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Date Due

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Die

Anfange der Musik

Von

Carl Stumpf

Mit 6 Figuren, 60 Melodiebeispielen und 11 Abbildungen

Leipzig

Verlag von Johann Ambrosius Barth

1911

Copyright by Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1911

Spamersche Buclidruckerei in Leipzig

Herrn

Dr. Erich M. von Hornbostel

dem Leiter des Berliner Phonogramm-Archivs in Freundschaft zugeeignet

Vorwort.

Diese Schrift ist aus einem Vortrage in der Ber- liner Urania hervorgegangen, dessen Text bereits verOffentlicht ist. Er ist hier erweitert, es sind An- merkungen zur wissenschaftliclien Erlauterung und Begriindung einzelner Punkte, ferner zahlreiche zu- verlassige Beispiele primitiver Melodien mit tech- nischen Analysen, endlich einige Abbildungen pri- mitiver Instrumente beigefugt.

Es war mir ein Bedurfnis, die Friichte ethno- logischer Musikstudien, die mich seit Dezennien immer wieder, in steigendem MaBe seit dem Auf- kommen des Phonographen, beschSftigt hatten, ein- mal fUr weitere Kreise wie fur Fachleute zusammen- zufassen. Aber es ware mir nicht moglich gewesen ohne die Hilfe meiner jungen Mitarbeiter aus dem Berliner Plionogramm-Archiv und in erster Linie dessen, dem die Schrift gewidmet ist. Keine Zeile, die nicht mit ihm besprochen, keine Melodic, die nicht Note fUr Note von ihm nachgepruft ware. Ich kann dem Buchlein nur den Wunsch mitgeben, da6 es bald durch ein umfassendes Werk aus seiner Hand ersetzt werde.

AuBer ihm habe ich aber auch Herrn Dr. Erich Fischer fur seine Mitwirkung bei der miihsamen Transskription mehrerer noch unveroffentlichter pho- nographischer Aufnahmen besten Dank zu sagen.

Berlin, im April 1911. C. Stumpf.

Inhalt.

Seite

Erster Teil. Ursprung und Urformen des

Musizierens 7

Einleitung 7

I. Neuere Theorien 8

II. Ursprung und Urformen des Gesanges . . 22

III. Primitive Instrumente und ihr EinfluB ... 34

IV. Mehrstimmigkeit, Rhythmik, Sprachgesang . 41 V. Entwicklungsrichtungen 52

Anmerkungen 61

Zweiter Teil. Gesange der Naturvolker . 102 Abbildungen primitiver Instrumente 197

Erster Teil.

Ursprung und Urformen des Musizierens.

Im Laufe langer Jahrtausende hat das Menschen- geschlecht in Sprache, Wissenschaft, Kunst, ethischer, sozialer und technischer Betatigung Entwicklungen hervorgebracht, die uns immer wieder vor die Frage stellen, aus welchen Anfangen alle diese Herrlich- iceiten entsprungen sind, und welcher gottliche Funke zuerstunscheinbaraufglUhend, allmahlich diese Licht- fulle entzundet hat. Ohne nun tiefer in die Abgrunde der menschlichen Natur oder gar in metaphysische Geheimnisse dringen zu wollen, mochte ich hier nur versuchen, mit Hilfe der Erfahrungen und Kennt- nisse, die uns die heutige Volkerkunde, die ver- gleichende Musikwissenschaft und die experimen- telle Psychologie darbieten, der Frage nach den Ursprungen und ersten Erscheinungsformen der Mu- sik naherzutreten.

Immer wird es sich dabei urn Hypothesen han- deln. Aber zurAufstellungglaubwurdiger Hypothesen sind wir Heutigen doch besser ausgerUstet als un- sere Vorganger. WShrend noch 1886 Virchow in der Berliner Anthropologischen Gesellschaft den Mangel aller Teilnahme fur die Urgeschichte der Musik als die einzige vollstandige Lucke in ihren Bestrebungen beklagte eine Teilnahmlosigkeit,

8

die durch dieSpSrlichkeit des zuverlassigen Materials entschuldigt war , konnte 1903 Waldeyer in dem- selben Kreise die durch das neue Hilfsmittel des Phonographen und durch Messungen an exotischen Instrumenten ermoglichten Forschungen als ein Ge- biet von ungeahnter Ausdehnung und Bedeutung charakterisieren. Allerdings ist es dringend an der Zeit, das Inventar alles noch aus ursprunglicheren Zustanden Vorhandenen aufzunehmen, da durch die Modernisierung der Naturvolker und das Aussterben vieler Stamme in kurzer Frist die Gelegenheit auf immer verpaBt sein wird, wenn nicht fiir eine syste- matische Sammlung und Aufbewahrung der Do- kumente gesorgt wird, aus denen wir uns ein Bild grauer Vorzeit machen konnen. Aber schon das vor- liegende Material laBt die Umrisse primitiver Musik- tibung weit deutlicher als frliher erkennen^

I. Neuere Theorien.

Vergegenwartigen wir uns zuerst kurz mit einigen kritischen Bemerkungen die Hypothesen, die in neuerer Zeit tiber den Ursprung der Musik aufge- stellt worden sind^.

1. FOr die Darwinsche Lehre, wonach alle Ver- vollkommnung im wesentlichen aus der natUrlichen Auslese oder dem Uberleben des besser AngepaBten

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begriffen werden muB, bildet die Tonkunst zunSchst eine seltsame Anomalie. Sancta Cacilia blickt zum Himmel was hilft sie uns im Kampf ums Dasein? Ihre Nachfolger verdienen ja zuweilen reichlich Geld und helfen sich mit wohlausgebildeten Klavier- muskeln vorwarts, aber fUr die Mehrzahl der Men- schen hSngt das undefinierbare gegenstandlose Luft- gebilde, das wir Musik nennen, mit den realen NUtzlichkeiten und Bedurfnissen des Alltagslebens nicht zusammen.

Dennoch wuBte Darwin Rat. Seine L5sung kann man in die Worte fassen: „Im Anfang war die Lie be." Freilich nicht die himmlische, sondern die irdische, die Geschlechtsliebe. Die Mannchen bestrebten sich, den Weibchen zu gefallen, und die Weibchen wahl- ten die aus, die die groBten Vorzuge aufwiesen. Wie die schOnsten an Gestalt und Farbe, so wur- den auch die besten Sanger oder Bruller von alters her vorgezogen. Bei den Tieren finden wir darum vorzugsweise das mannliche Geschlecht farbenprachtig und sangeslustig. Produktive Klinstler waren zu- nachst nur die Mannchen, aber die Weibchen brachten den kritischen Geschmack hinzu. Bei den Menschen singen und spielen heutzutage beide Ge- schlechter, das weibliche fast mehr als das mann- liche; aber produktiver sind in der Musik unstreitig immer noch die Manner, und: „SuBe Liebe denkt in Tonen" das gilt heute wie in alter Zeit.

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Geht man nun freilich ins einzelne, so entstehen groBe Schwierigkeiten. Ich will nicht dabei ver- weilen, daB Vogel vielfach auch auBer der Zeit der Liebeswerbung singen, daB ihre Rufe auch Signale zu anderen Zwecken oder bloBe AuBerungen eines allgemeinen LebensgefUhls sein mogen, daB die dem Menschen naher stehenden Tiere nicht singen, son- dern nur rauhe Schreilaute von sich geben, daB endlich die Gesange der Naturvolker nicht gerade vorwiegend Liebeslieder, sondern in groBerer Anzahl kriegerische, arztliche, religiose Gesange sind. Ich will nur einen, aber entscheidenden Punkt etwas naher beleuchten.

Wir nennen Musik nicht das Hervorbringen von Tonen aberhaupt, sondern von gewissen Anord- nungen der Tone, seien sie noch so einfach. Und dabei ist es fur die Musik im menschlichen Sinne ein ganz wesentliches Merkmal, daB diese Anord- nungen unabhangig von der absoluten Tonhohe wiedererkannt und wiedererzeugt werden konnen. Eine Melodic bleibt die namliche, mag sie vom BaB Oder vom Sopran, mag sie in C oder in E gesungen werden. Diese Fahigkeit des Wiedererkennens und des Transponierens von Melodien finden wir unter den Naturvolkern, soweit unsere Kenntnisse reichen, all- gemein. Einem Indianer oder Siidsee-Insulaner macht es nichts aus, sein Lied etwas hoher oder tiefer an- zufangen; solange es fur seine Stimmlage bequem

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ist, trifft er die Intervaile ebenso. Zum Zweck phono- graphischer Aufnahmen wird von den Forschungs- reisenden vorschriftsmaBig der Ton eines Stimm- pfeif Chens in den Aufnahmetrichter geblasen, urn spater danach die ursprungliche Geschwindigkeit der Walze, also die Tonhohe und das Tempo des Gesanges, wiederherstellen zu konnen. Dabei wurde beobachtet, daB die Eingeborenen sich bei der In- tonation ihres Liedes haufig nach der Hohe des Pfeifchentones richteten.

Wie verhalt es sich nun damit bei den Tieren? Es ist meines Wissens bisher nicht beobachtet, daB ein Gimpel oder Star, dem man ein bestimmtes me- lodisches Motiv, sagen wir „Morgen muB ich fort von hier" oder „Dein ist mein Herz", beigebracht hat, diese Erklarungen einmal in seinen vielen MuBe- stunden in einer anderen Tonart, sei es auch nur einen Ganzton hoher oder tiefer, v^iederholt hatte, obgleich seine Stimmittel ihm dies erlauben wiirden. Dr. Abraham hat jahrelang mit einem Papagei darauf zielende Versuche angestellt, ohne anderen Erfolg. Ich will nicht behaupten, daB nicht kleine Verande- rungen in der Hohe eines Vogelrufes oder des Kuh- gebrulles bei dem namlichen Individuum vorkamen, im Gegenteil ist es von vornherein klar, daB mathe- matisch gleiche Intonation nur der Grenzfall ist, die Regel hingegen Abweichungen sein werden, die sich innerhalb gewisser Grenzen um einen Mittelpunkt

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herum bewegen. Allein diese zufalligen Schwan- kungen, namentlich infolge verschiedener Exspirations- starke, die wieder mit dem augenblicklichen Korper- gefUhl und Befinden zusammenhangen mag, durfen nicht mit eigentlicher Transposition verwechselt wer- den.

Soweit man aus der erwahnten Tatsache schlie- Ben kann, dUrfte auch das Lustgefuhl der Vogel, soweit es an die Tone selbst geknupft ist (denn die Muskelempfindungen tragen wohl auch dazu bei), wesentlich verschieden sein von dem der Menschen beim Anhoren der menschlichen wie der Vogel- musik. Das tierische LustgefUlil scheint eben durch- aus abhangig zu sein von dieser speziellen Auf- einanderfolge absoluter Tonhohen, deren geringe Verschiebungen den Sangern selbst entgehen mogen; das menschliche ist in erster Linie bestimmt durch die Tonverhaltnisse, wobei gewaltige Verschiebungen der absoluten Tonhohen nicht blo6 vorkommen, son- dern den Sangern und Horern ganz klar zum Be- wuBtsein kommen konnen, ohne daB die Melodic unkenntlich oder ungenieBbar wurde=^. Wir sagen: In erster Linie. DaB die absolute Tonhohe starke Unterschiede bewirken kann, soil nicht geleugnet werden. Bei den Chinesen spielt sie eine be- deutende Rolle^. Bei uns selbst ware die „Charak- teristik der Tonarten" und die Abneigung Feinfuhliger gegen die Transposition eines ftir eine bestimmte

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Tonart geschriebenen Liedes heranzuziehen. Aber das Stuck bleibt uns doch immer ebenso ver- stSndlich und wird als dasselbe ohne weiteres wieder- erkannt. Die M5glichkeit der Ubertragung zu be- streiten, wird niemand einfallen; nur der Ausdruck und die Wirkung scheinen uns nicht unabhangig von der absoluten H5he.

Das ist der springende Punkt, und diesen Punkt hatDarwins umfassender Forscherblick nicht beachtet, wie er uberhaupt von Zoologen merkwurdigerweise allgemein als quantite negligeable behandelt wird^

Es ist mit der Musik ahnlich wie mit der Sprache. Auch die Tiere haben eine Sprache. Aber Sprache in unserem Sinne beginnt erst da, wo die Laute als Zeichen allgemeiner Begriffe gebraucht werden, eine Anwendung, die bei den Tieren ebensowenig nach- gewiesen ist, wie der Gebrauch transponierter Inter- valle. Was wir von den tierischen Vorfahren in beiden Beziehungen ererbt haben, das ist nur der Kehlkopf und das Ohr.

So wenigstens steht die Frage gegenwartig. Sollten irgendwelche in dieser Hinsicht noch un- gepriifte menschliche Stamme sich zu melodischer Transposition ganz unfahig finden, so wiirden wir eben auch ihnen Musik im engeren Sinn absprechen. Sollte umgekehrt sich bei talentvollen Tieren doch einmal diese Fahigkeit konstatieren oder kUnstlich anerziehen lassen, so wUrden wir sie sofort als

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unsere rechten Briider in Apoll in Anspruch nehmen. Aber augenblicklich ist keines von beiden der Fall, und besonders geringe Aussicht bieten gerade unsere nachsten korperlichen Verwandten, die Saugetiere.

Wenn die Musik uberhaupt aus dem Tierreiche hergeleitet werden soil, wurde die Idee des alten Demokrit fast mehr fur sich haben, wie die Dar- wins: daB man namlich durch Nachahmung der Vogel darauf gekommen sei^. Dann hatte freilich die Deszendenz nichts damit zu tun. Man findet tatsachlich bei Naturvolkern solche Vogelnachahmun- gen. Die Berliner Phonogrammsammlung besitzt da- fur Belegstilcke. Aber die einzige oder auch nur die Hauptquelle der Musik kann auch darin nicht liegen. Die uns vorliegenden Proben betreffen keineswegs Vogelweisenvonbesondersmelodischer,musikalischer Art. Es ist mehr das Rhythmische und das Trillern und Schnalzen, was den Naturmenschen zur Nach- ahmung reizt. Sollten aber in der Urzeit mehr melodische Weisen nachgeahmt sein, so wUrde es sich sofort fragen: wie kam man zu dieser Auswahl, warum zog man melodische mit bestimmten Inter- vallen vor? Die Frage ist also nur zuriickgeschoben.

2. Fine andere moderne Hypothese, die man schon bei Rousseau, Herder u. a. findet, hat ohne Kenntnis seiner Vorganger Herbert Spencer aufge- stellt. Man kann sie in die Formel fassen: „Im An- fange war das Wort." Sie lehrt Entstehung der

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Musik aus den Akzenten und Tonfallen der mensch- lichen Sprache. Beim erregten Sprechen, unter dem EinfluB starker Gemutsbewegungen, treten diese tonalen Eigenschaften deutlicher hervor. Wenn wir jemand rufen und, falls er nicht kommt, zum zweiten und dritten Male rufen, oder wenn wir mit steigen- dem Affekt bitten oder befehlen, wenn wir in Wor- ten jubeln oder trauern: immer wird nach Spencer die Sprache musikalisch, man beginnt schon zu singen. Diese Tonbewegungen des erregten Sprechens wur- den spater ganz von den Worten abgelost und auf Instrumente ubertragen, und so ist die absolute Musik entstanden.

Es liegt hierin viel Wahres, auf das wir spater zuruckkommen werden: der „Sprachgesang" bildetbei den Naturvolkern eine sehr verbreitete Rezitierungs- form. Aber am eigentlichen Zentrum der Sache schieBt auch Spencer vorbei. Denn Musik unterscheidet sich vom singenden Sprechen durchaus wesentlich dadurch, da6 sie feste Stufen gebraucht, wahrend das Sprechen zwar Hohenunterschiede von wechselnder GroBe, aber keine fasten Intervalle kennt, vielfach sogar in Form einer stetig gleitenden Tonbewegung erfolgt. Ihre unendliche Ausdrucksfahigkeit erlangt die mensch- liche Sprache gerade durch diese in der Musik gar nicht wiederzugebenden kleinsten NUancen und stetigen Ubergange. E. W. Scripture hat durch Ver- groBerung und genaue Analyse der Kurven, die ein

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gesprochener Satz auf dem Grammophon gibt, nach- gewiesen (was iibrigens einem feineren Ohr auchnicht verborgen bleibt) , daB oftschon auf einer einzigen Silbe ein betrachtliches Schwanken der Tonhohe stattindet, das musikalisch ein grober Fehler sein wurde^.

Fig. 1.

Fig. 2.

Fig. 3.

Bei jeder dieserdreiTonkurven wurdenur dielnter- jektion„0!"ausgesprochen, das erstemal kummervoll, das zweitemal bewundernd, das drittemal fragend. Hierbei geht die Stimme, die in verschiedener ab- soluter H5he einsetzt, das erstemal urn eine Doppel- oktave, das zweitemal um eine Duodezime, das drittemal um eine Oktave (natUrlich immer nur ungefahr) in die Hohe, um dann wieder zu sinken. Bei weniger geflihlvollem Sprechen ist diese stetige Tonbewegung geringer, erreicht aber immer noch

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auf einem einzigen Vokal oder Diphthong etwa den Umfang einer Quarte, wie folgende von Dr. Effen- berger nach Scripture's Methode untersuchten Bel- spiele zweier Individuen zeigen, die die Verse „1 remember, I remember the house, were I was born" zu sprechen hatten^

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Fig. 4 und 5.

Das Zeichen fur den altgriechischen Zirkumflex (Perispomenon) bedeutete bekanntlich ein solches Steigen und Fallen der Stimme auf einem Vokal Oder Diphthong. Seine ursprtingliche Form A, ana- log den Kurven Scripture's, veranschaulichte diese Stimmbewegung. Und zwar gibt Dionys von Hali- karnaB den Umfang einer Quarte dafUr an^. Bei Schauspielern wird man allerdings ofters auch eine

Stumpf Anfange der Musik 2

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ganz unveranderte Tonhohe auf einer Silbe, ja auf ganzen Satzen beobachten, wenn ein besonderer Effekt beabsichtigt ist. Da6 z. B. das bedeutsame englische „I", dessen Bewegung wir eben verfolgten, von einem Kunstsprecher so gehalten werden kann, scheint der Verlauf der Grammophonkurven des Schau- spielers Jefferson beim „I" des Satzes „I, said the owl" zu beweisen^^:

Fig. 6.

