aussenwelt angesehen werden. Ein scheinbar unentwirr- bares Knäuel von metaphysischen Schwierigkeiten ist hiemit ge- geben. Der Spuk verschwindet jedoch sofort, wenn man die Sache sozusagen in mathematischem Sinne auffasst, und sich klar macht, dass nur die Ermittelung von Function albeziehungen für uns Werth hat, dass es ledigHch die Abhänigigkeiten der Erlebnisse voneinander sind, die wir zu kennen wünschen. Zunächst ist dann klar, dass die Beziehung auf unbekannte, nicht gegebene Urvariable (Dinge an sich) eine rein fictive und müssige ist. Aber auch wenn man diese zwar unökonomische Fiction zu- nächst bestehen lässt, kann man leicht die verschiedenen Classen
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der Abhängigkeit unter den Elementen der „Thatsachen des Be- wusstseins" unterscheiden, und das ist für uns allein wichtig.
ABC . . |
. . KL AI . . . |
|
aßy . . |
||
K'L' M' . . . |
a ß' y . . |
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K"r'M" .... |
«" ß" f . . |
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In vorstehendem Schema ist das System der Elemente an- g-edeutet. Innerhalb des einfach umzogenen Raumes liegen die Elemente, welche der Sinnen weit angehören, und deren gesetz- mässige Verbindung, deren eigenartige Abhänigkeit von ein- ander, die physikalischen (leblosen) Körper, sowie die Leiber der Menschen, Thiere und Pflanzen darstellt. Wieder in ganz besonderer Abhängigkeit stehen alle diese Elemente von einigen der Elemente K L M, den Nerven unseres Leibes, worin sich die Thatsachen der Sinnesphysiologie aussprechen. Der doppelt umzogene Raum enthält die dem höhern psychischen Leben an- gehörigen Elemente, die Erinnerungsbilder, Vorstellungen, darunter auch diejenigen, welche wir uns von dem psychischen Leben der Mitmenschen bilden, die durch Accente unterschieden werden mögen. Die Vorstellungen hängen zwar untereinander wieder in an- derer Weise zusammen (Association, Phantasie) als die sinnlichen Elemente ABC . . . K L M, doch lässt sich nicht zweifeln, dass sie mit den letzteren in der intimsten Verwandtschaft stehen, und dass ihr Verhalten in letzter Linie durch A B C . . . K LM, die gesammte physikalische Welt, insbesondere durch unsern Leib, und das Nervensystem bestimmt ist. Die Vorstellungen a ß' y . . von dem Bewusstseinsinhalt unserer Mitmenschen spielen für uns die Rolle von Zwischensubstitutionen, durch welche uns das Verhalten der Mitmenschen, die Functionalbeziehung von K' L' M' zu A B C, soweit dasselbe für sich allein (physikalisch) unaufge- klärt bliebe, verständlich wird.
Es ist also für uns wichtig zu erkennen, dass es bei allen Fragen, die hier vernünftiger Weise gestellt werden, und die uns interessiren können, auf die Berücksichtigung verschiedener Grund- variablen und verschiedener Abhängigkeitsverhältnisse
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ankommt. Das ist die Hauptsache. An dem Thatsächlichen, an den Functionalbeziehungen, wird nichts geändert, ob wir alles Gegebene als Bewusstseinsinhalt, oder aber theilweise oder ganz als physikalisch ansehen. Die biologische Aufgabe der Wissenschaft ist, dem vollsinnigen menschlichen Individuum eine möglichst vollständige Orientirung zu bieten. Ein anderes wissenschaftliches Ideal ist nicht realisirbar, und hat auch keinen Sinn.
Der philosophische Standpunkt des gemeinen Mannes, wenn man dessen naivem Realismus diesen Namen zuerkennen will, hat Anspruch auf die höchste Werthschätzung. Derselbe hat sich ohne das absichtliche Zuthun des Menschen in unmessbar langer Zeit ergeben; er ist ein Naturprodukt und wird durch die Natur erhalten. Alles, was die Philosophie geleistet hat — die bio- logische Berechtigung jeder Stufe, ja jeder Verirrung zugestanden — ist dagegen nur ein unbedeutendes ephemeres Kunstpro- dukt. Und wirklich sehen wir jeden Denker, auch jeden Philo- sophen, sobald er durch praktische Bedrängniss aus einer einseitigen intellectuellen Beschäftigung vertrieben wird, sofort den allgemeinen Standpunkt einnehmen. Professor X, welcher theoretisch Solipsist zu sein glaubt, ist es praktisch gewiss nicht, sobald er dem Mi- nister für einen erhaltenen Orden dankt, oder seinem Auditorium eine Vorlesung hält. Der geprügelte Pyrrhonist in Moliere's „Mariage force" sagt nicht mehr: „il me semble que vous me battez," sondern nimmt die Schläge als wirklich erhalten an.
Die „Vorbemerkungen" suchen auch keineswegs den Stand- punkt des gemeinen Mannes zu discreditiren. Dieselben stellen sich nur die Aufgabe und zeigen, warum und zu welchem Zweck wir den grössten Theil des Lebens diesen Standpunkt einnehmen, und warum, zu welchem Zweck und in welcher Richtung wir denselben vorübergehend verlassen müssen. Kein Standpunkt hat eine absolute bleibende Geltung; jeder ist nur wichtig für einen bestimmten Zweck.
IL Ueber vorgefasste Meinungen.
Der Physiker hat oft Gelegenheit zu sehen, wie sehr die Er- kenntniss eines Gebietes dadurch gehemmt werden kann, dass anstatt der vorurtheilslosen Untersuchung desselben an sich, die auf einem andern Gebiet gefassten Ansichten auf dasselbe über- tragen werden. Weit bedeutender ist die Störung, welche durch solche Uebertragung vorgefasster Meinungen aus dem Gebiet der Physik in jenes der Psychologie entsteht. Erläutern wir dies durch einige Beispiele.
Ein Physiker beobachtet das verkehrte Netzhautbild an einem ausgeschnittenen Auge, und stellt sich die Frage, wie es kommt, dass ein Punkt, der im Räume unten liegt, sich auf der Netz- haut oben abbildet. Diese Frage beantwortet er durch dioptrische Untersuchungen. Wenn nun dieselbe Frage, welche im Gebiete der Physik vollkommen berechtigt ist, in die Psychologie über- tragen wird, erzeugt sie nur Unklarheiten. Die Frage, warum wir die verkehrten Netzhautbilder aufrecht sehen, hat als psychologisches Problem keinen Sinn. Die Lichtempfindungen der einzelnen Netzhautstellen sind von Anbeginn mit Raum- empfindungen verknüpft, und wir nennen die Orte, welche den unten gelegenen Stellen der Netzhaut entsprechen^ „oben." Dem empfindenden Subject kann sich eine solche Frage gar nicht ergeben.
Ebenso verhält es sich mit der bekannten Theorie der Pro- jection nach aussen. Es ist die Aufgabe des Physikers, den leuchtenden Objectpunkt zu dem Bildpunkt auf der Netzhaut in der
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Verlängerung des durch den Bildpunkt und den Kreuzungspunkt des Auges gezogenen Strahles zu suchen. Für das empfindende Subject existirt ein solches Problem nicht, da die Lichtempfin- dungen von Anfang an an bestimmte Raumempfindungen ge- knüpft sind. Die ganze Theorie des psychologischen Ursprungs der Aussenwelt durch Projection der Empfindungen nach aussen beruht nur auf einer miss verständlichen Anwendung physikalischer Gesichtspunkte. Unsere Gesichts- und Tastempfindungen sind an verschiedene Raum empfindun gen gebunden, d. h. sie sind neben- einander und aussereinander, sie befinden sich in einem räumlichen P'eld, von welchem unser Leib nur einen Theil erfüllt. Der Tisch, der Baum, das Haus liegt also selbstverständ- lich ausserhalb meines Leibes. Ein Projectionsproblem liegt also niemals vor, wird weder bewusst noch unbewusst gelöst.
Ein Ph3^siker (Mariotte) findet, dass eine bestimmte Stelle der Netzhaut blind ist. Der Ph3^siker ist gewohnt, jedem Raum- punkt einen Bildpunkt und jedem Bildpunkt eine Empfindung zuzuordnen. So entsteht die Frage : Was sehen wir an den dem blinden Fleck entsprechenden Raumstellen? Wie wird die Lücke ausgefüllt? Wenn die unberechtigte physikalische Fragen- form aus der psychologischen Untersuchung ausgeschaltet wird, finden wir, dass ein Problem hier überhaupt nicht besteht. Wir sehen nichts an der blinden Stelle, die Lücke im Bild wird überhaupt nicht ausgefüllt. Die Lücke wird vielmehr gar nicht empfunden, einfach darum, weil ein Fehlen der Lichtempfundung an einer von Haus aus blinden Stelle so wenig bemerkt werden kann, als etwa die blinde Haut des Rückens eine Lücke im Gesichtsfeld bedingen kann.
Ich habe absichtlich einfache und naheliegende Beispiele ge- wählt, um zu zeigen, welche unnöthige Verwirrung durch die unvorsichtige Uebertragung der in einem Gebiet gültigen An- sicht oder Denkweise auf ein gänzhch anderes entstehen kann.
In dem Werk eines berühmten deutschen Ethnographen las ich den folgenden Satz: „dieser Stamm hat sich durch Menschen- fresserei tief entwürdigt". Daneben lag das Buch eines englischen
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Forschers, welches sich mit demselben Gegenstande beschäftigt. Der letztere stellt einfach die Frage auf, warum gewisse Südsee- insulaner Canibalen sind, findet im Verlaufe der Untersuchung, dass auch unsere Vorfahren Canibalen waren, und gelangt auch zum Verständniss der Anschauungen der Indier in dieser Frage. Dieses leuchtete auch einmal meinem 5 Jahre alten Knaben auf, der beim Verspeisen eines Bratens plötzlich erschreckt und betroffen inne hielt, und ausrieft . „Wir sind für die Thiere Menschenfresser!" „Du sollst nicht Menschen fressen"' ist ein sehr lobenswerther Grundsatz. In dem Munde des Ethnographen vernichtet er aber den erhabenen milden Glanz der Unbefangenheit, in dem wir den P^orscher so gern erblicken. Noch einen Schritt weiter, und wir sagen auch: ,,Der Mensch darf nicht vom Affen abstammen", „die Erde soll sich nicht drehen", „die Materie soll den Raum nicht continuirlich ausfüllen", „die Energie muss constant sein" u. s. w, Ich glaube, dass unser Vorgehen sich nur dem Grade nach und nicht der Art nach von dem eben bezeichneten unterscheidet, wenn wir physikalische Ansichten mit dem Anspruch der absoluten Gültigkeit, ohne vorher deren Verwendbarkeit erprobt zu haben, in das Gebiet der Psychologie übertragen. In solchen Fällen unter- liegen wir dem Dogma, wenn auch nicht dem aufgezwungenen, wie unsere scholastischen Vorfahren, so doch dem selbstgemachten. Und welches Forschungsergebniss könnte durch lange Gewohn- heit nicht zum Dogma werden? Dieselbe Gewandtheit welche wir uns für oft wiederkehrende intellectuelle Situationen erworben haben, benimmt uns ja die Frische und Unbefangenheit, deren wir in neuen Situationen so sehr bedürfen.
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen kann ich die nöthigen erläuternden Ausführungen über meine Stellung zum Dualismus des Physischen und Psychischen vorbringen. Derselbe ist meines Erachtens künstlich und ohne Noth herbeigeführt.
2. Bei Untersuchung rein physikalischer Processe verwenden wir gewöhnlich so abstracte Begriffe, dass wir in der Regel nur
flüchtig' oder gar nicht an die Empfindungen (Elemente) denken, welche diesen Begriffen zu Grunde liegen. Wenn ich z. B. fest- stelle, dass der elektrische Strom von der Intensität i Ampere in der Minute 10Y2 ccm Knallgas von o*^C und 760 mm Queck- silberdruck entwickelt, bin ich sehr geneigt, den definirten Ob- jecten eine von meinen Sinnesempfindungen ganz unabhängige Realität zuzuschreiben. Um aber zu dem Definirten zu gelangen, bin ich genöthig't, den Strom, dessen* ich mich nur durch Sinnes- empfindungen versichern kann, durch einen kreisförmigen Draht von bestimmtem Radius zu leiten, so dass derselbe bei gegebener Intensität des Erdmagnetismus die Magnetnadel um einen be- stimmten Winkel aus dem Meridian ablenkt. Die Bestimmung der magnetischen Intensität, der Knallgasmenge u. s. w., ist nicht weniger umständlich. Die ganze Bestimmung gründet sich auf eine fast unabsehbare Reihe von Sinnesempfindungen, insbesondere wenn noch die Justirung der Apparate in Betracht gezogen wird, welche der Bestimmung vorausgehen muss. Nun kann es dem Physiker, der nicht die Psychologie seiner Operationen studirt, leicht begegnen, dass er, um eine bekannte Redeweise um-, zukehren, die Bäume vor lauter Wald nicht bemerkt, dass er die Empfindungen als Grundlage seiner Begriffe übersieht. Ich halte nun aufrecht, dass ein physikalischer Begriff nur eine bestimmte Art des Zusammenhanges sinnlicher Elemente bedeutet, welche in dem Vorigen mit ABC., bezeichnet wurden. Diese Elemente — Elemente in dem Sinne, dass eine weitere Auflösung bisher noch nicht gelungen ist — sind die einfachsten Bausteine der physikalischen (und auch der psychologischen) Welt.
Eine physiologische Untersuchung kann einen durchaus physikalischen Charakter haben. Ich kann den Verlauf eines physikalischen Processes durch einen sensiblen Nerv zum Central- organ verfolgen, von da seine verschiedenen Wege zu den Muskeln aufsuchen, deren Contraction neue physikalische Veränderungen in der Umgebung bedingt. Ich muss hiebei an keine Empfin- dung des beobachteten Menschen oder Thieres denken. Was ich untersuche, ist ein rein physikalisches Object. Ohne Zweifel fehlt
Mach, Analyse. 3. Aufl. «J
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hier sehr viel zum Verständniss der Einzelheiten, und die Ver- sicherung-, dass Alles auf „Bewegamg der Moleküle" beruhe, kann mich über meine Unwissenheit nicht trösten und nicht täuschen, Lange vor Entwicklung- einer wissenschaftlichen Psychologie hat jedoch der Mensch bemerkt, dass das Verhalten eines Thieres unter physikalischen Einflüssen viel besser vorausg-esehen, d. h. verstanden wird, indem ihm Empfindungen, Erinnerungen ähnlich den unsrigen zugeschrieben werden. Das, was ich beobachte, meine Empfindungen, habe ich in Gedanken zu ergänzen durch die Empfindungen des Thieres, welche ich nicht im Gebiete meiner Empfindung-en antreffe. Dieser Gegensatz erscheint dem Forscher, welcher einen Nervenprocess mit Hilfe farbloser abstracter Be- griffe verfolg't, und der z. B. genöthigt ist, diesem Process in Ge- danken die Empfindung Grün hinzuzufügen, sehr schroff. Diese letztere erscheint in der That als etwas gänzlich Neues und Eremdartiges, und wir stellen uns die Frage, wie dieses wunder- bare Ding aus chemischen Processen, electrischen Strömen u. dgl. hervorgehen kann.
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Die psychologische Analyse belehrt uns darüber, dass diese Verwunderung nicht gerechtfertig't ist, indem der Ph3^siker immer mit Empfindungen operirt. Dieselbe Anatyse zeigt auch, dass die Ergänzung von Complexen von Empfindung'en in Gedanken nach der Analogie durch aug'enblicklich nicht beobachtete Elemente, oder solche, welche überhaupt nicht beobachtet werden können, vom Physiker tagtäglich geübt wird. Dies g-eschieht z. B., wenn er sich den Mond als eine greifbare, schwere, träg-e Masse vor- stellt. Die gänzliche Fremdartigkeit der oben bezeichneten Situation ist also eine Illusion.
Die Illusion verschwindet aucli durch eine andere Betrach- tung, welche sich auf die eigene sinnliche Sphäre beschränkt. Vor mir liegt das Blatt einer Pflanze. Das (xriin (A) des IMattes i.st vcrl)undcn mit einer gewissen optischen Kaunicmpriiuhuig (!>), einer gewissen 'J'astenipriiidung ((") und mit der Sichtbarkt'il der
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Sonne oder der Lampe (D). Wenn das Gelb (E) der Natrium- flamme an die Stelle der Sonne tritt, so übergeht das Grün des Blattes in Braun (F). Wenn das Chlorophyll durch Alkohol ent- fernt wird, eine Operation die ebenfalls durch sinnliche Elemente darstellbar ist, verwandelt sich das Grün (A) in Weiss (G). Alle diese Beobachtungen sind physikalische. Doch das Grün (A) ist auch mit einem Process meiner Netzhaut verknüpft. Nichts hindert mich principiell, diesen Process in meinem Auge in der- selben Weise zu untersuchen, wie in den oben erwähnten Eällen, und denselben in Elemente X Y Z . . . aufzulösen. Stehen der Untersuchung am eignen Aug^e Schwierigkeiten im Wege, so kann sie am fremden Auge ausgeführt und die Lücke nach der Analogie ausgefüllt werden, genau so, wie bei andern physi- kalischen Untersuchungen. Nun ist A in seiner Abhängigkeit von B C D E . . . ein physikalisches Element, in seiner Ab- hängigkeit von X Y Z ... ist es eine Empfindung, und kann auch als psychisches Element aufgefasst werden. Das Grün (A) an sich wird aber in seiner Natur nicht geändert, ob wir unsere Aufmerksamkeit auf die eine oder auf die andere Form der Abhängigkeit richten. Ich sehe daher keinen Gegen- satz von Ps3^chischem und Physischem, sondern ein- fache Identität in Bezug auf diese Elemente. In der sinnlichen Sphäre meines Bewusstseins ist jedes Object zugleich physisch und psychisch. (Vgl. S. 13).
4- Die Dunkelheit, die man in dieser intellectuellen Situation ge- funden hat, entspringt meines Erachtens nur einer physikali- schen Voreingenommenheit, welche in das psychologische Gebiet übertragen wurde. Der Physiker sagt : Ich finde überall nur Körper und Bewegungen von Körpern , keine Empfindungen ; Empfindungen müssen also etwa.s von den physikalischen Ob- iecten, mit welchen ich verkehre, Grundverschiedenes sein. Der Psycholog'e acceptirt den zweiten Theil der Behauptung. Ihm
sind, das ist richtig', zunächst die Empfindungen gegeben ; den-
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selben entspricht aber ein mysteriöses physikalisches Etwas, welches nach der vorgefassten Meinung von Empfindungen gänzlich ver- schieden sein muss. Was ist aber in Wirklichkeit das Myste- riöse? Ist es die Physis oder ist es die Psyche? oder sind es vielleicht gar beide? Fast scheint es so, da bald die eine, bald die andere, in undurchdringliches Dunkel gehüllt, unerreichbar scheint. Oder werden wir hier vom bösen Geist im Kreis herum geführt ?
Ich glaube das letztere. Für mich sind die Elemente ABC... unmittelbar und unzweifelhaft gegeben, und für mich können die- selben nachträglich nicht durch Betrachtungen verflüchtigt werden, welche sich in letzter Linie doch immer auf deren Existenz gründen.
Die Specialuntersuchung der sinnlichen physisch-psychischen Sphäre, welche durch diese allgemeine Orientirung nicht über- flüssig wird, hat die Aufgabe, den eigenartigen Zusammenhang der A B C , . . zu ermitteln. Dies kann symbolisch so ausg"edrückt werden, dass man der Specialforschung das Ziel setzt, Gleichungen von der Form F (A, B, C . .) = o zu finden.
III. Mein Verhältniss zu R. Avenarius.
I.
Auf Berührungspunkte der hier vertretenen Ansichten mit jenen verschiedener Philosophen und philosophisch denkender Natur- forscher ist schon früher hingewiesen worden. Sollte ich dieselben vollständig aufzählen, so müsste ich wohl bei Spinoza beginnen. In Bezug auf R. Avenarius ist aber die Verwandtschaft eine so nahe, als sie bei zwei Individuen von verschiedenem Ent- wicklungsgang und verschiedenem Arbeitsfeld, bei voller gegen- seitiger Unabhängigkeit überhaupt erwartet werden kann. Die Uebereinstimmung wird etwas verdeckt durch die grosse Ver- schiedenheit der Form. Avenarius gibt eine sehr ausführliche, dabei doch allgemein gehaltene schematische Darstellung, deren Durchschauen noch durch eine fremdartige, ungewöhnliche Termino- logie erschwert wird. Zu solcher Darstellung hatte ich weder An- lass noch Beruf, weder Neigung noch auch Talent. Ich bin eben Naturforscher und nicht Philosoph. Ich suchte lediglich einen sicheren klaren philosophischen Standpunkt zu gewinnen, von dem aus sowohl in das Gebiet der Psychophysiologie, als auch in jenes der Physik gangbare Wege sich zeigten, auf welchen keine meta- physischen Nebel lagerten. Hiermit hielt ich alles für gewonnen. Meine Darstellung hat, obwohl sie ebenfalls auf langjährigem und in früher Jugend begonnenen Nachdenken beruht, in ihrer Kürze die Form eines Apergu, und ich werde gar nicht gekränkt sein, wenn man sie als ein solches auffassen will. Ich gebe gern zu, dass ich in meiner Abneigung gegen eine künstliche Terminologie vielleicht in das entgegengesetzte Extrem verfallen bin als Avenarius. Ist dieser oft gar nicht verstanden, jedenfalls spät verstanden worden, so hat man meine Worte oft genug miss-
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verstanden. Ein geistreicher Kritiker, welcher findet, dass ich zu manchen Resultaten gelangt bin, zu welchen ich nicht hätte kommen sollen (!) — der sich also die Mühe der Untersuchung wohl ersparen kann, da er die Resultate schon kennt, zu welchen dieselbe führen soll — wirft mir auch vor, dass ich nicht recht zu fassen sei, da ich mich nur der ganz g'ewöhnlichen Sprache bediene, und demnach das „System," dem ich mich anschliesse, nicht er- sichtlich sei. Man hat also vor allem ein System zu wählen; dann darf man innerhalb desselben auch denken und sprechen. So hat man in meine Worte landläufige geläufige Ansichten recht bequem hineingelesen, mich zu einem Idealisten , Berkeleyaner, auch Ma- terialisten u. s. w. gemacht, woran ich unschuldig zu sein glaube. Jede der beiden extremen Darstellungsweisen hat eben ihre Vor- und Nachtheile. Aber auch auf die gegenseitige Verständigung zwischen Avenarius und mir hat die Formverschiedenheit nach- theiligen Einfluss geübt. Ich erkannte ja die Verwandtschaft der Ansichten sehr bald, und gab meiner Ueberzeugamg-, dass eine solche bestehe, 1883 in der „Mechanik" und 1886 in der ersten Auflage dieses Buches Ausdruck, wobei ich aber nur auf eine kleine Schrift von Avenarius^), welche 1876 erschienen, und mir kurz vor Ausgabe der Mechanik durch einen Zufall bekannt geworden war, hinweisen konnte. Die Gleichartig'keit der Tendenz trat für mich erst 1888, 1891 und 1894 durch Avenarius' Publikationen: ,, Kritik der reinen Erfahrung," „Der menschliche Weltbegriff" und seine psychologischen Artikel in der Vierteljahrsschrift voll hervor. Hier hinderte mich aber bei ersterer Schrift die etwas hyper- trophische Terminologie, die Freude der Zustimmung in vollen Zügen zu geniessen. Es ist ja von einem älteren Menschen viel verlangt, dass er zu den vielen Sprachen der Völker auch noch die Sprache eines Einzelnen erlerne. Es blieb also natürlich der jüngeren Generation vorbehalten, die Arbeit von Avenarius nutzbar zu machen. Ich freue mich hier auf die Schriften von C. Flauptmann und J. Petzoldt hinweisen zu können, welche
l) Denken der Welt nach dem rrinzip des kleinstes Kraftmaasses, 1876.
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daran sind, den Kern der Avenarius'schen Arbeiten bloss zu legen und weiter zu entwickeln. Auch Avenarius hat seiner- seits die Verwandtschaft erkannt, und in den 1888 bis 1895 er- schienenen Schriften darauf Bezug" genommen. Doch scheint sich die Ueberzeugamg- von einer tiefergehenden Uebereinstimmung auch bei ihm erst allmälig' entwickelt zu haben, wie ich nach älteren Aeusserungen geg"en dritte Personen annehmen muss. Persönlich habe ich Avenarius nie kennen gelernt.
2.
Ich möchte nun diejenig'en Punkte der Uebereinstimmung insbesondere bezeichnen, auf welche ich Werth lege. Die Oeko- nomie des Denkens, die ökonomische Darstellung des That- sächlichen habe ich zuerst 187 i, 1872 in aller Kürze als die wesent- liche Aufgabe der Wissenschaft bezeichnet und 1882, 1883 darauf bezügliche weitere Ausführungen gegeben. Wie ich anderwärts g'ezeigt habe, ist diese Auffassung, welche auch den Kirchhoff- schen Gedanken der „vollständigen einfachen Beschreibung" (1874) implicite enthält und anticipirt, keineswegs ganz neu, sondern lässt sich bis auf Adam Smith und, wie P. Volkmann meint, in den Anfängen bis auf Newton zurück verfolg"en. Dieselbe Auffas- sung finden wir nun, abg'esehen von einem gewissen verhüllten Zug in der Darstellung, sehr ausgebildet bei Avenarius wieder (1876).
Die eben bezeichnete Ansicht erhält sofort eine breite Grund- lage und wird von neuen Seiten aufgeklärt, wenn man, den An- regungen der Darwin 'sehen Theorie folgend, das ganze psychische Leben — die Wissenschaft eingeschlossen — als biologische Erscheinung auffasst, che Darwin "sehen Vorstellungen vom Kampf ums Dasein, von der Entwicklung und Auslese auf die- selbe anwendet. Diese Ansicht ist untrennbar von der Annahme, dass alles und jedes Psychische physisch fundirt, be- stimmt sei. In seiner „Kritik der reinen Erfahrung" versucht nun Avenarius im Einzelnen alles theoretische und praktische Verhalten als bestimmt durch Aenderungen des Centralnerven-
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Systems darzustellen. Hiebei geht er nur von der sehr allgemeinen Voraussetzung aus, dass das Centralorgan nicht nur als Ganzes, sondern auch in seinen Theilen ein Streben hat, sich zu erhalten, eine Tendenz, seinen Gleichgewichtszustand zu bewahren. Diese stimmt sehr gut mit den Vorstellungen, die Hering von dem Verhalten der lebendigen Substanz entwickelt hat. Mit diesen Ansichten steht Avenarius der modernen positiven Forschung, speciell der physiologischen, sehr nahe. Auch in meinen Arbeiten treten entsprechende Aeusserungen zwar kurz, aber bestimmt schon seit 1863 hervor, und 1883 habe ich dieselben breiter dar- gelegt, ohne jedoch ein vollständiges System zu etwickeln wie Avenarius.
Den höchsten Werth lege ich aber auf die Uebereinstimmung in der Auffassung des Verhältnisses des Physischen und Psychischen. Diese ist für mich der Kernpunkt. Von dieser Coincidenz mit Avenarius wurde ich eigentlich erst durch dessen psychologische Artikel überzeugt. Um ganz sicher zu gehen, richtete ich eine darauf bezüghche Frage an Herrn Dr. Rudolf Wlassak, der durch seinen mehrjährig'en Verkehr mit Avenarius mit dessen Standpunkt wohl vertraut sein musste. Ich lasse hier seine Ant- wort folgen:
„Die Auffassung des Verhältnisses des .,Physischen" zum „Psychischen" ist bei Avenarius und Mach dieselbe. Beide kommen zu dem Resultat, dass der Unterschied des Physischen und Psychischen nur in der Verschiedenheit der Abhängigkeits- verhältnisse gegeben ist, die einerseits Object der Physik — im weitesten Sinn des Wortes — , andererseits der Psychologie sind. Untersuche ich die Abhängigkeit eines Umg'ebungsbestandtheils A von einem zweiten Umgebungsbestandtheil B, so treibe ich Physik; untersuche ich, inwiefern A durch eine Aenderung der Sinnes- organe oder des Centralnervensystems eines lebenden Wesens ge- ändert wird, so treibe ich Psychologie. Avenarius hat dem- gemäss vorgeschlagen, die Termini physisch und psychisch zu eliminiren und nur mehr von physikahschen und psychologischen Abhängigkeiten zu sprechen (Bemerkungen, Vierteljahrsschrift XIX,
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S. i8). Bei Mach erscheint diese Anschauung-, ohne (?) dass die Unhaltbarkeit der alten Auffassung des Psychischen und dem- g-emäss der Aufgabe der Psychologie dargethan wird."
„Diese Aufgabe löst die Aufdeckung der „Introjection," resp. des formal-logischen Fehlers, der der Introjection zu Grunde liegt. Avenarius geht davon aus, dass am Anfang alles Philosophiren s der naive Realismus, die „natürliche Welt- ansicht" steht. Innerhalb dieser natürlichen Weltansicht kann sich eine relative Abgrenzung des Complexes „Ich" und des Com- plexes „Umgebung," ,, Körperwelt" vollziehen, ohne dass dies zu dem ,, Dualismus" von „Körper" vmd ,, Seele" zu führen braucht, da vom Standpunkt des naiven Realismus, die dem „Ich," dem eigenen Körper angehörenden Bestandtheile durchaus vergleichbar den Be- standtheilen der Umgebung sind. Selbst wenn die erste Orientirung zur Bildung von Substanzbegriffen fortschreitet (Mach, Analyse, S. 4), so ist damit die völlige Wesensverschiedenheit von Körper und Seele nicht gegeben. Die eigentliche Spaltung der ursprüng- lich einheitlich — naiv -realistisch — aufgefassten Welt vollzieht sich nach Avenarius bei der Deutung der Aussagen der Mit- menschen. So lange ich sage, der Baum ist nicht nur für mich da, sondern die Aussagen des Mitmenschen lassen mich annehmen, dass er für ihn in derselben Weise da ist, wie für mich, über- schreite ich in keiner Weise die formal-logisch zulässige Analogie zwischen mir und den Mitmenschen. Dies thue ich aber, wenn ich sage, der Baum ist als ,, Abbild," ,, Empfindung," „Vorstellung" in dem Mitmenschen, wenn ich den Baum einlege, introjicire, da ich dann für den Mitmenschen etwas annehme, was ich in keiner Weise in meiner eigenen Erfahrung vorfinde, die mir die Umgebungsbestandtheile immer nur in einer bestimmten räum- lichen Beziehung zu meinem Körper, niemals in meinem Bewusst- sein oder dergl. aufweist. Da die Introjection eineUeberschreitung der Erfahrung ist, so muss jeder Versuch, sie mit den Thatsachen der Erfahrung in Einklang zu bringen, zu einer unerschöpflichen Quelle von Scheinproblemen werden. Das zeigt sich am klarsten an den verschiedenen Formen, die sie im Laufe der Geschichte
der Philosophie angenommen hat. Die ältesten, rohesten Theorien der Wahrnehmung'en zeigten die Einlegung' in ihrer rohesten und einfachsten Form, indem sie von den Gegenständen sich Abbilder ablösen Hessen, die in das Innere des Körpers hineingehen. — In dem Maasse nun, als man einsieht, dass die Umgebungsbestand- theile im Innern des Körpers nicht in derselben Weise vorhanden sind, als wie ausserhalb desselben, in dem Maasse müssen sie, sobald sie im Innern sind, zu etwas von der Umgebung Wesens- verschiedenem werden. In der Ausdeutung der Introjection, in dem Versuch, sie mit den Erfahrungen, die dem Complex der Umgebung entstammen, in Einklang zu setzen, liegt die Wurzel des Dualismus."
„Es kann zweifelhaft bleiben, ob Avenarius die Motive der Introjection alle richtig gewürdigt hat. Nach seiner Darstellung" knüpft die Introjection immer an die Erklärung- der „Wahr- nehmungen" eines Mitmenschen an. Dageg-en kann man wohl sagen, dass die Thatsache, dass ein und derselbe Umgebungs- bestandtheil einmal als sinnlich gegebene „Sache," ein anderes Mal als „Erinnerung" geg^eben ist, ein g^enügentes Motiv sein kann, diesen Umgebungsbestandtheil als zweimal vorhanden anzunehmen, nämlich einmal ,, materiell," in der Umgebung-, und ein zweites Mal in meinem „Bewusstsein/' in meiner „Seele." Dann scheint noch zu erwägen zu sein, ob nicht die Traumerfahrungen ^) der primitiven Cultur ebenfalls ein selbständiges Motiv des Dualismus sein können. Avenarius stellt zwar die Introjection als die Voraussetzung der dualistischen Ausdeutung- der Traumerfahrungen hin, ohne aber überzeugende Gründe dafür anzuführen. Unzulässig- ist es aber, den prähistorischen Animismus als die Wurzel des Dualismus an- zusehen, wenn man unter Animismus lediglich die Annahme ver- steht, dass sämmtliche leblose Umgebung-sbestandtheile Wesen wie wir selbst sind. Auch auf dem Boden der natürlichen Weltansicht kann, solange tiefere physiologische Gründe dies nicht \-erlundern, di(! Annahme entstehen, dass z. B. für den l'aum in demselben Sinne Umgebungsbestandtheile existiren wie für den Menschen.
ij Gewiss sind sie (Tyloi) eines der ]\iiirti<;slen Mulive. Miicli.
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Mit anderen Worten: Jemand, der die Avenarius-Mach'sche Auffassung des Psychischen hätte, könnte, wenn ihm jede physio- logische Kenntniss mangehe, annehmen, dass ein Baum oder ein Stein seine Umgebung tastet und sieht. Er wäre dann noch kein Duahst. Dies wird er erst, wenn er zur Erklärung dieses Tastens und Sehens des Baums und Steins annimmt, dass die von dem Baum und Stein getasteten und gesehenen Umgebungsbestand- theile in den Baum als dessen „Empfindungen," dessen ,.Bewusst- sein" nochmals vorhanden sind. Erst dann ist die Welt verdoppelt, in eine geistige und körperliche gespalten."
„Die Auflärung, die durch die Aufdeckung der Unzulässigkeit der Introjection geleistet wurde, geht nach zwei Richtungen. Einer- seits nach der erkenntniss-theoretischen Seite. Als Scheinprobleme erweisen sich alle jene Probleme, die nach dem Verhältniss unserer „Empfindungen", „Vorstellungen", „Bewusstseinsinhalte", zu den „materiellen Dingen" fragen, deren Abbilder, Zeichen u. s. w. die erst- genannten Producte der Introjection sein sollen. Als Scheinprobleme erweisen sich die Projectionsprobleme der Raumtheorien, das Nach- aussenversetzen der Raumempfindungen u. s. w."
„Andererseits besagt die Ausschaltung der Introjection, dass eine andere Psychologie als eine physiologische unzulässig ist. Sobald man eingesehen hat, dass die „Bewusstseinsinhalte", die neben den Veränderungen des Nervensystems sich abspielenden „psychischen Processe", nichts anders sind als die Umgebungs- bestandtheile, die ich dem Mitmenschen und schliesshch auch mir selbst eingelegt habe, kann ich im Nervensystem nichts anderes suchen als physiologische Vorgänge. Es enfällt jede besondere psychische Causalität, es entfallen alle die Fragen, ob das Ein- greifen psychischer Kräfte in die physiologischen Vorgänge des Hirns mit dem Princip der Erhaltung der Energie vereinbar ist"^).
i) Ich muss hier meiner Verwundei-ung darüber Ausdruck geben, das Energir- princip so oft in Bezug auf die Frage , ob es ein besonderes psychisches Agens gibt, herangezogen worden ist. Mit der Constanz der Energie ist der Ablauf physikaUscher Processe beschränkt, aber keineswegs vollkommen eindeutig bestimmt. Die Erfüllung des Energieprincips in allen physiologischen Eällen lehrt bloss , dass die Seele weder Arbeit verbraucht, noch leistet. Darum könnte sie noch mitbestimmend sein. In der
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„Wenn man vom „Fortleben der Vorstellungen, ohne dass sie im Bewusstsein sind" (Mach, Wärmelehre, vS. 441), spricht, so ist dies, strenge genommen, nur als abgekürzter Ausdruck für bestimmte centralnervöse Vorgänge zulässig, der aber immerhin stark an dualistische Vorstellung-en erinnert."
3- Der Unterschied in der Darstellung von Avenarius und mir, der noch übrig bleibt, lässt sich auf leicht ersichtliche Gründe zurückführen. Erstens beabsichtigte ich keine vollständige Dar- stellung der Emtwicklung des eingenommenen Standpunktes aus den vorausgehenden Phasen der Weltansicht. Zweitens geht Ave- narius' Darstellung von einer realistischen, die meinige hin- gegen von einer idealistischen Phase (S. 23 Anm.) aus, wie ich dieselbe in derThatin früher Jugend erlebt habe. Ich hätte da etwa von Beseitigung der Extrajection sprechen können (S. 5, 9 — 17, 23 — 26, 35). Drittens liegt keine Nothwendigkeit vor, die Aussage des Mitmenschen und der Introjection, in dem getadelten Sinne, vor Erreichung des neuen Standpunktes eine so gewichtige Rolle spielen zu lassen, und dann hat man auch nicht nöthig, diese Introjection wieder auszuschalten. Auch der einsame Denker könnte den neuen Standpunkt erreichen, und allerdings auch, wie Wlassak bemerkt, dualistische Anwandlangen zu überwinden haben. Ist dieser Standpunkt aber erreicht, und ist die Ver- schiedenartigkeit der Abhängigkeit der Elemente einmal als das Wesentliche erkannt, so erscheint die realistische oder idea- listische Ausgangsphase von keiner grösseren Bedeutung, als für den Mathematiker oder Physiker ein Wechsel der Grund- variablen in seinen Gleichungen.
auf diesen Fall bezüglichen Frage des Philosophen erscheint das Energieprinzip meist nicht richtig bewerthet , und die Verlegenheitsantwort des Physikers hat keinen fass- baren Sinn in Bezug auf diesen seinem Denken fernliegenden Fall. Vgl. das Referat über eine derartige Diskussion bei Höfler, Psychologie, 1897, S. 58 f., Anm. Ich sehe in der Annahme eines besonderen psychischen Agens, von den obigen Erwägungen ganz abgesehen, nur unglückliche, ungünstige, die Forschung erschwerende, ausserdem unnöthigc und unwahrscheinliche Voraussetzungen. Mach.
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Die Aufstellungen von Avenarius, und demnach auch die meinigen, scheinen mir nur fast Selbstverständliches aus- zusprechen, Selbstverständliches wenigstens für jeden, der sich von dem Drucke der „Ueberlebsel der wilden Philosophie" befreit hat, wie Tylor sich ausdrückt. Solche Selbstverständlichkeiten waren es immer, auf welche die Wissenschaft ihren Bau sicher gründen konnte. In dem Zusammentreffen allgemein philosophischer und positiv fachwissenschaftlicher Enwägungen glaube ich aber eine günstige Vorbedeutung für den gegenseitigen Anschluss der Wissenschaften sehen zu dürfen.
IV. Die Hauptgesichtspunkte für die Untersuchung
der Sinne.
I.
Wir versuchen nun von dem gewonnenen vStandpunkte einen orientirenden Ausblick für unsern besonderen Zweck.
Hat der forschende Intellect durch Anpassung" die Gewohn- heit erworben, zwei Dinge A und B in Gedanken zu verbinden, so sucht derselbe diese Gewohnheit auch unter etwas veränderten Umständen nach Möglichkeit festzuhalten. Ueberall wo A auf- tritt, wird B hinzugedacht. Man kann das sich hierin aussprechende Princip welches in dem Streben nach Oekonomie seine Wurzel hat, welches bei den grossen Forschern besonders klar hervor- tritt, das Princip der ^Stetigkeit oder Continuität nennen.
Jede thatsächlich beobachtete Variation in der Verbindung von A und B, welche gross genug ist, um bemerkt zu werden, macht sich aber als Störung der bezeichneten Gewohnheit geltend, so lange, bis die letztere genügend modificirt ist, um diese Störung nicht mehr zu empfinden. Man hätte z. B. sich g-ewöhnt, das auf die Grenze von Luft und Glas einfallende Licht abgelenkt zu sehen. Die Ablenkungen variiren aber von Fall zu Fall in merk- licher Weise, und man kann die an einigen Fällen gewonnene Gewohnheit so lange nicht ungestört auf neu vorkommende Fälle übertragen, bis man im Stande ist, jedem besonderen Einfallswinkel A einen besonderen Brechungswinkel B zuzuordnen, was durch Auffindung" des sogenannten Brechung'sgesetzes, beziehungsweise durch Geläufigwerden der in demselben enthaltenen Reg"el, er- eicht ist. Es tritt also dem Princip der Stetigkeit ein anderes Princip modificirend entgegen; wir wollen es das Princip der
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zureichenden Bestimmtheit oder der zureichenden Diffe- renzirung nennen.
Das Zusammenwirken beider Principien lässt sich nun durch weitere Ausführung des berührten Beispieles recht gut erläutern. Um den Thatsachen gerecht zu werden, welche bei Aenderung der Farbe des Lichtes auftreten, hält man den Gedanken des Brechungsg'esetzes fest, muss aber jeder besonderen Farbe einen besonderen Brechungsexponenten zuordnen, bald merkt man dann, dass man auch jeder besondern Temperatur einen besondern Brechungsexponenten zuordnen muss, u. s. w.
Dieser Process führt schliesslich zur zeitweiligen Beruhi- gung- und Befriedig"ung-, indem die beiden Dinge A und B so verbunden gedacht werden, dass jeder der augenblicklichen Er- fahrung' zugänglichen Aenderung- des einen eine zugehörig-e Aenderung des andern entspricht. Es kann der Fall eintreten, dass sowohl A als B sich als Complexe von Bestandtheilen dar- stellen, und dass jeder Bestandtheil von A einem Bestandtheil von B zugeordnet ist. Dies findet z. B. statt, wenn B ein Spectrum und A die zugehörige Probe eines Gemenges ist, wo je einem Bestandtheil des Spectrums je ein Bestandtheil der vor dem Spectralapparat verflüchtigten Probe unabhängig von den übrigen zugeordnet ist. Erst durch die vollständige Geläufigkeit dieses Verhältnisses kann dem Princip der zureichenden Bestimmtheit entsprochen werden.
Stellen wir uns nun vor, wir betrachten eine Farbenempfin- dung B nicht in ihrer Abhängigkeit von der glühenden Probe A, sondern in ihrer Abhängigkeit von den Elementen des Netz- hautprocesses N. Hierdurch ist nicht die Art, sondern nur die Richtung der Orientirung geändert, ahes eben Besprochene verhört dadurch nicht seine Geltung, und die zu befolgenden Grundsätze bleiben dieselben. Und dies gilt natürlich für aUe Empfindungen.
Die Empfindung kann nun an sich, unmittelbar, psychologisch anatysirt werden (wie dies Joh. Müller gethan hat) oder es können die ihr zugeordneten physikalischen (ph3^siologischen) Processe nach den Methoden der Physik untersucht werden (wie dies vor- zugsweise die moderne Physiologenschule thut), oder endlich (was am weitesten führen wird, weil hierbei die Beobachtung an allen Punkten angreift, und eine Untersuchung die andere stützt) kann der Zusammenhang des psychologisch Beobachtbaren mit dem zugehörigen physikalischen (physiologischen) Process verfolgt werden. Dieses letztere Ziel streben wir überall an, wo es er- reichbar scheint.
Mit diesem Ziel im Auge werden wir dem Princip der Conti- nuität und jenem der zureichenden Bestimmtheit nur genügen können, wenn wir dem gleichen B (irgend einer Empfindung) immer und überall nur das gleiche N (denselben Nervenprocess) zuordnen, zu jeder beobachtbaren Aenderung von B aber eine entsprechende Aenderung von N auffinden. Können wir B psychologisch in mehrere von einander unabhängige Be- standtheile zerlegen, so können wir nur in der Auffindung eben- solcher den ersteren entsprechender Bestandtheile in N Beruhigung finden. Sollten aber an B Eigenschaften oder Seiten zu bemerken sein, die nicht gesondert auftreten können, wie z. B. Höhe und Intensität des Tones, so würde dasselbe Verhalten auch von N zu erwarten sein. Mit einem Worte, zu allen psychisch beobachtbaren Einzelheiten von B haben wir die zugeordneten physikalischen Einzelheiten von N aufzusuchen.
Wir wollen natürlich nicht behaupten, dass nicht auch durch recht complicirte Umstände eine (psychologisch) einfache Empfindung- bedingt werden kann. Denn die Umstände hängen kettenförmig zusammen, und lösen keine Empfindung- aus, wenn die Kette nicht bis in den Nerv reicht. Da aber die Empfindung auch als Plallucination auftreten kann, wenn gar keine ausserhalb des Leibes liegende physikalische bedingende Umstände vor- handen sind, so sehen wir, dass ein gewisser Nervenprocess, als Endglied jener Kette, die wesentliche und unmittel-
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bare Bedingung der Empfindung ist. Diese unmittelbare Be- dingung kön len wir nun nicht vaiirt denken, ohne uns auch die Empfindung variirt vorzustellen, und umgekehrt. Für den Zu- sammenhang dieses Endgliedes und der Empfindung wollen wir das ausgesprochene Princip als gültig ansehen.
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Wir können also einen leitenden Grundsatz für die Unter- suchung der Empfindungen aufstellen, der als Princip des voll- ständigen Parallelismus des Psychischen und Phy- sischen bezeichnet werden mag. Nach unserer Grundanschauung, welche eine Kluft zwischen den beiden Gebieten (des Psychischen und Physischen) gar nicht anerkennt, ist diesess Princip fast selbstverständlich, kann aber auch ohne Hilfe dieser Grundan- schauung als heuristisches Princip aufgestellt werden, wie ich dies vor Jahren gethan habe ^).
Das hier verwendete Princip geht über die allgemeine Vor- aussetzung, dass jedem Psychischen ein Physisches entspricht und umgekehrt in seiner Specialisirung hinaus. Letztere allgemeine Annahme, die in vielen Fällen als richtig nachgewiesen ist, wird in allen Fällen als wahrscheinlich richtig festgehalten werden können, und bildet zudem die nothwendige Voraussetzung der exacten Forschung. Von der Fechn er 'sehen Auffassung des Physischen und Psychischen als zweier verschiedener Seiten ein und desselben Realen ist die unsrige ebenfalls ver- schieden. Erstens hat unsere Auffassung keinerlei metaphysi- schen Untergrund, sondern entspricht nur dem verallgemeinerten Ausdruck von Erfahrungen. Dann unterscheiden wir auch nicht zwei verschiedene Seiten eines unbekannten Dritten, sondern die
i) Vergl. meine Abhandlung ,,Ueber die Wirkung der räumlichen Verth eilung des Lichtreizes auf die Netzhaut'' (Sitzungsbericht der Wiener Akademie, Bd. 52, Jahrg. 1865). Ferner Reichert's und Dubois' Arch. 1865, S. 634 und Grund- linien der Lehre von den Bewegungsempfindungen. Leipzig. Engelmann 1875, S. 63. — Auch in meiner Ausführung in Fichte's Zeitschrift für Philosophie, Bd. 46, Tahrg. 1865, S. 5 ist der Grundsatz implicite schon enthalten. (Abgedruckt in den Populärwissenschaftlichen Vorlesungen. Leipzig, 2. Aufl., 1897.)
Mach, Analyse. 3. Aiifl. 4
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in der Erfahrung vorgefundenen Elemente, deren Verbindung wir untersuchen, sind immer dieselben, nur von einerlei Art und treten nur je nach der Art ihres Zusammenhanges bald als physische, bald als psychische Elemente auf^). Man hat mich ge- fragt, ob denn der Parallehsmus des Psychischen und Physischen überhaupt noch einen Sinn hätte und nicht eine blosse Tautologie sei, wenn man das Psychische und das Physische überhaupt nicht als wesentlich verschieden ansieht? Dies beruht auf einer miss- verständlichen Auffassung meiner obigen Ausführungen. Wenn ich ein grünes Blatt sehe, was durch gewisse Gehirnprocesse be- dingt ist, so ist jenes Blatt in seiner Form und Farbe allerdings verschieden von den Formen, Farben u. s. w., die ich an dem untersuchten Gehirn finde, wenn auch alle Formen, Farben u. s. w. an sich gleichartig, an sich weder psychisch noch physisch sind. Das gesehene Blatt, als abhängig gedacht vom Gehirnprocess, ist etwas Psychisches, während dieser Process in dem Zusammen- hang seiner Elemente etwas Physisches vorstellt. Und für die Abhängigkeit der ersteren unmittelbar gegebenen Elementen- gruppe von der durch (vielleicht complicirte) physikalische Unter- suchung sich erst ergebenden zweiten Gruppe besteht das Parallelismusprincip. (Vgl. S. 35.)
4- Zur Erläuterung des vielleicht etwas zu abstract ausge- sprochenen Grundsatzes mögen sofort einige Beispiele dienen. U eberall wo ich Raum empfinde, ob durch das Gesicht, den Tastsinn oder auf andere Weise, werde ich einen in allen Fällen gleichartigen Nervenprocess als vorhanden anzunehmen haben. Für alle Zeitempfindung supponire ich gleiche Nervenprocesse.
I ) In Bezug auf die verschiedenen Seiten der Parallelismusfrage vergl. : C. Stumpf , Ansprache beim Psychologenkongress in München. München 1897. — G. Hey- mans, Zur Parallelismusfrage. Zeitschr. f. Psychologie der Sinnesorgane, Bd. XVII. — O. Külpe, Ueber die Beziehung zwischen körperlichen und seelischen Vorgängen. Zeitschr. f. Hypnotismus, Bd. 7. — J. v. Kries, Ueber die materiellen Grundlagen der Bewusstseinserscheinungen. Freiburg i. B. 1898. — C. Hauptmann, Die Meta- physik in der Physiologie. Dresden 1893.
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Sehe ich gleiche verschiedenartige Gestalten, so suche ich neben den verschiedenen Farbempfindungen besondere gleiche Raumempfindungen und zugehörige gleiche Nervenprocesse. Sind zwei Gestalten ähnlich (liefern sie theilweise gleiche Raum- empfindungen), so enthalten auch die zugehörigen Nervenprocesse theilweise gleiche Bestandtheile. Haben zwei verschiedene Melo- dien gleichen Rhythmus, so besteht neben den verschiedenen Ton- empfindungen in beiden Fällen eine gleiche Zeitempfindung mit gleichen zugehörigen Processen. Sind zwei Melodien in ver- schiedener Tonlage gleich, so haben die Tonempfindungen und ihre physiologiechen Bedingungen trotz den ungleichen Tonhöhe gleiche Bestandtheile. Kann die scheinbar unbegrenzte Mannig- faltigkeit der Farbenempfindungen durch psychologische Analyse (Selbstbeobachtung) auf 6 Elemente (Grundempfindungen) reducirt werden, so dürfen wir die gleiche Vereinfachung für das System der Nervenprocesse erwarten. Zeigt sich das System der Raum- empfindungen als eine dreifache Mannigfaltigkeit, so wird sich auch das System der zugeordneten Nervenprocesse als eine solche darstellen.
5. Dieses Prinzip ist übrigens mehr oder weniger bewust, mehr oder weniger consequent stets befolgt worden. Wenn z.B. Helm- holtz^) für jede Tonempfindung eine besondere Nervenfaser (mit dem zugehörigen Process) statuirt, wenn er den Klang in Ton- empfindungen auflöst, die Verwandtschaft der Klänge auf den Ge- halt an gleichen Tonempfindungen (und Nervenprocessen) zu- rückführt, so liegt hierin eine Bethätigung des ausgesprochenen Princips. Die Anwendung ist nur keine vollständige, wie später gezeigt werden soll. Brewster^) Hess sich durch eine, wenn
i) Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen. Braunschweig, Vie- weg, 1863.
2) Brewster, A treatise on optics. London 183 1. Brewster, denkt sich das rothe , das gelbe und das blaue Licht über das ganze Sonnenspectrum reichend, jedoch in verschiedener Intensität vertheilt, so dass für das Auge das Roth an beiden Enden (am rothen und violetten), das Gelb in der Mitte , das Blau am brechbareren Ende hervortritt. 4*
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auch mangehafte, psychologische Analyse der Farben empf in - düngen und unvollkommene physikalische Versuche i) geleitet, zu der Ansicht führen, dass den drei Empfindungen Roth, Gelb, Blau entsprechend auch physikalisch nur drei Lichtsorten existiren, und dass demnach die Newton'sche Annahme einer unbegrenzten Anzahl von Lichtsorten mit continuirlich abgestuften Brechungs- exponenten falsch sei. Leicht konnte Brewster in den Irrthum verfallen, Grün für eine Mischempfindung zu halten. Hätte er aber überlegt, dass Farbenempfindungen ganz ohne physikali- sches Licht auftreten können, so hätte er seine Folgerungen auf den Nervenprocess beschränkt und Newton's physi- kalische Aufstellungen, die ebenso wohl begründet sind, unangetastet gelassen. Th. Young hat diesen Fehler wenigstens principiell verbessert. Er hat erkannt, dsss eine unbegrenzte An- zahl physikalischer Lichtsorten von continuirlich abgestuften Brechungsexponenten (und Wellenlängen) mit einer geringen Zahl von Farbenempfindungen und Nervenprocessen vereinbar ist, dass dem Continuum der Ablenkungen im Prisma (dem Con- tinuum der Raum empf indun gen) eine discrete Zahl von P'arben- empfindungen entspricht. Aber auch Young hat das ausge- sprochene Princip nicht mit vollem Bewusstsein und nicht mit strenger Consequenz angewandt, abgesehen davon, dass er sich bei bei psychologischen Analyse noch durch physikalische Vor- urtheile beirren liess. Auch Young nahm zuerst Roth, Gelb, Blau als Grundempfindungen an, die er später durch einen physi- kalischen Irrthum Wollaston's verleitet, wie Alfred Mayer (in Hoboken) in einer trefflichen Arbeit gezeigt hat -), durch Roth,
i) Brewster meinte nämlich die Nuance von Newton für einfach gehal- tener Spectralfarben durch Absorption ändern zu können, was, wenn es richtig wäre, die N e wton'sche Anschauung wirklich erschüttern würde. Er experinientirte jedoch, wie Helmhol tz (Physiologische Optik) gezeigt hat, mit einem unreinen Spectrum.
2) Phiiosophical Magazine. February 1876, p, III. Wollaston beobachtete (1802) zuerst die später nach Fraunhofer benannten dunklen Linien des Sonnen- spectrums , und glaubte sein schmales Spectrum durch die stärksten Linien in einen rothen , grünen und violetten Theil getrennt zu sehen. Er hielt diese Linien für Grenzen physikalischer Farben. Young nahm diese Ansicht an, und setzte an die Stelle seiner Grundempfindungen Roth , Gelb , Blau die Farben Roth , Grün , Violett.
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Grün und Violett ersetzt hat. In welcher Richtung die Theorie der Farbenempfindung zu modificiren ist, welche seither durch Hering einen hohen Grad der Vollendung erreicht hat, habe ich vor Jahren an einem andern Ort angedeutet.
6. Ich will hier nur kurz zusammenfassen, was ich heute über die Behandlung der Theorie der Farbenempfindung zu sagen habe. Man findet in neueren Schriften häufig die Angabe, dass die von Hering acceptirten sechs Grundfarbenempfindungen, Weiss, Schwarz, Roth, Grün, Gelb, Blau zuerst von Leonardo da Vinci, nachher von Mach und Aubert aufgestellt worden seien. Dass die Angabe in Bezug auf Leonardo da Vinci auf einem Irrthum beruhe, war mir von vornherein, in Anbetracht der Anschauungen seiner Zeit, höchst wahrscheinlich. Hören wir, was er selbst in seinem „Buche von der Malerei" sagt^): „254. Der einfachen Farben sind sechs. Die erste davon ist das Weiss, obwohl die Philosophen weder Weiss noch Schwarz unter die Zahl der Farben aufnehmen, da das eine die Ursache der Farben ist, das andere deren Entziehung. Da indess der
Bei der ersteren Aufstellung hielt also Young das Grün für eine Mischempfindung, bei der zweiten aber dieses und Violett für einfach. — Die zweifelhaften Resultate, welche die psychologische Analyse hiernach liefern kann , könnten leicht den Glauben an ihre Brauchbarkeit überhaupt erschüttern. Wir dürfen aber nicht vergessen , dass man bei Anwendung eines jeden Principes in Irrthum verfallen kann. Die U e b u n g wird auch hier entscheidend sein. Der Umstand, dass die physikalischen Bedingungen der Empfindung fast immer Mischempfindungen auslösen , und die Empfindungsbe- standtheile nicht leicht gesondert auftreten, erschwert die psychologische Analyse sehr bedeutend. So ist z. B. Grün eine einfache Empfindung. Ein vorgelegtes Pig- ment- oder Spectralgrün wird aber in der Regel eine Gelb- oder Blauempfindung miterregen und dadurch die irrthümliche (auf Mischergebnissen von Pigmenten beruhende) Ansicht begünstigen, dass die Grünempfindang aus Gelb- und Blauempfindung zusammengesetzt sei. Das sorgfältige physikalische Studium ist also auch bei der psychologischen Analyse nicht zu entbehren. Andrerseits darf man auch die physikalische Erfahrung nicht überschätzen. Die blosse Erfahrung, dass ein gelbes und blaues Pigment gemischt ein grünes Pigment liefert, kann uns allein nicht bestimmen, im Grün, Gelb und Blau zu sehen, wenn nicht das eine oder das andere wirklich darin enthalten ist. Sieht doch im Weiss niemand Gelb und Blau, obgleich Spectralgelb und Spectralblau gemischt wirklich Weiss geben.
I) Nr. 254 und 255 nach der Uebersetzung von Heinrich Ludwig, Quellen- schriften zur Kunstgeschichte. Wien, Braumüller, 1882, Bd. 18.
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Maler nicht ohne diese beiden fertig werden kann, so werden wir sie zu der Zahl der übrigen hierhersetzen und sagen, das Weiss sei in dieser Ordnung unter den einfachen die erste. Gelb die zweite, Grün die dritte, Blau die vierte, Roth die fünfte» Schwarz die sechste. Und das Weiss werden wir für Licht setzen, ohne das man keine Farbe sehen kann, das Gelb für die Erde, das Grün fürs Wasser, Blau für die Luft, Roth für Feuer und das .Schwarz für die Finsterniss, die sich über dem Feuer- element befindet, weil dort keine Materie oder dichter Stoff ist, auf den die Sonnenstrahlen ihren Stoss ausüben, und den sie in Folge dessen beleuchten könnten". — »255. Das Blau und das (jrün sind nicht einfache für sich. Denn das Blau setzt sich aus Licht und Finsterniss zusammen, wie das Blau der Luft, aus äusserst vollkommenem Schwarz und vollkommen reinem Weiss nämlich". „Das Grün setzt sich aus einer einfachen und einer zusammengesetzten zusammen, nämlich aus Gelb und aus Blau". Dies wird genügen zu zeigen, dass es sich bei Leonardo da Vinci theils um Beobachtungen über Pigmente, theils um naturphilosopische Betrachtungen, nicht aber um die Grund- farben empfind ungen handelt. Die vielen wunderbaren und feinen naturwissenschaftlichen Beobachtungen aller Art, welche in-Leonardo's Buch enthalten sind, führen zu der Ueberzeugung, dass die Künstler und insbesondere Er, wahre Vorläufer der grossen bald folgenden Naturforscher waren. Sie mussten die Natur kennen, um sie angenehm vorzutäuschen; sie beboachteten sich und anderen zum Vergnügen. Doch hat Leonardo bei weitem nicht alle Entdeckungen und Erfindungen gemacht, welche ihm z. B. Groth^) zuschreibt. — Meine nur gelegent- lichen Aeusserungen über die Theorie der Farbenempfindung waren vollkommen deutlich. Ich nahm die Grundempfindungen: Weiss, Schwarz, Roth, Gelb, Grün, Blau und diesen entsprechend in der Netzhaut sechs verschiedene (chemische) Processe (nicht Nervenfasern) an. Vergl. Reichert's uud Duboi's Archiv 1865,
1) Leonardo da Vinci als Ingenieur und Philosoph. Betlin 1874.
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S. 633 u. ff.) Das Verhältniss der Complementärfarben war natür- lich, wie jedem Physiker, auch mir bekannt und geläufig. Ich stellte mir aber vor, dass die beiden Complementärprocesse zu- sammen einen neuen, den Weissprocess anregen (a. a. O. S. 634). Die grossen Vorzüge der Heringschen Theorie erkenne ich freudig an. Sie bestehen für mich in Folgendem. Zunächst wird der Schwarzprocess als eine Reaction gegen den Weiss- process aufgefasst. Ich weiss die Erleichterung, welche darin liegt, umsomehr zu würdigen, als mir das Verhältniss von Schwarz und Weiss gerade die grösste Schwierigkeit einzuschliessen schien. Ausserdem werden Roth und Grün, ebenso Gelb und Blau, als antagonistische Processe aufgefasst, die nicht einen neuen Process erzeugen, sondern die sich gegenseitig vernichten. Das Weiss wird hiernach nicht erst erzeugt, sondern es ist schon vorher vorhanden, und bleibt bei der Vernichtung einer Farbe durch die Complementärfarbe übrig. Was mich an der Hering'schen Theorie allein noch gestört hat, war, dass man nicht sah, warum die beiden Gegenprocesse Schwarz und Weiss zugleich auf- treten und zugleich empfunden werden können, während dies bei Roth-Grün und Blau-Gelb nicht möglich ist. Dieses Be- denken ist aber durch die Darlegung Hering's (Zur Lehre vom Lichtsinne, Wien 1878, S. 122) beseitigt. (Vergl. auch meine oben citirte Abhandlung, Sitzungsberichte der Wiener Akademie Bd. 52, Jahrg. 1865, Oktober).
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Die angeführten Beispiele werden genügen, denn Sinn des aufgestellten Forschungsgrundsatzes zu erläutern, und zugleich zu zeigen, dass dieser Grundsatz nicht durchaus neu ist. Als ich mir vor Jahren den Satz formulirte, hatte ich auch keine andere Absicht, als etwas instinctiv längst Gefühltes mir selbst zur vollen Klarheit zu bringen.
Es schien mir ein einfacher und natürlicher, ja beinahe selbstverständlicher Gedanke, dass Aehnlichkeit auf einer theil- weisen Gleichheit, auf einer theilweisen Identität be-
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ruht, und dass man demnach bei ähnhchen Empfindungen nach den gemeinsamen identischen Empfindungsbestandtheilen und den entsprechenden gemeinsamen physiologischen Processen zu suchen hat. Ich kann jedoch den Leser darüber nicht im Unklaren lassen, dass diese Ansicht sich keineswegs allgemeiner Zustimmung erfreut. In philosophischen Schriften findet man vielfach die Behauptung, dass eine Aehnlichkeit auch wahrgenommen werden kann, ohne dass im geringsten von solchen identischen Bcstand- theilen die Rede sein könnte. Ein Physiologe^) spricht sich in folgender Weise über das hier dargelegte Princip aus: „Denn dessen Anwendung auf die obigen Probleme führt ihn (Mach) direct dazu, nach dem physiologischen Element zu fragen, welches jenen postulirten Qualitäten entspreche. Mir scheint nun, dass von allen Axiomen und Principien keines bedenklicher, keines grösseren Missverständnissen ausgesetzt ist, als dieser Satz. Sollte er nichts anderes sein als eine Umschreibung des sog. Parallel- princips, so würde er weder als neu, noch als besonders frucht- bar gelten können, und das Gewicht, das auf ihn gelegt wird, nicht verdienen. Wenn er dagegen besagen soll, dass allem, was wir psychologisch als etwas Einheitliches herausheben können, jedem Verhältniss, jeder Form, kurz allem, was wir durch eine Allgemeinvorstellung bezeichnen können, ein bestimmtes Element, ein Bestandtheil des ph3^siologischen Geschehens, entsprechen muss, so kann, glaube ich, diese Formulirung nur als bedenklich und irreführend bezeichnet werden." Allerdings will ich den Satz (unter dem S. 48 gemachten Vorbehalt) in diesem letzteren „bedenklichen und irreführenden" Sinn verstanden wissen. Ich muss es nun ganz dem Leser überlassen, ob er mir noch weiter folgen und in den durch jenen Grundsatz deutlich bezeichneten Anfang der Untersuchung eingehen, oder ob er, der Autorität der Gegner folgend, umkehren, und sich lediglich mit der Be- trachtung der vorgehaltenen Schwierigkeiten begnügen will.
i) J. V. Kries, Ueber die materiellen Grundlagen der Bewusstseinserschei- nungen, Freiburg i, B, 1898.
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In ersterem Falle wird er, wie ich hoffe, die Erfahrung machen, dass nach Erledigung einfacherer Fälle, in Fällen tiefer liegender, abstracter Aehnlichkeit die Schwierigkeiten nicht mehr in der abschreckenden Beleuchtung erscheinen, in welcher sie zuweilen gesehen wurden. Ich möchte nur gleich hinzufügen, dass in solchen complicirteren Fällen von Aehnlichkeit dieselbe nicht auf einem gemeinschaftlichen Element, sondern auf einem gemein- schaftlichen System von Elementen beruht, wie ich dies wiederholt in Bezug auf das begriffliche Denken ausgeführt habe (Vgl. das vorletzte Capitel).
8. Da wir eine eigentliche Kluft zwischen Physischem und Psychischem überhaupt nicht anerkennen, so versteht es sich, dass beim Studium der Sinnesorgane sowohl die allgemein physi- kalischen, als auch die speciell biologischen Erfahrungen Ver- wendung finden können. Manches, was uns schwer verständlich bleibt, wenn wir das Sinnesorgan mit einem physikalischen Apparat parallelisiren, an welchem die „Seele" beobachtet, wird durchsichtig im Lichte der Entwicklungslehre, wenn wir annehmen, dass wir mit einem lebenden Organismus mit besonderem Ge- dächtniss, besonderen Gewohnheiten und Manieren, die einer langen und schicksalsreichen Stammesgeschichte ihren Ursprung verdanken, zu thun haben. Die Sinnesorgane sind selbst ein Stück Seele, leisten selbst einen Theil der psychischen Arbeit, und überliefern das Ergebniss fertig dem Bewusstsein. Was ich hierüber zu sagen habe, will ich hier kurz zusammenfassen.
9- Der Gedanke, die Entwicklungslehre auf die Physiologie der Sinne inbesondere, und auf die Physiologie überhaupt, anzuwenden, tritt schon vor Darwin bei Spencer (1855) auf. Derselbe hat eine mächtige Förderung durch Darwin 's Buch „Ueber den Aus- druck der Gemüthsbewegungen" erfahren. Später hat Schuster die Frage, ob es „ererbte Vorstellungen" gebe, in Darwin 'schem Sinne erörtert. Auch ich habe mich (Sitzungsberichte der Wiener
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Akademie, October 1866) für die Anwendung- der Entwicklungs- lehre auf die Theorie der Sinnesorgane ausgesprochen. Eine der schönsten und auf klärendsten Ausführungen im Sinne einer psycho- logisch-physiologischen Anwendung der Entwicklungslehre enthält die akademische Festrede von Hering^). Gedächtniss und Ver- erbung fallen in der That fast in einen Begriff zusammen^ wenn wir bedenken, dass Organismen, welche Theile des Elternleibes waren, auswandern, und die Grundlage der neuen Individuen werden. Die Vererbung wird uns durch diesen Gedanken fast ebenso verständlich als z. B. der Umstand, dass die Amerikaner englisch sprechen, dass ihre Staatseinrichtungen in vieler Beziehung den englischen gleichen u. s. w. Das Problem, welches darin liegt, dass Organismen ein Qedächtniss haben, welches der unorganischen Materie zu fehlen scheint, wird hierdurch selbstverständlich nicht berührt, und besteht fort (Vgl. Cap. V, XI). — Will man an Herings Darstellung nicht unbillige Kritik üben, so muss man in Betracht ziehen, dass er den Begriff Gedächtniss in einem weiteren Sinne nimmt. Er hat die Verwandtschaft erschaut, die besteht zwischen den länger anhaltenden Spuren, welche die Stammesgeschichte den Organismen aufprägt und den flüchtigeren Eindrücken , die das individuelle Leben zurücklässt. Das spontane Wiederaufleben eines einmal eingeleiteten Processes auf einen leisen Anstoss hin erkennt er als wesentlich denselben Vorgang, ob derselbe nun in dem engen Rahmen des Bewusstseins beobachtet werden kann, oder nicht. Das Erschauen dieses gemeinsamen Zuges in einer grossen Reihe von Erscheinungen ist nun ein wesentlicher Fortschritt, wenn auch dieser Grundzug selbst noch unaufge- klärt bleibt. — In neuerer Zeit hat Weis mann 2) auch den Tod als eine Vererbungserscheinung' aufgefasst. Auch diese schöne Schrift wirkt sehr aufklärend. Die Schwierigkeit, die man darin sehen könnte, dass sich eine Eigenschaft vererben soll, die im Elternorganismus erst sich geltend machen kann, nachdem der Process der Vererbung- schon abgeschlossen ist, liegt wohl nur
1) Uqjjer das Gedächtniss als eine allgem. Function der organisirten Materie, 1870.
2) Ucber die Dauer des Lebens, 1882.
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im Ausdruck. Sie fällt weg, wenn man darauf achtet, dass die Vermehrungsfälligkeit der Körperzellen auf Kosten der Vermeh- rung der Keimzellen (wie Weismann andeutet) wachsen kann. Somit kann man sagen, dass die längere Lebensdauer der Zellengemeinschaft und die verminderte Fortpflanzung zwei sich gegenseitig bedingende Anpassungserscheinungen seien. — Noch als Gymnasiast hörte ich einmal, dass Pflanzen der südlichen Hemisphäre bei uns blühen, wenn in ihrer Heimath Frühling ist. Ich erinnere mich lebhaft der geistigen Erschütterung, die mir diese Mittheilung verursacht hat. Ist dies richtig, so kann man hierbei in der That an eine Art Gedächtniss der Pflanze denken, auch dann, wenn die Periodicität der Lebenserscheinungen hiebei die Hauptsache sein sollte. — Die sogenannten Reflexbewe- gungen der Thiere lassen sich in natürlicher Weise als Gedächt- nisserscheinungen ausserhalb des Bewusstseinsorgans auffassen. Eine der merkwürdigsten dieser Erscheinungen sah ich (ich glaube 1865) bei Rollett an enthirnten Tauben. Diese Thiere trinken jedesmal, wenn sie mit den Füssen in eine kalte Flüssigkeit ge- setzt werden, ob dieselbe nun Wasser, Quecksilber oder Schwefel- säure ist. Da nun ein Vogel gewöhnlich in die Lage kommen wird, seine Füsse zu benetzen , wenn er seinen Durst zu stillen sucht, so ergibt sich die Anschauung ganz ungezwungen , dass hier eine durch die Lebensweise bedingte zweckmässige, durch Vererbung befestigte Gewohnheit vorliegt, welche (auch bei Aus- schaltung des Bewusstseins) auf den entsprechenden auslösenden Reiz mit der Präcision eines Uhrwerks abläuft. Goltz hat in seinem wunderbaren Buch^) und in späteren Schriften viele der- artige Erscheinungen beschrieben. — Ich will nun bei dieser Ge- legenheit noch einige Beobachtungen erwähnen, deren ich mich mit grossem Vergnügen erinnere. In den Herbstferien 1873 brachte mir mein kleiner Junge einen wenige Tage alten Sperling, welcher aus dem Nest gefallen war, und wünschte ihn aufzuziehen. Die Sache war jedoch nicht einfach. Das Thierchen war nicht zum Schlingen zu bewegen , und wäre den unvermeidlichen Insulten
i) Die Nervencentren des Frosches, 1869.