Hier sieht man die einzelnen Original -Wellen- linien, aus deren Messung dann Hohenkurven wie die vorhergehenden gewonnen werden. Auch hier erleiden zwar die Tonwellen in der kurzen Zeit Starke Veranderungen. Aber diese Veranderungen betreffen vom zweiten Drittel an nur die Wellenform, d. h. die Klangfarbe, nicht die Wellenlange. Wenn man die Abstande der aufeinanderfolgenden Maxima miBt, findet man eine erhebliche (und zwar stetige) Abnahme, also Tonerhohung, nur im ersten Drittel des ganzen Verlaufes. Von da ab haben wir hier schon ein singendes Sprechen, ohne stetig glei- tende Tonbewegung. Ausnahmsweise, zu besonderen

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Wirkungen, ist es zulSssig und nlitzlich, im all-

gemeinen aber wirkt es nicht erfreulich. Besonders

unerfreulich, wenn nicht bloB einzelne betonte und

lange Silben in konstanter Hohe gehalten, sondern

auch in der Aufeinanderfolge der Tonhohen ofters

feste musikalische Intervalle gebraucht werden, ohne

daB doch wirklich gesungen wUrde. Das fUr manche

Menschen gewohnheitsmaBige, in gewissen Gegen-

den auch landesubliche singende Sprechen ist gerade

darum unschon, weil es sich den festen Intervallen

der Musik nahert und dadurch den Vorzug der Sprache

aufgibt, ohne den der Musik zu gewinnen.

Wenn man dieTonbewegung eines guten Sangers

genau untersucht, findet man freilich auch kein ide-

ales Festhalten der Tonhohe, vielmehr oft auf einer

Note ein bedenkliches Schwanken und beim Into-

nieren eines Intervalls zahlreiche Abweichungen,

manchmal beabsichtigte, meistens unbeabsichtigte^^

Auch ein umfangreicheres Gleiten der Stimme (Por-

tament) wird bekanntlich hie und da beliebt. Bei

den Naturvolkern finden sich solche gleitende Be-

wegungen haufiger, und zwar offenbar mit Absicht

an bestimmten Stellen und zu bestimmten Wirkungen

gebraucht 1-. Dennoch ist kein Zweifel: das Gesetz

und der Geist der Tonkunst verlangen prinzipiell

feste Tonhohen und Intervalle, und auf ihre Er-

zeugung ist die Intention des Sangers und Spielers,

abgesehen von Ausnahmefallen, gerichtet. Bei der

2*

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Sprache dagegen liegt eine solche Intention im all- gemeinen nicht vor und darf nicht vorliegen, wenn sie nicht ihr Bestes opfern will.

Die ausgezeichnete Stellung der festen, reinen Tonverhaltnisse 1:2, 2:3 usf. mu6 daher einen anderen als blo6 sprachlichen Ursprung haben. Sollte die Sprache bei der Geburt der Musik oder bei ihrer Aufziehung irgendwie mitgeholfen haben: die Mutter war sie jedenfalls nicht. Das, was Mu- sik grundwesentlich von der Sprache unterscheidet, kann nicht aus der Sprache gewonnen sein^^.

3. Einer dritten Anschauung kann man Hans v. Bulows Wort zugrunde legen: „Im Anfange war der Rhythmus", namlich die rhythmisch geordnete Bewegung.

Die Verbindung von Tanz und Gesang bei Na- turvolkern ist oft betont worden. Der Musikforscher Wallaschek hat speziell in dem Singen bei Kriegs- und Jagdtanzen und in der Notwendigkeit rhyth- mischer Formen fur das Zusammensingen vieler den Ursprung der Musik gefunden. Dann ist der Leip- ziger Nationalokonom Karl Bucher in seinem in- teressanten und stoffreichen Buche „Arbeit und Rhythmus" von ganz anderem Standpunkte darauf gekommen. Die geordnete Bewegung, die fur ihn den Ursprung aller Kunste bildet, ist keine andere als die der korperlichen Arbeit, namentlich der ge- meinsamen Arbeit. Zahlreiche Verrichtungen, die zum

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taglichen Leben, zur Gewinnung der Lebensmittel, zum Bauen, Rudern, Hammern usw. erforderlich sind, werden besser vollzogen, wenn sie rhythmisch erfolgen. Dies fuhrt auf die Begleitung der Arbeit durch allerlei Verse, die BUcher in groBer Anzahl gesammelt hat, und nicht minder durch Trommeln und durch Singen. Poesie und Musik entstehen so gemeinschaftlich aus dem Bedurfnis des Rhythmus, und dieser selbst ist eine naturliche Folge der Er- leichterung, die er bei der Arbeit schafft, und der Bewegungen, in denen die Arbeit sich vollzieht, des Stampfens, Schlagens, Hebens usw.

Auch die Rhythmustheorie aber, sonst so ein- leuchtend, lost uns nicht das Hauptproblem. Sie macht wohl Anlasse und Motive namhaft, die zum Singen fuhren konnten, aber die Erklarung versagt wieder gerade da, wo das spezifisch Unterscheidende der Musik beginnt, namlich bei der Frage, wie die Menschen dazu kamen, die Linie der Tone, die an und fur sich durchaus stetig ist, in bestimmte Intervalle zu gliedern. Den Rhythmus konnten sie durch abgehackte unarti- kulierte Laute oder Gerausche ebenso gut und besser ausdriicken. Die Verstarkung der betonten Silbe fuhrte zwar naturgemaB zu einer Tonerhohung fur diese Silbe und so zu Unterschieden der Intonation; aber die konsonanten Intervalle, auf deren Ursprung es vorzugsweise ankommt, zeichnen sich in dieser Hinsicht, nach ihrer Eignung ftir rhythmische Zv/ecke,

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nicht im mindesten vor beliebigen anderen Schwin- gungsverhMltnissen aus. Nach der instrumentalen Seite hatte die Ausbildung der Rhythmuskunst nur zum Trommeln gefiihrt. Aber eine noch so fein dif- ferenzierte Trommelsonate ist noch nicht Musik, wenigstens nicht die Musik, deren Ursprung wir suchen. SchlieBlich gibt es einen Rhythmus ja nicht nur fur das Gehor, sondern auch fur das Muskel- gefiihl fiir sich allein; und wenn die ganze Mensch- heit ewig taub geblieben ware, hatte sie recht wohl eine Tanzkunst ausbilden konnen, aber nicht eine Musik. Die Urkeime dermusikalischen Leiterbildungen mussen selbstandigentstandensein, dann erstkonntedas melo- dische mit dem rhythmischen Bedlirfnis (das immer- hin frliher dagewesen sein mag) zusammenwirken. Ein anderes Bedenken scheint mir daraus zu ent- springen, da6 unter den unendlich zahlreichen Ge- sangen der Naturvolker Arbeitsgesange zwar vor- kommen (z. B. Bootsgesange bei den Indianern oder den Siidseeinsulanern, MarschHeder in Afrika), aber einen auBerst geringen Bruchteil ausmachen. Man vergleiche nur die Melodien unserer Notenbeilage: sie sind nicht mit RUcksicht auf den Gegenstand Oder AnlaB sondern auf den musikalischen Bau der Lieder ausgewahlt, es findet sich darunter aber nicht ein einziger Arbeitsgesang, es sei denn, daB man (mit Bucher) Gesange der Priester und Medi- zinmanner darunter rechne, was mir doch zu modern

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gedacht scheint. Regelrecht rhythmisches und nament- lich gemeinschaftliclies Arbeiten stellt sich eben erst bei nicht mehr ganz primitiven VOlkern ein. Da mehren sich in der Tat die Arbeitsgesange, und von solchen V6li<ern stammen auch die meisten, die Bticher gesammelt hat.

So gibt denn keine der uberkommenen Theorien eine genUgende Antwort auf die gestellte Frage.

II. Ursprung und Urformen des Gesanges.

Verstehen wir nunmehr Musik als die Kunst, deren Material wesentlich aus festen und transponier- baren Tonschritten besteht, und suchen wir uns den Ursprung dieser Kunst begreiflich zu machen, so miissen wir zwei Fragen auseinander halten:

Wie ist tiberhaupt die Fahigkeit entstanden, Ver- haltnisse von Sinnesempfindungen unabhangig von der besonderen Beschaffenheit dieser Empfindungen wiederzuerkennen? und:

Wie kam man zu diesen bestimmten Intervallen, die wir in der Musik der verschiedenen V5lker und Zeiten tatsachlich finden?

Die erste Frage betrifft die Fahigkeit der Ab- straktion, die auch anderen Sinneseindrticken gegen- iiber getibt wird, etwa wenn wir ein Ornament oder Bildnis in der Verkleinerung wiedererkennen. Diese

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allgemeine Frage scheint mit der Definition des ganzen menschlichen Seelenlebens, mit seiner Abgrenzung gegen das tierisclie zusammenzuhangen. Wie weit sind Tiere iiberhaupt imstande, gleiche Verhaltnisse an ungleichem Material zu erkennen und hervorzu- bringen? Wie weit konnen sie z. B. beim Erkennen von Personen, Gegenstanden, Ortlichkeiten von der Ver- schiedenheit der Farbung und Beleuchtung, der augen- blicklichen ErscheinungsgroBe usf.abstrahieren? Ge- v^i6 durfen wir nicht von vornherein sagen, daB ihnen dies unmoglich sei. Aber andrerseits beweist die gleichformige Reaktion, wenn z. B. ein Hund den Herrn in verschiedenen Entfernungen oder bei ver- schiedener Beleuchtung erkennt, nicht ohne weiteres, daB es dem Tiere gelungen ist, die Gestalt aus den veranderlichen Umstanden in Gedanken herauszu- schalen. Auch wenn nicht der Geruch oder die Stimme des Herrn mitwirken, wenn ausschlieBlich visuelle Anhaltspunkte die Bewegung auslosen, kann man aus der Tatsache zunachst doch nur schlieBen, daB das Sinnesorgan und das Nervensystem sich an gewisse Reize derart gewohnt hat, daB diese auch unter merklich veranderten Umstanden noch ihre Wirkung tun. Es geht freilich auch beim Menschen in vielen Fallen nicht anders zu, wenn er in gleicher Weise auf merklich abweichende EindrOcke reagiert. Aber im entwickelten Seelenleben kommt daneben doch auch jenes Wiedererkennen im eigentlicheren

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Sinne vor, das nicht bios gleiche Reaktion, sondern auch Erkennen derGleichheitoderldentitat bedeutet.

Wie das nun immer bei den Tieren sich ver- halten moge: bei den Naturvolkern ist diese Fahigkeit der Abstraktion schon in hohem MaBe entwickelt, und beim Urmenschen miissen wir sie in gewissem Grade voraussetzen, wenn wir niclit vollstandig auf ein Begreifen der Entwicklung verzichten wollen. Denn hier liegt eine der Wurzeln aller menschlichen Fortschritte. Eine andere, nahe damit zusammen- hangende, liegt in der Generalisation, der Bildung von Begriffen. Beide zusammen legen den Grund des geistigen Lebens, auch nach der Gefiihls- und Willensseite. Dies ist jener gottlicher Funke, von dem wir zu Anfang gesprochen. Wie er in die Seele gekommen und wie sein erstes Aufgluhen in den Rahmen der Entwicklungslehre sich einfugt, dar- uber wird man an dieser Stelle keine Untersuchung, keine Aufklarung erwarten. Wir setzen das Vorhanden- sein der Abstraktionsfahigkeit beim Urmenschen vor- aus und stellen nur die konkrete Frage, wie man zuerst dazu gekommen sein mag, bestimmte zur Trans- position geeignete Tonschritte von den anderen ab- zusondern.

Auch hierin liegen noch zwei Unterfragen: Welches war der AnlaB? und: Wodurch eignen sie sich zur Transposition? Die erste konnen wir nur hypothe- tisch, die zweite aber mit Sicherheit beantworten.

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Der Hypothese mogen wir den viel ausgesproche- nen Gedanken zugrunde legen, der auch Bucher leitete, daB alle KUnste aus der Praxis des Lebens geboren sind. Die Formel von Goethes Faust sei die unsrige: „Im Anfang war die Tat." Aber welche Tat und welches praktische BedUrfnis war der An- fang der Musik? Moglicherweise waren mehrere verschiedene Aniasse beteiligt. Doch mochte ich es als eine nicht unwahrscheinliche Vermutung hinstellen, da6 das BedUrfnis akustischer Zeichengebung im Spiele war. Wir wollen dabei zunachst nur die menschliche Stimme als Tonwerkzeug voraussetzen.

Versucht man auf groBere Entfernung bin jemand durch die Stimme ein Zeichen zu geben, so verweilt die Stimme mit groBer Starke fest auf einem hohen Tone, wie er naturgemaB eben durch die starkste Anspannung der Stimmlippen hervorgebracht wird, wahrend sie am Schlusse mit nachlassender Lungen- kraft heruntergeht; wie wir an den Juchzern beobachten, die sich die Sennen im Gebirge gegenseitig zurufen. Dieses Verweilen auf einem festen Ton ist, meine ich, der erste Schritt zum Gesang, es zieht die Grenz- linie gegen das bloBe Sprechen.

Der zweite Schritt und der eigentliche Schopfungs- akt flir die Musik ist dann der Gebrauch eines festen und transponierbaren Intervalls, und auch dazu konn- ten akustische Signale hinfuhren. Wenn namlich die Stimme eines einzelnen nicht ausreicht, werden mehrere

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zusammen rufen. Sind es Manner und Knaben oder Manner und Weiber, so werden sie T5ne ungleicher H5he erzeugen, weil jeder die hochste Tonstarke nur innerhalb seiner Stimmregion erreicht. So mochten zahllose Mehrklange zufallig entstehen.

Unter alien Kombinationen hat aber eine die Eigenschaft, daB der Zusammenklang dem Eindruck eines einzelnen Tones zum Verwechseln ahnlich ist: die Oktave. Man nennt daher das Zusammensingen von Mannern und Frauen in Oktaven immer noch einstimmigen Gesang, obgleich es, wenn auf die Verschiedenheit der Hohe allein geachtet wird, schon Mehrstimmigkeit heiSen muBte. In der psy- chologischen Akustik kennen wir diese Eigenschaft der Oktave unter dem Namen der Verschmelzung, und schon griechische Musiktheoretiker haben darin das Wesen der „Konsonanz" gefunden. Diese Ein- heitlichkeit desZusammenklanges ist der Oktave nicht etwa erst durch die Musik selbst zugewachsen. Sie ist nicht eine Folge der musikalischen Entwicklung, sondern eine durch die Natur der Tone oder der ihnen zugrundeliegenden Gehirnprozesse notwendig bedingte Erscheinung^^. Sie ist darum wahrscheinlich auch bei den Tieren vorhanden, nur daB diese darauf nicht aufmerksam wurden und nichts daraus gemacht haben. Die Urmenschen aber mogen diese Ein- heitlichkeit einmal bemerkt und Zusammenklange die- ser Art dann mit Vorliebe benutzt haben, indem sie

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den Eindruck hatten, den namlichen Ton, also einen verstarkten Ton zu singen. (Ob dabei iibrigens eine wirkliche Verstarkung oder nur eine groBere Fulle des Klanges erzielt wurde, mag hier dahingestellt bleiben.) Wir konnen heute noch an Unmusikalischen beob- achten, da6 sie die Oktave fur Einen Ton halten. Versuche haben ergeben, daB dies unter 100 Fallen etwa 75mal geschieht^^ Also gerade solche, die durch die musikalische Erziehung am wenigsten beeinfluBt sind, unterliegen am meisten dieser Tau- schung.

Es gibt aber noch andere Zusammenklange, die dieselbe Eigenschaft in geringerem, doch immer noch betrachtlichem MaBe besitzen: vor allem die Quinte und die Quarte. Bei der Quinte kann man auf 40—60%, bei der Quarte auf 28—36% Falle rechnen, in denen sie von UngeUbten und Unmusi- kalischen miteinem einzigenTon verwechseltwerden. So konnten sich auch diese Zusammenklange dem Gehor allmahlich durch ihre einheitliche Wirkung bemerkbar machen. Selbst auf unserer Orgel ist bei gewissen Registern einem jeden Ton die Quinte bei- gefUgt, ohne daB es jemand merkt. Der Klang wird voller, ohne seine Einheitlichkeit einzubiiBen.

DaB die Signalgebung der AnlaB oder einer der Anlasse zur Aussonderung bestimmter Intervalle war, ist, wie gesagt, Hypothese. DaB aber die auffallende Verschmelzung der beiden gleichzeitigen Tone ge-

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wissen Schwingungsverhaltnissen unabhangig von der absoluten Tonhohe zukommt, sie somit zur Trans- position geeignet macht, ist sicher.

Da aus dem Bedtirfnis der Zeichengebung auch die Sprache entstanden sein mu6 (zunachst in Ge- stalt eng miteinander verknlipfter, durch sich ver- standlicher Laut- und Gebardezeichen), so ist durch unsere Hypothese eine gemeinschaftliche Wurzel fUr Musik und Sprache gesetzt.

Wenn man ferner religiose Bediirfnisse schon in der Urzeit des Menschengeschlechts wirksam denkt, kann man annehmen, da6 auBer der Zeichengebung gegentiber Menschen auch die Anrufung der Gotter, bzw. der damonischen Zauberkrafte in Luft und Wasser, zu den Anlassen gemeinschaftlicher stark- ster Stimmgebung gehorte. Man kann so auch diese Seite der menschlichen Natur in Beziehung zu den Ursprungen der Musik setzen.

Nun mochte weiter ein Affekt ins Spiel treten, dem wir in der Urgeschichte der Menschheit auf alle Falle eine machtige Rolle zuschreiben mtissen, der allerdings auch schon bei den hOheren Tieren, nament- lich den Affen, deutHch ist: die Neugier. Sie ist neben dem Zufall und der Not die Quelle aller Ent- deckungen und Erfindungen, undsie istdiePflegeamme auch derjenigen, die der Zufall oder die Not geboren hatte. Beim Zusammentreffen zweier Stimmen in der Oktave, in der Quinte oder Quarte konnte einem f eineren

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Gehor doch allmahlich nicht entgehen, daB es sich in Wirklichkeit urn zwei verschiedene Tone handelte. Wenn man sie nacheinander angab, war dies voll- i<ommen deutiich. Man mochte sich dariiber freuen, solche Zweii<lange hervorzubringen, die doch einem Einklang ahnlich waren; und man sang dann die namlichen Tone auch absichtlich nacheinander, um sich ihren Eindruck auch in dieser Form einzupragen. Dabei mochte dann der leereZwischenraum, den auch das kleinste dieser Intervalle, die Quarte, noch dar- bietet, zunachst willkiirlich durch Zwischentone aus- gefOllt werden. Und so konnen wir uns die ersten melodischen Phrasen, sowie die ersten Keime einer Leiter entstanden denken. Die Oktave wird dabei allerdings im melodischen Gebrauch weniger benutzt worden sein. Obgleich Oktavenschritte in recht primitiven Gesangen vorkommen, finden sie sich naturgemaB doch nur an einzelnen Stellen. Zum melodischen Gebrauche sind die kleinen Stufen ge- eigneter. Quarten- oder Quintenschritte sind daher bei vielen primitiven Gesangen die groBten Inter- valle, die in unmittelbarer Aufeinanderfolge der beiden Tone gesungen v^erden. Aber auch der ge- samte Tonumfang eines Liedes, der Abstand seines tiefsten Tones von seinem hochsten, uberschreitet haufig nicht diese Grenze.

Man konnte wohl fragen, ob die ersten konso- nanten Intervalle nicht doch auch in der bloBen

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Aufeinanderfolge der T5ne sich schon fOr das BewuBt- sein der Urmenschen auszeichnen muBten. Bei der Oktave z. B. sprechen wir doch von einer gewissen Verwandtschaft oder Ahnlichkeit oder gar Identitat der beiden Tone, die auch den Urmenschen auf- fallen konnte. Ich will eine solche Moglichkeit nicht ausschlieBen, halte aber die Verschmelzung bei gleich- zeitigem Angeben der Tone fur das aufdringlichere Pha- nomen und darum, zumal da es gleichzeitig jene prak- tische Bedeutung haben konnte, fUr den wahrschein- lichsten Ausgangspunkt der ganzen Entwicklung^*^. Nur zum Gebrauche gewisser kl einer Intervalle konnte man, und zwar sogar schon viel fruher, durch das Singen aufeinanderfolgender Tone ge- langen, ohne uberhaupt irgendwelche konsonante Zusammenklange dabei zu benotigen. Man sang eben vielleicht nur dem Spieltriebe folgend oder wieder zu Signalzwecken Tone, die deutlich ge- nug voneinander verschieden waren, und erwarb sich in der Hervorbringung solcher Stufen, die dann auch absichtlich etwas groBer oder kleinergenommen werden konnten, eine gewisse Ubung; so daB da- durch schon Gesange moglich wurden, die man von anderen Ausgangstonen aus wiederholen konnte. Denn solche kleine Tonstufen lassen sich in der Tat von beliebigen Ausgangstonen aus mit einiger Ge- nauigkeit in gleicherGroBe herstellen, und man erhalt auch so eine Art transponierbarer Intervalle ^l Ihre

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Abstimmung wird freilich nur schwer die Genauigkeit und GleichmaBigkeit der Intervalle erreichen, die auf das Prinzip der Konsonanz gegrtindet sind.

Manche Gesange primitivster Natur, z. B. bei den Wedda auf Ceylon, sind von dieser Art und wohl auf diesem Wege entstanden. Mag man sie als bloBe Vorstufen oder schon als Anfange der Tonkunst bezeichnen, jedenfalls gilt, daB diese von kleinen Tonstufen ausgehende Stromung erst mit der vorher geschilderten, aus den Konsonanzerleb- nissen flieBenden, sich vereinigen muBte, ehe eine hohere Entwicklung moglich war. Wenn solche Ge- sange aus willkiirlichen kleinen Stufen die zeitlich friiheren waren, was moglich, ja sehr wahrscheinlich ist, so wUrden wir sagen: der Nebenstrom hat einen langeren Lauf, aber er wird dadurch nicht zum Haupt- strom. Dieser, der Gebrauch konsonanter Grundinter- valle, ist es, der sich mehr und mehr als das Wesen der Musik enthullt und dessen Quelle die Quelle der Musik ist.

Uberdies kann man sich leicht vorstellen, auf welche Art die beiden FluBlaufe bald zusammentreffen muBten. Kurze melodische Motive aus kleinen Stufen eigneten sich offenbar vortrefflich zu Signalzwecken, zumal da durch die Unterschiede der Akzentuierung aus wenigen Tonen eine Fulle verschiedenerZeichen entsteht, die z. B. als Familienrufe gebraucht werden konnten. Wenn nun Manner und Weiber oder Knaben

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ein solches aus zwei oder drei Tonen gebildetes Si- gnal zusammen angaben, so muBten wieder die FSlle, in denen sie in Oktav- oder Quintenparallelen neben- einander her sangen, sich vor anderen durch den Ein- druck des Unisono auszeichnen und darum allmahlich bevorzugt werden. Und war dieshaufiggeschehen, so konnte leicht auch ein einzelner sich versucht fuhlen, den Ruf des Partners, den er soeben gehort, in dessen eigener Stimmlage nachzuahmen (oder auch zu pf eif en), womit er also seinen eigenen Ruf urn eine Oktave, bzw. Quinte oder Quarte, hoher oder tiefer transponiert hatte. Der Gebrauch des Falsetts, der sich bei Natur- volkern ofters findet, konnte unter anderem mit solchen Nachahmungsversuchen zusammenhangen. So wurde das Parallelsingen zugleich eine gute Schule der Transpositionsfahigkeit.

Waren einmal die Motive aus zwei oder drei Tonen zu groBeren Gebilden erweitert, denen wir schon den Namen von Melodien beilegen konnen, so konnte, ja muBte derselbe ProzeB sich wieder- holen. In der Tat finden wir nicht nur das Parallel- singen ganzer Melodien in Oktaven, sondern auch das Singen und Spielen in Quinten- oder Quarten- parallelen bei Naturvolkern weit verbreitet. Man kann selbst in unserem zivilisierten Europa noch oft bei Natursangern beobachten, da6 sie quintieren, wahrend sie einstimmig zu singen glauben. In einem Moment der Zerstreuung oder unter ungewohnlichen

Stunipf , Anfange der Musik ■^

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Umstanden kann dies sogar einem Musiker passieren. Legte man nun wieder das gleichzeitig Gesungene auseinander, so war die Melodie um eines der konsonanten Intervalle verschoben. Auch fur solche Wiederholungen finden sich schon frtihzeitig Beispiele. In der spateren griechischen Musik und den Anfangen der christlichen nannte man sie Antiphonien. Bei uns selbst gibt es auBer den Oktavenverschiebungen, die gar nicht mehr als Transpositionen gerechnet werden, die regelmafiige Quintenverschiebung des Themas in der Fuge und anderen kontrapunktischen Formen. Es mag lacherlich klingen, ist aber buch- stablich richtig, daB die Anfange der Kontrapunktik in vorhistorische Zeiten zuriickreichen.

V. Hornbostel hat darauf hingewiesen, da6 auch umgekehrt aus Wechselgesangen, die zunachst ganz ungeregelt sein mochten, Mehrstimmigkeit entstehen konnte. Es findet sich namlich haufig bei Natur- volkern, daB, wenn zwei Sanger oder ein Sanger und ein Chor abwechseln, der zweite Partner schon be- ginnt, wahrend der erste noch seine letzten T5ne vor- tragt. In dieser, zuerst wohl nur der Ungeduld des Sangers entsprungenen, Unartfandman dannvielleicht einen gewissen Reiz (wie ja das Verfahren in unserer Kunstmusik zu schonen Wirkungen benutzt wird), Ubte es auch absichtlich und entdeckte dabei aufs neue und von hoherem, schon kunstlerischem Stand- punkte den Eindruck konsonanter Intervalle.

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III Primitive Instrumente und ihr EinfluB.

Ganz derselbe ProzeB, wie beim Singen, vollzog sich nun auch sicherlich schon sehr friihe beim Ge- brauche von Instrumenten. Wir mussen allerdings damit rechnen, da6 manche anscheinend primi- tive Musilcinstrumente, die wir jetzt finden, Ruck- bildungen lioher stehender Instrumente sein mogen, die von Kulturvolkern v^ieder zu Naturvolkern ge- v^^andert sind; wie z. B. die Negerharfe in diesem Verhaltnis zur altagyptisclien Harfe stehen dtirfte, ebenso die Pfeifen der Kubu auf Sumatra zu denen des javanischen Kulturvolkes^^. Immerhin konnen wir das bei Naturvolkern Vorgefundene auch dann benutzen, um uns ein annalierndes Bild von den ur- sprunglichen Zustanden zu machen.

Pfeifen sind, wenn nicht die altesten, jedenfalls

sehr alte Musikwerkzeuge. Man findet durchlocherte

Knochen erlegter Tiere, namentlich von Vogeln, in

Verbindung mit Steinwerkzeugen in europaischen

wie in amerikanischen Grabern und Hohlen. Auch

das Horn der Antilope oder des Urstieres und aus-

gehohhe Mammutzahne wurden verwendet, besonders

aber Bambusrohre, spater auch kunstlich gefertigte

Terrakottapfeifen. Sie wurden entweder am offenen

Ende angeblasen oder mit einem Seitenloche ver-

sehen. Am offenen Ende wurde schon in alter Zeit

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durch eine Asphaltmasse ein Mundstiick mit enger Spalte angebracht, entsprechend dem Prinzip unse- res Flageolets.

Solche zunachst nur auf einen Ton abgestimmte Pfeifen mochten nun wiederum zu Signalen Anwen- dung finden, wie denn auch die heutigen Naturvolker Signalpfeifen in zahllosen Formen gebrauchen. DaB man das Bedurfnis der Verstarkung hatte, zeigen die nicht selten vorkommenden Doppelpfeifen. Wurden Pfeifen verschiedener Tonhohe von mehreren Indivi- duen zusammen angeblasen, so konnten dabei nach und nach wieder jene drei Grundintervalle aus- gesondert werden, die dem Gehor durch ihre Ein- heitlichkeit auffielen, auch wenn man sie nicht schon vom Singen her kannte. Gegen die ungeschulte Menschenstimme hat die Pfeife den Vorteil, dafi sie den Ton besser halt, wahrend die Stimme leicht in weiten Grenzen schwankt. So konnten die kon- sonanten Verhaltnisse sich hier noch leichter offen- baren, sind vielleicht auch wirklich fruher da auf- gefunden.

Es wurden dann auch auf einem einzelnen Instru- mente durch Anbringung mehrerer Locher von einem findigen Instrumentenmacher der Urzeit verschiedene Tone hergestellt. Dabei sind aber die Locher zuerst nicht bloB nach akustischen Bedurfnissen, so wie man die Tone zu h5ren wunschte, angebracht worden, sondern man hat zunachst aufs Geratewohl

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Oder nach auBerlichen Motiven, wie es sich etwa innerhalb der Bambusknoten am besten einrichten lieB, besonders aber nach raumlicher Symmetrie die Locher gebohrt und dann die Tone so geblasen und so schon gefunden, wie sie eben herauskamen. Auf eine bequeme Stellung der drei, bzw. sechs, haupt- sSchlich verwendbaren Finger ist naturlich auch ge- sehen worden. Allmahlich erst griff das inzwischen vervollkommnete Gehor korrigierend ein und brachite die akustisch ausgezeichneten Intervalle, wenigstens mit Hilfe der Spieltechnik, auch auf den Pfeif en zur Geltung. AuBerdem wurde aber zur Hervorbringung ver- schiedener Tone wahrscheinlich sehr frtihe das System der Panpfeife benutzt, die Aneinanderreihung einer Anzahl verschieden abgestimmter Pfeifen. Man findet sie bei primitiven Volkern aller Weltteile. Die Pfei- fen sind nach verschiedenen Prinzipien abgestimmt. Zuerst hat vielleicht uberhaupt keine Abstimmung stattgefunden, sondern sind auBerliche Motive oder ist der Zufall fur die Zusammenstellung mafigebend gewesen. Auf den meisten gegenwartigen Panpfeifen sind aber akustisch ausgezeichnete Intervalle zu finden. Dabei folgen die Pfeifen entweder nach ihrer Tonhohe aufeinander, oder sie bilden Gruppen, die uns wie auseinandergelegte Akkorde anmuten. In gewissen Fallen endlich scheint eine bestimmteMelo- die ein fur allemal in der Anordnung der Pfeifen fixiert zu sein oder von Fall zu Fall fixiert zu werden^^

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Besonders merkwurdig sind noch die Doppelpan- pfeifen, aus einer vorderen und hinteren Reihe be- stehend; die zwei zueinander gehorigen Pfeifen sind immer gleichgroB, aber die eine ist offen, die andere gedeckt, infolgedessen stehen sie im Oktavenverhaltnis. Man sieht daran, wie die akustischen Erfahrungen sich mehren^o.

Nun wurde aber bei den Blasinstrumenten (auch Trompeten verschiedener Art kamen allmahlich auf) noch eine Erscheinung beobachtet, die ganz unabhangig von den Erfahrungen an gleichzeitigen Tonen die Aufmerksamkeit auf die konsonanten Intervalle hin- lenken muBte: namlich die Obertone, die durch das „Uberblasen" zum Vorschein kommen. Auf dem Alphorn ruft sie der Schweizer Hirte heute noch der Reihe nach hervor. Die Intervalle der Teiltone sind zuerst die Oktave, dann die Quinte, Quarte und Terz. Die drei ersten Intervalle sind identisch mit denen, die beim Zusammensingen und Zu- sammenpfeifen die groBte Verschmelzung aufweisen, und muBten so aufs neue im BewuBtsein befestigt werden. Ja es ist sehr wohl denkbar, daB man beim Zusammenfugen von Panpfeifen sich in vielen Fallen durch die Obertone leiten lieB. Die einzige Quelle konsonanter Intervalle konnten aber diese aufeinanderfolgenden Uberblasungstoneschon darum nicht sein, well jene Intervalle sich auch bei Stammen finden, denen Blasinstrumente fehlen, well ferner der

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Gebrauch gleiclizeitiger Oktaven- oder Quintentone doch wieder durch besondere Eigenschaften dieserZu- sammenklange veranlaBt werden muBte, weil endlich die Uberblasungstone vielfach nicht rein, sondern etwas zu tief herauskommen, wahrend das Ohr nach Reinheit drangt. Das Gehor fugt sich auf die Dauer nicht den Instrumenten, sondern die Instrumente dem Gehor ^i. Nachdem einmal Pfeifen mit mehreren Lochern und die ersten Panpfeifen erfunden waren, mu6 das Musizieren einen groBen Aufschwung genommen haben. Die Hervorbringung immer neuer abwech- selnder Tonfolgen, sei es auch mit ganz wenigen Tonen, muBte auf solche, die uberhaupt an Tonen Freude hatten (und darin waren die Individualitaten urspriinglich wohl ebenso verschieden wie heute) einen groBen Reiz ausiiben. Es entstanden die ersten instrumentalen Melodien. Jetzt konnte auch der Tanz, das Opfer und jede andere feierliche oder unfeierliche Gelegenheit zur Ausubung dieser Kunst benutzt werden. Zugleich bot das Instrument mit seinen festen Tonen eine willkommene Unterstiitzung fiir den Gesang. Es war jetzt moglich, Tonwen- dungen, die der und jener beim Singen gebraucht und die andere nachgeahmt hatten, zu fixieren. Und man konnte mit Hilfe der Pfeifen die Weisen treuer von Geschlecht zu Geschlecht uberHefern als mit bloBem Singen. „Er schnitzt sich eine Pfeif aus Rohr und blast den Kindern schone Tanz' und Lieder

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vor." Die instrumentale Fixierung tritt zum Gesang in ahnlicher Weise unterstutzend hinzu, wie spater die Schrift zur Sprache.

Au6er den Pfeifen sind Saiteninstrumente in pri- mitiver Form weit verbreitet, haben sich aber wohl langsamer entwickelt. Sie sind nach wahrschein- licher Annahme aus dem gespannten Bogen der jager entstanden. Man konnte bald bemerken, daB der Ton der Sehne sich mit der Spannung andert, und mochte sich wieder zu allerlei Experimenten angetrieben finden. Es entstand der sogenannte Musikbogen, das ursprunglichste Saiteninstrument, das sich noch in mehreren Weltteilen findet. Die Saite wird mit einem Stabchen geschlagen, auch gezupft, nur selten gestrichen. Der auBerst durf- tige Ton wird haufig dadurch verstarkt, daB der Spielende die Saite in den offenen Mund halt, der dabei als Resonator gebraucht wird. Aber auch die Verstarkung durch objektive Hohlraume ist den Naturvolkern langst bekannt. Namentlich dienen schon beim Musikbogen ausgehohlte Klirbisse die- sem Zweck. Dann wurden, wie bei den Pfeifen, die Tone vervielfaltigt, indem man mehrere ver- schieden gespannte oder verschieden lange Saiten aufzog. Es entstanden die Harfe und die Leier mit Schildkrotenschalen als primitiven Resonanzkasten. So war auch hier die Unterlage fUr instrumentale Melodiebildungen gewonnen.