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beim gewaltsamen Füttern sicherlich bald erlegen. Da stellte ich folgende Ueberlegung an: „Das neugeborene Kind wäre (ob die Darwin 'sehe Theorie richtig ist oder nicht) unfehlbar verloren, wenn es nicht die vorgebildeten Organe und den ererbten Trieb zum Saugen hätte, welche durch den passenden Reiz ganz auto- inatisch und mechanisch in Thätigkeit gerathen. Etwas Aehnliches muss in anderer Form auch beim Vogel existiren." Ich bemühte mich nun den passenden Reiz zu finden. Ein kleines Insect wurde an ein spitzes Stäbchen gesteckt und an diesem um den Kopf des Vogels rasch herumbewegt. Sofort sperrte das Thier den Schnabel auf, schlug mit den Flügeln und schlang gierig die dargebotene Nahrung' hinab. Ich hatte also den richtigen Reiz für die Auslösung des Triebes und der automatischen Bewegung gefunden. Das Thier wurde zusehends stärker und gieriger, es fing- an nach der Nahrung zu schnappen, erfasste einmal auch ein zufällig vom Stäbchen auf den Tisch gefallenes Insect, und frass von da an ohne Anstand selbstständig. In dem Maasse als sich der Intellect, die Erinnerung, entwickelte, war ein immer kleinerer Theil des auslösenden Reizes nothwendig. Das selbstständig gewordene Thier nahm nach und nach alle characteristischen Sperlingsmanieren an, die es doch nicht eigens gelernt hatte. Bei Tage (bei wachem Intellect) war es sehr zutraulich und liebenswürdig'. Des Abends traten regelmässig andere Erscheinungen auf. Das Thier wurde furchtsam. Es suchte immer die höchsten Orte der Stube auf, und beruhigte sich erst, wenn es durch die Zimmerdecke verhindert wurde, noch höher zu steigen. Wieder eine andere zweckmässige ererbte Gewohnheit! Bei einbrechender Dunkelheit war das Thier vollends verändert. Näherte man sich dann , so sträubte es die Federn, fing an zu fauchen und zeigte den Ausdruck des Entsetzens und der leibhaftigen Gespensterfurcht. Auch diese ist ganz wohlbegründet und zweckmässig bei einem Wesen, das unter normalen Verhältnissen jeden Aug'enblick von irgend einem Un- gethüm verschlungen werden kann. — Diese letztere Beobachtung bekräftigte mir die schon vorher gefasste Ansicht, dass die Ge- spensterfurcht meiner Kinder nicht von den (sorgfältig fernge-
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haltenen) Ammenmärchen herrührte, sondern angeboren war. Eines meiner Kinder fing gelegentlich an, den im Dunkeln stehen- den Lehnstuhl zu beanstanden, ein anderes wich Abends sorgfältig einem Kohlenbehälter beim Ofen aus, besonders wenn derselbe mit geöffnetem Deckel dastand, und einem aufgesperrten Rachen glich. Die Gespensterfurcht ist die wirkliche Mutter der Religionen. Weder die naturwissenschaftliche Analyse, noch die sorgfältige historische Kritik eines D. Strauss Mythen gegenüber, welche für den kräftigen Intellect schon widerlegt sind, bevor sie noch erfunden wurden, werden diese Dinge plötzlich beseitigen und hinwegdecretiren. Was so lange einem wirklichen ökonomischen Bedürfniss entsprach und theilweise noch entspricht (Furcht eines Schlimmem, Hoffnung eines Bessern), wird in den dunkleren un- contro lirbaren instinctiven Gedankenreihen noch lange fort- leben. Wie die Vögel auf unbewohnten Inseln (nach Darwin) die Menschenfurcht erst im Laufe mehrerer Generationen er- lernen müssen, so werden wir erst nach vielen Generationen das unnöthig gewordene „Gruseln" verlernen. Jede Faustauf- führung kann uns darüber belehren, wie sympathisch uns insge- heim die Anschauungen der Hexenzeit noch sind. Nützlicher als die Furcht vor dem Unbekannten wird dem Menschen die genaue Kenntnis der Natur, seiner Lebensbedingungen. Und bald ist es für ihn am wichtigsten , dass er auf der Hut sei vor Nebenmenschen, die ihn roh vergewaltigen, oder durch Irreleitung seines Verstandes und Gefühls perfid missbrauchen wollen. — Noch eine eigenthümliche Beobachtung will ich hier mittheilen, deren Kenntniss ich meinem Vater (zuletzt Gutsbesitzer in Krain), einem begeisterten Darwinianer, verdanke. Mein Vater beschäf- tigte sich viel mit Seidenzucht, zog Yama Mai frei im Eichen- walde u. s. w. Die gewöhnliche Morus-.Seidenraupe ist seit vielen Jahrhunderten ein Hausthier und dadurch höchst unbehilflich und unselbstständig geworden. Kommt die Zeit des Einspinnens heran, so pflegt man den Thier.en Strohbündel darzubieten, auf welchen sie sich verpuppen. Mein Vater kam nun eines Tages auf den Einfall, einer Gesellschaft von Morus-Raupen die üblichen
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Strohbündel nicht bereit zu legen. Die Folge war, dass der grösste Theil der Raupen zu Grunde ging, und nur ein geringer Bruchtheil, die Genies (mit grösserer Anpassungsfähigkeit), sich einspann. Ob, wie meine Schwester beobachtet zu haben glaubt, die Erfahrungen einer Generation schon in der nächsten merklich benützt werden, muss wohl noch weiter untersucht werden. Aus den Versuchen, die C. Lloyd Morgan (Comparative psychology, London 1894), mit jungen Hühnchen, Enten u. s. w. angestellt hat, geht hervor, dass wenigstens bei höheren Thieren kaum etwas Anderes angeboren ist als die Reflexe. Das frisch aus- geschlüpfte Hühnchen pickt gleich mit grosser Sicherheit nach allem was es sieht. Was aber aufzupicken erspriesslich ist, muss es durch individuelle Erfahrung lernen. Je einfacher der Or- ganismus, desto geringer die Rolle des individuellen Gedächt- nisses. — Aus allen diesen merkwürdigen Erscheinungen brauchen wir keine Mystik des Unbewussten zu schöpfen. Ein über das Individuum hinausreichendes Gedächtniss (in der oben bezeichneten erweiterten Bedeutung) macht sie verständlich. Eine Psychologie in Spencer-Darwin'schem Sinne auf Entwicklungslehre ge- gründet, aber auf positiver Detailforschung fussend, verspricht reichere Resultate als alle bisherigen Spekulationen. — Meine Beobachtungen und Betrachtungen waren längst angestellt und niedergeschrieben, als Schneider 's werthvolle Schrift („Der thie- rische Wille", Leipzig 1880) erschien, die viele ähnliche enthält. Den Detailausführungen Schneider's, soweit dieselben nicht durch Lloj^d Morgans Versuche problematisch werden, muss ich fast durchaus zustimmen, wenngleich seine naturwissenschaft- lichen Grundanschauungen (das Yerhältniss von Empfindung und physikalischem Process, die Bedeutung der Arterhaltung u. s. w. betreffend) von den meinigen wesentlich verschieden sind, und obgleich ich z. B. auch die Unterscheidung von Empfindungs- und Wahrnehmungstrieben für ganz überflüssig halte. — Eine wichtige Umgestaltung unserer Anschauungen über die Vererbung dürfte durch Weismann's Schrift (Ueber die Ver- erbung, Jena 1883) eingeleitet sein. Weismann hält die Ver-
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erbung durch Uebung- erworbener Eigenschaften für höchst un- wahrscheinHch und sieht das wichtige Moment in der zufälhgen Variation der Keimesanlagen und der Auslese der Keimes- anlagen. Wie man sich auch zu Weismann's Ausführungen stellen mag, jedenfalls kann die durch ihn angeregte Discussion zur Klärung der Fragen nur beitragen. Der fast mathematischen Schärfe und Tiefe seiner Problemstellung wird man gewiss nicht die Anerkennung versagen , und seinen Argumenten nicht die Kraft absprechen können. Die Bemerkung z. B. gibt sehr zu denken, dass die eigenthümlichen, ungewöhnlichen, scheinbar auf Gebrauch und Anpassung zurückzuführenden Formen der ge- schlechtslosen Ameisen, welche zudem von der Form ihrer fort- pflanzungsfähigen Genossen so sehr abweichen , nicht auf einer Vererbung durch Uebung erworbener Eigenschaften beruhen können. Dass die Keimesanlagen selbst sich durch äussere Ein- flüsse ändern können, scheint aber doch durch die Bildung neuer Racen, welche sich als solche erhalten, ihre Raceneigenschaften vererben, und die selbst wieder unter andern Umständen einer Umbildung fähig sind, deutlich hervorzugehen. Auf das Keim- plasma muss also doch auch der dasselbe umschliessende Leib Eintluss nehmen (wie Weismann selbst zugibt). Somit ist ein Einfluss des individellen Lebens auf die Nachkommen doch nicht auszuschliessen , wenn auch eine direkte Uebertragimg der Resultate der Uebung des Individuums auf die Descendenten (nach Weismann's Darlegung) nicht mehr erwartet werden kann. — Wenn man sich vorstellt, dass die Keimesanlagen zu- fällig variiren, so ist zu bedenken, dass der Zufall kein Actions- princip ist. Wenn ganz gesetzmässig wirksame periodische Umstände verschiedener Art und Periodicität zusammentreffen, so überdecken sich dieselben derart, dass man im Einzelnen kein Gesetz mehr wahrnimmt. Dennoch äussert sich das Gesetz im Verlauf eines längeren Zeitraumes und erlaubt uns auf gewisse Mittelwerthe, Wahrscheinlichkeiten der Effecte zu rechnen i).
I) Vorlesungen über Psychophysik. Zeitschr. f. prakt. Heilkunde. Wien 1863, S. 148, 168, 169.
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Ohne ein solches Actionsprincip hat die Wahrscheinhckeit, der Zufall gar keinen Sinn. Welches Actionsprincip sollte aber auf die Variation der Keimesanlagen mehr Einfluss haben als der Elternleib? — Ich für meine Person kann mir nicht vorstellen, dass die Art dem Einflüsse variirender Umstände unterliegen sollte, welche gleichwohl nicht am Individuum angreifen wür- den. Meine eigene Variation wird mir aber zudem gewiss, durch jeden Gedanken, jede Erinnerung, jede Erfahrung, welche ja mein ganzes physisches Verhalten ändern^).
lO.
Auch teleologische Betrachtungen haben wir als Hilfsmittel der Forschung keineswegs zu scheuen. Gewiss wird uns das Thatsächliche nicht verständlicher durch Zurückführung desselben auf einen selbst problematischen unbekannten ,, Weltzweck", oder den ebenso problematischen Zweck eines Lebewesens. Allein die Frage, welchen Werth diese oder jene Function für das that- sächliche Bestehen des Organismus hat, oder was sie zu der Erhaltung desselben beiträgt, kann das Verständniss dieser Function selbst fördern 2). Deshalb dürfen wir natürlich noch
i) Populär-wissenschaftliche Vorlesungen 1897, S. 248, 249.
2) Solche teleologische Betrachtungen sind mir oft nützlich und aufklärend gewesen. Die Bemerkung z. B., dass ein sichtbares Object bei wechselnder Be- leuchtungsintensität nur dann als dasselbe wiedererkannt werden kann, wenn die ausgelöste Empfindung von dem Verhältniss der Beleuchtungsintensitäten des Ob- jectes und der Umgebung abhängt, macht eine ganze Reihe organischer Eigenschaften des Auges verständlich. Man versteht durch dieselbe auch, wie der Organismus sich im Interesse seines Bestehens der bezeichneten Forderung anpassen , und sich darauf einrichten musste , Lichtintensitätsverhältnisse zu empfinden. Das sogenannte Weber'sche Gesetz, oder die Fechner'sche psychophysische Fundamentalformel er- scheint demnach nicht als etwas Fundamentales, sondern als erklärbares Ergebniss organischer Einrichtungen. Natürlich ist damit der Glaube an die Allgemeingültigkeit dieses Gesetzes aufgegeben. Ich habe die betreffenden Ausführungen in verschiedenen Abhandlungen gegeben (Sitzungsberichte der Wiener Akademie, Bd. 52, Jahrg. 1865, Vierteljahrschrift für Psychiatrie. Neuwied und Leipzig 1868, Sitzungsberichte der Wiener Akademie, Bd. 57, Jahrg. 1868). In der letzterwähnten Abhandlung habe ich von der Annahme des Parallelismus zwischen Psychischem und Physischem, oder, wie ich damals mich ausdrückte, von der Proportionalität zwischen Reiz und Empfindung ausgehend, die Fechner'sche Massformel (das Logarithmusgesetz) fallen gelassen, und eine andere Auffassung der Fundamentalformel ange-
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nicht glauben, dass wir, wie manche Darwinianer sich ausdrücken, eine Function „mechanisch erklärt" haben , wenn wir erkennen, dass sie für das Bestehen der Art noth wendig ist. Darwin selbst ist von dieser kurzsichtigen Auffassung wohl vollkommen frei. Durch welche physikalische Mittel die Function sich entwickelt, bleibt noch immer ein physikalisches, und wie und warum sich der Organismus anpassen will, ein psychologisches Problem. Die Erhaltung der Art ist überhaupt nur ein that- sächlicher werthvoller Anhaltspunkt für die Forschung, keines- wegs aber das Letzte und Höchste. Arten sind ja wirklich zu Grunde gegangen , und neue wohl ebenso zweifellos entstanden. Der lustsuchende und schmerzfliehende Wille ^) muss also wohl weiter reichen als an die Erhaltung der Art. Er erhält die Art, wenn es sich lohnt, er vernichtet sie, wenn ihr Bestand sich nicht mehr lohnt. Wäre er nur auf die Erhaltung der Art gerichtet, so bewegte er sich, alle Individuen und sich selbst betrügend, ziellos in einem fehlerhaften Cirkel. Dies wäre das biologische Seitenstück des berüchtigten physikalischen „perpetuum mobile". Derselben Verkehrtheit machen sich jene Staatsmänner schuldig, welche den Staat als Selbstzweck ansehen.
nommen, deren Gültigkeit für die Lichtempfindung ich nicht bestritten habe. Dies geht aus der daselbst befindlichen mathematischen Entwicklung unzweifelhaft hervor. Man kann also nicht sagen, wie es Hering gethan hat, dass ich überall auf dem psychophysischen Gesetz fusse, sofern man unter diesem die Massformel versteht. Wie hätte ich auch die Proportionalität von Reiz und Empfindung zugleicli mit der logarithmischen Abhängigkeit festhalten können? Mir war es genügend, meine Meinung deutlich zu machen, die Fe ebner 'sehe eingehend zu kritisiren und zu bekämpfen, hatte ich aus vielen naheliegenden Gründen kein Bedürfniss. Genau ge- nommen halte ich auch den Ausdruck Proportionalität für unzutreffend, da von einer eigentlichen Messung der Empfindung doch nicht die Rede sein kann, sondern höch- stens von einer genauen Characterisirung und Inventarisirung durch Zahlen. Vergl. „Principien der Wärmelehre", S. 56, was über die Bezeichnung der Wärmezustände gesagt ist.
i) Man kann den Schopenhauer 'sehen Gedanken der Beziehung von Willen und Kraft ganz wohl annehmen, ohne in beiden etwas Metaphysisches zu sehen.
Mach, Analyse. 3. Aufl.
V. Physik und Biologie. Causalität und Teleologie.
I.
Verschiedene Wissensgebiete entwickeln sich oft lange Zeit nebeneinander, ohne dass eines auf das andere Einfluss nimmt. Gelegentlich können sie aber wieder in engern Contact treten, wenn bemerkt wird, dass die Lehren des einen durch jene des andern eine unerwartete Aufklärung erfahren. Dann zeigt sich sogar das natürliche Bestreben, das erstere Gebiet ganz in dem letzteren aufgehen zu lassen ^). Der Zeit der Hoffnungsfreudig- keit, der Ueberschätzung dieser vermeintlich alles aufklärenden Beziehung folgt aber bald eine Periode der Enttäuschung und abermaligen Trennung- dieser Gebiete, in welcher wieder jedes seine eigenem Ziele verfolgt, seine besonderen Fragen stellt, und seine eigenthümlichen Methoden anwendet. Jeder solche zeit- weilig'e Contact hinterlässt bleibende Spuren. Ausser dem. posi- tiven Wissensgewinn, welcher nicht zu unterschätzen ist, wird aber durch die zeitweilige Beziehung verschiedener Gebiete eine Metamorphose der Begriffe eingeleitet, wodurch diese geklärt und über das Gebiet ihrer Entstehung hinaus anwendbar werden.
2.
Wir befinden uns nun in einer solchen Periode mannig- faltiger Beziehungen, und die eingeleitete Gährung' der Begriffe bietet recht merkwürdige Erscheinungen dar. Während manche Physiker die physikalischen Begriffe psychologisch, logisch und mathematisch zu säubern bestrebt sind, finden sich andere Ph}^- siker hiedurch beunruhigt und treten, philosophischer als die
i) Veri^l. \V. Pauli, Plij'silcalisch -chemische Methoden in der Medicin. Wien 1900. — Daselbst wird eine verwandte enger begrenzte ]<"iage beliandelt.
1
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Philosophen, für die von diesen vielfach schon aufgegebenen alten metaphysischen Begriffe ein. Philosophen, Psychologen, Biologen, und Chemiker wenden den Energ-iebeg'riff und andere physikalische Begriffe in so freier Weise auf die weitesten Gebiete an, wie dies der Physiker auf eigenem Gebiet kaum wagen würde. Man könnte fast sag-en, die gewöhnlichen Rollen der Fächer seien vertauscht. Ob nun diese Bewegung theils positiven, theils negativen Erfolg hat, jedenfalls wird sich aus derselben eine präcisere Bestimmung der Begriffe, eine genauere Abgrenzung ihres Anwendungsbereiches, eine klarere Vorstellung von der Verschiedenheit und der Verwandtschaft der Methoden der ge- nannten Gebiete ergeben.
3- Uns handelt es sich hier insbesondere um die Beziehungen des physikalischen und biologischen Gebietes im weitesten Sinne. Schon Aristoteles unterschied wirkende Ursachen und End- ursachen oder Zwecke. Es wurde nun vorausgesetzt, dass die Erscheinungen des ersteren Gebietes durchaus durch wirkende Ursachen, jene des letzteren aber auch durch Zwecke bestimmt seien. Die Beschleunigung eines Körpers z. B. ist nur durch die wirkenden Ursachen, durch die augenblicklichen Umstände, die Gegenwart anderer gravitirender, magnetischer oder elec- trischer Körper bestimmt. Die Wachsthumsentwicklnng eines Thieres oder einer Pflanze in ihren eigentümlichen bestimmten Formen, oder die Instincthandlungen eines Thieres vermögen wir gegenwärtig aus den wirkenden Ursachen allein nicht abzuleiten, doch werden uns dieselben aus dem Zweck der Selbsterhaltung unter diesen besonderen Lebensumständen wenigstens th eil weise verständlich. Welche theoretische Bedenken gegen die An- wendung des Zweckbegriffes in der Biologie man auch hegen möchte, gewiss wäre es verkehrt, auf einem Gebiete, wo die „causale" Betrachtung noch so unvollkommene Aufklärungen gibt, die leitenden Fäden, welche die Zweckbetrachtung liefert, ungenützt liegen zu lassen. Ich weiss nicht, wodurch die Raupe
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des Nachtpfauenauges gezwungen wird, einen Cocon mit einer nach aussen sich öffnenden Borstenklappe zu spinnen, aber ich sehe ein , dass gerade ein solcher Cocon dem Zwecke ihrer Lebenserhaltung entspricht. Ich bin weit davon entfernt, die vielen merkwürdigen Entwicklungserscheinungen und Instinct- handlungen der Thiere, die schon Reimarus und Autenrieth beschrieben und studirt haben, „causal" zu verstehen, aber ich verstehe sie nach dem Zweck der Lebenserhaltung und unter ihren besonderen Lebensbedingungen. Jene Erscheinungen ziehen dadurch die Aufmerksamkeit auf sich und fügen sich dem Lebensbild des organischen Wesens als unverlierbare Bestand- theile ein, welches sich dadurch erst zu einem einheitlichen, zu- sammenhängenden Ganzen gestaltet. Reimarus und Auten- rieth haben auf diesem Wege die Verwandtschaft zwischen den Wachsthumserscheinungen und den Instincterscheinungen schon erkannt. Aber erst in neuester Zeit sind, besonders durch die pflanzenphysiologischen Untersuchungen von Sachs und die thierphysiologischen Arbeiten von Loeb über Geotropismus, He- liotropismus, Stereotropismus u. s. w. die Beziehungen zwischen Wachsthum und Instinct wirklich aufgeklärt worden, und man fängt an, dieselben auch „causal" zu begreifen. Wie nützlich der Zweckbegriff der biologischen Forschung war, darüber kann dem Zeugniss der Geschichte gegenüber gar kein Streit sein. Man denke nur an Kepler's Untersuchung des Auges. Die Existenz der Accommodation war für ihn nach dem Zweck des Auges, der Thatsache des deutlichen Sehens in verschiedene Entfernungen, unzweifelhaft, die Vorgänge aber, welche die Accommodation bewirken, wurden erst dritthalb Jahrhunderte später wirklich ent- hüllt. Harvey gelangte zur Entdeckung der Blutbewegung, in- dem er sich den problematischen Zweck der Stellung der Herz- und Venenklappen klar machen wollte.
4- Wenn ein Gebiet von Thatsachen teleologisch auch voll- kommen durchschaut ist, so bleibt das Bedürfniss nach dem „cau-
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salen" Verständniss dennoch bestehen. Der Glaube an eine gänz- lich verschiedene Natur der beiden betrachteten Gebiete, vermöge welcher das eine überhaupt nur causal, das andere überhaupt nur teleologisch zu begreifen wäre, ist nicht gerechtfertigt. Der physikalische Thatsachencomplex ist einfach, oder lässt sich wenigstens in vielen Fällen willkürlich (durch das Experiment) so einfach- g'estalten, dass die unmittelbaren Zusammenhänge sicht- bar werden. Haben wir uns nun durch genügende Beschäftigung mit diesem Gebiete Begriffe B von der Art dieser Zusammenhänge erworben, die wir für den Thatsachen allgemein entsprechend halten, so müssen wir mit logischer Nothwendigkeit er- warten, dass auch jede vorkommende Einzelthatsache den Be- griffen B entspricht. Hierin liegt aber keine Naturnothwen- digkeit^). Das ist das „causale" Verständniss. Der biologische Thatsachencomplex ist nun so zusammengesetzt, dass die un- mittelbaren Zusammenhänge nicht übersehen werden. Des- halb begnügen wir uns, auffallende, nicht unmittelbar zusammen- hängende Theile des Thatsachencomplex als zusammenhängend hervorzuheben. Der an dem einfacheren Causalverhältniss ge- schulte Intellect findet nun in dem Fehlen der Zwischenglieder Schwierigkeiten, die er entweder nach Möglichkeit durch Auf- suchen dieser Zwischenglieder zu beheben sucht, oder er verfällt auf die Hypothese einer ganz neuen Art von Zusammenhängen. Letzteres ist unnöthig% wenn wir unsere Kenntnisse als unvoll- ständig und provisorisch ansehen und bedenken, dass in physi- kalischen Gebiet ganz analoge Fälle vorkommen. Die antiken Forscher unterschieden auch nicht so genau zwischen beiden Ge- bieten. Aristoteles lässt z. B. die schweren Körper ihren Ort suchen; Heron glaubt, dass die Natur aus Erspar ungs- rücksichten das Licht auf den kürzesten Wegen und in der kürzesten Zeit führe, u. s. w. Diese Forscher zogen keine so scharfe Grenze zwischen dem Physikalischen und Biologischen. Durch eine unscheinbare Wendung des Gedankens kann man
I) Principien der Wärmelehre. 2. Aufl., Leipzig 1900, S. 434, 457.
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übrigens jede teleologische Frage so formuliren, dass der Zweck- begriff ganz aus dem Spiel bleibt. Das Auge sieht in verschiedenen Entfernungen deutlich; dessen dioptrischer Apparat muss also veränderlich sein ; worin besteht diese Veränderung? Herz- und Venenklappen öffnen sich alle in demselben Sinne; nur ein- seitige Blutbewegung ist unter diesen Umständen möglich. Ist sie vorhanden ? Die modere Entwicklung-sichre hat sich diese nüchterne Denkweise ang-eeignrt. Selbst in hoch entwickelten Partien der Physik finden wir andererseits Ueberlegungen, welche mit jenen der biologischen Wissenschaften sehr verwandt sind. Wir untersuchen z. B. die stehenden Schwingungen, welche unter gegebenen Verhältnissen möglich sind, d. h. sich erhalten können. Die Art, wie dieselben aber entstehen, ist uns durchaus noch nicht genau bekannt. Die Lichtbewegung auf den kürzesten Wegen erklären wir durch eine Auslese der wirk- samen Wege. Die Denkweise des Chemikers steht zuweilen jener des Biologen noch viel näher. Alle möglichen Verbindungen bilden sich nach seiner Auffassung in einer Lösung', die unlös- lichen aber, welche neuen Angriffen stärker widerstehen, tragen über die andern den Sieg davon, und bleiben übrig. Es scheint also zunächst noch keine Nöthigung zu bestehen, einen tief- gehenden Unterschied zwischen teleologischer und causaler Untersuchung anzunehmen. Die erstere ist einfach eine vor- läufige.
5- Um dies noch näher zu begründen, gehen wir nochmals auf die Vorstellungen von der Causalität ein. Die alte, hergebrachte Vorstellung von der Causalität ist etwas ungelenkig: einer Dosis Ursache folgt eine Dosis Wirkung. Es spricht sich hierin eine Art primitiver, pharmaceutischer Weltanschauung aus, wie in der Lehre von den vier Elementen. Schon durch das Wort Ursache wird dies deutlich. Die Zusammenhänge in der Natur sind selten so einfach, dass man in einem gegebenen Falle eine Ursache und eine Wirkung angeben könnte. Ich habe deshalb schon vor
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langer Zeit versucht, den Ursachenbegriff durch den mathe- matischen Functionsbegriff zu ersetzen: Abhängigkeit der Erscheinungen von einander, genauer Abhängig- keit der Merkmale der Erscheinungen von einander i). Dieser Begriff ist einer beliebigen Erweiterung und Einschränkung fähig, je nach der Forderung der untersuchten Thatsachen. Die gegen denselben erhobenen Bedenken möchten also wohl zu be- seitigen sein 2). Betrachten wir als einfaches Beispiel das Ver- halten gravitirender Massen. Tritt einer Masse A eine Masse B gegenüber, so folgt hierauf eine Bewegung von A gegen B hin. Dies ist die alte Formel. Genauer betrachtet, zeigt sich aber, dass die Massen A, B, C, D . . . einander gegenseitig Beschleunigungen bestimmen, welche also mit der Setzung der Massen zugleich gegeben sind. Die Beschleunigungen geben die Geschwindigkeiten an, welche in einer künftigen Zeit er- reicht sein werden. Es sind hiedurch nun auch die Lagen von A, B, C, D . . . für jede Zeit bestimmt. Das physikalische Maass der Zeit gründet sich aber wieder auf Raummessung (Drehung der Erde). Es ergiebt sich also schliesslich Abhängigkeit der Lagen voneinander. Schon in diesem einfachsten Falle ver- mag die alte Formel der Mannigfaltigkeit der Beziehungen, welche in der Natur bestehen, nicht zu fassen. So kommt auch in andern Fällen alles auf gegenseitige Abhängigkeit hinaus, über deren Form selbstverständlich von vornherein gar nichts ausge- sagt werden kann, da hierüber nur die Specialforderungen zu entscheiden hat. Eine gegenseitige Abhängigkeit lässt Ver-
i) Die Geschichte und die Wurzel des Satzes der Erhaltung der Arbeit. Prag, Calve, 1872.
2) Solche Einwendungen wurden erhoben von: Külpe, „Ueber die Beziehungen zwischen körperlichen und seelischen Vorgängen" fZeitschr. für Hypnotismus, Bd. 7, S. 97), ferner von Cossniann , „Empirische Teleologie". Stuttgart 1899, S. 22. Ich glaube nicht, dass meine Auffassung von jener Cossmann's so sehr abweicht, dass eine "Verständigung nicht möglich wäre. Bei längerer Erwägung würde Cossmann wahrscheinlich erkannt haben, dass ich den P'unctionsbegriff an die Stelle des alten Causalitätsbegriffes gesetzt habe, und dass dieser auch für jene Fälle genügt, welche er im Auge hat. Gegen die „empirische Teleologie" habe ich übrigens nichts ein- zuwenden. Vgl. auch C. Hauptmann, Die Metaphysik in der Physiologie. Dresden 1893.
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änderung nur zu, wenn irgend eine Gruppe der in Beziehung stehenden Stücke als unabhängig variabel betrachtet werden kann. Deshalb ist es zwar möglich, das Weltbild in wissen- schaftlich bestimmter Weise im Einzelnen zu ergänzen, wenn ein ausreichender Theil desselben gegeben ist, wo aber die glänze Welt hinaus will, kann wissenschaftlich nicht ermittelt werden. Wenn ein (etwa durch Centralkräfte) gut definirtes mecha- nisches System in seinen Lagen und Geschwindigkeiten gegeben ist, so ist dessen Configuration als Function der Zeit bestimmt. Man kennt dieselbe zu einer beliebigen Zeit vor und nach der An- fangszeit, kann also voraus und rückwärts prophezeien. Dies gilt in beiden Fällen nur, wenn Störungen von aussen nicht eintreten, das System also in gewissem Sinne als ein für sich abgeschlossenes angesehen werden kann. Als ganz von der übrigen Welt isolirt kann man kein System auffassen, da die Bestimmung der Zeit, demnach auch der Geschwindigkeiten, die Abhängigkeit von einem Parameter voraussetzen, der durch den zurückgelegten Weg eines ausserhalb des S)^stems lieg-enden Körpers (Planeten) bestimmt wird. Die thatsächliche Abhängig- keit, wenn auch nicht die unmittelbare Abhängigkeit aller Vor- gänge von der Lage eines Weltkörpers verbürgt uns den Zu- sammenhang der ganzen Welt. Analoge Ueberlegungen gelten für ein beliebiges physikalisches System, wenn man dasselbe auch nicht als ein mechanisches auffasst. Alle genau und klar er- kannten Abhängigkeiten lassen sich als gegenseitige Simul- tanbeziehungen auffassen.
Betrachten wir im Gegensatz hierzu die populären Begriffe
v/ \/\/ \/ Ursache und Wirkung. S^.— —.— -.— -' K Die Sonne, S, Fig'. i b,
/ \ /^\ / '^\ /\ bestrahle einen in ir-
^^g""" '^- gend einem Medium
eingetauchten K(')rper K. Datin ist die Sonne, oder die Sonnen- wärme, die Ursache der Erwärmung- des Körpers K, welche regelmässig auf die Bestrahlung folgt. Andererseits kann der Körper K oder dessen rcMupcratürändorung nicht als Ursache
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der Temperaturänderung der Sonne angesehen werden, wie es allerdings der Fall wäre, wenn S und K allein in unmittel- barer Wechselbeziehung stünden. Die beiden Aenderungen wären dann simultan und würden sich gegenseitig bestimmen. Es liegt dies also an den Zwischengliedern, den Elementen A, B des Mediums, welche nicht nur an K, sondern auch an andern Elementen Aenderungen bestimmen und von letzteren Bestimm- ungen erfahren. K steht ebenso mit unzähligen Elementen in Wechselbeziehung, und nur ein verschwindender Theil seiner Strahlung gelangt zur Sonne zurück. An analogen Umständen liegt es, dass ein Körper auf die Netzhaut ein Bild wirft, eine Gesichts- empfindung auslöst, und dass von dieser eine Erinnerung zurückbleibt, während durch die Erinnerung nicht das Netzhautbild oder gar der ganze Körper restituirt wird. Darin liegt für mich der Vor- zug des Functionsbegriffes vor dem Ursachenbegriff, dass ersterer zur Schärfe drängt, und dass demselben die Un Vollständigkeit, Unbestimmtheit und Einseitigkeit des letzteren nicht anhaftet. Der Begriff Ursache ist in der That ein primitiver vorläufiger Nothbehelf. Ich meine, das muss jeder moderne Naturforscher fühlen, der z. B. die Mill'schen Ausführungen über die Methoden der experimentellen Forschung in Augenschein nimmt. Er würde beim Versuch der Anwendung nicht über das Vorläufigste hinauskommen. — Man kann zwischen räumlich und zeitlich sehr weit Abliegendem functionale Beziehungen vermuthen, von der Gegenwart aus in. die ferne Zukunft oder Vergangenheit zu prophezeien versuchen, und kann darin Glück haben. Der Ge- danke wird aber auf desto weniger sicherer Basis ruhen, je grösser die Entfernung ist. Deshalb ist es unbeschadet der Grösse des Newton 'sehen Gedankens ein so wichtiger Fortschritt der modernen Physik, dass sie, wo sie es kann, die Berück- sichtigung der räumlichen und zeitlichen Continuität fordert.
6. Es möchte demnach scheinen, dass man mit dem Func- tionsbegriff sowohl im physikalischen als im biologischen Ge-
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biet auskommen, und dass derselbe allen Forderungen entsprechen könnte. Der sehr verschiedene Anblick, welchen die beiden Ge- biete zeigen, braucht uns nicht abzuschrecken. Ganz nahe ver- wandte Gruppen von physikalischen Erscheinungen,, wie die Reibungselectricität und die galvanische Electricität sehen so ver- schieden aus, dass man von vornherein kaum eine Zurückführung beider auf dieselben Grundthatsachen erwarten möchte. Die magnetischen und chemischen Erscheinungen, w^elche im ersteren Gebiete kaum merklich sind, und dort schwerlich hätten ent- deckt werden können , treten im letzteren gewaltig' hervor, während umgekehrt die ponderomotorischen und Spannungs- erscheinungen nur im ersteren Gebiete sich leicht und ungesucht darbieten. Bekannt ist aber, wie sehr beide Gebiete sich gegen- seitig ergänzen und aufklären. Ist man doch daran, die chemische Natur der Reibungselectricität durch die galvanische Electricität zu enthüllen. Ein analoges Verhältniss besteht wohl auch zwischen dem physikalischen und biologischen Gebiet. Beide enthalten wohl dieselben Grundthatsachen; manche Seiten derselben äussern sich aber nur in dem einen , manche nur in dem andern merklich, so dass nicht nur die Physik der Biologie, sondern auch die letztere der erstem hilfreich und aufklärend zur Seite stehen kann. Den unbezweifelten Leistungen der Physik in der Biologie stehen ebenso andere Fälle gegenüber, in welchen erst die Biologie neue physikalische Thatsachen ans Licht ge- fördert hat (Galvanismus, Pfeffer'sche Zelle u. s. w.). Die Physik wird in der Biologie noch mehr leisten, wenn sie erst noch durch die letztere gewachsen sein wird.
7- Wer nur mit physikalischen Betrachtungen vertraut in das Gebiet der Biologie kommt und nun vernimmt, das einem Thier eigenthümliche Organe wachsen, welche es erst in einem spätem Lebensstadium zu zweckmässiger Verwendung bereit findet, dass es Instincthandlungen ausführt, die es nicht gelernt haben kann, und die erst dem künftigen Geschlecht zu Gute
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kommen, dass es sich in seiner Färbung der Umgebung anpasst um möglichen künftigen Feinden zu entg'ehen, kann in der That leicht zur Annahme ganz besonderer hier wirksamer Factoren gelangen. Diese räthselhafte Fernvvirkung der Zukunft kann schon deshalb nicht mit einer physikalischen Beziehung parallelisirt werden, weil sie nicht ausnahmslos exact besteht, denn viele Organismen bereiten sich für ein späteres Lebens- stadium vor, gehen aber zu Grunde, ohne dasselbe zu erreichen. Man wird nicht etwas, das selbst nicht oder nur mangelhaft be- stimmt ist, als bestimmend für ein Gegenwärtiges, uns vor Augen liegendes ansehen wollen. Bedenken wir aber, dass die Vorgänge im Leben der Generationen periodisch wiederkehren, so sehen wir, dass die Auffassung eines bestimmten Lebensstadiums als eines Zukünftigen und Fernwirkenden etw^as willkürlich und gewagt ist, und dass dasselbe auch als ein Vergangenes der Vorfahren, als ein Gegebenes, welches Spuren zurückgelassen hat, ang'esehen w^erden kann, wobei das ungewohnte Unbegreifliche sich sehr vermindert. Es ist dann nicht eine mögliche Zu- kunft, die wirken könnte, sondern eine gew^iss unzählige Mal dagewesene Vergangenheit, die gewiss gewirkt hat.
Um Beispiele dafür anzuführen, dass die Physik die Fähig- keit besitzt, an der Lösung scheinbar specifisch biologischer Fragen wirksam mitzuarbeiten, gedenken wir des merkwürdigen Aufschwungs der experimentellen Embryologie, der Ent- wicklungsmechanik mit ihren physikalisch-chemischen Methoden. Sehr bemerkenswerth ist auch O. Wiener's Nachweis des wahr- scheinlichen Zusammenhanges der Farbenphotographie und der P^arbenanpassung in der Natur ^). Ausser der Schichtenbildung eines lichtempfindlichen Mediums durch stehende Lichtwellen, welche die Farbe des beleuchtenden Lichtes als Interferenzfarbe wiedergibt, kann eine der Beleuchtung entsprechende Färbung noch auf eine andere Art entstehen. Es gibt lichtempfindliche Stoffe, die fast jede Färbung annehmen können. Werden die-
l) O. Wiener, Farbenphotographie und Farbenanpassung in der Natur. Wiede- mann's Annalen, Bd. 55 (1895), S. 225.
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selben farbiger Beleuchtung ausgesetzt, so behalten sie die Farbe der Beleuchtung, weil sie nun die vStrahlen derselben Farbe nicht absorbiren und folglich nicht weiter der Veränderung durch das Licht unterliegen. Nach Poulton's^) Beobachtungen ist es wahrscheinlich, dass viele Anpassungsfarben von Schmetter- lingspuppen auf diese Art entstehen. In solchen Fällen ist also das wirksame Mittel nicht weit von dem „Zweck" zu suchen, welcher erreicht wird. Sagen wir nüchtern: Der Gleichgewichtszustand ist durch die Umstände bestimmt, unter welchen derselbe erreicht wird.
Die Begriffe „wirkende Ursache" und „Zweck" stammen ur- sprüngiich beide von animistischen Vorstellungen ab, wie man an dem Beispiel der antiken Forschung noch ganz deutlich sieht. Gewiss wird der Wilde über seine eigenen spontanen, ihm natürlich und selbstverständlich scheinenden Bewegungen sich nicht den Kopf zerbrechen. Sobald er aber unerwartete auf- fallende Bewegungen in der Natur wahrnimmt, setzt er dieselben instinctiv mit seinen eig-enen in Analogie. Es leuchtet ihm hier- durch der Gedanke des eigenen und fremden Willens auf-). Nach und nach treten abwechselnd die Aehnlichk eiten und Unterschiede der physikalischen und biologischen Vorgänge mit dem Grundschema der Willenshandlung immer deutlicher hervor, und hiemit gestalten sich die Begriffe schärfer. In der bewussten Willenshandlung fallen Ursache und Zweck noch zu- sammen. Die grosse Einfachheit, die Berechenbarkeit der phy-
I
i) Poulton, The Colours of Animals. London 1890.
2) Ich setzte meinem etwa 3-jährigen Jungen eine Hol tz 'sehe Electrisirmaschine in Gang, und er erfreute sich an dem Funkenspiel derselben. Als ich aber die Maschine losliess und dieselbe weiterrotirte, zog er sich furchtsam zurück, und hielt sie augenscheinlich für belebt. ,,Sie läuft allein"! rief er betroffen und ängstlich. Vielleicht verhalten sich Hunde, die jedem bewegten Wagen bellend nachlaufen, ähn- lich. Ich erinnere mich, dass ich im Alter von etwa 3 Jahren erschrak, als die elastische Samenkapsel einer Balsamine beim Drücken sich öffnete und meinen Finger umfasste. Dieselbe erschien mir belebt, als ein Thier.
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sikalischen Vorgänge drängt in Bezug auf diese die ani- mistische Auffassung- immer mehr zurück. Der Begriff Ursache geht allmähg durch ungelenkige P'ormen in den Begriff der Ab- hängigkeit, in den Functionsbegriff über. Nur für die Erschein- ungen des org-anischen Lebens, welche der animistischen Auf- fassung weniger widerstreben, wird der ZweckbegrifF, die An- sicht des zielbewussten Handelns, noch aufrecht erhalten, und wo letzteres dem organischen Wesen selbst nicht zugemuthet werden kann, denkt man sich ein anderes über demselben schwebendes, zielstrebiges Wesen (Natur u. s. w.), durch welches ersteres g"e- leitet wird.
Der Animismus (Anthropomorphismus) ist an sich kein er- kenntnisstheoretischer Fehler, es müsste denn jede Analogie ein solcher sein. Der Fehler liegt nur in der Anwendung dieser An- sicht in Fällen, in welchen die Prämissen dafür fehlen, oder nicht zureichen. Die Natur, welche den Menschen bildet, hat Analoges von niederer, und zweifellos auch höherer Entwicklung", reichlich erzeugt
9- Jeder Organismus und die Theile desselben unterliegen den physikalischen Gesetzen. Daher das berechtigte Bestreben, den- selben nach und nach physikalisch zu begreifen und die „causale" Betrachtung allein zur Geltung zu bringen. Versucht man aber dies, so stösst man immer auf ganz eigenthümliche Züge des Organischen, für welche sich in den bisher durchschauten physi- kalischen Erscheinungen (der ,, leblosen" Natur) keine Analogie darbietet. Ein Organismus ist ein System, dass eine Beschaffen- heit (chemischen. Wärmezustand u. s. w.) gegen äussere Einflüsse zu erhalten vermag, das einen dynamischen Gleichgewichtszu- stand von beträchtlicher Stabilität darbietet i). Der Organismus vermag durch Aufwand von Energie aus der Umgebung andere Energie an sich zu ziehen, welche jene Verlust ersetzt oder über-
i) Hering, Vorgänge in der lebendigen Substanz. Lotos, Prag i<
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bietet^). Eine Dampfmaschine, die ihre Kohle selbst herbeischafft und sich selbst heizt, ist nur ein schlechtes künstliches Bild des Organismus. Der Organismus besitzt diese Eigenschaften in sehr kleinen Theilen und regenerirt sich aus diesen, d. h. er wächst und pflanzt sich fort. Die Physik wird also aus dem Studium des Organischen an sich noch sehr viel neue Einsicht schöpfen müssen, bevor sie auch das Organische bewältigen kann.'-).
Vergleichen wir unsere Willenshandlung mit einer an uns selbst beobachteten, zu unserer eigenen Ueberraschung eintreten- den Reflexbewegung, oder mit der Reflexbewegung- eines Thieres. In den beiden letzteren Fällen werden wir die Neigung verspüren, den ganzen Vorgang als durch die augenblicklichen Umstände im Organismus physikalisch bestimmt anzusehen. Was wir Willen nennen, ist nun nichts Anderes, als die Gesammtheit der theil- weise bewussten und mit Voraussicht des Erfolges ver- bundenen Bedingungen einer Bewegung. Analysiren wir diese Bedingungen, soweit sie ins Bewusstsein fallen, so finden wir nichts als die Erinnerungsspuren früherer Erlebnisse und deren Verbindung (Association). Es scheint, dass die Aufbe- wahrung solcher Spuren und deren Verbindungen eine Grund- function der Elementarorganismen ist, wenngleich wir da nicht mehr von einem Bewusstsein, von einer Einordnung in ein System von Erinnerungen sprechen können.
Könnte man Gedächtniss und Association im weiterem Hering' sehen Sinne als Grundeigenschaften der Elementaror- ganismen ansehen, so würde die Anspassung verständlich ^). Was sich begünstigt, trifft öfter zusammen als im Verhältniss der zu- sammengesetzten Wahrscheinlichkeit, und bleibt associirt. Gegen- wart der Nahrung, Sättigungsgefühl und Schling'bewegung- bleiben verbunden. Dass in der Ontogenie gekürzt die Phylogenie wie- derholt wird, wäre eine Parallele zu der bekannten Erscheinung,
1) Hirth, Energische Epigcncsis. München 1898, S. X, XI.
2) Hering, Zur Theorie der Nerventhätigkeit. Leipzig 1899.
3) Hering, Ueber das Gedächtniss als allgemeine Function der organisirteu Malerie. Wien 1870.
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dass Gedanken mit VorHebe auf den einmal eingeschlagenen Wegen wiederkehren, und unter ähnlichen Verhältnissen auch ähnlich wieder entstehen. In der That entwickelt sich jeder Organismus embr3''onal und auch später unter sehr ähnlichen Verhältnissen. Was nun physikalisch dem Gedächtniss und der Association entspricht, wissen wir nicht. Alle Erklärungsversuche sind sehr gewaltsame. Es scheint da fast keine Analogie zwischen Organi- schem und Unorganischem zu bestehen. In der Sinnesphysio- logie können aber vielleicht die psychologische und physika- lische Beobachtung bis zu gegenseitiger Berührung vordringen, und uns so neue Thatsachen zur Kenntniss bringen i). Aus dieser Untersuchung wird kein Dualismus hervorgehen , sondern eine Wissenschaft, welche Organisches und Unorganisches umfasst, und die den beiden Gebieten gemeinsamen Thatsachen darstellt.
i) Die erste schüchterne Andeutung dieses Gedankens, noch in Fechn er 'scher Färbung, habe ich gegeben: Compendium der Physik für Medianer 1863, S. 234.
VI. Die Raumempfindungen des Auges.
I.
Der Baum mit seinem grauen harten rauhen Stamm, den vielen im Winde bewegten Zweigen, mit den glatten, glänzenden weichen Blättern erscheint uns zunächst als ein untrennbares Ganze. Ebenso halten wir die süsse runde gelbe Frucht, das helle warme Feuer mit seinen mannigfaltig bewegten Zungen für ein Ding. Ein Name bezeichnet das Ganze, ein Wort zieht wie an einem Faden alle zusammengehörigen Erinnerungen auf einmal aus der Tiefe der Vergessenheit hervor.
Das Spiegelbild des Baumes, der Frucht, des Feuers ist sicht- bar, aber nicht greifbar. Bei abgewendetem Blick oder ge- schlossenen Augen können wir den Baum tasten, die Frucht schmecken, das Feuer fühlen, aber nicht sehen. So trennt sich das scheinbar einheitliche Ding in Theile, welche nicht nur an- einander, sondern auch an andern Bedingungen haften. Das Sichtbare trennt sich von dem Tastbaren, Schmeckbaren u. s. w.
Auch das bloss Sichtbare erscheint uns zunächst als ein Ding. Wir können aber eine gelbe runde Frucht neben einer gelben sternförmigen Blüthe sehen. Eine zweite F>ucht kann ebenso rund sein als die erste, sie ist aber grün oder roth. Zwei Dinge können von gleicher Farbe aber ungleicher Gestalt sein; sie können von verschiedener Farbe und gleicher Gestalt sein. Hierdurch theilen sich die Gesichtsempfindungen in Farben- empfindungen und Raumempfindungen', die wohl von ein- ander unterschieden, wenn auch nicht von einander isoliert dargestellt werden können.
8i
2.
Die Farbenempfindung, auf welche wir hier nicht näher ein- gehen, ist im Wesentlichen eine Empfindung der günstigen oder ungünstigen chemischen Lebensbedingungen. In der Anpassung an diese möchte sich die Farbenempfindung entwickeln und modificiren ^). Das Licht leitet das org'anische Leben ein. Das grüne Chlorophyll und das (compl ementär) rothe Hämo- globin spielen in dem chemischen Process des Pflanzenleibes und dem chemischen Gegenprocess des Thierleibes eine hervor-
i) Vergl. Grant Allen, ,,Der Farbensinn", Leipzig 1880. Der Versuch von H. Magnus, eine bedeutende Entwicklung des Farbensinns in historischen Zeiten nachzuweisen, muss wohl als ein nicht glücklicher bezeichnet werden. Gleich nach dem Erscheinen der Schriften von Magnus correspondirte ich mit einem Philologen, Herrn Prof. F. Polle in Dresden über dieses Thema, und wir kamen beide alsbald zur. Ueberzeugung, dass die Ansichten von Magnus weder vor einer naturwissenschaft- lichen noch von einer philologischen Kritik Stand halten. Da Jeder dem Andern die Publication der Resultate zuschob , so kam es zu einer Publication nicht. Die Sache ist übrigens einstweilen von E. Krause und eingehend von A. Marty erledigt worden. Ich erlaube mir hier nur kurz folgende Bemerkungen. Aus dem Mangel der Bezeichnung darf man nicht auf das Fehlen der betreffenden Empfindungsqualität schliessen. Die Bezeichnungen sind auch heute noch unscharf, verschwommen, mangel- haft und gering an der Zahl , wo eben das Bedürfniss einer scharfen Sonderung nicht vorhanden ist. Die Farbenbezeichnung des heutigen Eandmannes und seine Bezeich- nung der Empfindungen überhaupt ist nicht entwickelter als jene der griechischen Dichter. Die Bauern im Marchfelde sagen z. B., wie ich selbst oft gehört habe, dass das Kochsalz ,, sauer" sei, weil ihnen der Ausdruck ,, salzig" nicht geläufig ist. Die Farbenbezeichnung muss man nicht bei Dichtern, sondern in technischen Schriften suchen. Dann darf man aber nicht, wie es Herr Magnus thut, und wie mein College Benndorf bemerkt hat, etwa die Aufzählung der Vasenpigmente für eine Aufzählung sämmtlicher Farben halten. Betrachten wir noch die Polychromie der alten Aegypter und Pompejaner, ziehn wir in Erwägung, dass diese Malereien doch kaum vor Farbenblinden herrühren können , bemerken wir , dass etwa 70 Jahre nach Vergil's Tode Pompeji verschüttet wurde, während Vergil noch beinahe farbenblind gewesen sein soll, so ergibt sich hieraus wohl genügend die Unhaltbarkeit der ganzen Anschauung. Noch in einer andern Richtung muss man mit Anwendungen der Darwin'schen Theorie vorsichtig sein. Wir lieben es, uns einen Zustand ohne Farben- sinn oder mit geringem Farbensinn einem andern mit hoch entwickeltem Farbensinn vorausgehend zu denken. Es ist eben dem Lernenden natürlich, vom Einfachem zum Zusammengesetzten fortzuschreiten. Die Natur braucht nicht denselben Weg zu gehn. Der Farbensinn ist da, und er ist wohl variabel. Ob er reicher oder ärmer wird? Wer kann das wissen? Ist es nicht möglich, dass mit dem Erwachen der Intelligenz und der Anwendung künstlicher Mittel die ganze Entwicklung sich auf den Verstand wirft, der ja von da an häuptsächlich in Anspruch genommen wird, und dass die Entwicklung der niederen Organe des Menschen in den Hintergrund tritt? Mach, Analyse. 3. Aufl. 0
ragende Rolle. Beide Stoffe treten uns modificirt in dem mannig- faltigsten Farbenkleide entgegen. Die Entdeckung des Sehpurpurs, die Erfahrungen der Photographie und Photochemie lassen auch die Sehvorgänge als chemische Vorgänge auffasssn. Die Rolle, welche die Farbe in der analytischen Chemie, bei der Spectral- analyse, in der Krystallphysik spielt, ist bekannt. Sie legt den Gedanken nahe, die sogenannten Lichtschwingungen nicht als mechanische, sondern als chemische vSchwingungen aufzu- fassen, als eine wechselnde Verbindung und Trennung, als einen oscillatorischen Process von der Art, wie er bei photochemischen Vorgängen nur in einer Richtung eingeleitet wird. — Diese Anschauung, welche durch die neueren Untersuchungen über anomale Dispersion wesentlich unterstützt wird, kommt der electromagnetischen Lichttheorie entgegen. Auch von dem electri- schen Strom gibt ja die Chemie die fassbarste Vorstellung im Falle der Electrolyse, wenn sie beide Bestandtheile der Electro- lyten als im entgegengesetzten Sinne durcheinander hindurch- wandernd ansieht. So dürften also in einer künftigen Farben- lehre viele biologisch -ps3^chologische und chemisch-physikahsche Fäden zusammenlaufen.
3-
Die Anpassung an die chemischen Lebensbedingung"en, welche sich durch die Farbe kundgeben, erfordert Locomotion in viel ausgiebigerem Masse, als die Anpassung an jene, die durch Geschmack und Geruch sich äussern. Wenigstens beim Menschen, über den allein wir ein directes und sicheres Urtheil haben, und um den es sich hier handelt, ist es so. Die eng'e Verknüpfung" (eines mechanischen Momentes) der Raumempfindung mit (einem chemischen Moment) der Farbenempfindung- wird hierdurch verständlich. Auf die Analyse der optischen Raumempfindung-en wollen wir nun zunächst eingehen.
4- Wenn wir zwei gleiche verschiedenfarbige Gestalten, z. B. zwei gleiche verschiedenfarbige Buchstaben, betrachten, so er-
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kennen wir die g-leiche Form trotz der Ver- schiedenheit der Farbenempfindung auf den ersten Blick. Die Gewichtswahrnehmungen müssen also gleiche Empfindungsbestandtheile enthalten.
im
P'igur
Diese sind eben die (in beiden Fällen gleichen) Raumempfindungen.
Wir wollen nun untersuchen, welcher Art die Raumempfin- dungen sind, welche physiologisch das Wiedererkennen einer Gestalt bedingen. Zunächst ist klar, dass dieses Wiedererkennen nicht durch geometrische Ueberlegung^en herbeigeführt wird, welche nicht Empfindungs-, sondern Verstandessache sind. Viel- mehr dienen die betreffenden Raumempfindungen aller Geometrie zum Ausgangspunkt und zur Grundlage. Zwei Gestalten können geometrisch congruent, physiologisch aber ganz ver-
Figur 3.
schieden sein, wie dies die beiden obenstehenden Quadrate ver- anschaulichen, welche ohne mechanische und intellectuelle Operationen niemals als gleich erkannt werden können i). Um uns die bisher gehörigen Verhältnisse geläufig zu machen, stellen wir einige recht einfache Versuche an. Wir be- trachten einen ganz beliebigen Fleck (Fig. 4). Stellen wir denselben Fleck zweimal oder mehrmal in gleicher Figur 4.
/
i) Vergl. meine kleine Abhandlung „Ueber das Sehen von Lagen und Winkeln". Sitzungsberichte der Wiener Al<ademic, Bd. 43, Jahrg. 1861, S. 215.
6*
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Orientirung in eine Reihe, so bedingt dies einen eigenthümlichen angenehmen Eindruck, und wir erkennen ohne Schwierigkeit auf
llllll
Figur 5.
den ersten BHck die Gleichheit aller Gestalten (Fig. 5). Die Formgleichheit wird aber ohne intellectuelle Mittel nicht mehr erkannt, wenn wir den einen Fleck gegen den andern genügend verdrehen (Fig. 6). Eine auf- fallende Verwandtschaft beider Formen wird dafür Figur 6. bemerklich, wenn man dem Fleck einen zweiten in Bezug auf die Medianebene des Beobachters ^^ symmetrischen hinzufügt (Fig. 7). Nur durch
^K^ ^^L Drehung der Figur oder durch intellectuelle ^^^ «äPfiP Operationen erkennt man aber die Formverwandt- jTj - Schaft, wenn die Symmetrieebene bedeutend, z. B.
wie in Fig. 8 von der Medianebene des Beobach- ters abweicht. Dagegen wird die Form Verwandtschaft wieder merklich, wenn man dem Fleck denselben Fleck, um 180*^ in der eigenen Ebene gedreht, hinzufügt (Fig. 9). Es entsteht ^^ auf diese Weise die sogenannte centrische Symmetrie.
^^ Verkleinern wir nun alle Dimensionen des Fleckes
^^ in demselben Verhältniss, so erhalten wir einen geo- ^ metrisch ähnlichen Fleck. Allein so wenig das
Fi"ur 8. geometrisch Congruente auch schon physiologisch (optisch) congTuent, das geometrisch Symmetrische optisch symmetrisch ist, so wenig ist das geometrisch ^r Aehnliche. auch schon optisch ähnlich. Wenn der
^^ geometrisch ähnliche Fleck neben den andern in
y gleicher Orientirung gesetzt wird, so erscheinen beide auch optisch ähnlich (Fig. 10). Eine Verdrehung P^igiu- 9. des einen Fleckes hebt diese Aehnlichkeit wieder auf
(Fig. 1 1). Setzt man statt des einen Fleckes den in Bezug auf die Median- ebene des Beobachters symmetrischen, so entsteht eine symmetrische Aehn- lichkeit, welche auch einen optischen Werth hat (Fig. 12). Auch die Drehung der einen Figur um 180'^ in ihrer Ebene, wobei die centrisch-symmetrische Aehn- lichkeit entsteht, hat noch einen phy- siologisch-optischen Werth (Fig. 13).
1,1^
Figur 10. Figur ii.
Ixl
Figur 12. Figur 13.
6. Worin besteht nun das Wesen der optischen Aehnlichkeit gegenüber der geometrischen Aehnlichkeit? In geometrisch ähn- lichen Gebilden sind alle homologen Entfernungen proportionirt. Das ist aber Verstandessache und nicht Sache der Empfin- dung. Wenn wir einem Dreiecke mit den Seiten a, b, c ein anderes mit den Seiten 2 a, 2 b, 2 c gegenüberstellen, so erkennen wir diese einfache Beziehung nicht unmittelbar, sondern intellec- tuell durch Abmessung. Soll die Aehnlichkeit auch optisch hervortreten, so muss noch die richtige Orientirung hinzukommen. Dass eine einfache Beziehung zweier Objcete für den Verstand nicht auch eine Aehnlichkeit der Empfindung bedingt, sehen wir, wenn wir die Dreiecke mit den Seiten a, b, c und a -j- m, b -[- m, c -|- m vergleichen. Beide Dreiecke sehen einander keines- wegs ähnlich. Ebenso sehen nicht alle Kegelschnitte einander ähnlich, obgleich alle in einer einfachen geometrischen Ver- wandtschaft stehen; noch weniger zeigen die Curven dritter Ord- nung unter einander eine optische Aehnlichkeit u. s. w.
7- Die geometrische Aehnlichkeit zweier Gebilde ist bestimmt dadurch, dass alle homologen Entfernungen proportionirt, oder da- durch, dass alle homologen Winkel gleich sind. Optisch ähnlich werden die Gebilde erst, wenn sie auch ähnlich liegen, wenn
also alle homologen Richtungen parallel, oder wie wir vor- ziehen wollen zu sagen, gleich sind (Fig. 14). Die Wichtigkeit
der Richtung für die Empfindung geht schon aus der aufmerksamen Be- trachtung der Figur 3 hervor. Die Gleichheit der Richtungen ist es '^^" ^4- also, wodurch die gleichen Raumem-
pfindungen bedingt sind, welche die physiologisch-optische Aehn- lichkeit der Gestalten characterisiren i).
Die physiologische Bedeutung der Richtung einer betrachte- ten Geraden oder eines Curvenelementes können wir uns noch durch folgende Betrachtung vermitteln. Es sei y =^ f {x) die Gleichung einer ebenen Curve. Durch den blossen Anblick können
dv wir den Verlauf der Werthe von ~f~ an der Curve absehen, denn
dx
dieselben sind durch deren Steigung bestimmt, und auch über
die Werthe von —^ gibt das Auge qualitativen Aufschluss, denn
sie sind durch die Krümmung der Curve characterisirt. Es liegt
die Frage nahe, warum man über die Werthe von -—,, -—r^ ^ dx^ dx^
u. s. w. nicht ebenso unmittelbar etwas aussagen kann? Die Antwort ist einfach. Man sieht natürlich nicht die Differen- tialquotienten, welche Verstandessache sind, sondern man sieht die Richtung der Curvenelemente und die Abweichung der Richtung eines Elementes von jener eines andern.
i) Vor etwa 37 Jahren brachte ich in einer Gesellschaft von Physikern und Physiologen die Frage zur Sprache, woran es liege, dass geometrisch ähnliche Gebilde auch optisch ähnlich seien. Ich weiss mich ganz wohl zu erinnern, dass man diese Frage nicht nur überflüssig , sondern sogar auch komisch fand. Nichts- destoweniger bin ich heute noch so wie damals überzeugt, dass diese Frage das ganze Problem des Gestaltensehens einschliesst. Das ein Problem nicht gelöst werden kann, welches gar nicht als solches anerkannt wird , ist klar. In dieser Nichtanerkennung spricht sich aber meines Erachtens jene einseitig mathematisch-physikalische Gedanken- richtung aus, durch die es allein erklärlich wird, dass man z. B. den Herin g'schen Ausführungen so vielfach , und so lange , Opposition statt freudiger Zustimmung ent- gegengebracht hat.
Da man nun die Aehnlichkeit ähnlich liegender Gebilde un- mittelbar erkennt, und auch den Specialfall der Congruenz von einem andern ohne weiters zu unterscheiden vermag, so geben uns also unsere Raumenpfindung'en Aufschluss über Gleichheit oder Ungleichheit der Richtungen und über Gleichheit oder Ungleichheit der Abmessungen.
Dass die Raumempfindungen mit dem motorischen Apparat der Augen irgendwie zusammenhängen, hat von vorn- herein eine hohe Wahrscheinlichkeit. Ohne noch auf die Einzelheiten näher einzugehen, bemerken wir zunächst, dass der ganze Augen- apparat, und insbesondere der motorische Apparat, in Bezug auf die Medianebene des Kopfes symmetrisch ist. Dementsprechend werden auch mit symmetrischen Blickbewegungen gleiche, oder doch fast gleiche Raumempfindungen verbunden sein. Kinder verwechseln fortwährend die Buchstaben b und d, p und q. Auch Erwachsene merken eine Umkehrung von rechts nach links nicht leicht, wenn nicht besondere sinnliche oder intellectuelle Anhalts- punkte dieselbe bemerklich machen. Der motorische Apparat der Augen ist von sehr vollkommener vS^^mmetrie. Für sich allein würde die gleiche Erregung seiner symmetrischen Organe die Unterscheidung von rechts und links kaum ermöglichen. Allein der ganze Menschenleib, und insbesondere das Hirn, ist mit einer geringen Asymmetrie behaftet, welche z. B. dazu führt, die eine (gewöhnlich die rechte) Hand bei motorischen Functionen zu be- vorzugen. Dies führt wieder zu einer weitern und bessern Ent- wicklung der rechtsseitigen motorischen Functionen und zu einer Modification der zugehörigen Empfindungen. Haben sich einmal beim Schreiben die Raumempfindungen des Auges mit den motorischen Empfindungen der rechten Hand verknüpft, so tritt eine Verwechslung jener vertical-symmetrischen Gestalten, auf welche sich die Schreibefertigkeit und Schreibegewohnheit er- streckt, nicht mehr ein. Diese Verknüpfung kann sogar so stark werden, dass die Erinnerungen nur in den gewohnten
Bahnen ablaufen, und dass man z. B. Spiegelschrift nur mit der grössten Schwierigkeit hest. Die Verwechslung von rechts und links kommt aber immer noch vor in Bezug auf Gestalten, die ein rein optisches (z. B. ornamentales), kein motorisches Interesse haben. Eine merkliche Differenz zwischen rechts und links müssen übrigens auch die Thiere empfinden, da sie in vielen wichtigen Fällen sich nur hiedurch orientiren können. Wie ähnlich übrigens die Empfindungen sind, welche an symme- trische motorische Functionen geknüpft sind, darüber kann sich der aufmerksame Beobachter leicht belehren. Wenn ich z. B., weil meine rechte Hand zufällig beschäftigt ist, mit der linken Hand eine Mikrometerschraube oder einen Schlüssel anfasse, so drehe ich (ohne vorausgegangene Ueberlegung) sicherlich ver- kehrt, d. h. ich führe die symmetrische Bewegung zu der ge- wohnten aus, indem ich beide wegen der Aehnlichkeit der Empfindung verwechsle. Die Beobachtungen von Heidenhain über die Spiegelschrift halbseitig Hypnotisirter gehören auch hierher.
9. Der Gedanke, dass die Unterscheidung von rechts und links auf einer Asymmetrie, und in letzter Linie möglicher Weise auf einer chemischen Verschiedenheit beruhe, verfolgt mich seit meiner Jugend; ich habe denselben schon bei Gelegenheit meiner ersten Vorlesungen ausgesprochen (i86i). Seither hat sich derselbe wiederholt her vorgedrängt. Von einem alten Officier erfuhr ich gelegentlich, dass Truppen in dunkler Nacht, im Schneeg'estöber, wenn äussere Anhaltspunkte fehlen, in der Meinung-, geradlinig in einer Richtung zu marschiren, sich annähernd in einem Kreise von grossem Radius bewegen, so dass sie fast auf den Aus- gangsort zurückkommen. In Tolstoi's Erzählung „Herr und Diener" wird von einer analogen Erscheinung- berichtet. Diese Phänomene sind wohl nur durch eine geringe motorische Asym- metrie verständlich. Sie sind analog dem Rollen eines vom Cylinder wenig abweichenden Kegels in einem Kreis von grossem
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Radius. In der That hat F. O. Guldberg^), der über die hieher gehörigen Erscheinungen an verirrten Menschen und Thieren eingehende Untersuchungen angestellt hat, die Sache so aufgefasst. Desorientirte Menschen und Thiere bewegen sich ausnahmslos nahezu in Kreisen, deren Radien nach der Species, variiren, während der Mittelpunkt, je nach dem Individuum und der Species, bald auf der rechten, bald auf der linken Seite des die Kreisbahn durchlaufenden Individuums liegt. Guldberg sieht hierin auch eine teleologische Einrichtung zum Wieder- finden der pflegebedürftigen Jungen. Versuche an niederen Thieren, bei welchen letzteres Moment wegfällt, wären daher von Interesse. Unvollkommene wSymetrie wird man übrigens schon aus allgemeinen Wahrscheinlichkeitsgründen auch bei nie- deren Thieren erwarten.
Auch Loeb's-) Untersuchungen ,,Ueber den Fühlraum der Hand" haben nebst andern Ergebnissen gelehrt, dass eine ge- gebene Bewegung der rechten Hand (bei verbundenen Augen) mit der linken nachgeahmt, je nach dem Individuum, constant vergrössert oder verkleinert wiedergegeben wird. Loeb glaubt aus Regenerationserscheinungen schliessen zu dürfen, dass der Unterschied zwischen rechts und links ein specifi scher ist. Ich kann aber versichern, dass ich denselben ebenfalls nicht als einen bloss geometrischen und quantitativ motorischen aufge- fasst habe.
IG.
Mit dem Blick nach oben und dem Blick nach unten sind grundverschiedene Raumempfindungen verbunden, wie dies die gewöhnlichste Erfahrung lehrt. Das ist auch verständlich, weil der motorische Augenapparat in Bezug auf eine horizontale Ebene unsymmetrisch ist. Die Richtung der Schwere ist auch für den übrigen motorischen Apparat viel zu massgebend und
i) F. O. Guldberg, Die Circularbewegung. Zeitschr. f. Biologie, Bd. 25, 1897, S. 419. — Herr Dr. W. Pauli hat mich im Gespräche auf diese Arbeit auf- merksam gemacht.
2) Loeb, Ueber den Fühlraurn der Haad. Pflüger's Archiv, Bd. 41 u. 46.
— go —
wichtig, so dass dieser Umstand auch in dem Apparat des Auges, welcher dem übrigen dient, wohl seinen Ausdruck finden muss. Dass die Symmetrie einer Landschaft und ihres Spiegel- bildes im Wasser gar nicht empfunden wird, ist bekannt. Das von oben nach unten umgekehrte Portrait einer bekannten Per- sönlichkeit ist fremd und räthselhaft für jeden, der nicht durch intellectuelle Anhaltspunkte sie erkennt. Wenn man sich hinter den Kopf einer auf einem Ruhebette liegenden Person stellt, und ohne Speculation sich dem Eindrucke des Gesichtes ganz hingiebt (namentlich wenn die Person spricht), so ist derselbe ein durchaus fremdartiger. Die Buchstaben b und /, ferner d und q werden auch von Ivindern nicht verwechselt.
Unsere bisherigen Bemerkungen über Symmetrie, Aehnlich- keit u. s. w. gelten natürlich nicht nur für ebene, sondern auch für räumliche Gebilde. Dementsprechend haben wir noch über die Raumempfindung der Tiefe eine Bemerkung- hinzuzufügen. Der Blick in die Ferne und der Blick in die Nähe bedingt verschiedene Empfindungen. Sie dürfen auch nicht verwechselt werden, weil der Unterschied von nah und fern für Mensch und Thier zu wichtig ist. Sie können nicht verwechselt werden, weil der motorische Apparat der Augen unsymmetrisch ist in Bezug auf eine Ebene, welche auf der Richtung vorn-hinten senkrecht steht. Die Erfahrung-, dass die Büste einer bekannten Persönlichkeit nicht durch die Matrize dieser Büste ersetzt werden kann, ist ganz analog den Beobachtungen bei Umkehrungen von oben nach unten.
1 1.
Wenn gleiche Abmessungen und gleiche Richtungen gleiche Raumempfindungen, zur Medianebene des Kopfes sym- metrische Richtungen ähnliche Raumempfindungen aus- lösen, so werden hierdurch die oben berührten Thatsachen sehr verständlich. Die Gerade hat in allen Elementen dieselbe Richtung, und löst überall einerlei Raumempfindungen aus. Darin
Hegt ihr ästhetischer Vorzug. Ausserdem treten noch Gerade, welche in der Medianebene Hegen oder zu derselben senkrecht stehen, in eigenthümlicher Weise hervor, indem sie sich bei dieser Symmetrielage zu beiden Hälften des Sehapparates gleich ver- halten. Jede andere Stellung der Geraden wird als eine ,, Schief- stellung" empfunden, als eine Abweichung von der Symmetrie- stellung.
Die Wiederholung desselben Raumgebildes in gleicher Orien- tirung bedingt Wiederholung derselben Raumempfindungen. Alle Verbindungslinien homologer ausgezeichneter (auffallender) Punkte haben die gleiche Richtung, und lösen dieselbe Empfindung aus. Auch bei Nebeneinanderstellung bloss geometrisch ähnlicher Ge- bilde in gleicher Orientirung bleibt dies Verhältniss bestehen. Nur die Gleichheit der Abmessung'en geht verloren. Bei Störung der Orientirung ist aber auch dies Verhältniss und hiermit der einheitliche (ästhetische) Eindruck gestört.
Bei einem in Bezug auf die Medianebene symmetrischen Gebilde treten an die Stelle der gleichen Raumempfindungen die ähnlichen, welche den symmetrischen Richtungen ent- sprechen. Die rechte Hälfte des Gebildes steht zur rechten Hälfte des Sehapparates in demselben Verhältniss, wie die linke Hälfte des Gebildes zur linken Hälfte des Sehapparates. Lässt man die Gleichheit der Abmessungen fallen, so wird noch die symmetrische Aehnlichkeit empfunden. Schiefstellung der Sym- metrieebene stört das ganze Verhältniss.
Stellt man neben ein Gebilde dasselbe Gebilde, aber um iSo*' gedreht, so entsteht die centrische Symmetrie. Ver- bindet man nämlich zwei Paare homologer Punkte, so schneiden sich die Verbindungslinien in einem Punkte O, durch welchen als Halbirungspunkt alle Verbindungslinien homologer Punkte hindurchgehen. Auch im Falle der centrischen Symmetrie sind alle homologen Verbindungslinien gleich gerichtet, was an- genehm empfunden wird. Geht die Gleichheit der Abmessungen verloren, so bleibt noch die centrisch symmetrische Aehnlichkeit für die Empfindung übrig.
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Die Regelmässigkeit scheint der Symmetrie gegen- über keinen eigenthümlichen physiologischen Werth zu haben, Der Werth der Regelmässigkeit dürfte vielmehr nur in der vielfachen Symmetrie liegen, welche nicht bloss bei einer Stellung merklich v^ird.
12.
Die Richtigkeit der gegebenen Ausführungen wird sehr fühlbar, wenn man das Werk von Owen Jones (Grammar of Ornament, London 1865) durchblättert. Fast auf jeder Tafel wird man die verschiedenen Arten der Symmetrie als Belege für die gewonnenen Anschauungen wiederfinden. Die Orna- mentik, welche, wie die reine Instrumentalmusik, keinen Neben- zweck verfolgt, sondern nur dem Vergnügen an der Form (und P^arbe) dient, liefert am besten die Thatsachen für die vorliegenden Studien. Die Schrift wird durch andere Rücksichten als jene der Schönheit beherrscht. Gleichwohl findet man z. B. unter den 24 grossen lateinischen Buchstaben 10 vertical symmetrische (A, H, I, M, O, T, V, W, X, Y), fünf horizontal symmetrische (B, C, D, E, K), drei centrisch symmetrische (N, S, Z) und nur sechs unsymmetrische (F, G, L, P, Q, R).
Das Studium der Entwicklung der primitiven Kunst ist für die uns beschäftigenden Fragen sehr lehrreich. Der Character dieser Kunst ist bestimmt: durch die Naturobjecte, welche sich der Nachahmung- darbieten, durch den Grad der mechanischen Geschicklichkeit, und endlich durch das Streben, die Wieder- holung in ihren verschiedenenen Formen zur Anwendung zu bringen ^).
13- Die ästhetische Bedeutung der hier besprochenen That- sachen habe ich schon in äUeren Schriften kurz dargelegt. Aus-
l) Alfred C. Haddon, Evolution in .irt. : as illustrated by tlie life-histories jf designs. Londtjn 1895.
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führlich darüber zu handeln, lag nicht in meinem Plan. Ich kann jedoch nicht unerwähnt lassen, dass der verstorbene Physiker J. L. Soret^) in Genf in einem schönen 1892 erschienenen Buch dies gethan hat, als dessen Vorläufer ein 1886 von ihm auf der schweizer Naturforscherversaramlung gehaltener Vortrag anzu- sehen ist. Soret knüpft an Helmholtz an, ohne wie es scheint, meine Ausführungen zu kennen. Die physiologische Seite der Frage wird von ihm nicht weiter erörtert, dagegen sind die Ausführungen über Aesthetik sehr reich und durch ansprechende Beispiele belegt. Soret betrachtet die ästhetische Wirkung der Symmetrie, der Wiederholung, der Aehnlichkeit und der Continuität, welche letztere er als einen Fall der Wiederholung ansieht. Kleinere Abweichungen von der Symmetrie können nach seiner Auffassung durch die eingeführte Mannigfaltigkeit und das hiemit verbundene intellectuelle ästhetische Vergnügen für den Ausfall des sinnlichen Vergnügens reichlich entschädigen. Dies wird an Ornamenten und den Sculpturen gothischer Dome erläutert. Dieses intellectuelle Vergnügen wird auch durch die virtuelle (potentielle) Symmetrie ausgelöst, welche man an un- symmetrischen Stellungen der symmetrischen menschlichen Figur, oder anderer Gebilde, wahrnimmt. Diese Betrachtungen wendet er übrigens nicht bloss auf optische Fälle an, sondern dehnt sie auf alle Gebiete aus, wie ich es ebenfalls gethan habe. Er be- rücksichtigt den Rhythmus, die Musik, die Bewegungen, den Tanz, die Naturschönheiten und sog'ar die Litteratur. Von be- sonderem Interesse sind Soret 's Beobachtungen über Blinde, zu welchen ihm das Asyl von Lausanne Gelegenheit bot. Blinde erfreuen sich der periodischen Wiederholung derselben Formen an tastbaren Gegenständen, haben einen entschiedenen Sinn für Symmetrie der Formen. Auffallende Störungen derselben sind ihnen unangenehm und erscheinen ihnen zuweilen komisch. Ein Blinder, welcher seine Studien an einer grossen Reliefkarte von
i) J. L. Soret, Sur les conditions physiques de la perception du beau. Ge- neve i8q2.
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Europa gemacht hatte, erkannte diesen Erdtheil vermöge der geometrischen Aehnlichkeit, als er denselben in verkleinertem Massstab als Theil einer gTösseren Reliefkarte fand. Das sym- metrische Tastorgan, die beiden Arme und Hände, sind ja analog angelegt, wie das Sehorgan. Die Uebereinstimmung darf uns also nicht wundern. Dieselbe hat schon auf die antiken Forscher, nicht minder auf die modernen (Descartes) gewirkt, und auch manche nicht eben giückliche Ideen erzeugt, die zum Theil noch fortwirken. Weniger gelungen scheint das Kapitel über Litteratur in dem Sor et 'sehen Buche. An Metrum, Reim u. s. w. zeigen sich ja ähnliche Erscheinungen wie in den vorher be- handelten Gebieten. Wenn aber Sor et z. B. die Wirkung der sechsmal wiederkehrenden Phrase: „Que diable allait il faire sur cette galere" in dem bekannten Moliere'schen Stück ^) mit der Wiederholung eines ornamentalen Motivs in Parallele setzt, so wird er wohl wenig Zustimmung finden. Die Wiederholung wirkt hier gewiss nicht als solche, sondern durch successive Steigerung eines komischen Gegensatzes, nur intellectuell.
Ich möchte hier noch auf die kürzlich erschienene Arbeit von Arnold Emch: Mathematical principles of esthetic forms (the Monist, October 1900) aufmerksam machen. Emch gibt an- ziehende Beispiele, in welchen eine Reihe von Eormen durch Be- folgen desselben geometrischen Princips zu einem ästhetischen Eindruck zusammenwirkt. Er verfolgt denselben Gedanken, den ich in meiner Vorlesung von 1871 berührt habe, dass eine Pro- duction nach einer festen Regel ästhetisch wirkt. (Populär- wissenschcftliche Vorlesung"en Leipzig 1896 S. 102.) Ich habe aber zugleich hervorgehoben und möchte es hier nochmals thun, dass die Regel als Verstandesangelegenheit an sich keinen ästhetischen Effect hat, sondern nur die hiedurch bedingte Wiederholung- desselben sinnlichen Motivs.
l) Les foiirberies de Sca])in.
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.14.
Es sei hier nochmals hervorgehoben, dass geometrische und physiologische Eigenschaften eines Raumgebildes scharf zu scheiden sind. Die physiologischen Eigenschaften sind durch geometrische mitbestimmt, aber nicht allein durch diese be- stimmt. Dagegen haben physiologische Eigenschaften höchst wahrscheinlich die erste Anregung zu geometrischen Untersuch- ungen gegeben. Die Gerade ist wohl nicht durch ihre Eigen- schaft die Kürzeste zwischen zwei Punkten zu sein, sondern zu- erst durch ihre physiologische Einfachheit aufgefallen. Auch die Ebene hat, neben ihren geometrischen Eigenschaften, einen be- sondern physiologisch-optischen (ästhetischen) Werth, durch welchen sie auffällt, wie dies noch ausgeführt werden soll. Die Theilung der Ebene und des Raumes nach rechten Winkeln hat nicht nur den Vorzug der gleichen Theile, welche hierbei entstehen, sondern auch noch einen besondern Symmetrie werth. Der Umstand, dass congruente und ähnliche geometrische Gebilde in eine Orientirung gebracht werden können , in welcher ihre Ver- wandtschaft physiologisch auffällt, hat ohne Zweifel bewirkt, dass diese Arten der geometrischen Verwandtschaft früher untersucht worden sind, als minder auffällige, wie Affinität, Collineation und andere. Ohne Zusammenwirken der sinnlichen Anschauung und des Verstandes ist eine wissenschaftliche Geometrie nicht denkbar. H. Hankel hat aber in seiner „Geschichte der Mathematik" (Leipzig 1B74) sehr schön ausgeführt, dass in der griechischen Geometrie das Verstandesmoment, in der indischen hingegen das sinnliche Moment bedeutend überwiegt. Die Inder ver- wenden das Prinzip der Symmetrie und der Aehnlichkeit (a. a. O. S. 206) in einer Allgemeinheit, welche den Griechen vollkommen fremd ist. Der Vorschlag Hankel's, die vSchärfe der griechischen Methode mit der Anschaulichkeit der indischen zu einer neuen Darstellungs weise zu verbinden, ist sehr beherzigenswerth. Man brauchte übrigens hierin nur den Anregungen von Newton und Joh. Bernoulli zu folgen, welche das Princip der Aehnlich-
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keit selbst in der Mechanik in noch allgemeinerer Weise ver- wendet haben. Welche Vortheile auf dem letzteren Gebiete das Princip der Symmetrie bietet, habe ich an einem andern Orte vielfach ausgeführt ^).
i) AVeniger vollständige Ausführungen der Hauptgedanken dieses Kapitels habe ich gegeben in der citirten Abhandlung „Ueber das Sehen von Lagen und Winkeln" (l86l), ferner in Fichte's Zeitschrift für Philosophie, Bd. 46, Jahrg. 1865, S. 5 und „Gestalten der Flüssigkeit. Die Symmetrie-', Prag 1872. (Die zwei letzten Artikel sind abgedruckt in den ,, Populär-wissenschaftlichen Vorlesungen", Leipzig, 2. Aufl., 1897.) In Bezug auf die Verwerlhung des Principes der Symmetrie in der Mechanik vergl. meine Schrift: ,, Die Mechanik in ihrer Entwicklung". Leipzig, Brockhaus, 1883, 4. Aufl. 1901.
VII. W^eitere Untersuchung der Raumempfindungen ^).
I.
Die Kenntniss des räumlichen Sehens hat im Verlauf des 19. Jahrhunderts wesentliche P'ortschritte gemacht, nicht allein durch den Gewinn an positiver Einsicht, sondern auch durch die Beseitigung der in diesem Gebiete von verschiedenen Philosophen und Physikern, namentlich seit Descartes, angehäuften Vor- urtheile, wodurch erst die für positive Entdeckungen nöthige Unbefangenheit gewonnen werden musste.
Johannes Müller-) schuf die Lehre von den specifischen Energ-ien, und derselbe vertrat auch in sehr klarer Weise die Vorstellung von den identischen Netzhautstellen, welche sich übrigens in deutlichen Spuren und x\nfängen bis auf Ptolemäus zurückverfolgen lässt. Nach seiner Ansicht, dass die Netzhaut in ihrer eigenen Thätigkeit sich selbst empfinde, ist ihm der „Sehraum" etwas unmittelbar Gegebenes. Im Sehfeld erscheint auch der eigene Leib. Alle Orientirungsfragen können nur auf
i) Der im vorigen Kapitel behandelte Stoff ist meines Wissens (drei kleine Arbeiten von mir selbst und die spätere von Soret abgerechnet) noch nicht be- sprochen worden. Die Erörterungen in diesem Kapitel aber gründen sich für mich auf jene des vorigen. Ich lege hier die Wege dar, auf welchen ich selbst zu Auf- klärungen über die Raumempfindung gelangt bin, ohne etwas von dem in An- spruch zu nehmen, was von anderer Seite in dieser Richtung geleistet wurde und was namentlich in der Hering'schen Theorie enthalten ist. Die grosse hieher gehörige Litteratur ist mir auch zu unvollständig bekannt, um nach jeder Richtung hin genaue Nachweise zu geben. Denjenigen Punkt der Hering'schen Theorie, der mir der wich- tigste scheint, werde ich übrigens besonders hervorheben.
2)Joh. Müller, Vergleichende Physiologie des Gesichtssinnes, 1826, — Handbuch der Physiologie, Bd. 2, 1840.
Mach, Analyse. 3. Aufl. 7
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die Lage der Theile des Sehfeldes g'egeneinander Bezug haben. Die Sehrichtung hängt nur von der Anordnung der empfindenden Netzhautstellen ab. Alle Projektionstheorien und Probleme des Aufrechtssehens entfallen. Die Schätzung- der Entfernung des Gesehenen ist aber für Müller durchaus noch Sache des Ver- standes.
Durch das von Wheastone') erfundene Stereoscop konnte man sich leicht überzeugen, dass nicht nur auf identische Netzhaut- stellen, sondern auch auf andere nicht zu sehr differente Stellen fallende Bilder unter Umständen einfach, und je nach der stereo- scopischen Differenz in verschiedener Tiefe g-esehen werden. Dies führte nun wieder zu Zweifeln an der Identitätslehre und be- günstigte das Auftreten psychologischer Erklärungen des Tiefen- sehens. So entstand Brücke's Theorie des successiven Fixirens beim räumlichen Sehen, welche durch Dove's Stereoscop ver- suche bei Momentbeleuchtung wieder als unhaltbar erwiesen wurde.
Panum^) trat solchen Theorien durch gewichtige Ueber- legungen und trefflich ausg'edachte Versuche entg^egen. Gestützt auf die Phänome des binocularen Wettstreites und die hervor- ragende Rolle der Conturen bei denselben, gelangt er zu der Ansicht, dass das Tiefensehen auf einer Wechselwirkung (Synergie) der beiden Netzhäute beruhe, dass die Tiefenempfindung eine angeborne specifische Energie sei. Je ähnlicher die beiden monocularen Bilder, namentlich die Conturen, in Form, Farbe und Lage sind, desto leichter verschmelzen sie zu einem binocu- laren Bilde, dessen Tiefe durch die stereoscopische Differenz be- stimmt wird. Diese Tiefe entspricht aber, wie Panum noch meint, der durch die Projectionslinien gegebenen.
Am gründlichsten hat Hering^) mit alten Vorurtheilen aufgeräumt. Flering" geht von der Ansicht aus, dass der uns
i) Wheatstone, Contributions to the theory of vlsion. Pliil. transact. 1838, 1852.
2) Panum, Untersuchungen über das Sehen mit zwei Augen, 1858.
3) Hering, Beiträge zur Physiologie, 1861 — 1865. — Archiv für Anatomie und Physiologie, 1864, 1865. — Der Raumsinn und die Bewegungen des Auges. Plermann, Handbuch der Physiologie, Bd. Hl, i, 1879.
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unmittelbar g-egebene Sehraum von unserem durch besondere Erfahrungen gewonnenen Raum begriff durchaus zu unter- scheiden sei. Wie er durch schlagende Experimente nachweist, ist die Richtung, in welcher wir ein Object sehen, von jener der Verbindungslinie zwischen Object und Netzhautbild, der Visir- linie oder Projectionslinie, verschieden. Dem Paar der Visirlinien der beiden Augen entspricht eine deren Winkel halbirende Seh- richtung, welche wir von dem Halbirungspunkte der Ver- bindungslinie beider Augen ausgehend zu denken haben. Um jede Beziehung auf den geometrischen Raum auszuschalten, können wir sagen: Die beiden Augen zusammen sehen dieselbe Breiten- und Höhenanordnung, welche ein einzelnes mitten zwischen denselben liegendes Auge sehen würde. Fixiren wir mit horizon- talen Blicklinien und s}^! metrischer Convergenz einen Punkt auf der Fensterscheibe, so sehen wir diesen in der Medianebene, zugleich aber in derselben dahinter weit seitwärts abliegende Objecte. Auch bei schwacher Divergenz der Augenachsen sehen wir im stereoscopischen Versuch noch Objecte vor uns, während die Projectionsrichtung-en überhaupt nicht mehr zu solchen führen, wenigstens keinen ph3^sikalischen oder physiologischen Sinn mehr haben. Auch die gesehenen Entfernungen stimmen nicht zu den Ergebnissen der Projectionslehre. Wenn wir bei hori- zontalen Blicklinien durch den Müller 'sehen Horopterkreis ver- ticale Fäden legen, so erscheint uns der so entstandene Cylinder als eine Ebene. Wir sehen nicht nur das Bild des fixirten Punktes (den „Kernpunkt"), sondern auch den Inbegriff aller sich auf identischen („correspondirenden") Stellen abbildender Punkte (die „Kernfläche") als eine in bestimmter Entfernung vor uns liegende Ebene. Diese und viele andere analoge That- sachen sind nach der Projectionslehre ganz unverständlich. Das Raumsehen führt Hering auf ein einfaches Princip zurück. Identische („correspondirende") Netzhautstellen haben iden- tische Höhen- und Breitenwerthe, symmetrische Netz- hautstellen dagegen identische Tiefen werthe, welche letztere von den Aussenseiten der Netzhäute nach innen zu wachsen.
lOO —
Tritt wegen Aehnlichkeit der monccularen Bilder in Farbe, Form und Lag'e Verschmelzung derselben zu einem binocularen Bilde ein, so erhält dieses den Mittel vverth der Tiefenwerthe der Einzelbilder. Solche Mittelwerthe der Einzelbilder spielen überhaupt eine maassgebende Rolle, so auch bei den Sehrichtungen. Diese Andeutung-en mögen genügen, da es hier nicht möglich ist, auf die reichhaltigen Einzelarbeiten einzugehen, durch welche Hering^) diesem Capitel eine sichere Grundlage geschaffen hat. Es sei nur noch bemerkt, dass nach demselben Forscher die beiden Augen als einheitliches Organ aufzufassen sind, deren associirte Bewegungen auf einer angeborenen anatomischen Grundlage beruhen, worauf schon Johannes Müller hinge- wiesen hatte.
Die biologische und die psychologische -) Untersuchung führen übereinstimmend zu der Ueberzeug'ung, dass in Bezug auf die Raumanschauung nur mehr die nativistische Ansicht aufrecht er- halten werden kann. Das Hühnchen, welches eben aus dem Ei geschlüpft ist, zeigt sich schon im Räume orientirt und pickt schon nach allen Gegenständen, welche seine Aufmerksamkeit erregen. Für den neug'eborenen Menschen können wir höchstens eine ge- ringere Reife, sonst aber nicht wesentlich verschiedene Verhältnisse annehmen. Schon Panum hat auf diesen Punkt hingewiesen. Die Raumanschauung' ist also bei der Geburt vorhanden. Ob wir im Stande sein werden, dieselbe durch die Entwicklungsgeschichte oder die Stammesgeschichte aufzuklären, etwa in der von Helm- holtz versuchten Weise, ist eine Frage für sich.
Die phylogenetische Entwicklung", die Variation der Corre- spondenz der Netzhäute beim Uebergang von einer Tliicrspecies zur andern, welche Johannes Müller^) untersucht hat, möchte hiefür schon Anhaltspunkte bieten. Vielversprechend scheint ferner die Verfolgung der pathologischen Anomalien bei Schielen-
i) Unter den an Heriny's Untersuchungen anknüpfenden Arbeiten jüngerer Forscher sind besonders jene F. Hillel)raiid 's von Inlercsse für die Psychologie.
2) Stumpf, Der psychologische Ursprung der Raunivoistellungen, 1873.
3) Vergleichende Physiologie des Gesichtssinnes. S. 106 11. f.
den und der Anpassungserscheinungen, welche in diesen Fällen zu beobachten sind^).
Dass die Raumempfindung mit motorischen Processen zu- sammenhängt, wird seit langer Zeit nicht mehr bestritten. Die Meinungen gehen nur darüber auseinander, wie dieser Zusammen- hang aufzufassen sei.
Fallen zwei verschiedenfarbige congruente Bilder nach einander auf dieselben Netzhautstellen, so werden sie ohne weiteres als gleiche Gestalten erkannt. Wir können uns also zunächst ver- schiedene Raumempfindungen an verschiedene Netzhautstellen ge- bunden denken. Dass aber diese Raumempfindungen nicht un- abänderlich am bestimmte Netzhautstellen geknüpft sind, er- kennen wir, indem wir frei und willkürlich die Augen bewegen, wobei die Objecte, obgleich ihre Bilder auf der Netzhaut sich verschieben, ihren Ort und ihre Gestalt nicht ändern.
Wenn ich geradeaus vor mich blicke, ein Object O fixirend, so erscheint mir ein Object A, das sich auf der Netzhaut in «, in einer bestimmten Tiefe unter der Stelle des deut- lichsten Sehens o abbildet, in einer gewissen Figur i;. Höhe zu liegen. Erhebe ich nun den Blick,
B fixirend, so behält A hierbei seine frühere Höhe bei. Es müsste tiefer erscheinen, wenn der Ort des Bildes auf der Netz- haut, bezw. der Bogen o a allein die Raumempfindung bestimmen w^ürde. Ich kann den Blick bis zu A und darüber hinaus er- heben, ohne dass an diesem Verhältniss etwas geändert wird. Der physiologische Process also, der die willkürliche Erhebung des Aug'es bedingt, vermag die Höhenempfindung ganz oder theilweise zu ersetzen, ist mit ihr gieichartig, kurz g'esagt alge-
i) Tschermak, Ueber anomale Sehrich tungsgemeinschaft der Netzhäute bei Schielenden. Graefe's Archiv, XLVII, 3, S. 508. — Tschermak, Ueber physio- logische mid pathologische Anpassung des Auges. Leipzig iqoo. — Schlodtmann, Studien über anomale Sehrichtungsgemeinschaft bei Schielenden. Graefe's Archiv, LI, 2, 1900.
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braisch mit derselben summirbar. Drehe ich den Aug'apfel durch einen leichten Ruck mit dem Finger aufwärts, so scheint sich hierbei das Object A, der Verkleinerung des Bog'ens o a ent- sprechend, in der That zu senken. Dasselbe geschieht, wenn durch irgend einen andern unbewussten oder unwillkürlichen Process, z. B. durch einen Krampf der Augenmuskel, der Aug- apfel sich aufwärts dreht. Nach einer seit mehreren Decennien bekannten Erfahrung der Augenärzte greifen Patienten mit einer Lähmung des Rectus externus zu weit nach rechts, wenn sie ein rechts liegendes Object ergreifen wollen. Da dieselben eines stärkeren Willensimpulses bedürfen als Gesunde, um ein rechts liegendes Object zu fixiren, so liegt der Gedanke nahe, dass der Wille, rechts zu blicken, die optische Raumempfindung „rechts'' bedingt. Ich habe vor Jahren^) diese Erfahrung in die Form eines Versuches gebracht, den jeder sofort anstellen kann. Man drehe die Augen möglichst nach links und drücke nun an die rechten Seiten der Augäpfel zwei grosse Klumpen von ziemlich festem Glaserkitt gut an. Versucht man alsdann rasch nach rechts zu blicken, so g'elingt dies wegen der ungenauen Kug'el- form der Augen nur sehr unvollkommen, und die Objecte ver- schieben sich hierbei ausgiebig nach rechts. Der blosse Wille, rechts zu blicken, giebt also den Netzhautbildern an bestimmten Netzhautstellen einen grösseren Rechtswerth, wie wir kurz sagen wollen. Der Versuch wirkt anfangs überraschend. Wie man aber bald merkt, lehren die beiden einfachen Erfahrungen, dass durch willkürliche Rechtswendung der Augen die Objecte nicht verschoben, und dass durch gewaltsame unwillkürliche Linkswendung die Objecte nach rechts verschoben werden, zu- sammen genau dasselbe. Mein Auge, welches ich rechts wenden will und nicht kann, lässt sich als ein willkürlich rechts g'e- wendetes und durch eine äussere Kraft gewaltsam zurück- gedrehtes Auge ansehen. Professor W. Jamcs'-^) wollte der
i) Kurz nach Abscliliiss meiner ,, Grundlinien der Lehre von den Bewegungs- empfindungen" (1875).
2) W. James, The principles 01 Psychology, II, 509.
erwähnte Versuch nicht gelingen. Ich habe denselben oft wieder- holt und immer bestätigt g'efunden. Die Thatsache, glaube ich, steht fest, womit aber natürlich nicht über die Richtigkeit der Auffassung entschieden ist.
3- Der Wille, Blickbewegungen auszuführen, oder die Inner- vation (?), ist die Raumempfindung selbst. Dies ergibt sich un- gezwungen aus der angeführten Betrachtung- 1). Wenn wir an einer Hautstelle ein Jucken oder einen Stich empfinden, wodurch unsere Aufmerksamkeit genügend gefesselt wird, so greifen wir sofort mit dem richtigen Ausmaass der Bewegung dahin. Ebenso drehen wir die Augen mit dem richtigen Ausmaass nach einem Netzhautbild, sobald dasselbe uns genügend reizt, und wir es demnach beachten. Vermöge organischer Einrichtungen und langer Uebung treffen wir sofort die zur Fixirung eines auf bestimmter Netzhautstelle sich abbildenden Objectes eben zu- reichende Innervation. Sind die Augen schon rechts gewendet, und fangen wir an, ein neues mehr rechts oder links gelegenes Object zu beachten, so fügt sich eine neue gleichartige Inner- vation der schon vorhandenen algebraisch hinzu. Eine Störung entsteht erst, wenn zu den willkürlich abgemessenen Innervationen fremdartige unwillkürliche oder äussere bewegende Kräfte hin- zutreten.
4- Als ich mich vor Jahren mit den hierher gehörigen Fragen be- schäftigte, bemerkte ich eine eigen- thümliche Erscheinung, die meines Wissens noch nicht beschrieben worden ist. Wir betrachten in einem recht dunklen Zimmer ein Licht A und führen dann eine rasche Blickbewegung nach dem tieferen Licht B aus. Das Licht A
i) Ich halte hier den Ausdruck fest, welcher sich mir unmittelbar ergeben hat, ohne der weitern Untersuchung zu präjudiciren. Ich lasse es hier und in dem zunächst
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scheint hierbei einen (rasch verschwindenden) Schweif AA' nach oben zu ziehen. Dasselbe thut natürHch auch das Licht B, w^as zur Vermeidung von Complicationen in der Figur nicht an- gedeutet ist. Der Schw^eif ist selbstverständlich ein Nachbild, welches erst bei Beendigung oder kurz vor Beendigung der Blickbewegung zum Bewusstsein kommt, jedoch, was eben merk- würdig ist, mit Ortswerthen, welche nicht der neuen Augen- stelJung und Innervation, sondern noch der frühern Augenstellung und Innervation entsprechen. Aehnliche Erscheinungen bemerkt man oft beim Experimentiren mit der Holtz'schen Electrisir- maschine. Wird man während einer Blickbewegung abwärts von einem Funken überrascht, so erscheint derselbe oft hoch über den Electroden. Liefert er ein dauerndes Nachbild, so zeigt sich dieses natürlich unter den Electroden. Diese Vor- gänge entsprechen der sogenannten persönlichen Differenz der Astronomen, nur dass sie auf das Gebiet des Gesichtssinnes beschränkt sind. Durch welche organischen Einrichtungen dies Verhältniss bedingt ist, muss dahingestellt bleiben, wahrscheinlich hat es aber einen g-ewissen Werth zur Verhinderung der Des- orientirung bei Augenbeweg-ungen ^).
5- Wir dachten uns bisher der Einfachheit wegen nur die fixirenden Augen bewegt, hingegen den Kopf (und überhaupt den Körper) ruhig. Drehen wir nun den Kopf ganz beliebig, ohne ein optisches Object absichtlich ins Auge zu fassen, so bleiben die Objecte hierbei ruhig. Zugleich kann aber ein anderer Be- obachter bemerken, dass die Augen wie reibungslose träge Massen an den Drehbewegungen keinen Antheil nehmen. Noch auffallen- der wird der Vorgang, wenn man sich continuirlich activ oder passiv um die Verticalaxe, von oben g'esehen etw^a im Sinne des
Folgenden noch dahingestellt, ob die Innervation eine Folge der Raumempfindiuig ist, oder umgekehrt. Gewiss sind l^eide eng verbunden.
I) Eine andere Ansicht hierüber entvv^ickelt Lipps, Zeitschr. f. Psychologie u. Physiologie der Sinnesorgane, Bd. I, S. 60.
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Uhrrzeigers, herumdreht. Die offenen oder geschlossenen Augen drehen sich dann, wie Breuer beobachtet hat, etwa zehnmal auf eine volle Umdrehung des Körpers gleichmässig verkehrt wie der Uhrzeiger, und ebenso oft ruckweise im Sinne des Uhrzeigers zurück. Die Figur veranschaulicht diesen Vorgang. Nach OT sind die Zeiten als Ab- scissen, aufwärts als Ordinaten die Drehungs- winkel im Sinne des Uhrzeigers, abwärts im entgegengesetzten Sinne aufgetragen. Die Figur 17.
Curve OA entspricht der Drehung des Körpers,
OBB der relativen und OCC der absoluten Drehunpf der Augen. Niemand wird sich bei Wiederholung der Beobachtung der Ueber- zeugung verschliessen können, dass man es mit einer durch die Köperdrehung reflectorisch vom Labyrinth ausgelösten automati- schen (unbewussten) Augenbewegung zu thun hat. Dieselbe ver- schwindet, sobald die (passive) Drehung nicht mehr empfunden wird. Wie diese Bewegung zu Stande kommt, bleibt natürlich zu untersuchen. Eine einfache Vorstellung wäre die dass von zwei antagonistischen Innervationsorg-anen der ihnen bei der Körper- drehung gleichmässig zufliessende Reiz, von dem einen wieder mit einem gleichmässigen Innervationsstrom beantwortet wird, während das andere immer erst nach einer gewissen Zeit wie ein gefüllter und plötzlich umkippender Regenmesser einen Innervations- stoss abgibt. Für uns genügt es vorläufig zu wissen, dass diese automatische compensirende unbewusste Augenbewegung thatsäch- lich vorhanden ist.
Bekannt ist die compensatorische Raddrehung der Augen, welche bei Seitwärtsneigung des Kopfes auftritt. NageU) hat nachgewiesen, dass dieselbe ^/^q — Ve ^^^ Winkels der Kopfneigung beträgt. Kürzlich haben nun Breuer 2) und Kreidl auch im Drehapparat solche Versuche angestellt und g'efunden:
i) Nagel, Ueber compensatorische Raddrehungen der Augen. Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. der Sinnesorgane, Bd. 12, S. 338.
2) Breuer und Kreidl, Ueber scheinbare Drehung des Gesichtsfeldes während der Einwirkung einer Centrifugalkraft. Pflüger's Archiv, Bd. 70, S. 494.
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„Wir empfinden, wie Purkynie und Mach gesagt haben, die Richtung der Massenbeschleunigung. Aendert sich diese Richtung durch Hinzutritt einer seitlicli auf den Körper wirkenden liorizontalen Beschleunigung, so tritt eine Raddrehung der Augen auf, welche während der Dauer jener Einwirkung anhält und die Hälfte, 0,6 des Ablenkungswinkels beträgt. Die Drehung des Sehraums, die Schiefstellung verticaler Linien, welche unter solchen Verhältnissen wahrgenommen wird, beruht also auf einer wirklichen unbewussten Drehung der Augen."
Ich muss hier ferner noch zweier Arbeiten über compen- sirende Augenbewegungen gedenken, welche von Crum Brown ^) herrühren.
Die langsamere unbewusste compensirende Augenbewegung (die ruckweise hinterlässt keinen optischen Eindruck) ist also die Ursache, dass die Objecto bei Kopfdrehungen ihren Ort beizube- halten scheinen, was für die Orientirung sehr wächtig' ist. Drehen wir nun mit dem Kopf in demselben Sinn, das fixh-te Object wechselnd, auch willkürlich die Augen, so müssen wir durch die willkürliche Innervation die automatische unwillkürliche über- compensiren. Wir bedürfen derselben Innervation, als ob der ganze Drehungswinkel vom Auge allein zurückgelegt worden wäre. Hierdurch erklärt es sich auch, warum, wenn wir uns um- drehen, der ganze optische Raum uns als ein Continuum und nicht als ein Aggregat von Gesichtsfeldern erscheint, und warum hierbei die optischen Objecte festliegend bleiben. Was wir beim Umdrehen von unserm eigenen Körper sehen, sehen wir aus klarliegenden Gründen optisch bewegt.
So gelangen wir also zu der praktisch werthvollen Vorstellung unseres bewegten Körpers in einem festliegenden Räume. Es wird uns verständlich das wir bei mehrfachen Drehungen
i) Crum Brown, Note on normal nystagmus. Preceedings of the Royal Society of Edinburgh, Fcbruary 4, 1895. — ^he relation between the movements of the eyes and the movements of the head. Robert Boyle lecture, May 13, 1895.
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und Wendungen in vStrassen, in Gebäuden, und bei passiven Drehungen im Wagen, oder in der Cajüte eingeschlossen (ja selbst in der Dunkelheit) die Orientirung nicht verlieren. Allerdings schlafen die Urcoordinaten, von welchen wir ausgingen, allmälig und unvermerkt ein, und bald zählen wir wieder von den Objecten aus, welche vor uns liegen. Der eigenthümlichen Desorientirung, in welcher man sich zuweilen Nachts beim plötzlichen Erwachen befindet, rathlos das Fenster, den Tisch u. s. w. suchend, mögen wohl dem Erwachen unmittelbar vorausgehende motorische Träume zu Grunde liegen.
Aehnliche Verhältnisse wie bei Körperdrehungen zeigen sich bei Körperbewegungen überhaupt. Bewege ich den Kopf oder den ganzen Körper seitwärts, so verliere ich ein optisch fixirtes Object nicht. Dasselbe scheint fest zu stehen, während die fernem Objecte eine der Körperbewegung gleichsinnige, die nähern eine entgegengesetzte parallactische Verschiebung erfahren. Die ge- wohnten parallactischen Verschiebungen werden gesehen, stören aber nicht, und werden richtig interpretirt. Bei monocularer In- version eines Plateau 'sehen Drahtnetzes aber fallen die dem Sinne und dem Ausmaass nach ungewohnten parallactischen Bewegungen sofort auf, und spiegeln uns ein gedrehtes Ob- ject vor 1).
7- Wenn ich meinen Kopf drehe, so sehe ich nicht nur jenen Theil desselben, den ich überhaupt sehen kann, gedreht, was nach dem Vorausgeschickten sofort verständlich ist, sondern ich. fühle ihn auch gedreht. Dies beruht darauf, dass im Gebiete des Tastsinnes ganz analoge Verhältnisse bestehen, wie im Gebiete des Gesichtssinnes 2). Greife ich nach einem Object, so
i) Vergl. meine „Beobachtungen über monoculare Stereoscopie". Sitzungs- berichte d. Wiener Aliademie (1868), Bd. 58.
2) Die Ansicht, das Gesichtssinn und Tastsinn sozusagen denselben Raumsinn als gemeinsamen Bestandtheil enthalten, ist von Locke aufgestellt, von Berkeley wieder bestritten worden. Auch Diderot ist (Lettres sur les aveugles) der Ansicht, dass der Raumsinn des Blinden von jenem des Sehenden gänzlich verschieden ist.
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complicirt sich eine Tastempfindung mit einer Innervation. Blicke ich nach dem Object, so tritt an die Stelle der Tastempfindung- eine Lichtempfindung. Da Hautempfindungen auch ohne Tasten von Objecten immer vorgefunden werden, sobald man ihnen die Aufmerksamkeit zuwendet, so geben diese, mit wechselnden Inner- vationen complicirt, ebenfalls die Vorstellung- unseres beweg'ten Körpers, welche mit der auf optischem Wege gewonnenen in voller Uebereinstimmung- steht."
Bei activen Bewegungen werden also die Hautempimdungen dislocirt, wie man kurz sagen kann. Bei passiven Bewegungen unseres Körpers treten reflectorisch ausgelöste unbewusste com- pensirende Innervationen und Beweg'ungen auf. Drehe ich mich z. B. rechts herum, so compliciren sich meine Hautempfindungen mit denselben Innervationen, die mit Berührung von Objecten bei Rechtsdrehung verbunden wären. Ich fühle mich rechts gedreht. Werde ich passiv rechts gedreht, so entsteht reflectorisch das Be-
Man vergl. hierüber die scharfsinnigen Ausführungen von Dr. Th. Loewy (Common sensibles. Die Gemein-Ideen des Gesichts- und Tastsinnes nach Locke und Berkeley, Leipzig 1884), deren Resultat ich übrigens nicht beistimmen kann. Der Umstand, dass ein Bhndgeborner nach der Operation den ihm durch das Getast wohlbekannten Würfel, und die ebenso bekannte Kugel, durch das Gesicht nicht unterscheidet, be- weist für mich gar nichts gegen Locke und nichts für Berkeley und Diderot. Auch der Sehende erkennt die einfach umgekehrte Fignr erst nach mehrfacher Uebung. Wie hätte auch der blinde Saunderson, wenn Locke Unrecht hätte, eine für Sehende verständliche Geometrie schreiben können. Möge der Blinde versuchen, eine Farben- lehre zu schreiben! Analogien zwischen dem Raumsinn des Gesichts und des Ge- tastes bestehen gewiss. Etwas' hiervon wurde schon bei Besprechung der Arbeit von Soret (S. 93) erwähnt, und Manches war schon in der Aristotelischen Schule bekannt. So erwähnen schon die ,, Parva naturalia" das Experiment mit dem Kügelclien, welches zwischen dem Zeigefinger und dem kreuzweise über diesen gelegten Mittelfinger doppelt empfunden wird. Dasselbe gelingt mir noch viel schlagender, wenn ich die so gelegten P'inger an einem Stäbchen hin- und herführe. Und einfach empfinde ich zwei parallele .Stäbchen, zwischen welchen ich die in gleicher Weise gelegten Finger schleifend l)ewege. Die Analogie mit dem Doppeltsehen des Einfachen und dem Ein- fachsehen des Doppelten ist hier vollständig. Aber auch die Unterschiede sind so gross, dass der Sehende sich sehr schwer in die Raumvorstellung des Blinden hinein- zufinden vermag, da er immer seine Gesichtsvorstellungen interpretirend einmischt. Selbst ein Kopf wie Diderot verfällt gelegentlich in den sonderbaren Irrthum, dem Blinden die Raumphanlasie abzusprechen. Arbeiten wie jene Loeb's über den Fühl- raum (vergl. S. 89) und Heller's Studien zur Blinden-Psychologie (Leipzig 1895) werden zur Aufklärung, mitwirken.
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streben die Drehung zu compensiren. Ich bleibe entweder wirk- Hch stehen, und empfinde mich dann auch ruhig-, oder ich unter- drücke die Linksdrehung. Dazu bedarf ich aber derselben will- kürlichen Innervation, wie zu einer activen Rechtsdrehung, welche auch die gleiche Empfindung zur Folge hat.
Das hier dargelegte einfache Verhältniss übersah ich noch nicht vollständig bei Abfassung- meiner Schrift über Bewegung-s- empfindungen. In Folge dessen blieben mir einige theils von Breuer, theils von mir beobachtete Erscheinung-en schwer ver- ständlich, die sich nun ohne Schwierigkeit erklären, und die ich kurz berühren will. Bei passiver Drehung eines in einem Kasten eingeschlossenen Beobachters nach rechts erscheint demselben der Kasten optisch gedreht, obgleich jeder Anhaltspunkt zur Beur- theilung- einer Relativdrehung fehlt. Führen seine Augen unwill- kürliche compensirende Bewegungen nach links aus, so verschieben sich die Netzhautbilder so, dass er eine Bewegung nach rechts sieht. Fixirt er aber den Kasten, so muss er die unwillkürlichen Be- wegungen willkürlich compensiren, und sieht nun wieder eine Bewegung nach rechts. Es vvird hierdurch deutlich, dass die Breuer'sche Erklärung- der Scheinbeweg-ung des Augenschwindels richtig ist, und dass gleichwohl durch willkürliches Fixiren diese Bewegung nicht zum Verschwinden gebracht werden kann. Auch die übrigen in meiner Schrift erwähnten Fälle des Aug'en- schwindels finden auf analoge Weise ihre Erledigung i).
Wenn wir uns bewegen z. B., vorwärts schreiten oder uns drehen, so haben wir nicht nur eine Empfindung der jedesmaligen Lage unserer Körpertheile, sondern auch noch die viel ein- fachere Empfindung einer Vorwärtsbeweg'ung oder Drehung. In der That setzen wir die Vorstellung der Vorwärtsbewegung* nicht aus den Vorstellung-en der einzelnen Beinschwingungen zu-
i] Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfindungen. Leipzig, Engei- mann, 1875, S. 83.
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sammen, oder haben wenigstens nicht nöthig" dies zu thun. Ja es gibt sogar Fälle, in welchen die Empfindung der Vorwärtsbe- wegung entschieden vorhanden ist, jene der Beinbewegung aber ebenso entschieden fehlt. Dies trifft z. B. bei einer Eisenbahnfahrt zu, auch schon bei dem Gedanken einer Reise, andeutungsweise bei der Erinnerung an einen fernem Ort u. s. w. Dies kann nur daran liegen, dass der Wille, sich vorwärts zu beweg'en oder zu drehen, aus welchem die Extremitäten ihre motorischen An- ■ regung'en schöpfen, die ja durch besondere Innervationen noch modificirt werden können, verhältnissmässig einfacher Natur ist. Es bestehen hier wohl ähnliche, wenn auch complicirtere Verhältnisse , wie jene bei den Augenbewegungen , welche Hering so glücklich durchschaut hat, worauf wir alsbald zu- rückkommen.
Man wird kaum fehl gehn, wenn man annimmt, dass die vom Labyrinth aus erregten, verhältnissmässig einfachen Be- wegungsempfindungen ^) mit dem Willen, sich zu bewegen, im engsten Zusammenhange stehen. Diese Bewegung"sempfindungen möchten auch den von RiehP) postulirten, bezw. von ihm ge- suchten Richtungsgefühlen entsprechen. Sie sind dem Blin- den ebenso eigen wie dem Sehenden, und bilden wohl mit eine wichtige Grundlage des Verständnisses des Tastraums.
Ich habe eine Reihe von Beobachtungen über optische und Bewegungsempfindungen in den Ausdruck zusammengefasst: „Es sieht so aus, als ob der sichtbare Raum sich in einem zweiten Raum drehen würde, den man für unverrückt fest hält, obgleich letzteren nicht das mindeste Sicht- bare kennzeichnet." Der auf die Bewegungsempfindungen aufgebaute Raum scheint in der That das Ursprüngliche zu sein ^).
Befangen in physikalischer Denkweise, war ich geneigt zu glauben, dass die Empfindungen der Progressivbeschleunigung
i) a. a, S. 124.
2) Riehl, Der philosophlsclie Kriticismus, Bd. 2, S. 143.
3) Bewegungsempfindungen S. 26.
III
sich vollkommen analog verhalten den Empfindungen derWinkel- beschleunig'ung. In der That werden jedem Physiker, der sich mit unserem Geg-enstand beschäftigt, sofort die drei Gleichungen für die drohende, und die drei Gleichungen für die fortschreitende Bewegung eines Körpers in den Sinn kommen. Ausserdem glaubte ich, entsprechend dem Princip der specifischen Energ-ie, besondere Empfindungen der Kopflage vermuthen zu dürfen. Breuer^) hat durch eine spätere Untersuchung wahrscheinlich gemacht, dass die Empfindungen der Progressivbeschleunigung sehr viel rascher verschwinden als jene der Winkelbeschleunigung, beziehungsweise, dass vielleicht das Org'an der ersteren, wenig- stens beim Menschen, verkümmert ist. Ferner findet Breuer, ausser den Bogengängen B, nur noch den Otolithenapparat O mit seinen den Bog'engan geben en entsprechenden Gleitebenen geeignet, Progressivbeschleunig-ungen und Lagen zugleich zu signalisiren. Die drei Schwerecomponenten nach den drei Gleit- ebenen characterisiren die Lage des Kopfes. Jede Aenderung der Lage ändert die Componenten und setzt zugleich den Bogen- gangapparat momentan in Function. Progressivbeschleunigungen ändern diese Componenten ebenfalls, ohne den Bogengangapparat zu beanspruchen. Demnach würden nach Breuer die drei Com- binationen: O allein, O -j- B, und B allein für die Unterscheidung aller Fälle genügend. Diese Auffassung wäre also, wenn sie sich bewährt, eine bedeutende Vereinfachung'.
Wäre ich überhaupt noch in der Lage zu experimentiren, so würde ich die Bewegungsempfindungen an sich nochmals von Grund aus untersuchen. Der Unterschied in dem Verhalten der Empfindungen ^ der Winkel- und Progressivbeschleunigungen scheint mir jetzt bedeutend. Die Drehbeschleunigung löst eine Empfindung aus, welche lang-e nachdem die Beschleunigung- Null geworden in abnehmender, quantitativ'^) zu verfolgender Stärke fortbesteht. Die Progressivbeschleunigung wird rein nur beim
i) Breuer, Ueber die Function des Otolithen-Apparates. Pflüger's Archiv, XLVI, S. 195.
2) Bewegungsempfindungen, S. 96, Versuch 2.
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verticalen beschleunigten Fallen oder Steigen empfunden. Ver- schwindet die Beschleunigung, so ist auch die Empfindung rasch vernichtet. Das einfachste Mittel, eine constante Beschleunigung von constanter Richtung g'egen den Leib zu erzeug'en, ist die gleichförmige Rotation. Wir empfinden die gleichförmige Drehung bald nicht mehr. Aber auch die constante Centrifugal- beschleunigung ruft nicht die Illusion des Fortfliegens nach deren Richtung', sondern die Empfindung einer geänderten Lage her- vor, welche mit jener Centrifugalbeschleunigung' zugleich wieder verschwindet. Erschöpft sich also die constane Progressivbeschleu- nigung als Reiz, oder ändert die Empfindung beim Constant- werden des Reizes ihren Character? Dann müssten doch zwei Elemente in derselben vermuthet werden.
Nicht die gleichförmige Bewegung, sondern lediglich die Beschleunigung- wird empfunden. Den Elementen der Aende- rung der Progressiv- und Winkelgeschwindigkeiten entsprechen Elemente der Bewegungsempfindung'en, von welchen wenigstens die Letzteren in langsam abnehmender Stärke persistiren, und übrigens so wie jene algebraisch summirbar sind, so dass einer (gewöhnlich von der Geschwindig^keit Null an) in kurzer Zeit ein- geleiteten Bewegamg- eine der totalen Geschwindigkeitsänderung', also der erreichten Geschwigdigkeit v, entsprechende Empfindung q zugeordnet ist^). Die Menge der vorbeigeführten Gesichts- oder Tasteindrücke wächst nun mit q und mit der /. Es darf uns da- her nicht wundern, dass die Erfahrung' uns q als eine Geschwin- digkeit und Q.t als einen Weg begrifflich interpretirten lehrt, wenngleich q an sich natürlich mit eineni räumlichen Maassbegriff gar nichts zu schaffen hat. Es scheint mir hiermit ein paradoxer Rest beseitigt, welcher mich noch 1875 in der Auffassung der Bewegungsempfindungen störte, und welcher, wie ich sehe, auch Andere gestört hat.'-).
i) a. a. O. 116 u. f<,'. 2) a. a. O. S. 122 (10)
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9- Die folgenden Versuche und Ueberlegungen, welche an eine ältere Mittheilung anknüpfen i), werden vielleicht die richtige Aut- fassung dieser Erscheinungen fördern. Wir stellen uns auf eine Brücke und betrachten das unter derselben durchfliessende Wasser. Dann empfinden wir gewöhnlich uns in Ruhe, das Wasser aber in Bewegung". Längeres Hinblicken auf das Wasser hat aber bekanntlich fast regelmässig zur Folge, dass plötzlich die Brücke mit dem Beobachter und der ganzen Umgebung dem Wasser entgegen in Bewegung zu gerathen scheint, während umgekehrt das Wasser den Anschein der Ruhe gewinnt'-). Die relative Bewegung der Objecte ist in beiden Fällen dieselbe, und es rauss demnach einen triftigen ph3^siologischen Grund haben, warum bald der eine, bald der andere Theil der Objecte bewegt empfunden wird. Um dies bequem untersuchen zu können, habe ich mir einen einfachen Apparat con- struirt, der in Figur 18 dargestellt ist. Ein einfach gemusterter Ledertuchlauf- teppich wird horizontal über zwei 2 m lange, 3 m von einander in Lagern be- festigte Walzen gezogen und mit Hülfe einer Kurbel in gleichmässige Bewegung gesetzt. Quer über den Teppich, etwa 30 cm über demselben, ist ein Faden ff mit einem Knoten K gespannt, der dem bei A aufgestellten Beobachter als Ruhepunkt für das Auge dient. Folgt der Beobachter mit den Aug'en den Zeichnungen des im Sinne des Pfeiles bewegten Teppichs, so sieht er diesen in Bewegung, sich und die Umgebung aber ruhig. Fixirt er hin-
1) a. a. O. S. 85.
2) Derartige Eindrücke erhält man bekanntlich in der mannigfaltigsten Form, wenn man sich zwischen mehreren theils bewegten, theils ruhenden Eisenbahnzügen befindet. — Als ich einmal auf der Elbe mittelst Dampfschiffs einen Ausflug unter- nahm, hatte ich unmittelbar vor der Landung den überraschenden Eindruck, als ob das Schiff stünde, und die ganze Landschaft sich demselben entgegenbewegte, was nach den folgenden Auseinandersetzungen unschwer verständlich ist.
Mach, Analyse. 3. Aiifl. 8
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gegen den Knoten, so glaubt er alsbald mit dem ganzen Zimmer, dem Pfeile entgegen, in Bewegung zu gerathen, während er den Teppich für stillstehend hält. Dieser Wechsel des Anblicks voll- zieht sich je nach der Stimmung- in längerer oder kürzerer Zeit, gewöhnlich nach einigen Secunden. , Weiss man einmal, worauf es ankommt, so kann man ziemlich rasch und willkürlich mit den beiden Eindrücken wechseln. Jedes Verfolgen des Teppichs bringt den Beobachter zum Stehen, jedes Fixiren von K oder Nicht- beachten des Teppichs, wobei dessen Zeichnungen verschwimmen, setzt den Beobachter in Bewegung. Bezüglich des Ausfalls dieses Versuchs unter den ang'egebenen Umständen stimmen mir zwei von mir hochg^eschätzte Forscher nicht zu. Der eine ist W. James^), der andere Cr um Brown-). Ich habe den Versuch oft und oft immer mit dem gleichen Erfolg'e angestellt. Da ich gegenwärtig nicht in der Lage bin zu experimentiren, muss ich auf eine neuer- liche Prüfung verzichten, für welche sich die von Brown be- schriebene Nachbildmethode empfohlen würde. Von den Differenzen in der theoretischen Auffassung" des Versuches soll hier zunächst abgesehen werden.
lO.
Die Erscheinung" ist selbstredend gänzlich verschieden von der bekannten Plateau-Oppel'schen, die eine locale Netzhaut- erscheinung ist. Bei dem obigen Experiment bewegt sich die deutlich gesehene ganze Umgebung, bei dem letztern Phänomen zieht ein bewegter Schleier über das ruhige Object hin. Auch die nebenbei auftretenden stereoscopischen Erscheinungen, bei welchen z. B. der Faden mit dem Knoten unter dem sich als durchsichtig darstellenden Teppich erscheint, sind hier g"anz gleich- gültig.
In meiner .Schrift über „BewegungsemiDfindung"en" S. 63 habe ich constatirt, dass den Plateau-OppeFschen Erscheinungen ein besonderer Process zu Grunde liegt, der mit den übrig-on Be-
i) W. James, Piiiicipics of I'sycholfigy, II, 5 1 2 f f .
2) Criim Brown, Oii iioniial N)-sta<fnuis. Vcrgl. S. 105 dieser Schrift.
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wegung-sempfindungen nichts zu schaffen hat. Es heisst daselbst: „Dementsprechend werden wir daran denken müssen, dass mit der Bewegung" eines Netzhautbildes ein besonderer Process er- regt wird, der in der Ruhe nicht vorhanden ist, und dass bei entg-egengesetzten Bewegungen g^anz ähnliche Processe in ähnlichen Organen erregt werden, welche sich aber gegenseitig in der Art ausschliessen, dass mit dem Eintreten des einen der andere er- löschen muss, und mit der Erschöpfung des einen der andere ein- tritt." — Dies scheinen S. Exner und Vi er or dt übersehen zu haben, welche später ähnliche Ansichten über denselben Gegen- stand ausg"esprochen haben.
1 1.
Bevor wir an die Erklärung' des Versuches (Fig". 18) gehen, wollen wir denselben noch variiren. Ein Beobachter, der sich bei B aufstellt, meint unter den angegebenen Umständen mit seiner ganzen Umg'ebung nach links zu fliegen. Wir bringen ferner über dem Teppich TT, Fig'ur 19, einen g'egen
S'
■/^ -n.
T
den Horizont um 45 ^ geneigten Spiegel SS an Durch ,SS betrachten wir das Spiegelbild T'F, nachdem wir auf die Nase noch einen Schirm nn g"esetzt haben, welcher dem Auge O den - direkten Anblick von TT entzieht. Bewegt Figur 19.
.sich TT im Sinne des Pfeiles, während wir das Spiegelbild K' von K fixiren, so glauben wir alsbald mit dem ganzen Zimmer zu versinken, bei umgekehrter Bewegung glauben wir hingegen wie in einem Luftballon zu steigen ^). Endlich gehören hierher noch die Versuche mit der Papiertrommel, welche ich bereits beschrieben habe -), und auf die auch die nachfolgende Er- klärung anzuwenden ist. Alle diese Erscheinungen sind keine rein optischen, sondern sie sind von einer unverkennbaren Bewegungsempfindung des ganzen Körpers begleitet.
1) Derartige Erscheinungen treten oft ganz ungesucht auf. Als einmal im Wmter bei Windstille und starkem Schneefall meine kleine Tochter am Fenster stand, rief sie plötzlich, sie steige mit dem ganzen Hause in die Höhe.
2) Bcwegungsenipfinduiigen S. 85.
1 16
12.
Wie haben wir nun unsere Gedanken einzurichten, um in denselben die besprochenen Thatsachen in einfachster Weise dar- zustellen ? Bewegte Objecte üben bekanntlich einen besondern Bewegungsreiz auf das Auge aus, ziehen die Aufmerksamkeit und den Blick auf sich. Folgt ihnen der Blick wirklich, so müssen wir nach allem bisher Besprochenen annehmen, dass die Objecte bewegt erscheinen. Soll das Auge trotz der bewegten Objecte auf die Dauer ruhig bleiben, so muss der von denselben ausgehende constante Bewegungsreiz durch ein constanten, dem motorischen Apparat des Auges zufliessenden Innervationsstrom compensirt werden, ganz so, als wäre der ruhige fixirte Punkt gleichmässig entgegengesetzt bewegt, und als wollte man dem- selben mit den Augen folgen. Tritt dies aber ein, so muss alles fixirte Unbewegte bewegt erscheinen. Dass dieser Innervations- strom immer mit bewusster Absicht eingeleitet werde, wird kaum nothwendig sein, wenn er nur von demselben Centrum aus und auf denselben Wegen verläuft, von welchen das willkürliche Fixiren ausgeht.
Um die zuvor besprochenen Erscheinungen zu beobachten, bedarf es gar keiner besondern Vorkehrungen. Wir sind vielmehr immer von denselben umgeben. Ich schreite durch einen einfachen Willensact vorwärts. Meine Beine vollführen ihre Schwingamgen, ohne dass ich mich besonders darum kümmere, und meine Augen sind fest auf das Ziel gerichtet, ohne sich von den durch das Aus- schreiten bewegten Netzhautbildern ablenken zu lassen. Mit einem Willensact ist alles dies eingeleitet, und dieser Willensact selbst ist die Empfindung der Vorwärtsbewegung. Derselbe Process, oder doch ein Theil desselben, wird auch auftreten müssen, sollen die Augen dem Reize einer Masse von bewegten Objecten dauernd widerstehen. Daher die Bewegungsempfindung bei den obigen Versuchen.
Beobachten wir ein Kind auf einen) Eisenbahnzuge, so folgen dessen Augen fast unnusgesetzt in zuckender Bewegung den äussern
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Objecten, welche ihm zu laufen scheinen. Auch der Erwachsene hat die g-leiche Empfindung, wenn er sich den Eindrücken zwanglos hingibt. Eahre ich vorwärts, so dreht sich, aus naheliegenden Gründen, der ganze Raum zu meiner Linken um eine sehr ferne verticale Axe im Sinne des Uhrzeigers, der ganze Raum zu meiner Rechten ebenso umgekehrt. Erst wenn ich dem Verfolgen der Objecte widerstehe, tritt für mich die Empfindung der Vor- wärtsbewegung auf.
13- Meine Ansichten über Bewegungsempfindungen sind be- kanntlich mehrfach angefochten worden, wobei allerdings die Pole- mik immer nur gegen die H3^pothese gerichtet war, auf welche ich selbst keinen besondern Werth gelegt habe. Dass ich sehr gern bereit bin, meine Ansichten nach Maassgabe der bekannt gewordenen Thatsachen zu modificiren, dafür mag eben die vor- liegende Schrift den Beweis liefern. Ich will die Entscheidung" darüber, wieweit ich das Richtige getroffen habe, mit Beruhigung der Zukunft überlassen. Andererseits möchte ich nicht unbemerkt lassen, dass sich auch für die von mir, Breuer und Brown auf- gestellte Ansicht günstige Beobachtungen ergeben haben. Hierher gehören zunächst die von Dr. Guye (in Amsterdam) gesammelten Erfahrungen (Du Vertigo de Meniere. Rapport lu dans la section d'otologie du congres periodique international de sciences medi- cales a Amsterdam, I879). Guye beobachtete bei Erkrankungen des Mittelohres reflectorische Kopfdrehungen beim Einblasen von Luft in die Trommelhöhle, und fand einen Patienten, der genau den Sinn und die Anzahl der Drehungen angeben konnte, welche er beim Einspritzen von Flüssigkeiten empfunden hatte. Professor Crum Brown, on a case of dyspeptic vertigo (Proceedings of the Royal Society of Edinburgh 1881-82) beschreibt einen an sich beobachteten interessanten Fall von pathologischem Schwindel, welcher sich in seiner Gesammtheit durch eine gesteigerte Inten- sität und verlängerte Dauer der jeder Drehung folgenden Em- pfindung erklären Hess. — Am merkwürdigsten sind aber die Be-
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obachtungen von William James (the seise of dizzines in deaf- mutes. American Journal of Otology. Volume IV, Octoben 1882.) James fand eine relative vorwiegende auffallende Unempfindlich- keit der Taubstummen geg'en den Drehschwindel, häufig eine grosse Unsicherheit des Ganges derselben bei geschlossenen Augen, und in manchen Fällen eine überraschende Desorientirung- beim Untertauchen unter Wasser, wobei Beängstigung und gänzliche Unsicherheit über das Oben und Unten eintrat. Diese Beobachtungen sprechen sehr dafür, dass bei den Taubstummen, wie es nach meiner Auffassung zu erwarten war, der eigentliche Gleichgewichtssinn sehr zurücktritt, und dass dieselben die beiden andern orientirenden Sinne, den Gesichtssinn und den Muskel- sinn (welcher letztere beim Versinken im Wasser mit der Auf- hebung' des Körpergewichtes alle Anhaltspunkte verliert), desto nöthiger haben.
Die Ansicht ist nicht haltbar, dass wir zur Kenntniss des Gleichgewichtes und der Bewegungen nur durch die Halbcirkel- kanäle gelangen. Höchst wahrscheinlich haben vielmehr auch niedere Thiere, denen das entsprechende Organ ganz fehlt, Bewegungsempfindungen. Es war mir bisher nicht möglich, in dieser Richtung Versuche anzustellen. Die Versuche aber, w^elche Lubbock in seiner Schrift über „Ameisen, Bienen und Wespen" (Leipzig, Brockhaus, 1883, S. 220) beschrieben hat, werden mir durch die Annahme von Bewegungsempfindungen viel verständ- licher. Da möglicherweise Anderen derartige Versuche näher liegen, ist es vielleicht nicht unnütz, wenn ich einen Apparate be- spreche, den ich (Anzeiger der Wiener Akademie, 30. December 1875) schon kurz beschrieben habe. Andere Apparate dieser Art sind später von Govi und Ewald construirt worden. Man hat sie nachher Cyclostaten genannt.
Der Apparat dient dazu, das Verhalten von Thieren bei rascher Rotation derselben zu beobachten. Da nun das Bild durch die Rotation verwischt wird, so muss die passive Rotation optisch aufgehoben und ausgeschaltet werden, so dass die activen Be- wegung-en des Thieres allein übrig bleiben und beobachtbar werden.
— iig —
Man erreicht die optische Aufliebung der Rotation einfach da- durch, dass man über der Scheibe der Centrifugalmaschine genau um dieselbe Axe mit Hilfe einer Zahnradübertragung ein Reflex- ionsprisma mit der halben Winkelgeschwindigkeit der Scheibe und in demselben Sinne rotiren lässt.
n
A
Figur 20.
Die Figur 20 gibt eine Ansicht des Apparates. Auf der Scheibe der Centrifugalmaschine befindet sich ein Glasbehälter g, in welchem die zu beobach- tenden Thiere eingeschlossen ^ werden. Durch eine Zahnrad- übertragung Vv^ird das Ocular o mit der halben Winkelge- schwindigkeit und in dem- selben Sinne wie g gedreht. Die folgende Figur zeigt die ' '^ Verzahnungin einer besondern Darstellung. Das Ocular O O und der Behälter gg drehen sich um die Axe A A, während ein Paar von Zahnrädern, die fest mit einander verbunden sind, sich um BB drehen. Der Radius des
Figur 21.
I20
2 ;' Zahnrades aa sei = r, dann ist r jener von bb, — jener von cc,
3
/IT
jener von rt'ß^ aber = — , womit das A^erlangte Geschwindigkeits-
3 verhältniss von oo und gg erzielt ist.
Um den Apparat zu centriren, legt man auf die Bodenscheibe des Behälters einen mit Stellschrauben versehenen Spiegel S und justirt denselben so, dass beim Rotiren die Bilder in demselben ruhig bleiben. Dann steht er senkrecht auf der Rotation saxe des Apparates. Einen zweiten kleinen Spiegel S , dessen Belegung ein kleines Loch L enthält, bringt man an dem leeren Ocularrohr mit der spiegelnden Fläche nach unten so an, das bei der Rotation die Bilder unbewegt bleiben, die man durch das Loch hindurch in dem Spiegelbilde von S' in S sieht. Dann steht S' senkrecht auf der Ocularaxe. Nun bringt man, was nach einigen Versuchen leicht gelingt, mit Hilfe eines Pinsels auf dem Spiegel S einen Punkt P an, welcher beim Rotiren seine Lage nicht ändert, und stellt das Loch im Spiegel S' so, dass es bei der Rotation eben- falls an Ort und Stelle bleibt. Hierdurch sind Punkte der beiden Rotationsaxen gewonnen. Stellt man nun das Ocular (mit Hilfe von Schrauben) so^ dass man, durch das Loch in S' hindurch- sehend, den Punkt P auf S und das Spiegelbild von L in S (oder eigentlich die vielen Spiegelbilder von P und L) in Deckung sieht, so sind die beiden Axen nicht nur parallel, sondern sie fallen auch zusammen.
Als Ocular könnte man in der einfachsten Weise einen Spiegel, dessen Ebene die Axe enthält, anwenden, und ich habe dies bei dem ersten Rudiment meines Apparates auch gethan. Allein man verliert hierdurch die Hälfte des Gesichtsfeldes. Ein total reflectirendes Prisma ist deshalb viel vortheilhafter. lx\ der Figur 22 stelle ABC einen ebenen Schnitt senkrecht zu der Hypo- thenusenfläche und den Kathetenflächen des total reflectirenden Ocularprismas vor. Dieser Schnitt enthalte zugleich die Rotations- axe ONPQ, welche parallel zu A B ist. Der Strahl, welcher nach der Axe QP fortgeht, muss nach der Brechung und Re- flexion im Prisma wieder nach der Axe A-^ O fortgehen und das
121
Figur 2 2.
(in der Axe befindliche) Auge O treffen. Wenn dies erfüllt ist, können die Punkte der Axe bei der Rotation keine Verschieb- ung erfahren und der Apparat ist cen- trirt. Der betreffende Strahl muss also den Mittelpunkt M von A B treffen und schneidet demnach, weil er unter dem In- cidenzwinkel von 45 ^ auf Crown glas fällt AB unter etwa 16*^ 40'. Hiernach muss OP um etwa 0.115. AB von der Axe abstehen, welches Verhältniss am besten empirisch hergestellt wird, indem man das Prisma im Ocular so verschiebt, dass Schwankungen der Objecte in gg bei der Rotation wegfallen.
Die Figur 22 macht zugleich das Gesichtsfeld für das Auge in O ersichtlich. Der Strahl OA (welcher eben senkrecht auf A C fällt) wird an A B nach A C reflectirt und geht nach S. Der Strahl OR hingegen wird bei B reflectirt und tritt gebrochen nach T aus.
Der Apparat erwies sich bei meinen bisherigen Versuchen in jeder Beziehung als ausreichend. Bringt man ein gedrucktes Blatt nach gg, und rotirt so rasch, dass dessen Bild ganz verwischt wird, so kann man die Schrift durch das Ocular bequem lesen. Die Umkehrung wegen der Spiegelung könnte beseitigt werden, wenn man ober dem rotirenden Ocularprisma ein zweites festes Reflexionsprisma anbringen würde, welche Complication mir aber unnöthig schien.
Bisher habe ich, ausser einigen physikalischen Versuchen, nur Rotationsversuche mit verschiedenen kleinen Wirbelthieren (Vögeln, Fischen) angestellt, und meine (in der Schrift über „Bewegungs- empfindungen" angegebenen) Daten durchaus bestätigt gefunden. Es wäre aber wohl auch förderlich, wenn man mit Insecten und andern, namentlich niederen Thieren (Seethieren) ähnliche Ver- suche durchführen würde.
122
Seither sind solche Versuche, die sich als recht lehrreich er- wiesen haben, von Schäfer (Naturwissenschafliche Wochenschrift, No. 25, i8gi), von Loeb (Heliotropismus der Thiere, Würzburg '1890, vS. 117) u. a. ausgeführt worden. Was ich gegenwärtig sonst noch über den Orientirungssinn zu sagen hätte, findet sich in meinem Vortrag ,,Ueber Orientirungsempfindungen" (Schriften des Vereins zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien, 1897, auch „Populär scientific lectures", 3. edit., 1898). Ins- besonderemöchte ich aber hinweisen auf Breuer's Untersuchungen über die Otohthenapparate, Pollak's und Kreidl's Versuche an Taubstummen, Kreidl's Experimente an Krebsen, vor allem aber auf das grundlegende Werk von Ewald „Ueber das Endorgan des Nervus octavus", Wiesbaden 1892^).
14- Ohne den Thatsachen Gewalt anzuthun, welche in meiner Schrift über Bewegungsempfindungen beschrieben sind, legen die eben besprochenen Beobachtung-en die Möghchkeit nahe, die Auf- fassung dieser Thatsachen zu modificiren, wie wir dies im Folgen- den andeuten wollen. Es bleibt höchst wahrscheinlich, dass ein Organ im Kopfe existirt, wir wollen es das Endorgan {EO) nennen, welches auf Beschleunigungen reagirt, und durch dessen Ver- mittlung wir zur Kenntniss von Bewegungen gelangen. Mir selbst erscheint die Existenz von Bewegungsempfindungen von der Natur der Sinnesempfindungen nicht zweifelhaft, und ich kann kaum verstehn, wie Jemand, der die fraglichen Versuche an sich selbst wirklich wiederholt hat, diese Empfindungen leugnen kann. Statt sich aber vorzustellen, dass das Endorgan besondere Be- wegungsempfindungen erregt, welche von diesem Apparat wie von einem Sinnesorgan ausgehen, könnte man auch annehmen, dass dasselbe lediglich reflectorisch Innervationen auslöst. Inner- vationen können willkürlich und bewusst oder unwillkürlich und unbewusst sein. Die beiden verschiedenen Organe, von welchen
I) Ich kann nur erwähnen, dass mir während des Drucks eine Arbeit zukam von N. Ach, über die Otolithenfunction und den Labyrinthtoniis. PfKigers Archiv 1901.
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sie ausg'ehen, bezeichnen wir mit W/ und UI. Beide können auf den oculomotorischen {021) und den locomotorischen Apparat {LM) übergehen.
Betrachten wir nun das nebenstehende Schema. Wir leiten im Sinne des glatten Pfeiles willkürlich, also von WI aus, eine active Beweg'ung ein, welche sich im Sinne der glatten Pfeile auf OM und LM überträgt. Die zugehörig'e Innervation, deren Antecedens oder Consequens empfinden wir unmittel- bar. Eine besondere hiervon ver- schiedene Bewegungsempfindung wäre also in diesem Fall unnöthig. Ist nun die Bewegung im Sinne des
glatten Pfeiles eine (uns überraschende) passive, so gehen er- fahr ungsmässig von EO über 6^/ Reflexe aus, welche compen- sirende Bewegungen hervorbringen, was wir durch die gefiederten Pfeile andeuten. Betheiligt sich IVI nicht, und gelingt die Com- pensation, so fällt hiermit auch die Bewegung und die Forderung- einer Beweg'ungsempfindung weg. Wird aber die compensirende Bewegung von IVI aus (absichtlich) unterdrückt, so ist hierzu wieder dieselbe Innervation wie bei der activen Bewegung nöthig, und sie liefert auch wieder die gieiche Bew^egaingsempfindung.
Das Organ E O ist also zu IV I und UI so gestimmt, dass in den beiden letzteren mit denselben Bewegungsreiz des ersteren entgegengesetzte Innervationen zusammentreffen. Ausserdem haben wir aber noch folgende Verschiedenheit in der Beziehung' von EO z\i WI und UI zu bemerken. Für E O ist der Bewegungs- reiz natürlich derselbe, ob die eingeleitete Bewegung' eine passive oder active ist. Auch bei einer activen Bewegung würden die von WI ausgehenden Innervationen in ihrem Erfolg durch E O und £// aufgehoben, wenn nicht zugleich von WI mit der willkürlichen Innervation eine Hemmung nach EO oder UI ausginge. Den Einfluss von EO auf WI haben wir uns viel schwächer vorzu- stellen, als jenen auf UI. Denken wir uns etwa drei Thiere WI,
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UI und E O, welche die Arbeit so getheilt hätten, dass das erste nur iVngr iffs-, das zweite nur Abwehr- oder Fluchtbewegunge ausführte, während das dritte als Wächter aufgestellt wäre, mit einander zu einem neuen Wesen verbunden, wobei WI eine dominirende Stellung einnähme, so würde dies ungefähr dem dar- gestellten Verhältniss entsprechen. Es wird sich auch manches zu Gunsten einer derartigen Auffassung der höheren Thiere an- führen lassen ^).
Ich will das eben Ausgesprochene nicht für ein vollständiges und nach allen Seiten zutreffendes Bild der Thatsachen ausgeben, bin mir vielmehr der Mängel meiner Ausführung bewusst. Das dem entwickelten Hauptgrundsatz (S. 48) entsprechende Streben aber, alle Raum- und Bewegungsempfindungen, welche im Gebiete des Gesichts- und Tastsinnes, bei der Ortsbe- wegung, als Schatten selbst bei der Erinnerung an die Locomotion, beim Gedanken an einen fernen Ort u. s. w. auftreten, auf einerlei Empfindungsqualität zurückzu- führen, wird man gerechtfertigt finden. Die Annahme, dass diese Empfindungsqualität der Wille sei, soweit er sich auf Raumlage und räumliche Bewegung bezieht, oder die Innervation, präjudicirt der weitern Forschung- nicht, und stellt nur die Thatsachen dar, soweit sie bis jetzt bekannt sind ^).
15- Aus den Erörterungen des vorigen Kapitels über Symmetrie und Aehnlichkeit können wir ohne weiteres den Schluss ziehen, dass gleichen Richtungen gesehener Linien gleichartige Inner- vationen, zur Medianebene symmetrischen Linien sehr ähnliche
i) Wenn ich einen kleinen Vogel mit der Hand anfassen will, so benimmt er sich dieser Hand gegenüber gerade so, wie sich etwa ein Mensch gegen einen riesigen Tintenfisch verhalten würde. — Bei Betrachtung einer Gesellschaft kleiner Kinder, deren Bewegungen noch wenig überlegt und geübt sind, machen namentlich die Hände und die Augen sehr stark den Eindruck polypenartiger Wesen. Selbst- verständlich können solche Eindrücke keine wissenschaftliche Frage entscheiden, es kann aber sehr anregend sein, sich denselben zeitweilig hinzugeben.
2j Vcrgl. die Ansicht von Hering in Hermann's Handbuch der Physiologie, Bd. UJ, I. Tb., S. 547.