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Endlich wurden auch Schlaginstrumente22, bei denen es ursprUnglich nur auf Tonstarke ankam, dem musikalischen Gehor dienstbar gemacht. Den ersten Schritt dazu zeigt die Kombination von zwei Klangholzern, Brettern von ungleicher Tonhohe, die abwechselnd geschlagen werden. Kunstlicher ist schon die Signaltrommel, ein ausgehohlter Holzblock, an dessen oberer Seite durch Einschnitte zwei Zungen gebildet sind. Sie dient in Afrika und anderwarts fiir die Trommelsprache, d. h. die VerstSndigung auf weite Entfernungen hin durch bestimmte, teils kon- ventionelle, teils der gewohnlichen Sprache nachgebil- dete Schallzeichen. Die beiden Zungen sind von verschiedener Dicke und geben darum verschiedene Tone. Dasselbe Instrument war, kunstvoll aus- gearbeitet, im alten Mexiko bei Priesterkonzerten gebrauchlich. Aber auch der Gebrauch abgestimmter Membranen ist allverbreitet. Wir finden sehr mannig- fache Pauken, die auf verschiedene Tone eingestellt werden. Die konsonanten Intervalle selbst sind aber an diesen Instrumenten sicherlich nicht aufgefunden, sondern nur auf sie iibertragen worden.

Einer hoheren Entwicklungsstufe gehoren dann die vielbenutzten Xylophone und Metallophone an (die in Amerika allerdings ebenso wie die Musikbogen erst von Afrika aus importiert scheinen). Da ist eine ganze Anzahl von klingenden Holz- oder Metall- staben vereinigt und vielfach mit entsprechenden

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Resonatoren verbunden. Diese Instrumente sind fUr die Musikforschung auBerordentlich wertvoll, weil man an gut erhaltenen Exemplaren die Tonleitern, die darauf vertreten sind, mit physikalischer Genauig- keit messen kann. In Afrika sind die handlichen kleinen Sansa's, deren holzerne oder metallene Stab- chen durch Herabdrucken mit dem Daumen zum Schwingen gebraclit werden, so beliebt wie bei uns das Klavier.

Man kann die Frage stellen, ob Instrumente fiir die Musik ganz unentbehrlich seien, ob es nicht Stamme gebe, die nur Gesangmusik ausgebildet haben. Tatsachlich gibt es solche; z. B. die Wedda in Ceylon haben keine Instrumente. Ihre Gesange stehen aber auch auf einer auBerst niedrigen Stufe. Die nordamerikanischen Indianerstamme freilich, die nur wenige und durftige Instrumente gebrauchen, be- sitzen eine sehr entwickelte Gesangmusik. Man wird daher nicht umhin konnen, eine rein vokale Entwick- lung der Musik bis zu einer gewissen Stufe fur mog- lich zu halten.

IV. Mehrstimmigkeit, Rhythmik, Sprachgesang.

Wir wollen nun die primitive Musik, empirisch gesprochen die Musik der NaturvOlker, noch be- sonders in drei Richtungen kurz charakterisieren:

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hinsichtlich der ersten nachweisbaren Formen der Mehrstimmigkeit, hinsichtlich der Rhythmik, und hin- sichtlich der Verkntipfung von Singen und Sprechen.

1. Wie steht es vor allem mit dem Ursprunge der Harmonie, die fur uns so wesentlich zur Musik ge- hort, daB wir auch die einstimmige unbegleitete Melodic im harmonischen Sinne auffassen, und daB alle Spannungen und Losungen der Melodic uns zugleich harmonische Spannungen und Losungen bedeuten? Sind Dreiklange, Akkorde tiberhaupt, ein ganz spates Produkt, eine gotische Barbarei, wie sie Rousseau nannte? Oder sind sie so alt wie die Musik? 1st vielleicht auch die urspriingliche Melodic ebenso wie die unsrige aus der Harmonie herzuleiten?

So viel darf als ausgemacht gelten, daB die Freude an der mannigfaltigen Verbindung, Verwicklung und Auflosung von Akkorden erst eine modern-europaische Errungenschaft, etwa seit dem 13. Jahrhundert, ist. Noch die alten Griechen, die von ihrem offenbar reich entwickelten Musiksystem die tiefsten seelischen Wirkungen erfuhren, kannten keinen Dur- oder Moll- akkord, geschweige denn ein Harmoniesystem. Die beliebte Harmonisierung der erhaltenen BruchstUcke griechischer Melodien ist eine Falschung. Dasselbe gilt, soweit die bisherigen Kenntnisse reichen, bei den gegenwartigen Naturvolkern. Aber zwischen dem

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modern-europaischen Akkordsystem und derstrengen Einstimmigkeitliegen doch noch verschiedene Formen der Mehrstimmigkeit, deren Anfange sehr weit zurtick- reichen miissen. 1st unsere Annahme uber den Un- sprung der Musik richtig, so liegt er ja gerade im mehr- stimmigen, wenn auch unbewuBt mehrstimmigen, Singen oder Spielen. Und es ist keine geringe Bekrafti- gung daftir, daB, wie erwahnt, bei den gegenwartigen Naturvolkern auBer den Oktaven- auch Quarten- und Quintengange vorkommen. Sie wurden, nachdem sie sich zuerst unbemerkt eingeschlichen, allmahlich auch mit Absicht herbeigefuhrt, weil man etwas Schones darin fand, daB der Klang, ohne seine Einheitlichkeit einzubuBen, doch an Fiille gewann. Sie treten zu regelmaBig an bestimmten Stellen der Gesange auf, urn als unwillkiirliche Entgleisungen angesehen werden zu konnen. In Asien (China, Japan, Siam, Sumatra usf.) ist es etwas ganz Ge- wohnliches, daB Instrumente unter sich oder mit der Stimme in Quinten oder Quarten gehen. Dieses Quintieren ist um so bemerkenswerter, als es nach unbezweifelbaren Berichten genau ebenso im 9. und 10. Jahrhundert n. Chr. (bei den Kartausermonchen noch im 13. Jahrhundert) ausgeiibt und fur schon gehalten wurde. Daraus ist dann unsere ganze mehrstimmige Musik hervorgegangen, in der jetzt allerdings solche Parallelen im allgemeinen nicht mehr als erlaubt gelten. Auch Terzengange kommen

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hie und da vor, besonders in Afrika; ob unabhangig von europaischem EinfluB, ist allerdings die Frage.

Man kann also ganz wohl sagen, daB die Wurzeln der Harmonic sich bei den Naturvolkern finden. Sie sind nur nicht zu weiterem Wachstum gekommen; die Harmonie selbst ist ausgeblieben. Der Natur- mensch findet zwar einen Durakkord nicht Ubel, aber er verlangt nicht danach, uberhaupt nicht nach Drei- klangen; und wo er Zweiklange gebraucht, werden sie wieder von unserem Gehor meistens als un- passend empfunden. Man findet ausgesprochene Dissonanzen zwischen Gesang und Begleitung oder zwischen den Instrumenten an hervorragender Stelle und ohne jede Auflosung. Noch in der chinesischen und japanischen Musik ist das namliche der Fall und scheint auch in der altgriechischen Musik, Plutarch zufolge, ebenso gev^esen zu sein.

Das Wohlgefallen an der Mehrstimmigkeit hatte also vermutlich im Anfange ganz andere Griinde als jetzt bei uns, die wir durchaus unter den Ein- wirkungen der ungeheuren Entwicklung des letzten Jahrtausends stehen. Man freute sich eben nur am gleichzeitigen Hervorbringen mehrerer Tone uber- haupt und etwa noch an dem vollen und einheit- lichen Eindruck, der bei gewissen Verbindungen entstand. Zuweilen scheint es bei den Naturvolkern so- gar auf eine gewisse Rauhigkeit desZusammenklangs durch Hervorbringung benachbarter, miteinander

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schwebender Tone abgesehen zu sein, wodurch Sekundenparallelen entstehen^^.

AuBer dem Parallelsingen in konsonanten Inter- vallen findet sich noch ein anderer Ansatz zur Mehrstimmigkeit bei den Naturvolkern: das Liegen- bleiben oder die Wiederholung eines Tones wahrend einer ganzen Melodie. Auch diese Art des Dis- kantierens finden wir zu Beginn unserer Musikepoche wieder, man nannte sie Diaphonia basilica. Die alte Drehleier mit ihren „Bordun"-Saiten und die namentlich im Orient weitverbreitete Dudelsack- pfeife sind gleichfalls NachzOgler dieser primi- tiven Art von Mehrstimmigkeit. In der gegenwartigen Musik bieten der Orgelpunkt und der Basso osti- nato Analogien dazu. Ja im groBten Instrumental- werk der klassischen Epoche, der 9. Symphonie Beethovens, bringt das Trio des zweiten Satzes eine ausgefuhrte Dudelsackweise: Primitives als Wirkungs- element hochster, heiligster Kunst.

2. So viel iiber die ersten Spuren mehrstimmiger Musik. Wahrend nun aber dieser Faktor in seiner gewaltigen Wirkungskraft erst sehr spat zur reiferen Entfaltung kam, verhalt es sich umgekehrt mit dem Rhythmus. Diese Seite der Musik, deren grund- wesentliche Bedeutung wir nicht verkennen^^, ist sehr frUh zu einer merkwurdig reichen Durchbildung ge- diehen. Das hangt teilweise wieder mit dem prak- tischen Bedlirfnis zusammen. Denn fUr die Signale,

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speziell die Trommelsprache, boten rhythmische Ver- anderungen das einfachste Mittel, mit wenigen Tonen die mannigfaltigsten Tonzeichen hervorzubringen. Andererseits hangt es aber auch gerade mit dem Zuriickbleiben der Mehrstimmigkeit zusammen. In einer wesentlich einstimmigen Musik kann sich der Rhythmus viel freier entfalten als in einer poly- phonen und harmonischen. Denn wenn viele zu- sammen musizieren, und wenn vollends die Stimmen verschiedene Melodien singen, dann mtissen sie sich um so fester an gewisse stereotype und leicht fest- zuhaltende Rhytlimen binden, wenn nicht ein volliges Chaos entstehen soli. Daher fuhrte die Polyphonic alsbald zur Mensuralmusik, und daher beschranken wir uns auf wenige einformige Taktarten, wie V4» ^Uj und halten sie durch ein ganzes Stuck fest. Auch bei den Chinesen, Japanern, Siamesen, wo eine ge- wisse Art von Mehrstimmigkeit gebrauchlich ist, finden wir nur diese einfachsten Taktarten, beson- ders die geradzahligen. Dagegen in der ursprting- lichen, wesentlich homophonen Musik war der ver- schiedenartigsten Rhythmisierung die Bahn geoffnet. Die Griechen waren uns hierin uberlegen. Aber selbst die Naturvolker sind uns Uberlegen. Wir finden da z. B. bei den Indianern haufig V4- ""^ V^-Takte, die in unserer Kunstmusik immer zu den KUhnheiten gehoren, wenn sie auch in europaischer Volksmusik ofter vorkommen; ja diese Taktarten

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wechseln innerhalb eines Stuckes untereinander und mit geradzahligen Taktarten in rascher Folge ab. Singt ein ganzer Chor, so werden diese kompli- zierten Rhythmen gleichwohl einhellig durchgefuhrt, well man eben Unisono singt und alle auf die be- sondere Rhythmisierung des betreffenden Liedes ein- getibt sind. Ebenso ist es aber auch bei vielen anderen Naturvolkern. Manche sudasiatische Volker scheinen geradezu eine Vorliebe fur siebenteilige Gruppierung zu haben. Es finden sich aber auch Rhythmen von solcher Kompliziertheit, daB wir sie uberhaupt nicht mehr durchs Ohr auffassen k5nnen, vielmehr nur bei genauer Nachmessung der be- zuglichen Zeitabschnitte als vorhanden erkennen^^ Eine merkwiirdige und auBerst weitverbreitete Ge- wohnheit ist ferner das Schlagen auf Taktteilen, die wir als „schlechte" bezeichnen wurden. Man findet es ebenso bei den Indianern wie bei den Kulturvolkern von Siam und Java. Ferner gehen oft mehrere ganz verschiedene Rhythmen, z. B. im Gesang und in der begleitenden Pauke, deren gleichzeitige Auffassung uns nicht oder nur sehr schwer moglich ist, unab- hangig nebeneinander her (Rhythmische Polyphonic, Polyrhythmie)26.

Wir miissen aus diesen Tatsachen freilich auch schlieBen, daB das meiste, was bei den Naturvolkern an Musik beobachtet wird, keineswegs die aller- primitivsten Zustande darstellt, sondern mindestens

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in Hinsicht der Rhythmik und des ganzen Aufbaues doch schon vielfach eine lange Geschichte hinter sich hat, so roh und barbarisch es fur uns klingt. Die Verwendung rhythmisierter Gesange bei der Arbeit, die Bucher mit Recht als eine treibende Kraft fur die Ausbildung des RhythmusgefUhles betont, mochte ich aber nur fur die einfacheren Rhythmen in Anspruch nehmen. Jene verwickelten Rhythmen und ihre klinstliche Zusammenfugung miissen schon auf andere als bloB praktischeBedurfnissezuruckgefuhrtwerden. Da mUssen wir wieder die Neugierde, das Spielbe- dlirfnis, die Freude am Experimentieren und an der fortschreitenden Fahigkeit zur Auffassung und Zu- sammenfassung verwickelterer Gebilde, auch schon das Bedurfnis eines angemessenen Ausdruckes fur die religiosen Vorstellungen und ritualen Zeremonien und fur alles, was das Gemiit bewegte, kurz, wir miissen immer mehr der hoheren Natur des Menschen entspringende Motive wirksam denken. 3. Ebenso wie der Rhythmus zwar nicht den Ur- sprung der Musik, aber eine besonders reich und schnell voranschreitende Eigenschaft der Urmusik darstellt, so ist die Sprache, in der wir gleichfalls nicht den Ursprung finden konnten, fur die Ent- wicklung der Musik von groBerBedeutung geworden. Die musikalischen Intervalle wurden, nachdem sie einmal dem BewuBtsein aufgegangen waren, auch beim Sprechen vielfach verwendet. Es entstand

Stunipf, Anfange der Musik 4

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tatsachlich eine Art Sprachgesang, d. h. ein Rezitieren und Deklamieren, bei welchem die Stimme langer als gewOhnlich auf bestimmten T5nen verweilt, ganze Satze in einer unveranderten Tonhohe vortragt und an besonderen Stellen die musikalischen Intervalle zu Hilfe nimmt. Wir haben davon eine Menge Proben bei den Naturvollcern, aber auch bei den ostasiatischen Kulturnationen. Die Grenze gegen das gewohnliche Sprechen ist nicht immer leicht zu Ziehen. Aber den ausgebildeten Sprachgesang mochte ich durchaus als wahren Gesang bezeichnen. Bei uns gibt das Singen der Domherren und Monche, die in der Kirche ihre Vesper oder Matutin rezi- tieren, ein Beispiel davon. Die Rhythmik und das ZeitmaB des Sprechens ist dabei aus der gew5hn- lichen Sprache ziemlich unverandert herubergenom- men, und man hat infolgedessen den Eindruck eines nur wenig modifizierten Sprechens. Gleichwohl ist durch die festen Tonhohen und Intervalle ein wesent- lich neues Element hineingekommen.

Dabei sind aber die musikalischen Intervalle nicht etwav^illktirlich in das Sprechen hineingetragen, sondern diejenigen ausgewahlt worden, die mit den sprachlichen Tonfallen die groBte Ahnlichkeit be- sitzen. Beim liturgischen Gesang ist dies ja be- kannt. Bei den Naturvolkern finden sich aber auch schon solche Obertragungen. So haben die Togo- Neger die Tonfalle ihrer Sprache (die fur sie eine

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besondere Wichtigkeit haben, weil dasselbe Wort durch verschiedene Tonfalle eine ganze Anzahl von Bedeutungen erhalt) auch auf die Trommelsprache Ubertragen, die durch abgestimmte Schlaginstrumente erfolgt. Daher sind deren akustische Zeichen den Eingeborenen leicht verstandlich. Phonographische Aufnahmen setzen diesen Zusammenhang auBer Zweifel.

Fur die von uns nicht gebilligte Hypothese vom Ursprunge der Musik aus der Sprache lassen sich diese erfahrungsmaBig erwiesenen Sprachgesange nicht etwa als Sttitze anfuhren. Es ist meines Er- achtens kein Grund zu der Annahme vorhanden, da6 das sprechende Singen dem eigentlichen, ich mochte sagen musikalischen, Singen zeitlich vor- hergegangen ware. Dieses unterscheidet sich vom Sprachgesang durch den Besitz festerer rhythmischer Formen, durch Verlegung des Schwerpunktes auf die melodische Seite (stellen doch die Gesangtexte ofters nur sinnlose Silben dar, und linden wir bei manchen Stammen Lieder, die sie mit den Texten von anderen Stammen iiberkommen haben, ohne die Texte zu verstehen), vor allem aber durch das Auftreten fester und Ubertragbarer Intervalle. Psychologisch ware es nun zwar denkbar, daB die Intervalle, mit deren Auftauchen wir die eigentliche Musik beginnen lassen, zuerst in der Form des Sprechsingens an- gewandt worden waren, namlich bei den Anfangs- und

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SchluBwendungen der Abschnitte der Rezitation, die im ubrigen auf einem Tone verweilte^^. Aber warum man dazu gerade die Oktave oder Quinte und niclit ebenso alle mogliclien Tonabstande durcheinander hatte benUtzen sollen, ware niclit im mindesten ein- zusehen; dafur mtissen also doch besondere Ursachen gesucht werden, und damit erst kommt man auf die Anfange der Musik. Oberdies mochte ich's auch in zeitlicher Hinsicht ftir wahrscheinlicher halten, da6 der erste Gebrauch musikalischer Intervalle ganz un- abhangig von der Sprache erfolgte, und da6 erst nachher, als bereits ein Singen und Spielen in Inter- vallmelodien sich eingeburgert hatte, die erzahlende und die dramatische Form der Rede das neue Hilfsmittel zur Steigerung ihrer Wirkungen heran- zogen.

Will man sagen, der Sprachgesang sei eine unter- geordnete, minderwertige Form, und darum als die friihere anzusehen, so wurden wir dies nicht in jeder Hinsicht unterschreiben. Mag man auch die Rezitative unserer klassischen Opern und Oratorien geringer schatzen als die Arien, und vollends die ganzliche Verdrangung der Liedform durch das Rezitativ als eine Art von Atavismus miBbilligen: wer einmal die feier- liche Prafation in der katholischen Messe, die dem mystischen Schweigen der „Wandlung" vorangeht, in wurdiger Form hat vortragen horen, wird ihre gewaltige Ausdruckskraft nicht leugnen und sich ein Bild, zwar

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nicht der griechischen Musik selbst, aber ihrer Wir- kungen und Wirkungsmittel machen konnen.