— 12,5 —
Innervationen, dem Blick nach oben und unten, in die Ferne und in diö Nähe aber sehr verschiedene Innervationen ent- sprechen, was nach den Symmetrieverhältnissen des motorischen Apparates der Augen grössentheils auch von vornherein zu er- warten ist. Hiermit allein ist schon eine ganze Reihe eigenthüm- licher physiologisch-optischer Phänomene aufklärt, die bisher kaum beachtet worden sind. Ich komme nun aber zu dem, nach physi- kalischer Schätzung wenigstens, wichtig'sten Punkt.
Der Raum des Geometers ist ein Vorstellungsgebilde von dreifacher Mannigfaltigkeit, welches sich auf Grundlage von manuellen und intellectuellen Operationen entwickelt hat. Der optische Raum (Herin g's Sehraum) steht in einer ziemlich com- plicirten geometrischen Verwandschaft zu dem vorigen. Man kann mit Hülfe bekannter Ausdrücke die Sache noch am besten darstellen, wenn man sagt, dass der optische Raum den geo- metrischen (Euklides'schen) in einer Art Reliefperspecti ve abbilde, w^as sich teleologisch auch erklären lässt. Jedenfalls ist aber auch der optische Raum eine dreifache Mannigfaltigkeit. Der Raum des Geometers zeigt in jedem Punkte und nach allen Richtungen dieselben Eigenschaften, was vom physiologischen Raum durchaus nicht gilt. Der Einfluss des physiologischen Raumes ist aber in der Geometrie noch vielfach zu bemerken. Wenn wirz. B. convexe und concave Krümmung unterscheiden, so ist dies ein solcher Fall. Der Geometer sollte eig"entlich nur die Abweichung vom Mittel der Ordinaten kennen.
i6. So lange man sich vorstellt, dass die (12) Augenmuskel ein- zeln innervirt werden, ist man' nicht im Stande die fundamentale Thatsache zu verstehen, dass der optische Raum als dreifache Mannigfaltigkeit sich darstellt. Ich habe diese Schwierigkeit Jahre lang gefühlt und auch die Richtung erkannt, in welcher nach dem Princip des Parallelismus des Physischen und Psychischen die Auf- klärung zu suchen ist; die Auflösung selbst blieb mir wegen mangel- hafter Erfahrung auf diesem Gebiet verborgen. Desto besser weiss
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ich Hering' s Verdienst zu schätzen, der dieselbe gefunden hat. Den drei optischen Raumcoordinanten, Höhen-, Breiten- und Tiefen- empfindung (Hering', Beiträge zur Physiologie. Leipzig, Engel- mann, 1861 — 65) entspricht nämlich nach den Ausführungen des- selben Forschers (Die Lehre vom binocularen Sehen. Leipzig, Eng'el- mann, 1868) auch nur eine dreifache Lmervation, welche be- ziehungsweise Rechts- oder Linkswendung, Erhebung oder Senkung und Convergenz der Augen hervorruft. Darin liegt für mich die wichtigste und wesentlichste Aufklärung ^). Ob man nun die Inner- vation selbst für die Raumempfindung- hält, oder sich vor oder hinter derselben erst die Raumempfindung- vorstellt, was sofort zu entscheiden weder leicht noch nothwendig sein dürfte, jedenfalls wirft die Hering'sche Darlegung ein ausgiebiges Licht in die psychische Tiefe des Sehprocesses. Auch die in Bezug- auf S3''mme- trie und Aehnlichkeit von mir ang-eführten Erscheinung-en füg-en sich dieser Auffassung sehr gut, was weiter auszuführen wohl unnöthig ist -).
i) Dies ist der Punkt, aut welchen oben (S. 97 Anmerkung i und S. 110) hin- gewiesen wurde.
2) Hiermit verschwindet auch die Schwierigkeit, die ich noch 187 1 empfand, und in meinem Vortag über ,,die Symmetrie", Prag, Calve (1872) mit den AVorten aussprach: ,,Wenn nun auch von Geburt Einäugige ein gewisses Gefühl für Symmetrie haben, so ist dies frcilicli ein Rätlisel. Freiiicli kann das Symmetriegefülif , wenn aucli zunäclist durcli die Augen erworben, niclit auf diese beschränkt bleiben. Es muss sich wohl auch noch in andern Theilen des Organismus durch mehrtausendjährige Uebung des Menschengeschlechtes festsetzen und kann dann niclit mit dem Verlust des einen Auges sofort wieder verschwinden." — In der That bleib t der symmetrische I nn er vationsap parat, auch wenn das eine Auge verloren geht.
VITL Der Wille.
Im Vorigen wurde vielfach der Ausdruck „Wille" gebraucht und es sollte damit nur ein allgemein bekanntes psychisches Phä- nomen bezeichnet werden. Ich verstehe unter dem Willen kein besonderes psychisches oder metaphysisches Agens, und nehme keine eigene psychische Causalität an. Ich bin vielmehr mit der überwiegenden Zahl der Physiologen und modernen Psycho- logen überzeugt, dass die Willenserscheinungen aus den organisch- physischen Kräften allein, wie wir kurz aber allgemein verständlich sagen wollen, begreiflich sein müssen. Ich würde dies als selbst- verständlich gar nicht besonders betonen, wenn nicht die Be- merkungen mancher Kritiker bewiesen hätten, dass es doch nöthig ist.
Die Beweg'ungen niederer Thiere, nicht minder die ersten Bewegungen der Neugebornen, werden unmittelbar durch den Reiz ausgelöst, erfolgen ganz maschinenmässig', sind Reflex- bewegungen. Auch in spätem Lebensstadien der höhern Thiere fehlen solche Reflexbewegungen nicht, und wenn wir Gelegenheit haben dieselben, etwa die Sehnenreflexe, an uns zum ersten Mal zu beobachten, so sind wir von denselben nicht minder überrascht, als von irgend einem unerwarteten Ereigniss in unserer Umg'ebung, Das beschriebene Verhalten des jungen Sperling's beruht auf Reflex- bewegungen. Das junge Hühnchen pickt ganz maschinenmässig nach allem, was es sieht, so wie das Kind nach allem Auffallen- den greift, und andererseits die Glieder vor jeder unangenehmen Berührung ohne Mitwirkung des Intellects zurückzieht. Es bestehen
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eben organische Einrichtungen, welche die Erhaltung des Organis- mus bedingen. Folgen 'wir den Ansichten von Hering über die lebendige Substanz, wonach diese dem Gleichgewicht der anta- gonistischen Vorgänge in derselben zustrebt, so müssen wir eine solche Erhaltungstendenz schon den Elementen der Organismen zuschreiben.
Sinnliche Reize können durch Erinnerungsbilder theil- weise oder ganz vertreten werden. Alle im Nervensystem zurück- bleibenden Gedächtnissspuren wirken mit den Sinnesempfindungen reflexauslösend, fördernd, hemmend, modificirend zusammen. So entsteht die willkürliche Beweg'ung", welche wir als eine durch Er- innerungen modificirte Reflexbewegung wenigstens im Princip begreifen können, soviel auch an dem Verständniss im Einzelnen noch fehlen mag. Das Kind, welches sich einmal an der glänzen- den Flamme gebrannt hat, ergreift dieselbe nicht mehr, weil der Angriffsreflex durch den antagonischen Fluchtreflex, welchen die Schmerzerinnerung auslöst, gehemmt ist. Das Hühnchen pickt anfangs nach allem, wählt aber bald unter dem Einflüsse der theils hemmenden, theils fördernden Geschmackserinnerung. Der allmäliche Uebergang der Reflexbewegung in die Willkürhandlung ist an unserm Sperling (S. 60) sehr schön zu verfolgen. Für das reflectirende Subject liegt das Characteristische der Willkürhandlung zum Unterschiede von der Reflexbewegung darin, dass es das Be- stimmende derselben in den eigenen Vorstellungen erkennt, welche diese Handlung aniticipiren (S. 78).
2.
Die psychischen Vorgänge, welche die Willkürhandlung, die willkürliche Bewegung begleiten, sind von W. James ^) und H. Münsterberg 2) vortrefflich analysirt worden. Es scheint eine einfache und natürliche Ansicht, dass die wirkliche Bewegung an die vorgestellte sich ebenso associirt, wie eine Vorstellung an die andere. Bezüglich der Emptindungen aber, der Art, des Aus-
i) James, Psycliologie, II, 486 ff'.
2) Münsterberg, Die Willenshandlung, 1888.
I 2 9 —
maasses, der Anstrengung der Bewegung, welche mit Ausführung der Bewegung verbunden sind, stehen sich zwei Ansichten gegen- über. Die eine von Bain, Wundt, Helmholtz u. A. ver- tretene nimmt an, dass die auf die Muskel abgehende Inner- vation selbst empfunden wird. Anderer Meinung sind James und Münsterberg. Sie halten alle kinästhetischen, die Be- wegung begleitenden Empfindungen für peripherisch durch sensible Elemente in der Haut, dem Muskel, den Gelenken erregt.
Gegen den centralen Ursprung der- kinästhetischen Em- pfindungen sprechen vor allem die Beobachtungen an Anästhe- tischen ^), welche bei Ausschluss der Sinnesempfindungen über die passive Bewegung ihrer Glieder nichts auszusagen wissen, obgleich sie dieselben unter Leitung des Gesichtssinnes zu bewegen ver- mögen. Die Anstrengung eines faradisirten Muskels empfinden wir gerade so, wie jene eines willkürlich innervirten ^). Die An- nahme besonderer Innervationsempfmdungen ist zur Erklärung der Erscheinungen unnöthig, daher nach dem Princip der Sparsamkeit zu vermeiden. Endlich werden solche Innervationsempfindungen auch nicht direct beobachtet. Eine besondere Schwierigkeit bilden gewisse optische Erscheinungen, auf die wir noch zurück- kommen.
Das Gesetz der Association verbindet nicht nur ins Bewusst- sein fallende Processe (Vorstellungen), sondern auch die verschie- denartigsten organischen Vorgänge. Wer in der Verlegenheit leicht erröthet, wer leicht an den Händen schwitzt u. s. w., be- obachtet diese Processe meist sofort an sich, sobald er an die- selben erinnert wird. Ein Blendungsbild, welches sich Newton^) zum Zwecke des Studiums durch Blicken in die Sonne verschafft hatte, verschwand zwar wieder, trat aber trotz mehrtägigen Aufenthalts im Dunkeln durch mehrere Monate hindurch immer wieder mit voller sinnlicher Intensität hervor, sobald er sich desselben erinnerte. Nur durch lange fortgesetzte gewaltsame
1) Jaraes, a. a. O. II, 489.
2) James, a. a. O. II, 502.
3) King's Life of Locke, 1830, Vol. I, p. 404. — Brewster, Memoirs of Newton, 1855, Vol. I, p. 236.
Mach, Analyse. 3. Aufl. "
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psychische Ablenkung konnte er die lästige Erscheinung wieder los werden. Eine ähnliche Beobachtung- theilt Boyle in seinem Buch über die Farben mit. Zusammengehalten mit diesen That- sachen erscheint die Association motorischer Processe an Vor- stellungen nicht befremdlich.
3- Durch einen apoplectischen Anfall, den ich ohne die geringste Bewusstseinstrübung erlitten habe, bin ich mit einem Theil der hier in Betracht kommenden Thatsachen vertraut geworden. Auf einer Eisenbahnfahrt merkte ich plötzlich, ohne sonstiges Uebel- befinden, eine vollständige Lähmung des rechten Armes und Beines, welche intermittirte, so dass ich mich zeitweilig anscheinend wieder ganz normal bewegen konnte. Nach einigen Stunden blieb dieselbe dauernd, und es gesellte sich auch eine Affection des rechten Fa- cialis hinzu, welche mir nur leises und etwas erschwertes Sprechen gestattete. Meinen Zustand während der Perioden der vollständigen Lähmung kann ich nur so bezeichnen, dass ich sage: ich fühlte keine Anstrengung- bei der Absicht die Glieder zu bewegen, konnte aber in keiner Weise den Willen zur Bewegung aufbringen. In den Perioden der unvollständigen Lähmung und in der Zeit der Reconvalescenz hingegen schienen mir Arm und Bein un- geheure Lasten, die ich mit der grössten Anstrengung erhob. Es scheint mir sehr plausibel, dass dies von der energischen Innervation anderer Muskelgruppen neben jenen der gelähmten Extremitäten herrührte ^). Die Sensibilität der gelähmten Glieder, mit Ausnahme einer Stelle am Schenkel, war vollständig erhalten, wodurch auch die Kenntniss der Lage und der passiven Be- wegung vermittelt wurde. Die Reflexerregbarkeit der gelähmten Glieder fand sich enorm gesteigert, was sich namentlich durch heftiges Zucken beim leichtesten Erschrecken äusserte. Die optischen und haptischen Bewegungsbilder verblieben im Gedächtniss. Sehr oft des Tages wollte ich mit der rechten Hand etwas verrichten und musste mich erst auf die Unmöglich- keit, dies zu thun, besinnen. Lebhafte Träume v^on Ciavierspielen
i) James, a. a. Ü. II, 503.
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und Schreiben, begleitet von Verwunderung, wie gut das wieder von Statten gehe und gefolgt von bitterer Enttäuschung beim Erwachen, sind auf dieselbe Quelle zurückzuführen. Auch motorische Hallucinationen kamen vor. Ich meinte oft ein Oeffnen und Schliessen der gelähmten Hand zu empfinden, wobei die Ex- cursionen wie durch einen weiten, aber steifen Handschuh ein- geschränkt schienen. Daraufsehen überzeugte mich aber, dass jede Spur von Bewegung fehlte. Ueber die Strecker dieser Hand habe ich noch jetzt (nach 3 Jahren) keine Herrschaft.
4.
Die Auffassung von James und Münsterberg schliesst sich diesen Thatsachen, wie ich glaube, ohne Zwang an, und wir dürfen sie daher im Wesentlichen für richtig halten. Nicht die Innervation wird empfunden, sondern die Folgen derselben setzen neue peripherische sensible Reize, welche an die Ausfüh- rung der Bewegung gebunden sind. Einige Schwierigkeiten hindern mich jedoch zu glauben, dass mit dieser Ansicht, welche ursprünglich auch die meinige ^) war, der Sachverhalt voll- ständig durchschaut ist.
Man sollte meinen, dass der centrale Process, welcher die blosse Vorstellung einer Bewegung bedingt, doch in etwas sich von demjenigen unterscheiden müsste, der auch eine wirkliche Bewegung auslöst. Allerdings kann die Stärke des Processes, das Fehlen antagonistischer Vorgänge, die Ladung der Inner- vationscentren, mitbestimmend sein, doch wird man ein Bedürfniss nach weiterer Aufklärung kaum in Abrede stellen. Insbesondere muss der Unterschied im Verhalten der Augenmuskel und der übrigen willkürlich erregbaren Muskel näher untersucht werden. Die meisten Muskel haben variable Arbeiten zu verrichten, deren Betrag ungefähr zu kennen für uns von praktischer Wichtigheit ist. Die Arbeit der Augenmuskel ist im Gegentheil nur gering und immer genau an die Stellung der Augen gebunden, welche letztere allein von optischer Bedeutung ist, während die Arbeit
I) Bevor mir die Erscheinungen bei Lähmung der Augenmuskel bekannt waren
(vor 1863),
9*
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als solche gleichgültig ist. Daher mögen die kin ästhetischen Empfindungen bei den Muskeln der , Extremitäten eine so viel grössere Rolle spielen.
5- Von wie geringer Bedeutung die von den Augenmuskeln aus- gehenden Empfindungen sind, hat Hering i) g'ezeigt. Gewöhnlich achten wir kaum auf die Bewegungen unserer Augen, und die Lage der Objecto im Räume bleibt von dieser Bewegung un- beeinflusst. Stellt man sich zw^ei mit den beweglichen Netzhäuten sich deckende Kugelflächen vor, welche im Räume fest bleiben, während sich die Netzhäute drehen, so könnte man bei flüchtiger Ueberlegung sogar glauben, dass die Raumwerthe der gesehenen Objecto nur durch die beiden Abbildungsorte auf den festen Kugeln bestimmt seien. DieS. loi erwähnten Thatsachen nöthigen aber, diese Raumwerthe in zwei Componenten zu zerlegen, deren eine von den Coordinaten des Bildpunktes auf der Netzhaut, deren andere von den Coordinaten des Blickpunktes abhängt, und welche Componenten bei willkürlichen Aenderungen des Blickpunktes sich gegenseitig compensirende Aenderungen erfahren -). Wenn man nun eine Empfindung- der Innervation nicht annimmt, den peripherisch erregten kinästhetischen Empfindungen der Augen- muskel aber die Bedeutung abspricht, so bleibt allerdings nur übrig, (mit Hering) den Ort der Aufmerksamkeit als durch einen bestimmten psychoph3^sischen Process bedingt anzusehen, der zugleich das physische Moment ist, welches die entsprechende Innervation der Augen- muskel auslöst^). Dieser Process ist aber doch ein centraler, und die „Aufmerksamkeit" von dem „Willen zu sehen" doch kaum
1) Hering in Hermann's Handbuch der Physiologie, III, i, 547. Vgl. auch Hillebrand, Verhältniss der Accomodation und Convergenz zur Tiefeniocalisation. Zeitschr. f. Psych, u. Phys. d. Sinnesorgane, VII, S. 97 fg.
2) Vgl. S. 94; Hering, a. a. O. 533, 534. — Ob die Ansieht, dass die Aenderung der Raumwerthe sofort mit dem Wechsel der Aufmerksamkeit vollzogen ist, mit der S. 103 — 4 erwähnten Thatsache in Einklang gebracht werden kann, vermag ich jetzt nicht zu entscheiden.
3) Hering, a. a. O. 547, 548,
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verschieden. Somit könnte ich meinen Ausdruck S. 103 im Wesent- lichen doch festhalten, denn welcher von der Reihe der vom Centrum aus erregten und ablaufenden Processe in die Empfindung eingeht, kann für manche Frage zunächst dahingestellt bleiben.
6.
In der S. 123 versuchten Erklärung könnte man nach dem Obigen die beiden antagonistischen Innervationen durch zwei antagonistische Aufmerksamkeitsprocesse ersetzen, einen durch den sensiblen Reiz und einen central erregten. Der von James ^) vorgebrachten Erklärung der Erscheinungen bei Augen- muskellähmungen, welche wenigstens in der Form in das be- denkliche Fahrwasser der „unbewussten Schlüsse" einzulenken scheint, könnte ich nicht zustimmen. Es handelt sich in dem fraglichen Fall wohl um Empfindungen und nicht um die Er- gebnisse der Ueberlegung.
Die Augenmuskel dienen nur der räumlichen Orientirung, die Muskel der Glieder vorzugsweise der mechanischen Arbeit. Es liegen also hier zwei extreme Fälle vor, zMdschen welchen es auch Mittelfälle geben wird. Sieht man das neugeborene Hühn- chen mit voller Sicherheit picken und treffen, so kann man wohl glauben, dass dessen Kopf- und Halsmuskel sich einigermaassen ähnlich wie die Augenmuskel, als räumlicher Orientirungsapparat, verhalten. Die zuckenden Kopfbewegungen vorwärtsschreitender Vögel werden wohl wie die nystagmischen Kopfwendungen bei Drehung im Interesse der Orientirung ausgeführt. Ganz ohne Analogie" zu den Augenmuskeln werden auch die Muskel der Extremitäten nicht sein. Wie sollten wir sonst die haptische Raumvorstellung des Blinden verstehen? Es ist doch schwer, eine nativistische Theorie des Sehraumes mit einer empiristischen Theorie des Tastraumes zu vereinigen -).
i) James, a. a. O. II, 506.
2) Vgl. S. 107, Anm. 2 u. S. i ro.
IX. Eine biologisch-teleologische Betrachtung über den Raum ^).
Es ist schon wiederholt darauf hingewiesen worden, wie sehr sich das S3^stem unserer Raumempfindungen, der physiolo- gische Raum, wenn wir so sagen dürfen, von dem geometrischen Raum (wir meinen hier den Euklidischen Raum) unterscheidet. Dies gilt nicht nur für den Sehraum, sondern auch für den hap- tischen Raum des Blinden im Vergleich zum geometrischen Raum. Der geometrische Raum ist überall und nach allen Richtungen gleich beschaffen, unbegrenzt und unendlich (im Riemannschen Sinne). Der Sehraum ist begrenzt und endlich, ja sogar, wie der Anblick des abgeplatteten „Himmelsgewölbes" lehrt, in verschiedener Richtvmg von ungleicher Ausdehnung. Durch das Schrumpfen der Körper bei Entfernung, durch das vSchwellen bei Annäherung" derselben gleicht, der Sehraum viel mehr manchen Gebilden der Metag-eometer als dem Euklidischen Raum. Die Verschiedenheit des „oben" und „unten", des „vorn" und „hinten", genau genommen auch des „rechts" und „links", theilt der haptische Raum mit dem Sehraum. Solche Unter- schiede fehlen im geometrischen Raum. Der physiologische
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i) Dieser Gegenstand kann hier nicht avisführlich erörtert werden. Ich ver- weise auf meine Artikel in „The Monist", von welchen der erste im April 1901 erschienen ist. — Die hier angedeuteten physiologischen Betrachtungen sind zum Theil mit jenen Wiassaks verwandt, welche er am Schluss seines schönen Referates „über die statischen Functionen des Ohrlabyrinthes" (Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie XVII, i, S. 28) mittheilt, nur nehme ich nicht eine sondern zwei Reactioncn auf die betreffenden Reize an. Vgl. auch die oben citirten Stellen von Hering und James, Psychology II, S. 134 u. f.
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Raum verhält sich zum geometrischen für den Menschen und die Thiere von ähnHchem Bau ungefähr wie ein triklines zu einem tesseralen Medium. Dies gilt für Menschen und Thiere, so lange diesen nicht die Freiheit der Bewegung und der Orien- tirung zukommt. Mit der Beweglichkeit nähert sich der physio- logische Raum dem Euklidischen, ohne ihn jedoch in der Ein- fachheit seiner Eigenschaften vollständig zu erreichen. Mit dem geometrischen Raum hat der physiologische gemein die drei- fache Mannigfaltigkeit und die Continuität. Der stetigen Be- wegung eines Punktes A im geometrischen Raum entspricht eine eben solche des Punktes A' im physiologischen Raum. Es genügt auf die Schwierigkeit hinzuweisen, welche die Lehre von den Antipoden zu überwinden hatte, um zu zeigen, dass geome- trische Raum Vorstellungen durch physiologische getrübt werden können. Auch unsere abstracteste Geometrie bedient sich nicht rein metrischer Begriffe, sondern verwendet noch physiologische Vorstellungen, wie Richtung, Sinn, rechts, links u. s. w.
Um Physiologisches und Geometrisches reinlich zu sondern, haben wir zu bedenken, dass unsere Raumempfindungen be- stimmt sind durch die Abhängigkeit der Elemente, die wir ABC . . . genannt haben, von Elementen unseres Leibes KLM . . ., dass aber die geometrischen Begriffe sich ergeben durch räumliche Vergleichung der Körper, durch die Beziehungen
der ABC . . . untereinander.
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2.
Betrachten wir die Raumempfindungen nicht als isolirte Erscheinungen, sondern in ihrem biologischen Zusammenhang, in ihrer biologischen Function, so werden dieselben, teleologisch wenigstens, verständlicher. Sobald ein Organ oder ein System von Organen gereizt wird, treten reflectorisch, als Reaction, im allgemeinen zweckmässige Bewegungen ein, welche je nach der Art des Reizes Abwehr- oder Angriffsbewegungen sein können. Einem Frosch mögen z. B. nacheinander verschiedene Haut- stellen durch Säuretropfen gereizt werden. Er wird auf jede
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Reizung mit einer specifischen, der gereizten Stelle entsprechen- den Abwehrbewegung antworten. Reizung der Netzhautstellen lösen den ebenso specificirten Schnappreflex aus. Das heisst: Auf verschiedenen Wegen in den Organismus eintretende Ver- änderungen pflanzen sich auch nach aussen wieder auf ver- schiedenen Wegen in die Umgebung' des Thieres fort. Sollen nun derartige Reactionen bei complicirteren Lebensbedingungen auch spontan, d. h. auf einen leisen Anstoss hin, durch Erinne- rung eintreten, und durch Erinnerungen modificirbar sein, so müssen Spuren, welche der Art des Reizes und den gereizten Organen entsprechen, im Gedächtniss zurückbleiben. Wie die Selbstbeobachtung lehrt, erkennen wir nicht nur die Gleichheit der Reizqualität des Brennens, welche Stelle auch davon betroffen sei, sondern unterscheiden zugleich auch die gereizten Stellen. Wir dürfen also annehmen, dass der qualitativ gieichen Empfin- dung ein diff er enter Bestandtheil anhaftet, der von der spe- zifischen Natur des gereizten Elementarorgans, von der gereizten Stelle, oder mit Hering zu reden von dem Ort der Aufmerk- samkeit abhängt. So gewinnt also jedes Sinnesgebiet sein eigenes Gedächtniss mit seiner eigenen räumlichen Ordnung. Die intime gegenseitige biologische Anpassung einer Vielheit von zusammenhängenden Elementarorganen kommt eben in der Raumwahrnehmung besonders deutlich zum Ausdruck.
3- Wir nehmen bloss eine Art von Bewusstseinselementen an: Empfindungen. vSofern wir räumlich wahrnehmen, beruht dies nach unserer Auffassung auf Empfindungen. Welcher Art diese Empfindungen sind, und welche Organe hierbei thätig werden, müssen wir dahin gestellt sein lassen. Wir denken uns ein System von Elementarorganen gemeinsamer embryologischer Ab- stammung natürlich so angeordnet, dass die benachbarten Ele- mente die grösste ontogenetische Verwandtschaft aufweisen, dass diese aber mit deren Entfernung abnimmt. Die von der Indivi- dualität des Organs allein abhängige Organempfindung, welche
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dem Verwandtschaftsgrade parallel variirt, soll der Räum- ern pfindnng entsprechen, von welcher wir die von der Reiz- qualität abhängige Empfindung als Sinnesempfindung unter- scheiden. Organempfindung-en und Sinnesempfindungen können nur miteinander auftreten i). Die sich gleichbleibenden Organ- empfindungen bilden aber den variirenden Sinnesenipfindungen gegenüber bald ein festes Register, in welches letztere ein- geordnet werden. Wir machen hier über die Elementarorgane nur ähnliche Voraussetzungen, wie wir sie in Bezug auf getrennte Individuen gieicher Abstammung, aber verschiedenen Grades der Verwandtschaft, natürlich finden würden.
4-
Die Raumwahrnehmung ist aus dem biologischen ßedürfniss hervorgegangen, und wird auch aus diesem am besten zu ver- stehen sein. Ein unendliches System von Raumempfindungen wäre für den Organismus nicht nur zwecklos, sondern auch physikalisch und physiologisch unmöglich. Werthlos wären auch gegen den Leib nicht orientirte Raumempfindungen. Vortheil- haft ist auch, dass der Sehraum für nähere, biologisch wichtigere Objecte die Empfindungsindices stärker abstuft, während dafür in Bezug auf fernere, weniger wichtig'e Objecte mit dem be- grenzten Vorrath der Indices gespart wird. Auch ist dies Ver- hältniss das einzig physikalisch mögliche.
Die motorische Organisation des Sehapparates wird durch folgende Ueberlegung verständlich. Die grössere Deutlichkeit, feinere Unterscheidung an einer Netzhautstelle des Wirbelthier- auges ist eine ökonomische Einrichtung. Hiemit ist eine dem Wechsel der Aufmerksamkeit folgende Bewegung der Augen ebenso als vortheilhaft, wie ein (irreführender) Einfluss der willkürlichen Augenbewegung auf die von ruhenden Objecten ausgelöste Raumempfindung als nachtheilig erkannt. Die Bild- verschiebung auf der ruhenden Netzhaut, die Objectbewegung
l) So werden auch die innern Organe erst dann empfunden und localisirt, wenn deren Gleichgewichtszustand überhaupt gestört wird.
— 138 -
bei ruhendem Blick zu erkennen, ist jedoch eine biologische Noth- wendig-keit. Unnötliig war es nur für den Organismus, die Wahr- nehmung der Ruhe des Objectes auch in dem sehr seUenen FaH zu sichern, dass das Auge durch einen bewusstseinfremden Um- stand (eine äussere mechanische Kraft, Muskelzucken) bewegt wird. Die obigen Forderungen sind nur zu vereinigen, indem bei willkürlicher Augenbewegung die derselben entsprechende Bildverschiebung auf der Netzhaut in Bezug auf den Raumwerth durch die willkürliche Bewegung eben compensirt wird. Hieraus folgt aber, dass bei festgehaltenem Auge die ruhenden Objecte durch die blosse Bewegungsintention des Auges eine Ver- schiebung im Sehraum erfahren müssen. Durch das betreffende Ex- periment (S. 102) ist auch die zweite der beiden sich compensiren- den Componenten direkt nachgewiesen. Auf diesen organischen Einrichtungen beruht es, dass wir unter besonderen Umständen mit ruhendem Auge ruhende Objecte bewegt, mit fliessenden Raumwerthen sehen, dass wir bewegte Körper sehen, die doch ihre relative Lage gegen unsern Leib nicht ändern, die sich weder entfernen oder nähern. Was aber unter diesen besondern Umständen paradox erscheint, hat unter den gewöhnlichen, der spontanen Locomotion, seine hohe biologische Wichtigkeit.
Die Verhältnisse des haptischen Raumes sind von gewissen Eigenthümlichkeiten abgesehen ganz ähnliche, wie jene des Seh- raums. Der Tastsinn ist kein P^ernsinn, womit das perspectivische Schrumpfen und vSchwellen der Tastobjecte entfällt. Sonst aber begegnen wir hier verwandten Erscheinungen. Der Macula lutea entsprechen die Fingerspitzen. Wir wissen es ganz wohl zu unter- scheiden, ob wir mit den Fingerspitzen über ein ruhendes Object hinstreichen, oder ob sich ein Object über die ruhenden Finger- spitzen hinbewegt. Auch die analogen paradoxen Erscheinungen bei Drehschwindel treten hier ein. Sie waren schon Purkinje bekam nt.
5- Allgemein biologische Erwägungen drängen zu einer homogenen Auffassung des optischen und haptischen Raumes.
— 139 —
Ein neugeborenes Hühnchen bemerkt ein kleines Object und blickt und pickt sofort nach demselben. Durch den Reiz wird ein gewisses Gebiet des Sinnesorgans und des Centralorgans er- regt, wodurch ganz automatisch sowohl die Blickbewegung der Augenmuskel, als auch die Pickbewegung- der Kopf- und Hals- muskel ausgelöst wird. Die Erregung desselben Nervengebietes, das einerseits durch den geometrischen Ort des physikalischen Reizes bestimmt ist, muss andererseits als die Grundlag'e der Raumempfindung angesehen werden. Aehnlich wie jenes Hühn- chen verhält sich auch ein Kind, das einen glänzenden Gegen- stand bemerkt, nach demselben blickt und greift. Ausser dem optischen Reizen können auch andere Reize, akustische, thermische, Geruchsreize, selbstverständlich auch bei Blinden, Greif- oder Abwehrbewegungen auslösen. Denselben Bewegungen werden auch dieselben Reizstellen und dieselben Raumempfindungen ent- sprechen. Die den Blinden erregenden Reize sind nur im all- gemeinen auf einen engeren Umkreis beschränkt und von weniger scharfer Ortsbestimmung. Daher wird auch das System seiner Raumempfindungen etwas dürftiger und verschwommener sein, und bei Mangel besonderer Erziehung auch bleiben, Man denke etwa an einen Blinden, der eine ihn umschwirrende Wespe abwehrt.
Es müssen, wenn auch nahe liegende, doch zum Theil ver- schiedene Gebiete des Centralorgans in Anspruch genommen werden, je nachdem mich ein Object reizt, demselben den Blick zuzuwenden, oder dasselbe zu ergreifen. Geschieht beides zu- gleich, so ist das Gebiet natürlich grösser. Aus biologischen Gründen werden wir erwarten, dass die zwar verwandten, wenn auch nicht identischen, Ranmempfindungen verschiedener Sinnes- gebiete associativ verschmelzen, und sich gegenseitig unterstützen, wie es in der That der Fall ist.
Hiemit ist das Gebiet der Erscheinungen, welche uns an- gehen nicht erschöpft. Ein Hühnchen kann nach einem Object blicken, nach demselben picken, oder durch den Reiz sogar be- stimmt werden, sich hinzuwenden, hinzulaufen. Ein Kind,
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das nach einem Ziel kriecht, das dann eines Tages aufsteht und mit einigen Schritten auf das Ziel zuläuft, verhält sich ebenso. Wir werden alle diese Fälle, welche allmälig in einander über- gehn, in homogener Weise auffassen müssen. Es werden wohl immer gewisse Hirntheile sein, welche in verhältnissmässig ein- facher Weise gereizt, einerseits die Raumempfindungen bestimmen, anderseits die zuweilen recht complicirten automatischen Be-; wegungen auslösen. Optische, thermische, akustische, chemische, galvanische Reize können zu ausgiebiger Locomotion und Aenderung der Orientirung anregen, und diese kann auch bei Thieren, die von Haus aus oder durch Rückbildung blind sind, eingeleitet werden.
.6. Wenn man einen gleichförmig dahin kriechenden Tausend- fuss (Julus) beobachtet, kann man sich des Gedankens nicht er- wehren, dass von irgend einem Organ desselben ein gleich- massiger Reizstrom ausgeht, der von den Bewegungsorganen der aufeinanderfolgenden Leibessegmente mit rhythmischen auto- matischen Bewegungen beantwortet wird. Durch den Phasen- unterschied der hinteren Segmente gegen die vorderen entsteht die Longitudinalwelle, welche mit maschinenmässiger Regelmässig- keit durch die Füsschen des Thieres dahinzuziehen scheint. Analoge Vorgänge bei höher organisirten Thieren können nicht fehlen, und fehlen auch nicht. Wir weisen nur auf die Er- scheinungen bei Labyrinthreizungen hin, z. B. auf die bekannten nystagmischen Augenbewegungen, welche bei activer und passiver Drehung ausgelöst werden. Gibt es nun Organe, wie bei jenem Tausendfuss, durch deren einfache Reizung- die complizirten Bewegungen einer bestimmten Art von Locomotion eingeleitet werden, so kann man diese einfache Reizung, falls sie bewusst ist, als den Willen zu dieser Locomotion ansehn, oder als die Aufmerksamkeit auf diese Locomotion, welche von selbst letztere nach sich zieht. Zugleich erkennt man es als ein Be- dürfniss des Organismus, den Effect der Locomotion in ent- sprechend einfacher Weise zu empfinden. In der That er-
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scheinen jetzt die Gesichts- und Tastobjecte mit varriirenden, fliessenden Raumwerthen, anstatt mit stabilen. Auch bei mög- lichstem Ausschluss von Gesichts- und Tastempfindungen bleiben Beschleunigungsempfindungen übrig, welche Bilder varriiren- der Raumwerthe, mit welchen sie oft verknüpft waren, associativ hervorrufen. Zwischen dem Anfangs- und Endglied des Processes liegen die Empfindungen der bewegten Extremitäten, die aber gewöhnlich nur bei Eintritt eines Hindernisses, welches zu Modi- fication der Bewegung nöthigt, zu vollem Bewusstsein kommen. Während der als Ganzes unbewegte Mensch nur begrenzte, örtlich individuelle, und in Bezug auf seinen Leib orientirte Raumempfindung-en kennt, haben die bei Locomotion und Aenderung der Orientirung auftretenden Sensationen den Character der Gleichmässigkeit und Unerschöpflichkeit. Erst auf Grund aller dieser Erfahrungen kann eine Raumvorstellung sich bilden, die der Euklidischen sich nähert. Abgesehen davon, dass die erstere nur Uebereinstimmungen und Verschiedenheiten, keine Grössen, keine metrischen Bestimmungen kennt, wird die absolute Gleichförmigkeit der letzteren wegen der Hindernisse, die sich einer dauernden und ausgiebigen Desorientirung gegen die Verti- cale in den Weg stellen, nicht vollkommen erreicht.
7- Für den thierischen Organismus sind zunächst die Be- ziehungen der Theile des eigenen Leibes zu einander von der höchsten Wichtigkeit. Fremdes erhält nur dadurch Werth, dass es zu Leibestheilen in Beziehung steht. Der niedrigsten Organisa- tion genügen die Empfindungen, darunter die Raumempfindungen, zur Anpassung an die primitiven Lebensbedingungen. Werden aber diese Lebensbedingungen complicirter, so drängen sie zur Entwicklung des Intellects. Dann gewinnen die Beziehungen jener Functional-Complexe von Elementen (Empfindungen) zu einander, die wir Körper nennen, ein indirectes Interesse. Der räumlichen Vergleichung der Körper untereinander ent- springt die (Tcometrie.
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Förderlich für das Verständniss der Entwicklung" der Geometrie ist die Bemerkung, dass sich das unmittelbare Interesse nicht an die räumlichen Eigenschaften allein, sondern an den ganzen beständigen Complex von (materiellen) Eigen- schaften knüpft, welcher für die Bedürfnissbefriedigung' von Wichtigkeit ist. Formen, Lagen, Entfernungen,. Ausdehnungen der Körper sind aber massg'ebend für den Modus und die Quantität der Bedürfnissbefriedigung. Die blosse Wahrnehmung (Schätzung, Augenmass, Erinnerung) erweist sich als zu sehr beeinflusst von schwer controlirbaren physiologischen Umständen, um darauf zu bauen, wenn es sich um das g'enaue Urtheil über das räumliche Verhalten der Körper g-egen ein ander handelt. Wir sind daher genöthigt nach zuverlässigem Merkmalen an den Körper selbst zu suchen.
Die tägliche Erfahrung lehrt uns die Beständigkeit der Körper kennen. Unter gewöhnlichen Umständen erstreckt sich diese Beständigkeit auch auf einzelne Eigenschaften: Farbe, Ge- stalt, Ausdehnung u. s. w. Wir lernen starre Körper kennen, die trotz ihrer Beweglichkeit im Räume, sobald sie nur zu un- serem Leib in ein bestimmtes Verhältniss gebracht werden, beim Beschauen und Betasten immer wieder dieselben Raumempfindungen auslösen. Diese Körper bieten räumliche Substanzialität ^) dar, sie bleiben räumlich constant, identisch. Kann man einen starren Körper A mit einem andern starren Körper B, oder mit dessen Theilen, unmittelbar oder mittelbar zur räumlichen Deckung bringen, so bleibt dies Verhältniss immer und überall bestehen. Mann sagt dann der Körper B werde durch den Körper A ge- messen. Bei dieser Vergleichung der Körper miteinander kommt es auf die Art der Raumempfindungen gar nicht mehr an, sondern nur mehr auf die Beurtheilung ihrer Identität unter gleichen Umständen, die mit grosser Genauigkeit und Sicherheit
i) Diese Einsicht war gewiss ein Privatbesitz unzähliger Geometer. In der ganzen Anlage der Geometrie Euklids tritt sie deutlich hervor, noch klarer bei Leibnitz, besonders in dessen ,, geometrischer Characteristik". Doch hat erst Helm - liollz eine (if fen tl iche Discussion darübei' angeregt.
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stattfindet. In der That verschwinden die Schwankungen in den Ergebnissen der Messung gegen jene der unmittelbaren räumlichen Beurtheilung neben oder nacheinander dargebotener Körper, worin eben der Vorzug und die rationelle Begründung dieses Verfahrens liegt. Statt der individuellen Hände und Füsse, die jeder mit sich herumführt, ohne eine merkliche räumliche Aenderung an den- selben wahrzunehmen, wird bald ein allgemein zugänglicher Massstab gewählt, welcher die Bedingung der Unveiänderlichkeit in höherem Masse erfüllt, womit eine Aera grösserer Genauigkeit eingeleitet ist.
8. Alle geometrischen Aufgaben kommen auf Auszählung zu ermittelnder Räume durch gleiche bekannte Körper hinaus. Hohlmasse für Flüssigkeiten oder für eine Menge nahe gleicher dichtliegender Körper, dürften wohl die ältesten Masse sein. Das Volumen der Körper (die Menge der materiell erfüllten Orte), welches beim Erblicken und Ergreifen bekannter Körper instinktiv vorgestellt wird, kommt als Quantität der materiellen bedürfnissbefriedigenden Eigenschaften in Betracht, und bildet als solches ein Streitobject. Die Messung der P'läche hat ur- sprünglich auch keinen andern Sinn, als die Ermittlung der Menge gleicher dichtliegender Körper, welche dieselbe bedecken. Die Län g-enmessung, Auszählung durch gleiche Schnur- oder Kettentheile, bestimmt ein Minimalvolumen, welches in einzig- artiger Weise zwischen zwei Punkten (sehr kleinen Körpern) ein- geschaltet werden kann. Sieht man hiebei von einer oder zwei Dimensionen der Masskörper ab, beziehungsweise setzt man die- selben überall constant aber unendlich klein, so gelangt man zu den idealisirten Vorstellungen der Geometrie.
9-
Die Raumanschauung wird durch das Experiment mit
körperlichen Objecten bereichert, indem sich an dieselbe
metrische Erfahrungen knüpfen, welche die Raumanschauung für
sich allein nicht zu g-ewinnen vermag. So lernen wir metrische
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Eigenschaften längst bekannter Formen, wie der Geraden, der Ebene, des Kreises u. s. w. kennen. Die Erfahrung hat auch, nach dem Zeugniss der Geschichte, zuerst zur Kenntniss gewisser geometrischen Sätze g'eführt, und gezeigt, dass durch gewisse Masse eines Objectes andere Masse desselben Objectes mit- bestimmt sind. Die wissenschaftliche Geometrie stellte sich die ökonomische Aufgabe, die Abhängig'keit der Masse von ein- ander zu ermitteln, überflüssige Messungen zu ersparen, und die einfachsten geometrischen Thatsachen aufzusuchen, durch welche die andern als deren logische Folgen geg'eben sind. Da wir in Gedanken nicht die Natur, sondern nur unsere eigenen einfachen logischen Gebilde beherrschen, so mussten zu diesem Zwecke die geometrischen Grunderfahrungen begrifflich idealisirt werden. Nun steht nichts im Wege, in der anschaulichen Vorstellung- vor- schreitend, welche man an jene idealisirten Erfahrungen gebunden denkt, im Gedankenexperiment, geometrische Sätze wiederzufinden. Man verhält sich da durchaus analog, wie in jeder Naturwissen- schaft. Die Grunderfahrungen der Geometrie reduciren sich nur auf ein solches Minimum, dass man sie nur allzuleicht übersieht. Man stellt sich Körper über Schatten oder Gespenster von Kör- pern hinbewegt vor, und hält hiebei in Gedanken fest, dass hiebei die Abmessungen, wenn man sie ausführen würde, sich nicht ändern. Die physischen Körper entsprechen den Folge- rungen soweit, als sie den Voraussetzungen genügten.
Anschauung, physikalische Erfahrung und begTiffliche Ideali- sirung, sind also die drei Momente, welche in der wissenschaft- lichen Geometrie zusammenwirken. Die Ueber- oder Unter- schätzung des einen oder anderen Momentes hat, die weit diver- girenden Ansichten verschiedener Forscher über die Natur der Geometrie veranlasst. Nur die g"enaue Sonderung des Antheiles eines jeden dieser Momente beim Aufbau der Geometrie kann eine richtige Auffassung begründen. Unsere im Interesse der raschen Locomotion erworbene anatomisch-motorisch-symmetrische Organisation bewirkt z. B., dass die Anschauung uns die beiden Flälften eines räumlichen symmetrischen Gebildes als aequi-
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valent erscheinen lässt, was sie in physikalisch-geome- trischer Hinsicht keineswegs sind, da sie nicht zur Congruenz gebracht werden können. Physikahsch sind sie so wenig äqui- valent, als eine Bewegung" der entgegengesetzten, eine Rotation der gegensinnigen äquivalent ist. Kants darauf bezügliche Para- doxen rühren von einer ungenügenden Trennung der in Betracht kommenden Momente her.
Mach, Analyse. 3. Aufl. 10
X. Beziehungen der Gesichtsempfindungen zu einander und zu anderen psychischen Elementen.
I.
Die Gesichtsempfindungen treten im normalen psychichen Leben nicht isolirt auf, sondern mit den Empfindungen anderer Sinne verknüpft. Wir sehen nicht optische Bilder in einem optischen Raum, sondern wir nehmen die uns umgebenden Körper mit ihren mannigfaltigen sinnlichen Eig'enschaften wahr. Erst die absichtliche Analyse löst aus diesen Complexen die Gesichts- empfindungen heraus. Allein auch die Wahrnehmungen ins- gesammt kommen fast nur mit Gedanken, Wünschen, Trieben verknüpft vor. Durch die Sinnesempfindungen werden die den Lebensbedingungen entsprechenden Anpassungsbewegungen der Thiere ausgelöst. Sind diese Lebensbedingungen einfach, wenig und langsam veränderlich, so wird die unmittelbare Auslösung durch die Sinne zureichen. Höhere intellectuelle Entwicklung' wird unnöthig sein. Anders ist dies bei sehr mannigfaltigen und veränderlichen Lebensbedingungen. Ein so einfacher An- passungsmechanismus kann sich da nicht entwickeln, noch weniger zum Ziele führen.
Niedere Thiere verschlingen alles, was in ihre Nähe kommt, und den entsprechenden Reiz ausübt. Ein höher entwickeltes Thier muss seine Nahrung mit Gefahren suchen, die gefundene geschickt fassen oder listig fangen, und vorsichtig prüfen. Ganze Reihen von verschiedenen Erinnerungen müssen vorbeiziehen, bevor eine den widerstreitenden gegenüber stark genug wird, die entsprechende Bewegung auszulösen. Liier muss cdso eine
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die Anpassungsbewegungen mitbestimmende Summe von Er- innerungen (oder Erfahrungen) den Sinnesempfindungen gegen- überstehen. Darin besteht der Intellect.
Bei hölieren Thieren mit complicirten Lebensbedingungen sind in der Jug'end die Complexe von Sinnesempfindungen, welche die Anpassungsbeweg'ung'en auslösen, oft sehr zusammen- gesetzt. Das Saugen der jungen Säugethiere, das S. 60 be- schriebene Verhalten des jungen Sperling's sind passende Beispiele hiefür. Mit der Entwicklung- der Intelligenz werden immer kleinere Theile dieser Complexe zur Auslösung hinreichend, und die Sinnesempfindungen werden immer mehr und mehr durch den Intellect ergänzt und ersetzt, wie sich dies an Kindern und heranwachsenden Thieren täglich constatiren lässt.
In der Auflage von 1886 habe ich in einer Anmerkung vor der damals noch verbreiteten Ueberschätzung der Intelligenz der niederen Thiere gewarnt. Meine Ansicht beruhte nur auf ge- legentlichen Beobachtung-en über die maschinenmässige Bewegung von Käfern, den Lichtflug der Motten u. s. w. Seither sind die wichtigen Arbeiten von J. Loeb erschienen, welche die Ansicht auf eine solide experimentelle Basis gestellt haben. Man ist gegenwärtig eher geneigt, die niederen Thiere als Maschinen im Descartesschen Sinne aufzufassen. Die Interpretation, welche A. Bethe ') seinen interssanten Beobachtungen und Experimenten über Ameisen und Bienen gibt, werden allerdings von Wasmann 2) und H. V. Buttel-Reepen^) bestritten, allein es scheint auf beiden Seiten vielleicht doch etwas Vorurtheil im Spiel zu sein. Ich kenne manche der überraschenden Thatsachen, die Bethe •^) beschreibt,
i) Dürfen wir den Ameisen und Bienen psychische Qualitäten zuschreiben? Pilügers Archiv, Bd. 70, S. 17. — Noch einmal über die psychischen Qualitäten der Ameisen. Ebendaselbst Bd. 79, S. 39.
2) Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen. Stuttgart 1899.
3) Sind die Bienen Reflexmaschinen? Leipzig 1900.
4) Hiezu gehören die Ei scheinungen der Desorientirung bei geringer Verdrehung des Flugloches. Bei stärkerer Verschiebung des Hausthores würde ja auch „homo sapiens" sich etwas desorienlirt fühlen. — Ich halte es nicht für unmöglich, dass weitere Experimente im Sinne Bethes sogar zu neuen physikalischen Aufschlüssen
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aus eigener Anschauung, da ich in meiner Jugend Gelegenheit hatte Bienen zu beobachten. Der Eindruck des Maschinenmässigen ist überwiegend. Es scheint mir aber unmöglich die Mitwirkung eines rudimentären Gedächtnisses ganz auszuschhessen. Das Streben die Thatsachen im Sinne von Beer, Bethe und Uexküll voraussetzungslos zu beschreiben und einfach zwischen modifizir- baren und nicht modifizirbaren Reactionen zu unterscheiden, ist gewiss nur zu billigen ^). Dass es aber absolut unmodifizierbare Reflexe überhaupt gibt, kann ich nicht recht glauben. Auf die Abnahme des Gedächtnisses, oder der Fähigkeit Erfahrungen zu machen, die man beim Hinabsteigen in der Thierreihe beobachtet, habe ich anderwärts hingewiesen -).
2.
Die Vorstellungen haben also die Sinnesempfindungen, soweit sie unvollständig sind, zu ersetzen, und die durch letztere an- fänglich allein bedingten Processe weiter zu spinnen. Die Vor- stellungen dürfen aber im normalen Leben die Sinnesempfindungen, soweit letztere vorhanden sind, durchaus nicht dauernd ver- drängen, wenn hieraus nicht die höchste Gefahr für den Organis- mus entspring-en soll. In der That besteht im normalen psychischen Leben ein sehr starker Unterschied zwischen beiden Arten psy- chischer Elemente. Ich sehe eine schwarze Tafel vor mir. Ich kann mir mit der grössten Lebhaftigkeit auf dieser Tafel ein mit scharfen weissen Strichen gezogenes Sechseck oder eine farbige Figur vorstellen. Ich weiss aber, pathologische Fälle abge- rechnet, immer, was ich sehe, was ich mir vorstelle. Ich fühle,
führen. — Es sei nebenbei bemerkt, dass sein Versuch mit dem der Biene aufgebun- denen Magnet keinen Erfolg haben kann, da sie das hievon herrührende magnetische Feld mit sich führt.
i) Vorschläge zu einer objectivirenden No nenclatur in der Physiologie des Nervensystems. Centralblatt für Physiologie 1899, Bd. 13, Nr. 6.
2) Populär-wissenschaftliche Vorlesungen. Ueber den Einfluss zufälliger Um- stände etc. (Leipzig 1896, S. 282, 283.) — Principien der Wärmelehre. (Leipzig 1900.) S. die beiden Capitel über die Sprache und den Begriff. — Vgl. auch: H. E. Ziegler, Theoretisches zur Thierpsychologic und vergleichenden Neurophysiologie. (Biologisches Centralblatt, Bd. 20, Nr. i.)
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wie ich bei dem Uebergang zur Vorstellung die Aufmerksamkeit von dem Auge abwende und anderswohin richte. Der auf der Tafel g-esehene und der an derselben Stelle vorgestellte Fleck unterscheiden sich durch diese Aufmerksamkeit wie durch eine vierte Coordinate. Die Thatsachen würden nicht vollständig gedeckt, wenn man sagen würde, das Eingebildete lege sich über das Geschehene wie das Spiegelbild in einer unbelegten Glasplatte über die hindurchgesehenen Körper. Im Gegentheil scheint mir das Vorgestellte durch einen qualitativ verschiedenen, widerstreitenden sinnlichen Reiz verdrängt zu werden und auch letzteren zeitweilig zu verdrängen. Das ist vorläufig eine psychologische Thatsache, deren ph3^siologische Erklärung sich gewiss auch finden wird.
Es ist natürlich anzunehmen, dass bei Vorstellungen im Wesentlichen dieselben org^anischen Processe durch die Wechsel- wirkung der Theile des Centralnervensystems wieder aufleben, welche bei den entsprechenden Empfindungen durch den physi- kalischen Reiz bedingt waren. Die Vorstellungen unterscheiden sich in normalen Fällen von den Empfindungen wohl durch ihre geringere Intensität, vor allem aber durch ihre Flüchtigkeit. Wenn ich mir in der Vorstellung eine geometrische Figur zeichne, so verhält es sich so, als ob die Linien, bald nachdem sie gezogen worden, verlöschen würden, sobald die Aufmerksamkeit sich andern Linien zuwendet. Bei Rückkehr findet man sie nicht mehr vor, und muss sie aufs Neue reproduciren. In diesem Umstände liegt hauptsächlich der Vortheil und die Bequemlichkeit, den eine materielle g'eometrische Zeichnung gegenüber der vorgestellten bietet. Eine geringe Anzahl Linien, z. B. Centri- und Peripherie- winkel auf demselben Kreisbogen mit einem Paar zusammen- fallender oder sich schneidender Schenkel, wird man leicht in der Vorstellung festhalten. Fügt man im letzteren Falle noch den Durchmesser durch den Scheitel des Peripheriewinkels hinzu, so wird es schon schwerer, in der Vorstellung das Maassverhältniss der Winkel abzuleiten, ohne fortwährend die Figur zu erneuern und zu ergänzen. Die (leläufigkeit und Geschwindigkeit des Wiederersetzens gewinnt übrigens ungemein durch die Uebung.
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Als ich mich mit der Steiner'schen und v. Staudt'schen Geo- metrie beschäftigte, konnte ich darin viel mehr leisten, als es mir jetzt mög-lich ist.
Bei der stärkern Entwicklung der Intelligenz, welche durch die complicirten Lebensverhältnisse des Menschen bedingt ist, können die Vorstellungen zeitweilig die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen, so dass Vorgänge in der Umgebung des Sinnenden nicht gesehen, an ihn gerichtete Fragen nicht gehört werden, was solcher Beschäftigung ungewohnte Menschen ,, Zerstreuung" nennen, während es viel passender „Sammlung" heissen würde. Wird nun der Betreffende in einem solchen Falle gestört, so em- pfindet er sehr deutlich die Arbeit beim Wechsel der Aufmerk- samkeit.
3-
Die Beachtung dieses Unterschiedes zwischen den Vor- stellungen und Sinnesempfindungen ist sehr g'eeignet, vor Un- vorsichtigkeit bei psychologischen Erklärungen der .Sinnesphäno- mene zu schützen. Die bekannte Theorie der „unbewussten Schlüsse" wäre nie zu so breiter Entwicklung gelangt, wenn man mehr auf diesen Umstand geachtet hätte.
Das Organ, dessen Zustände die Vorstellungen bestimmen, können wir uns vorläufig als ein solches denken, welches (in einem geringeren Grade) aller specifischen Energieen der Sinnes- organe und der motorischen Organe fähig ist, so dass je nach seiner Aufmerksamkeitsstimmung bald diese, bald jene Energie eines Organs in dasselbe hineinspielen kann. Ein solches Organ wird vorzüglich geeignet sein, die physiologische Beziehung zwischen den verschiedenen P^^nergieen zu vermitteln. Wie die Erfahrungen an Thieren mit entferntem Grosshirn lehren, gibt es ausser dem „Vorstellungsorgan" wahrscheinlich noch mehrere andere analoge, mit dem Grosshirn weniger innig zusammen- hängende Vermittlungsorgane, deren Vorgänge daher nicht ins Bewustsein fallen.
Der Reichthum des Vorstellungslebens, wie wir denselben aus der Selbstbeobachtung kennen, tritt gewiss erst beim Menschen
auf. Die Anfänge dieser Lebensäusserung, in welcher sich durchaus nur die Beziehung aller Theile des Organismus zu einander ausspricht, reichen ebenso gewiss tief in der Entwicklungsreihe der Thiere herab. Aber auch die Theile eines Organs müssen durch gegenseitige Anpassung- zu einander in eine Beziehung treten, welche jener der Theile des Gesammt- organismus analog ist. Die beiden Netzhäute mit ihrem von den Lichtempfindungen abhängigen motorischen Accommodations- und Blendungsapparat geben ein sehr klares und bekanntes Beispiel eines solchen Verhältnisses. Das physiologische Experiment und die einfache Selbstbeobachtung belehren uns darüber, dass ein solches Organ seine eigenen zweckmässigen Lebensgewohnheiten, sein besonderes Gedächtniss, fast möchte man sagen seine eigene Intellegenz hat.
4- Die lehrreichsten hierher gehörigen Beobachtungen sind wohl von Johannes Müller in seiner schönen Schrift „Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen" (Coblenz 1826) zu- sammeng-estellt worden. Die von Müller u. A. im wachen Zu- stande beobachteten Gesichtsphantasmen entziehen sich durchaus dem Einfluss des Willens und der Ueberlegung. Es sind selbst- ständige, wesentlich an das Sinnesorgan gebundene Erscheinungen, welche durchaus den Character des objectiv Gesehenen an sich tragen. Es sind wahre Phantasie- und Gedächtnisserscheinungen des Sinnes. Müller hält das freie Eigenleben der Phantasie für einen Theil des organischen Lebens und für unvereinbar mit den sogenannten Associationsgesetzen, über welche er sich sehr ab- fällig ausspricht. Es scheint mir, dass die continuirlichen Aende- rungen der Phantasmen, die Müller beschreibt, nicht gegen die Associationsgesetze sprechen. Diese Vorgänge können vielmehr geradezu als Erinnerungen an die lang'samen perspectivischen Aenderungen der Gesichtsbilder aufgefasst werden. Das Sprung- hafte in den gewöhnlichen associativen Verlauf der Vorstellungen kommt doch nur dadurch hinein, dass bald dieses, bald jenes Sinnesgebiet mitzusprechen beginnt. Vgl. Cap. XL
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Jene Processe, welche in der „Sehsinnsiibstanz" (nach Müller) normaler Weise als Folgen der Netzhauterregung sich abspielen, und welche das Sehen bedingen, können ausnahmsweise auch ohne Netzhauterregung spontan in der Sehsinnsubstanz auftreten, und die Quelle von Phantasmen oder Hallucinationen werden. Wir sprechen von Sinnengedächtniss, wenn sich die Phan- tasmen in ihrem Character stark an zuvor Gesehenes anschliessen, von Hallvicinationen, wenn die Phantasmen freier vmd unver- mittelter eintreten. Eine scharfe Grenze zwischen beiden Fällen wird aber kaum festzuhalten sein.
Ich kenne alle Arten von Gesichtsphantasmen aus eigener Anschauung. Das Hineinspielen von Phantasmen in undeutlich Gesehenes, wobei letzteres theilweise verdrängt wird, kommt wohl am häufigsten vor. Besonders lebhaft treten mir diese Erschei- nungen nach einer ermüdenden nächtlichen Eisenbahnfahrt auf. Alle Felsen, Bäume nehmen dann die abenteuerlichsten Gestalten an. — Als ich mich vor Jahren eingehender mit Pulscurven und Sphygmographie beschäftigte, traten mir die zarten weissen Curven auf schwarzem Grunde des Abends und auch bei Tage im Halb- dunkel oft mit voller Lebhaftigkeit und Objectivität vor Augen. Auch später sah ich bei verschiedenen physikalischen Beschäfti- gungen analoge Erscheinungen des „Sinnengedächtnisses". — Seltener traten mir bei Tage Bilder vor Augen, die ich zuvor nicht gesehen hatte. So leuchtete mir vor Jahren an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen auf dem Buch, in welchem ich las, oder auf dem Schreibpapier ein hellrothes Capillarnetz (ähnlich einem sogenannten Wundernetz) auf, ohne dass ich mich mit der- artigen Formen beschäftigt hatte. — Das Sehen von lebhaft ge- färbten veränderlichen Tapetenmustern vor dem Einschlafen war mir in meiner Jugend sehr geläufig; es tritt auch jetzt noch ein, wenn ich die Aufmerksamkeit darauf richte. Auch eines meiner Kinder erzählte mir oft vom ,, Blumensehen" vor dem Einschlafen. Seltener sehe ich Abends vor dem Einschlafen mannigfaltige menschliche Gestalten, die sich ohne meinen Willen ändern. Ein einziges Mal versuchte ich mit Erfolg ein menschliches Gesicht
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in einen skelettirten Schädel umzuwandeln; dieser vereinzelte Fall kann aber auch ein Zufall sein. — Dass beim Erwachen im dunklen Zimmer die letzten Traumbilder in lebhaften Farben mit einer Fülle von Licht noch vorhanden waren, ist mir oft vor- gekommen. — Eine eigenthümliche Erscheinung, die mir seit einigen Jahren häufiger begegnet, ist folgende. Ich erwache und liege mit geschlossenen Augen ruhig da. Vor mir sehe ich die Bettdecke mit allen ihren Fältchen, und auf derselben meine Hände mit allen Einzelheiten ruhig und unveränderlich. Oeffne ich die Aug'en, so ist es entweder ganz dunkel, oder zwar hell, aber die Decke und die Hände liegen ganz anders, als sie mir erschienen waren. Es ist dies ein besonders starres und dauerndes Phantasma, wie ich es unter andern Verhältnissen nicht beobachtet habe. Ich glaube an diesem Bild zu bemerken, dass alle auch weit von einander abliegenden Theile zugleich deut- lich erscheinen, in einer Weise, wie dies bei objectiv Gesehenem aus bekannten Gründen unmöglich ist.
Akustische Phantasmen, namentlich musikalische, traten in meiner Jugend öfter nach dem Erwachen sehr lebhaft auf, sind aber, seit mein Interesse für Musik sehr abgenommen hat, recht selten und dürftig geworden. Vielleicht ist aber auch das Inter- esse für Musik das Sekundäre, Bedingte.
Spuren von Phantasmen, wenn man die Netzhaut dem Ein- fluss der äusseren Reize entzieht und die Aufmerksamkeit dem Sehfelde allein zuwendet, sind fast immer vorhanden. Ja sie zeigen sich schon dann, wenn die äusseren Reize schwach und unbe- stimmt sind, im Halbdunkel, oder wenn man etwa eine Fläche mit matten, verschwommenen Flecken, eine Wolke, eine graue Wand beobachtet. Die Gestalten, die man dann zu sehen meint, soweit sie nicht auf einem blossen Herausheben und Zusammen- fassen deutlich gesehener Flecke durch die Aufmerksamkeit be- ruhen, sind jedenfalls keine vorgestellten, sondern wenigstens theilweise spontane Phantasmen, welchen zeitweiHg und stellen- weise der Netzhautreiz weichen muss. Die Erwartung scheint in diesen Fällen das Auftreten der Phantasmen zu begünstigen. Sehr
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oft glaubte ich beim Aufsuchen der Interferenzstreifen die ersten matten Spuren derselben im Gesichtsfeld deutlich wahrzunehmen, während mich die Fortführung des Versuches überzeugte, dass ich mich gewiss getäuscht hatte. Einen Wasserstrahl, dessen Hervor- treten aus einem Kautschuckschlauch ich erwartete, glaubte ich im halbdunklen Raum wiederholt deutlich zu sehen, und erkannte den Irrthum erst durch Tasten mit dem Fing-er. Solche schwache, Phantasmen scheinen sich gegen den Einfluss des Intellectes sehr nachgiebig' zu verhalten, während dieser gegen die starken, lebhaft gefärbten nichts auszurichten vermag'. Erstere stehen den Vor- stellungen, letztere den Sinnesempfindung'en näher.
Diese schwachen Phantasmen, welche von Sinnesempfindungen bald überwältigt werden, bald den letzteren das Gleichgewicht halten, bald diese verdrängen, legen die Möglichkeit nahe, die Stärke der Phantasmen mit jener der Empfindungen zu ver- gleichen. Scripture hat diesen Gedanken ausgeführt, indem er in dem Gesichtsfelde eines Beobachers, der in demselben ein (nicht vorhandenes) Fadenkreuz zu sehen g'laubte, eine reelle Linie von unerwarteter Richtung mit von Null an wachsender Intensität auftreten liess, bis diese bemerkt und dem Phantasma gleich g'eschätzt wurde i). Es lassen sich alle Ueberg'änge von der Empfindung zur Vorstellung nachweisen. Nirgends kommen wir auf ein psychisches Phänomen, welches mit der Empfin- dung, die wir unzweifelhaft auch als ein physisches Object an- sehen müssen, unvergleichbar wäre.
5-
Leonardo da Vinci a. a. O. S. 56 bespricht das Hinein- spielen der Phantasmen in das Gesehene in folgenden Worten :
,,Ich werde nicht ermangeln, unter diese Vorschriften eine neu- erfundene Art des Schauens herzusetzen, die sich zwar klein und fast lächerlich ausnehmen mag, nichtsdestoweniger aber doch sehr brauchbar ist, den Geist zu verschiedenerlei Erfindungen zu wecken.
i) Scripture, The nevv Psychology, London 1897, p.
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Sie besteht darin, dass du auf manche Mauern hinsiehst, die mit allerlei Flecken bedeckt sind, oder auf Gestein mit verschiedenem Gemisch. Hast du irgend eine Situation zu erfinden, so kannst du da Dinge erblicken, die verschiedenen Landschaften gleichsehen, ge- schmückt mit Gebirgen, Flüssen, Felsen, Bäumen, grossen Ebenen, Thal und Hügeln von mancherlei Art. Auch kannst du da allerlei Schlachten sehen, lebhafte Stellungen sonderbarer fremdartiger Figuren, Gesichtsmienen, Trachten und unzählige Dinge, die du in vollkommene und gute Form bringen magst. Es tritt bei der- lei Mauern und Gemisch das Aehnliche ein, wie beim Klang der Glocken, da wirst du in den Schlägen jeden Namen und jedes Wort wiederfinden können, die du dir einbildest".
„Achte diese meine Meinung nicht gering, in der ich dir rathe, es möge dir nicht lästig erscheinen, manchmal stehen zu bleiben, und auf die Mauerflecken hinzusehen, oder in die Asche im P^euer, in die Wolken, oder in Schlamm und auf andere solche Stellen ; du wirst, wenn du sie recht betrachtest, sehr wunderbare Er- findungen in ihnen entdecken. Denn des Malers Geist wird zu (solchen) neuen Erfindungen (durch sie) aufgeregt, sei es in Com- positionen von Schlachten, von Thier und Menschen, oder auch zu verschiedenerlei Compositionen von Landschaften und von un- geheuerlichen Dingen, wie Teufeln u. dgl., die angethan sind, dir Ehre zu bringen. Durch verworrene und unbestimmte Dinge wird nämlich der Geist zu neuen Erfindungen wach. Sorge aber vorher, dass du alle die Gliedmaassen der Dinge, die du vorstellen willst, gut zu machen verstehst, so die Glieder der lebenden Wesen, wie auch die Gliedmaassen der Landschaft, nämlich die Steine, Bäume u. dgl."
Das stärkere selbstständige Auftreten der Phantasmen, ohne Anregung durch die Netzhaut, den Traum und den halbwachen Zustand abgerechnet, muss seiner biologischen Unzweckmässigkeit wegen als pathologisch angesehen werden. Ebenso müsste man jede abnorme Abhängigkeit der Phantasmen vom Willen als pathologisch bezeichnen. Solche Zustände mögen wohl bei enen Irren vorkommen, welche sich für sehr mächtig, für G ott
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11. s. w., halten. Das blosse P^ehlen hemmender Associationen kann aber ebenfalls zu Grössen Wahnvorstellungen führen. So kann man im Traum glauben die grössten Probleme gelöst zu haben, weil die Associationen, welche den Widerspruch aufdecken, sich nicht einstellen.
6.
Nach diesen Vorbemerkungen wollen wir einig'e physiologisch- optische Erscheinungen betrachten, deren vollständige Er- klärung zwar noch fern liegt, die aber als Aeusserungen eines selbstständigen Lebens der Sinnesorgane relativ noch am ver- ständlichsten sind.
Man sieht gewöhnlich mit beiden Augen, und zu einem bestimmten Zweck im Dienste des Lebens, nicht Farben und Formen, sondern die Körper im Räume. Nicht die Elemente des Complexes, sondern der ganze physiologisch-optische Com- plex ist von Wichtigkeit. Diesen Complex sucht das Auge nach den unter seinen Lebensbedingungen erworbenen (oder ererbten) Gewohnheiten zu ergänzen, wenn er einmal in Folge besonderer Umstände unvollständig auftritt. Das g'eschieht zunächst leicht beim Sehen mit einem Auge, oder auch beim Sehen sehr ferner Objecte mit beiden Augen, wenn die stereoscopischen Differenzen in Bezug auf den Augenabstand verschwinden.
Man nimmt gewöhnlich nicht Licht und Schatten, sondern räumliche Objecte wahr. Der Selbstschatten der Körper wird kaum bemerkt. Die Helligkeitsdifferenzen lösen Tiefempfindungs- differenzen aus und helfen den Körper moclelliren, wo die stereoscopischen Differenzen hierzu nicht mehr ausreichen, wie dies bei Betrachtung ferner Gebirge sehr auffallend wird.
Sehr belehrend ist in dieser Hinsicht das Bild auf der matten Tafel der photographischen Kammer. Man erstaunt hier oft über die LIelligkeit der Lichter und die Tiefe der Schatten, die man an den Körpern gar nicht bemerkte, solange man nicht genöthigt war, alles in einer Ebene zu sehen. Ich erinnere mich aus meiiien Kindcrjahren sehr wohl, dass mir jede Schattirung
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einer Zeichnung als eine ungerechtfertigte und entstellende Manier erschien, und dass mich eine Contourzeichnung weit mehr be- friedigte. Es ist ebenso bekannt, dass ganze Völker, wie die Chinesen, trotz entwickelter artistischer Technik gar nicht oder nur mangelhaft schattiren.
Folgendes Experiment, das ich vor vielen Jahren angestellt habe ^), illustrirt sehr deutlich die berührte Beziehung zwischen Lichtempfindung und Tiefenempfindung. Wir stellen eine ge- o knickte Visitenkarte vor uns auf den Schreibtisch, so dass sie die erhabene Kante d e uns zukehrt. Von links falle das Licht ein. Die Hälfte ab de ist dann viel heller, b c ef viel dunkler, was aber bei unbefangener Betrachtung kaum bemerkt wird. Nun schliessen wir ein Auge. Hiermit verschwindet ein Theil der Raumempfindungen. Noch immer sehen vvir das geknickte Blatt räumlich und an der Beleuchtung nichts Auffallendes. Sobald es uns aber gelingt, statt der erhabenen Kante be eine hohle zu sehen, erscheinen Licht und Schatten wie mit Deckfarben darauf gemalt. Von der leicht erklärbaren perspectivischen Verzerrung der Karte sehe ich zunächst ab. Eine solche „Inversion" ist möglich, weil durch ein monoculares Bild die Tiefe nicht bestimmt ist. Stellt in Fig-. 25, I O das Auge, ab c den Durchschnitt eines geknickten Blattes, t der Pfeil die Lichtrichtung vor, so erscheint a b heller als b c. In 2 ist ebenso a b heller als b c. Das Auge muss, wie man sieht, die Gewohnheit annehmen, mit der Helligkeit der g^esehenen Plächenelemente auch das Gefälle der Tiefempfindung zu wechseln. Das Gefälle und die Tiefe nimmt mit abnehmender Helligkeit nach rechts ab, wenn das Licht von links einfällt (i), umgekehrt wenn es von rechts einfällt. Da die Hüllen des Bulbus, in welchen
Figur 25.
i) Ueber die physiologische Wirkung räumh'ch vertheilter Lichtreize. Sitzb. d. Wiener Akademie, II. Abth., October 1866.
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die Netzhaut eingebettet ist, durchscheinend sind, so ist es auch für die Lichtvertlieihmg auf den Netzhäuten nicht gleichgültig, ob das Licht von rechts oder von links einfällt. Die Umstände sind also ganz danach angethan , dass sich ohne alles Zuthun des Urtheils eine feste Gewohnheit des Auges herausbilden kann, vermöge welcher Helligkeit und Tiefe in bestimmter Weise ver- bunden werden. Gelingt es nun einen Theil der Netzhaut, wie in dem obig'en Versuch, vermöge einer andern Gewohnheit mit der ersteren in Widerstreit zu bringen, so äussert sich dies durch auffallende Empfindungen.