V. Entwicklungsrichtungen.

Blicken wir zuriick! Wir verzichteten darauf, eine genaue zeitliche Reihenfolge fiir das Auftreten der ersten LautauBerungen, die als musikalische be- zeichnet werden konnen, aufzustellen. Es kam uns mehr darauf an, die Wurzeln bloBzulegen, ihre Trieb- kraft abzuschatzen, ihren Zusammenhang mit dem Stamme zu verfolgen. Docli wollen wir jetzt bei der Zusammenfassung auch die mutmaBliche Zeit- ordnung mit berticksichtigen und der Ktirze halber sogar in kategorischer Form sprechen die hypo- thetischen Vorbehalte verstehen sich ja in diesen Din- gen von selbst.

Vor aller Musik wurden durch Scnlaginstrumente und inartikulierte Laute der Stimme bereits Arbeits- und Tanzrhythmen markiert. Aber als Element der Musik wurde der Rhythmus erst eingefuhrt, nachdem an die Stelle der Gerausche Tone, und nicht nur Tone sondern Tonintervalle getreten waren. Zu Sig- nalzwecken, auch aus bloBem Spielbediirfnis, wurden zuerst kleine Intervalle gebraucht, die man in an- nahernd gleicher Weise auch auf anderen absoluten Tonhohen wiedererzeugen lernte. Solche Intervalle

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wurden sowohl durch die Stimme als durch primi- tive Instrumente (Klangholzer u. dgl.) hergestellt. Musik im pragnanten Sinn entstand aber erst, als die konsonanten Intervalle, vor allem die Oktave, entdeckt wurden, die dann auch zugleich einen festen Rahmen fur die kleineren Stufen abgaben. Diese Entdeckung erfolgte auf Grund der Verschmelzungs- eigenschaft und aus AnlaB der gleichzeitigen Zeichen- gebung mehrerer Individuen. Dabei konnte wieder die Stimme, konnten auch Instrumente Trager der Tongebung sein: an beiden Klangquellen muBten dieselben Grundintervalle herauskommen. Jedenfalls waren die Instrumente durch die objektive Fixierung der Intervalle iiberaus wichtig zur weiteren Entwick- lung des Singens selbst. AuBer den Verschmelzungs- erscheinungen konnte bei aufeinanderfolgendenTonen auch die Klangverwandtschaft, wenigstens an oberton- reichen Klangen, zu den Grundintervallen fuhren. Bei den Blasinstrumenten wirkten ferner die Uber- blasungstone mit, um diese Intervalle dem Bev^uBt- sein aufzudrMngen. Aber die Hauptursache waren sie nicht.

Gleichzeitig mit der Einfuhrung von festen Inter- vallen, kleinen wie groBen, wurden im Dienste der Signalgebung, aber auch schon aus ktinstlerischen Interessen (in diesem Fall in Verbindung mit Tanz und Dichtung bei Kulthandlungen u. dgl.) die rhyth- mischen Eigenschaften der Tongebung immer mehr

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differenziert, und es entstanden die ersten melo- dischen Formen. Auch wurde das Verweilen auf festen TonhOhen und der Gebrauch fester Intervalle auf die gehobene Sprache ubertragen und so der Sprachgesang als eine besondere Form der Musik geschaffen 28.

Es wird nun die Aufgabe umfassender Analysen und Vergleichungen sein, die Hauptformen primi- tiverMelodiebildung und ihre allmahliche Vervoll- kommnung aufzudecken. Die Gesetzlichkeiten im rhythmischen Verlauf der Melodien werden sich teilweise in Verbindung mit der Metrik der natUr- lichen und der kUnstlichen Rede entwickelt haben, teilweise aber auch unabhangig davon. Die ver- schiedene Haufigkeit und Dauer der einzelnen Tone, die GroBe der Schritte, die Abstimmung der Inter- valle, die GleichmaBigkeit ihrer Intonation, die Lange der einzelnen melodischen Motive und der ganzen Melodie, die Vortragsnuancen kurz, alle Merk- male der Melodien mUssen statistisch und psycho- logisch an dem Material, das hoffentlich noch zu rechter Zeit in die Scheune gebracht wird, unter- sucht werden. GegenwMig sind wir von einer solchen Melopoie der Naturvolker noch weit entfernt, nur die allerersten Anfange sind vorhanden, aber Zu- sammenfassendes laBt sich noch nicht sagen.

Nur in wenigen Worten m5chte ich noch andeuten, welche Wege die Weiterbildung des Tonsystems

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selbst nach den ersten Anfangen eingeschlagen hat, Oder urn uns sogleich auf das empi- rische Material zu beziehen welche wesentlichen rein tonalen Verschiedenheiten, aus denen man sich etwa ein Bild des Entwicklungsganges machen kann, sich bei den auBereuropaischen Volkern gegenwartig finden.

Erstlich bemerken wir eine fortschreitende Zen- tralisierung des Tonmaterials. Ein Hauptton tritt allmahlich in den Melodien hervor. Wir nennen ihn jetzt Tonika. Es gibt fiir uns keine Melodic und keinen Akkord ohne Beziehung auf diesen Haupt- ton. Sobald wir einen Ton auf eine andere Tonika beziehen, verandert er seinen musikalischen Cha- rakter. Aber diese straffe Zentralisierung, diese be- stimmte Stellung des Haupttones als des tiefsten der Leiter und diese seine harmonischen und melo- dischen Funktionen sind spate Errungenschaften.

Ferner bilden sich allmahlich immer festere Lei- tern innerhalb des Oktavenbezirkes, wobei die fUnf- stufigen und siebenstufigen die allgemeinste Ver- breitung erringen. Diese Leiterbildungen erfolgen nach verschiedenen Gesichtspunkten, und es sind vorztiglich zwei Wege, die man einschlSgt. Ein- mal die folgerichtige Durchbildung des Konsonanz- prinzips, indem man reine Quinten und Quarten, viel spater auch reine Terzen zur Gewinnung neuer Intervalle und zur genauen Fixierung der Schritte

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verwendet. Sodann aber das Distanzprinzip. Bei diesem fragt man nur: welcher Ton liegt zwischen zwei gegebenen in der Mitte? So konnen wir innerhalb der Quarte oder Quinte einen Ton ein- schalten und erhalten im ersten Falle einen zu groBen Ganzton, im zweiten Falle eine neutrale Terz. DaB man tatsachlich auch so vorgegangen ist, wurde zuerst durch die Untersuchung der siamesischen und javanischen Musik festgestellt. Es entstehen auf diesem Wege gleichstufige Leitern (ohne den Unterschied der ganzen und halben Tone). Es gibt ftinfstufige wie siebenstufige Leitern dieser Art, die keinen einzigen Ton mit der unsrigen gemeinsam haben und einem feinen europaischen Ohre ganzlich verstimmt erscheinen^^. Aber das sind naturlich nicht mehr Anfangsstadien, sondern weit fortgeschrittene Kulturschopfungen, nur von anderer Art als die unsrigen. Man kann in diesen nach dem Prinzip des bloBen Tonabstandes gebildeten Leitern eine Fortfuhrung jener Anfange erblicken, wie wir sie bei den Wedda fanden, der Bildung kleiner Tonstufen ohne Rucksicht auf Konsonanz, nur auf Grund eines annahernd gleichgeschatzten Unterschiedes der Ton- hohen. Auch diese Wurzel also hat getrieben, und es ist die Fahigkeit zur Wiedererkennung distanz- gleicher Stufen zur Virtuositat entwickelt, wie bei uns die zur Erkennung und Unterscheidung der Konso- nanzgrade. Aber doch nicht fUr sich allein und

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nicht nur aus eigener Kraft. Denn die Siamesen und Javaner gehen doch immer wenigstens von der Oktave aus. Diese bildet den Rahmen, innerhalb dessen dann die Stufen in bestimmter Anzahl nach dem Distanzprinzip abgeteilt werden. Wahrscheinlich sind indirekt doch sogar auch Quinte und Quarte beteiligt^^ Es gibt also keine ausgebildeten Lei- tern, die nur auf das Distanzprinzip gegrundet waren.

Drittens entwickeln sich sehr verschiedene Stile des Melodienbaues. Wahrend er bei Naturvolkern vielfach dem unsrigen ahnelt, auch die siamesische Melodik uns durchaus verstandlich ist, zeigte ktirz- lich die Analyse phonographischer Aufnahmen von sUdchinesischen Musikstucken Prinzipien der Bildung und Umbildung von Melodien, die ftir unseren Ge- schmack unmoglich waren (Herausnehmen einzelner Takte, Ersetzen von einzelnen Tonen durch ihre Quinten u. dgl.)^^ Vielleicht sind dies Produkte einer verfallenden Kunst, aber so oder so erscheinen sie uns ganz fremdartig und seltsam.

Endlich finden sich Unterschiede in der An- wendung gleichzeitiger Tone und Tonfolgen. Was wir davon schon erwahnten, gehort noch zu den relativ urspriinglichen Erscheinungen. Dagegen ist bei den Kulturvolkern Asiens eine Art der Viel- stimmigkeit zum System ausgebildet, die von der unsrigen durchaus verschieden ist. Es gibt in China,

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japan, Hinterindien und den Sundainseln ganze Or- chester, die eine Melodic ungefahr so vortragen, als wenn mehrere Variationen eines Themas zu glei- cher Zeit statt nacheinander gespielt wurden. Das eine Instrument tragt das Thema unverandert vor, das andere gibt mehr oder weniger freie Um- schreibungen. Aber im ganzen klingt doch die Grundmelodie durch. Dabei kommen natUrlich fUr unser Ohr, wenn man genauer analysiert, schlimme Zusammenklange vor. Da aber jene Volker das Har- moniegefUhl uberhaupt nicht entwickelt haben, finden sie sich durch solche Zusammenklange nicht un- angenehm beriihrt. Ich habe diese Art der Viel- stimmigkeit gegenuber der harmonischen Musik als Heterophonie bezeichnet, in Erinnerung an einen Ausdruck, den Plato bei der Beschreibung einer ge- wissen mehrstimmigen Musiktibung im alten Grie- chenland einmal gebraucht. Und es ist in der Tat wohl m5glich, daB die siamesische und japanische Musik uns ein Bild von dieser Form altgriechischer Musikubung geben^^. Demgegeniiber ist nun unsere gegenwSrtige europaische Musik, obgleich sie im einzelnen verv^andte Erscheinungen aufweist, durch und durch auf das Akkordsystem gebaut, das der folgerichtigen und ausschlieBlichen Durchfuhrung des Konsonanzprinzips entsprungen ist. Und eben darum, well sie das Urphanomen, aus dem die Musik Uberhaupt entsprungen ist und v^orin ihr

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Kern und Lebenselement besteht, weil sie diese Grundtatsache am reinsten und vollendetsten zur Erscheinung gebracht und daraus das Stilprinzip fur den ganzen imposanten Bau hergenommen hat, darum durfen wir sie ohne Engherzigkeit auch vom volkerpsychologischen und entwicklungsgeschicht- lichen Standpunkt als die bisher hochste Erschei- nungsform der Musik bezeichnen.

Ich mochte damit einem MiBverstandnisse be- gegnen, dem vergleichende Untersuchungen dieser Art zuweilen ausgesetzt sind : als sollte aller Wert- unterschied geleugnet oder gar das Primitive als Muster zur Nachahmung hingestellt werden. Dieser Rousseausche Ungedanke, der in asthetischen wie ethischen Diskussionen bei Enthusiasten immer noch zu finden ist, steht geradezu in Wider- spruch mit dem Entwicklungsgedanken. Wir wollen uns doch nicht wieder riickwarts entwickeln. Das goldene Zeitalter liegt nicht hinter uns, sondern vor uns, so wenigstens hoffen und wunschen wir. Wenn wir in anscheinend tierisch-rohen Produkten ursprtinglichen Menschentums doch schon die wesent- lichen Kennzeichen menschlicher Geistesarbeit er- blicken, wenn die liebevolle Versenkung in das Ein- fachste, die „Andacht zum Kleinen", uns auch darin eine Struktur, ein Zusammenfassen von Teilen, ein verschiedenes Bewerten der einzelnen Telle, ein Ober- tragen gleicher Verhaltnisse auf verschiedenartiges

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Material, kurz alle Merkmale geistiger Durchdringung des Stoffes offenbart, so verlieren wir damit nicht, sondern gewinnen erst den rechten MaB- stab fur die Schatzung spSterer Kulturen. Alles wahrhaft GroBe wird durch Vergleichen und Ver- stehen nur groBer. Die vergleichende Kunstbe- trachtung fUhrt zur Gerechtigkeit und Objektivitat des Urteils, indem sie eine ungeahnte Mannigfaltig- keit moglicher Kunststile in den Gesichtskreis ruckt, sie kann dadurch sogar dem schaffenden Kiinst- ler Nahrung geben (man denke nur an die An- regungen, die sich Goethe und unsere neueren Maler aus dem Orient holten): aber sie zeigt zugleich himmelweite Abstande in der Durchfuhrung der ein- geschlagenen Wege und ungleiche Fruchtbarkeit der verschiedenen Kunstprinzipien. Unter vielen an sich gleich moglichen und gleich berechtigten Arten der Kunstubung fuhren eben doch nur wenige zu rei- cherer Blutenfulle. So lernen wir die herrliche letzte Epoche der Tonkunst erst recht schatzen und zugleich der in jedem Sinne des Wortes uner- grtindlichen kUnstlerischen Zeugungskraft vertrauen, die selbst nach den erhabensten Schopfungen der Vergangenheit noch immer auf neuen Bahnen neue Wunderwerke erstehen lieB.

Anmerkungen.

1 (S. 8) Der Begriinder der vergleichenden Musikwissen- schaft nach exakt-naturwissenschaftlicher Methode ist Alex- ander J. Ellis, der in seiner Abhandlung „0n the Musical Scales of Various Nations", Journ. of the Society of Arts, Vol. XXXIII, 1885 zuerst umfangreiche Messungen an exotischen Musikinstrumenten, die von Eingeborenen gespielt und als gut gestimmt bezeichnet wurden, veroffentlichte und zur Ver- gleichung der Ergebnisse die Cents-Berechnung (nach Hun- dertstel der temperierten Halbtonstufe) eingefiihrt hat. Auch Gehorspriifungen an exotischen Musikern hat er bereits vor- genommen. Uber seine Abhandlung (von der Separata kaum mehr zu bekommen sind) habe ich in der Vierteljahrschr. f. Musikwissenschaft II, 1886, ausfiihrlich berichtet. Ellis' Unter- suchungen bezogen sich allerdings weniger auf Naturvolker als auf die exotischen Kulturnationen; aber die Genauigkeit seiner Bestimmungen ist vorbildlich geworden und mu6 auch gegeniiber den Naturvolkern festgehalten werden, sei es auch nur, urn die Grenzen zu ermitteln, innerhalb deren dort iiber- haupt eine feste Intonation besteht.

Eine sichere Grundlage fiir die Erforschung der Melodien haben wir erst einige Jahre spater durch die Anwendung der phonographischen Methode (B. J. Gilman 1891 auf Grund der Aufnahmen von W. Fewkes) erhalten. Seitdem hatdieVerwer- tung dieses Hilfsmittels groBe Dimensionen angenommen.

Uber die Zwecke und die Entwickelung des Berliner wissenschaftlichen Phonogrammarchivs, das vorlaufig im Psy- chologischen Institut der Universitat aufbewahrt und verwaltet wird, gibt bis zum Anfang des Jahres 1908 mein Artikel „Das Berliner Phonogrammarchiv" (s. u. Nr. 13) AufschluB. Darin sind auch einige in der gegenwartigen Abhandlung besprochene Fragen schon beriihrt, neben anderen, die mit Hilfe phono- graphischer Aufnahmen untersucht werden konnen. Inzwischen

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ist die Beteiligung von Forschungsreisenden und die Zahl der eingelieferten Walzen noch erheblich gestiegen, so daB letztere schon iiber 3000 betragt. Die Reisenden bekommen eine genaue Instruktion iiber die bei den Aufnahmen zu be- obachtenden MaBregeln, wodurch die wissenschaftliche Ver- wertbarkeit der Aufnahmen gewahrleistet wird (s. u. Nr. 17). Von den leicht verganglichen Wachswalzen werden auf gal- vanoplastischem Wege Metal Imatrizen hergestellt, die die beliebige Anfertigung von Kopien ermoglichen. Durch solche Kopien sind aus der hiesigen Sammlung andere in Koln, Liibeck, Leiden, Stockholm ganz oder teilweise begriindet worden. Unser Archiv ist aber gleichfalls durch Kopien, namentlich aus Amerika, vermehrt.

In Wien besteht bereits seit 1900 ein von der Akade- mie der Wissenschaften auf Anregung S. Exners begriindetes und von der Regierung unterstiitztes Phonogrammarchiv (s. die jahrlichen Berichte in den Akademieschriften) mit einer groBen Sammlung von Aufnahmen in Plattenform, die mittels eines besonderen „Archivphonographen" hergestellt sind, sich jetzt aber auch auf Walzen iibertragen lassen. Andere Sammlungen sind in Frankreich, England, RuBland und Amerika ent- standen.

Natiirlich ist nicht die Sammlung sondern die Verwertung letztes Ziel. Die Melodien miissen Note fiir Note nach Ton- hohe und Rhythmus bestimmt werden. Dies ist eine sehr muhsame Aufgabe; aber sie ist betreffs der Tonhohen mit physikalischer Exaktheit losbar. Fiir den Rhythmus gibt es auch mancherlei Hilfsmittel, urn schlieBlich auch fremdartige und komplizierte Rhythmen festzulegen. In alien Fallen aber ist eine langjahrige Obung und groBte Gewissenhaftigkeit er- forderlich.