Wie bedeutend die Wirkung des durch die Bulbusdecken eindringenden Lichtes werden kann, geht aus gewissen Versuchen von Fechner^) hervor. Eine hieher gehörige Beobachtung ist folgende. Unter meinem Schreibtisch liegt eine graugrüne Decke, von welcher ich schreibend ein kleines Stückchen sehe. Wenn nun bei hellem von links einfallendem Sonnen- oder Tageslicht von jenem Stückchen zufällig oder absichtlich ein Doppelbild entsteht, so ist das dem linken stärker beleuchteten Auge an- gehörige Bild durch Contrast lebhaft grün, während das recht- seitige Bild ganz matt gefärbt ist. Variation der Intensität und Farbe der Bulbusbeleuchtung" bei diesen letzteren und bei Inver- sionsversuchen wäre von Interesse.
Es soll mit dem Gesagten nur der Character der Erscheinung bezeichnet und die Richtung angedeutet werden, nach welcher eine physiologische Erklärung (mit Ausschluss psychologischer Speculationen) zu suchen ist. Bemerken wollen wir noch, dass in Bezug auf Empfindungsqualitäten, welche mit einander in Wechsel- beziehung stehen, ein dem Gesetz der Erhaltung der Energie ähnliches Princip zu herrschen scheint. Die Helligkeitsdifferenzen verwandeln sich theilweise in Tiefendifferenzen und werden selbst dabei schwächer. Auf Kosten von Tiefendifferenzen können um- gekehrt die Flelligkeitsdifferenzen vergrössert werden. Eine anologe Bemerkung wird sich noch bei einer andern Gelegenheit ergeben.
i) Rechner, Ucber den seitlichen ■Fenster- und Kerzenversuch. Berichte d. Leipziger Ges. d. Wissenschaften i 8(jo.
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Die Gewohnheit Körper zu beobachten, ci. h. einer grossem räumlich zusammenhängenden Masse von Lichtempfindungen die Aufmerksamkeit zuzuwenden, bringt eigenthümhche, zum Theil
überraschende Erscheinungen-mit sich. Eine zw^eifarbigeMalerei oder Zeichnung z. B. sieht im allgemeinen ganz ver- schieden aus, je nachdem man die eine oder die andere Farbe als Grund auf- fasst. Die Vixirbilder, in welchen etwa ein Gespenst zwischen Baumstämmen erscheint, sobald man den hellen Himmel als Object, die dunklen Bäume aber als Grund auffasst, sind bekannt. Nur aus- nahmsweise bietet Grund und Object dieselbe Form dar, worin ein häufig" ver- wendetes ornamentales Motiv besteht, wie dies z. B. die Fig. 26 von S. 15 der erwähnten „Grammar of Ornament", ferner die Figuren 20, 22, der Tafel 35, Figur 13 der Tafel 43 jenes Werkes veranschaulichen.
Figur 26.
Die Erscheinungen des Raumsehens, welche bei monocularer Betrachtung eines perspectivischen Bildes, oder, was auf dasselbe hinauskommt, bei monocularer Betrachtung eines Objectes auf- treten, werden gewöhnlich als fast selbstverständliche sehr leichthin behandelt. Ich bin aber der Meinung, dass an denselben noch Mancherlei zu erforschen ist. Durch dasselbe perspectivische Bild, welches unendlich vielen verschiedenen Objecten angehören kann, ist die Raumempfindung nur th eilweise bestimmt. Wenn also gleichwohl von den vielen dem Bilde zugekörigen denkbaren Körpern nur sehr wenige wirklich gesehen werden, und zwar mit dem Character der vollen Objectivität, so muss .dies einen triftigen physiologischen Grund haben. Es kann nicht auf dem
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Hinzudenken von Nebenbestimmungen beruhen, nicht auf be- wussten Erinnerungen, welche uns auftauchen, sondern auf be- stimmten Lebensgewohnheiten des Gesichtssinnes.
Verfährt der Gesichtssinn nach den Gewohnheiten, welche er unter den Lebensbedingungen der Art und des Individuums erworben hat, so kann man zunächst annehmen, dass er nach dem Princip der Wahrscheinlichkeit vorgeht, d. h. diejenigen Functionen, welche am häufigsten zusammen ausgelöst wurden, werden auch zusammen auftreten, wenn nur eine allein angeregt wird. Diejenigen Tiefenempfindung^en z. B., welche am häufigsten mit einem bestimmten perspectivischen Bild verbunden sind, werden auch leicht reproducirt, wenn jenes Bild auftritt, ohne dass diese Empfindungen mitbestimmt sind. Ausserdem scheint sich beim Sehen perspektivischer Bilder ein Princip der Sparsamkeit aus- zusprechen, d. h. der Gesichtssinn ladet sich von selbst keine grössere Anstrengung- auf als diejenige, welche durch den Reiz bestimmt ist. Beide Principien fallen, wie wir sehen werden, in ihre Wirkunsfen zusammen.
Wir wollen uns das eben Ausgesprochene in den Einzel- heiten erläutern. Betrachten wir eine Gerade in einem perspec- tivischen Bilde, so sehen wir diese immer als eine Gerade im Räume, obgleich die Gerade als perspectivisches Bild unendlich vielen verschiedenen ebenen Curven als Objecten entsprechen kann. Allein nur in dem besondern Fall, dass die Ebene einer Curve durch den Kreuzungspunkt des einen Auges hindurch- geht, wird sie sich auf der betreffenden Netzhaut als Gerade (be- ziehungsweise als grösster Kreis) abbilden, und nur in dem noch specielleren Fall, dass die Curvenebene durch die Kreuzungspunkte beider Augen hindurchgeht, bildet sie sich für beide Augen als Gerade ab. Es ist also sehr unwahrscheinlich, dass eine ebene Curve als Gerade erscheint, während dagegen eine Gerade im Räume sich immer als Grade auf beiden Netzhäuten abbildet.
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Das wahr s c heinlichste Object also, welches einer perspectivischen Graden entspricht, ist eine Gerade im Räume.
Die Gerade hat mannigfaltige geometrische Eigenschaften. Diese geometrischen Eigenschaften, z, B. die bekannte Eigen- schaft, die Kürzeste zwischen zwei Punkten darzustellen, sind aber physiologisch nicht von Belang". Wichtiger ist schon, dass in der Medianebene liegende oder zur Medianebene senkrechte Ge- rade physiologisch zu sich selbst symmetrisch sind. Die in der Median ebene liegende Verticale zeichnet sich ausserdem noch durch die grösste Gleichmässigkeit der Tiefenempfindung und durch ihre Coincidenz mit der Richtung der Schwere physio- logisch aus. Alle verticalen Geraden können leicht und rasch mit der Medianebene zur Coincidenz gebracht werden, und nehmen daher an diesem physiologischen Vorzug theil. Allein die Gerade im Räume überhaupt muss sich noch durch etwas anderes psysiologisch auszeichnen. Die Gleichheit der Richtung in allen Elementen wurde schon früher hervorgehoben. Jedem Punkt der Geraden im Räume entspricht aber auch das Mittel der Tiefen- empfindungen der Nachbarpunkte. Die Gerade im Räume bietet also ein Minimum der Abweichungen vom Mittel der Tiefenempfindungen dar, wie jeder Punkt einer Geraden das Mittel der gleichartigen Raumwerthe der Nachbarpunkte darbietet. Es liegt hiernach die Annahme nahe, dass die Gerade mit der geringsten Anstrengung gesehen wird. Der Gesichtssinn geht also nach dem Princip der Sparsamkeit vor, wenn er uns mit Vorliebe Gerade vorspiegelt, und zugleich nach dem Prin- cip der Wahrscheinlichkeit.
Noch 1866 schrieb ich in den Sitzungsberichten der Wiener Akademie Bd. 54: „Da die gerade Linie den civilisirten Menschen immer und überall umgiebt, so kann man wohl annehmen, dass jede auf der Netzhaut mögliche Gerade unzähligemal auf jede mög- liche Art als Gerade im Räume gesehen worden sei. Die Fähig- keit des Auges im Auslegen der Geraden darf uns daher nicht befremden." — Ich schrieb schon damals diese Stelle (entgegen der Darwinistischen Anschauung, die ich in derselben Abhandlung
Mach, Analyse. 3. Aufl. 11
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geltend machte) mit halbem Herzen. Heute bin ich mehr als je überzeugt, dass die erwähnte Fähigkeit keine Folge der indi- viduellen Uebung, ja nicht einmal der menschlichen Uebung ist, sondern dass sie auch den Thieren zukommt, und theilweise wenigstens ein Erbstück ist.
IG.
Die Abweichung einer Empfindung vom Mitel der Nachbar- empfindungen fällt überhaupt immer auf, und fordert von dem Sinnesorgan eine besondere Anstrengung. Jede Krümmung einer Curve, jede Hervorragamg oder Vertiefung einer Fläche, bedeutet immer die Abweichung einer Raumempfindung von dem Mittel der Umgebung, auf welche die Aufmerksamkeit g-erichtet ist. Die Ebene zeichnet sich physiologisch dadurch aus, dass jene Ab- weichung vom Mittel ein Minimum, oder speziell für jeden Punkt = o ist. Betrachtet man im Stereoscop irgend eine fleckige Fläche, deren Theilbilder sich noch nicht zu einem binocularen Bilde vereinigt haben, so macht es einen besonders wohlthuenden Eindruck, wenn sich dieselbe plötzlich zu einer Ebene ausstreckt. Der ästhetische Eindruck des Kreises und der Kugel scheint wesentlich darauf zu beruhen, dass die bezeichnete Abweichung vom Mittel für alle Punkte gleich ist.
1 1. Dass die Abweichung von Mittel der Umgebung in Bezug auf die Lichtempfindung eine Rolle spielt, habe ich in einer älteren Arbeit nachgewiesen ^). Malt man eine Reihe von schwarzen und weissen Sectoren, wie dies in Figur 27 angedeutet ist, auf einen Papierstreifen A A BB, und wickelt diesen nachher als Mantel auf einen Cylinder, dessen Axe parallel A B ist, so ent- steht durch die rasche Rotation des letzteren ein graues Feld mit von B gegen A zu wachsender Helligkeit, in welchem aber ein
i) Ueber die Wirkung der räumlichen Vcrtheilung des Lichtreizes auf die Netzhaut. Sitzungsberichte der Wiener Akademie (1865) Bd. 52. — Fortsetzungen dieser Untersuchung: Sitzungsberichte ("1866) Bd. 54, Sitzungsberichte (1868) Bd. 57 — Vierteljahrsschrift für Psychiatrie, Neuwied-Leipzig 1868 {Ueber die Abhängigkeit der Netzhautstellen von einandei).
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hellerer Streifen a a und ein dunklerer ß ß hervortritt. Die vStellen, welche den Knickungen a entsprechen, sind nicht physi- kalisch heller als die Umgebung, ihre Lichtintensität übertrifft
MÄÄmdm
3 £
Fig. 27.
aber das Intensitäts-Mitel der nächsten Umgebung, während umgekehrt die Intensität bei ß unter der mittleren Intensität der Umgebung bleibt i). Diese Abweichung vom Mittel wird also deutlich empfunden, und ladet demnach dem Sehorgan eine be- sondere Arbeit auf. Die continuirliche Aenderung der Helligkeit wird hingegen kaum bemerkt, so lange die Helligkeit eines jeden Punktes dem Mittel der Nachbarn entspricht. Welche teleo- logische Bedeutung dieser Umstand für das Hervorheben und die Begrenzung der Objecte hat, darauf habe ich vor langer Zeit (a. a. O. Sitzb. der Wien. Akad. 1865 Octob. u. 1868 Januar) schon hingewiesen. Die Netzhaut verwischt kleine Unterschiede und hebt grössere unverhältnissmässig hervor. Sie schemati- siert und karikirt. Schon Panum hat seinerzeit auf die Be- deutung der Conturen für das Sehen aufmerksam gem.acht.
Durch sehr mannigfaltige Versuche, von welchen der in Fig. 27 dargestellte einer der einfachsten ist, habe ich die Ansicht ge- wonnen, dass die Beleuchtung einer Netzhautstelle nach Maassgabe der Abweichung von dem Mittel der Beleuchtungen der Nachbarstellen empfunden wird. Das Gewicht der Netzhautstellen in jenem Mittel ist hierbei als mit der Entfernung von der be- trachteten Stelle rasch abnehmend zu denken, was natürlich nur
i) Eine Bemerkung über Analogien zwischen der Lichtempiindung und der Pontentialfunction findet sich in meiner Note ,,Ueber Herrn Guebhards's Darstellung der Aepuipotentialcurven". Wiedemann's Annalen (1882) Bd. 17, S. 864 und ,,Prin- cipien der Wärmelehre", 2. Aufl. 1900, S. 118.
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iJürch, eine org-'anische Wechselwirkung der Netzhautele' 4t ente verständlich werden kann. Ist iz:^f\x,y) die auf ein Coor- dmatens3Astem {X Y) bezogene Beleuchtungsintensität der Netzhaut, so ist jener für eine beliebige Stelle maassgebende Mittelwerth durch
in-~l dH -rdH''
annähernd dargestellt, wobei alle Krümmungsradien der Fläche f {x, j)') als gross angenommen werden geg'en die Entfernung, in welcher sich die Netzhautstellen noch merklich beein-
Aussen; w- ist eine Constante. Je nachdem nun ^rr- -|- —. — 1
\dz^ ' dy-J
positiv öder neg'ativ ist, empfindet sich die Netzhautstelle dunkler,
beziehungsweise heller als bei gleichmässig"er Beleuchtung der
Nachbarstellen mit der ihr selbst entsprechenden Intensität. Hat
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die Fläche f (x, y) Kanten, Knickungen, so wird \— — 4- -—— ) ' \dx^ ' dy^j
unendlich, und die Formel wird unbrauchbar. Der Knickung's- stelle entspricht in diesem Pralle allerdings eine starke Ver- dunkkmg oder Erhellung', aber natürlich keine unendliche. Die Netzhaut besteht eben nicht aus empfindenden Punkten, sondern aus einer endlichen Zahl von empfindenden Elementen von end- licher Ausdehnung. Die nähere Kenntniss des Wechselwirkungs- gesetzes dieser Elemente, welche zur genaueren Bestimmung der Erscheinung in diesem Specialfalle nöthig wäre, fehlt noch.
Da man leicht irre geführt werden kann, wenn man nach dem subjectiven Eindruck die objective Licht vertheilung beurtheilt, so ist die Kenntniss des erwähnten Contrastgesetzes auch für rein physikalische Untersuchungen von Belang. Schon Grimaldi ist diurch eine solche Erscheinung" getäuscht worden. Dieselbe be- gegnet uns bei Betrachtung" der Schatten, der Absorptionsspectren und in zahllosen anderen Fällen. Durch eigenthümliche Um- stände fanden meine Mittheilungen wenig Verbreitung, und die betreffenden Thatsachen sind mehr als 30 Jahre später noch zweimal entdeckt worden i).
',.'.::.'\,-l) H, Seeliger, Die scheinbare Vergrösserung des Erdschattens bei Mond- finsternissen. Abh. d, Münchencr Akademie 1896. — PI. Haga und C. IT. Wind,
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In Bezug auf die durch ein. monoculares Bild ausgelöste Tiefenempfindungen sind die folgenden Versuche lehrreich. Die Zeichnung Figur 28 ist ein ebenes Viereck mit den beiden Dia- j gonalen. Betrachten wir sie moncocular, so erscheint
sie auch, dem Wahrscheinlichkeits- und Sparsamkeits- gesetz entsprechend, am leichtesten eben. Nicht ebene Objecte zwingen in der überwiegenden Mehr-; zahl der Fälle das Auge zum Tiefensehen. Wo diesen Zwang- fehlt, ist das ebene Object das wahrschein- lichste und zugleich für das Sehorgan das bequemste. Dieselbe Zeichnung kann monocular noch als ein Tetraeder gesehen werden, dessen Kante dd vor ac liegt, oder als ein Tetraeder, dessen Kante dd hinter ac liegt. Der Einfluss der Vorstellung- und des Willens auf den Sehprocess ist ein höchst beschränkter, er reducirt sich auf die Leitung der Aufmerksamkeit, und auf die Auswahl der Stimmung des Sehorgans für einen von mehreren in seiner Gewohnheit lieg'enden Fällen, von "^^elchen aber jeder einzelne gewählte sich dann mit machinen massiger Sicherheit und Präcision einstellt. Auf den Punkt e achtend, kann man in der That willkürlich zwischen den beiden optisch möglichen Tetraedern wechseln, je nachdem man sich dd näher oder ferner als ac vorstellt. Für diese beiden Fälle ist das Sehorgan eingeübt, weil häufig ein Körper durch den anderen theilweise gedeckt wird.
Loeb^) findet, dass eine Annäherung der Figur 31 Accom- modation für die Nähe und damit auch Erhabensehen der fixirten Kante (5^ auslöst. Ich habe einen so bestimmten Erfolg nicht erzielen
Beugung der Röntgenstrahlen. Wiedemann's Annalen, Bd. 68, 1899, S. 866. — C. H. Wind, zur Demonstration einer von E. Mach entdeckten optischen Täuschung. Physilv, Zeitschr. v. Rieclce u. Simon I Nr. 10. — A. v. Obermayer, „Ueber die Säume um die Bilder dunker Gegenstände auf hellem Hintergrande" (Eders Jahrbuch für Photographie 1900), macht eine Anzahl neuer Thatsachen bekannt, die sich durch das im Text dargelegte Contrastgesetz erklären lassen. Er kennt jedoch von meinen vier Abhandlungen nur die erste, und theilt daher das Gesetz in der ersten mangel- haften Fassung mit.
i) Loeb, Ueber epische Inversion, Pflügers Arch., Bd. 40, 1887, S. 247.
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können, und kann auch theoretisch keinen zureichenden (jrund für denselben finden '), obgleich ich gern zugebe, dass Entfernungs- änderungen der Figur leicht zum Wechsel der Auffassung führen. Dieselbe Zeichnung kann endlich als eine vierseitige Pyramide gesehen werden, wenn man sich den ausgezeichneten Durch- schnittspunkt e vor oder hinter der Ebene ab cd vorstellt. Dies gelingt schwer, wenn bed und aec zwei vollkommene Ge- rade sind, weil es der Gewohnheit des Sehorgans widerstreitet, eine Gerade ohne Zwang geknickt zu sehen; es gelingt überhaupt nur, weil der Punkt e eine Sonderstellung hat. Findet sich aber bei e eine kleine Kinckung, so hat der Versuch keine Schwierigkeit. Die Wirkung einer linearen perspectivischen Zeichnung auf den der Perspective Unkundigen, sobald er überhaupt von der Zeichnungsebene abzusehen vermag, was h€\ monocularer Be- trachtung leicht gelingt, tritt ebenso sicher ein, wie bei voll- ständiger Kenntniss der Perspectivlehre. Die Ueb er legung und auch die Erinnerung an gesehene Objecte hat nach meiner Ueberzeugung mit dieser Wirkung wenig oder nichts zu schaffen. Warum die Geraden der Zeichnung als Gerade in Räume ge- sehen werden, wurde schon erörtert. Wo Gerade in einem Punkt der Zeichnungsebene zu convergiren scheinen, werden die conver- girenden oder sich annähernden Enden nach dem Wahrschein- lichkeitsprincip und dem Sparsamkeitsprincip in gleiche oder nähe gleiche Tiefe verlegt. Hierdurch ist die Wirkung der Fluchtpunkte gegeben. Parallel können solche Linien gesehen werden, die Nothwendigkeit eines solchen Eindrucks besteht aber nicht. Halten wir die Zeichnung Figur 2g in gleicher Höhe mit dem Auge, so kann sie uns den Blick in die Tiefe eines Ganges vorspiegeln. Die Enden _^ /z ^y^ werden in gleiche Ferne ver- legt. Ist die Entfernung gross, so scheinen hier- Figur 29. bei die Linien ae, bf, cg, dh horizontal. Erhebt
i) HiUebrand (,,Verh. v. Accommod. u. Converg. z. Tiefenlocalisation", Zeitschr. f. Psych, u. Phys. der Sinncsorg., VIT, S. 97) hat die geringe Bedeutung der Accomraodation für das Tiefensehen nachgewiesen.
löy —
man die Zeichnung, so heben sich die Enden efgh, und der Boden abef scheint bergan zu steigen. Bei Senkung der Zeichnung tritt die umgekehrte Erscheinung ein. Analog'e Ver- änderungen beobachten wir, wenn wir die Zeichnung rechts oder links zur Seite schieben. Hierbei kommen nun die Elemente der perspectivischen Wirkung zum einfachen und klaren Ausdruck. Ebene Zeichnungen, wenn sie durchweg aus geraden Linien bestehen, die sich überall rechtwinklig durchschneiden, erscheinen fast nur eben. Kommen schiefe Durchschnitte und krumme Linien vor, so treten die Linien leicht aus der Ebene heraus, wie z. B. die Figur 30 zeigt, welche man ohne Mühe als ein gekrümmtes Blatt auffasst. Wenn eine solche Contour, wie Fig. 30, eine be- stimmte Form im ^Raume angenommen hat, und man igi-^r 30. sjg]-^|- dieselbe als Grenze einer Fläche, so erscheint letztere, um es kurz zu sagen, möglichst flach, also wieder mit einem Minimum der Abweichung vom Mittel der Tiefen- empfindung ^).
13- Die eigenthümliche Wechselwirkung, sich schief in der Zeich- nungsebene (beziehungsweise auf der Netzhaut) durchschneidender Linien, vermöge welcher sich dieselben gegenseitig aus der Zeich- nungsebene (beziehungsweise aus der zur Visirlinie senkrechten Ebene) heraustreiben, habe ich zuerst bei Gelegen- heit des vorher (S. 157) erwähnten Experimentes mit der monocularen Inversion des Kartenblattes be- obachtet. Das Blatt Figur 31, dessen gegen mich convexe Kante be vertical steht, legt sich, wenn es mir gelingt, be concav zu sehen, wie ein aufge- schlagenes Buch auf den Tisch, so dass b ferner
NKl
Figur 31.
erscheint als e. Kennt man die Erscheinung einmal, so gelingt
I) Die Tiefenempfindung verhält sich hier wieder ähnlich der Potentialfunction in einem Raum, an dessen Grenzen sie bestimmt ist. Diese möghchst flache Fläche fällt nicht zusammen mit der Fläche minimae areae, welche man erhalten würde, wenn die gesehene räumliche Contour, aus Draht dargestellt, und in Seifenlösung ge- taucht, sich mit einer Plateau' sehen Flüssigkeitshaut erfüllen würde.
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Figur
die Inversion fast bei jedem Object, und man kann dann immer mit der P'ormänderung (Umstülpung) zugleich jene merk- würdige Aenderung der Orientirung (Stellung) des Objectes beobachten. Besonders überraschend gestaltet sich der Vorgang bei durchsichtigen Objecten. Es sei ab c d der Durchschnitt eines Glaswürfels auf einem Tisch / /, und O das Auge. Bei der monocularen In- version rückt die Kante a nach d , b aber näher heran nach b\ c nach c und d nach öf'. Der Würfel scheint nun auf der Kante c schief auf dem Tisch /' /' zu stehn. Um die Zeichnung' übersichtlicher zu gestalten, wurden die beiden Bilder nicht ineinander, sondern hintereinander dargestellt. Ein theilweise mit g-efärbter Flüssig- keit gefülltes Trinkglas, an die Stelle des Würfels gesetzt, stellt sich natürlich sammt seiner Flüssigkeitsoberfläche ebenfalls schief. Dieselben Erscheinungen kann man bei genügender Auf- merksamkeit auch an jeder Linearzeichnung" beobachten. Wenn man das Blatt mit der Figur 3 1 vertical vor sich hinstellt und monocular betrachtet, so sieht man, wenn be convex ist, b vor- treten, wenn be concav ist ist, e vortreten, sich dem Beobachter nähern, und b zurückweichen. Loeb^) bemerkt, dass hierbei die Punkte a, b, e, in der Zeichnungsebene verbleiben. In der That werden hierdurch die Orientirungsänderungen verständ- lich. Zieht man die punktirten Linien (Fig. 32a) und denkt sich die Figur, so weit sie ausserhalb des punktirten Dreiecks liegt, weggelöscht, so bleibt uns das Bild einer hohlen oder erhabenen dreiseitigen Pyramide, welche mit der Basis in der Zeichnungsebene liegt. Die Inversion hat keine irgendwie räthselhafte Orientirungsänderung mehr zur Folge. Es scheint also, dass jeder monocular g'esehene Punkt nach dem Minimum der Abweichungen vom Mittel der Tiefenempfindung, und das ganze gesehene-
Figur 32a.
l) Loeb, a. a. O.
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Object nach dem Minimum der Entfernung von der Hering'schen Kernfläche strebt, welches unter den Ver- suchsbeding^ungen erreichbar ist.
Wenn man die Deformationen beachtet, welche eine ebene gradlinige Figur bei monocularer räumlicher Auslegung erfährt, so kann man dieselben qualitativ darauf zurückführen, dass die Schenkel eines spitzen Winkels sich nach entgegengesetzten Seiten, jene eines stumpfen Winkels nach derselben Seite aus der Zeichnungsebene, der zur Visirlinie senkrechten Ebene, her- austreiben. Spitze Winkel vergrössern, stumpfe Winkel ver- kleinern, sich hierbei. Alle Winkel streben dem rechten zu.
14- Der letztere Satz legt die Beziehung der eben besprochenen
Erscheinung zur Zolin er 'sehen Pseudoscopie und den zahlreichen verwandten Phänomenen nahe. Auch hier kommt alles auf schein- bare Vergrösserung der spitzen und Verkleinerung der stumpfen Winkel hinaus, nur dass die Zeichnungen in der Ebene gesehen werden. Sieht man dieselben aber monocular räumlich, so ver- schwinden die Pseudoscopien, und es treten dann die zuvor be- schriebenen Erscheinungen auf. Obgleich nun diese Pseudoscopien vielfach studirt worden sind, existirt zur Zeit doch keine allseitig befriedigende Erklärung derselben. Mit so leichtfertigen Er- klärungen, wie etwa jener, dass wir gewohnt seien vorzugsweise rechte Winkel zu sehen, darf man natürlich nicht kommen, wenn die ganze Untersuchung nicht verfahren oder vorzeitig abgebrochen werden soll. Wir sehen oft genug schiefwinklige Objecte, da- gegen ohne künstliche Veranstaltung niemals, wie in dem obigen Experiment, einen ruhigen schiefen Flüssigkeitsspiegel. Dennoch zieht das Auge, wie es scheint, den schiefen Flüssigkeitsspiegel einem schiefwinkligen Körper vor.
Die elementare Macht, die sich in diesen Vorgängen aus- spricht, hat nach meiner Ueberzeugung ihre Wurzel in viel ein- facheren Gewohnheiten des Sehorgans, welche kaum erst im Cultur- leben des Menschen entstanden sind. Ich habe seiner Zeit versucht die Erscheinungen durch einen dem Farbencontrast analogen Rieh-
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tungscontrast zu erklären, ohne zu einem befriedigenden Resultat zu gelang"en. Neuere Untersuchungen von Loeb^), Heymanns^) u. a., sowie Beobachtungen von Hoefler^) über Krümmungs- contrast, sprechen nun doch sehr zu Gunsten einer Contrasttheorie. Auch hat, in letzter Zeit wenigstens, die Neigung für eine rein physiologische Erklärung entschieden zug"enommen ^).
Auch das Princip der Sparsamkeit hat sich mir in Bezug auf die Zolin er 'sehe Pseudoscopie als unergiebig erwiesen. Etwas mehr Aussicht auf Erfolg schien das Princip der Wahrscheinlich- keit zu bieten. Wir denken uns die Netzhaut als Vollkugel und den Scheitel eines Winkels a im Räume fixirt. Die Ebenen, welche durch den Kreuzungspunkt des Auges und die Winkel- schenkel hindurchgehend die letzteren auf die Netzhaut projiciren, schneiden auf dieser ein sphärisches Zweieck mit dem Winkel A aus, welcher den Winkel des monocularen Bildes vorstellt. Dem- selben beliebigen A können nun unzählige Werthe von a zwischen o*^ und i8o^ entsprechen, wie man erkennt, wenn man bedenkt, dass die Schenkel des objectiven Winkels jede beliebige Lage in den erwähnten projicirenden Ebenen annehmen können. Einem gesehenen Winkel A können also alle Werthe des objectiven Winkels a entsprechen, welche sich ergeben, wenn man jede der Dreieckseiten b und c zwischen o^ und i8o^ variiren lässt. Hierbei ergibt sich nun wirklich, wenn man die Rechnung in einer bestimmten Weise anlegt, dass ge- sehenen spitzen Winkeln als wahrscheinlichstes Object ein grösserer Winkel, gesehenen stumpfen Winkeln ein kleinerer Winkel entspricht. Ich war jedoch nicht in der Lage zu ent- scheiden, ob jene Fälle, welche man als geometrisch gleich mögliche anzusehen geneigt ist, auch als physiologisch gleich mögliche betrachtet werden dürfen, was wesentlich und wichtig wäre. Auch ist mir die ganze Betrachtung viel zu künstlich.
I^ Loeb, Pflüger's Archiv, 1895, S. 509.
2) Heymans, Zeitschr. f. Psychol. u. Pliysiol. d. Sinnesorgane, XIV, loi.
3) Höfler, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgane, XII, i.
4) Witasck, Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorgane, XIX, i.
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15-
Es kann hier nicht unerwähnt bleiben, dass A. Stöhr ver- sucht hat von ganz neuen Gesichtspunkten aus über die zuvor besprochenen Erscheinungen Aufklärung zu gewinnen. Den all- gemeinen Erwägungen, von welchen sich Stöhr leiten Hess, muss ich volle Sympathie und Zustimmung entgegenbringen. Dagegen habe ich mir bis jezt kein sicheres Urtheil verschaffen können, ob Stöhrs Hypothesen eine thatsächlich nachweisbare Grundlage entspricht. Die vorausgesetzten Verhältnisse sind auch so com- plicirt, dass es nicht leicht ist, darüber zu entscheiden, ohne das Gebiet selbst von neuem durchzuexperimentiren. Ich weiss also nicht, ob Stöhrs Ansichten überall zur Erklärung ausreichen werden. In einer älteren Arbeit^) wird angenommen, dass dem dioptrischen Bilde des Auges vor der Netzhaut ein katoptrisches Bild in der Netzhaut entspricht, welches nach deren Tiefe Relief hat. Die Tiefe in der Netzhaut wäre zugleich das Bestimmende für die empfundene Tiefe im Sehraum und das Regulirende der Accomodation. In der That habe ich mich immer gefragt, wo- durch denn der Sinn der Accomodationsänderung bestimmt sei, da dieselbe durch die blosse Grösse des Zerstreuungskreises nicht bestimmt sein kann, da ferner der Zusammenhang zwischen Con- vergenz und Accomodation nur ein loser ist, und da auch ein Auge allein sich accommodirt. Anderseits stehen dieser Ansicht die zahlreichen Beobachtungen über die Werthlosigkeit der Accom- modation für die Tiefenempfindung entgegen. Die grosse Dicke der Netzhaut der Insectenaugen ^) legt es wieder nahe, an eine Function derselben bei der Relief Wahrnehmung- zu denken.
In zwei folgenden Arbeiten ^) wird auf diese Ansicht weiter gebaut. Die zweite derselben bringt eine Scheffler'sche Ansicht in eine mehr physiologische Form. Die herrschende Ansicht, nach welcher die Bilder von Stellen, welche mehr oder weniger von
i) Zur nativistischen Behandlung des Tiefensehens (Wien 1892).
2) Exner, Die Physiologie der facettirten Augen (Wien 1891, S. 188).
3) Zur Erklärung der Zöllnerschen Pseudoskopie (Wien 1898). — Binoculare Figtumischung und Pseudoskopie (Wien 1900).
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correspondirenden abweichen, zu einem einheitlichen Eindruck verschmelzen, findet Stöhr unbehaglich. „Wo ist der Weichen- wächter, der den Wechsel nicht nur in ausser gewöhnlicher, sondern auch in zweckmässiger Weise so stellt, dass jetzt ein ungewöhn- liches Paar von Leitungsbahnen zwei Reize zur Vereinigung- im Centralorgan bringen kann?" Es^ wird ang^enommen, dass die Netzhäute beider Augen von einem Streben nach Minimalisation des Lichtreizes beherrscht nach Aequalisation ungleicher Bilder trachten. Die nervösen Elemente erregen den Ciliarmuskel, und zwar nicht nur in ganz gleichmässiger regelmässiger Weise, son- dern nach Bedürfniss auch sehr ungleichmässig. Regelmässige Contraction des Ciliarmuskels bringt eine grössere Linsenwölbung und eine geringe Contraction der Netzhaut hervor. Nehmen hie- bei die Netzhautelemente ihre Ortswerthe mit, so erscheint das- selbe Netzhautbild vergrössert. So soll es nach Stöhr verständ- lich werden, dass die Panum 'sehen proportionalen Kreissysteme (bis zum Radienverhältniss 4:5) durch Anpassung- der beiden Aug'en aneinander mit identischen Netzhautstellen einfach und in mittlerer Grösse g-esehen werden. Dass die Verschmelzung der Kreissysteme nicht durch Unterdrückung des einen Bildes geschieht, weist Stöhr nach, mdem er das eine Kreissystem aus rothen, das andere aus alternirenden grünen Punkten darstellt, so dass in dem binocularen Sammelbild die rothen zwischen den grünen Punkten erscheinen. Unregelmässige Contraction des Ciharmuskels soll nun eine mehrfache Wirkung hervorbring'en: Einmal eine unregelmässige Deformation der Linse mit mannig- faltiger Verschiebung der Spitzen der Diacaustik verschiedener Strahlenbündel, hiedurch Aenderung" des Reliefs des dioptrischen und katoptrischen Bildes, und ferner eine mannigfaltige mini- male Deformation der Netzhaut. Stöhr glaubt durch detaillirte Rechnungen die Möglichkeit seiner Auffassung darzuthun und durch Untersuchung- von Beobachtern mit- aphakischen x^ugen die Thatsächlichkeit seiner Voraussetzungen nachzuweisen. Zu überraschenden Versuchen, z. B. stereoscopischer Knickung von Geraden hat ihn seine Theorie jedenfalls geführt, und sie verdient
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also schon deshalb Beachtung-. So sehr mir aber seine Auffassung' des Auges und seiner Theile als lebender Organismen sym- pathisch ist, habe ich mich doch noch nicht überzeugen können, dass seine Annahmen zur Erklärung complicirterer Fälle des Raumsehens überall ausreichen.
St Öhr entfernt sich recht weit von den Traditionen der physiologischen Optik. An sich kann das kein Grund sein, auf die g'enaue Prüfung seiner Theorie nicht einzugehen, seit die an schönen und merkwürdigen Ergebnissen reichen vergleichend physiologischen Untersuchungen von S. Exner und Th. Beer^) uns Aug"en von so mannigfaltigen organischen Einrichtungen kennen gelehrt haben, wie sie ein Physiker a priori kaum ver- muthen würde.
Dass während des Sehens noch zu erforschende Veränder- ungen im Aug'e vorgehn , wird durch manche Erscheinungen wahrscheinlich. Stereoscopbilder mit starken stereoscopischen Differenzen zeigen bei längerem Hinsehen noch ein successiv enorm wachsendes Relief, wenn auch die Verschmelzung schein- bar längst vollendet ist. An feinen glatten parallelen Linien- S3^stemen hat man wellige Krümmungen und Anschwellungen beobachtet, und hat dieselben in etwas eigenthümlicher Weise auf die zur Darstellung von so feinen Geraden unzureichende Netzhautmosaik zurückgeführt. Ich habe aber diese Erscheinung an sehr deutlich sichtbaren, keineswegs mikrometrischen, Geraden- systemen bei andauerndem Hinsehen stets wahrgenommen. Mit der Netzhautmosaik hat also die Sache gewiss nichts zu thun. Eher könnte ich glauben, dass durch die Anstrengung, etwa durch kleine Verschiebungen im Sinne Stöhrs, die Raum- werthe etwas in Unordnung gerathen seien. 2)
i) Th. Beer, Die Accommodation des Fischauges (Pflügers Archiv Bd. LVIII S. 523). — Accomödation des Auges in der Thierreihe (Wiener klinische Wochen- schrift. 1898 Nr. 42). — Ueloer primitive Sehorgane (Ebendaselbst 1901 Nr. 11, 12, 13.)
2) Ueber die physiologische Wirkung räumlich vertheilter Lichtreize (Wiener Sitzber. 2. Abth., 1866 October, S. 7, 10. des Separatabzuges).
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i6.
Der leichte Uebergang vom pseudoscopischen Sehen ebener Figuren zum monocularen räumHchen Sehen derselben wird wohl über ersteres noch weitere Aufklärung verschaffefi. Folgende Thatsachen bestärken diese Vermuthung. Eine ebene Linear- zeichnung, monocular betrachtet, erscheint gewöhnlich eben. Macht man aber die Winkel veränderlich und leitet die Bewegung ein, so streckt sich jede derartige Zeichnung sofort in die Tiefe. Man sieht dann gewöhnlich einen starren Körper in einer Drehung begriffen, wie ich dies bei einer früheren Gelegenheit ^) beschrieben habe. Die bekannten Li ssajous'schen Schwingungsfiguren, welche bei Wechsel des Phasenunterschiedes auf einem gedrehten C3dinder zu liegen scheinen, bieten ein schönes Beispiel des betreffenden Vorganges.
Man könnte nun hier wieder auf die Gewohnheit hinweisen, mit starren Körpern umzugehen. Starre Körper, in Drehungen und Wendungen begriffen, umgeben uns in der That fortwährend. Ja die ganze materielle Welt, in welcher wir uns bewegen, ist gewissermaassen ein starrer Körper, und ohne die Hilfe starrer Körper gelangen wir überhaupt nicht zur Vorstellung des geo- metrischen Raumes. Wir achten auch gewöhnlich nicht auf die Lage der einzelnen Punkte eines Körpers im Raum, sondern fassen ohne Weiteres dessen Dimensionen auf. Darin liegt haupt- sächlich für den Ungeübten die Schwierigkeit, ein perspectivisches Bild zu entwerfen. Kinder, welche gewohnt sind die Körper in ihren wahren Dimensionen zu sehen, können sich mit per- spectivischen Verkürzungen nicht abfinden, und sind, von einem einfachen Aufriss, von einer Profilzeichnung weit mehr befriedigt. Ich weiss mich dieses Zustandes sehr wohl zu erinnern, und be- greife durch diese Erinnerung die Zeichnungen der alten Aegypter, welche alle Körpertheile der Figuren soweit als möglich in ihren wahren Dim.ensionen darstellen, und dieselben desshalb in die
i) Beobachtungen über monoculare Stereoskopie. Sitzungsbcriclite der Wiener Akademie (1868), Bd. 58.
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Zeichnungsebene gleichsam hineinpressen, wie die Pflanzen in ein Herbar. Auch in den Pompejanischen Wandgemälden begegnen wir, obgleich hier der Sinn für Perspective schon deutlich ist, noch einer merklichen Scheu vor Verkürzungen. Die alten Italiener hingegen, im Gefühle ihrer Sachkenntniss, gefallen sich oft in übermässigen, zuweilen sogar unschönen Verkürzungen, welche dem Auge mitunter eine bedeutende Anstrengung zumuthen.
17-
Es ist also keine Frage, dass uns das Sehen starrer Körper mit den festen Abständen ihrer ausgezeichneten Punkte viel ge- läufiger ist als das Aussondern der Tiefe, welches sich immer erst durch eine absichtliche Analyse ergibt. Demnach können wir erwarten, dass überall, wo eine zusammenhängende Masse von Empfindungen, die vermöge der continuirlichen Uebergänge und des gemeinsamen Farben characters zur Einheit verschmilzt, eine räumliche Veränderung zeigt, diese mit Vorliebe als Bewegung eines starren Körpers gesehen wird. Ich muss aber gestehen, dass mich diese Auffassung wenig befriedigt. Vielmehr glaube ich, dass auch hier eine elementare Gewohnheit des Sehorgans zu Grunde liegt, welche nicht erst durch die bewusste individuelle Erfahrung entstanden ist, sondern welche im Gegentheil schon das Auffassen der Bewegungen starrer Körper erleichtert hat. Würden wir z. B. annehmen, dass jede Verkleinerung der Querdimension einer optischen Empfindungsmasse, welcher die Aufmerksamkeit zugewendet wird, eine entsprechende Vergrösserung der Tiefen- dimensionen herbeizuführen strebt, und umgekehrt, so wäre dieser Process ganz analog demjenigen, dessen schon oben gedacht (S. 158) und der mit der Erhaltung der Energie verglichen wurde. Die berührte Ansicht ist entschieden viel einfacher und zur Erklärung ebenfalls ausreichend. Man kann sich auch leichter vorstellen, wie eine so elementare Gewohnheit erworben, wie sie in der Organi- sation ihren Ausdruck finden, und wie die Stimmung für dieselbe vererbt werden kann.
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Als Gegenstück zu der Drehung starrer Körper, welche uns das Sehorgan vorspiegelt, will ich hier noch eine andere Be- obachtung anführen. Wenn man ein Ei oder ein Ellipsoid mit matter gleichmässiger Oberfläche über den Tisch rollt, jedoch so, dass es sich nicht um die Axe des Rotationskörpers dreht, sondern hüpfende Bewegungen ausführt, so glaubt man bei binocularer Betrachtung einen flüssigen Körper, einen grossen schwingenden Tropfen, vor sich zu haben. Noch auffallender ist die Erscheinung, wenn ein Ei, dessen Längsachse horizontal liegt, um eine verticale Axe eine massig rasche Rotation versetzt wird. Dieser Eindruck verschwindet sofort, wenn auf der Oberfläche des Eies Flecken angebracht werden, deren Bewegung man verfolgen kann. Man sieht dann den gedrehten starren Körper.
Die in diesem Kapitel gegebenen Erklärungen sind von Vollständigkeit gewiss noch weit entfernt, doch glaube ich, dass meine Ausführungen ein exacteres und eingehenderes Studium der besprochenen Erscheinungen anregen und anbahnen können.
XL Empfindung, Gedächtniss und Association.
Es kann nach den vorausgehenden Erörterungen kein Zweifel bestehen, dass blosse Empfindungen kein dem unsrigen auch nur entfernt ähnliches psychisches Leben begründen können. Wenn die Empfindung sofort nach dem Verschwinden vergessen wird, kann nur eine zusammenhangslose Mosaik und Folgte von psy- chischen Zuständen sich ergeben, wie wir dieselbe bei den niedersten Thieren und bei den tiefstehenden Idioten annehmen müssen. Eine Empfindung, welche nicht etwa als heftiger Bewegungsreiz wirkt, wie etwa eine Schmerzempfindung, wird auf dieser Stufe schwer- lich Beachtung finden. Der Anbhck eines lebhaft gefärbten kugelförmigen Körpers z. B., der nicht durch die Erinnerung an den Geruch und Geschmack, kurz an die Eigenschaft einer Frucht, an die mit derselben gemachten Erfahrungen, ergänzt wird, bleibt unverstanden, ist ohne Interesse, wie dies im Zustande der „Seelenblindheit" beobachtet wird. Aufbewahrung von Er- innerungen, Zusammenhang derselben, Wiedererweckbarkeit durch einander, Gedächtniss und Association, sind die Grund- bedingung des entwickelten psychischen Lebens.
2.
Was ist nun das Gedächtniss? Ein psychisches Erlebniss lässt psychische Spuren zurück, dasselbe hinterlässt aber auch physische Spuren. Das gebrannte oder von der Wespe gestochene Kind benimmt sich auch physisch ganz anders, als ein Kind, welchem
Mach, Analyse. 3. Aufl. 1-
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diese Erfahrung fehlt. Denn das Psychische und das Physische sind überhaupt nur durch die Art der Betrachtung verschieden. Dennoch ist es recht schwierig, in den Erscheinung'en der Physik des Unorganischen Züge zu entdecken, welche dem Gedächtniss verwandt sind.
In der Physik des Unorganischen scheint alles durch die augenblicklichen Umstände bestimmt, die Vergangenheit ganz einfiusslos zu sein. Die Beschleunigung eines Körpers ist durch die augenblicklichen Kräfte gegeben. Ein Pendel schwingt gleich, ob es die erste Schwingung vollführt, oder ob schon looo andere vorausgegangen sind. H verbindet sich mit Cl in derselben Weise, ob es vorher mit Br oder J verbunden war. Allerdings gibt es auch in dem ph3^sikalischen Gebiet Eälle, in welchem die Vergangenheit deutlich ihren Einfluss ausspricht. Die Erde erzählt uns ihre geologische Vorgeschichte. Der Mond erzählt sie ebenso. Ich sah an einem Gesteinstück ein System ganz sonderbarer congruenter Ritzfiguren, welches E. Suess sehr plau- sibel als ein vorweltliches vSeismogramm interpretirte.
Ein Draht merkt sich sozusagen lange Zeit jede Torsion, die er erlitten hat. Jeder Entladungsfunke ist ein Individuum und von den vorausgeg'angenen Entladungen beeinflusst. Die isolirende Schicht der Leidnerflasche bewahrt eine Geschichte der vorausgegangenen Ladungen.
Der scheinbare Widerspruch löst sich, wenn wir berück- sichtigen, dass wir in der Physik die betrachteten Eälle aufs äusserste zu idealisiren und zu chematisiren, die einfachsten Umstände voraus- zusetzen pflegen. Wenn wir ein mathematisches Pendel annehmen, dann ist gewiss die tausendste Schwingung' wie die erste, dann gibt es keine Spuren der Vergangenheit, weil wir eben von den- selben absehen. Das wirkliche Pendel nutzt aber seine Schneide ab, erwärmt sich durch äussere und innere Reibung, und keine Schwingung- gleicht, genau genommen, der andern. Jede zweite, dritte Drcihttorsion fällt ctw£is anders aus, als wenn die früheren nicht gewesen wären. Könnte man in der Psychologie ebenso schematisiren, so würde man Menschen erlialten, die sich identisch
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verhalten, keinen Einfluss der individuellen Erlebnisse erkennen lassen würden.
In Wirklichkeit lässt jeder psychische so gut wie jeder physische Vorgang seine unverwischbaren Spuren zurück. In beiden Gebieten gibt es nicht umkehrbare Prozesse, ob nun die Entropie vermehrt, oder der Knoten einer gestörten und wieder angeknüpften Freundschaft gefühlt wird. Und jeder wirkliche Vorgang enthält mindestens nicht umkehrbare Compooenten.
3- Man wird nun mit Recht sagen: Spuren der Vergangen- heit sind noch lange kein Gedächtniss. In der That, damit die Aehnlichkeit grösser werde, müssten gewesene Vorgänge auf einen leisen Anstoss hin aufs neue sich abspielen. Die gut gespielten alten Violinen, die Mos er 'sehen Hauchbilder, der Phonograph sind schon etwas bessere Beispiele. Allein Violine und Phonograph müssen durch äussere Kräfte gespielt werden, während der Mensch sich und sein Gedächtniss selbst spielt. Die organischen Wesen sind nämlich keine starren materiellen Systeme, sondern im Wesentlichen dynamische Gleichgewichtsformen von Strömen von „Materie" und ,, Energie". Die Abweichungsformen dieser Ströme von dem dynamischen Gleichgewichtszustand sind es nun, die sich, je nachdem sie einmal eingeleitet wurden, immer in derselben Weise wiederholen. Solche Variationen d)''namischer Gleichgewichtsformen hat die anorganische Physik noch wenig studirt. DieAenderung von Flussläufen durch zufällige Umstände, welche Läufe dann beibehalten werden, sind ein ganz rohes Bei- spiel. Schraubt man einen Wasserhahn so weit zu, dass ein ganz dünner ruhiger Strahl zum Vorschein kommt, so genügt ein zu- fälliger Anstoss, um dessen labiles Gleichgewicht zu stören und dauerndes rhythmisches tropfenweises Ausfliessen zu veranlassen. Man kann eine lange Kette aus einem Gefäss, in welchem sie zusammengerollt liegt über eine Rolle, nach Art eines Hebers, in ein tieferes Gefäss überfliessen lassen. Ist die Kette sehr lang,
der Niveauunterschied sehr gross, so kann die Geschwindigkeit
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sehr bedeutend werden, und dann hat die Kette bekanntlich die Eigenschaft, jede Ausbiegung, die man ihr ertheilt, frei in der Luft lange beizubehalten, und durch diese Form hindurchzufliessen. Alle diese Beispiele sind sehr dürftige Analogien der organischen Plasticität für Wiederholung von Vorgängen und von Reihen von Vorgängen.
Die vorausgehenden Betrachtungen sollen zeigen, dass ein ph3Asikalisches Verständniss des Gedächtnisses zwar nicht un- erreichbar, dass wir von demselben aber noch sehr weit ent- fernt sind. Ohne Zweifel wird die Ph3^sik durch das Studium des Organischen noch bedeutend ihren Blick erweitern müssen, bevor sie dieser Aufgabe g'ewachsen sein wird. Gewiss ist der Reich- thum des Gedächtnisses in der Wechselwirkung, dem Zusammen- hang der Organe begründet. Allein ein Rudiment von Gedächt- niss wird man wohl auch den Elementarorganismen zuschreiben müssen. Und da kann man nur daran denken, dass jeder che- mische Vorgang" im Organ Spuren zurücklässt, welche den Wieder- eintritt desselben Vorganges beglmstigen.
■ 4- Es ist bekannt, dass in der Psychologie den Associations- gesetzen eine hervorrag'ende Bedeutung zuerkannt wird. Diese Gesetze lassen sich auf ein einziges zurückführen, welches darin besteht, dass von zwei Bewusstseinsinhalten A, B, welche einmal gleichzeitig zusammentrafen, der eine, wenn er eintritt, den andern hervorruft. Das psychische Leben wird in der That viel verständ- licher durch Erkenntniss dieses immer wiederkehrenden Grund- zuges. Die Unterschiede des Gedankenlaufs, bei einfacher Erinnerung an Erlebtes, bei ernster Berufsbeschäftigung und beim freien Phantasiren, oder wachen Träumen, werden leicht begreiflich durch die begleitenden Umstände. Doch wäre es eine Verkehrt- heit alle (S. 151) psychischen Vorgänge auf während des indi- viduellen Lebens erwoi'bene Associationen zurückführen zu wollen. Die Psyche tritt uns in keiner Phase als eine , tabula rasa' ent- gegen. Man müsste mindestens neben den erworbenen Asso-
ciationen auch angeborene Associationen annehmen. Die an- geborenen Triebe i), welche der introspectiven auf sich selbst beschränkten Psychologie als solche Associationen erscheinen müssten, führt der Biologe auf angeborene organische Ver- bindung-en. insbesondere Nervenverbindungen zurück. Es em- pfiehlt sich daher zu versuchen, ob nicht alle Associationen 2), auch die individuell erworbenen, auf erworbenen, beziehungsweise durch Gebrauch verstärkten Verbindungen beruhen? Jedenfalls darf man aber auch fragen, ob die Vorgänge, für deren Verbindung in hochdifferenzirten Organismen sich eig'ene Bahnen gebildet haben, nicht vielmehr das Primäre, schon in niederen Organismen Bestehende sind, deren wiederholtes Zusammentreffen zur Bildung jener Bahnen führt? Gewiss kann eine rationelle Ps3Achologie mit den temporären Associationen nicht auskommen. Sie muss berücksichtigen, dass auch fertige Verbindungsbahnen bestehen. Dann muss auch die Möglichkeit spontan, nicht durch Asso- ciation auftretender psychischer Processe zugegeben werden, welche die benachbarten Theile des Nervensystems erregen, und bei grosser Heftigkeit auch auf das ganze Nervensystem sich ver- breiten. Die Hallucinationen einerseits und die Reflexbewegungen anderseits sind Beispiele aus dem sinnlichen und motorischen Gebiet, welchen Analoga auf andern Gebieten entsprechen dürften.
5- Die Ansichten über die Wechselwirkung der Theile des Centralnervensystems scheinen einer bemerkenswerthen Wandlung
i) Am auffallendsten, weil in der Zeit voller psychischen Entwicklung und Beobachtungsfähigkeit eintretend, zeigen sich die ersten Aeusserungen des Geschlechts- triebes. Ein vollkommen glaubAvürdiger, sehr wahrheitsliebender Mann erzählte mir, er habe als ganz unverdorbener und unerfahrener 1 6 jähriger Bursche die auffallende plötzliche körperliche Veränderung, die er beim Anblick einer decolletirten Dame mit Bestürzung an sich wahrnahm, für eine Krankheit gehalten, über welche er einen Collegen consultirte. Der ganze Complex von ihm durchaus neuen Empfindungen tmd Gefühlen, die sich da auf einmal offenbarten, hatte überhaupt einen starken Zusatz von Schrecken.
2) H. E. Ziegler, Theoretisches zur Thierphysiologie und vergleichenden Neuro- physiologie (Biol. Centralblatt, Leipzig 1900, Bd. XX Nr. i).
Ib2
entgegenzugehen, wie diesLoeb^) auf Grund eigener Arbeiten und jener von Goltz und Ewald darlegt. Hiernach sind die Tro- pismen der Thiere von jenen der Pflanzen nicht wesentlich ver- schieden, und die Nerven gewähren im ersteren Falle nur den Vortheil einer rascheren Reizleitung. Das Leben des Nerven- systems wird auf segmentale Reflexe, die Coordination der Be- wegungen auf gegenseitige Erregung und Reizleitung, die Instincte werden auf Kettenreflexe zurückgeführt. Der Schnappreflex des Frosches löst z. B. den Schluckreflex aus. Complicirt organisirte Centren werden nicht angenommen, sondern das Gehirn selbst wird als eine Anordnung von Segmenten betrachtet. In allen diesen An- sichten liegt, so weit ich dies beurtheilen kann, ein glückliches und bedeutsames Streben, sich von unnöthig verwickelten, mit Metaphysik durchsetzten Annahmen zu befreien. Nur darin kann ich Loeb nicht beistimmen, dass er in Darwin's phylogenetischen Forschungen über die Instincte eine fehlerhafte Einseitigkeit sieht, welche fallen zu lassen und durch physikalisch-chemische Unter- suchung zu ersetzen wäre. Gewiss lag letztere Darwin fern. Gerade dadurch g'ewann er aber den freien Blick für seine eigenartigen grossen Entdeckungen, die kein Physiker als solcher hätte machen können. Wir streben ja überall, wo es möglich ist, nach physikalischer Einsicht, nach Erkenntniss des unmittel- baren („causalen") Zusammenhanges. Es fehlt aber sehr viel daran, dass diese schon überall erreichbar wäre. Und in solchen Fällen andere fruchtbare Gesichtspunkte, die man immerhin als provisorische ansehen mag, aufgeben, würde jedenfalls eine andere und sehr folgenschwere Einseitigkeit sein. Die Dampf- maschine kann, wie Loeb sagt, nur physikalisch verstanden werden. Die einzelne gegebene Dampfmaschine, ja! Wenn es sich aber darum handelt, die gegenwärtig-en Formen der Dampf- maschine zu verstehn, dann reicht dies nicht. Die ganze Ge- schichte der technischen und socialen Cultur, nicht minder die geologischen Voraussetzungen, müssen heran. Jedes einzelne
l) Loeb, Vergleichende Physiologie des Gehirns, Leipzig 1899.
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dieser Momente mag ja zuletzt physikalisch verständlich werden, klärt uns aber auf, lange bevor dies erreicht ist^).
6. Denke ich mir, dass, während ich empfinde, ich selbst oder ein anderer mein Gehirn mit allen physikahschen und chemischen Mitteln beobachten könnte, so würde es möglich sein zu ermitteln, an welche Vorgänge des Organismus Empfindungen von bestimmter Art gebunden sind. Dann könnte auch die oft aufgeworfene Frage, wie weit die Empfindung in der organischen Welt reicht, ob die niedersten Thiere, ob die Pflanzen empfinden, wenigstens nach der Analogie, ihrer Lösung näher geführt werden. So lange diese Aufgabe auch nicht in einem einzigen Specialfall gelöst ist, kann hierüber nicht entschieden werden. Zuweilen wird auch gefragt, ob die (unorg'anische) „Materie" empfindet. Wenn man von den geläufigen verbreiteten physikalischen Vorstellungen ausgeht, nach welchen die Materie das unmittelbar und zweifellos gegebene Reale ist, aus welcher sich Alles, Unorganisches und Organisches aufbaut, so ist die Frage natürlich. Die Empfindung muss ja dann in diesem Bau irgendwie plötzlich entstehen, oder von vornherein in den Grundsteinen vorhanden sein. Auf unserm Standpunkt ist die Frage eine Verkehrtheit. Die Materie ist für uns nicht das erste Gegebene. Dies sind vielmehr die Elemente (die in ge- wisser bekannter Beziehung als Empfindungen bezeichnet werden). Jede wissenschaftliche Aufgabe, die für ein menschliches Indivi- duum einen Sinn haben kann , bezieht sich auf Ermittelung der Abhängigkeit der Elemente von einander. Auch was wir im vulgären Leben Materie nennen, ist eine bestimmte Art des Zu- sammenhanges der Elemente. Die Frage nach der Empfindung der Materie würde also lauten: ob eine bestimmte Art des Zu- sammenhanges der Elemente (die in gewisser Beziehung auch immer Empfindungen sind) empfindet? In dieser Form wird die Frage niemand stellen wollen-). Alles, was für uns Interesse haben
1) Loeb, a. a. O. S. 130.
2) Vgl. popalär-wissenschattliche Vorlesungen, S. 230.
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kann, muss sich bei Verfolgung der allgemeinen Aufgabe er- geben, Wir fragen nach den Empfindungen der Thiere, 'wenn deren sinnlich beobachtetes Verhalten durch diese verständlicher wird. Nach Empfindungen des Krystalls zu fragen, die keine weitere Aufklärung über dessen sinnlich vollkommen bestimmtes Verhalten geben, hat keinen praktischen und keinen wissenschaft- lichen Sinn.
XII. Die Zeitempfindung ^).
I.
Viel schwieriger als die Raumempfindung ist die Zeitempfin- dung zu untersuchen. Manche Empfindungen treten mit, andere ohne deutliche Raumempfindung auf. Die Zeitempfindung begleitet aber jede andere Empfindung und kann von keiner gänzlich los- gelöst werden. Wir sind also bei der Untersuchung' darauf an- gewiesen, auf die Variationen der Zeitempfindung zu achten. Zu dieser psychologischen Schwierigkeit gesellt sich noch die andere, dass die physiologischen Processe, an welche die Zeit- empfindung geknüpft ist, noch weniger bekannt sind, tiefer und verborgener liegen als die andern Empfindungen entsprechenden Processe. Die Analyse muss sich also vorzugsweise auf die psy- chologische Seite beschränken, ohne von der physischen, wie dies in andern Sinnesgebieten wenigstens theilweise mögHch ist, ent- gegenzukommen.
Die wichtige Rolle, welche die zeitliche Ordnung der Ele- mente in unserem psychischen Leben spielt, braucht kaum be- sonders betont zu werden. Diese Ordnung ist fast noch bedeuten- der als die räumliche. Die Umkehrung der zeitlichen Ordnung entstellt einen Vorgang noch viel mehr, als die Umkehrung einer Raumgestalt von oben nach unten. Sie macht aus demselben geradezu ein anderes neues Erlebniss. Desshalb werden die Worte einer Rede, eines Gedichtes, nur in der erlebten Ordnung reproducirt und nicht auch in der umgekehrten, in welcher sie im
i) Der Standpunkt, den ich hier einnehme, ist hier nur wenig verschieden von jenem meiner ,, Untersuchungen über den Zeitsinn des Ohres" (Sitzber. der Wiener Akademie, Bd. 51, 1865). Auf die Einzelheiten dieser älteren Versuche, die ich schon 1860 begonnen habe, will ich hier nicht wieder zurückkommen. Auch das reiche Material kann hier nicht discutirt werden, welches sich durch die Arbeiten von Münsterberg, Schumann, Nichols, Hermann u. A. ergeben hat. Vergl. Scripture, The new Psychology, London 1897, p. 170.
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allgemeinen einen ganz andern, oder gar keinen Sinn haben. Kehrt man gar durch umg"ekehrtes Lautiren, oder durch umge- kehrten Gang des Phonographen die ganze akustische Folge um, so erkennt man nicht einmal mehr die Wortbestandtheile der Rede wieder. Nur an die bestimmte Lautfolge eines Wortes knüpfen sich bestimmte Erinnerungen, und nur wenn dieselben der Wortfolge entsprechend in bestimmter Ordnung geweckt werden, füg'en sie sich zu einem bestimmten Sinn zusammen. Aber auch eine Tonfolge, eine einfache Melodie, bei welcher die Gewohnheit und die Association jedenfalls eine sehr geringe Rolle spielen, wird durch die zeitliche Umkehrung unkenntlich. Die zeitliche Folge selbst sehr elementarer Vorstellungen oder Empfindungen gehört mit zu deren Erinnerung'sbild.
Fasst man die Zeit als Empfindung auf, so befremdet es weniger, dass in einer Reihe, welche in der Ordnung ABC DE ablief, irgend ein Glied, z. B. C, bloss die nachfolgenden^ nicht aber die vorhergehenden in die Erinnerung ruft. So taucht ja auch das Erinnerungsbild eines Gebäudes nicht mit dem Dach nach unten gekehrt auf. Uebrigens scheint es nicht einerlei zu sein, ob nach einem Organ A das Organ B erregt wird, oder umgekehrt. Es dürfte hierin ein physiolog'isches Problem lieg'en, mit dessen Lösung erst das volle Verständniss der fundamentalen psychologischen Thatsache des Ablaufs der Reproductionsreihen in einem bestimmten Sinne gegeben wäre ^). Möglich, dass diese Thatsache damit zusammenhängt, dass die Erregung, je nach dem Anfangspunkt, in welchem sie in den Org'anismus ein- tritt, auf ganz verschiedenen Wegen sich fortpflanzt, ähnlich wie dies für physikalische Fälle durch die Betrachtung S. 72 und die Fig. 12 erläutert wurde.
i) Vielleicht sind die nervösen Elemente nicht nur mit einer dauernden ange- bornen polaren Orientirung behaftet, wie dies durch die abwärts laufende Welle im Darm, in der Muskulatur der Schlange, durch die galvanotropischen Erscheinungen wahrscheinlich wird, sondern sie sind vielleicht auch einer temporären erworbenen Po- larität fähig, wie sich dies in der Einhaltung der Zeitfolge im Gedächtniss, in der Uebung u. s. w. ausspricht. „Vgl. Loeb und Maxwell, Zur Theorie des Galvano- tropismus. Pflügers Archiv, Bd 63, S. 121. — Loeb, Vergleichende Gehirnphysio- lügie, S. io8 u. ff.
- i87 -
Einem Ton C folge ein Ton D. Der Eindruck ist ein ganz anderer, als wenn C auf D folgt. Das liegt grossentheils an den Tönen selbst, an ihrer Wechselwirkung. Denn macht man die Pause zwischen beiden Tönen genügend gross, so unterscheidet man möglicher Weise beide Fälle gar nicht mehr. Analoges kann man bei der Folge von Farben, oder überhaupt von Em- pfindungen beliebiger Sinnesgebiete beobachten. Wenn aber einem Ton A eine Farbe oder ein Geruch B folgt, so weiss man doch immer, dass B auf A gefolgt ist, wobei die Schätzung der Pause zwischen A und B auch ganz unwesentlich durch deren Qualität beeinflusst ist. Es muss also nebenher noch ein Process stattfinden, der A^on der Variation der Empfindungsqualität nicht afficirt wird, der von derselben ganz unabhängig ist, und an dem wir die Zeit schätzen. Man kann ja eine Art Rhythmus aus ganz heterogenen Empfindungen, Tönen, Farben, Tasteindrücken u. s. w. herstellen.
2.
Dass es eine besondere specifische Zeitempfindung giebt, scheint mir hiernach nicht zweifelhaft. Der gleiche Rhyth- muss der beiden nebenstehenden Tacte von gänzlich verschie-
^l^^^^^i^
den er Tonfolge wird unmittelbar erkannt. Dies ist nicht Sache des Verstandes oder der Ueberlegung, sondern der Em- pfindung. So wie sich uns verschieden gefärbte Körper von gleicher Raumgestalt darstellen können, so finden wir hier zwei akustisch verschieden gefärbte Tongebilde von gleicher Zeit- gestalt. So wie wir in dem einen Fall die gleichen Raum- empfindungsbestandtheile unmittelbar herausfühlen, so bemerken wir hier die gleichen Zeitempfindungsbestandtheile oder die Gleichheit des Rhythmus.
Ich behaupte natürlich die unmittelbare Zeitempfindung nur bezüglich kleiner Zeiten. Längere Zeiten beurtheilen wir und schätzen wir durch die Erinnerung an die in denselben stattge-
habten Vorgänge, also durch Zerlegung in kleinere Theile, von welchen wir eine unmittelbare Empfindung hatten.
3-
Wenn ich eine Anzahl akustisch vollkommen gleicher Glocken- schläge höre, unterscheide ich den ersten, zweiten, dritten u. s. w. Sind es vielleicht die begleitenden Gedanken oder andere zufällige Empfindungen, mit welchen die Glockenschläge sich verknüpfen^ die diese Unterscheidungsmerkmale abgeben? Ich glaube nicht, dass jemand ernstlich diese Ansicht wird aufrecht erhalten wollen. Wie zweifelhaft und unzuverlässig müsste da unser Zeitmaass ausfallen. Wohin müsste es gerathen, wenn jener zufällige Ge- danken- und Empfindungshintergrund aus dem Gedächtniss ver- schwinden würde?
Während ich über irgend etwas nachdenke, schlägt die Uhr, die ich nicht beachte. Nachdem sie ausgeschlagen hat, kann es mich interessiren , die Glockenschläge zu zählen. Und in der That tauchen in meiner Erinnerung deutlich ein, zwei, drei, vier Glockenschläge auf, während ich ganz dieser Erinnerung meine Aufmerksamkeit zuwende, und mir gerade dadurch für den Augen- blick gänzlich entschwindet, worüber ich während des Schiagens der Uhr nachgedacht habe. Der vermeintliche Hintergrund, auf dem ich die Glockenschläge fixiren könnte, fehlt mir nun. Wo- durch unterscheide ich also den zweiten Schlag vom ersten? Warum halte ich nicht alle die gleichen Schläge für einen? Weil jeder mit einer besonderen Zeitempfindung verknüpft ist, die mit ihm zugleich auftaucht. Ein Erinnerungsbild unterscheide ich von einer Ausgeburt meiner Phantasie ebenfalls durch eine specifische Zeitempfindung, welche nicht jene des gegenwärtigen Augen- blickes ist.
4- Da die Zeitempfindung immer vorhanden ist, solang'e wir
bei Bewusstsein sind, so ist es wahrscheinlich, dass sie mit der nothwendig an das Bewusstsein geknüpften organischen Consum- tion zusammenhängt, dass wir die Arbeit der Aufmerksam- keit als Zeit empfinden. Bei angestrengter Aufmerksamkeit
— iSg —
wird uns die Zeit lang, bei leichter Beschäftigung kurz. In stumpfem Zustand, wenn wir unsere Umgebung kaum beachten, fliegen die Stunden rasch dahin. Wenn unsere Aufmerksamkeit gänzlich erschöpft ist, schlafen wir. Im traumlosen Schlaf fehlt auch die Empfindung der Zeit. Der Tag" von gestern ist mit dem von heute, wenn zwischen beiden ein tiefer Schlaf liegt, die gleichbleibenden Gemeingefühle abgerechnet, nur durch ein intellectuelles Band verknüpft.
Auf das wahrscheinlich verschiedene Zeitmaass verschieden grosser Thiere derselben Art habe ich schon bei früherer Ge- legenheit hingewiesen ^). Aber auch mit dem Alter scheint sich das Zeitmaass zu ändern. Wie kurz erscheint mir jetzt der Tag gegen jenen meiner Jugendzeit. Und wenn ich mich an den Secundenschlag der astronomischen Uhr erinnere, welche ich in der Jugend beobachtete, so erscheint mir dieser Secundenschlag jetzt merklich beschleunigt. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass meine ph3^siologische Zeiteinheit grösser geworden ist.
Die Ermüdung des Bewusstseinsorgans schreitet, solange wir wachen, continuirlich fort, und die Arbeit der Aufmerksam- keit wächst ebenso stetig. Die Empfindungen, welche an eine grössere Arbeit der Aufmerksamkeit geknüpft sind, erscheinen uns als 'die späteren.
Normale wie anomale psychische Vorkommnisse scheinen sich dieser Auffassung wohl zu fügen. Da die Aufmerksamkeit sich nicht zugleich auf zwei verschiedene Sinnesorgane erstrecken kann, so können deren Empfindungen nicht mit einer absolut gleichen Aufmerksamkeitsarbeit zusammentreffen. Die eine er- scheint also später als die andere. Ein solches Analogon dieser sogenannten persönlichen Differenz der Astronomen ergibt sich aber aus dem analogen Grunde auch in einem und demselben Sinnesgebiet. Es ist bekannt, dass ein optischer Eindruck, der physisch später entsteht, unter Umständen dennoch früher er- scheinen kann. Es kommt z. B. vor, dass der Chirurg beim Aderlassen zuerst das Blut austreten, und dann den Schnepper
i) a. a. O. S. 17.
— igo —
einschlagen sieht i). Dvorak 2) hat in einer Versuchsreihe, die er vor Jahren auf meinen Wunsch ausgeführt hat, gezeigt, dass sich dies Verhältniss willkürlich herstellen lässt, indem das mit Aufmerksamkeit fixirte Object (selbst bei einer wirklichen Ver- spätung von Ys — Ye Secunde) früher erscheint als das indirect gesehene. Es ist wohl möglich, dass sich die bekannte Erfahrung der Chirurgen durch diesen Umstand aufklären lässt. Die Zeit aber, welche die Aufmerksamkeit benöthigt, um von einem Orte, an dem sie beschäftigt wird, nach einem andern zu^ übersiedeln, zeigt sich in folgendem von mir angestellten Versuch ^). Zwei intensiv rothe Quadrate von 2 cm Seite und 8 cm Abstand auf schwarzem Grunde werden in völliger Dunkelheit durch einen für das Auge gedeckten electrischen Funken be- ■ "^ ■ ' leuchtet. Das direct gesehene Quadrat er-
scheint roth, das indirect gesehene grün, und zwar oft sehr intensiv. Die verspätete Aufmerksamkeit findet also das direct gesehene Quadrat schon in dem Stadium des Pur- kinje'schen positiven Nachbildes vor. Auch eine Geissler- sche Röhre mit zwei etwas von einander entfernten roth leuch- tenden Theilen zeigt beim Hindurchgehen einer einzelnen Ent- ladung dieselbe Erscheinung *)•
In Bezug auf die Einzelheiten muss ich auf die Abhandlung von Dvoi-ak verweisen. Besonders interessant sind Dvoraks^) Versuche über die stereoscopische (binoculare) Combination un- gleichzeitiger Eindrücke. Neuere Versuche dieser Art haben Sandford ^) und Münsterberg'') ang-estellt.
i
grün |
roth |
|
• |
||
roth |
roth |
i) Vergl. Fechner, Psychophysik, Leipzig 1860, Bd. II, S. 433.
2) Dvofäk, Ueber Analoga der persönlichen Differenz zwischen beiden Augen und den Netzhautstellen desselben Auges. Sitzungsberichte der königl. böhm. Gesell- schaft der Wissenschaften. (Matth.-naturw. Classe) vom 8. März 1872.
3) Von Dvorak a. a. O. mitgetheilt.
4) Auch Professor G. Heymanns, dem dieser letztere Versuch Anfangs nicht gelingen wollte, hat sich später von der Richtigkeit der Angabe überzeugt.
5) a. a. O. S. 2.
6) Sandford, Amer. Journ. Psch., 1894, Vol. VI, p. 576.
7) Münsterberg, Psch, Rew., 1894, Vol. I, p. 56.