Mit der Untersuchung der Musikstiicke mu6 die der et- waigen Instrumente Hand in Hand gehen. Fiir die Erkennt- nis des in den Musikstiicken vorkommenden Tonmaterials, der „Leitern", wenn solche vorhanden sind, haben Messun- gen an Instrumenten mit hinreichend festen Tonhohen sogar groBere Bedeutung. Die vielverbreiteten Panpfeifen und die Xylophone und Metallophone sind dazu besonders ge- eignet.

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Im folgenden versuche ich die wesentlichsten neueren BeitrSge zur Kenntnis exotischer Musik zusammenzustellen, soweit sie auf eigenes Horen der Verfasser gegrlindet und mit hinreichender Zuverlassigkeit durchgefiihrt sind,

I. Noch vor der phonographischen Ara ist iiber Indianermusik eine sorgfaltige Studie erschienen, die heute noch als Quelle mitbeniitzt werden kann, da der Verfasser beim Abhoren der Gesange den musikalischen Eigentiimlichkeiten viel mehr Beachtung geschenkt und sie detaillierter beschrie- ben hat, als es vorher iiblich war:

Th. Baker: Uber die Musik der nordamerikanischen Wil- den. 1882.

Dann habe ich selbst einmal versucht, die Lieder einer von Kapitan Jacobsen mitgebrachten Indianertruppe nach viel- maligem Vorsingen durch den Hauptsanger mit Riicksicht auf die genaue Intonation jeder Note zu fixieren, und glaube auch die eigentumlichen Abweichungen der Intonation von der unsrigen in der beigefiigten Beschreibung richtig charakte- risiert zu haben:

C. Stumpf: Lieder der Bellakula-Indianer, Vierteljahrschr. f. Musikwissenschaft II, 1886.

Aber zu einer derartigen Vertiefung in das Detail jeder Melodie pflegen sich Forschungsreisende nicht die Zeit zu nehmen, auch nicht dazu vorgebildet zu sein. AuBerdem fehlt bei Notierungen nach direktem Vorsingen im allgemeinen die Moglichkeit der Nachpriifung und die des Herausgreifens be- liebiger kleinster Abschnitte, wodurch man Melodien wie Naturobjekte untersuchen kann. Hierin liegt der unendliche Vorteil der phonographischen Methode

Unter den vor-phonographischen Aufzeichnungen primi- tiver Melodien erwahne ich noch:

Fr. Boas: The Central Eskimo. Bureau of Ethnology, 6. Annual Report 1888. Im Anhang sind eine Anzahl Melo- dien wiedergegeben. Ebenso in der Abhandlung iiber die nordwestlichen Indianerstamme von Kanada, Britisch Asso- ciation, Report for 1890. Der Verfasser ist als ausgezeichneter Beobachter bekannt. Doch scheint er auf die Abweichungen der Intonation nicht so sehr wie auf die Eigentiimlichkeiten der Rhythmik und Struktur geachtet zu haben, da iiber jene

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nichts naheres bemerkt ist. Spater hat er die phonographische Methode angewandt (s. u.). Ebenso:

(Miss) A. C. Fletcher: A Study of Omaha Indian Music (mit J. C. Fillmore), Archaeol. and Ethnol. Papers of the Peabody Museum Vol. 1, 1893.

II. In Amerika hat B.J. Oilman auf Orund phono graph i- scher Aufnahmen drei lehrreiche Abhandlungen veroffentHcht:

Oilman: Zuni Melodies, Journal of American Archaeology and Ethnology Vol. I, 1891 die erste Untersuchung, die iiber- haupt nach dieser Methode gemacht ist. Dazu vgl. meine Ab- handlung: Phonographierte Indianermelodien, Vierteljahrsschr. fiir Musikwissenschaft VIII,* 1892.

Oilman: Some Psychological Aspects of the Chinese Mu- sical System, Philosophical Review I, 1892.

Oilman: HopiSongs,Journ. of American Archaeology V, 1908.

Reiches phonographisches Material sodann bei:

Fr. Boas: The Social Organisation and the Secret Societies of the Kwakiutl Indians. U. S. A. National Museum, Report for 1895 (1897).

Fr. Boas: Songs of the Kwakiutl Indians. Internationales Archiv f. Ethnographie IX, 1896.

A. C, Fletcher: The Hako, a Pawnee Ceremony. Bureau of American Ethnology, 22. Report, 1903.

(Miss) Fr. Densmore: Chippewa Music. Bureau of American Ethnology, Bull. 45, 1910.

Natalie Curtis hat in ihrer groBen Sammlung „The Indians Book" (1907) den Phonographen leider als „inadaequat und unnotig" verschmaht und damit fiir ihre Aufzeichnungen, wenn sie auch sonst einen vertrauenswlirdigen und technisch sau- beren Eindruck machen, jede Kontrolle, auch ihre eigene, abgeschnitten. Mindestens waren mehr Angaben iiber die Eigentiimlichkeiten der Intonation, der Rhythmik und des Vor- trags erwunscht. Oliicklich und verdienstlich scheint mir die iiberall durchgefiihrte Strukturanalyse derMelodien, die in der Form ihrer Wiedergabe zum Ausdruck kommt.

III. Folgende Arbeiten, auf die unsere Darstellung sich hauptsachlich stiitzt, sind bisher aus dem Berliner Phono- gramm-Archiv hervorgegangen (sie werden spater mit „Ph.-A. Nr. ..." zitiert):

Stumpf, Anfange der Musik 5

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1. C. Stumpf: Tonsystem und Musik der Siamesen. Bei- trage zur Akustik u. Musikwissenschaft, herausg. von C. Stumpf, Heft 3, 1901.

2. O. Abraham und E. v. Hornbostel: Studien iiber das Tonsystem und die Musik der Japaner. Sammelbande der Internat. Musikgesellschaft IV (1902).

3. Abraham und v. Hornbostel: Phonographierte indische Melodien. Ebenda V (1904).

4. F. V. Luschan: Einige tiirkische Volkslieder und die Bedeutung phonographischer Aufnahmen fiir die Volkerkunde. Zeitschr. f. Ethnologie Bd. 36 (1904) Heft 2.

5. Abraham und v. Hornbostel: Phonographierte turkische Melodien. Ebenda.

6. Dieselben: Uber die Bedeutung des Phonographen fur die vergleichende Musikwissenschaft (mit Diskussionsbericht aus der Berliner Anthropolog. Gesellschaft). Ebenda.

7. Dieselben: Uber die Harmonisierbarkeit exotischer Me- lodien. Sammelbande der internat. Musikgesellschaft VII (1905).

8. V. Hornbostel: Die Probleme der vergleichenden Musik- wissenschaft. Zeitschr. d. Int. Musikges. VII (1905).

9. V. Hornbostel: Phonographierte tunesische Melodien. Sammelb. d. Int. Musikges. VIII (1906).

10. Abraham und v. Hornbostel: Phonographierte Indianer- melodienausBritisch-Columbia. In: Boas Memorial Volume 1906.

11. V. Hornbostel: Uber den gegenwartigen Stand der vergleichenden Musikwissenschaft. Ber. iib. d. II. Kongr. d. Int. Musikges. 1907, S. 56 ff.

12. V. Hornbostel: Notiz iiber die Musik der Bewohner von Siid-Neu-Mecklenburg. In: Stephan und Graebner, Neu- Mecklenburg. 1907.

13. C. Stumpf: Das Berliner Phonogrammarchiv. Internat. Wochenschrift fiir Wissenschaft usw. 22. Februar 1908.

14. V. Hornbostel: Phonographierte Melodien aus Mada- gaskar und Indonesien. In: „Forschungsreise S. M. S. Planet 1906/7". V. Band. 1908.

15. E. Fischer: Patagonische Musik. Ztschr. „Anthropos" III (1908).

16. v. Hornbostel: Uber die Musik der Kubu. In:B. Hagen, Die Orang-Kubu auf Sumatra. 1908.

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17. Abraham und v. Hornbostel in den „Anleitungenfur ethno- graphischeBeobachtungen undSammlungen." Herausgeg. vom Kgl. Museum f. Volkerkunde, Berlin. 1908. Abteilung L: Musik.

18. Abraham und v. Hornbostel: Vorschlage fur dieTrans- skription exotischer Melodien. Sammelb. d. Int. Musikges. IX (1909).

19. V. Hornbostel: Wanyamwezi-Gesange. Ztschr. Anthro- pos IV (1909).

20. M. Wertheimer: Musik der Wedda. Sammelb. d. Int. Musikges. XI (1909).

21. V. Hornbostel: Uber Mehrstimmigkeit in der auBer- europaischen Musik. Bericht iiber den III. KongreB der Internat. Musikgesellschaft. 1909. S. 298ff.

22. V. Hornbostel: Uber einige Panpfeifen aus Nordwest- brasilien. In : Th. Koch-Griinberg, 2 Jahre unter den Indianern, 2. Bd., 1910.

23. V. Hornbostel: Uber vergleichende akustische und musikpsychologische Untersuchungen. Ztschr. f. angewandte Psychologic III (1910).

24. V. Hornbostel: Abschnitt „Musik" in R. Thurnwald, Im Bismarckarchipel und auf den Salomoinseln. Ztschr. f. Ethnol. Bd. 42. 1910. S. 140 ff.

25. V. Hornbostel: Wasukuma-Melodie. Bulletin de I'Aca- demie des Sciences de Cracovie. Sc. naturelles. 1910.

26. V. Hornbostel: U. S. A. National Music. Ztschr. d. Internat. Musikgesellschaft. XII (1910).

27. V. Hornbostel: Notizen iiber kirgisische Musikinstru- mente und Melodien. In: R. Karutz, Unter Kirgisen und Turk- menen. 1911.

28. Stumpf und v. Hornbostel: Uber die Bedeutung ethno- logischer Untersuchungen fiir die Psychologic und Asthetik derTonkunst. Bericht iiber den IV. KongreB fur experimentelle Psychologic, herausg. v. F.Schumann. 1911. Auch in Stumpfs Beitragen zur Akustik und Musikwissenschaft Heft 6.

29. E. Fischer: Beitrage zur Erforschung der chinesischen Musik. Sammelb. d. Internat. Musikges. XII (1911).

30. V. Hornbostel, Ober die Musik auf den deutschen Salo- mon-Inseln. In : Thurnwald, Ethnograph. Forschungen in Buin auf Bouginville. (Im Druck.)

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IV. AuBerdem liegen phonographisch fundierte Arbeiten europaischer Autoren uber Naturvolker vor von:

G. Adler: Sokotri-Musik. In D. H. Miiller, Die Mehri- und Sokotrisprache. Sudarabische Expedition der Kais. Aka- demie d. Wissensch. Bd. VI. 1905.

P. Fr. Witte: Lieder und Gesange der Ewe-Neger. Ztschr. Anthropos I (1906), S. 65ff., 194 ff.

W. Thalbitzer und Hj. Thuren: Musik aus Ostgronland. Zeitschrift der Internat. Musikgesellschaft XII, Heft 2 (1910).

Ch. S. Myers: Abschnitt „Music" in C. G. und B. Z. Selig- mann, The Veddas, 1911.

Die phonographische Methode ist aber in Europa mehr- fach auch zur Aufnahme alter Volksgesange verwendet wor- den, die das Material der vergleichenden Musikwissenschaft in einer wichtigen Richtung erweitern. Ich erwahne unter den Publikationen besonders:

Frau E. Lineff : The Peasant Songs of Great Russia I 1905, II 1909.

F. Kolessa: Ruthenische Volkslieder, in den Mitteilungen der Sevdenko-Gesellsch. d. Wissensch. 1906—1911.

Hjalmar Thuren : Folkesangen, Kopenh. 1908.

A. Launis: Lappische Juoigos-Melodien. 1908.

F. Kolessa: Ober die sog. KosakenHeder (der Klein- russen), Bericht iiber den III. KongreB d. Intern. Musik- gesellsch. 1909. S. 276ff.

V. In neueren Monographien und Reisewerken haben, auch wenn keine phonographischen Aufnahmen gemacht wurden, doch wenigstens die Postulate kritischer For- schung mehr Beachtung gefunden als fruher. Ich nenne z. B. die Studie von Fr. Densmore: The Music of the Filipinos, American Anthropologist Vol. VIII (1906), p. 61 Iff. J. Schonharl: Volkskundliches aus Togo (1909). H. Rehse: Kiziba (am Westufer des Viktoria-Nyanza), Land und Leute, 1910.

VI. Als iibersichtliche Zusammenstellungen der von der musikalischen Ethnologic bisher gewonnenen allgemeinen Ge- sichtspunkte seien noch erwahnt:

Charles S. Myers: The Ethnological Study of Music. Anthropological Essays presented to E. B. Tylor, 1907.

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B.J. Oilman: The Science of Exotic Music, Ztschr. Science N. S. XXX, 15. Oct. 1909.

Wie wenig man sich auf die zahlreichen, in Reise- werken mitgeteilten unkontrollierbaren Notierungen verlassen kann, mogen zwei Beispiele aus neuester Zeit erlautern. Ein so beruhmter Psychologe wie W. Wundtgibt in seiner Volker- psychologie (III- 468) vier Proben primitiver Gesange, von denen die dritte und vierte, so wie sie dastehen, unmoglich echt sein konnen. (Uber die erste s. u. Anm. 27.) Sielauten:

Australische Melodic.

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(Nach Lumholtz, Unter Menschenfressern, S 59.) Negermelodie.

^^ I p n ^'l^gj- P *'\ f> J' :rf:

jF^ J'^^t-^^-^^if^^^^^^

(Nach Schweinfurth, Im Herzen von Afrika I, S. 450.)

Von der letzten sagt Wundt selbst, sie sei unserem Melodiegefiihl schon homogener. In Wahrheit unterscheiden sich die beiden Melodien (den SchluB der ersten ausgenommen) in keiner Beziehung von unseren popularen Weisen. Die erste, die so wenig nach Menschenfressern klingt, ist im Original von Lumholtz noch dazu mit „Tempo di Valse. Allegro" iiberschrieben. Stlickweise klingt sie in der Tat z. B. an den Hauptwalzer aus Oskar StrauB' Operette „Walzertraum" an. So wie sie hier steht, wird jeder Sachverstandige sagen, da6

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sie ebensowenig bei den Ureinwohnern Australiens entstanden sein kann, wie etwa ein silberner Suppenloffel oder eine Schreibmaschine. Ob sie nun aus Gegenden, die schon unter europaischem EinfluB stehen, dahin gewandert ist, oder ob Lumholtz beim Aufschreiben einer echt australischen Weise sein europaisches Gehor einen Streich gespielt hat, mu6 dahingestellt bleiben. Wahrscheinlich haben beide Faktoren zu- sammengewirkt. Lumholtz sagt Seite 198 seines Werkes, ein gutes Lied wandere von Stamm zu Stamm, und ein bestimmtes Lied (ahnlich dem hier zitierten) habe er spater von den zivili- sierten Schwarzen bei Rockhampton, 500 Meilen in gerader Linie siidlich vom ersten Orte singen horen. Urspriinglich sei es wahrscheinlich in der Gegend von Rockhampton entstanden und habe diesen langen Weg gemacht, bevor es in die Berge von Herbert River kam, wo es nun gesungen werde, ohne daB man auch nur die Worte verstehe. Unter solchen Um- standen ist es gewiB denkbar, daB auch europaische Ge- sange einen so langen Weg gemacht haben. (Was in dieser Hinsicht vorkommt, sieht man daran, daB v. Hornbostel kurzlich auf einem bei den Kirgisen im westlichen Turkistan aufgenom- menen Phonogramm unser „Fuchs, du hast die Gans gestohlen" fast ganz unverandert vorgefunden hat; nur die groBe Sep- time war in die kleine verwandelt. Ph.-A. Nr. 27.) Einiges mag aber auch das europaische Ohr hinzugetan, es mag das Gehorte „assimiliert" haben; nur den SchluB, namlich das lange Verweilen auf dem tiefen Grundton, halte ich fur ein echtes Produkt, da wir diese Gewohnheit sehr haufig bei Primitiven finden (wahrend Wundt gerade „das ganzliche Feh- len eines melodischen Abschlusses" charakteristisch findet). Auch Lumholtz sagt: „Den letzten Ton recht lang anhalten zu konnen, gilt als Fertigkeit in der Kunst des Gesanges".

Da mir das Beispiel aus Schweinfurths Buch nicht minder erstaunlich schien, bat ich den groBen Afrika- forscher brieflich um Auskunft, auf welche Weise er dieses Lied in Noten gebracht habe, und ob es nicht etwa in jene Gegend eingewandert sein konne. Er antwortete (27. XII. 1905): „Die Melodie ist von mir so wiedergegeben worden, wie sie meinem Ohr erschien. Vielleicht wurde die Melodie unbewuBt in demselben europaisch stilisiert. Damals machte

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sie auf mich einen tiefen Eindruck. Ich habe sie oft vor niir hergesummt auf meinen Wanderungen; es war von jeher meine Gewohnheit, alle Melodien, deren ich habhaft werden konnte, auf dem Marsche zu markieren. Daher glaube ich wohl, sie spater ziemlich getreu wiedergegeben zu haben. Ein rhyth- mischer Gesang von 100 Stimmen mu6 doch wohl eine domi- nierende Melodic haben, eine Diagonale, und diese habe ich

in dieser Art erfaBt Die Notierung der Melodie ist damals

(als ich mein Buch schrieb) in Gemeinschaft mit meinem ver- storbenen Bruder Alexander (den A. Dorn einen Musiker durch und durch genannt hat) entstanden. Ich habe ihm den Gesang wiederholt vorgefUhrt; man konnte denselben nicht anders zum Ausdruck bringen."