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5-
Wiederholt habe ich ein interessantes hierher gehöriges Phä- nomen beobachtet. Ich sass in die Arbeit vertieft in meinem Zimmer, während in einem Nebenzimmer Versuche über Explo- sionen angestellt wurden. Regelmässig geschah es nun, dass ich zuerst erschreckt zusammenzuckte, und nachher erst den Knall hörte.
Da im Traum die Aufmerksamkeit besonders träge ist, so kommen in diesem P'all die sonderbarsten Anachronismen vor, und jeder hat wohl solche Träume erlebt. Wir träumen z. B. von einem Mann, der auf uns losstürzt und schiesst, erwachen plötz- lich, und bemerken den Gegenstand, der durch seinen Fall den ganzen Traum erzeugt hat. Es hat nun nichts Widersinniges an- zunehmen, dass der akustische Reiz verschiedene Nervenbahnen zugleich einschlägt, und hier in beliebiger verkehrter Ordnung von der Aufmerksamkeit angetroffen wird, so wie ich bei der obigen Beobachtung zu erst die allg-emeine Erregung-, und dann den Explosionsknall bemerkte. Freilich wird es in manchen Fällen zur Erklärung auch ausreichen, ein Verweben einer Sinnesempfindung- in ein vorher schon vorhandenes Traumbild anzunehmen.
6.
Würde die Consumtion oder etwa die Anhäufung eines Er- müdungsstoffes unmittelbar empfunden, so müsste man ein Rückwärtsgehen der Zeit im Traum erwarten. — Die vSonderbar- keiten des Traumes lassen sich fast alle darauf zurückführen, dass manche Empfindungen und Vorstellungen gar nicht, andere zu schwer und zu spät ins Bewusstsein treten. Trägheit der Asso- ciation ist ein Grundzug des Traumes. — Der Intellect schläft oft nur theilweise. Man spricht im Traume sehr vernünftig mit längst verstorbenen Personen, erinnert sich aber nicht ihres Todes. Ich spreche zu einem Freunde von einer dritten Person, und dieser Freund ist selbst die Person, von der ich sprach. Man reflectirt im Traume über den Traum, erkennt ihn als Traum an den Sonderbarkeiten, ist aber gleich wieder über dieselben be-
— I g 2 —
ruhigt. — Mir träumte sehr lebhaft von einer Mühle. Das Wasser floss in einem geneigten Canal von der Mühle herab und hart daneben in einem eben solchen Canal zur Mühle hinauf. Ich war dadurch gar nicht beunruhigt. — Als ich viel mit Raum- fragen beschäftigt war, träumte mir von einem Spazierg-ang im Walde. Plötzlich bemerkte ich die mangelhafte perspectivische Verschiebung" der Bäume, und erkannte daran den Traum. Sofort traten aber auch die vermissten Verschiebungen ein. — Im Traum sah ich in ineinem Laboratorium ein mit Wasser gefülltes Becher- glas, in dem ruhig ein Kerzenlicht brannte. „Woher bezieht das den Sauerstoff?" dachte ich. „Der ist im Wasser absorbirt." „Wo kommen die Verbrennungsg"ase hin ?" Nun stiegen Blasen von der Flamme im Wasser auf, und ich war beruhigt. — W. Robert i) macht die vortreffliche Beobachtung, dass es hauptsächlich Wahr- nehmungen und Gedanken sind, die man wegen einer Störung" bei Tage nicht zu Ende führen konnte, welche im Traume sich fortspinnen. In der That findet man häufig die Traumelemente in den Erlebnissen des vorausgehenden Tages. So konnte ich den Traum von dem Licht im Wasser fast mit Sicherheit auf einen Vorlesungsversuch mit dem electrischen Kohlenlicht unter Wasser, jenen von der Mühle, auf die Versuche mit dem Apparat Fig. i8, S. 113 zurückführen'"). In meinen Träumen spielen Gesichtshallucinationen die Hauptrolle. Seltener habe ich aku- stische Träume. Ich höre jedoch deutlich Unterredungen im Traume, Glockengeläute und Musik 3). Jeder Sinn, selbst der Geschmacksinn, macht sich, wenn auch seltener, im Traume geltend. Da im Traume die Reflexerregbarkeit sehr gesteigert, das Gewissen aber wegen der träg'en Association sehr geschwächt ist, so ist der Träumende fast eines jeden Verbrechens fähig, und kann im Stadium des Erwachens die ärgsten Qualen durchkosten. Wer solche Erlebnisse auf sich wirken lässt, wird sehr zweifeln,
1) Ueber den Traum, Hamburg 1886.
2) Principien der Wärmelehre, 2. Aufl., 1900, S. 444.
3) Wallasehek, das musikalische Gedächüiiss. Vierteljahrschr. f. Musik- wissensch. 1882, S. 204.
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dass die Methode unserer Gerechtigkeit die richtige ist, ein Un- glück durch ein zweites gut zu machen, welches in empörend besonnener, grausamer und feierlicher Weise hinzugefügt wird. — Ich möchte die Gelegenheit nicht vorbei gehn lassen, dem Leser das vortreffliche Buch von M. de Manaceine zu empfehlen^). Was über das Unzureichende der temporären Associationen zur Erklärung des psychischen Lebens S. 151, 180, 181 gesagt wurde, gilt auch für den Traum. Es kommt noch hinzu, dass im Traum die leisesten Spuren des für das wache Bewusstsein längst Ver- gessenen, die geringsten Störungen der Gesundheit und des Ge- müthslebens, welche vor dem Lärm des Tages in den Hinter- grund treten mussten, sich geltend machen können. Du Prel vergleicht in seiner „Philosophie der Mystik" (1885, S. V, 123) diesen Vorgang poetisch und wahr zugleich mit dem Sichtbar- barwerden des schwach leuchtenden Sternenhimmels nach Unter- gang der Sonne. Das genannte Buch enthält überhaupt manche bemerkenswerthe und tiefe Blicke. Gerade der Naturforscher, dessen kritischer Sinn auf das zunächst Erforschbare gerichtet ist, liest dasselbe mit Vergnügen und Gewinn, ohne sich durch die Neigung des Verfassers für das Abenteuerliche, Wunderbare und Ausserordentliche beirren zu lassen.
7- Wenn die Zeitempfindung an die wachsende organische Consumtion oder an die ebenfalls stetig wachsende Arbeit der Aufmerksamkeit gebunden ist, so wird es verständlich, warum die physiologische Zeit ebenso wie die physikalische Zeit nicht umkehrbar ist, sondern nur in einem Sinne abläuft. Die Con- sumtion und Aufmerksamkeitsarbeit kann, solange wir wachen,
nur wachsen und nicht abnehmen.
3 ß ß p
LU
ß ß m ß o -^^^ beiden nebenstehenden Takte, wel- ' ' che für das Auge und den Verstand eine Symmetrie darbieten, zeigen nichts
I) Sleep, ist Physiology etc. London 1897. Mach, Analyse, 3. Aufl. 13
Derartiges in Bezug auf die Zeitempfindung. Im Gebiete des Rhythmus und der Zeit überhaupt gibt es keine Symmetrie.
Es möchte wohl eine nahehegende und natürliche, wenn auch noch unvollkommene Vorstellung sein, sich das ,,Bewusst- seinsorgan" in g'eringem Grade aller specifischen Energien fähig zu denken, von welchen jedes Sinnesorg-an nur einige aufzu- weisen vermag. Daher das Schattenhafte und Vergängliche der Vorstellung gegenüber der Sinnesempfindung, durch welche letz- tere die erstere stets genährt und aufgefrischt werden muss. Da- her die Fähigkeit des Bewusstseinsorgans als Verbindungs- brücke zwischen allen Empfindungen und Erinnerungen zu dienen. Mit jeder specifischen Energie des Bewusstseinsorgans hätten wir uns noch eine besondere Energie, die Zeitempfin- dung, verbunden zu denken, so dass keine der ersteren ohne die letztere erregt werden kann. Sollte es scheinen, dass diese letztere physiologisch müssig und nur ad hoc erdacht sei, so könnte man ihr sofort eine wichtige physiologische Function zuweisen. Wie wäre es, wenn diese Energie den die arbeitenden Hirntheile nährenden Blutstrom unterhalten, an seinen Bestimmungsort leiten und reguliren würde? Unsere Vorstellung- von der Auf- merksamkeit und der Zeitempfindung würde dadurch eine sehr materielle Basis erhalten. Es würde verständHch, dass es nur eine zusammenhängende Zeit gibt, da die Theilaufmerksamkeit auf einen Sinn immer nur aus der Gesammtaufmerksamkeit fliesst, und durch diese bedingt ist.
Die plethysmographischen Arbeiten von Mosso, sowie dessen Beobachtungen über den Blutkreislauf im Gehirn ^), legen eine solche Auffassung nahe. James-) äussert sich über die hier ausgesprochene Vermuthung vorsichtig zustimmend. Eine be-
i) Mosso, Kreislauf des Blutes im Gehirn, Leipzig 1881. — Vergl. auch: Kornfeld, Ueber die Beziehung von Athmung und Kreislauf zur geistigen Arbeit, Brunn 1869.
2) James, Psychology I, 635.
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stimmtere ausgef ührtere Form derselben, die James als wünschens- werth bezeichnet, könnte ich leider nicht angeben.
9- Wenn wir eine Anzahl gleicher Glockenschläge beobachten, so können wir, solange sie in geringer Anzahl gegeben sind, jeden einzelnen von den andern in der Erinnerung unterscheiden, und können in der Erinnerung nachzählen. Bei einer grössern Zahl von Glockenschlägen aber unterscheiden wir zwar die letzten von einander, doch nicht mehr die ersten. Wollen wir in diesem Fall keinem Irrthum unterliegen, so müssen wir gleich beim Er- klingen derselben zählen, d. h. jeden vSchlag willkürHch mit einem Ordnungszeichen verknüpfen. Die Erscheinmig ist ganz analog derjenigen, welche wir im Gebiet des Raumsinns beobachten, und wird auch nach demselben Princip zu erklären sein. Wenn wir vorwärts schreiten, haben wir zwar die Empfindung, dass wir uns von einem Ausgangspunkt entfernen, allein das physio- logische Maass dieser Entfernung geht nicht proportional dem geometrischen. So schrumpft auch die abgelaufene physio- logische Zeit perspectivisch zusammen, und ihre einzelnen Elemente werden weniger unterscheidbar i).
IG.
Wenn eine besondere Zeitempfindung existirt, so ist es selbst- verständlich, dass die Identität zweier Rhythmen unmittelbar er- kannt wird. Wir dürfen aber nicht unbemerkt lassen, dass der- selbe physikalische Rhythmus physiologisch sehr verschieden erscheinen kann, ebenso wie derselben physikalischen Raum gestalt je nach deren Lage verschiedene physiologische Raumformen ent- sprechen können. Der durch nebenstehende Noten veranschau-
iir nricj' nriCj'lrin
i) Vgl. S. 107.
13^
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lichte Rythmus erscheint z. B. ganz verschieden, je nachdem man die kurzen dicken, oder die langen dünnen, oder die punk- tierten Verticalstriche als Tactstriche ansieht. Es hängt dies augen- scheinlich damit zusammen, dass die Aufmerksamkeit (durch die Betonung geleitet) bei i, 2 oder 3 einsetzt, d. h. dass die den aufeinanderfolgenden Schlägen entsprechenden Zeitempfindungen mit verschiedenen Anfangsempfindungen verglichen werden.
Bei Verlängerung oder Verkürzung aller Zeiten eines Rhythmus entsteht ein ähnlicher Rhythmus. Als solcher empfunden kann derselbe nur werden, wenn die Verlängerung oder Ver- kürzung nicht über ein gewisses Maass hinausgeht, das eben der unmittelbaren Zeitempfindung g-esteckt ist.
Der im Folgenden dargestellte Rhythmus erscheint dem vorigen physiologisch ähnlich, aber nur dann, wenn in beiden die gleichbezeichneten Tactstriche anerkannt werden, wenn also die Aufmerksamkeit in homologen Zeitpunkten einsetzt. Zwei
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ß \ fi , ff » \ ß ] ß , ß ß
physikalische Zeitgebilde können als ähnlich bezeichnet werden, wenn alle Theile des einen in demselben Verhältniss zu einander stehen, wie die homologen Theile des andern. Die physiologische Aehnlichkeit tritt aber erst hervor, wenn auch die obige Bedingung erfüllt ist. So viel ich übrigens zu beur- theilen vermag, erkennt man die Zeitverhältnisse zweier Rhythmen nur dann als gleich, wenn dieselben durch sehr kleine ganze Zahlen dargestellt sind. Eigentlich bemerkt man also unmittelbar nur die Gleichheit oder Ung-leichheit zweier Zeiten, und erkennt das Verhältniss im letzteren Fall nur da- durch, dass ein Theil in dem andern einfach aufgeht. Hierdurch erklärt es sich, warum man beim Tactgeben die Zeit in lauter durchaus gleiche Theile theilt i).
l) Die Aehnlichkeit der Rauingestalten würde hiernach viel unmittelbarer em- pfunden als die Aehnliciilceit der Rhythmen.
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Es wird hiermit die Vermuthung nahe gelegt, dass die Em- pfindung der Zeit mit periodisch oder rhythmisch sich wieder- holenden Processen in nahem Zusammhange steht. Es wird sich aber kaum nachweisen lassen, wie es gelegentlich versucht worden ist, dass sich das allgemeine Zeitmaass auf die Athmung oder den Puls gründet.
Auch Herr Dr. R. Wlassak hat mir bei Gelegenheit eines Gespräches eine Bemerkung mitgetheilt, die ich mit seinen eigenen Worten wiedergeben will:
„Mit der Hypothese, dass die Zeitempfindung von der orga- nischen Consumtion abhängig ist, steht es in Einklang, dass die Zeitwerthe überall da zu starker Abhebung gelangen, wo die Empfindungen mit lebhafter Gefühlsbetonung verbunden sind. Dies gilt sow^ohl für mit stark lustvollen wie auch mit unlust- vollen Empfindungen ausgefüllte Zeitstrecken. Dagegen sind die in den Indifferenzwerthen der Gefühlsbetonung sich bewegenden Empfindungen mit relativ undeutlichen Zeitempfindungen ver- knüpft. Diese Thatsachen weisen darauf hin, dass der den Zeit- empfindungen und den Gefühlen zugehörige nervöse Vorgang gewisse Analogien darbietet.
In der That bringen alle Versuche einer physiologischen Theorie der Gefühle diese in Beziehung zur Consumtion, z. B. Meynert's und auch Avenarius' Theorie der Gefühle."
XIII. Die Tonempfindungen ^)
Auch in Bezug auf die Tonempfindungen müssen wir uns vorzugsweise auf die psychologische Analyse beschränken. Es kann hier ebenfalls nur der Anfang einer Untersuchung ge- boten werden.
Zu den für uns wichtigsten Tonempfindungen gehören diejenigen, welche durch das menschliche Stimm organ als Aeusserungen von Lust und Schmerz, zur sprachlichen Mittheilung von Gedanken, als Ausdruck des Willens u. s. w. erregt werden. Das Stimmorgan und das Gehörorgan befinden sich auch zweifellos in enger Beziehung. In einfachster und deutlichster Weise enthüllen die Tonempfindungen ihre merkwürdigen Eigenschaften in der Musik. Wille, Gefühl, Lautäusserung und Laut- empfindung stehen gewiss in einem starken physiologischen Zusammenhang. Es wird auch ein guter Theil Wahrheit darin stecken, wenn Schopenhauer 2) sagt, dass die Musik den Willen darstelle, wenn die Musik als eine Sprache des Gefühls bezeichnet wird u. s. w., doch kaum die ganze Wahrheit.
i) Den hier dargelegten Standpunkt habe ich (von der Detailausführung abge- sehen) schon vor 35 Jahren eingenommen. (Stumpf (Tonpsychologie, Leipzig 1883; Bd. 1), dem ich für die vielfache Berücksichtigung meiner Arbeiten hier danken muss, bringt manche mir sehr sympathische Einzelheiten. Seine S. 119 ausgesprochene An- sicht schien mir aber mit meinem Forschungsprincip des Parallelismus unvereinbar. Seine gegen Lipps gerichtete Bemerkiing jedoch (Beiträge zur Akustik, Bd. I, S. 47, Fussnote) steht meiner Auffassung wieder näher. — Vergi. meine Note: ,,Zur Analyse der Tonempfindungen", Sitzungsber. d. Wiener Akademie, Bd. 92, IL Abth., S. 1282 (1895).
2) Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung.
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2.
H. Bergi) hat, um es kurz zu sagen, nach dem Vorgange Darwin 's versucht, die Musik aus dem Brunstgeheul der Affen herzuleiten. Man müsste verblendet sein, wenn man das Verdienst- volle und Aufklärende der Ausführungen Darwin's und Berg's verkennen wollte. Auch heute noch kann die Musik sexuelle Saiten berühren, auch heute noch wird sie zur Liebeswerbung thatsächlich benützt. Auf die Frage aber, worin das Angenehme der Musik liegt, gibt Berg keine befriedigende Antwort. Und da er musikalisch auf dem Helmholtz 'sehen Standpunkt der Vermeidung der vSchwebungen steht, und annimmt, dass die am wenigsten unangenehm heulenden Männchen den Vorzug er- hielten, so darf man sich vielleicht wundern, warum die klügsten dieser Thiere nicht lieber ganz schwiegen.
Wenn die Beziehung irgend einer biologischen Erscheinung zur Arterhaltung aufgedeckt, und dieselbe phylogenetisch her- geleitet wird, so ist damit viel gethan. Keineswegs darf man aber glauben, dass auch schon alle diese Erscheinung betreffenden Probleme gelöst seien. Niema,nd wird wohl das Angenehme der specifischen Wollustempfindung dadurch erklären wollen, dass er deren Zusammenhang mit der Arterhaltung nachweist. Viel eher wird man zugeben, dass die Art erhalten wird, weil die Wollust- empfindung angenehm ist. Mag die Musik immerhin unsern Organismus an die Liebeswerbungen der Urahnen erinnern, wenn sie zur Werbung benützt wurde, musste sie schon positiv Angenehmes enthalten, welches gegenwärtig allerdings durch jene Erinnerung verstärkt werden kann. Wenn der Geruch einer verlöschenden Oellampe mich fast jedesmal in angenehmer Weise an die Laterna magica erinnert, die ich als Kind bewunderte, so ist dies ein ähnlicher Fall aus dem individuellen Leben. Doch riecht darum die Lampe an sich nicht weniger abscheulich. Und wer durch Rosenduft an ein angenehmes Erlebniss erinnert wird,
i) H. Berg, Die Lust an der Musik. Berlin 1879
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glaubt darum nicht, dass der Rosenduft nicht schon vorher an- genehm gewesen sei. Derselbe hat durch die Association nur gewonnen^). Kann nun die erwähnte Auffassung schon das Angenehme der Musik überhaupt nicht genügend erklären, so vermag sie zur Beantwortung von Specialfragen, wie z. B., warum in einem gegebenen Fall eine Quarte einer Quinte vorgezogen wird, wohl noch weniger beizutragen.
3-
Man würde überhaupt die Tonempfindungen etwas einseitig beurtheilen, wenn man nur das Gebiet der Sprache und Musik berücksichtigen wollte. Die Tonempfindungen vermitteln nicht allein die Mittheilung, die Aeusserung von Lust und Schmerz, die Unterscheidung der Stimmen von Männern, Frauen, Kindern. Sie bieten nicht allein Merkzeichen der Anstrengung, der Leiden- schaft des Sprechenden oder Rufenden. Wir unterscheiden durch dieselben auch grosse und kleine schallende Körper, die Tritte grosser und kleiner Thiere. Gerade die höchsten Töne, welche das Stimmorgan des Menschen nicht selbst erzeugt, sind für die Beurtheilung der Richtung, aus welcher der Schall kommt, muth- masslich sehr wichtig-). Ja diese letzteren Functionen der Ton- empfindungen sind wahrscheinlich in der Thierwelt älter als die- jenigen, welche erst im geselligen Leben der Thiere eine Rolle spielen. Wie man sich durch Neigung eines Cartonblattes vor dem Ohr überzeugen kann, werden nur jene Geräusche, welche sehr hohe Töne enthalten, das Sausen und Zischen einer Gas- flamme, eines Dampfkessels oder Wasserfalles, je nach der Lage des Cartonblattes durch Reflexion modificirt, während tiefe Töne ganz unbeeinflusst bleiben. Die beiden Ohrmuscheln können also
i) Auf die Bedeutung der Association für die Aesthetik hat namentlich Fechner hingewiesen.
2) Mach, Bemerkungen über die Function der Ohrmuschel (Tröltsch's Archiv für Ohrenheilkunde, N. F. Bd. 3, S. 72). — Vergl. auch Mach und Fischer, Die Reflexion und Brechung des Schalles. Pogg. Ann., Bd. 149, S. 321. — A. Stein- hauser, Theorie des binaurealen Hörens, Wien 1877.
\
20I
nur durch ihre Wirkung auf hohe Töne als Richtungszeiger ver- wendet werden 1).
4-
Den wesentlichen Fortschritt in Bezug auf die Analyse der Gehörsempfindungen, welcher durch Helmholtz2)in Fortführung der gewichtigen Vorarbeiten 3) vonSauveur.Rameau, R.Smith, Young, Ohm u.a. bewirkt worden ist, wird jedermann freudig anerkennen. Wir erkennen mit Helmholtz das Geräusch als eine Combination von Tönen, deren Zahl, Höhe und Inten- sität mit der Zeit variirt. In dem Klange hören wir mit dem Grundton n im Allgemeinen noch die Obertöne oder Partialtöne 271, 3^2, /\n u. s. w., deren jeder einfachen pendeiförmigen Schwingungen entspricht. Werden zwei Klänge, deren Grund- tönen die Schwingungszahlen n und m entsprechen, melodisch und harmonisch verbunden, so kann bei bestimmten Ver- hältnissen*) von n und m theilweise Coincidenz der Partialtöne eintreten, wodurch im ersteren Falle die Verwandtschaft der Klänge bemerklich, im zweiten Falle eine Verminderung der Schwebungen herbeigeführt wird. Alles dies wird nicht zu bestreiten sein , wenn es auch nicht als erschöpfend aner- kannt wird.
Ebenso zustimmend kann man sich gegenüber Helmholtz' physiologischer Theorie des Hörens verhalten. Durch die Beobachtungen, welche sich beim Zusammenklang einfacher Töne ergeben, wird es äusserst wahrscheinlich, dass der Reihe der
i) Ich hatte Gelegenheit zu beobachten, wie zahme Hamster, welche gegen tiefe und laute Geräusche ganz unempfindlich waren, jedesmal plötzlich erschreckt und ungestüm in ihr Versteck fuhren, sobald man durch Reiben von Stroh oder Zer- knittern von Papier ein hohes Geräusch hervorbrachte. Auch einige Monate alte Kinder sind für solche Geräusche sehr empfindlich.
2) Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen, i. Aufl., Braun- schweig 1863.
3) Vergl. „zur Geschichte der Akustik" in „Populärwissenschaftliche Vor- lesungen" S. 48.
4) Der ^te Partialton von n fällt mit dem ^te von m zusammen, wenn, p n
^= q m, also m = — 7t it. Hierbei sind p, q ganze Zahlen.
202
Schwingungszahlen eine Reihe von Nervenendorganen entspricht, so dass für die verschiedenen Schwingung'szahlen verschiedene End- organe vorhanden sind, von welchen jedes nur auf einige wenige einander nahehegende Schwingungszahlen anspricht, Helm- holtz' ph 3^ si kaiische Vorstellungen über die Function des Labyrinths haben sich dagegen als nicht haltbar erwiesen, worauf wir noch zurückkommen.
.5- Nach einem besonderen Gehörorgan für Geräusche zu suchen, scheint für jeden, der mit Helmholtz annimmt, dass alle Ge- räusche sich in länger oder kürzer anhaltende Tonempfindungen auflösen lassen, vorläufig' überflüssig. Von dieser Inconsequenz ist Helmholtz auch bald wieder zurückgekommen. Mit der Frage nach der Beziehung des Geräusches (insbesondere des Knalles) zum Ton habe ich mich vor langer Zeit (Winter 1872/73) beschäftigt und gefunden, dass sich alle Uebergänge zwischen beiden aufweisen lassen. Ein Ton von 128 ganzen Schwingungen, den man durch den kleinen Ausschnitt einer grossen langsam rotirenden Scheibe hört, schrumpft zu einem kurzen trockenen Schlag (oder schwachen Knall) von sehr undeutlicher Tonhöhe zusammen, wenn seine Dauer auf 2—3 Schwingungen reducirt wird, während bei 4 — 5 Schwingung-en die Höhe noch ganz deutlich ist. Andererseits bemerkt man an einem Knall, selbst wenn der- selbe von einer aperiodischen Luftbewegung herrührt (Funkenwelle, explodirende Knallgasblase), bei genügender Aufmerksamkeit eine Tonhöhe, wenngleich keine sehr bestimmte. Man überzeugt sich auch leicht, dass an einem von der Dämpfung befreiten Ciavier durch grosse explodirende Knallgasblasen vorzugsweise die tiefen, durch kleine die hohen Saiten zum Mitschwing-en er- regt werden. Flierdurch scheint es mir nachgewiesen, dass das- selbe Organ die Ton- und die Geräuschempfindung vermitteln kann. Man wird sich vorzustellen haben, dass eine schwächere, kurz dauernde aperiodische Luftbewegung alle, aber vorzugs- weise die kleinen leichter erregbaren, eine stärkere länger an-
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haltende auch die grösseren trägeren Endorgane erregt, welche dann bei ihrer gering^eren Dämpfung, länger ausschwingend, sich bemerklich machen, und dass selbst bei verhältnissmässig schwachen periodischen Luftbewegungen durch Häufung der Effecte an einem bestimmten Gliede der Reihe der Endorgane die Reizung hervortritt 1). Qualitativ ist die Empfindung, welche ein tiefer oder hoher Knall erregt, dieselbe, nur intensiver und von kürzerer Dauer, als diejenige, welche das Niederdrücken einer grossen Anzahl benachbarter Ciaviertasten in tiefer oder hoher Eage erregt. Auch fallen bei der einmaligen Reizung durch Knall die an die periodische intermittirende Reizung gebundenen Schwebungen weg.
6.
Helmholtz' Arbeit, welche bei ihrem Auftreten zunächst allgemeiner Bewunderung begegnete, erfuhr in späteren Jahren vielfache kritische Angriffe, und es scheint fast, als ob die an- fängliche Ueberschätzung dem Gegentheil gewichen wäre. Phy- siker, Physiologen und Psychologen hatten ja durch beinahe vier Decennien Zeit, die drei Seiten, welche diese Theorie darbietet, zu mustern, und es wäre wohl ein Wunder gewesen, wenn sie die schwachen Stellen nicht erspäht hätten. Ohne auf Vollständigkeit Anspruch zu machen, wollen wir nun die hauptsächlichsten kritischen Bedenken in Augenschein nehmen, zunächst die von physikalischer und physiologischer Seite vorgebrachten unter einem, dann jene der Psychologen.
Helmholtz hat, von psychologischen und physikalischen Gesichtspunkten geleitet, angenommen, dass das innere Ohr aus einem System von Resonatoren besteht, welches die Glieder der Fourier'schen Reihe, die der dargebotenen Schwingungsform
i) Ueber einen Theil meiner Versuche, die an Dvorak' s Experimente über Nachbilder von Reizändermigen (1870) anknüpften, habe ich berichtet, in ,,Lotos", Augustnummer 1873. Die Versuche, betreffend die Erregung der Ciaviertöne durch Explosionen, habe ich überhaupt noch nirgends erwähnt. Es wird vielleicht nicht un- nütz sein, wenn es hier geschieht. — Dieselben Fragen haben später Pfaundler, S. Exner, Auerbach, Brücke, W. Kohlrausch, Abraham und Brühl u. A. und zwar von verschiedenen Gesichtspunkten aus, ausführlich behandelt.
204 —
entspricht, als Theiltöne heraushört. Nach dieser Auffassung kann auch das Phasenverhältniss der Theilschwingungen auf die Em- pfindung keinen Einfluss üben. Dem entgegen versuchte der hochverdiente Akustiker König i) nachzuweisen, dass durch die blosse Phasenverschiebung der pendeiförmigen Theilschwingungen der sinnliche Eindruck (die Klangfarbe) geändert werde. Aber L. Hermann 2) konnte zeigen, dass bei Umkehrung des Be- wegungssinnes am Phonographen keine Aenderung der Klang- farbe sich ergibt. Nach Hermann erzeugen auch die einzelnen sinusförmigen Streifen der König 'sehen Wellensirene keine ein- fachen Töne, und König's Schlüsse gründeten sich also auf eine nicht zutreffende Voraussetzung 3). Diese Schwierigkeit kann dem- nach als beseitigt gelten.
Nicht so leicht sind die Erscheinungen der Combinationstöne vom Helmholtz'schen Standpunkt aufzuklären. Young nahm an, dass genügend rasche Schwebungen selbst als Töne hörbar, d. h. zu Combinationstönen werden. Da aber kein Resonator durch Schwebungen erregt werden kann, auf deren Tempo er gestimmt ist, sondern nur durch Töne, so könnten solche Com- binationstöne nach der Resonanztheorie nicht hörbar sein. Helm- holtz setzte also voraus, dass Combinationstöne entweder ob- jectiv durch kräftige Töne vermöge der Abweichung von der Linearität der Bewegungsgleichungen, oder subjectiv durch asymmetrische oder nichtlineare Schwingungsbedingungen der resonirenden Theile des inneren Ohres zu erklären sein. Nun
i) R. König, Quelques experiences de acoustique. Paris 1882.
2) L. Hermann, Zur Lehre von der Klangwahrnehmung. Pflüger's Archiv, Bd. 56 (1894), S. 467.
3) Ich habe schon 1867 Versuche angestellt mit einer eigenthümlichen Sirene, welche einem der König' sehen Apparate sehr ähnlich war. Die Mantelringe eines Cylinders trugen paarweise gleiche gegen einander verschiebbare sinusförmige Aus- schnitte, so dass man Intensität und Phase des betreffenden Theiltones beliebig ändern konnte. Es zeigte sich jedoch bei diesen Versuchen, dass die sinusförmigen Ausschnitte keine einfachen Töne gaben, wenn durch eine der Sinusordinate parallele Spalte gegen dieselben geblasen wurde. Da mein Apparat noch ziemlich unvollkommen war und seinem Zweck einen Klang aus Theiltönen von beliebiger Intensität und Phase zu- sammensetzen nach dem obigen nicht entsprach, so habe ich nichts über diese Ver- suche publicirt.
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konnte König ^) die Existenz von objectiven Compinationstönen nicht nachweisen, fand dageg-en auch zwischen weit abstehenden Tönen Schwächungen , welche jedesmal bei genügend ra.scher Folge als besondere Töne hörbar wurden. Hermann 2) vernahm Combinationstöne bei so schwachen zusammenwirkenden Tönen, dass erstere nach der Helmholtz'schen Theorie sowohl objectiv als subjectiv ganz un erklärbar scheinen. Deshalb reagirt auch nach Hermann's Ansicht, der sich hierin der König'schen anschliesst, das Ohr nicht nur auf sinusförmige Schwingungen, sondern auf jede Art von Periodicität mit einer durch die Dauer der Periode bestimmten Empfindung.
Die physikalische Resonanztheorie scheint, wenigstens in der unsprün glichen Form, nicht haltbar; Hermann glaubt^) sie aber durch eine physiologische Resonanztheorie ersetzen zu können. Auf diese, sowie auf die neue physikalische Hör- theorie von Ewald kommen wir noch zurück.
Wir besprechen nun die Einwendungen, welche vorzugs- weise von psychologischen Gesichtspunkten ausgehn. Ziemlich allgemein hat man das positive Moment bei Erklärung der Consonanz vermisst, indem man sich mit dem blossen Mangel an Schwebungen als zureichendem Merkmal der Harmonie
i) König, a. a. O. Schon nach König's Beschreibung, der sehr starke Stimmgabeltöne verwendete, musste ich vermuthen, dass bei den von ihm beobachteten Schwebungen vielfach die Obertöne ins Spiel kamen. Die Mitwirkung solcher Ober- töne hat nun Stumpf wirklich nachgewiesen (Wiedemann's Annalen, N. F. Bd. 57, S. 660). Von dieser Seite ist also die Helmholtz'sche Theorie sicher. Allein be- denklich ist es, dass objective Combinationstöne nicht existiren (König, Hermann) und, dass die subjectiven unter Umständen entstehen, v/elche mit der Helmholt z- schen Theorie nicht vereinbar sind (Hermann). Vgl. auch M. Meyer, Zur Theorie der Differenztöne und der Gehörsempfindungen überhaupt. (Zeitschr. f. Pychologie, Bd. 16, S. i),
2) Hermann, Zur Theorie der Combinationstöne. Pflüger's Archiv, Bd. 49 (1891), S. 499.
3) Hermann, Pflüger's Archiv, Bd. 56, S. 493.
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nicht zufrieden geben wollte. Auch A. v. Oettingen ^) vermisst die Angabe des für jedes Intervall characteristischen positiven Elementes (S. 30), und will den Werth eines Intervalles nicht von der physikalischen Zufälligkeit des Gehaltes der Klänge an Obertönen abhänig machen. Er glaubt das positive Element in der Erinnerung (S. 40, 47) an den gemeinsamen Grundton (die Tonica) zu finden, als dessen Partialtöne die Klänge des Intervalles oft aufgetreten sind, oder in der Erinnerung an den gemeinsamen Ob er ton (die Phonica), welcher beiden zukommt. In Bezug auf den negativen Theil der Kritik muss ich v. Oettingen vollkommen beistimmen. Die „Erinnerung" deckt aber das Bedürfniss der Theorie nicht, denn Consonanz und Dissonanz sind nicht Sache der Vorstellung, sondern der Empfindung. Physiologisch halte ich also v. Oettingen's Auffassung für nicht zutreffend. In v. Oettingen's Aufstellung des Principes der Dualität aber (der tonischen und phonischen Verwandtschaft der Klänge), sowie in seiner Auffassung der Dissonanz als eines mehrdeutigen Klanges (S, 244) scheinen mir werthvolle posi- tive Leistungen zu liegen -).
8. Sehr eingehend hat Stumpf in verschiedenen Schriften die Helmholtz'sche Lehre kritisirt ^). Er beanstandet zunächst die zwei verschiedenen Definitionen, durch Wegfall der Schwe- bungen und durch Coincidenz der Partialtöne, die Helmholtz
i) A. V. Oettingen, Harmoniesystem in dualer Entwicklung. Dorpat 1866.
2) Eine populäre Darstellung des Princips der Dualität, welches schon Euler (Tentamen novae theoriae musicae p. 103), D' Alembert (Elements de musique. Lyon 1766) und Hauptmann (Die Natur der Harmonik und Metrik, Leipzig 1853, geahnt haben, findet sich in meiner kleinen Schrift: Die Gestalten der Flüssigkeit. Die Symmetrie, Prag 1872 (Popul. wissensch. Vorles. S. 100). — An eine voll- werthige Symmetrie wie im Gebiete des Gesichtsinnes darf natürlich im Gebiete der Musik, da die Tonempfindungen selbst kein symmetrisches System bilden, nicht gedacht werden.
3) Wir halten uns hier vor allem an Stumpf, Beiträge zur Akustik und Musikwissenschaft, Heft I, Leipzig 1898.
207 —
von der Consonanz gibt. Die erstere sei bei melodischer Folge, die letztere bei harmonischer Verbindung nicht anwendbar und nicht characteristisch. Ein nach Art der Schwebungen inter- mittirender reiner Dreiklang ist keine Dissonanz. Anderseits lassen sich Beispiele von Zusammenklang weit abliegender Töne geben, bei welchen die vSchwebungen unmerklich werden, und die dennoch stark dissoniren. Vertheilt man zwei Stimmgabeltöne auf beide Ohren, so treten die Schwebungen jedenfalls sehr zurück, ohne dass der Unterschied zwischen Consonanz und Dissonanz geringer würde. Auch subjectiv gehörte Töne, etwa des Ohren- klingens, kann man als Dissonanzen empfinden, ohne natürlich Schwebungen zu hören. Endlich erweisen sich blos vorgestellte Töne als consonant oder dissonant, ohne dass hierbei die Vor- stellung der Schwebungen eine wesentliche Rolle spielen würde. Die Coincidenz der Partialtöne endlich fällt weg, wo keine Ober- töne vorhanden sind, ohne dass deshalb der Unterschied zwischen Dissonanz und Consonanz verschwinden würde. Von den Aus- führungen Stumpfs gegen die Erklärung der Consonanz durch unbewusstes Zählen, welche wohl nur mehr wenige Anhänger fin- den wird, wollen wir absehen. Ebenso wird man gern zugeben, dass die Annehmlichkeit keine hinreichend characteristische Eig'en- schaft der Consonanz ist. Dieselbe kann unter Umständen eben- sowohl der Dissonanz zukommen.
Stumpf selbst findet das Characteristische der Consonanz darin, dass sich der Zusammenklang zweier Töne bald mehr bald weniger dem Eindruck eines Tones nähert. Er definirt die Con- sonanz durch die „Verschmelzung". Er kehrt sozusagen zu den antiken Ansichten zurück, von welchen er eine ausführhche Ge- schichte ^) gibt. Auch Helmholtz ist diese Auffassung nicht fremd; er discutirt dieselbe, glaubt aber allerdings die erste richtige Erklärung des Verschmelzens der Klänge ge- geben zu haben.
i) C. Stumpf, Geschichte des Consonanzbegriffes, I Theil. Abh. d. Münchener Akademie, phil.-hist. Cl., 1897.
— 2(
Dass bei Consonanz eine Verschmelzung der Töne stattfindet, 'zeigt Stumpf durch statistische Versuche. UnmusikaHsche halten gleichzeitig angebene Töne desto öfter für einen, je besser dieselben consoniren. Das Bedürfniss, die Verschmelzung weiter zu erklären, leugnet Stumpf nicht. Verschmelzen die Töne durch Aehnlichkeit , so muss dieselbe eine andere sein, als die- jenige, auf welcher die Reihenfolge der Töne beruht, denn die letztere nimmt mit dem Abstand der Töne stetig ab. Da ihm aber ein solches zweites Aehnlichkeitsverhältniss rein hypothetisch scheint, so zieht er es vor, an eine physiologische Erklärung anderer Art zu denken. Die Gehirnprocesse beim gleichzeitigen Empfinden zweier Töne von einfacherem Schwingungszahlenver- hältniss sollen in einer engeren Beziehung (in specifischer Synenergie) stehen, als wenn das Schwingungszahlenverhältniss complicirter ist^). Auch aufeinanderfolgende Töne können verschmelzen. Ob- gleich die homophone Musik der polyphonen historisch voraus- geht, hält es Stumpf doch für wahrscheinlich, dass die Auswahl der Tonstufen auch für erstere durch Erfahrungen beim gleich- zeitigen Hören der Töne geleitet war. In allem Wesentlichen wird man der Stumpf'schen Kritik zustimmen müssen.
9- Ich selbst habe schon in einer 18632) erschienenen Abhand- lung und auch später ^) einige kritische Bemerkungen über die Helmholtz'sche Theorie gemacht, und 1866 in einer kurz vor der Oettingen'schen erschienenen kleinen Schrift*) sehr be- stimmt einige Forderungen bezeichnet, welchen eine vollständigere Theorie zu genügen hätte. Weitere Ausführungen habe ich in der ersten Auflage dieser Schrift (1886) gegeben.
i) C. Stumpf, Beiträge zur Akustik, Heft i, S. 50.
2) Mach, Zur Theorie des Gehörsorgans. Sitzungsberichte der Wiener Aka- demie, 1863.
3) Vgl. meine: Bemerkungen zur Lehre von räumHchen Sehen. Fichte's Zeitschrift für Philosophie, 1865. (Popul. wissensch. Vorl. S. 117).
4) Einleitung in die Helmholtz'sche Musiktheorie. Graz 1866. S. d, Vor- wort und SS. 23 fg., 46, 88.
2og
Gehen wir von der Vorstellung aus, dass eine Reihe von physikalisch oder physiologisch abgestimmten Endorganen existirt, deren Glieder bei steigen- der Schwingungszahl nacheinan- der im Maximum ansprechen, und schreiben wir jedem Endorgan seine besondere (specifische) Energie zu. Dann gibt es so viele specifische Energieen als Endorgane und ebenso viele für uns durch das Ge- hör unterscheidbare Schwingungs- zahlen. ^^^^^ ^^'
Wir unterscheiden aber nicht bloss die Töne, wir ordnen sie auch in eine Reihe. Wir erkennen von drei Tönen ver- schiedener Höhe den mittleren ohne weiteres als solchen. Wir empfinden unmittelbar, welche Schwingungszahlen einander näher, welche ferner liegen. Das Hesse sich für naheliegende Töne noch leidlich erklären. Denn wenn wir die Schwingung-sweiten, die einem bestimmten Ton zukommen, s3anbolisch durch die Ordinaten der Curve ade, Fig'ur 35, darstellen, und diese Curve uns allmälig im Sinne des Pfeiles verschoben denken, so werden naheliegenden Tönen, w^eil stets mehrere Organe zugleich ansprechen, auch immer schwache gemeinsame Reizung'en zukommen. Allein auch ferner liegende Töne haben eine gewisse Aehnlichkeit, und auch an dem höchsten und tiefsten Ton erkennen wir noch eine solche. Nach dem uns leitenden Forschungsgrundsatze müssen wir also in allen Tonempfindungen gemeinsame Bestandteile annehmen. Es kann also nicht so viele specifische Energieen geben, als es unterscheidbare Töne gibt. Für das Verständniss der Thatsachen, die wir hier zunächst im Auge haben, genügt die Annahme von nur zwei Energieen, die durch verschiedene Schwingungszahlen in verschiedenem Verhältniss ausgelöst werden. Eine weitere Zusammensetzung der Tonempfindungen ist aber durch diese Thatsachen nicht ausgeschlossen , und wird durch die später zu besprechenden Erscheinungen sehr wahrscheinlich.
Mach, Analyse. 3. Aufl. 14
2 lO
Die aufmerksame psychologische Analyse der Tonreihe führt unmittelbar zu dieser Ansicht. Aber auch wenn man für jedes Endorgan zunächst eine besondere Energie annimmt, und bedenkt, dass diese Energieen einander ähnlich sind, also gemein- same Bestandtheile enthalten müssen, gelangt man auf denselben Standpunkt. Nehmen wir also an, nur um ein bestimm- tes Bild vor uns zu haben, dass bei dem Uebergang von den kleinsten zu den grössten Schwingungszahlen die Tonempfindung ähnlich variirt wie die P^arben- empfindung, wenn man vom reinen Roth, etwa durch allmälige Zumischung von Gelb, zum reinen Gelb über- geht. Hierbei können wir die Vorstellung, dass für jede unter- scheidbare Schwingungszahl ein besonderes Endorgan vorhanden ist, vollkommen aufrecht erhalten, nur werden durch verschiedene Organe nicht g'anz verschiedene Energieen, sondern immer die- selben zwei in verschiedenem Verhältniss ausgelöst i).
lO.
Wie kommt es nun, dass so viele gleichzeitig erklingende Töne unterschieden werden, und nicht zu einer Empfindung verschmelzen, dass zwei ungleich hohe Töne nicht zu einem Misch- ton von mittlerer Höhe zusammenfliessen? Dadurch, dass dies thatsächlich nicht geschieht, ist die Ansicht, die wir uns zu bilden haben, weiter bestimmt. Wahrscheinlich verhält es sich ganz ähnlich, wie bei einer Reihe von Mischfarben von Roth und Gelb, welche an verschiedenen Stellen des Raumes auftreten, die eben- falls unterschieden werden, und nicht zu einem Eindruck zusammen- fliessen. In der That stellt sich eine ähnliche Empfindung" ein,
i) Die Ansicht, dass auf verschiedene Schwingangszahlen verschiedene End- organe ansprechen, ist durch die Schwebungen naheliegender Töne und andere von Helmhol tz hervorgehobene Thatsachen zu wohl begründet und für das Verständniss der Erscheinungen zu werthvoll, als dass sie wieder aufgegeben werden könnte. — Die hier dargelegte Ansicht benützt die (namentlich von Hering) bei Analyse der Farbenempfindungen gcwoiinsnen Erfahrungen.
wenn man von der Beachtung eines Tones übergeht zur Beachtung eines andern, wie beim Wandern des fixirten Punktes im Sehfeld. Die Tonreihe befindet sich in einem Analogon des Raumes, in einem beiderseits begrenzten Raum von einer Dimension, der auch keine Symmetrie darbietet, wie etwa eine Gerade, die von rechts nach links senkrecht zur Medianebene verläuft. Viel- mehr ist derselbe anolog" einer verticalen Geraden, oder einer Geraden, welche in der Medianebene von vorn nach hinten ver- läuft. Während ausserdem die Farben nicht an die Raumpunkte gebunden sind, sondern sich im Raum bewegen können, weshalb wir die Raumempfindungen so leicht von den Farbenempfindungen trennen, verhält es sich in Bezug" auf die Tonempfindung anders. Eine bestimmte Tonempfindung kann nur an einer bestimmten Stelle des besagten eindimensionalen Raumes vorkommen, die jedesmal fixirt werden muss, wenn die betreffende Tonempfindung klar hervortreten soll. Man kann sich nun vorstellen, dass ver- schiedene Tonempfmdungen in verschiedenen Theilen der Ton- sinnsubstanz auftreten, oder dass neben den beiden Energieen, deren Verhältniss die Färbung der hohen und tiefen Töne be- dingt, noch eine dritte, einer Innervation ähnliche besteht, welche beim Fixiren der Töne auftritt. Auch beides zugleich könnte stattfinden. Zur Zeit dürfte es weder möglich, noch schon nothwendig sein, hierüber zu entscheiden.
Dass das Gebiet der Tonempfindnngen eine Analogie zum Raum darbietet, und zwar zu einem Raum, der keine Symmetrie aufweist, drückt sich schon unbewusst in der Sprache aus. Man spricht von hohen und tiefen Tönen, nicht von rechten und linken, wiewohl unsere Musikinstrumente letztere Bezeichnung sehr nahe legen.
1 1.
In einer meiner ersten Arbeiten i) habe ich die Ansicht ver- treten, dass das Fixiren der Töne mit der veränderlichen Spannung
I) Zur Theorie des Gehörgans, 1863. — Durch gemeinschafthch mit Kessel ausgeführte Versuche „über die Accommodation des Ohres" (Sitzb. d. Wiener Aka-
14*
— 212
des Tensor tympani zusammenhänge. Diese Ansicht kann ich meinen eigenen Beobachtungen und Experimenten gegenüber nicht aufrecht halten. Die Raumanalogie fällt hiermit jedoch nicht, sondern es ist nur das betreffende physiologische Ele- ment erst aufzufinden. Die Annahme, dass die Vorgänge im Kehl- kopf (beim Singen) zur Bildung der Ton reihe beitragen, habe ich in der Arbeit von 1863 ebenfalls berührt, aber nicht haltbar gefunden. Das Singen ist zu äusserlich und zufällig mit dem Hören verbunden. Ich kann Töne weit über die Grenzen meiner Stimme hinaus hören und mir vorstellen. Wenn ich eine Orchester- aufführung mit allen Stimmen höre, oder wenn mir dieselbe als Hallucination entgegentritt, so kann ich mir unmöglich denken, dass mir das Verständniss des ganzen Stimmengewebes durch meinen einen Kehlkopf, der noch dazu gar kein geübter Sänger ist, vermittelt wird. Ich halte die Empfindungen, die man beim Hören von Musik gelegentlich zweifellos im Kehlkopf bemerkt, für nebensächlich, so wie ich mir in meiner musikalisch geübteren Zeit rasch zu jedem gehörten Ciavier- oder Orgelstück nebenbei die gegriffenen Tasten vorstellte. Wenn ich mir Musik vorstelle, höre ich immer deutlich die Töne. Aus den die Musikausführungen begleitenden motorischen Empfindungen allein wird keine Musik, so wenig der Taube, der die Bewegungen der Spieler im Orchester sieht, Musik hört. Ich kann also in diesem Punkte Stricker's Ansicht nicht zustimmen, (Vergl. Stricker, Du langage et de la musique, Paris 1885.)
demie Bd. 66, Abth. 3, October 1872) gelang der Nachweis einer veränderlichen Stimmung und Resonanzfähigkeit des Gehörpräparates i'ür verschiedene Töne, in- dem die Excursionen der durch einen Schlauch zugeführten Schallschwingungen mikro- skopisch beobachtet wurden. Eine derartige spontane Veränderung der Stimmung am lebenden Ohr nachzuweisen gelang aber nicht bei Einleitung des Schalles und Be- obachtung durch einen hiezu construirten Mikroskop-Ohrenspiegel. Ich bin aber später zweifelhaft geworden, ob die gewaltigen Schwingungen, die man so beobachtet, über- haupt maassgebend sind, da sie doch ohne Schaden kaum ungedämpft ins Labyrinth gelangen können. So lange man also nicht die Schwingungen am lebenden Ohr beim normalen Hören mit Sicherheit zu beobachten vermag, wird diese Frage kaum end- giltig zu entscheiden sein. Eine Lichtinterferenzmethode könnte zum Ziele führen. Dieselbe müsste aber von besonders einfacher Form sein, um unter den schwierigen Verhältnissen des lebenden Ohres anwendbar zu sein.
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Anders muss ich mich zu Stricker 's Ansicht über die Sprache stellen (vergl. Stricker, Die Sprachvorstellungen, Wien 1880). Zwar tönt mir eine Rede, an die ich denke, voll ins Ohr, ich zweifle auch nicht, dass durch das Erklingen der Hausglocke, durch einen Locomotivenpfiff u. s. w. direct Gedanken erregt v^erden können, dass kleine Kinder und selbst Hunde Worte ver- stehen, die sie nicht nachsprechen können; doch bin ich durch Stricker überzeugt worden, dass zwar nicht der einzig mögliche, aber der gewöhnliche uns geläufige Weg des Sprachverständ- nisses der motorische ist, und dass wir sehr übel daran sind, wenn uns dieser abhanden kommt. Ich kann selbst aus meiner Erfahrung Bestätigungen dieser Ansicht anführen. Fremde, die meiner Rede folgen wollen, sehe ich häufig leise die Lippen be- wegen. Gibt mir jemand seine Wohnung an, und versäume ich den Strassennamen und die Hausnummer nachzusprechen, so vergesse ich die Adresse gewiss, behalte sie aber bei Gebrauch dieser Vorsicht im Gedächtniss. Ein Freund sagte mir kürzlich, er wolle das indische Drama „Urvasi" nicht lesen, weil er die Namen nur mit Mühe zusammenbuchstabire, und folglich nicht behalte. Der Traum des Taubstummen, von dem Stricker er- zählt, ist überhaupt nur nach seiner Ansicht verständlich. — Bei ruhiger Ueberlegung ist dieses anscheinend paradoxe Verhältniss auch gar nicht so wunderbar. Wie sehr sich unsere Gedanken in gewohnten, einmal eingeübten Bahnen bewegen, zeigt die überraschende Wirkung eines Witzes. Gute Witze wären nicht so selten, wenn wir uns nicht vorzugsweise in ausgefahrenen Bahnen bewegen würden. Manchem fällt die naheliegende Neben- bedeutung eines Wortes gar nie ein. Und wer denkt, wenn er die Namen Schmied, Schuster, Schneider als Namen gebraucht, an die betreffenden Handwerke? — Um ein naheliegendes Beispiel aus einem andern Gebiete anzuführen, bringe ich in Erinnerung (vergl. S. 88), dass ich Spiegelschrift neben dem Original sofort als mit diesem symmetrisch-congruent erkenne, ohne sie doch direct lesen zu können, da ich die Schrift motorisch mit der rechten Hand erlernt habe. Daran kann ich am besten
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erläutern, warum ich Stricker nicht auch in Bezug auf Musik beistimme: Die Musik verhält sich zur ^Sprache, wie das Orna- ment zur Schrift.
12.
Die Analogie zwischen dem Fixiren von Raumpunkten und dem Fixiren von Tönen habe ich wiederholt durch Experimente erläutert, die ich hier nochmals anführen will. Dieselbe Combination von zwei Tönen klingt verschieden, je nachdem inan den einen oder den andern beachtet. Die Combinationen i und 2 haben einen merklich verschiedenen Charakter, je nachdem man den obern oder untern Ton fixirt. Wer die Aufmerksamkeit nicht willkürlich zu leiten vermag, helfe sich dadurch, dass er den einen
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Ton später eintreten lässt (3, 4). Dieser zieht dann die Aufmerk- samkeit auf sich. Bei einiger Uebung gelingt es, eine Harmonie (wie 5) in ihre Bestandtheile aufzulösen, und diese (etwa wie bei 6) einzeln herauszuhören. Diese und die folgenden Experimente werden der anhaltenden Töne wegen besser und überzeugender mit der Physhamonica, als mit dem Ciavier ausgeführt.
Besonders überraschend ist die Erscheinung, die eintritt, wenn man einen fixirten Ton in einer Harmonie erlöschen lässt. Die Aufmerksamkeit gleitet dann auf einen der nächstliegenden über, welcher mit einer Deutlichkeit auftaucht, als wenn er eben an- geschlagen worden wäre. Der Eindruck des Experimentes ist ganz ähnlich demjenigen, den man erhält, wenn man, in die Arbeit vertieft, plötzlich den gleichmässigen Schlag der Pendeluhr auf- tauchen hört, der gänzlich aus dem Bewusstsein geschwunden war. Im letzteren Falle tritt das ganze Tongebiet über die Schwelle, während im ersteren ein Theil höher gehoben wird. Fixirt man
— 215
z. B. in 7 die Oberstimme, während man von oben nach unten
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fortschreitend einen Ton nach dem andern erlöschen lässt, so erhält man ungefähr den Eindruck 8. Fixirt man in g den tiefsten Ton und verfährt umgekehrt, so erhält man den Eindruck lo. Die- selbe Harmoniefolge klingt sehr verschiden, je nach der fixirten Stimme. Fixire ich in ii oder 12 die Oberstimme, so scheint sich nur die Klangfarbe zu ändern. Beachtet man aber in 1 1 den Bass so scheint die ganze Klangmasse in die Tiefe zu fallen, dagegen zu steigen, wenn man in 12 den Schritt ^^/ beachtet, Es wird hierbei recht deutlich, dass Accorde sich als Vertreter von Klängen verhalten können. Lebhaft erinnern diese Beobachtungen
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an den wechselnden Eindruck, den man erhält, wenn man in einem Ornament bald diesen, bald jenen Punkt fixirt.
Es sei hier noch an das unwillkürliche Wandern der Auf- merksamkeit erinnert, welches beim (mehrere Minuten) anhaltenden gleichmässigen Erklingen eines Harmoniumtones eintritt, wobei nach und nach alle Obertöne von selbst in voller Klarheit auf- tauchen i). Der Vorgang scheint auf eine Erschöpfung der Auf- merksamkeit für einen länger beobachteten Ton zu deuten. Diese Erschöpfung wird auch wahrscheinlich durch ein Experiment, welches ich an einem andern Orte ausführlicher beschrieben habe 2).
i) Vergl. meine „Einleitung in die Helmholz'sche Musiktheorie", S. 29.
2) Vergl. meine ,, Grundlinien der Lehre von den Bewegungsempfindungen",
S. 58.
— 2 l6
Die hier dargelegten Verhältnisse im Gebiete der Ton- empfindungen könnten etwa durch folgendes Bild veranschaulicht werden. Gesetzt, unsere beiden Augen wären nur einer einzigen Bewegung fähig, sie v^ermöchten nur die Punkte einer horizontalen, in der Median- ebene liegenden Geraden durch wechselnde sym- metrische Convergenzstellung zu verfolgen, der nächste fixirte Punkt sei rein roth, der fernste, welcher der Parallstellung entspricht, rein gelb, und dazwischen lägen alle Uebergänge; so würde Figur 36- dieses System unserer Gesichtsempfindungen
die Verhältnisse der Tonempfindungen sehr fühlbar nach- ahmen.
13-
Nach der bisher gewonnenen Ansicht bleibt eine in dem Folgenden zu betrachtende wichtige Thatsache unverständlich, deren Erklärung aber von einer vollständigeren Theorie unbedingt gefordert werden muss. Wenn zwei Tonfolgen von zwei verschiedenen Tönen ausgehen und nach denselben Schwingungszahlenverhätnissen fortschreiten, so er- kennen wir in beiden dieselbe Melodie ebenso unmittel- bar durch die Empfindung, als wir an zwei geometrisch ähnlichen, ähnlich lieg"enden Gebilden die g'leiche Ge- stalt erkennen. Gleiche Melodien in verschiedener Lage können als Tongebilde von gleicher Tong-estalt oder als ähnliche Tong'ebilde bezeichnet werden. Man kann sich über- zeugen, dass dieses Erkennen nicht an die Verwendung ge- läufiger musikalischer Intervalle oder oft verwendeter einfacherer Schwingungszahlenverhältnisse gebunden ist. Wenn man an einer Violine, oder überhaupt an einem mehrsaitigen Instrument, die einzelnen leeren Saiten in beliebige unharmonische Stimmung bringt, dann auf dem Griffbrett ein ganz beliebig in compli- cirten Verhältnissen getheiltes Papier befestigt, so kann man
— 2 17 —
dieselben Theilungspunkte in beliebiger Folge, erst auf der einen, dann auf den andern Saiten greifen, oder schleifend ver- binden. Obgleich nun das Gehörte gar keinen musikalichen Sinn hat, erkennt man auf jeder Saite dieselbe Melodie wieder. Das Experiment würde sich nicht überzeugender g"estalten, wenn man die Theilung' in irrationalen Verhältnissen vornehmen wollte. Dies gelingt ja in Wirklichkeit nur annähernd. Der Musiker könnte immer noch behaupten, er höre den bekannten inusikalischen Inter- vallen nahe liegende, oder zwischen denselben liegende. Nicht ab- gerichtete Singvög-el bedienen sich nur ausnahmsweise der musi- kalischen Intervalle.
Schon bei einer Folge von nur zwei Tönen wird die Gleich- heit des Schwingungszahlenverhältnisses unmittelbar erkannt, die Tonfolgen c—f, d — g, e—a u. s. w., welche alle dasselbe wSchwingungs- zahlenverhältniss (3:4) darbieten, werden alle unmittelbar als gleiche Intervalle, als Quarten erkannt. Dies ist die Thatsache in ihrer einfachsten Form. Das Merken und Wieder- erkennen der Intervalle ist das Erste, was sich der angehende Musiker aneignen muss, wenn er mit seinem Gebiet vertraut werden will.
Herr E. Kulke hat in einer kleinen, sehr lesenswerthen Schrift 1) eine hierauf bezügliche Mittheilung über die originelle Unterrichtsmethode von P. Cornelius gemacht, die ich hier nach K ulke's mündlicher Mittheilung noch ergänzen will. Um die Intervalle leicht zu erkennen, ist es nach Cornelius zweck- mässig, sich einzelne Tonstücke, Volkslieder u. s. w. zu merken, welche mit diesen Intervallen beginnen. Die Tannhäuser-Ouver- türe beginnt z. B. mit einer Quart. Höre ich eine Quarte, so be- merke ich sofort, dass die Tonfolge der Beginn der Tannhäuser- Ouverture sein könnte, und erkenne daran das Intervall. Ebenso
i) E. Kulke, lieber die Umbildung der Melodie. Ein Beitrag zur Ent- wicklungslehre, Prag (Calve) 1884.
— 2l8 —
kann die Fidelio-Ouvertüre No. i als Repräsentant der Terz ver- wendet werden, u. s. w. Dieses vortreffliche Mittel, welches ich bei akustischen Demonstrationen erprobt und sehr wirksam ge- funden habe, ist anscheinend eine Complication. Man könnte meinen, es müsste leichter sein, ein Intervall, als eine Melodie zu merken. Doch bietet eine Melodie der Erinnerung mehr Hilfen, so wie man ein individuelles Gesicht leichter merkt und mit einem Namen verknüpft, als einen bestimmten Winkel oder eine Nase. Jeder Mensch merkt sich Gesichter und verknüpft sie mit Namen; Leonardo da Vinci hat aber die Nasen in ein System gebracht.
14.
So wie jedes Intervall in der Tonfolge in charakteristischer Weise sich bemerklich macht, ebenso verhält es sich in der harmonischen Verbindung. Jede Terz, jede Quart, jeder Moll- dreiklang oder Durdreiklang hat seine eigenthümliche Färbung, an welcher er unabhängig von der Höhe des Grundtons und unabhängig von der Zahl der Schwebungen, welche ja mit dieser Höhe rasch zunimmt, erkannt wird.
Eine Stimmgabel, die man vor ein Ohr hält, hört man fast nur mit diesem Ohr. Bringt man zwei etwas gegeneinander ver- stimmte, stossende Stimmgabeln vor dasselbe Ohr, so sind die Stösse sehr deutlich. Stellt man aber die eine Gabel vor das eine, die andere vor das andere Ohr, so werden die Stösse sehr schwach. Zwei in einem harmonischen Intervall stehende Gabeln klingen stets etwas rauher vor einem Ohr. Der Character der Harmonie bleibt aber auch bewahrt, wenn man vor je ein Ohr eine Gabel stellt ^). Auch die Disharmonie bleibt bei diesem Experiment sehr deutlich. Harmonie und Dis- harmonie sind jedenfalls nicht durch die Schwebungen allein bestimmt.
0 Vgl. Fechner, Ueber einige Verhältnisse des binocularen Sehens, Leipzig 1860, S. 536. — Ich habe solche Versuche vielfach selbst angestellt.
2ig
15-
Sowohl bei der melodischen, als bei der harmonischen Ver- bindung zeichnen sich die Töne, welche in einfachen Schwing- ungszahlenverhältnissen stehen, i) durch Gefälligkeit und 2) durch eine für jenes Verhältniss characteristische Em- pfindung aus. Was die Gefälligkeit betrifft, so kann nicht in Abrede gestellt werden, dass dieselbe th eil weise durch das Zusammenfallen der Partialtöne und bei harmonischer Verbindung auch durch das hiermJt verbundene Zurücktreten der Schwebungen bei bestimmten Schwingungszahlenverhältnissen aufgeklärt ist. Der unbefangene Musikerfahrene ist aber nicht ganz befriedigt. Ihn stört die zu bedeutende Rolle, welche der zufälligen Klang- farbe eingeräumt wird, und er merkt, dass die Töne noch in einer positiven Contrastbeziehung stehen, wie die Farben, nur dass bei Farben keine so genauen gefälhgen Verhältnisse an- gegeben werden können.
Die Bemerkung, dass wirklich eine Art Contrast unter den Tönen besteht, drängt sich beinahe von selbst auf. Ein constanter glatter Ton ist etwas sehr Unerfreuliches und Farbloses, wie eine gleichmässige Farbe, in welche sich unsere ganze Umgebung hüllt. Erst ein zweiter Ton, eine zweite Farbe wirkt belebend. Lässt man einen Ton, wie bei dem Experimentiren mit der Sirene, langsam in die Höhe schleifen, so g'eht ebenfalls aller Contrast verloren. Derselbe besteht hingegen zwischen weiter abstehenden
12 3 4 5
Tönen, und nicht nur zwischen den sich unmittelbar folgenden, wie das nebenstehende Beispiel erläutern mag. Der Gang 2 klingt ganz anders nach i als allein, 3 klingt anders als 2, und auch 5 anders als 4 unmittelbar nach 3.
16. Wenden wir uns nun zu dem zweiten Punkt, der characte- ristischen Empfindung, welche jedem Intervall entspricht,
220
und fragen wir, ob dieselbe nach der bisherigen Theorie erklärt werden kann? Wenn ein" Grundton ;/ mit seiner Terz ;// melo- disch oder harmonisch verbunden wird, so fällt der 5. Partialton des ersten Klanges (5 '/^) mit dem vierten des zweiten Klanges (4;//) zusammen. Dies ist das Gemeinsame, was nach der Helraholtz 'sehen Theorie allen Terzverbindungen zukommt. Combinire ich die Klänge C und E, oder F und A, und stelle in dem folgenden Schema ihre Partialtöne dar
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andern die mit 1 bezeichneten Partialtöne, in beiden Fällen der
fünfte Partialton des tieferen mit dem vierten Par- tialton des höheren Klanges. Dieses Gemeinsame besteht aber nur für den physikalisch anal3Asirenden Verstand, und hat mit. der Empfindung nichts zu schaffen. Für die Empfindung coincidiren in dem ersten Fall die e, in dem zweiten die ä, also ganz verschiedene Töne, Gerade dann, wenn wir für jede unterscheidbare Schwingungszahl eine zugehörige specifische Energie annehmen, müssen wir fragen, wo bleibt der jeder Terzverbindung geineinsame Empfindungsbestandtheil? Man halte diese meine Unterscheidung nicht für Pedanterie und Haarspalterei. So wenig meine Frage, worin die physio- logische Aehnlichkeiten der Gestalten zum Unterschied von der geometrischen bestehe, überflüssig war, so wenig ist diese gleichzeitig (vor etwa 37 Jahren) gestellte Frage unnöthig. Will man ein physikalisches oder mathematisches Kennzeichen der Terz als ein Merkmal der Terzempfindung gelten lassen,
221
SO begnüge man sich nach Euler ^) mit der Coincidenz von je vier und fünf Schwingungen, welche Auffassung gar nicht so übel war, solang'e man glauben konnte, dass der Schall auch im Nerv noch als periodische Bewegung fortgehe, was A. See- beck (Pogg. Ann. Bd. 68) noch für möglich gehalten hat-). Die Helmholtz'sche Coincidenz von ^ii und ^ni ist in Bezug auf diesen Punkt nicht weniger symbolisch und nicht auf- klärender.
17- Bis hierher habe ich meine Ausführungen mit der Ueber-
zeugung vorgebracht, dass ich nicht nöthig haben werde, einen wesentlichen Schritt zurück zu thun. Dieses Gefühl begleitet mich nicht in gleichem Maasse bei der Entwicklung der folgen- den Hypothese, die sich mir im Wesentlichen vor langer Zeit dargeboten hat. Sie mag aber wenigstens- dazu dienen, die Forderung", die ich an eine vollständigere Theorie der Ton- empfindungen glaube stellen zu müssen, auch von der positiven Seite zu beleuchten, und zu erläutern. Ich will meine Ansicht zunächst so darstellen, wie dies in der ersten Auflage dieser Schrift geschehen ist.
Für ein Thier von einfacher Organisation sei die Wahr- nehmung leiser periodischer Bewegungen des Mediums, in dem es sich befindet, eine wichtige Lebensbedingung. Wird der Wechsel der Aufmerksamkeit (wegen der zu grossen Organe, in welchen so rapide Aenderungen nicht mehr eintreten können) zu träge und die Oscillationsperiode zu kurz, die Amplitude zu klein, als dass die einzelnen Phasen der Reizung ins Bewusst- sein fallen könnten, so wird es noch möglich sein, die gehäuften Empfindungseffecte des oscillatorischen Reizes wahrzunehmen. Das Gehörorgan wird dem Tastorgan den Rang ablaufen 3). Ein
1) Euler, Tentamen novae theoriae musieae. Petropoli 1739) S. 36.
2) In neuerer Zeit ist diese Auffassung wieder von Lipps versucht und von Stumpf kritisirt worden.
3) Es ist deshalb fraglich, ob Thiere, welche ein so kleines Zeitmaass haben, dass ihre willkürlichen Bewegungen für uns tönen, in dem gewöhnlichen Sinne hören,
schwingungfähiges Endorgan (ein Hörhaar) spricht nun vermöge seiner physikaHschen Eigenschaften nicht auf jede Schwingungs- zahl an, aber auch nicht auf eine, sondern gewöhnh'ch auf mehrere weit von einander abliegende^). Sobald also das ganze Continuum der Schwingungszahlen zwischen gewissen Grenzen für das Thier von Wichtigkeit wird, genügen nicht mehr einige wenige Endorgane, sondern es stellt sich das Bedürfniss nach einer ganzen Reihe solcher Org'ane von abgestufter »Stimmung ein. Als ein solches System wurde von Helmholtz zunächst das Corti'sche Organ, dann die Basillarmembran angesehen.
Schwerlich wird nun ein Glied dieses Systems nur auf eine Schwingungszahl ansprechen. Wir müssen vielmehr erwarten, dass es viel schwächer in abgestufter Intensität (vielleicht durch Knoten abgetheilt) auch auf die Schwingungszahlen 2 n, 3 7i,
ft n 4 n u. s. w., und ebenso auch auf die Schwingungszahlen — -, — ,
2 3
fi
— u. s. w. anspricht. Da die Annahme einer besondern Energie
für jede Schwingungszahl sich als unhaltbar gezeigt hat, so stellen wir uns dem Obigen gemäss vor, dass zunächst nur zwei Em- pfindungsenergieen, sagen wir Dumpf (D) und Hell (H) ausgelöst werden. Die betreffende Empfindung wollen wir (ähnlich wie dies bei Mischfarben geschieht) symbolisch durch pD -\- pH darstellen, oder wenn wir p -|- q ^ i setzen, und q als eine Function f (n) der Schwingungszahl ansehen 2), durch
[i--f(n)] D + f(n)H. Die auftretende Empfindung soll nun der Schwingungs- zahl des oscillatorischen Reizes entsprechen, an welchem Glied
oder ob vielmehr nicht das ein Tasten ist, was uns an ihnen den Eindruck des Hörens macht. Vgl. z. B. die schönen Versuche und Beobachtungen von V. Grab er (Die chordotonalen Organe, Arch. f. mikrosk. Anat. , Bd. 20, S. 506), — Vgl. ,, Bewegungsempfindungen" S. 123. — Diese Vermuthung hat sich seither vielfach bestätigt.
i) Wie z. B. V. Hensen beobachtet hat.
2) Will man eine recht einfache Darstelllung haben, so setzt man _/ ()i) = /'. logn.
I
der Reihe der Endorgane der Reiz auch angreifen mag. Hier- durch wird die frühere Darstellung nicht wesentlich gestört. Denn indem das Glied Rn am stärksten auf n und viel schwächer auf
2 n, 3 n oder — , — anspricht, indem R^ auch auf einen aperio- dischen Anstoss mit n ausschwingt, wird doch die Empfindung [i — f(n)]D -\- f(n) H überwiegend an das Glied Rn gebunden bleiben.
Gut constatirte Fälle von Doppelthören (vgl. Stumpf a. a. O. I. S. 266 fg.) könnten uns nöthig'en, das Auslösungs- verhältniss von D und H als vom Endorgan und nicht von der Schwingungszahl abhängig zu betrachten, was aber unsere Auffassung ebenfalls nicht stören würde.
Ein Glied R„ spricht also stark auf n, schwächer aber auch
auf 2 n, 3 n . . . . und — , — , . . . . mit den diesen Schwingungs- zahlen zugehörigen Empfindungen an. Es ist aber doch sehr un- wahrscheinlich, dass die Empfindung genau dieselbe bleibt, ob
Rn auf n oder ob Rn auf n anspricht. Es ist vielmehr wahr- 2
scheinlich, dass jedesmal, wenn die Glieder der Organ-Reihe auf einen Parti alton ansprechen, die Empfindung eine schwache Zusatzfärbung erhält, die wir symbolisch für den Grundton durch Z^, für die Obertöne durch Zg, Z3 . . . . für die Untertöne durch Zi, Zi .... darstellen wollen. Hiernach wäre also die Ton- empfindung etwas reicher zusammengesetzt als dies der Eormel [i — f(n)]D -\- f(n)H entspricht. Die Empfindungen, welche die Reihe der Endorgane durch die Grundtöne gereizt gibt, bilden also ein Gebiet mit der Zusatzfärbung Z^, die Reizung derselben Reihe durch den ersten Oberton gibt ein besonderes Empfindungs- gebiet mit der Zusatzfärbung Zg u. s. w. Die Z können entweder unveränderliche Bestandtheile sein, oder selbst wieder aus zwei Bestandtheilen U und V bestehen, und durch
[i-f(n)]U + f(n)V
224
darstellbare Reihen bilden, worüber zu entscheiden jetzt nicht von Belang ist.