Damit ist meines Erachtens alles Notige gesagt. Der Bericht ist sicherlich typisch fiir auBerst zahlreiche Falle. Welche Wandlungen mu6 eine Melodie erleiden, wenn man sie auf langen Marschen vor sich hin summt, und vollends wenn sie nach dieser ersten unabsichtlichen Bearbeitung auch noch von einem durch und durch musikalischen Europaer, der vielleicht niemals exotische Weisen im Original gehort hat, in Noten gesetzt wird! Ich will dem hochverdienten Forscher, der vor der Erfindung des Phonographen reiste und schrieb und die genaue Aufzeichnung an Ort und Stelle sich nicht zutraute, keinen Vorwurf machen. Aber was er als Garantien fiir treue Uberlieferung ansieht, ist das Gegenteil davon. Zum UberfluB macht mich Kollege M. Friedlander auf- merksam, da6 es ein altes Soldatenmarschlied gibt, das eine verdachtige Verwandtschaft mit diesem auf Marschen nach- gesungenen Mitu-Liede darbietet:

S4-

g-l-r; I ;■ ^rT^^Ep=M=g

Hur-ra, hur- ra, hu - ral - le - ral - le - ra, hur-

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usw.

ra, hur-ra, hu- ral-le-ral-le-ra.

(Liederkranzvon Erk, Ausgabe fur Berliner Gemeindeschulen I, Nr. 115, S. 106. Vgl. Soldatenliederbuch, herausgegeben von Hauptmann Maschke, 1906, Nr. 189.)

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GewiB hat die urspriingliche Mitu-Melodie eine Ahnlich- keit und vielleicht sogar eine starke Ahnlichkeit mit der von Schweinfurth veroffentlichten. In Afrika haben sich viele solche Weisen mit kurzen zweiteiligen Rhythmen gefunden, auf die man auch Hurra singen konnte. Ich behaupte nur, da6 von einer wissenschaftlichen Genauigkeit der Wiedergabe unter den obigen Umstanden nicht gesprochen werden kann. Kaum kann es einen besseren Beweis als die beiden Wundtschen Musterbeispiele geben, wie unerlaSiich phono- graphische Aufnahmen an Ort und Stelle sind, und wie wenig es auBerdem niitzt, in Sachen der Volkerpsychologie sich nur aus Biichern Rat zu holen.

Keineswegs mochte ich so weit gehen, die Notierungen an Ort und Stelle nach dem bloBen Gehor, wie wir sie in so vielen friiheren Reisewerken finden, als iiberhaupt unbrauch- bar zu verwerfen. Vielmehr werden wir auch jetzt noch, oder besser gesagt erst jetzt, ofters einen guten Gebrauch von solchen Notenbeispielen machen konnen. Aber nur unter der Bedingung, da6 der sie Beniitzende vorher durch eigenes Horen nach phonographischen Aufnahmen und nach der Natur (es kommen ja genug exotische Gaste in die Hauptstadte Europas, freilich durfen sie nicht schon europaisiert sein), sich ein Bild dessen gemacht hat, was in Wirklichkeit vorkommt; da6 ferner in den beniitzten Reiseberichten selbst die Urn- stande, unter denen der Reisende die Notierungen vorgenom- men, die Methode der Notierung oder nahere Angaben iiber Details eine gewisse Sicherheit fiir die annahernd richtige Wiedergabe bieten. Gewohnlich geben allerdings die Reise- berichte gar keine Anhaltspunkte dieser Art, und haufig er- wecken schon rein technische Nachlassigkeiten in der Nota- tion Zweifel und Bedenken. Es ist hochste Zeit, da6 das Ma6 gewissenhafter Kritik, das die neue Volkerkunde in an- deren Gebieten von ihren Vertretern beansprucht, auch dem Gebiete der Musik zuteil werde.

Die groBte Sicherheit wird naturlich erreicht sein, wenn der Forschungsreisende selbst akustisch-psychologisch durch- gebildet ist, wenn er das ganze Musikwesen der Eingeborenen an Ort und Stelle studiert, zugleich phonographische Auf- nahmen macht und diese dann nach der Riickkehr selbst

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wissenschaftlich bearbeitet. Aber daswird nur ausnahiiiswcisc der Fall sein konnen.

Von den Anhangern der alten Methode, sagen wir des alten Schlendrians, ist der exakten Wiedergabe exotischer und primitiver Gesange nach dem Phonographen der Vorvvurf zwecklos ubertriebener Genauigkeit gemacht worden, da die Intonation der „Wilden" eine viel zu schwankende sei, als da6 sich Notierungen mit diakritischen Zeichen fiir die von den unsrigen abweichenden Intervalle oder gar Messungen der Tonhohen in Schwingungszahlen verlohnten. Diesen Punkt habe ich selbst bereits 1892 gelegentlich der ersten Veroffent- lichung nach Phonogrammen durch Gilman, lange vor unse- ren Kritikern H. Riemann und Wallaschek, besprochen. Es folgt aus solchen Schwankungen naturlich nicht, dafi man der alten Notierungsweise ein groBeres Vertrauen schenken diirfe als der neuen. Es folgt nur, da6 man bei der Deutung des phonographisch aufgenommenen Materials die unvermeidlichen Schwankungen mit in Rechnung Ziehen und nicht ohne weiteres alle Abweichungen von den dia- tonischen Leitern fiir irgendwelche neuen und unerhorten Skalen in Anspruch nehmen darf. Aber unsere Messungen dienen gerade auch zur Feststellung des Umfangs, inner- halb dessen Schwankungen bei bestimmten Stammen oder einzelnen Sangern vorkommen. Zu diesem Behufe sind die Forschungsreisenden instruiert, des ofteren den namlichen Gesang von mehreren Individuen, auch zu verschiedener Zeit von demselben Individuum aufzunehmen. Ferner hat, schon ehe solche Einwande erhoben wurden, Dr. Abraham begonnen, die Schwankungsbreite der Intonation unserer eigenen Inter- valle wahrend eines Liedes bei unseren eigenen Sangern, Kunst- wie Natursangern, festzustellen, um einen MaBstab zu haben, in welchen Grenzen und mit welcher Konstanz hinsichtlich der Richtung solche Abweichungen vorkommen. Sie haben sich recht groB gefunden. Aber es ist noch nicht einmal gesagt, daB sie bei Naturvolkern durchweg ebenso- groB Oder groBer sein miissen. Gewisse Tone und Intervalle ihrer Weisen scheinen sie vielmehr mit groBer Genauigkeit zu wiederholen, wahrend bei anderen Tonen und Intervallen Starke Varianten vorkommen. Das alias kann nur auf dem

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eingeschlagenen Wege untersucht werden. Vielleicht wird sich einmal herausstellen, da6 wir wirklich in manchen Fallen veranderliche und willkiirliche Tongebungen mit uberfliissiger Liebesmiihe fixiert haben. Nur von vornherein darf man dies nicht voraussetzen, und noch immerwar ubertriebeneGenaiiig- keit das geringere Ubel gegeniiber kritikloser Leichtfertigkeit.

2 (S. 8) Die Theorien Darwins und Spencers habe ich ausfuhrlicher besprochen in der Abhandlung „Musikpsychologie in England. Betrachtungen iiber Herleitung der Musik aus der Sprache und aus dem tierischen EntwicklungsprozeB, iiber Empirismus und Nativismus in der Musiktheorie". Viertel- jahrsschrift fur Musikwissenschaft I, 1885.

3 (S. 12) Man findet von alten Autoren mit groBer Vor- liebe die Wirkungen der Musik auf Tiere (Elefanten, Spinnen usw.) geschildert, wobei eine fiirchterliche Menge unbeglau- bigter Anekdoten bis zuriick zu den assyrischen Konigen auf- getischt wird. Neuerdings hat wieder Mario Pilo ganz un- kritischen Gebrauch davon gemacht; und daB man sein Buch fiir wichtig genug hielt, ins Deutsche iibertragen zu werden, zeigt, wie wenig auch bei uns das Urteil noch entwickelt ist. Mehr Gewicht hat, was ein Forscher wie August We ismann iiber die Musikliebe von Katzen und Hunden gelegentlich sagt (Gedanken iiber Musik bei Tieren und bei Menschen. Deutsche Rundschau 1890, S. 67). Aber die Erklarung des beziig- lichen Verhaltens von Tieren scheint mir auBerst schwierig. Wenn der Hund bei der Musik heulend sitzen bleibt was geht eigentlich in ihm vor? Welchen Zweck hat das Heulen mit emporgestrecktem Kopf ? Und was ist es, das bei der Ge- horsreizung vom Hunde, sei es angenehm, sei es unangenehm, empfunden wird? Hat es mit Intervallen, Akkorden, Modu- lationen, mit rhythmischer Gliederung etwas zu tun? Dies scheint mir ausgeschlossen. Uber die wirkliche Qualitat seiner Gefiihlsempfindung liegen beweiskraftige Beobachtungen bis- her nicht vor.

Untersuchen wir die Tongebung der Tiere selbst, so finden sich deutliche Intervalle im allgemeinen nur bei den Vogeln, wahrend bei dem Geschrei der Saugetiere die ein- zelnen Tone sich gewohnlich nicht hinreichend scharf von- einander unterscheiden und ihre Hohe nicht so genau beibehalten.

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Allerdings singt bei Athanasius Kircher ein anierikanischcs Faultier die Cdur-Leiter von c bis a und zuruck, und einmal soil, wie seit Waterhouse und Darwin immer wieder ernsthaft versichert wird, ein Gibbonaffe sogar eine ganze chroma- tische Tonleiter auf und ab exakt gesungen haben, was fur einen gebildeten menschlichen Sanger schon zu den schwereren Aufgaben gehort. Ja ein Pferd hatte diese Aufgabe durch sein Wiehern und eine Kuh durch ihr Bruilen gelost, wenn wir den Noten glauben wollen, die ein amerikanischer Beobachter aufgeschrieben:

Pferd.

Kuh.

'^

m

i^^^rjrt=f^^

t^^

(A. P. Camden Pratt bei Th. Wilson, Praehistoric Art, Institution, Ann. Rep. 1896 [Washington 1898], p. 516.)

Smithsonian

Auf diese Weise kann man freilich alles in Noten setzen, auch das I-A des Esels, das Sausen des Sturmes und das Knarren der Stiefel. Aber mit solchen Kindereien sollte man wissenschaftliche Biicher nicht verunzieren. DaB die Stimm- bewegung des wiehernden Pferdes von oben nach unten verlauft, wird wohl richtig sein und mit denselben physio- logischen Bedingungen zusammenhangen, die auch den Juchzer und so viele primitive Melodien (s. unsere Beispiele) hoch beginnen und tief endigen lassen. Aber eine so schone chro- matische Leiter nein!

Besser lassen sich gewisse Vogelweisen aufschreiben. Neben ganz wildem Zwitschern und Schreien finden wir da auch Motive, die uns einen unleugbar melodischen Eindruck machen, melodischer als manche Sangesweisen der Natur- volker. Das Krahen des Hahnes, der Kuckucksruf sind leicht notierbar (obschon verschiedene Individuen verschieden in-

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tonieren). Gelegentlich hort man auch so gut wie reine Drei- klange, besondersin aufsteigender Folge derTone. Dr. Sapper will in den Urwaldern Guatemalas unter 87 Vogelweisen 30 beobachtet haben, die sich nur in Dreiklangstonen bewegen, und bringt damit das Vorkommen zahlreicher Dreiklangsmelo- dien bei den Indianern (s. Melodienbeispiele) in Verbindung. Immerhin ist auch bei Vogeln von phantasievoUen Noten- schreibern viel gesundigt worden. So glaubt z. B. der Ame- rikaner Xenos Clark (The American Naturalist XIII, 1879, p. 20) folgende Cdur-Leiter mit Ganz- und Halbtonstufen bei einem Laubsanger zu finden:

Sva—

fe=£=M-P ^' J^^^

Ich habe in Feld und Wald viele Vogelweisen notiert, aber eine solche tadellose Dur-Leiter niemals vernommen. Sie diirfte den Vogeln selbst im Lande der unbegrenzten Moglichkeiten unmoglich sein. Man mu6 nur wissen, welche Summe geistiger Arbeit und geschichtlicher Entwicklung in einer diatonischen Leiter steckt. In einem anderen Falle macht bei Clark ein in Cmoll singender Waldsperling (Nr. 25) sogar enharmonische Unterschiede zwischen dis und es. Die Naivitat, mit der hier die drei b-Zeichen vorgeschrieben sind, obgleich die Tone b und as gar nicht vorkommen, beweist auch wieder, da6 der Autor den guten Spatzen einfach unser TonartenbewuBtsein geliehen hat. Ebenso sind bei Nr. 14 drei Kreuze vorgezeichnet, obschon der Gesang nur aus dem einzigen Tone ais besteht, usf. Man mochte sich wundern, warum Vogel, die es so weit gebracht haben, nun nicht auch einmal Duette und Terzette singen, mindestens in Oktaven- oder Quintenparallelen, wie es die Naturvolker tun. Der These, die Clark aus seinen Aufschreibungen ableitet und die auch sonst oft ausgesprochen wird: da6 harmonische Intervalle im Vogelgesange vorwiegen, wird man vorlaufig schon darum miBtrauisch gegeniiberstehen miissen, well wir infolge der Ge- wohnung an unsere Intervalle und der VorHebe fiir sie geneigt sind, solche in das Gehorte hineinzulegen.

Noch weniger darf man selbstverstandlich daran denken, einen SchluB auf die Gefuhle zu ziehen, die die kleinen

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Musikanten damit ausdriicken wollen. Wundt, der, auch hier von erstaunlicher Glaubigkeit, Clarks Noten ohne weiteres als kanonische Vogelmusik hinnimmt, meint daraus tatsachlich auch noch die Gefiihle dieser Tierchen heraushoren zu konnen (Volker- psychologie I, 1'^ 261). Ja er entdeckt darin sogar die drei „Dimensionen" des Fiiiilens, die in seiner von den Menschen so bestrittenen Theorie unterschieden werden:

Freude

^rsr^^^

Niedergeschlagenheit :

tr. tr. tr.

t' 1^' 1^'

Da6 ein Vogel freudig, niedergeschlagen, heftig erregt sein kann, mag man glaublich finden. Nur warum er just z. B. bei der zweiten Melodie niedergeschlagen sein mu6, und nicht vielmehr bei jeder von den dreien jedes der drei Gefiihle und noch verschiedene andere haben kann, ist ab- solut nicht einzusehen. Nicht einmal beim Menschen. wenn einer diesc Tone pfeift, singt oder spielt, waren sie im ge- ringsten eindeutig darin ausgesprochen. Beim Vogel, dessen ganzes Seelenleben dem unsrigen so feme stehen diirfte wie seine korperliche Organisation, ist die Deutung im vollsten Sinn aus der Luft gegriffen. Wir diirfen unsere Melodiegefuhle,

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selbst wennsieganz bestimmte waren, dem Vogelherzen eben- sowenig ohne weiteres zuschreiben, wie man etwa den Ein- druck, den wir von einer Kuh odereiner Wiese haben, demjenigen gleichsetzen darf, den der Ochse davon hat.

Mit alledem brauchen wir uns die Freude an unseren lieben Waldmusikanten nicht verderben zu lassen. Es handelt sich nur um die Scheidung der Wissenschaft von willkiirlichen Zutaten. Die neuere Tierpsychologie ist darin strenger als die alte. Aber im Leben soil der Phantasie und der un- willkiirlichen „Einfuhlung" ihr Recht nicht genommen werden. Es gibt auBer den theoretisch und praktisch nutzlosen No- tierungen Clarks und anderer auch Notierungen mit nur prak- tischen Zielen, namlich zum Erkennen und Unterscheiden der Vogelarten: und dafiir konnen sie wirklich niitzen. Be- sonders mochte ich als ausgezeichneten Fiihrer das „Exkur- sionsbuch zum Studium der Vogelstimmen" von A, Voigt empfehlen. Es sind da auBer den Noten noch eine Menge an- derer anschaulicher Zeichen benutzt, da sich eben viele Weisen nicht Oder nicht hinreichend in Noten wiedergeben lassen.

Wahrend der Drucklegung dieser Anmerkungen hat v. Hornbostel aus AnlaB eines Buches von B. Hoffmann (Kunst und Vogelgesang 1908), worin reiches Material wieder in unkritisch-iiberschwanglicher Weise verwertet wird, eine Studie iiber den Vogelgesang veroffentlicht, auf die ich zur weiteren Orientierung hinweisen mochte (Musikpsychologische Bemerkungen iiber Vogelsang. Ztschr. d. Internat. Musik- gesellsch. XII, 1911, S. 227ff.). In Hinsicht derTranspositions- frage tragt er jedoch Bedenken, mir beizustimmen, indem er u. a. auf einen von Hoffmann erwahnten Fall hinweist, wo ein Griinspecht seinen Ruf zuerst zwischen c^ und a- sang, dann aber nach und nach in derTonhohe sinken lieB, so daB er zuletzt zwischen a- und fis^ zu liegen kam. v. Hornbostel findet daher den wesentlichen Unterschied zwischen Vogel- und Menschenmusik nicht so sehr in der Transpositionsfahig- keit als in der Verwendung von Motiven zu melodischen Formen. Es kommt nun hierbei ganz darauf an, was man unter Transposition versteht. Wenn die koordinierten Muskel- kontraktionen, deren Folge die Gesangmelodie ist, schwacher und schwacher werden, muB die Tonhohe des Ganzen sinken.

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Aber eine Transposition wurde ich dies nicht nennen, auch wenn die Veranderung noch groBer ware, sondern wiirde nur dann von einer solchen sprechen, wenn der Sanger sich einer vorgegebenen (oder von ihm selbst vorgestellten) Tonhohe akkommodiert, wie es die Naturvolker gegeniiber dem Stimm- pfeifchen tun, wenn er also bestimmte Verhaltnisse auf andere als die gewohnten Toniiohen ubertragt. Allerdings waren noch ausgedehntere Versuche erforderlich, um nachzuweisen, da6 eine solche Akkommodation an vorgegebene Tonhohen den Vogeln unmoglicli sei. (Die im Text erwahnten Beob- achtungen O. Abrahams finden sich in seiner Abhandlung: Das absolute TonbewuBtsein. Sammelbande d. Internat. Musik- gesellsch. Ill, S. 69.) Aber fiir sehr unwahrscheinlich mu6 ich einen Erfolg im positiven Sinne schon nach den bisherigen Erfahrungen halten.