Allerdings sind nun die physiologischen Elemente Zj^ Zg . . . . erst zu finden. Allein schon die Einsicht, dass sie zu suchen sind, scheint mir wichtig. Sehen wir zu, wie sich das Gebiet der Tonempfindungen ausnimmt, wenn man die Z^, Z^ . . . . als gegeben ansieht.
Betrachten wir als Beispiel eine melodische oder harmonische Terzverbindung. Die Schwingungszahlen seien also n = 4 p und m = 5p; der tiefste gemeinsame Oberton ist 5 n = 4 m = 20p, der höchste gemeinsame Unterton ist p. Dann ergibt sich folgende Uebersicht:
10 1,
-^ o
c i3
K/
5
c "^ c
5 <=> I
--1 Ö D
5 => .S
<U
^ .^ ^ ^
:0
Die Glieder der Reihe der End- organe: |
^p |
^ip |
^hp |
R,.p |
sprechen an auf die Schwingungs- zahlen : |
ip, öp |
Ap |
bp |
mp. 20p 5/= 4 |
mit den Zusatz- empfindungen : |
z,^ z. |
z. |
Z, |
3 4 |
sprechen ausserdem an auf die Schwingungszahlen : |
2Qp = 5 (4/) |
20i> = 4 [bp) |
||
mit den Zusatz- empfindungen : |
z. |
z. |
Bei der Terzverbindung treten also die für die Terz characte- ristischen Zusatzempfindungen Z,^ , Z^ und Zj, Zj hervor, auch
wenn die Klänge gar keine Obertöne enthalten, und erstere (Z^^, Zj) werden noch verstärkt, wenn in den Klängen entweder in der freien r.uft oder doch im Ohr Obertöne vorkommen. Das
— 225 —
Schema lässt sich leicht für jedes behebige Intervall verallge- meinern ^).
Diese Zusatzfärbimgen werden also, obgleich sie bei einzelnen Tönen und beim Schleifen der Töne fast gar nicht bemerkt werden, bei Combination von Tönen mit bestimmten Schwingungs- zahlenverhältnissen hervortreten, wie die Contraste schwach gefärbter fast weisser Lichter bei deren Combination lebendig werden. Und zwar entsprechen denselben Schwingungszahlen- verhältnissen bei jeder beliebigen Tonhöhe immer dieselben Contrastfärbungen.
So wird es verständlich, wie die Töne durch melodische und harmonische Verbindung mit anderen die mannigfaltigste Fär- bung erhalten können, die einzelnen Tönen fehlt.
Die Elemente Z^, Z,^ . . . . darf man sich nicht in unver- änderlicher bestimmter Anzahl gegeben denken. Vielmehr muss man sich vorstellen, dass die Zahl der bemerkbaren Z von der Organisation, Uebung des Gehörs und von der Aufmerksam- keit abhängt. Nach dieser Auffassung werden auch nicht direct Schwingungszahlen Verhältnisse durch das Gehör erkannt, sondern nur die durch dieselben bedingten Zusatz färbun gen. Die durch [i — f(n)]D -|- f(n)H symbolisch dargestellte Tonreihe ist nicht unendlich, sondern begrenzt. Da f(n) sich zwischen den Werthen o und i bewegt, sind D und H die Empfindungen, die
i) Die hier gegebene Darstellung findet sich in etwas conciserer Form und etwas variirt in meiner Note ,,Zur Analyse der Tonempfindungen." Sitzungsber. der Wiener Akademie math.-nat. Cl, II. Abth., December 1885. Die Analyse der Ton- empfindungen wird hier nach Analogie der wesentlich weiter vorgeschrittenen Analyse der Farbenempfindungen versucht. Jede Schwingungszahl des Lichtes löst einige wenige specifische Energieen in einem von dieser Schwingungszahl abhängigen Ver- hältnissen aus. Die Erregbarkeit dieser Energieen ist an verschiedenen Stellen der Netzhaut verschieden. Analoge Verhältnisse werden mutatis mutandis auch für die Tonempfindungen angenommen. Der unendlichen Mannigfaltigkeit des physikalischen Reizes schien anfänglich in beiden Fällen eine unendliche Mannigfaltigkeit der Em- pfindungen zu entsprechen. Die psychologische Analyse führt in beiden Phallen dazu, eine geringere Anzahl von Empfindungen anzunehmen und diese nach dem Princip des Parallelismus nicht mehr inimittelbar von dem complicirten physikalischen Reiz, sondern von dem ebenso einfachen psychophysischen Process unmittelbar abhängig zu denken.
Mach, Analyse, b. Aufl. 15
einem tiefsten und höchsten Ton entsprechen, die Endglieder. Sinkt oder steigt die Schwingungszahl bedeutend unter oder über diejenige des Grundtones der Faser, so findet nur ein geringeres Ansprechen, aber keine Aenderung der Art der Empfindung mehr statt. Auch die Empfindung der Intervalle muss in der Nähe der beiden Hörgrenzen verschwinden. Zunächst weil der Unterschied der Tonempfindung- überhaupt aufhört, dann aber noch, weil an der oberen Grenze die Glieder der Reihe fehlen, welche durch Untertöne gereizt werden könnten, an der untern Grenze aber diejenigen, welche auf Obertöne reagiren.
Ueberblicken wir noch einmal die gewonnene Ansicht, so sehen wir, dass fast alles, was durch Helm hol tz' Arbeiten statuirt worden ist, beibehalten werden kann. Die Geräusche und Klänge lassen sich in Töne zerlegen. Jeder unterscheidbaren Schwingungszahl entspricht ein besonderes Nervenendorgan. An die Stelle der vielen specifischen Energieen setzen wir aber bloss zwei, die uns die Verwandtschaft aller Tonempfindungen ver- ständlich machen, und erhalten durch die Rolle, welche wir der Aufmerksamkeit zuweisen, gleichwohl mehrere gleichzeitig ange- gebene Töne unterscheidbar. Durch die Hypothese des mehrfachen Ansprechens der Glieder der Reihe Endorgane und der„Z usatzfärbunge n" tritt die Bedeutung der zufälligenKlang- farbe zurück, und wir sehen den Weg, auf welchem den posi- tiven Merkmalen der Intervalle namentlich auf Grund musika- lischer Thatsachen weiter nachzuforschen ist. Endlich erhält durch die letztere Ansicht das v. Oettin gen 'sehe Princip der Dualität eine Unterlage, die vielleicht diesem Forscher selbst etwas besser zusagen dürfte als die „Erinnerung", während sich zu- gleich zeigt, warum die Dualität keine voUwerthige Symmetrie sein kann.
18- Die Hypothese des mehrfachen Ansprechens der Reihe der Endorgane, sowie jene der Zusatzfärbungen, habe ich ausdrücklich als solche bezeichnet, und habe dieselbe lediglich zu dem Zweck
— 227 —
vorgebracht, um den Sinn der Postulate, welche sich durch die psychologische Analyse ergeben, zu erläutern, und andere vielleicht zu einem glücklicheren Griff anzuregen. Ich kann mich also nicht wundern, wenn andere diesem Versuche nicht ohne weiteres zu- stimmen. Dass aber diese H3^pothese nutzlos sei, und ihren Zweck verfehle, wie Stumpft) sagt, k^nii ich nicht erkennen. Das Zu- sammentreffen der Zusatzfärbungen Z^, Zg, bezw, Z^, Z^ in einem Nerv ist nicht bloss ein physischer, sondern auch ein psycho- physischer Umstand. Die Empfindung einer Mischfärbung durch ein Element wird kaum gleichgültig sein. Es scheint mir vielmehr, dass das, was ich suche: die Erklärung der bestimmten Färbung der Intervalle, und auch das, was Stumpf sucht: die Er- klärung der Verschmelzung, durch die von mir angenommene partielle Coincidenz auch ohne Obertöne wirklich dargestellt würde. Wenn ferner Stumpf sagt, dass bei Klängen mit Ober- tönen für Helmholtz keine Schwierigkeit besteht, die Aehnlich- keit gleicher Intervalle zu verstehen, so beruht dies auf einem Verkennendessen, was ich gegen Helmholtz vorgebracht habe. Niemand wird befriedigt sein, wenn man ihm sagt, dass bei zwei Terzen gleich starke Obertöne zusammenfallen, da es sich doch um qualitativ ähnliche Empfindungen handelt. Wäre das Wieder- erkennen eines melodischen Terzenschrittes un mittebar ver- ständlich, so brauchte man für das Erkennen der harmonischen Terzenverbindung natürlich keine besondere Erklärung zu suchen. Da aber Stumpf selbst die melodischen Schritte durch die h armon ische Verbindung für characterisirt hält, so würdediese Auffassung einen Cirkel einschliessen. Auch nach meiner Dar- legung leitet die Thatsache der melodischen und harmonischen Auswahl bestimmter Tonstufen , bezw. bestimmter Schwingungs- zahlenverhältnisse auf dasselbe Problem. Meine Hypothese lehnt sich an die Resonanztheorie an, und ist nach Stumpfs Ansicht schon deshalb zu verwerfen. Letzterer Punkt soll noch besonders zur Sprache gebracht werden.
i) Stumpf, Beilläge zur Akustik und Musikwissenschaft, Heft I, S. i;, i8.
15*
IQ- Ueber die physikalischen Vorg'änge beim Hören, bezw. die Function der Theile des inneren Ohres ist schon sehr viel discutirt worden. Trotzdem scheint es, dass eine unbefangene Revision der physikalischen Hörtheorie sehr nothwendig ist. Man hat gefrag't, ob die Gehörknöchelchen als Ganzes schwingen, oder ob die Schallwellen durch dieselben hindurchziehen. E. H. Weber hat sich für die erstere Ansicht entschieden, welche experimentell von Politzer bestätigt und theoretisch wohl von mir zuerst be- gründet worden ist ^). Wenn nämlich die Dimensionen der Knöchel- chen gegen die Länge der in Betrachl kommenden Schallwellen in deren Material sehr klein ist, wie es wirklich zutrifft, so ist es keine Frage, dass in der ganzen Ausdehnung des Knöchelchens nahezu dieselbe Bewegungsphase auftreten, demnach sich das Knöchelchen als Ganzes bewegen muss. Man dachte sich nun die Bewegung der Gehörknöchelchen auf die Labyrinthflüssigkeit übertragen. Allein pathologische Erfahrung-en lehren, dass man, wenn nur das Labyrinth in Ordnung ist, auch ohne Mitwirkung der Gehörknöchelchen und des Trommelfelles noch recht gut hört. Diese Theile scheinen nur von Wichtig'keit zu sein, wenn es sich um die Uebertragung der leisesten Luftbewegung-en auf das Labyrinth handelt. Da scheint die Reduction des auf die ganze Trommelfellfläche entfallenden Druckes auf die kleine Steig- bügelfussplatte nothwendig. Sonst können die Schallwellen auch durch die Kopfknochen auf das Labyrinth übertragen werden. Durch Aufsetzen von tönenden Körpern (Stimmg'abeln) auf ver- schiedene Stellen des Kopfes überzeugt man sich davon, dass die Richtung der auf das Labyrinth eindring'enden wSchall wellen keine besondere Rolle spielt. Alle Dimensionen des Schall-percipirenden Apparates sind wieder so klein gegen die hörbaren Schallwellen, die .Schallgeschwindigkeit in den Knochen imd der Labyrinth-
l) Mach, Zur 'J'licoiie des Geböiorg;ins. Sit/.iingsbcrichte der Wiener Akademie, Bd. 58, Juli 1863. Ferner: Helniliol t z. Die Mechanik der Gehör- knöchelchen, 1869.
I
flüssigkeit so gross, dass wieder' in einem Moment nur merklich dieselbe Wellenphase in der ganzen Ausdehnung des Labyrinthes Platz greifen kann. Das Obige führt darauf, nicht die Be- wegungen und die Bewegung'srichtung, sondern die Druck- variationen, welche im Labyrinth nahezu synchron auftreten, als empfindungserregend, als den maassgebenden Reiz zu be- trachten.
Betrachten wir dennoch die Bewegung, welche im Labyrinth durch die Bewegungen der Steigbügelplatte eingeleitet werden kann. Wir denken uns zunächst alle Weichtheile herausgenommen, und den durch die Knochenwand begrenzten Raum nur mit Flüssigkeit gefüllt. Die Bewegung', die hier Platz greifen kann, ist eine periodische Strömung vom ovalen gegen das runde Fenster und umgekehrt, deren Form, bei der gegen die Schallgeschwindig- keit verschwindenden Geschwindig'keit der Störung, von der Periode fast g'anz unabhängig sein wird. Denkt man sich die Flächen der beiden Fenster als positive und negative Elektrode und die Flüssigkeit leitend, so stimmen die electrischen Strom- linien mit den Linien der periodischen Strömung' überein. Daran kann nun nicht viel geändert werden, wenn die Weichtheile in die Flüssigkeit von so wenig verschiedenem specifischem Gewicht versenkt werden. Die Masse der Flüssigkeit spielt die Haupt- rolle. Davon, dass einzelne Gebilde je nach der Tonhöhe, trotz der Flüssigkeit, einen besonderen localen Schwingungszustand annehmen könnten, wird kaum die Rede sein dürfen. Die quantitativen Verhältnisse sind hier ganz andere, als bei Saiten oder Membranen in der Luft.
Es scheint mir demnach, dass die neue Hörtheorie von Ewald 1) nicht haltbarer ist, als die Helmholtz'sche Theorie der Corti'schen Fasern, oder der electiven Schwingung'en der Basilarmembran. Wenn eine mit Oel bestrichene Membran bei Ewald's Versuchen schon bei stärkerem Anstrich keine deutliche Abtheilung mehr zeigt, so würde sie beim Versenken in eine
i) Ewald, Eine neue Hörtheoiie, Bonn il
— 22,0 —
Flüssigkeit, noch dazu bei entspechend kleinen Dimensionen, vollends versagen. Es muss übrigens hervorgehoben werden, dass die Ewald 'sehe Theorie sonst vielfach ansprechend ist und manche Vortheile bieten würde. Die Membranen zeigen z. E. Coincidenzen der Knotenlinien bei harmonischen Intervallen, auch ohne Obertöne. Diese Theorie hat also den Anschein, einen Theil der oben ausgesprochenen Postulate zu erfüllen. Leider ist sie physikalisch nicht zulässig, abgesehen von andern Schwierig- keiten, welche auch sie nicht zu lösen vermag. Ich maasse mir selbstverständlich nicht an, eine schöne fleissige Arbeit mit wenigen Worten abzuthun, kann aber meine Bedenken doch nicht unterdrücken.
20.
Die Schwierigkeit, die Resonanztheorie physikalisch zu be- gründen, ist wohl von Allen, die sich mit derselben beschäftigt haben, mehr oder minder gefühlt worden, wie mir scheint nicht am wenigsten von deren Urheber. Zugleich erkannte man aber, dass mit dem Aufgeben derselben dasjenige Motiv, welches das Verständniss der Klanganalyse, die Durchsichtig-keit der Lehre von den Tonempfindungen bedingt, verloren geht. Daher die krampf- haften Bemühungen, die Resonanztheorie zu halten. L. Her- mann^) scheint mir nun das richtige Wort ausgesprochen zu haben, wenn er meint, dass ohne irgend eine Resonanztheorie nicht auszukommen sei, dass diese aber nicht nothwendig eine physikalische sein müsse, sondern auch eine physiologische sein könne. Man kann mit Hermann die plausible Annahme machen, dass die nervösen Endorgane selbst für Reize von einer bestimmten Periode besonders empfindlich sind. Es müssen nicht gerade Elasticitätskräfte sein, welche das Organ in seine Gleich- gewichtslage zurücktreiben, sondern man kann sich einen elec- trischen, chemischen u. s. w. Gleichgewichtszustand denken, und Abweichungen von demselben, die sich wie -j- und — verhalten. Unter diesen Organen kann ferner eine Verbindung bestehen,
l) Hermann, Pflügcr's Archiv, Bd. 56, S. 494, 495, ff., 1894.
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wodurch eines auf das andere erregend wirken kann. Es eröffnet sich so die begründete Aussicht, den Verlust der physikaHschen Resonanztheorie zu ersetzen. Auf die vollständige und genaue Wiederg'abe der H e r m a n ' sehen Ausführungen muss ich ver- zichten und muss mich begnügen, auf dessen Abhandlungen zu verweisen.
Nur einen Punkt wollen wir noch ins Auge fassen. Wenn zwei sinusförmige (pendeiförmige) Schwingungen von den Schwingungs- zahlen, n, 11 zusammenwirken, so entstehen Schwebungen, die man als ein (;/ — /2)-maliges Anschwellen und Abschwellen des Tones n oder n in der vSecunde auffassen kann. Niemals lässt sich aber die Luftbewegung als eine solche ansehen, in welcher die Sinusschwingung, d. h. der Ton //— ii, enthalten wäre. Auch ein physikalischer Resonator von der Schwingungszahl ii — ii kann durch solche Schwebungen, ob sie schnell oder langsam sind, niemals erregt werden. Man übersieht ja leicht, wenn man sich den Verlauf der Schwebungen vorstellt oder dieselben zeichnet, dass auf die Dauer der Resonatorschwingung [n' — ii) ebensoviele und gleich starke positive und negative Impulse fallen. Auch auf die erste Hälfte dieser Zeit entfallen gleiche gleichsinnige Impulse wie auf die zweite Hälfte. Eine wirksame Summation ist also ausgeschlossen. Dieselbe wäre nur möglich, wenn man den Re- sonator für die eine Art der Impulse empfänglicher machen könnte als für die andere Art, und empfänglicher in der einen Hälfte seiner Schwingungsdauer. Man sieht, wie dieselbe Ueberlegung dazu führt, die Young'sche Erklärung der Combinationstöne durch rasche Schwebungen aufzugeben, und wie sie andererseits unter Festhalten der Resonanztheorie zur Helmholtz 'sehen Theorie der Combinationstöne leitet. Die physikalichen Verhält- nisse, welche Helmholtz annehmen musste, scheinen unter den Umständen, unter welchen man Combinationstöne hört, nicht zu bestehen. Wohl aber ist es denkbar, dass ein nervöses Organ für entgegengesetzte Impulse ungleich empfänglich und ebenso in verschiedenen Stadien seiner Erreg'ung verschieden empfänglich ist. Denn es folgt nicht einfach den einwirkenden Kräften, sondern
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enthält einen Energievorrath, auf welchen jene Kräfte nur aus- lösend einwirken. Somit hätte der Irrthum Young's und der muthmaasslich misslungene Verbesserungsv^ersuch Helmholtz' auf einen wichtigen neuen Gesichtspunkt geleitet.
21.
Bei ihrem Auftreten erschien die Helmholtz'sche Lehre vorl den Tonempfindungen als eine schöne, vollendete, mustergiltige Leistung. Dennoch haben fundatuentale Aufstellungen derselben der Kritik nicht Stand halten können. Und diese Kritik war keineswegs eine muthwillige, wie daraus genügend hervorgeht, dass die Ausführungen der verschiedenen Kritiker trotz aller in- dividueller Eigenthümlichkeit auf dieselben Punkte und nach denselben Richtungen hinweisen. Das Hauptproblem erscheint durch die Kritik fast auf den Stand vor Helmholtz zurück- geschraubt Es könnte dies tragisch wirken, wenn es überhaupt erlaubt wäre, diese Sache vom Standpunkt einer Person zu be- trachten.
Wir können aber die Helmholtz'sche Leistung trotz ihrer angreifbaren Seiten nicht unterschätzen. Ausser dem reichlichen positiven Gewinn, den wir dieser Arbeit verdanken, ist Bewegung in die Fragen gekommen, sie hat den Forschern zu andern Ver- suchen Muth gemacht, eine Meng'e von neuen Untersuchungen ist angeregt, neue Aussichten sind eröffnet, mögliche Irrweg'e definitiv für immer verschlossen worden. Leichter knüpft ja ein neuer Versuch und die Kritik an eine schon vorhandene positive Arbeit an.
Helmholtz hat sich wohl darin getäuscht, dass er meinte, diese Aufgabe, welche dem Psychologen, Physiologen und Physiker reichlich Arbeit gibt, hauptsächlich nach physikalischen Gesichts- punkten bewältigen zu können. Haben doch seine befreundeten Zeitgenossen, welche um die Mitte dieses Jahrhunderts mit ihm die physikalische Physiologenschule begründeten, auch erkennen müssen, dciss das Stückchen anorganischer Physik, welches wir beherrschen, -bei weitem noch nicht die ganze Welt ist. Die
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„Lehre von den Tonempfindung-en" ist ein genialer Wurf, der Ausdruck einer künstlerischen Intuition, welcher uns, wenn auch nur symbolisch durch ein physikalisches Beispiel, die Wege weist, die die weitere Untersuchung einzuschlagen hat. Wir müssen deshalb acht geben, dass wir mit den zu beseitigenden Mängeln nicht auclj werthvollen Besitz über Bord werfen. Aus welchen Gründen Helmholtz selbst von der Kritik so wenig Notiz ge- nommen hat, weiss ich nicht. Mit seiner letztwilligen Verfügung aber, nach welcher der Text der Tonempfindungen nach seinem Tode unverändert bleibt, scheint er mir das Richtige getroffen zu haben.
22.
Für denjenigen, welcher die Dinge vom Standpunkte der Entwicklungslehre zu betrachten pflegt, ist die moderne Musik in ihrer hohen Ausbildung, sowie die spontan und plötzHch auf- tretende musikalische Begabung, auf den ersten Blick eine höchst sonderbare räthselhafte Erscheinung. Was hat diese Gehörs- entwicklung mit der Arterhaltung zu schaffen? Geht sie nicht weit über das Nothwendige oder überhaupt nur Nützliche hinaus? Was soll uns die feine Unterscheidung- der Tonhöhen ? Was nützt uns der Sinn für die Intervalle, für die Klangfärbungen des Orchesters ?
Eigentlich kann man in Bezug auf jede Kunst dieselbe Frage stellen, ob sie ihren Stoff aus diesem oder jenem Sinnesgebiet schöpft. Die P>age besteht auch bezüglich der scheinbar weit über das nothwendige Maass hinausgehenden Intelligenz eines Newton, Euler u. s. w. Die Frage liegt nur am nächsten bezüglich der Musik, welche gar kein praktisches Bedürfniss zu befriedigen, meist nichts darzustellen hat. Sehr verwandt mit der Musik ist aber die Ornamentik. Wer sehen will, muss Rich- tungen der Linien unterscheiden können. Wer sie fein zu unter- scheiden vermag, dem kann sich aber, ge wisser maassen als ein Nebenproduct seiner Ausbildung, das Gefühl für die Ge- fälligkeit der Combinationen von Linien ergeben. So verhält
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es sich auch mit dem Sinn für Farbenharmonie nach Ent- wickhmg des Unterscheidungsvermögens für Farben, so wird es auch mit der Musik sich verhalten.
Wir müssen uns avich gegenwärtig halten, dass das, was wir Talent und Genie nennen, so gross uns auch dessen Wirkungen erscheinen, in der Begabung nur eine kleine Differenz gegen das Normale darstellt. Auf etwas grössere psychische Stärke in einem Gebiet reducirt sich das Talent. Zum Genie wird dasselbe durch die über die Jugendzeit hinaus erhaltene Fähigkeit der An- passung", durch die Erhaltung der Freiheit, sich ausserhalb der Schablone zu bewegen. Die Naivität des Kindes entzückt uns und macht uns fast immer den Eindruck des Genies. Gewöhnlich schwindet aber dieser Eindruck bald, und wir merken, dass die- selben Aeusserungen, welche wir gewohnt sind als Erwachsene auf Rechnung- der Freiheit zu setzen, beim Kinde noch auf Mangel an Festigkeit beruhten.
Talent und Genie treten, wie Weismann treffend hervor- gehoben hat ^), in der Folge der Generationen nicht allmälig und langsam hervor, sie können auch nicht das Resultat einer ge- häuften Uebung der Vorfahren sein, sie zeigen sich spontan und plötzlich. Mit dem eben Besprochenen zusammengehalten, wird dies auch verständlich, wenn wir bedenken, dass die Descendenten nicht genau den Vorfahren gleichen, sondern etwas variirend die Eigenschaften derselben bald etwas abgeschwächt, bald etwas gesteigert aufweisen.
i) Weismann, Ueber die Vererbung, Jena 1883, S. 43.
XIV. Einfluss der vorausgehenden Untersuchungen auf die Auffassung der Physik^).
Welchen Gewinn zieht nun die Physik aus den voraus- gehenden Untersuchungen? Zunächst fällt ein sehr verbreitetes Vorurtheil und mit diesem eine Schranke. Es gibt keine Kluft zwischen Psychischem und Physischem, kein Drinnen und Draussen, keine Empfindung, der ein äusseres von ihr ver- schiedenes Ding entspräche. Es gibt nur einerlei Elemente, aus welchen sich das vermeintliche Drinnen und Draussen zu- sammensetzt, die eben nur, je nach der temporären Betrachtung, drinnen oder draussen sind.
Die sinnliche Welt gehört dem physischen und psyschischen Gebiet zugleich an. So wie wir beim Studium des Verhaltens der Gase durch Absehen von den Temperaturänderungen zu dem Mariotte' sehen, durch ausdrückliches Beachten der Temperatur- änderungen aber zum Gay-Lussac'schen Gesetz gelangen, und unser Untersuchungsobject doch immer dasselbe bleibt, so treiben wir auch Physik im weitesten Sinne, solange wir die Zusammen- hänge in der sinnlichen Welt, von unserm Leib ganz ab- sehend, untersuchen, Psychologie oder Physiologie der Sinne aber, sobald wir hierbei eben auf diesen, und speciell
i) Die in diesen Capitel erörterten Fragen habe ich theilweise schon früher („Erhaltung der Arbeit" und „Oekonomische Natur d. physikal. Forschung" besprochen. Was die Auffassung der Begriffe als ökonomische Mittel betrifft, hat mich Herr Pro- fessor W. James (von der Harvard-Universität zu Cambridge Mass.) mündlich auf Berührungspunkte meiner Schrift mit seiner Arbeit „The Sentiment of Rationality" (Mind. Vol. IV. p. 317 Juli 1879) aufmerksam gemacht. Jedermann wird diese mit freiem Blick, mit wohlthuender Frische und Unbefangenheit geschriebene Arbeit mit Vergnügen und Gewinn lesen.
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auf unser Nervensystem, das Hauptaugenmerk richten. Unser Leib ist ein Theil der sinnlichen Welt wie jeder andere, die Grenze zwischen Physischem und Psychischem lediglich eine praktische und Convention eile. Betrachten wir sie für höhere wissenschaftliche Zwecke als nicht vorhanden, und sehen alle Zu- sammenhänge als gleichwerthig an, so kann es an der Er- öffnung neuer Forschungswege nicht fehlen.
Als einen weiteren Gewinn müssen wir ansehen, dass der Physiker von den herkömmlichen intellectuellen Mitteln der Physik sich nicht mehr imponiren lässt. Kann schon die ge- wöhnliche „Materie" nur als ein sich unbewusst ergebendes, sehr natürliches Gedankensymbol für einen relativ stabilen Complex sinnlicher Elemente betrachtet werden, so muss dies umsomehr von den künstlichen hypothetischen Atomen und Molekülen der Physik und Chemie gelten. Diesen Mitteln verbleibt ihre Werthschätzung" für ihren besonderen beschränkten Zweck. Sie bleiben ökonomische Symbolisirungen der physikalisch-chemi- schen Erfahrung. Man wird aber von ihnen wie von den Symbolen der Algebra nicht mehr erwarten, als man in dieselben hineingelegt hat, namentlich nicht mehr Aufklärung und Offenbarung als von der Erfahrung selbst. Schon im Gebiete der Physik selbst bleiben wir vor Ueberschätzung' unserer Symbole bewahrt. Noch wenig'er wird aber der ungeheuerliche Gedanke, die Atome zur Erklärung der psychischen Vorgänge verwenden zu wollen, sich unserer bemächtigen können. Sind sie doch nur Symbole jener eigenartigen Complexe sinnlicher Elemente, die wir in den engeren Gebieten der Physik und Chemie antreffen.
Die Grundanschauungen der Menschen bilden sich naturge- mäss in der Anpassung an einen engeren oder weiteren Erfahr- ungs- und Gedankenkreis. Dem Physiker genügt vielleicht noch der Gedanke einer starren Materie, deren einzige Veränderung in der Bewegung, der Ortsveränderung besteht. Der Physiologe, bezieh- ungsweise der Psychologe vermag mit solchem Ding gar nichts
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anzufangen. Wer aber an den Zusammenschluss der Wissen- schaften zu einem Ganzen denkt, muss nach einer Vorstellung suchen, die er auf allen Gebieten festhalten kann. Wenn wir nun die ganze materielle Welt in Elemente auflösen, welche zugleich auch Elemente der psychischen Welt sind, die als solche Empfindungen heissen, wenn wir ferner die Erforschung der Verbindung, des Zusammenhanges, der g'egenseitigen Ab- hängigkeit dieser gleichartigen Elemente aller Gebiete als die einzige Aufgabe der Wissenschaft ansehen; so können wir mit Grund erwarten, auf dieser Vorstellung einen einheitlichen, monistischen Bau aufzuführen und des leidig^en verwirrenden Dualismus los zu werden. Indem man die Materie als das absolut Beständige und Unveränderliche ansieht , zerstört man ja in der That den Zusammenhang zwischen Physik und Psy- chologie.
Erkenntnisskritische Erwägungen können zwar keinem Men- schen schaden, allein der Specialforscher, z. B. der Physiker, hat keinen Grund sich allzusehr durch solche Betrachtungen beun- ruhigen zu lassen. Scharfe Beobachtung und ein glücklicher In- stinkt sind für ihn sehr sichere Führer. Seine Begriffe, sofern sie sich als unzureichend erweisen sollten , werden durch die Thatsachen am besten und schnellsten berichtigt. Wenn es sich aber um die Verbindung von Nachbargebieten von verschiedenem und eigenartigem Entwicklungsgang handelt, so kann dieselbe nicht mit Hilfe der beschränkteren Begriffe eines engen Special- g'ebietes vollzogen werden. Hier müssen durch allgemeinere Erwägungen für das weitere Gebiet ausreichende Begriffe ge- schaffen werden. Nicht jeder Physiker ist Erkenntnisskritiker, nicht jeder muss oder kann es auch nur sein. Die Specialforsch- ung beansprucht eben einen ganzen Mann, die Erkenntniss- theorie aber auch.
Bald nach Erscheinen der ersten Auflage dieser Schrift be- lehrte mich ein Physiker darüber, wie ungeschickt ich meine Auf- gabe angefasst hätte. Man könne, meinte er, die Empfindungen nicht analysiren , bevor die Bahnen der Atome im Gehirn nicht
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bekannt seien. Dann allerdings würde sich alles von selbst er- geben. Diese Worte, welche vielleicht bei einem Jüngling der Laplace'schen Zeit auf fruchtbaren Boden gefallen wären, und sich zu einer psychologischen Theorie auf Grund „verborgener Bewegungen" (!) entwickelt hätten, konnten mich natürlich nicht mehr bessern. Sie hatten aber doch die Wirkung, dass ichDubois mit seinem „Ignorabimus", das mir bis dahin als die grössteVer- irrung erschienen war, im stillen Abbitte leistete. War es doch ein wesentlicher Fortschritt, dass Dubois die Unlösbarkeit seines Problems erkannte, und war diese Erkenntniss doch für viele Menschen eine Befreiung, wie der sonst kaum begreifliche Erfolg seiner Rede beweist^). Den wichtigern Schritt der Einsicht, dass ein principiell als unlösbar erkanntes Problem auf einer verkehrten Fragenstellung beruhen muss, hat er allerdings nicht gethan. Denn auch er hielt, wie unzählige Andere, das Handwerkszeug einer wSpecialwissenschaft für die eigentliche Welt.
3- Die Wissenschaften können sich sowohl durch den Stoff unter- scheiden als auch durch die Art der Behandlung dieses Stoffes. Alle Wissenschaft geht aber darauf aus , Thatsachen in Ge- danken darzustellen, entweder zu praktischen Zwecken oder zur Beseitigung des intellectuellen Unbehagens. Knüpfen wir an die Bezeichnung der „Vorbemerkungen" an, so entsteht Wissenschaft, indem durch die a ßy . . . . der Zusammenhang der übrig'en Elemente nachgebildet wird. Beispielsweise entsteht
Physik (in weitester Bedeutung) durch Nachbildung der ABC
in ihrer Beziehung zu einander, Physiologie oder Ps3^chologie der vSinne durch Nachbildung der Beziehung von ABC ... zu KLM, Physiologie durch Nachbildung der Beziehung der KLM .... zu einander und zu ABC .... Die Nachbildung der aßy . . . . durch andere aßy führt zu den eigentlichen psychologischen Wissenschaften .
l) Dubois-Reymond, Ueber die Grenzen des Naturerkennes. 1872,
4. Aufl.
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Man könnte nun z. B. in Bezug auf Physik der Ansicht sein, dass es weniger auf DarsteUung der sinnlichen Thatsachen als auf die Atome, Kräfte und Gesetze ankommt, welche gewisser- massen den Kern jener sinnlichen Thatsachen bilden. Unbefangene Ueberlegung lehrt aber, dass jedes praktische und intellec- tuelle Bedürfniss befriedigt ist, sobald unsere Gedanken die sinnlichen Thatsachen vollständig nachzubilden vermögen. Diese Nachbildung ist also Ziel und Zweck der Physik, die Atome, Kräfte, Gesetze hingegen sind nur die Mittel, welche uns jene Nachbildung erleichtern. Der Werth der letztern reicht nur so weit, als ihre Hilfe.
4- AVir sind über irgend einen Naturvorgang, z. B. ein Erdbeben, so vollständig als möglich unterrichtet, wenn unsere Gedanken uns die Gesammtheit der zusammengehörigen sinnlichen Thatsachen so vorführen, dass sie fast als ein Ersatz derselben angesehen werden können, dass uns die Thatsachen selbst als bekannte ent- gegentreten, dass wir durch dieselben nicht überrascht werden. Wenn wir in Gedanken das unterirdische Dröhnen hören, die Schwankung fühlen, die Empfindung beim Heben und Senken des Bodens, das Krachen der Wände, das Abfallen des Anwurfs, die Bewegung der Möbel und Bilder, das Stehenbleiben der Uhren, das Khrren und Springen der Fenster, das Verziehen der Thür- stöcke und Festklemmen der Thüren uns vergegenwärtigen, wenn wir die Welle, die durch den Wald wie durch ein Kornfeld zieht, und die Aeste bricht, die in eine Staubwolke gehüllte Stadt im Geiste sehen, die Glocken ihrer Thürme anschlagen hören, wenn uns auch noch die unterirdischen Vorgänge, welche zur Zeit noch unbekannt sind, sinnlich so vor Augen stehen, dass wir das Erd- beben herankommen sehen wie einen fernen Wagen, bis wir end- lich die Erschütterung unter den Füssen fühlen, so können wir mehr Einsicht nicht verlangen. Können wir auch die Theil- thatsachen nicht in dem richtigen Ausmaass combiniren ohne ge- wisse (mathematische) Hilfsvorstellungen, oder geometrische Con-
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structionen, so ermöglichen letztere unsern Gedanken doch nur nach und nach zu leisten, was sie nicht auf einmal vermögen. Diese Hilfsvorstellungen wären aber werthlos, wenn wir mit den- selben nicht bis zur Darstellung der sinnlichen Thatsachen vor- dringen könnten.
Wenn ich das auf ein Prisma fallende weisse Lichtbündel in Gedanken als Farbenfächer austreten sehe, mit bestimmten Winkeln die ich voraus bezeichnen kann, wenn ich das reelle Spectralbild sehe, dass beim Vorsetzen einer Linse auf einem vSchirm entsteht, darin die Fraunhofer 'sehen Linien an voraus bekannten Stellen, wenn ich im Geiste sehe, wie sich die letzteren verschieben, so bald das Prisma gedreht wird, sobald die Substanz des Prismas wechselt, sobald ein dasselbe berührendes Thermometer seinen Stand ändert, so weiss ich alles, was ich verlang'en kann. Alle Hilfsvorstellungen, Gesetze, Formehi sind nur das quantitative Regulativ meiner sinnlichen Vorstellung. Diese ist das Ziel, jene sind die Mittel.
Die Anpassung- der Gedanken an die Thatsachen ist also das Ziel aller naturwissenschaftlichen Arbeit. Die Wissenschaft setzt hier nur absichtlich und b e w u s s t fort, was sich im tägiichen Leben unvermerkt von selbst vollzieht. Sobald wir der Selbst- beobachtung fähig werden, finden wir unsere Gedanken den That- sachen schon vielfach angepasst vor. Die Gedanken führen uns die Elemente in ähnlichen Gruppen vor wie die sinnlichen That- sachen. Der begrenzte Gedankenvorrath reicht aber nicht für die fortwährend wachsende Erfahrung. Fast jede neue Thatsache bringt eine Fortsetzung der Anpassung mit sich, die sich im Process des Urtheilens äussert.
Man kann diesen Vorgang an Kindern sehr gut beobachten. Ein Kind kommt zum erstenmal aus der vStadt auf's Land, etwa auf eine grosse Wiese, sieht sich da nach allen Seiten um. und spricht verwundert: ,,Wir sind in einer Kugel. Die Welt ist eine
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blaue Kugel ^)". Hier haben wir zwei Urtheile. Was geht vor, indem dieselben gebildet werden ? Die fertige sinnliche Vorstellung „wir" (die begleitende Gesellschaft) wird durch die ebenfalls schon vorhandene Vorstellung einer Kugel zu einem Bilde ergänzt. Aehnlich wird in dem zweiten Urtheil das Bild der „Welt" (alle Gegenstände der Umgebung) durch die einschliessende blaue Kugel (deren Vorstellung auch schon vorhanden war, weil sonst der Name gefehlt hätte) ebenfalls ergänzt. Ein Urtheil ist also immer eine Ergänzung einer sinnlichen Vorstellung zur voll- ständig'eren Darstellung einer sinnlichen Thatsache. Ist das Urtheil in Worten ausdrückbar, so besteht es sogar immer in einer Zusammensetzung der neuen Vorstellung aus schon vorhandenen Erinnerungsbildern, welche auch beim Angesprochenen durch Worte hervorgelockt werden können.
Der Process des Urtheilens besteht also hier in einer Be- reicherung-, Erweiterung, Ergänzung- sinnlicher Vorstellungen durch andere sinnliche Vorstellungen unter Leitung der sinnlichen Thatsache. Ist der Process vorbei und das Bild geläufig ge- worden, tritt es als fertig-e Vorstellung in's Bewusstsein, so haben wir es mit keinem Urtheil, sondern nur mehr mit einer einfachen Erinnerung zu thun ''). Das Wachsthum der Naturwissenschaft
i) Uer hier als Beispiel angeführte Fall ist nicht erdichtet, sondern ich habe den Vorgang an meinem 3 jährigen Kinde beobachtet. In diesem Falle Avird eigent- lich eine physiologische Thatsache constatirt, was freilich erst spät erkannt worden ist. Die alte wissenschaftliche Astronomie beginnt mit solchen naiven Aufstellungen, die sie für physikalische hält.
2) Aut eine Untersuchung über den Urtheilsprocess als solchen kann ich mich hier nicht einlassen. Ich möchte aber unter den neueren Schriften über den Gegen- stand diejenige von W. Jerusalem (Die Urtheilsfunction, Wien, 1895) hervorheben. Ohne mit diesem Autor auf demselljen Boden zu stehen, habe ich doch aus der Leetüre seiner Schrift durch die vielen Einzeiuntersuchungen manche Anregimg und Belehrung empfangen. Die psychologischen Seiten, namentlich die biologische Function des Ur- theiis, sind sehr lebendig dargestellt. Die Auffassung des Subjects als eines Kraft- centrums wird man kaum glücklich finden. Dagegen gibt man gewiss gern zu, dass in den Anfängen der Cultur und der Sprachbildung anthropomorphische Vorstellungen grossen Einfluss üben. — Ganz andere Fragen behandelt A. Stöhr in seinen Schriften (Theorie der Namen, 1889; Die Vieldeutigkeit des Urtheils, 1895; Algebra der Gram- matik, 1898). Unter diesen scheinen mir die auf das Verhältniss von Logik und Gram- matik bezüglichen die interessantesten zu sein.
Mach, Analyse. 3. Aufl. lo
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und der Mathematik beruht grösstentheils auf der Bildung solcher intuitiver Erkenntnisse (wie sie Locke nennt). Betrachten wir z. B. die Sätze: „i. Der Baum hat eine Wurzel. 2. Der Frosch hat keine Klauen. 3. Aus der Raupe wird ein Schmetterling. 4. Verdünnte Schwefelsäure löst Zink. 5. Reibung macht das Glas electrisch. 6. Der electrische Strom lenkt die Magnetnadel ab. 7. Der AVürfel hat 6 Flächen, 8 Ecken, 12 Kanten." Der I. Satz enthält eine räumliche Erweiterung der Baumvorstellung, der 2. die Correctur einer nach der (jewohnheit zu voreilig ver- vollständigten Vorstellung, der 3., 4., 5. und 6. enthalten zeitlich erweiterte Vorstellungen. Der 7. Satz gilt ein Beispiel der geo- metrischen intuitiven Erkenntniss.
6. Derartige intuitive Erkenntnisse prägen sich dem Gedächt- niss ein, und treten als jede g-egebene sinnliche Thatsache spontan ergänzende Erinnerungen auf. Die verschiedenen Thatsachen gleichen sich nicht vollständig. Die v^erschiedenen Fällen ge- meinsamen Bestandtheile der sinnlichen Vorstellung" werden aber gekräftigt, und es kommt dadurch ein Princip der mög- lichsten Verallgemeinerung oder Continuität in die Er- innerung. Andererseits muss die Erinnerung, soll sie der Mannig- faltigkeit der Thatsachen g'erecht werden, und überhaupt nützlich sein, dem Princip der zureichenden Differenzirung ent- sprechen. Schon das Thier wird durch lebhaft roth und gelb ge- färbte (ohne Anstrengung am Baum sichtbare) weiche Früchte an deren süssen, durch grüne (schwer sichtbare) harte Früchte an deren sauren Geschmack erinnert werden. Der Insekten jagende Affe hascht nach allem, was schwirrt und fliegt, hütet sich aber vor der gelb und schwarz gefleckten Fliege, der Wespe. In diesen Beispielen spricht sich deutlich genug das Bestreben nach möglichster Verallgemeinerung und Continuität, so wie nach praktisch zureichender Differenzirung der Erinne- rung aus. 'Und beide Tendenzen werden durch dasselbe Mittel, die A u s s o n d e r u n g und FI e r v o r h e b u n g" j e n e r Bestandtheile
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der sinnlichen Vorstellung, erreicht, welche für den zur Er- fahrung' passenden Gedankenlauf maassgebend sind. Ganz analog verfährt der Physiker, wenn er verallgemeinernd sagt, „alle durchsichtigen festen Körper brechen das aus der Luft einfallende Licht zum Lothe", und wenn er differenzirend hinzufügt, „die tesseral krystallisirten und amorphen einfach, die übrigen doppelt".
7-
Ein guter Theil der Gedankenanpassung vollzieht sich un- bewusst und unwillkürlich unter Leitung der sinnlichen Thatsachen. Ist diese Anpassung ausgiebig genug geworden, um der Mehr- zahl der auftretenden Thatsachen zu entsprechen, und stossen wir nun auf eine Thatsache, welche mit unserm g'ewohnten Gedanken- lauf in starkem Widerstreit steht, ohne dass man sofort das maass- g'ebende Moment zu erschauen vermöchte, welches zu einer neuen Differenzirung führen würde, so entsteht ein Problem. Das Neue, das Ungewöhnliche, das Wunderbare wirkt als Reiz, welcher die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Praktische Gründe, oder das intellectuelle Unbehagen allein, können den Willen zur Beseitigung des Widerstreites, zur neuen Gedankenanpassung er- zeugen. So entsteht die absichtliche Gedankenanpassung, die Forschung.
Wir sehen z. B. einmal ganz gegen unsere Gewohnheit, dass an einem Hebel oder Wellrad eine grosse Last durch eine kleine gehoben wird. Wir suchen nach dem differenzirenden Moment, welches uns die sinnliche Thatsache nicht unmittelbar zu bieten vermag. Erst wenn wir, verschiedene ähnliche That- sachen vergleichend, den Einfluss der Gewichte und der Hebelarme bemerkt, und uns selbstthätig zu den ab- stracten Begriffen Moment oder Arbeit erhoben haben, ist das Problem gelöst. Das Moment oder die Arbeit ist das differenzirend e Element. Ist die Beachtung des Momentes oder der Arbeit zur Denkgewohnheit geworden, so existirt das
Problem nicht mehr.
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Was thut man nun, indem man abstrahirt? Was ist eine Abstraction? Was ist ein Begriff? Entspricht dem Begriff ein sinnliches VorsteUungsbild? Einen allgemeinen Menschen kann ich mir nicht vorstellen, höchstens einen besonderen, vielleicht einen, der zufäUige Besonderheiten verschiedener Menschen, die sich nicht ausschliessen, vereinigt. Ein allgemeines Dreieck, welches etwa zugleich rechtwinklig und g'leichseitig sein müsste, ist nicht vorstellbar. Allein ein solches mit dem Namen des Begriffs auftauchendes, die begriffliche Operation begleitendes Bild ist auch nicht der Begriff. Ueberhaupt deckt ein Wort, welches aus Noth zur Bezeichnung vieler Einzelvorstellungen ver- wendet werden muss, durchaus noch keinen Begrifi. Ein Kind, das zuerst einen schwarzen Hund g'esehen und nennen gehört hat, nennt z. B. alsbald einen grossen schwarzen, rasch dahin- laufenden Käfer ebenfalls ,,Hund", bald darauf ein Schwein oder Schaf ebenfalls Hund^). Irgend eine an die früher benannte Vorstellung erinnernde Aehnlichkeit führt zum naheliegenden Gebrauch desselben Namens. Der Aehnlichkeitspunkt braucht in aufeinanderfolgenden Eällen gar nicht derselbe zu sein; er liegt z. B. einmal in der Farbe, dann in der Bewegung, dann in der Gestalt, der Bedekung u. s. w. ; demnach ist auch von einem Be- griff gar nicht die Rede. So nennt ein Kind gelegentlich die Federn des Vogels Haare, die Hörner der Ivuh Fühlhörner, den Bartwisch, den Bart des Vaters und den Samen des Löwenzahns ohne Unterschied „Bartwisch" u. s. w. -). Die meisten Menschen verfahren mit den Worten ebenso, nur weniger auffallend, weil sie einen grösseren Vorrath zur Verfügung- haben. Der gemeine Mann nennt ein Rechteck „Viereck" und gelegentlich auch den Würfel (wegen der rechtwinkligen Begrenzung) ebenfalls „Viereck".
ij So nannten die Markomannen die von den Römern über die Donau ge- setzten Löwen ,, Hunde" und die Jonier nannten (Herodot II 69) die ,,Champsä" des Nils nach den Eidechsen ihrer Büsche ,, Krokodile".
2) Sämmtliche Beis])iele sind der Beobachtung entnommen.
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Die Sprachwissenschaft und einzelne historisch beglaubigte Fälle lehren, dass ganze Völker sich nicht anders verhalten ^).
Ein Begriff ist überhaupt nicht eine fertige Vorstellung. Gebrauche ich ein Wort zur Bezeichnung eines Begriffs, so liegt in demselben ein einfacher Impuls zu einer geläufigen sinn- lichen Thätigkeit, als deren Resultat ein sinnliches Element (das Merkmal des Begriffs) sich ergibt. Denke ich z. B. an den Begriff Siebeneck, so zähle ich in der vorliegenden Figur oder in der auftauchenden Vorstellung die Ecken durch; komme ich hierbei bis sieben, wobei der Laut, die Ziffer, die Finger das sinnliche Merkmal der Zahl abgeben können, so fällt die ge- gebene Vorstellung unter den gegebenen Begriff. Spreche ich von einer Quadratzahl, so versuche ich die vorliegende Zahl durch die Operation 5X5, 6x6 u, s. w., deren sinnliches Merk- mal (die Gleicheit der beiden multiplicirten Zahlen) auf der Hand liegt, herzustellen. Das gilt von jedem Begriff. Die Thätigkeit, welche das Wort auslöst, kann aus mehreren Opera- tionen bestehen; die eine kann eine andere enthalten. Immer ist das Resultat ein sinnliches Element, welches vorher nicht da war.
Wenn ich ein Siebeneck sehe, oder mir vorstelle, braucht mir die Siebenzahl der Ecken noch nicht g'egenwärtig zu sein. Sie tritt erst durch die Zählung hervor. Oft kann dass neue sinnliche Element, wie z. B. beim Dreieck, so nahe liegen, dass die Zähloperation unnöthig scheint; das sind aber Specialfälle, welche eben zu Täuschungen über die Natur des Begriffs führen. An den Kegelschnitten (Ellipse, Hyperbel, Parabel) sehe ich nicht, dass sie unter denselben Begriff fallen; ich kann es aber durch die Operationen des Kegelschneidens, und durch die Con- struction der Gleichung finden.
Wenn wir also abstracte Begriffe auf eine Thatsache an- wenden, so wirkt dieselbe auf uns als einfacher Impuls zu einer sinnlichen Thätigkeit, welche neue sinnliche Elemente herbei-
i) Withney, Leben und Wachsthum der Sprache. Leipzig 1876.
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schafft, die unsern ferneren Gedankenlauf der Thatsache entsprechend bestimmen können. Wir bereichern und erweitern durch unsere Thätigkeit die für uns zu arme Thatsache. Wir thun das- selbe, was der Chemiker mit einer farblosen Salzlösung thut, in- dem er ihr durch eine bestimmte Operation einen gelben oder braunen Niederschlag ablockt, der seinen Gedankenlauf zu differen- ziren vermag. Der Begriff des Physikers ist eine bestimmte Reactionsthätigkeit, welche eine Thatsache mit neuen sinn- lichen Elementen bereichert.
Eine sehr dürftige Sinnlichkeit und eine sehr geringe Be- weglichkeit reichen zur Bildung von Begriffen aus. Dies lehrt die Entwicklung'sgeschichte der blinden und taubstummen Laura Bridgman, welche Jerusalem in einer interessanten kleinen Schrift^) allgemein zugänghch gemacht hat. Fast ganz ohne Ge- ruch und auf die Wahrnehmung- von Erschütterung^en und Schall- schwingungen durch die Fussohlen und Fing^erspitzen, kurz durch die Haut angewiesen, vermochte Laura doch einfache Be- griffe zu gewinnen. Durch Herumgehen und durch die Bewegung der Hände findet sie die Tastmerkmale (Classencharactere) der Thüre, des Stuhles, des Messers u. s. w. Allerding-s reicht die Abstraction nicht hoch. Die abstractesten Begriffe, die sie sich erwarb, dürften die Zahlen gewesen sein. Im ganzen blieb ihr Denken natürlich an Spezialvorstellungen haften. Beweis dafür ist ihre Auffassung der Rechenaufgaben eines Schulbuches als speciell an sie gerichtet (a. a. O. S. .25), ihre Meinung, dass der Himmel (das Jenseits) eine Schule sei u. s. w. (a. a. O. S. 30).
9- Wenn wir, um an ein früheres Beispiel anzuknüpfen, einen Hebel erblicken, so treibt uns dieser Anblick, die Arme abzu- messen , die Gewichte zu wäg'en , die Maasszahl des Armes mit der Maaszahl des Gewichtes zu multipliciren. Entpricht den beiden Producten dasselbe sinnhche Zahlenzeichen, so erwarten wir Gleichgewicht. Wir haben so ein neues sinnliches Element ge-
1) W. Jerusalem, Laura liiidginann, Wien, Picliler 1891.
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Wonnen, welches zuvor in der blossen Thatsache noch nicht ge- geben war, und das nun unsern Gedankenlauf differenzirt. Hält man sich recht gegenwärtig, dass das begriffliche Denken eine Reactionsthätigkeit ist, die wohl geübt sein will, so versteht man die bekannte Thatsache, dass niemand Mathematik oder Physik, oder irgend eine Naturwissenschaft durch blosse Leetüre, ohne praktische Uebung, sich aneignen kann. Das Verstehen beruht hier gänzlich auf dem Thun. Ja es wird in keinem Gebiet mög- lich sein, sich zu den höheren Abstractionen zu erheben, ohne sich mit den Einzelheiten beschäftigt zu haben.
Die Thatsachen werden also durch die begriffliche Behand- lung erweitert und bereichert, und schliesslich wieder vereinfacht. Denn wenn das neue maassgebende sinnliche Element (z. B. die Maasszahl der Momente des Hebels) gefunden ist, wird nur mehr dieses beachtet, und die mannigfaltigsten Thatsachen gleichen und unterscheiden sich nur durch dieses Element. Wie bei der intuitiven Erkenntniss reducirt sich also auch hier alles auf die Auffindung, Hervorhebung und Aussonderung der maassgebenden sinnlichen Elemente. Die Forschung erreicht hier nur auf einem Umwege, was sich der intuitiven Erkennt- niss unmittelbar darbietet.
Der Chemiker mit seinen Reagenzien, der Physiker mit Maassstab, Waage, Galvanometer, und der Mathematiker verhalten sich den Thatsachen gegenüber eigentlich ganz gleichartig; nur braucht der letztere bei Erweiterung der Thatsache am wenigsten über die Elemente a ß y . . . . K L J/ hinauszugehen. Seine Hilfs- mittel hat er stets und sehr bequem zur Hand. Der Forscher mit seinem ganzen Denken ist ja auch nur ein Stück Natur wie jedes Andere. Eine eigentliche Kluft zwischen diesem und anderen Stücken besteht nicht. Alle Elemente sind gleichwerthig.
Nach dem Dargelegten ist das Wesen der Abstraction nicht erschöpft, wenn man sie (mit Kant) als negative Aufmerksamkeit bezeichnet. Zwar wendet sich beim Abstrahiren von vielen sinn- lichen Elementen die Aufmerksamkeit ab, dafür aber andern neuen sinnlichen Elementen zu, und das Letztere ist gerade wesentlich.
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Jede Abstraction gründet sich auf das Hervortreten bestimmter sinnlicher Elemente.
10.
Indem ich hier meine Darstellung von 1886 unverändert lasse, möchte ich zugleich auf die weiteren Ausführungen in einer spätem Schrift hinweisen ^). Daselbst sind auch (in der zweiten Auflage von 1900) die seit 1897 erschienenen Arbeiten von H. Gomperz und Ribot erwähnt, welche Untersuchungen ent- halten, deren Ergebnisse in mancher Beziehung mit den raeinigen verwandt sind. Gomperz und Ribot schliessen beide die wissenschaftlichen Begriffe von ihrer Untersuchung aus, und be- handeln bloss die vulgären Begriffe, wie sie in den Worten der gewöhnlichen Verkehrssprache fixirt sind. Ich bin im Gegenteil der Meinung, dass die Natur der Begriffe an den wissenschaft- lichen Begriffen, welche mit Bewusstsein gebildet und an- gewendet werden, sich viel besser offenbaren muss, als an den vulgären Begriffen. Letztere können wegen ihrer Ver- schwommenheit kaum zu den eigentlichen Begriffen gerechnet werden. Die Worte der Vulgärsprache sind einfach gefäufige Merkzeichen, welche ebenso geläufige Denkgewohnheiten aus- lösen. Der begriffliche Inhalt dieser Worte, soweit er überhaupt in schärferer Form besteht, kommt kaum zum Bewusstsein, wie dies auch Ribot bei seinen statistischen Versuchen gefunden hat. Ohne Zweifel könnte ich Gomperz und Ribot noch viel weiter zustimmen, als es schon jetzt der Fall ist, wenn sie auch die wissenschaftlichen Begriffe in ihre Untersuchung einbezog'en hätten.
Wir haben als einfaches Beispiel des Begriffes oben das statische Moment gewählt. Comphcirte Begriffe werden ein com- plicirtes System von Reactionen erfordern, welche mehr oder weniger grosse Theile des Centralnervensystems in Anspruch nehmen, und ein entsprechend complicirtes den Begriff charac- terisirendes .System von sinnlichen Elementen zu Tage fördern.
l) Principien der Wurniclclirc, 2. Aufl., 1900, S. 415, 422.
— 249 ^
Die von J. v. Kries erhobenen Schwierigkeiten i) möchten bei dieser Auffassung" nicht unüberwindhch sein. (Vergl. S. 56, 57.)
Die sinnhche Thatsache ist also der Ausgaiigpunkt und auch das Ziel aller Gedankenanpassungen des Physikers. Die Gedanken, welche unmittelbar der sinnlichen Thatsache folgen, sind die geläufigsten, stärksten und anschaulichsten. Wo man einer neuen Thatsache nicht sofort folgen kann, dräng-en sich die kräftigsten und geläufigsten Gedanken heran, um dieselbe reicher und bestimmter zu gestalten. Hierauf beruht jede naturwissen- schaftliche Hypothese und Speculation, deren Berechtigung in der Gedankenanpassung liegt, welche sie fördert und schliesslich her- beiführt. So denken wir uns den Planeten als einen geworfenen Körper, stellen uns den electrischen Körper mit einer fernwirkenden Flüssigkeit bedeckt vor, denken uns die Wärme als einen Stoff, der aus einem Körper in den andern überfliesst, bis uns schliess- lich die neuen Thatsachen ebenso geläufig und anschaulich werden als die älteren, die wir als Gedankenhilfe herangezogen hatten. Aber auch wo von unmittelbarer Anschaulichkeit nicht die Rede sein kann, bilden sich die Gedanken des Physikers unter möglichster Einhaltung des Princips der Continuität und der zureichenden Differenzirung zu einem ökonomisch ge- ordneten System von Regriffsreactionen aus, welche wenigstens auf den kürzesten Wegen zur Anschaulichkeit führen. Alle Rechnungen, Constructionen u. s. w. sind nur die Zwischenmittel diese Anschaulichkeit schrittweise und auf sinnliche Wahrnehm- ung gestützt zu erreichen, wo dieselbe nicht unmittelbar zu er- reichen ist.
12. Betrachten wir nun die Ergebnisse der Gedankenan- passung. Nur dem, was an den Thatsachen überhaupt beständig
I) J. V. Kries, Die materiellen Grundlagen der Bewusstseinserscheinungen. Freiburg i. Br, 1898.
— 250 —
ist, können sich die Gedanken anpassen, und nur die Nach- bildung des Beständigen kann einen ökonomischen Vortheil gewähren. Hierin hegt also der letzte Grund des Strebens nach Continuität der Gedanken, d. h. nach Erhaltung der möghch- sten Beständigkeit, und hierdurch werden auch die Anpassungs- ergebnisse verständhch ^). Continuität, Oekonomie und Be- ständigkeit bedingen sich gegenseitig; sie sind eigentlich nur verschiedene Seiten einer und derselben Eigenschaft des gesunden Denkens.
13-
Das bedingungslos Beständige nennen wir Substanz. Ich sehe einen Körper, wenn ich ihm den Blick zuwende. Ich kann ihn sehen, ohne ihn zu tasten. Ich kann ihn tasten, ohne ihn zu sehen. Obgleich also das Hervortreten der Elemente des Complexes an Bedingungen geknüpft ist, habe ich dieselben doch zu sehr in der Hand, um sie besonders zu würdigen und zu beachten. Ich betrachte den Körper, oder den Elementencomplex oder den Kern dieses Complexes als stets vorhanden, ob er mir augenblicklich in die wSinne fällt oder nicht. Indem ich den Ge- danken dieses Complexes, oder das Symbol desselben, den Ge- danken des Kerns mir stets parat halte, gewinne ich den Vor- theil der Voraussicht, und vermeide den Nachtheil der Ueber- raschung. Ebenso halte ich's mit den chemischen Elementen, die mir als beding'ungslos beständig erscheinen. Obgleich hier mein Wille nicht genügt, um die betreffenden Complexe zur sinnlichen Thatsache zu machen, obgleich hier auch äussere Mittel nöthig sind, sehe ich doch von diesen Mitteln ab, sobald sie mir ge- läufig geworden, und betrachte die chemischen Elemente einfach als beständig. Wer an Atome glaubt, hält es mit diesen analog.
Aehnlich wie mit dem Elementencomplex, der einem Körper entspricht, können wir auf einer höheren Stufe der Gedanken-
I) Vergl. : „die Mechanik in ihrer Entwicklung". i. Aufl. 1883 4. Aufl. S. 519, 520.
— 251 —
anpassung auch mit ganz Gebieten von Thatsachen verfahren. Wenn wir von Electricität, Mag'netismus, licht, Wärme sprechen, auch ohne uns hierunter besondere Stoffe zu denken, so schreiben wir diesen Thatsachengebieten, wieder von den uns geläufigen Bedingungen ihres Hervortretens absehend, eine Beständigkeit zu, und halten die nachbildenden Gedanken stets parat, mit gleichem Vortheil wie in den obigen Fällen. Wenn ich sage, ein Körper ist ,,electrisch", so ruft mir dies viel mehr Erinnerungen wach, ich erwarte viel bestimmtere Gruppen von Thatsachen, als wenn ich etwa die in dem Einzelfall sich äussernde Anziehung hervor- heben würde. Doch kann diese Hypostasirung auch ihre Nach- theile haben. Zunächst wandeln wir, solange wir so verfahren, immer dieselben historischen Weg-e. Es kann aber wichtig sein zu erkennen, dass es eine specifisch electrische Thatsache gar nicht gibt, dass jede solche Thatsache z. B. ebensogut als eine chemische oder thermische angesehen werden kann, oder vielmehr, dass alle physikalischen Thatsachen schliesslich aus den- selben sinnlichen Elementen (Farben, Drucken, Räumen, Zeiten) sich zusammensetzen, dass wir durch die Bezeichnung „electrisch", bloss an eine Specialform erinnert werden, in welcher wir die Thatsache zuerst kennen gelernt haben.
Haben wir uns gewöhnt, den Körper, welchem wir die tastende Hand und den Blick beliebig zu- und abwenden können, als beständig anzusehen, so thun wir dies auch leicht in Fällen, in welchen die Bedingungen der Sinnenfälligkeit gar nicht in unserer Hand liegen, z. B. bei Sonne und Mond, die wir nicht tasten können, bei den Welttheilen, die wir vielleicht einmal und nicht wieder sehen können, oder die wir gar nur aus der Be- schreibung kennen. Dies Verfahren kann für eine ruhige öko- nomische Weltauffassung seine Bedeutung haben, es ist aber ge- wiss nicht dass einzig berechtigte. Es wäre nur ein consequenter Schritt weiter, die ganze Vergangenheit, welche ja in ihren Spuren noch vorhanden ist (da wir z. B. Sterne dort sehen, wo sie vor Jahrtausenden waren), und die ganze Zukunft, die im Keime schon da ist (da man z. B. unser Sonnensystem nach Jahrtausen-
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den noch sehen wird, wo es jetzt ist), als beständig" anzusehen. Ist doch der g'anze Zeitverlauf nur an Bedingung'en unserer Sinnlichkeit gebunden. Mit dem Bewusstsein eines besonderen Zweckes wird man auch diesen Schritt unternehmen dürfen.
14.
Eine wirkliche bedingungslose Beständig'keit gibt es nicht, wie dies aus dem Besprochenen deutlich hervorgeht, Wir gelangen zu derselben nur, indem wir Bedingungen über- sehen, unterschätzen, oder als immer g-egeben betrachten, oder willkürlich von denselben absehen. Es bleibt nur eine Art der Beständigkeit, die alle vorkommenden Fälle von Beständigkeit umfasst, die Beständigkeit der Verbindung (oder Beziehung). Auch die Substanz, die Materie ist kein bedingungslos Beständiges. Was wir Materie nennen, ist ein gewisser ge- setzmässiger Zusammenhang der Elemente (Empfindungen). Die Empfindungen verschiedener Sinne eines Menschen, so wie die Sinnesempfindungen verschiedener Menschen sind gesetz- mässig von einander abhängig. Darin besteht die Materie. Der älteren Generation, namentlich den Physikern und Chemikern, wird die Zumuthung vSchrecken erregen, die Materie nicht als das absolut Beständige zu betrachten, und statt dessen ein festes Verbindungsgesetz von Elementen, welche an sich sehr flüchtig scheinen, als das Beständige anzusehn. Auch jüngeren Leuten wird dies Mühe machen, und mich selbst hat es seiner Zeit eine grosse Uebervvindung gekostet, zu dieser unvermeidlichen Einsicht zu g'elangen. Doch wird man sich zu einer so radicalen Aenderung der Denkweise entschliessen müssen, wenn man auf- hören will, denselben Eragen immer wieder in gleicher Rath- losigkeit gegenüber zu stehen.
Es kann sich nicht darum handeln, für den Hand- und Haus- gebrauch den vulgären Begriff der Materie, der sich für diesen Zweck instinctiv herausgebildet hat, abzuschaffen. Auch alle physikalischen Maassbegriffe bleiben aufrecht, und erfahren nur eine kritische Läuterung, wie ich dieselben in Bezug auf Mechanik,
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Wärme, Electricität u. s. w. versucht habe. Hierbei treten ein- fach empirische Begriffe an die Stelle der metaphysischen. Die Wissenschaft erleidet aber keinen Verlust, wenn das starre, sterile, beständige, unbekannte Etwas (die Materie) durch ein beständig-es Gesetz ersetzt wird, das in seinen Einzelheiten noch weiter durch die physikalisch-physiologische Forschung auf- geklärt werden kann. Es soll hiermit keine neue Philosophie, keine neue Metaphysik geschaffen, sondern einem aug-enblicklichen vStreben der positiven Wissenschaften nach gegenseitigem An- schluss entsprochen werden ^).
l5- Die naturwissenschaftlichen Sätze drücken nur solche Be- ständigkeiten der Verbindung aus: „Aus der Kaulquappe wird ein Frosch. Das Chlornatrium tritt in Würfelform auf. Der Lichtstrahl ist geradlinig. Die Körper fallen mit der Be-
(111 \ ^j". Den beg-rifflichen Ausdruck dieser
Beständigkeiten nennen wir Gesetze. Die Kraft (im mechani- schen Sinne) ist auch nur eine Beständigkeit der Verbindung. Wenn ich sage, ein Körper A übe auf B eine Kraft aus, so heisst dies, dass B sofort eine gewisse Beschleunigung- gegen A zeigt, sobald es diesem gegenübertritt.
Die eigenthümliche Illusion, als ob der Stoff A der absolut beständige Träger einer Kraft wäre, welche wirksam wird, sobald B dem A gegenübertritt, ist leicht zu beseitigen. Treten wir, oder g^enauer unsere Sinnesorg'ane, an die Stelle von B, so sehen wir von dieser jederzeit erfüllbaren Bedingung ab, und A erscheint uns als absolut beständig. So scheint uns das magne- tische Eisen, das wir immer sehen, so oft wir hinblicken wollen, als der beständige Träger der magnetischen Kraft, die erst wirk- sam wird, sobald ein Eisenstückchen hinzutritt, von welchem
I) Vgl. Princ. der Wärmelehre 2. Aufl. 1900, S. 423 u. fF.
— 254 —
wir nicht so unvermerkt absehen können, wie von uns selbst^). Die Phrasen: „Kein Stoff ohne Kraft, keine Kraft ohne Stoff", welche einen selbstverschuldeten Widerspruch vergeblich auf- zuheben suchen, werden entbehrlich, wenn man nur Beständig- keiten der Verbindung anerkennt.
i6.
Bei hinreichender Beständigkeit unserer Umgebung entwickelt sich eine entsprechende Beständig-keit der Gedanken. Vermöge dieser Beständigkeit streben sie die halbbeobachtete Thatsache zu vervollständigen. Dieser Vervollständigungstrieb entspringt nicht der eben beobachteten einzelnen Thatsache, er ist auch nicht mit Absicht erzeugt; wir finden ihn, ohne unser Zuthun, in uns vor. Er steht uns wie eine fremde Macht gegenüber, die uns doch stets begleitet und hilft, den wir eben brauchen, um die Thatsache zu ergänzen. Obgleich er durch die Erfahrung ent- wickelt, ist liegt in ihm mehr, als in der einzelnen Erfahrung. Der Trieb bereichert gewissermaassen die einzelne Thatsache. Durch ihn ist sie uns mehr. Mit diesem Trieb haben wir stets ein grösseres Stück Natur im Gesichtsfeld, als der Unerfahrene mit der Einzelthatsache allein. Denn der Mensch mit seinen Ge- danken und seinen Trieben ist eben auch ein Stück Natur, das sich zur Einzelthatsache liinzufügt. Anspruch auf Unfehlbar- keit hat aber dieser Trieb keineswegs, und eine Nothwendig'- keit für die Thatsachen , ihm zu entsprechen, besteht durchaus nicht. Unser Vertrauen zu ihm liegt nur in der Voraus- setzung der vielfach erprobten zureichenden Anpassung unserer
I) Dem Kinde erscheint alles als substanziell, zu dessen Wahrnehmung es nur seiner Sinne bedarf. Das Kind fragt, ,,wo der Schatten, wo das gelöschte Licht hinkömmt?" Es will die Electrisirmaschine nicht weiterdrehen lassen, um den Funkenvorrath derselben nicht zu erschöpfen. Ein noch nicht ein Jahr alter Knabe wollte seinem ein Liedchen pleifendan Vater die Töne den den Lippen wegfangen. Das Haschen nach larbigcn Nachbildern kommt auch bei grösseren Kindern noch vor u. s. w. u. s. w. — Erst sobald wir Bedingungen einer Thatsache ausserhalb uns bemerken, verschwindet der Eindruck der Substanzialität. Die Geschichte der Wärme- lehre ist in dieser Beziehung sehr lehrreich.
— 255 —
Gedanken, welche aber jeden Augenblick der Enttäuschung ge- wärtig sein muss.
Nicht alle unsere Thatsachen nachbildenden Gedanhen haben die gleiche Beständigkeit. Immer und überall, wo wir an der Nachbildung der Thatsachen ein besonderes Interesse haben, werden wir bestrebt sein, die Gedanhen von geringerer Be- ständigkeit durch solche von grösserer Beständigkeit zu stützen und zu stärken, oder sie durch solche zu ersetzen. So denkt sich Newton den Planeten, obgleich die Kepler 'sehen Gesetze schon bekannt sind, als einen geworfenen Körper, die Masse der Fluthwelle, obgleich der Verlauf derselben längst ermittelt ist, als vom Monde gezogen. Das Saugen, das Fliessen des Hebers glauben wir erst zu verstehen, wenn wir uns den Druck der Luft als die Kette der Theilchen zusammenhaltend hinzudenken. Aehnlich versuchen wir die electrischen, optischen, thermischen Vorgänge als mechanische aufzufassen. Dies Bedürfniss nach Stützung schwächerer Gedanken durch stärkere wird auch Cau- salitäts bedürfniss genannt, und ist die Haupttriebfeder aller natur- wissenschaftlichen Erklärungen. Als Grundlagen ziehen wir natürlich die stärksten besterprobten Gedanken vor, die uns unsere viel geübten mechanischen Verrichtungen an die Hand geben, und die wir jeden Augenblick ohne viele Mittel auf's Neue erproben können. Daher die Autorität der mechanischen Er- klärungen, namentlich jener durch Druck und Stoss. Eine noch höhere Autorität kommt dementsprechend den mathematischen Gedanken zu, zu deren Entwicklung wir der geringsten äusseren Mittel bedürfen, für welche wir vielmehr das Experimentirmaterial grossentheils stets mit uns herumtragen. Weiss man dies aber einmal, so schwächt sich eben damit das Bedürfniss nach mecha- nischen Erklärungen ab^).
i) Aussermechanische physikalische Erfahrungen können sich, in dem Maasse als sie geläufiger werden, dem Werlhe der mechanischen nähern. Stricker hat meines Erachtens einen richtigen und wichtigen Punkt getroffen, indem er (Studien über die Association der Vorstellungen, Wien 1883) die Causalität mit dem Willen in Zusammenhang bringt. Ich selbst habe 1861 als junger Docent (bei
- 256 -
Dass man mit einer sogenannten causalen Erklärung auch nur einen Thatbestand, einen thatsächlichen Zusammenhang con- statirt (oder beschreibt), habe ich schon mehrfach dargelegt, und ich könnte mich einfach auf meine ausführlichen Auseinander- setzungen in der „Wärmelehre" und in den „Populären Vor- lesungen" berufen. Da aber der Physik ferner Stehende immer wieder weiter und tiefer zu denken g-Jauben, wenn sie einen funda- mentalen Unterschied zwischen einer naturwissenschaftlichen Be- schreibung, z. ß. einer embryonalen Entwicklung, und einer phy- sikalischen Erklärung annehmen, so seien noch einige Worte ge- stattet. Wenn wir das Wachsthum einer Pflanze beschreiben, so bemerken wir, dass so viele und mannigfaltige Umstände, die von Fall zu Fall variiren, hierbei im Spiel sind, dass unsere Be- schreibung" höchstens in den gröberen Zügen allgemein passen, in den feineren Einzelheiten aber nur für den Individualfall Geltung haben kann. Gerade so verhält es sich in physikalischen Fällen unter complicirteren Umständen; nur sind letztere im allg'emeinen doch einfacher und besser bekannt. Wir können die Umstände deshalb besser experimentell und auch intellectuell (durch Abstraction) trennen, wir können leichter schematisiren. Die Be- wegung der Planeten zu beschreiben, war für die antike Astronomie eine analoge Aufgabe, wie die Beschreibung der Entwicklung einer Pflanze für den modernen Botaniker. Die Auffindung der Kepler'schen Gesetze beruht auf einer glücklichen, ziemlich rohen Schematisirung. Je genauer wir einen Planeten be- trachten, desto individueller wird seine Bewegung", desto wenig'er folgt sie den Kepler'schen Gesetzen. Genau genommen, be- wegt sich jeder Planet anders, und derselbe Planet verschieden zu verschiedenen Zeiten. Wenn nun Newton die Planeten-
Darlegung der Bedeutung der Mill' sehen Differenzmethode) die später von Stricker ausgesprochene Ansicht mit grosser Lebhaftigkeit und Einseitigkeit vertreten. Der Ge- danke hat mich auch nie ganz verlassen (vergl. z. B. ,,Die Mechanik in ihrer Ent- wickelung", Leipzig 1883, S. 78, 282, 456). Gegenwärtig bin ich aber wie die obigen Ausführungen zeigen, doch der Meinung, dass diese Frage nicht so einfach ist, und von mehreren Seiten betrachtet werden muss. Vergl. Wärmelehre, 2. Aufl., 1900, S. 432.
— 257 — bewegungen „causal erklärt", indem er statuirt, dass ein Massen- theilchen m durch ein anderes ;;/ die Beschleunigung 99 = — y
erfährt, und dass die von verschiedenen Massentheilchen an ersterem bestimmten Beschleunigungen sich geometrisch summiren, werden wieder nur Thatsachen constatirt oder beschrieben, welche sich (wenn auch auf einem Umwege) durch Beobachtung ergeben haben. Betrachten wir, was hierbei geschieht. Zunächst sind die bei der Planetenbewegung maassgebenden Umstände (die einzelnen Massentheilchen und ihre Entfernungen) getrennt. Das Verhalten zweier Massentheilchen ist sehr einfach, und wir glauben alle Umstände (Masse und Entfernung), welche dasselbe bestimmen, zu kennen. Wir nehmen die Beschreibung, die für wenige Fälle als richtig befunden ist, auch über die Grenzen der Erfahrung als allgemein richtig an, indem wir keine Störung durch einen unbekannten fremdartigen Umstand besorgen, worin wir uns allerdings täuschen könnten, wenn sich z. B. die Gravi- tation als durch ein Medium zeitlich übertragen herausstellen sollte. Ebenso einfach ist die Modification des Verhaltens, wenn zu zwei Theilchen ein drittes, zu diesen ein viertes u. s. w. hinzu- tritt, wie dies angedeutet wurde. Die Beschreibung" eines Individual- f all es ist also die Newton 'sehe Beschreibung allerdings nicht; sie ist eine Beschreibung" in den Elementen. Indem Newton beschreibt, wie sich die Massenelemente in den Zeitelementen ver- halten, gibt er uns die Anweisung, die Beschreibung eines beliebigen Individualfalles aus den Elementen nach einer Schablone herzustellen. So ist es auch in den übrigen Fällen, welche die theoretische Physik bewältigt hat. Dies ändert a,ber nichts an dem Wesen der Beschreibung. Es handelt sich um eine generelle Be- schreibung in den Elementen. Wenn man an einer Darstellung der Erscheinungen durch Differentialgleichungen sich genügen lässt, wie ich es vor langer Zeit (Mechanik 1883, 4 Aufl. 1901, S. 530) empfohlen habe, und wie es immer mehr in Aufnahme kommt, so liegt darin thatsächlich die Anerkennung der Erklärung als einer Beschreibung in den Elementen. Jeder Einzelfall lässt
Mach, Analyse. 3. Aufl. 1'
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sich dann aus räumlichen und zeitlichen Elementen zusammen- setzen, in welchen das physikalische Verhalten durch die Glei- chungen beschrieben ist.
17-
Es wurde zuvor gesagt, dass der Mensch selbst ein Stück Natur sei. Es sei erlaubt, dies durch ein Beispiel zu erläutern. Ein Stoff kann für den Chemiker lediglich durch die Sinnes- emptindungen genügend characterisirt sein. Dann liefert der Chemiker selbst durch innere Mittel den ganzen zur Be- stimmung des Gedankenlaufs nöthigen Reichthum der Thatsache. Es kann aber in andern Fällen die Vornahme von Reactionen mit Hilfe äusserer Mittel nöthig werden. Wenn ein Strom eine in seiner Ebene befindliche Magnetnadel umkreist, so weicht der Nordpol der Nadel zu meiner Linken aus, sobald ich mich in den Strom als Ampere 'scher Schwimmer denke. Ich bereichere die Thatsache (Strom und Nadel), die für sich meinen Gcdanken- lauf nicht genügend bestimmt, indem ich mich selbst zuziehe (durch eine innere Reaction). Ich kann auch tiuf die Ebene des Stromkreises eine Taschenuhr legen, so dass der Zeiger der Strombewegung folgt. Dann schlägt der Südpol vor, der Nordpol hinter das Zifferblatt. Oder ich mache den Stromkreis zur Sonnenuhr, nach welcher ja die Taschenuhr i) gebildet ist, so dass der Schatten dem Strom folgt. Dann wendet sich der Nordpol nach der beschatteten Seite der Stromebene. Die beiden letzteren Reactionen sind äussere. Beide Arten zugleich können nur brauchbar sein, wenn zwischen mir und der Welt keine Kluft besteht. Die Natur ist ein Ganzes. Das nicht in allen Fällen beiderlei Reactionen bekannt sind, und dass der Beobachter in manchen Fällen einflusslos scheint, beweist nichts gegen die vorgebrachte Ansicht.
Rechts und links erscheinen uns gleich im Gegensatze zu vorn und hinten, oben und unten. Doch sind sie gewiss nur verschiedene Empfindungen, welche durch stärkere gleiche
i) Die Uhr trägt in dem Drehungsinn des Zeigers die Spur an sich ihrer Ab- stammung von der Sonnenuhr und ihrer Erfindung auf der nördhchen Hemisphäre.
— 259 —
übertäubt sind. Der Raum der Empfindung- hat also drei ausge- zeichnete wesensverschiedene Richtungen. Für metrische Betrachtungen sind alle Richtungen des geometrischen Raumes gleich. Sjaumetrische Gebilde, welche uns die unmittelbare Em- pfindung- als aequivalent vorg-espieg-elt, sind es aber in physischer Beziehung durchaus nicht. Auch der physische Raum hat drei wesensverschiedene Richtungen, welche sich in einem tri- klinen Medium, in dem Verhalten eines electromagnetischen Ele- mentes am deutlichsten offenbaren. Dieselben physischen Eigen- schaften kommen eben auch in unserem Leib zum Vorschein, und daher die Verwendbarkeit desselben als Reagens in physi- kalischen Fragen. Die genaue physiologische Kenntniss eines Elementes unseres Leibes wäre zugleich eine wesentliche Grund- lage unseres physikalischen Weltverständnisses. Vgl. S. 7g.
Die wiederholt berührte Einheit des Physischen und Psychischen verdient noch von einer besonderen Seite ins Auge gefasst zu werden. Unser psychisches Leben, sofern wir darunter die Vor- stellungen verstehen, scheint recht unabhängig von dem physischen Vorgängen zu sein, sozusagen eine Welt für sich, mit freiem Gesetzen, mit Gesetzen von anderer Ordnung. Das ist aber gewiss nur ein Schein, der daher rührt, dass immer nur ein winziger Theil der Spuren der physischen Vorgänge in den Vorstellungen lebendig wird. Die Umstände, welche diesen Theil bestimmen, sind so unübersehbar complizirt, dass wir keine g'enaue Regel angeben können, nach welcher dies geschieht. Um zu bestimmen, welche Gedanken etwa ein Physiker an die Beobach- tung einer gewissen optischen Thatsache knüpfen wird, müsste man die Erlebnisse seiner früheren Tage, die Stärke der Ein- drücke, welche sie hinterlassen haben, die Thatsachen der allge- meinen und technischen Culturentwicklung, welche auf ihn Ein- fluss g-enommen haben, kennen, endlich noch im Stande sein, seine augenblickliche Stimmung in Rechnung zu ziehen. Da- zu wäre die gesammtc Physik im weitesten Sinne, und auf
17*
2ÖO
einer unerreichbar hohen Entwickhingsstufe als Hilfswissenschaft nöthig 1).
Betrachten wir nun das Gegenbild. Eine ph3^sikalische Thatsache, die wir zum ersten Mal erleben, ist uns fremd. Sie könnte ganz anders verlaufen, als es g'eschieht, sie würde uns darum nicht sonderbarer scheinen. Ihr Verlauf erscheint uns an sich durch nichts bestimmt, am allerwenigsten eindeutig bestimmt. Wodurch der Verlauf einer Thatsache den Charakter der Be- stimmtheit gewinnt, kann nur aus der psj^chischen Entwicklung verstanden werden. Durch das Vorstellungsleben tritt die That- sache erst aus ihrer Isolirtheit heraus, kommt dieselbe mit einer Eülle anderer Thatsachen im Contact , und gewinnt nun Be- stimmtheit durch die Forderung der Uebereinstimmung mit letz- teren und durch die Ausschliessung des Widerspruches. Die Psychologie ist Hilfswissenschaft der Physik. Beide Gebiete stützten sich gegenseitig und bilden nur in ihrer Verbindung eine vollständige Wissenschaft. Der Gegenstand von Subject und Object (in gewöhnlichem Sinne) besteht auf unserem Standpunkte nicht. Die Frage der mehr oder weniger genauen Abbildung der Thatsachen durch die Vorstellungen ist eine naturwissen- schaftliche P'rage wie jede andere.
Wenn in einem Complex von Elementen einige durch andere ersetzt werden, so geht eine Beständigkeit der V^erbindung in eine andere Beständigkeit über. Es ist nun wünschenswerth, eine Beständigkeit aufzufinden, welche diesen Wechsel überdauert. J. R. Mayer hat zuerst dies Bedürfniss gefühlt, und hat dem- selben durch Aufstellung seines Begriffes „Kraft" genügt, welcher dem Begriff Arbeit (Poncelet) der Mechaniker, oder genauer dem allgemeinern Begriff Energie (Th. Young) entspricht. Er
I) So sehr ich also eine rein physiologische Psychologie als Ideal hochschätze, würde es mir doch als eine Verkehrtheit erscheinen, die sogenannte ,,introspective" Psychologie ganz abzuweisen, da die Selbstbeobachtimg nicht nur ein sehr wichtiges, sonderu in vielen Fällen das einzige Mittel ist, um über grundlegende Thatsachen Auf- schluss zu erhalten.
— 201 —
stellt sich diese Kraft (oder Energie) als etwas absolut Bestän- diges (wie einen Vorrath oder Stoff) vor, und geht so bis auf die stärksten und anschaulichsten Gedanken zurück. Aus dem Ringen mit dem Ausdruck, mit allgemeinen philosophischen Phrasen (in der i. und 2. Abhandlung May er 's) sehen wir, dass sich ihm zuerst unwillkürlich und instinctiv das starke Be- dürfniss nach einem solchen Begriff aufgedrängt hat. Dadurch aber dass er die vorhanden physikalischen Begriffe den That- sachen und seinem Bedürfniss angepasst hat, ist erst die grosse Leistung zu Stande gekommen ^).
Bei genügender Anpassung werden die Thatsachen von den Gedanken spontan abgebildet, und theil weise gegebene That- sachen ergänzt. Die Physik kann nur als quantitatives Regu- lativ wirken, und die spontan verlaufenden Gedanken, dem prak- tischen oder wissenschaftlichen Bedürfniss entsprechend, be- stimmter gestalten. Wenn ich einen Körper horizontal werfen sehe, kann mir das anschauliche Bild der Wurfbewegung auf- tauchen. Für den Artilleristen oder Physiker ist mehr nöthig. Er muss z. B. wissen, dass wenn er, an die horizontale Abscisse der Wurfbahn den Maassstab M anlegend, bis i, 2, 3, 4 ... . zählen kann, er an die verticalen Ordinaten, den Maassstab M' anlegend, zugleich bis i, 4, 9 16 ... . zählen muss, um zu einem Punkt der Wurfbahn zu gelangen. Die Function der Physik besteht also darin, zu lehren, dass eine Thatsache, welche auf eine bestimmte Reaction R ein Empfindungsmerkmal E liefert, zugleich noch auf eine andere Reaction R' ein anderes Merkmal E' zeigt. Hierdurch wird die bestimmtere Ergänzung einer theilweise gegeben Thatsache möglich.
Die Einführung der allgemein vergleichbaren, sogenannten absoluten Maasse in die Physik, die Zürückführung aller physi- kalischen Messungen auf die Einheiten: Centimeter, Gramme, Se-
I) Vgl. Principien d. Wärmelehre. 2. Aufl. 1900.
102
cunde (Länge, Masse, Zeit) hat eine eigenthümliche Folge. Es besteht ohnehin die Neigung, das physikalisch Fassbare und Messbare, das g'emeinschaftlich Constatirbare ^), für „objectiv" und „real" gegenüber den subjectiven Empfindungen zu halten. Diese Meinung erhält nun scheinbar eine Stütze, eine psychologische (wenn auch nicht logische) Motivirung durch die absoluten Maasse. Es sieht so aus, als ob das, was wir in bekanntem Sinne Em- pfindungen nennen, in der Physik etwas ganz Ueberflüssiges wäre. Sehen wir genauer zu, so lässt sich ja das System der Maasseinheiten noch weiter vereinfachen. Denn die Maasszahl der Masse ist durch ein Beschleunig'ungsverhältniss gegeben, und die Zeitmessung" kommt auf eine Winkel- oder Bogenlängen- messung zurück. Demnach ist die Läng'enm essung die Grund- lage für alle Messungen. Allein den blossen Raum messen wir nicht, wir brauchen einen körperlichen Maasstab, womit das ganze System mannigfaltiger Empfindungen wieder eingeführt ist. Nur sinnliche anschaulicheVorstellungen können zur Aufstellung der Gleichungen der Physik führen, und in eben solchen besteht deren Interpretation. Obschon also die Gleichungen nur räum- liche Maasszahlen enthalten, sind dieselben auch nur das ordnende Princip, das uns anweist, aus welchen Gliedern in der Reihe der sinnlichen Elemente wir unser Weltbild zusammenzusetzen haben.
21.
Es wurde anderwärts ^) ausgeführt, dass quantitative Auf- stellungen sich von qualitativen nur dadurch unterscheiden, dass erstere sich auf ein Continuum von gleichartigen Phallen beziehen. Hiernach wäre die vortheilhafte Anwendung der Gleichungen zur Beschreibung nur in einem sehr beschränkten Gebiet zu- lässig. Es ist jedoch Aussicht vorhanden, dieses Gebiet successive ins Unbegrenzte zu erweitern, und zwar in folgender Art. Die möglichen (optischen) Empfindungen können, wenn auch nicht gemessen, doch nach psychophysischen Methoden durch Zahlen
i) In der That weiden hierbei individuelle Zufälligkeilen eliminirt. 2) Zuletzt: Wärmelchic S. 438, 459.
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characterisirt und inventarisirt werden. Irgend ein (optisches) Erlebniss kann nun beschrieben werden, indem man die Werthe der Zahlencharacteristiken als abhängig von den Raum- und Zeitconcendinaten und von einander durch Gleichungen darstellen. Aehnliches wird man im Princip auch in anderen Sinnesgebieten für erreichbar halten dürfen. Der S. 36 gebrauchte Ausdruck hat also einen genau angebbaren Sinn.
22.
Die Ermitthmg- der Abhängig-keit der Elemente ABC., von einander unter Absehen von KLM ist die Aufgabe der Natur- wissenschaft, oder der Physik im weitesten Sinne. In Wirkhchkeit sind aber die ABC . . immer auch von KLM abhängig. Es bestehen immer Gleichungen von der Form f {A, B, C, . . . IC,L,M..) = o. Indem riun viele verschiedene Beobachter KLM . . , K L AI' . . , K"L"M" . . sich betheiligen, gelingt es, den zufälligen Einfluss der Variation Non KLM.. u. s. w. zu eliminiren und nur das gemein- schaftlich Constatirbare, die reine Abhängigkeit der ABC.. von einander zu ermitteln. Hierbei verhalten sich 6\.qKLM.., K'L'M' .. wie physikaHsche Apparate, von deren Eigenthümlich- keiten, speciellen Constanten u. s. w. die Anzeigen, die Ergebnisse befreit werden müssen. Handelt es sich aber nur um den Zu- sammenhangeiner quantitativenReaction mit andern quantitativen Reactionen, wie in dem obigen Beispiele der Dynamik, so ist die Sache noch einfacher. Es kommt dann alles auf die Constatirung von Gleichheit oder Identität der ABC., unter gleichen Um- ständen (unter gleichen KLM . .), eigentlich nur auf Constatirung von räumlichen Identitäten hinaus. Die Art der Empfindungsqualitäten ist nun gleichgiltig ; nur deren Gleichheit ist massgebend. Ein einziges Individuum genügt nun, um Abhängigkeiten festzustellen, welche für jedes Individuum gelten. So wird von hier aus eine sichere Basis für das ganze Gebiet der Forschung gewonnen. Auch der Psychophysiologie gereicht dies zum Vortheil.
— 264 —
23-
Der Raum des Geometers ist durchaus nicht das blosse System der Raum empfindun gen (des Gesichts- und Tastsinnes), sondern derselbe besteht vielmehr aus einer Menge von physikalischen Erfahrungen, welche an die Raumempfindungen anknüpfen. Schon indem der Geometer seinen Raum als an allen Stellen und nach allen Richtungen gleich beschaffen betrachtet, geht er weit über den dem Tast- und Gesichtssinn gegebenen Raum hinaus, welcher diese einfache Eigenschaft durchaus nicht hat (S. 125, 134 u. f.). Ohne physikalische Erfahrung würde er nie dahin gelangen. Die grundlegenden Sätze der Geometrie werden auch thatsächlich nur durch physikalische Erfahrung'en, durch Anlegen von Längen und Winkelmaassstäben gewonnen , durch Anlegen starrer Körper einander. Ohne Congruenzsätze keine Geome- trie. Abgesehen davon, dass Raumbilder uns ohne physikalische Erfahrung gar nicht auftauchen würden, wären wir auch nicht im Stande, dieselben an einander anzulegen um ihre Cogruenz zu prüfen. Wenn wir einen Zwang fühlen, ein gleichschenkliges Dreieck auch mit gleichen Winkeln an der Grundlinie vorzustellen, so beruht derselbe auf der Erinnerung an starke Erfahrungen. Beruhte der Satz auf „reiner Anschauung", so brauchten wir ihn nicht zu lernen. Dass man in der blossen geometrischen Phanta- sie Entdeckungen machen kann, wie es täglich geschieht, zeigt nur, dass auch die Erinnerung' an die Erfahrung uns noch Momente zum Bewusstsein bringen kann, die früher unbeachtet blieben, so wie man an dem Nachbild einer hellen Lampe noch neue Einzelheiten zu bemerken vermag. Selbst die Zahlen- lehre muss in ähnlicher Weise aufgefasst werden. Auch ihre grundlegenden Sätze werden von der Erfahrung- nicht ganz un- abhängig sein.
Der Ueberzeugende der Geometrie (und der ganzen Mathematik) beruht nicht darauf, dass ihre Lehren durch eine ganz besondere Art der Erkenntnis gewonnen werden^ sondern nur darauf, dass ihr Erfahrungsmaterial uns besonders leicht und
— 265 —
bequem zur Hand ist, besonders oft erprobt wurde, und jeden Augenblick wieder erprobt werden kann. Auch ist das Gebiet der Raumerfahrung ein viel beschränkteres, als das der ge- sammten Erfahrung. Die Ueberzeugung, das erstere im Wesent- lichen erschöpft zu haben, wird alsbald Platz greifen, und das nöthige Selbstvertrauen erzeugen i).
23-
Ein ähnliches Selbstvertrauen, wie der Geometer, hat ohne Zweifel auch der Componist, der in dem Gebiet der Tonempfin- dungen, der Ornamentenmaler, der im Gebiet der Farbenempfin- dungen reiche Erfahrungen gewonnen hat. Dem einen wird kein Raumgebilde vorkommen, dessen Elemente ihm nicht wohlbe- kannt wären, die beiden andern werden auf keine neuen Ton- oder Farbencombination stossen. Ohne Erfahrung wird aber der Anfänger in der Geometrie durch die Ergebnisse seiner Thätig- keit nicht minder überrascht oder enttäuscht, als der junge Musiker oder Ornamentist.
Der Mathematiker, der Componist, der Ornamentist und der Naturforscher, welche sich der Speculation ergeben, ver- fahren trotz der Verschiedenheit des Stoffes und Zweckes ihrer Thätigkeit in ganz analoger Weise. Der erstere ist allerdings wegen der grössten Beschränktheit des Stoffes gegen alle in Bezug auf die Sicherheit seines Vorgehens im Vortheil, der letztere aus dem entgegengesetzten Grunde gegen alle im Nachtheil.
24. Die Unterscheidung des physiologischen und geometrischen Raumes hat sich als unvermeidlich erwiesen. Indem aber geo- metrische Einsicht durch die räumliche Vergleichung der Körper miteinander gewonnen wird, kann schon die Zeit nicht ausser Betracht bleiben, da es unmöglich ist, hierbei vom Transport der
i) Vgl. Wärmelehre S. 455. — Meinong, Hume-Studien, Wien 1877. Zindler, Beitr. z. Theorie d. raathem. Erkenntniss, Wien 1889.
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Körper abzusehen. Raum und Zeit stehen in einem innig-ern Zusammenhange, und zeigen sich hierbei relativ unabhängig von andern physikahschen Elementen. Dies spricht sich in der Bewegung der Körper bei sonstiger relativer Constanz ihrer übrigen Eigenschaften aus. Die Entstehung einer reinen Geo- metrie, Phoronomie und Mechanik wird eben dadurch möglich.
Wenn wir genau zusehen, so bedeuten Raum und Zeit in physiologischer Beziehung besondere Arten von Empfindungen,' in physikalischer Beziehung aber functionale Abhängig- keiten der durch Sinnesempfindungen charakterisirten Elemente von einander. Indem die räumlichen und zeitlichen phy.sio- logischen Indices, welche durch Theile und Vorgänge unseres Leibes bedingt sind, bei gleichen physiologischen Umständen untereinander verglichen werden , ergeben sie Abhängigkeiten der physikalischen Elemente von einander. (Abhängigkeit der Elemente eines Körpers von jenen eines andern, Abhängig- keit der Elemente eines Vorgang' von jenen eines andern). Auf Grund dieser Einsicht kann man zeitliche und räumliche Bestim- mungen rein ph3^sikalisch vornehmen. Was mit dem kleineren Theil eines stetig einsinnig ablaufenden Vorganges zusammen- trifft, ist zeitlich früher. Im homogen erfüllten Raum ist der Ort B dem Ort A näher als ein anderer, wenn B von dem von A aus erregten Vorgang früher erreicht wird, als jener andere. Die Gerade ist der Inbegriff der durch die physikalische Be- ziehung zweier Punkre (unendlich kleiner Körper) eindeutig bestimmten Orte. Der Ort C liegt im Halbirungspunkt der Ge- raden AB, wenn derselbe im homogenen Raum durch Vorgänge von A und B aus in gleicher Zeit erreicht wird, und in kürzerer Zeit als jeder andere, der erstere Eigenschaft mit ihm theilt.
25- Die Zeit des Physikers fällt nicht mit dem vSystem der Zeitempfindungen zusammen. Wenn der Physiker eine Zeit bestimmen wiU, so legt er identische oder als identisch vor-
267 —
ausgesetzte Vorgänge, Pendelschwingungen, Erdrotationen u. s. \v., als Maassstab an. Die mit der Zeitempfindung verknüpfte Thatsache wird also einer Reaction unterworfen, und das Ergeb- niss derselben, die Zahl, zu der man gelangt, dient nun statt der Zeitempfindung zur nähern Bestimmung- des Gedanken- laufs. Ganz ebenso richten wir unsere Gedanken über Wärme- vorgänge nicht nach der Wärmeempfindung, die uns die Körper liefern, sondern nach der viel bestimmteren, welche durch die Thermometerreaction bei Ablesung des Standes des Quecksilberfadens sich ergibt. Gewöhnlich wird an die Stelle der Zeitempfindung eine Raumempfindung (Drehung'swinkel der Erde Weg des Zeigers auf dem Uhrzifferblatt), und für die letztere wieder eine Zahl gesetzt. Stellt man z. B. den Temperatur- überschuss eines abkühlenden Körpers über die Umgebung durch
— kt §■ = 0e dar, so ist t jene Zahl.
Die Beziehung, in welcher die Grössen einer Gleichung stehen,
ist gewöhnlich (anatytisch) eine allgemeinere als diejenige^
welche man durch die Gleichung darstellen will. So haben in der
Gleichung 1 — j -[- (-£-) = i alle beliebigen Werthe von x
einen anal5^tischen Sinn, und liefern zugehörige Werthe von y. Verwenden wir aber diese Gleichung zur Darstellung einer Ellipse, so haben nur die Werthe von x <^ a und von y ■<! b einen (reellen) geometrischen Sinn.
Aehnlich müsste man, wenn dies nicht auf der Hand läge.
— kt ausdrücklich hinzufügen, dass die Gleichung -0= 0q nur für
wachsende Werthe von t den Vorgang darstellt.
Denken wir uns den Verlauf verschiedener Thatsachen, z. B.
die Abkühlung eines Körpers und den freien Fall eines andern,
durch solche Gleichungen dargestellt, welche die Zeit enthalten,
so kann aus denselben die Zeit eliminirt, und etwa der Temperatur-
überschuss durch den Fallraum bestimmt werden. Die Elemente
stellen sich dann einfach als abhängig von einander dar. Man
müsste aber den Sinn einer solchen Gleichung durch die Hinzu-
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fügung näher bestimmen, dass nur wachsende Fallräiime oder abnehmende Temperaturen nach einander einzusetzen seien.
Wenn wir so den Temperaturüberschuss durch den Fallraura bestimmt denken , so ist die Abhängigkeit keine unmittelbare. Darin stimme ich Petzoldt^) bei. Die Abhängigkeit ist aber ebenfalls keine unmittelbare, wenn wir den Temperaturüberschuss durch den Drehungswinkel der Erde bestimmt setzen. Denn Niemand wird glauben, dass noch dieselben Temperaturwerthe , auf dieselben Winkelwerthe entfallen würden, wenn die Erde etwa durch einen Stoss ihre R.otationsgesch windigkeit ändern würde. Aus solchen Betrachtungen scheint mir doch zu folgen, dass unsere Aufstellungen provisorische sind, welche auf theilweiser Unkenntniss gewisser maassgebender, uns unzugänglicher unab- hängig Variablen beruhen. Nur so wollte ich seiner Zeit meinen Hinweis auf eine Unbestimmtheit verstanden wissen ^). Diese Ansicht ist auch sehr wohl verträglich mit der Aufstellung ein- deutiger Bestimmtheiten, welche immer unter Voraussetzung ge- gebener Umstände und unter Abstraction von ungewöhnlichen und unerwarteten Aenderungen stattfindet. Diese Auffassung ist, wie mir scheint, unvermeidlich, wenn man bedenkt, dass der von Petzoldt betonte Unterschied simultaner und succedaner Ab- hängigkeiten wohl für die anschauliche Vorstellung", nicht aber für die Gleichungen gilt, welche für erstere das quantitative Regulativ sind. Letztere können nur einerlei Art sein, nur simultane Abhängigkeiten aussprechen. Der Indeterminismus in gewöhnlichem Sinn, etwa die Annahme einer Willensfrei- heit im Sinne mancher Philosophen und Theologen liegt mir gänzlich fern.
Die Zeit ist nicht umkehrbar. Ein warmer Körper in kalter Umgebung kühlt nur ab, und erwärmt sich nicht. Mit grösseren (späteren) Zeitempfindungen sind nur kleinere Temperaturüber- schüsse verknüpft. Ein Haus in Flammen brennt nieder, und baut
n) Petzoldt, Das Gesetz der Eindeutigkeit. Vierteljahrsschrift f. wissen- schaftl. Philosophie, XIX, S. 146 fg.
2) Mach, Erhaltung der Arbeit. Prag 1872.
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sich nicht auf. Die Pflanze kriecht nicht sich verkleinernd in die Erde, sondern wächst sich vergrössernd heraus. Die Thatsache der Nichtumkehrbarkeit der Zeit reducirt sich darauf, dass die Werthänderungen der physikalischen Grössen in einem be- stimmten Sinne stattfinden. Von den beiden analytischen Mög- lichkeiten ist nur die eine wirklich. Ein metaphysisches Problem brauchen wir hierin nicht zu sehen.
Veränderungen können nur durch Differenzen bestimmt sein. Im Unterschiedslosen gibt es keine Bestimmung. Die eintretende Veränderung kann die Unterschiede vergrössern oder verkleinern. Hätten aber die Differenzen die Tendenz sich zu vergrössern, so würde die Veränderung ins Unendliche und Ziellose gehen.. Mit dem allgemeinen Weltbild, oder vielmehr jenem unserer beschränk- ten Umgebung-, verträgt sich nur die Annahme einer im All- gemeinen d if f er enz verkleinern den Tendenz. Es würde aber bald überhaupt nichts mehr g'eschehen, wenn nicht von aussen Differenz setzende Umstände eindringen würden.
Wir können auch, wie Petzoldt, aus unserem eigenen Be- stehen, aus unserer körperlichen und geistigen Stabilität, auf die Stabilität, eindeutige Bestimmtheit und Einsinnigkeit der Vorgänge in der Natur schliessen. Denn nicht nur sind wir selbst ein Stück Natur (S. 258), sondern die genannten Eigenschaften in unserer Umgebung bedingen unser Bestehen und Denken (vgl. Populär- wiss. Vorlesungen, S. 238). Allein zu viel lässt sich hierauf nicht bauen, denn die Organismen sind ein eigenartiges Stück Natur von sehr begrenzter und massiger Stabilität, welche ja thatsächlich auch zu Grunde gehen, und zu deren Erhaltung anderseits eine nur massige Stabilität der Umgebung genügt. Es wird also am zweckmässigsten sein, die Grenzen unseres Wissens, die sich überall zeigen, anzuerkennen und das Streben nach eindeutiger Bestimmtheit als ein Ideal anzusehen, das wir in unserem Denken, so weit als möglich, verwirklichen.
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Ich betrachte die Sätze, die ich in der Zeit der grössten Gährung- meiner Gedanken (187 i) niedergeschrieben habe, nament- lich in ihrer Form, selbstverständlich nicht als unangreifbar, und sehe auch die Einwendungen von Petzoldt keinesweg's als muth- willige an, hoffe aber, wenn ich ausführlicher auf den Gegenstand zurückkomme, den ich hier nur kurz berühren konnte, ohne das Wesentliche meiner Ansicht aufzug'eben, doch eine volle Verstän- dig'ung zu erzielen.
d
XV. Die Aufnahme der hier dargelegten Ansichten.
Nach Erscheinen der ersten Auflage dieser Schrift waren die Ur- theile über dieselbe sehr getheilt. Die Anerkennung betraf aber in der überwiegenden Zahl der Fälle Einzelheiten, während die Grund- ansicht, welche zu ersteren geführt hatte, meist verworfen wurde. Die öffenthche Kritik^), soweit sie mir bekannt geworden ist, blieb übrigens auch in der Ablehnung maassvoll , und war in ihrer Aufrichtigkeit für mich sehr lehrreich.
Der günstige Einfluss, welchen die späteren Publicationen von R. Avenarius auch auf das Urtheil über meine Schrift geübt haben, ist nicht zu verkennen. Musste es doch zu denken geben, dass ein Fachphilosoph in einer ausführlichen systematischen Dar- stellung einen Standpunkt begründete, den man bei einem Natur- forscher als eine leicht begreifliche dillettantische Verirrung an- zusehen geneigt war. Auch die Schüler von Avenarius und jüngere Forscher, welche auf eigenen Wegen sich mir genähert haben, stehen mir heute hilfreich zur Seite. Dennoch können die Kritiker mit wenigen Ausnahmen, und auch dienjenigen, welche meinen Grundgedanken ganz richtig referiren, und sicherlich verstanden haben, schwere Bedenken gegen denselben nicht los
i) Dass die privaten Urtheile ebenso maassvoU waren, würde ich auch dann nicht geglaubt haben, wenn mir solche nicht durch kleine Indiscretionen bekannt geworden wären. Ein mehr als geringschätziges Urtheil eines deutschen Collegen wurde mir auf einem komischen Umwege mitgetheilt — sagen wir ungefähr über die Antipoden — in der unverkennbaren Absicht mich zu verletzen. Diesen Zweck hat es allerdings verfehlt. Denn es wäre gewiss sehr unbillig, wenn ich das Recht links liegen zu lassen, was mir unfruchtbar scheint, von dem ich ja selbst Gebrauch mache, nicht auch Andern zugestehen wollte. Eine Berechtigung aber, Leute, welche anderer Meinung sind, zu insultiren, habe ich allerdings nie gefühlt.
2 7-2
werden. Es ist dies kein Wunder. Denn der Plasticität meines Lesers werden sehr starke Zumuthungen gemacht. Einen- Ge- danken logisch begreifen und denselben sympathisch aufnehmen, ist zweierlei. Die ordnende und vereinfachende Function der Logik kann ja erst beginnen, wenn das psychische Leben in der Entwicklung weit fortgeschritten ist, und schon einen reichen Schatz von instinctiven Erwerbungen aufzuweisen hat. Diesem instinctiven vorlogisclien Bestand von Erwerbungen ist nun auf dem Wege der Logik kaum beizukommen. Es handelt sich vielmehr um einen psychologischen Umbildungsprocess, der, wie ich an mir erfahren habe, selbst in jungen Jahren schwierig ge- nug ist. Hier g-leich auf Zustimmung zu rechnen, wäre daher unbescheiden. Ich bin vielmehr zufrieden, wenn man mich über- haupt nur zu Wort kommen lässt, und mich ohne Vorein- genommenheit anhört. Ich will nun dem Eindruck folgend, den ich durch die Kritiken erhalten habe, nochmals die Punkte her- vorheben und beleuchten, deren Aufnahme auf besonderen Widerstand trifft. Hierbei betrachte ich die vorgebrachten Einwendungen nicht als muthwillige und nicht als persön- liche, sondern als typische, unterlasse also die Nennung von Namen.
2.
Wenn wir uns keinen Zwang anthun, sehen wir die Erde feststehend, die Sonne aber und den Fixsternhimmel bewegt. Diese Auffassung ist für gewöhnliche praktische Zwecke nicht nur ausreichend, sondern sie ist auch die einfachste und vortheil- hafteste. Die entgegengesetzte Ansicht hat sich aber für ge- wisse intellectuelle Zwecke als die bequemere bewährt. Ob- gleich beide gleich richtig und in ihrem Gebiet zweckmässig sind, hat sich die zweite nur nach hartem Kampfe gegen eine der Wissenschaft widerstrebende Macht, welche hier mit der instinctiven Auffassung des gemeinen Mannes im Bunde war, geltend machen können. Die Zumuthung sich auf der Sonne statt auf der Erde stehend als Beobachter zu denken, ist nun
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aber nur eine Kleinigkeit gegen die Forderung, sein Ich für nichts zu achten, dasselbe in eine vorübergehende Verbindung von. wechselnden Elementen aufzulösen. Diese letztere Auffassung ist ja längst von verschiedenen Seiten vorbereitet i). Wir sehen solche Einheiten, welche wir Ich nennen, bei der Zeugung ent- stehn und durch den Tod verschwinden. Wollen wir nicht die heute schon abentheuerliche Fiction uns erlauben, dass diese Ein- heiten latent schon vorher vorhanden waren und ebenso nach- her fortbestehn, so können wir nur annehmen, dass es eben temporäre Einheiten sind. Die Psychologie und die Psycho- pathologie lehrt uns, dass das Ich wachsen und sich bereichern, verarmen und schrumpfen, sich fremd werden und sich spalten, kurz schon während des Lebens sich ändern kann. Trotz alle- dem ist das Ich für meine instinctive Auffassung das Wich- tigste und Beständigste. Es ist das Band aller meiner Erleb- nisse und die Quelle aller meiner Thätigkeit. So ist auch ein starrer Körper für die rohe instinctive Auffassung- etwas sehr Beständiges. Wird derselbe g^etheilt, aufgelöst, mit einem andern chemisch verbunden, so vermehrt und vermindert sich die An- zahl dieser Beständigkeiten. Wir nehmen jetzt, um den liebge- wordenen Gedanken um jeden Preis festzuhalten, latente Be- ständigkeiten an, wir flüchten uns in die Atomistik. Da wir den verschwundenen oder veränderten Körper oft wieder restis tuiren können, so beruht dies hier auf etwas besseren Gründen als in dem obigen Falle.
Praktisch können wir nun die Ichvorstellung so wenig ent- behren als die Körpervorstellung. Physiologisch bleiben wir Egoisten, so wie wir die Sonne immer wieder aufgehn sehen. Intellectuell muss aber diese Auffassung nicht festgehalten wer- den. Aendern wir dieselbe versuchsweise ! Ergibt sich hiebei
i) Der Buddhismus kommt hier seit Jahrhunderten vorzugsweise von der prak- tischen Seite entgegen. Vgl. P. Carus, llie Gospel of Buddha, Chicago 1894. — Vgl auch die wunderbare Erzählung: P. Carus, Karma, A. Story of Early Budd- hism., Chicago 1894.
Maeli, Analyse. 3. Aufl. Ib
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eine Einsicht, so wird diese schliesslich auch praktische Früchte tragen.
3- Wer von dem Ich als einer Realität, die allem zu Grunde liegt, nicht abzusehen vermag, der wird auch nicht umhin können, zwischen meinen Empfindungen und deinen Empfindungen einen fundamentalen Unterschied zu machen. So erscheinen dem, der an die absolute Beständigkeit des Körpers glaubt, alle Eigenschaften als diesem einen Träger an gehörig. Wenn aber dieses silberweise Stück Natrium schmilzt, sich in Dampf auf- löst, der dem ursprünglichen Ding gar nicht mehr ähnlich sieht, wenn das Natrium in verschiedene Parthien getheilt , in ver- schiedene chemische Verbindungen übergeführt wird, so dass mehr oder auch weniger Körper vorhanden sind als vorher, so lässt sich die gewohnte Denkweise nur mehr äusserst künstlich aufrecht halten. Es wird dann vortheilhafter, dieselben einzelnen Eigenschaften als bald diesem, bald jenem Complex (Körper) an- gehörig anzusehen, und an die Stelle der nicht beständigen Körper das beständige Gesetz treten zu lassen, welches den Wechsel der Eigenschaften vmd ihrer Verknüpfungen überdauert. Die Zumuthung diese neue Denkgewohnheit anzunehmen, ist wieder keine geringe. Wie würden sich die antiken Forscher gesträubt haben, wenn man ihnen gesagt hätte: „Erde, Wasser, Luft, sind gar keine beständigen Körper, sondern das Beständige sind die in denselben steckenden heutigen chemischen Elemente, von welchen viele nicht sichtbar, andere sehr schwer isolirbar, oder aufbewahrbar sind. Das Feuer ist gar kein Körper, sondern ein Vorgang u. s. w." Die grosse Wandlung, welche in diesem Schritt liegt, vermögen wir kaum mehr richtig abzuschätzen. Doch be- reitet sich in der heutigen Chemie die F'ortsetzung dieser Wandlung vor, und dieselben Wege der Abstraction führen in ihrem Verlauf zu dem hier eingenommenen Standpunkte. So wenig ich nun das Roth oder Grün als einem individuellen Körper angehörig be- trachte, so wenig mache ich auf dem Standpunkt, den ich zur
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allgemeinen Orientirung hier einnehme, einen wesentlichen Unter- schied zwischen meinen Empfindungen und den Empfindungen eines Andern. Dieselben Elemente hängen in vielen Verknüpfungs- punkten, den Ich, zusammen. Diese Verknüpfungspunkte sind aber nichts Beständiges. Sie entstehen, verg^ehen und modificiren sich fortwährend. Was aber augenblicklich nicht verknüpft ist, beeinflusst sich eben nicht merklich. Meine Auffassung wird nicht davon afficirt, ob es gelingen mag, oder nicht gelingen mag, durch eine Nerven Verbindung fremde Empfindungen in mich hin überzugleiten. Die bekanntesten Thatsachen sind für diese Auffassung eine genügende Basis.
Vielleicht noch mehr als die Grundgedanken hat vielen Lesern der allgemeine Charakter meiner Weltauffassung wieder- strebt, welchen sie, freilich irrtümlich, zu erkennen glaubten. Da muss ich nun zunächst sagen, dass derjenige gewiss von der richtigen Würdigung meiner Ansicht sehr weit entfernt ist, welcher dieselbe trotz wiederholter Proteste von meiner und auch von anderer Seite mit der Berkeleyschen identificirt. Etwas liegt ja daran, dass meine Ansicht aus einer idealistischen Phase hervorgegangen ist, welche noch Spuren in den Ausdrücken zurückgelassen hat, die auch nicht ganz verwischt werden sollen. Denn der bezeichnete Weg zu meinem Standpunkt scheint mir der kürzeste und natürlichste. Hiermit hängt es auch zusammen, dass meine Leser mitunter die Scheu vor dem Panpsychismas ergreift. Li dem verzweifelten Kampf einer einheitlichen Welt- auffassung gegen das instinctive dualistische Vorurtheil verfällt mancher dem Panpsychismus. Ich hatte in früher Jugend solche Anwandlungen durchzumachen, und Avenarius laborirt noch in seiner Schrift von 1876 daran. In Bezug auf diese beiden Punkte empfinde ich es geradezu als ein Glück, dass Avenarius dieselbe Auffassung von dem Verhältniss des Physischen und Psy- chischen auf ganz realistischer (wenn man will materialistischer)
18*
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Grundlage entwickelt hat, so dass ich auf seine Ausführungen einfach verweisen kann.
5-
Nicht nur den Naturforschern, sondern auch den Fach- philosophen scheint meine Welt aus Elementen (Empfindungen) zu luftig. Dass ich die Materie als ein Gedankensymbol für einen relativ stabilen Complex sinnlicher Elemente betrachte, wird als eine geringschätzige Auffassung bezeichnet. Die Aussen- welt sei als eine Summe von Empfindungen nicht genügend er- fasst, man müsse zu den wirklichen Empfindungen mindestens noch die Empfindungsmöglichkeiten Mills einführen. Dagegen muss ich bemerken, dass auch für mich die Welt keine blosse Summe von Empfindungen ist. Vielmehr spreche ich ausdrück- lich von Functionalbeziehungen der Elemente. Damit sind aber die Mi 1 Ischen , Möglichkeiten' nicht nur überflüssig geworden, sondern durch etwas weit solideres, den mathema- tischen Functionsbegriff , ersetzt. Hätte ich geahnt, dass ein kurzer präciser Ausdruck so leicht übersehen wird, und dass eine breite populäre Darstellung bessere Dienste thut, so würde mir eine Darstellung entsprochen haben, wie sie etwa Cornelius^) „über den Begriff der objectiven Existenz" in vorzüglicher Weise giebt. Allerdings würde ich auch hier den Ausdruck A'Iöglichkeit vermieden und dafür den Functionsbegriff verwendet haben.
Von anderer vSeite lässt man durchblicken, dass meine Posi- tion aus einer überwiegenden Sinnlichkeit und entsprechend ge- ringem Verständniss für den Werth der Abstraction und des begrifflichen Denkens zu verstehen sei. Nun, ohne starke Sinnlich- keit kann der Naturforscher nicht viel verrichten. Dieselbe hindert ihn aber nicht, klare und scharfe Begriffe zu bilden. Im Gegen- theil! Die Begriffe der heutigen Ph^^sik können sich an Präcision und Flöhe der Abstraction mit jenen irgend einer andern Wissen-
I) H. Cornelius, I'.^ycliologie als lirfaliningswissenscliaft, Leipzitj 1897, S. 99 u. iiisbcsondcie S. i i ,0, i I , I .
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Schaft messen, bieten aber zugleich den Vortheil, dass man sie immer leicht und sicher bis zu den sinnlichen Elementen, auf welche sie aufgebaut sind, zurückverfolgen kann. Für den Naturforscher ist die Kluft zwischen der anschaulichen A^orstellung und dem be- grifflichen Denken nicht so gross und nicht unüberbrückbar. Nebenbei möchte ich bemerken, dass ich über die physikalischen Begriffe keineswegs geringschätzig- denke, sondern seit fast vier Decennien mich vielfach, und eingehender als es zuvor geschehen ist, mit deren Kritik beschäftigt habe. Und da die Ergebnisse dieser Beschäftigung nach langem Widerstreben bei den Physikern Zustimmung finden, so möchte diese doch wenigstens keine leicht- fertige sein. Wenn aber der Physiker, der von Haus aus ge- wöhnt war, zu jeder Definition ein Kilogewicht in die Hand gedrückt zu bekommen, sich allmälig mit Definitionen zufrieden gibt, die alle auf eine Functionalbeziehung sinnlicher Elemente hinauslaufen, so wird wohl auch der Philosoph nicht noch physi- kalischer sein wollen. Die betreffenden Einzelausführungen kön- nen aber natüriich nicht in dieser Skizze Platz finden, welche nur ein Programm für den Anschluss der exacten Wissenschaften an- einander sein will, sondern nur in den physikalischen Schriften des Verfassers.
6. Manchen Lesern erscheint die Welt in meiner Auffassung als ein Chaos, ein unentwirrbares Gewebe von Elementen. Sie vermissen die leitenden einheitlichen Gesichtspunkte. Dies beruht aber auf einem Verkennen der Aufgabe meiner Schrift. Alle werthvollen Gesichtspunkte der Specialwissenschaften und der philosophischen Weltbetrachtung bleiben weiter verwendbar und werden auch von mir verwendet. Die scheinbar destruc- tive Tendenz ist lediglich gegen überflüssige und deshalb irreführende Zuthaten zu unseren Begriffen gerichtet. So glaube ich gerade den Gegensatz des Psychischen und Physischen, des Subjectiven und Objectiven richtig auf das Wesentliche zu- rückgeführt und zugleich von traditionellen abergläubischen Auf- fassung gereinigt zu haben. Hiebei werden wissenschaftlich be-
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währte Gesichtspunkte nicht alterirt und für neue wird zugleich Raum gewonnen. Ich will auch nicht das elegisch oder fromm jammernde Jgnorabimus' durch eine selbstgenügsame verstockte Abkehr von Wissenswerthem und Erkennbarem ersetzen. Denn im Verzichten auf die Beantwortung als sinnlos erkannter Fragen liegt durchaus keine Resignation, sondern der Masse des wirklich Erforschbaren gegenüber das einzig vernünftige A^erhalten des Forschers. Kein Physiker wird heute, wenn er das perpe- tuum mobile nicht mehr sucht, kein Mathematiker, wenn er um die Quadratur des Cirkels oder um die Lösung der Gleichungen fünften Grades in geschlossener Form sich nicht mehr bemüht, darin Resignation sehen wollen. So ist es auch in allgemeineren philosophischen Fragen. Die Probleme werden entweder gelöst oder als nichtig erkannt.
Wo steckt der Fehler oder die Einseitigkeit in Mach's philosophischen Ansichten? Ich finde diese Frage eines meiner Kritiker sehr milde. Denn ich bin überzeugt, dass meine Aus- führungen in mehr als einer Richtung sehr mangelhaft sind. Dies kann auch bei radicaleren Umwandlungsprocessen der Ansichten kaum anders sein. Dieselben spielen sich auch in einem Kopfe nie vollständig ab. Ich kann darum diese Mängel auch nur fühlen aber nicht aufzeigen. Ich wäre ja sonst ein gutes Stück weiter. Aber auch aus den Schriften meiner Kritiker sind mir dieselben nicht klar geworden. Warten wir also noch ein wenig!
Daraus, dass meinen Ansichten Argumente entgegen ge- halten werden, die in meinem Buche ausführlich erörtert sind, möchte ich keinem Menschen einen Vorwurf machen. Es muss ja eine wahre Qual sein, die Masse des Erscheinenden lesen und noch dazu in kntipp zugemessener Zeit mit pflichtmässiger Ueber- legenheit beurtheilen zu müssen. Ich habe für diesen wichtigen Beruf nie Geschmack verspürt, und habe deshalb in 40 Jahren wohlgezählte 3 Recensionen geschrieben. Es sei also den Flerren gegönnt, dass sie sich, wenn auch zum Tlieil auf meine Kosten, die Pein erleichtert haben.
279
Ob es mir jemals gelingen wird den Philosophen meine Grundgedanken plausibel zu machen, muss ich dahingestellt sein lassen. Bei aller Hochachtung vor der riesigen Geistesarbeit der grossen Philosophen aller Zeiten ist mir dies zunächst auch weniger wichtig. Aufrichtig und lebhaft wünsche ich aber eine Ver- ständiguug mit den Naturforschern, und diese halte ich auch für erreichbar. Ich möchte denselben nur zu bedenken geben, dass meine Auffassung alle metaphysischen P>agen ausschaltet, gleichgiltig ob sie nur als gegenwärtig nicht lösbar oder über- haupt und für immer als sinnlos angesehen werden. Ferner möchten dieselben erwägen, dass alles, was wir von der Welt wissen können, sich nothwendig in den Sinnesempfindungen aus- spricht, welche in genau angebbarer Weise von den individuellen Einflüssen der Beobachter befreit werden können (S. 263). Alles was wir zu wissen wünschen können, wird durch Lösung einer Aufgabe von mathematischer Form geboten, durch die Ermittlung der functionalen Abhängigkeit der sinnlichen Elemente von einander. Mit dieser Kenntniss ist die Kenntniss der „Wirklichkeit" erschöpft. Die Brücke zwischen der Physik im weitesten Sinne und der naturwissenschaftlichen Psychologie bilden eben dieselben Ele- mente, welche je nach dem untersuchten Zusammenhang phy- sische oder psychische Objecte sind.
8.
Manche, wahrscheinlich viele Physiologen dürften an meiner Stellung in einer Detailfrage Anstoss genommen haben, über die ich noch einige Worte sagen möchte. Ich schätzte Untersuch- ungen wie jene von S. Exneri) hoch, und glaube, dass viele wichtige Fragen betreffend die psychischen Erscheinungen ge-
i) Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der psychischen Erscheinungen, Wien 1864-
2bO —
löst werden können durch blosse Erforschung der nervösen Ver- bindungen der Central Organe^) und Beachtung" der quantitativen Abstufungen-) der Erreg-ungen. Exners Buch selbst giebt ja da- für einen Beleg. Die Hauptprobleme bleiben mir aber ung'elöst zu- rück. Denn ich kann mir auf meinem Standpunkt nicht denken, wie die qualitative Mannigfaltigkeit der Empfindungen durch Variation der Verbindungen und blosse quantitative Verschieden- heiten zu Stande kommen sollte, und ich konnte dies schon vor fast 40 Jahren nicht. Fechncrs Ps3xh©physik, welche so be- deutend gewirkt hat, hat auch mich damals mächtig angeregt. Ich hielt, durch dieses Buch begeistert, über diesen Gegenstand recht mangelhafte Vorlesungen, welche noch dadurch an Werth verloren, dass ich den Fechn ersehen Gedanken der Maassformel bald als einen Irrthum erkannte. Bei dieser Gelegenheit sagte ich, nachdem die H elmholtzsche Telegraphendraht-Theorie der Em- pfindungen auseinandergesetzt war: „Sollten aber die electrischen Vorgänge in den Nerven zu einfach sein, um für eine Erklärung (verschiedener Empfindungsqualitäten) auszureichen ? Sollte es nothwendig sein, die Erklärung hinauszuschieben in noch unbe- kannte Gebiete? Wie denn, wenn wir nach Durchforschung des ganzen Hirnes überall nur electrische Ströme finden? Meine un- maassgebliche Meinung ist diese : Die electrischen Untersuchungen der Nerven sind gewiss sehr feiner Art, in gewisser Hinsicht sind sie aber auch wieder sehr grob. Ein electrischer Strom von gegebener Intensität sagt uns nichts, als dass eine bestimmte Quantität lebendiger Kraft in der Zeiteinheit durch den Quer- schnitt des Stromes wandert. Welche Vorgänge und Molekular- bewegungen es sind, die jene lebendige Kraft befördern, wissen wir nicht. Es können die verschiedensten Vorgänge derselben Stromintensität zu Grunde liegen" ^). Diesen Gedanken bin ich bis
1) A. a. O. S. IV.
2) A. a. O. S. 3.
3) Vorlesungen über Psychophysik. Zeit?chr. f. piakt. Heilkunde, W^ien 1863,
— 2Ö1 —
heute nicht los geworden, und muss denselben im wesentlichen noch ebenso, etwa durch Hinweis auf denselben Strom in ver- schiedenen Electrolyten, begründen M. Die Fortschritte der phy- siologischen Chemie'^), die Erfahrung'en bei Transplantation^) von verschiedenen Organen, scheinen mir heute noch entschiedener zu Gunsten desselben zu sprechen.
1) S. d. Vorwort zur englischen Ausgabe vorliegenden Buches, Chicago 1897, S. V, VI.
2) Huppert, über die Erhaltung der Arteigenschaften, Prag 1896.
3) Ribbert, über Transplantation von Ovarium, Hoden und Mamma, Arch. f. Entwicklungsmechanik, Vol. VII, 1898.
Sachregister"^).
absolute Maasse 261, 262.
— , Beständigkeit 250, 252.
Abstraction 244 — 249.
Accomodation 171, 172.
Aesthetik 93.
Aehnlichkeit, tbeilweise Gleichheit 55 — 57.
— , geometrische 85.
— , abstrakte 57.
— , optische 85.
• — , des Rythraus 196.
— , der Tongebilde 216 — 218.
Anachronismen d. Wahrnehmung 1 89 — 191.
— , des Traumes 191.
Analogie von Sehraum und Tastraum
io7n, io8n, 134 — 145. Analogie von Sehraum und Tonraum
210 — 212, 214 — 216. Animismus 76, 77. Anpassung 24, 65. — , der Gedanken 240, 243, 249. — , und Association 78. Anschauliche Nachbildung 239. Apoplexie 130. Arbeit 243.
Association, Gesetze 177, 180. — , in der Aesthetik 200. — , organischer Vorgänge 129. — , unzulänglich 180, 181, 193. Asymmetrie d. motor. Apparates 87 — 89. Atom 24n, 236. Aufmerksamkeit 132, 133, 136. Augenbewegung 125, 131. — , und Kopfbewegung 104 — 107. — , und Wille 102, 103. Augenmuskel 125. Augenschwindel 109.
Begriffe 244 — 249.
— , Metamorphose d. 66.
Beschreibung 256.
— , in den Elementen 257.
Beständigkeit der Verbindung 235.
— , der Gedanken 250, 261.
— , relative 2.
Bestimmtheit, zureichende 47.
Bewegungsempfindungen 1 10 — 124.
— , optisch erregt 113.
Bewegungsempfindungen unerschöpfl. 141.
— , Beziehung zur Geometrie 141.
— , antagonistische Innervation 123.
— , offene Fragen 11 1 — 112.
Bewustsein 150 — 151.
Biologie 66 u. f.
Biologische Aufgabe der Wissenschaft 29.
Blendungsbild 129.
Blinder Fleck 31.
Blutbewegung 68.
Bulbusbeleuchtung 158.
Canibalen 32.
Causalität 66, 255.
— , psychische 127.
Centralorgan 181, 182.
Chemische Lebensbedingungen 81.
— , Lichttheorie 82.
Combinationston 204, 231.
Complexe 4.
Consonanz 201, 207 u. f.
Consumtion, organische 188, 189, 193.
Continuität des Ich 3, 18, 19.
— , Princip d. 46, 73, 242, 249.
Cöntrast d. Helligkeit 162 u. f.
— , musikalischer 219, 225. ^
— , der Richtung 169, 170.
Cyclostat 118 — 121.
Differenzialgleichungen 257.
Differenz, zureichende 242, 249.
Ding an sich 5.
Dogma, Einfluss d. 32.
Doppelte Auffassung d. Physiologischen 33.
Dynamisches Gleichgewicht 77.
Eindeutigkeit 269.
Einheit, psychische 21, 22.
— , praktische 17, 18.
Einsinnigkeit 267, 268.
Elemente 4, 6, 25, 275.
— , Gleichartigkeit 17.
— , Functionalbeziehung 27, 28, 36, 276.
— , psychisch und physisch 13.
Elementarorganisnien 78.
Embrylogie, experimentelle 75.
Empfindung an sich 1,9, 17, 274.
*) Kill n bei der Seitenzahl weist auf ilie Fiissiioteii.
J
28:. -
Empfindung, Definition 12.
— , einseitige Auffassung 17.
— , functional an das Hirn geb. 21.
— , wie -weit reicht die 183.
— , der unorgan. Materie 183, 184.
Energie 260, 261.
— , specifische 97.
— , mindestens 2 d. Tonempf. 209, 210.
— , Erhaltung der 43, 158.
Erdbeben 239, 240.
Erklärung 255, 256.
Farbenanpassung 75.
Farbenempfindung 80.
— , Entwicklung, d. 81.
Farbenlehre 52 — 55.
Ferne, Nähe 90.
Festliegender Raum 106, 107.
Forschungsgrundsatz 49.
Fühlraum 89.
Functionbegriff, allgem. anwendb. 71 — 75.
GJ-edächtniss 177.
— , im weiteren Sinne 58.
• — , physikalische Erklärung 178 — 180.
Gefühl 16.
Genie 234.
Geräusch 202, 203.
Gesichtsempfindungen 146.
Gesichtsfeld 14.
Gespensterfurcht 60.
Harmonie 220 — 226.
Helligkeit und Tiefe 156 — 158.
Hören, Theorie, physikalische 203 — 205,
228 — 230, — , physiologische 202, 231 — 232. — , phylogenetische 221. Hühnchen 100.
Ich 2, 10, 14, 15, 18, 273.
— , praktische Einheit 17, 22, 273.
— , unanalysirter Complex 20.
— , Vergänglichkeit 19.
— , variabler Umfang 10.
Ideal, ethisches 19, 20.
Identische Netzhautstellen 97.
lUusor. Gegensatz der Phys. u. Psych. 34.
Illusor. Erklärung der Harmonie 220.
Innervation 103, 13 1.
Instinct 68.
Intellect 146.
— , thierrischer überschätzt 147, 148.
Intervall 217.
— , Empfindung der 217, 218.
Introjection 41, 44.
Intuitive Erkenntniss 242.
Introspective Psychologie 260 n.
Inversion 167 — 179.
Italienische Malerei 175.
Itehlkopf 212.
Keimesanlage 63.
Kernfläche 99.
Kinästlietische Empfindung 129.
Klang 201.
Kluft zu Phys. und Psych. 13, 33.
— , Ich und Welt 10.
Körper 2, lo, 156, 274.
— , scheinbar starre 174 — 176.
, flüssige 176.
Krebse 122. Krümmung 86. Kunst, primitive 92.
Leben, kindliche Auffassung 76.
Lebendige Substanz 40.
Leib 6, 7.
Lichtempfindung, Mittel, d. 162-164.
]Materie 236, 252.
— , Empfindung, d. 183, 184.
Metaphysik 27, 279.
Methode, Einseitigkeit der physikalischen i .
Mittel der Helligkeit 162 — 164.
— , der Raumempfindung 161.
— , der Tiefenempfindung 161.
Monismus 11, 237.
Moment, mechanisches 243.
Musik 199, 200, 212, 233.
- — , Entwicklung der 233, 234.
]Nrachbild, posit complem. 190.
— , Localisation 104,
Nähe, Feme 90.
Niedere Thiere, Rotation 123.
Nothwendigkeit 254.
Nystagmus 104, 105.
Oben, unten 89.
Objective Welt 26, 29, 263.
Ohrmuschel 200.
Orientirung der Inversion 168.
Panpsychismus 183, 184, 275.
Parallactische Verschiebung 107.
Parallelismus, Princ, d. 49.
Perspective 159.
Phantasmen 151 — 256.
— , Unabhängigkeit von Willen 155.
— , Intensität, d. 153 — 154.
— , und Association 151.
— , Messung, d. 154.
Phonograph 179.
Physik und Biologie i, 66, 79, 25g.
^, und Psycho!, erganz, sich 259 — 260.
Physische Verhältn. z. Psych 12, 33, 135.
Pompeian. Malerei 175.
Problem 243.
Projectionstheorie 30, 98, 99.
Pseudoscopie 169, 170.
— 284
C^ualilät und Quantität 262, 263. Quantitatives Regulativ 261.
üaum des Gesichtes 80 — 109, 138. — , des Tastsinns 107, 108, 138. — , des Blinden 93, 107, 108, 139. — , geometrischer 85, 95, 125, 141 — 145,
264. Raum, physischer 145, 259, 266. — , Raum und Zeit untrennbar 265, 266. — , functionale Abhängigkeit 266. — , und motorischer Apparat 87. — , teleologisch 134 — 145. Reactionsthätigkeit u. Begriff 245 — 247. Reaction, innere 258, — , äussere 258. Rechts, links 87 — 89, 258. Reflexbewegung 127, 128. Regelmässigkeit 92. Resonanztheorie, physikal. 228 — 232. . — , physiologisch 230 — 232.
Schein und Wirklichkeit 8, 9.
Scheinprobleme 6, 23, 278.
Schematisiren 163.
Schrift 92.
Schwebungen 205 — 207.
Sehen, aufrecht 30, 98.
Sehrichtung 99.
Sinne als physikalische Apparate 57.
— , selbständiges Leben, d. 57, 156, 173.
Sinnengedächtniss 152.
Sinnestäuschung Jn. '
Solipsismus 27, 29.
Sparsamkeit, Princip, d' 160.
Sperling 5g, 60.
Sprache 200, 213.
Steigung 86.
Substanz, Bestand, d. Verbindung 250, 252.
— , kindl. Auffassung 254n.
— , lebendige 40.
Substanzialität, räumliche 142.
Symmetrie, Arten, d. 84, 85.
— , physiologische 84, 85, 91 — 94.
— , geometrische 144, 145.
— , physische 259.
Talent 234.
Taubstumme 118.
Tausendfuss 140.
Teleologie 64, 66.
— , provisorisch 69, 70.
Tiefe und Helligkeit 156 — 158.
— , Minimum der Abweichung 161, 162,
168, 169. Tiefenempfindung 98, 99.
Tiefenempfindung Mittel, d. 161.
— , monocularc 165 — 167.
Tod 3, 4.
Töne, höchste 200.
— , als Richtungszeiger 201.
Töne, Reihenbildung, d. 209.
Tonempfindungen 198 — 234.
Traum 8, 191.
Triebe 62, 181.
Triklines Medium 135.
Tropismen 68.
XJebermensch 20.
Uebung 63.
Umbildung greift am Individuum an 64.
— , durch d. Gedächtniss verbürgt 64, 177-
Umkehrbar, nicht 193, 268.
Unbewusstes 62.
Unpersönliches 19.
Unsterblichkeit d. Emzelligen 18.
— , individuelle 19.
Ursache 67, 76.
— , Mängel d. Begriffes 70 — 73.
Urtheil 240, 241.
"Verschmelzung 207.
Vögel auf Inseln 61.
Vorgänge, problematische im Auge 173.
Vorstellung 148 — 151, 154.
Vorurtheile d. physiolog. Optik 97, 172.
"Wahrscheinlichkeit, 63, 160.
Weltauffassung, naive 25, 29.
Wille 127.
— , und Bewegung 140.
— , und Augenbewegung 102, 103.
— -, Einfachheit 109, iio, 140.
— , kindliche Auffassung 76n.
— , Definition 78.
Wissenschaft biologische Aufg., d. 39.
Zeit, physiologische 185 — 197.
— , physikalische 266 — 269.
— , und Aufmerksamkeit 188 — 189.
—^, und Biutstrom 194.
— , und Gefühlston 197.
— , und Organ. Consumtion 188, 189, 193.
— , im Traum 191.
Zeitfolge in der Reproduktion 185, 186.
Zeitperspective 195.
Zufall, kein Actionsprincip 63.
Zukunft, Fernwirkung der 75.
Zusammanhang, unmittelbar 69.
— , mittelbar 69.
— , physik. u. physiol, Fragen i, 79, 259,
Zweck 67, 76.
Namenregister *).
Abraham 203 n. Ach, N. 12 211. Allen, Grant 8 in. Aristoteles 67, 69. Aubert 53. Auerbach 203 n. Autenrieth 68.
Avenarius 22n, 24n, 37, 38, 39, 40, 197, 271, 275.
E ain 129.
Benndorf 8 in.
Beer, Th. 148, 173.
Berg 199.
Berkeley 38, I07n, 275.
BernouUi, J. 95.
Bethe 147, 148.
Breuer 105, 109, iii, 117, 122.
Brewster 5 i .
Bridgmann, L. 246,
Brown, Crum. 106, 114, 117.
Brücke 98, 203n.
Brühl 203n.
Büttel-Reepen 147.
Cams, P. 273. Cornelius, H. 276. Cornelius, P. 217. Cossmann 7 in.
I>'Alembert 2o6n.
Darwin 39, 57, 65, 8in, 181, 199.
Descartes 97.
Diderot io7n.
Dove 98.
Dubois 238.
Du Prel 193.
Dvofäk 190, 203.
Emch 94.
Euklid 142.
Euler 221, 233.
Ewald 118, 122, 182, 205, 229, 230.
Exner, S. 115, 17 in, 173, 203n, 279.
Fechner 49, 64n, 158, igon, 200n,
2i8n. 280. Fourier 203. Frauenhofer 5, 240.
GJ-oethe I.
Goltz 59, 182. -
Gomperz, H. 248. Govi 118. Graber 2 22n. Grimaldi 164. Groth 54. ' Guldberg 89. Guye 117.
üaddon 92n.
Haga i64n.
Hankel 95.
Harvey 68.
Hauptmann, C. 38, 50n, 7 in.
Hauptmann, M. 2o6n.
Heidenhain 88.
Heller io8n.
Helmholtz 51, 93, 100, 129, I42n, 199, 201, 204, 205, 226, 231, 232, 280.
Hensen 222n.
Hering 2 in, 24n, 40, 53, 55, 58. 65n, 77n, 78, 86n, 97n, 98, 100, iio, I24n, 125, 126, 128, 132, I34n, 136.
Hermann l85n, 204, 205, 230.
Heron 69.
Heymans 5on, 170.
Hillebrand loon, i66n.
Hirth 78n.
Höfler 44n, 170.
Holtz 104.
Huppert 28 in.
James 16, 102, iif
194, 235n. Jerusalem 24 in, 246. Jones, Owen 92.
Kant 23n, 145, 247. Kepler 68, 255, 256. Kessel 2 im. Kirchhoff 39. Kohlrausch 2030. König 204, 205. Kornfeld I94n. Krause 8 in. Kreidl 105, 122. Kries, V. 5on, 56n, 249. Kulke 217. Külpe 5on, 7 in.
128, 131, 133,
*) Ein n bei der Seitenzahl Aveist auf die Fiissnoten.
286
Laplace 238.
Leibnitz 14211.
Leonardo da Vinci 53, 54, 154, 218.
Lichtenberg 22, 23.
Lipps I04n, 2 2 in.
Locke I07n, 242.
Loeb 68, 89, 122, 147, 165, 170, 182, i86n.
Loewy io8n.
Lublock, Sir. John 1 1 8.
ÜVIagnus 8 In.
Manaceine 193.
Mariotte 31.
Marly 8 in.
Maxwell i86n.
Mayer, A. 52.
Mayer, R. 260. . •
Meinong 265n.
Meyer, M. 205.
Meynert 197.
Mill, 73, 256n, 276.
Moliere 94.
Morgan 62.
Moser 179.
Mosso 194.
Miller, J. i, 19, 48, 97, 100, 151.
Münsterberg 128, 129, 131, i85n, 190,
]Vagel 105. Newton 34, 52,
256, 257. Nichols i85n. Nietsche 20.
73, 95, 129, 233, 255.
Obermayer, v. i65n. Oettingen v. 206. Ohm 201. Oppel 114.
P*anum 98, loo, 163, 172.
Pauli 66n, 9911.
Petzoldt 38, 268, 269, 270.
Pfaundler 203n.
Pfeffer 74.
Plateau 107, 114.
Piaton 8, 9.
Politzer 228.
Poilak 107, 122.
Polle 8 in.
Poncelet 260.
Popper I5n, 24n.
Poulton 76.
Preyer 24n.
Ptolemaeus 97.
Purkinje 190.
Uameau 201. Raimarus 68. Ribbert 28 in. Ribot 16, 248. Riehl 24n, iro.
Robert W. 192. Rollet 59.
Sachs 68. Sandford 1 90. Saunderson io8n Sauveur 201. Schaff er 122. Scheffler 171, 173. Schlodtmann 10 in. Schneider 62.
Schopenhauer i, 65n, 198. Schumann i85n. Schuster 57. Scripture 154, i85n. Seebeck 221. Seeliger i64n. Smith, A. 39. Smith, R. 201. ' Soret 93, 94, io8n. Spencer 57. Spinoza 37. Staudt, V. 150. Steiner 150. Steinhauser 200n. Stöhr 171, 172. 24in. Strauss 61.
Stricker 212, 213, 214, 255n. Stumpf 5on, loon, 195, 205n, 206., 207,
208, 22in, 223, 227. Suess 178.
Tolstoj 88. Tschermak i o i n. Tylor 45.
XJexküll 148.
"Vergil 8 in. Vierordt 115. Volkmann 39.
"Wähle 24n.
Wallasch ek I92n.
Wasmann 147.
Weber 228.
Weismann 18, 58, 63, 234.
Wheatstone 98.
Wiener 75.
Wind i64n.
Witasek i7on.
Withney 245n.
Wlassak 40, I34n, 197.
Woilaston 52.
Wundt 129.
"Young 52, 201, 231, 260.
Ziegler 148, 181. Zindlcr 265n. Zöllner 169.
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Inhalt. Erster Teil: Die Grundlage des Dualismus in der Physiologie nach kritischer Ueberwindung des Begriffes: Lebenskraft. — (Hermann Lotze. Paul Florens). — Zweiter Teil: Sitzt die „Seele" allein im Grosshirn oder noch in anderen Abschnitten des Centralnervensysteras? — (Eduard Pflüger. — Friedrich Goltz). — Dritter Teil: Sind die verschiedenen seeh'schen J'ähig- keiten in von einander trennbaren Abschnitten des Grosshirns lokalisiert? — (Eduard Hitzig. — Hermann Munk. — Friedrich Goltz). — Vierter Teil: Woran scheitert eine konsequente Durchführung des Parallelismus von „Leib und Seele" als eines methodologischen Principes? — Fünfter Teil: Leitende Ge- sichtspunkte einer dynamischen Theorie der Lebewesen.
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