Ich stimme v. Hornbostel darin bei, daB das Vorhandensein bestimmter Formen den menschlichen Gesang charakterisiert, daB es sogar das wesentlichere, tiefer dringende Merkmal ist, aber es diirfte mit der Transpositionsfahigkeit Hand in Hand gehen, da das Erfassen von Verhaltnissen als solchen fiir beide Leistungen Bedingung ist. Jedenfalls wird es nicht so leicht zu definieren und nicht so leicht auf Beobachtung und Experiment anzuwenden sein. Darum meine ich, daB die Frage nach den musikalischen Fahigkeiten derTiere sich doch zunachst auf die Transpositionsfahigkeit im obigen Sinne zu richten habe.

4 (S. 12) Louis Laloy, La musique chinoise (1910), p. 55, 120. Nach Laloy wiirde sich die chinesische Melodieauffassung von der unsrigen dadurch unterschelden, daB dort eine Folge be- stimmter absoluter Tonhohen, deren jede eine feststehende Bedeutung hat, die Melodie ausmacht, wahrend bei uns die Funktion der Tone in der beliebig transponierbaren Leiter entscheidend ist. Diese Sache bediirfte aber einer genaueren Untersuchung.

5 (S. 13) Selbst A. Weismann geht in dem oben (Anm. 3) erwahnten Artikel daruber hinweg. Sein Grundgedanke, daB der Mensch sein feines und hochentwickeltes Gehor durch Selektionsprozesse erhalten habe, weil es ihm im Kampf ums Dasein notwendig war, und daB dieses Gehororgan sich bei

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uns zufallig auch zum Musikhoren verwenden lasse, mag eine Wahrheit einschlieBen: aber da6 das Vermogen, die Intervalle als solche wahrzunehmen und wiederzuerkennen, jm Gehororgan, in der Schnecke des Ohres, wurzle (S. 68), scheint mir auBerst bestreitbar. Diese Fahigkeit kann meines Erachtens nur cerebral bedingt sein, wie die gesamte hohere psychische Leistungsfahigkeit des Menschen. Auch die Unter- schiede der Musikalischen und Unmusikalischen unter den Menschen (S. 70) diirften zum geringsten Teil im Gehororgan selbst liegen. Die Unterschiedsempfindlichkeit scheint bei Unmusikalischen nicht notwendig geringer zu sein.

6 (S. 14) Man pflegt als Urheber dieser Idee Lukrez zu zitieren, De rerum natura V, 378:

At liquidas avium voces imitarier ore Ante fuit multo quam laevia carmina cantu Concelebrare homines possent aureisque juvare. Aber Kollege H. Diels v^eist mich darauf hin, da6 Lukrez den Gedanken durch Vermittlung Epikurs von Demokrit haben wird, der fr. 154 (Diels, Fragmente der Vorsokratiker I- 462, 15) sagt: „Die Menschen sind in den wichtigsten Dingen Schiller der Tiere geworden, der Spinne im Weben und Stopfen, der Schwalbe im Bauen, der Singvogel, des Schwans und der Nachtigall im Gesang, indem sie ihre Kunst nachahmen."

Da6 auBer dem bloBen Nachahmungstrieb auch prak- tische Zwecke zum Nachahmen der Vogel- und Tier- stimmen treiben konnen, sehen vj'ir, wie W. Pastor richtig bemerkt, heute noch bei den Jagern. Auch mochte in der Urzeit Aberglaube mitwirken: der Glaube an die Warme und Regen bringende Kraft singender Tiere (K. Th. PreuB), deren Slimme darum nachgeahmt v^urde.

7 (S. 16) E. W. Scripture, Researches in Experimental Phonetics. The Study of Speech Curves. Publ. by the Car- negie Institution. 1906. p. 63. Scripture hat auf eine ingeniose Weise die v^inzigen Grammophonkurven so vergroBert, daB siemessendenVergleichungenundAnalysenzuganglichwerden. Die umfangreiche Einrichtung war dank der Gefalligkeit des Urhebers einen Winter hindurch im Berliner Psychologischen Institut aufgestellt, wodurch die in der folgenden Anmerkung erwahnte Untersuchung moglich wurde. Freilich garantiert

ai- der Obertragungsmechanismus nicht in jeder Hinsicht eine genaue Wiedergabe. Aber die Veranderungen der Wellenlange sind genau genug aus den vergroBerten Kurven zu entneh- men. Die im Text angefuhrten Kurven sind enstanden, indem eine groBe Anzahl aufeinanderfolgender Wellenlangen gemes- sen, daraus die zugehorigen Tonhohen (Schwingungszahlen) berechnet und dann die Tonhohen als Ordinaten aufgetragen sind.

Andere Mittel zur objektiven Darsteliung der Sprach- melodie sind der von F. Krueger verbesserte Rousselotsche „Kehltonschreiber" (vgl. Bericht tiber den 2. KongreB fiir experimentelle Psychologic, 1905, S. 115) und die Marbesche „Ru6methode", wobei eine ruBende Flamme ihre Mitbewe- gungen aufschreibt (Zeitsch. f. Psychol. Bd. 49, S. 206 ff).

Die Schwankungen beim gewohnlichen Sprechen umfassen wohl bei den meisten Kulturnationen mindestens eine Oktave Oder Duodezime. Doch scheint der Umfang in gewissen Fallen viel geringer, auch abgesehen von der beabsichtigten Mono- tonie, deren wir im Text Erwahnung tun. Scripture fand bei seinem eigenen Sprechen des Vaterunser, daB die Stimme sich fast nur auf den Tonen gis, a, ais bewegte (Ztschr. „Die neu- eren Sprachen" 1903, S. Iff.). Der tiefe monotone Vortrag des Vaterunser ist aber, wie er selbst bemerkt, ein besonderer Fall, Scriptures gewohnlicher Sprechton bewegt sich in viel weiteren Grenzen. Sehr auffallend ist der geringe Umfang bei F. Saran, der (allerdings nach dem bloBen Gehor) seine Sprachmelodie bei der Deklamation eines langen Gedichts fast durchweg zwischen cis und dis unterbringt (Melodie und Rhythmik der Zueignung Goethes 1903. Deutsche Verslehre 1907, S. 216 ff.). Unstreitig gibt es in dieser Hinsicht indi- viduelle Eigentumlichkeiten. Aber an einen so winzigen habituellen Tonumfang mochte ich doch erst glauben, wenn er durch objektive Methoden erhartet ist.

8 (S. 16) W. Effenberger, Uber den Satzakzent im Eng- lischen I. Teil. Berliner Dissertation 1908. Das Ganze ist noch nicht erschienen, die im Text abgebildeten Kurven sind mir vom Verfasser zur Verfiigung gestellt.

9 (S. 17) Auch diesen Hinweis verdanke ich meinem Kollegen H. Diels.

Stumpf, Anfange der Masik 6

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10 (S. 18) E. W. Scripture, How the Voice looks. Century Magazine, Febr. 1902. p. 150.

11 (S. 19) Vgl. m. Tonpsychologie I, 164 (Klunders Mes- sungen). Die schon erwahnte Arbeit Dr. Abrahams wird Na- heres hieriiber bringen.

12 (S. 19) Namentlich am Anfang und am Ende von Ge- sangen findet man bei den Naturvolkern haufig eine schlei- fende Bewegung, speziell Abwartsbewegung der Stimme. Doch kommen auch im Verlaufe solche mit groBer Raschheit aus- gefiihrte Bewegungen zu Beginn oder SchluB einer Note vor. Sie sind schon in alteren Aufzeichnungen angegeben; z. B. im 1. und 3. der von G. Grey, Polynesian Mythology 1855, wieder- gegebenen neuseelandischen Lieder, die sich sonst kaum von der Stelle bewegen (Grey meinte Vierteltonstufen zu zu horen), vom letzten Ton aber um eine ganze Oktave ab- warts schleifen. Beim 1. Lied bedeutet die hingeschriebene Tonleiter sicher auch eine gleitende Bewegung. Ferner vgl. meine oben in Anmerkung 1 zitierten Bellakula-Lieder S. 415 (I und II), S. 421, 423 (Umfang der Schleif bewegung eine Ok- tave Oder Quinte); sowie Bakers Indianerlieder 1. c. S. 17. Haufige Beispiele bieten die phonographischen Aufnahmen; einige siehe in unseren Melodieproben. Unter den uns von dem Museumsdirektor Dr. Dorsey (Chicago) iibersandten, noch nicht bearbeiteten Pawnee-Gesangen ist ein Doktorgesang, der mit einer mehrmals wiederholten stetigen Tonbewegung von oben nach unten anhebt, deren Anfangs- und SchluBpunkt nicht leicht bestimmbar ist. Sie hat fur unsere Auffassung etwas unheimlich Drohendes.

Ein interessantes Seitenstuck bildet ein sehr alter Appen- zeller „Lockler" (Lockruf beim Eintreiben der Kiihe), der ge- rade so schlieBt wie Greys neuseelandische Lieder:

Portamento

'^^^^^^^^

Lo - be - la .^ j^

(Alfred Tobler, Kiihreihen usw. in Appenzell, 1890, S. 9. Derselbe, Das Volkslied im Appenzellerlande, 1903, S. 119 f.)

Aber auch im heutigen Italien kann man bei VolkssSngern oft ein liber den Zwischenraum einer groBen Terz sicli

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erstreckendes Portamento horen. So vernahm ich in Venedig folgenden immerfort wiederholten Gesang, worin zum SchluB die Stimme regelmafiig vom e zum c stetig herunterging:

^^jnri-^W=3t^^=^^^^

In unserer Kunstmusik ist diese Vortragsweise fiir den guten Geschmack nur in sehr geringem Umfange und aus- nahmsweise gestattet (so gelegentlich vom Leitton zur To- nika), im allgemeinen aber mit Recht ausgeschlossen, weil sie den Unterschied gegeniiber der Sprache, aber auch gegen- iiber dem elementaren Heulen und anderen kunstlosen Affekt- vertonungen verwischt. Ahnliches gilt von sonstigen primi- tiven Vortragsmanieren, wie dem Knurren oder Summen durch SchlieBen der Zahne bei Indianern, das z. B. in einem Skalp- tanz der Dakota vorkommt und, verbunden mit schleifendem Toniibergang, „wirklich schaudererregend wirken kann" (Baker, S. 17).

13 (S. 20) Der Ethnologe Prof. Pater Schmidt nimmt in einem Artikel, auf den mich nach der Veroffentlichung des dieser Schrift zugrunde liegenden Vortrages Herr v. Hornbostel aufmerksam machte, gleichfalls gegen die Herleitung der Musik aus der Sprache Stellung, wobei er auf die stetigen Uber- gange des Sprachtons hinweist (Uber Wundts Volkerpsycho- logie. Mitteilungen deranthropologischen GesellschaftinWien, Bd. 33, S. 365 f.). Er erklart gleichwohl eine musikalische Wiedergabe des gewohnlichen Sprechtons fiir notwendig und stelit Wundtschen Notierungen andere gegeniiber, die ihm richtiger scheinen. Indessen gibt es hier iiberhaupt keine all- gemeinen und genauen Regeln (vgl. die Ausfiihrungen der in Anm. 2 erwahnten Abhandlung S. 278 ff.). Es kommt ja auch sehr auf den Dialekt an. Da6 besonders viele Sprachnotie- rungen aus sachsischem Milieu kommen, ist bezeichnend. Ich glaube sogar, da6 bei Richard Wagner, der (ein Anhanger der Sprachtheorie) den Tonfall der Sprache in seinen Rezi- tativen nachzuahmen suchte, sich Anklange seines sachsischen Sprechens in den Tonwendungen deutlich bemerkbar machen.

Positiv leitet P. Schmidt die Musik, statt aus dem leiden- schaftlichen Sprechen, aus dem leidenschaftslosen aber lauten

6*

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Rufen her, besonders aus den Signalrufen, wie man sie noch heutzutage etwa von Verkaufern in den StraBen hort. Zumal wenn viele Personen zusammen irgend etwas laut sprechen, z. B. gemeinsam beten, stellten sich musikalische Intervalle ein. In der Tat verdienen die musikalischen Wendungen in solchen Fallen eine statistische Zusammenstellung und eine kausale Betrachtung. Was indessen heute dabei zutage kommt, steht schon unter dem EinfluB unserer Musik und kann nicht die erste Entstehung von f esten Intervallen uberhaupt begreiflich machen ; vielmehr miissen wir umgekehrt die musikalischen Qualitaten dieser Rufe aus denen der bereits vorhandenen Intervalle zu verstehen suchen (in welcher Hinsicht ich z. B. in der er- wahnten Abhandlung S. 283 f. die weitverbreitete Bevorzugung der kleinen Terz beim Rufen aus einem Zusammenwirken physiologischer Faktoren mit musikalischen Gewohnheiten abzuleiten suchte).

Richtig erscheint mir aber der allgemeine Gedanke P. Schmidts, da6 das Rufen, und zumal das gemeinschaftliche einer der Ausgangspunkte der Musik war und speziell zur Entdeckung der konsonanten Intervalle hingefiihrt hat. Was dabei den Ausschlag gab, werden wir im Text erlautern. Ich hebe gern dieses Zusammentreffen in einer wichtigen An- schauung hervor.

14 (S. 27) Mit der Entwicklung des Gehirns haben sich natiirlich auch diese Eigenschaften derTonempfindungen, bzw. der zugrundeliegenden Gehirnprozesse, allmahlich heraus- gebildet. Eine Hypothese iiber die dabei beteiligten Faktoren (die relative Haufigkeit, mit der ein Intervall unter den Ober- tonen vorkommt, auch die kleineren Verhaltniszahlen der Dif- ferenztone gegeniiber Primartonen) versuchte ich Tonpsycho- logie II, 215 f. aufzustellen. Auf das gleichzeitige Ausrufen von Signalen durch Manner und Weiber ist auch schon in diesem Zusammenhange hingewiesen; ebenso in „Konsonanz und Dissonanz", Beitr. z. Akustik und Musikwiss. I, 62. Aber in der Tonpsychologie legte ich die Meinung zugrunde, da6 in den Uranfangen des Menschengeschlechts dieVerschmelzungs- unterschiede doch noch nicht vollstandig ausgebildet gewesen seien, was ich jetzt nicht mehr fUr wahrscheinlich halte. Die Untersuchung der Sinnesempfindungen bei den heutigen

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Naturvolkern hat immer mehr gezeigt, daB wesentliche Unter- schiede gegeniiber den unsrigen nicht vorhanden sind. Fast alles reduziert sich auf Unterschiede der Auffassungsfahigkeit und Auffassungsrichtung. Vgl. v. Hornbostel, Ph.-A. Nr. 23.

15 (S. 28) Tonpsychologie II, 145, 148. Beitr. z. Akustik u. Musikwiss. II, 20.

16 (S. 31) Es ist noch strittig, ob der Begriff der Ton- verwandtschaft auch auf einfache Tone ausgedehnt werden darf. Trotz gewisser Schwierigkeiten, die ich (Tonps. II, 198 ff., Beitr. I, 45 ff.) hervorgehoben, glaubt Ch. Lalo (Esquisse d'une esthetique musicale, 1908, p. 146 ff.) diese Lehre vertreten zu miissen. Auch v. Hornbostel neigt dazu (Ph.-A. Nr. 23). Die Annahme wurde unstreitig das Verstandnis fur die Entwick- lung einer rein melodischen Musik erleichtern. Aber da die Stimme und die Instrumente (auch die Floten) tatsachlich Obertone besitzen, konnten wir fiir diesen Zweck auch mit der Verwandtschaft der Klange im Helmholtzischen Sinn aus- kommen.

Vielleicht ware auch zu erwagen, ob nicht statt der Ver- wandtschaft eine Art „Koharenz" (nach dem Ausdruck G. E. Miillers) Oder „Attraktion" (Oilman, Hopi Songs p. 15) zwischen aufeinanderfolgenden einfachen Tonen mitspielen konnte. Das bestandige Zusammenvorkommen der konsonanten TeiUone in den Klangen der Stimme sowie der Instrumente konnte. sogar rein physiologisch, den Fortgang von dem einen zum anderen begunstigen. Wir miissen die Frage hier dahingestellt sein lassen.

17 (S. 31) Die Herren Abraham und v. Hornbostel haben in den letzten Jahren langere Versuchsreihen iiber sog. Distanz- urteile bei Tonen gemacht, d.h. iiber das Problem, welche Ton- abstande als gleich beurteilt werden, wenn man die Gewohnung an unsere Intervaiie moglichst beiseite setzt oder durch die Versuchsumstande unschadlich macht. Sie fanden dabei, daB es tatsachlich moglich ist, kleine Tonabstande mit einer ge- wissen Sicherheit bei verschiedenen absoluten Tonhohen ein- ander gleichzuschatzen; und zwar weisen die so als gleich beurteilten Abstande die gleichen Verhaltnisse der Schwin- gungszahlen auf, nicht etwa die gleichen Differenzen. Die- selbe Annahme hatten friiher E. H. Weber und Fechner

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gemacht, nicht minder Wundt („da6 wir in der Empfindung ein MaB fiir qualitative Abstufungen der Tone besitzen und daB dieses Ma6 dem Weberschen Gesetze folge", Physiol. Psychologie- I. 394). Wundt hat sie spater auf Grund falsch gedeuteter Versuchsergebnisse eines seiner Schiiler durch die Annahme ersetzt, da6 wir gleiche Abstande da finden, wo gleiche Differenzen der Schwingungszahlen gegeben sind; was zu ganz unmoglichen Konsequenzen fuhrt. Die urspriing- liche Annahme stimmt auch iiberein mit der weiter unten noch zu besprechenden Tatsache des Vorkommens ganzer Tonleitern, bei denen alle benachbarten Stufen voneinander um ein und dasselbe gleichbleibende Schwingungsverhaltnis ab- stehen.

Aus diesen Griinden halte ich es fiir durchaus moglich und wahrscheinlich, daB man durch bloBe „Distanzschatzungen" auf gewisse transponierbare kleine Tonschritte gekommen sei. Nur die Entstehung fester, durch ein besonderes Merkmal ausgezeichneter Schritte, die Absonderung der konsonanten Intervalle Oktave, Quinte, Quarte wiirden auf diesem Wege nicht begreiflich sein.

18 (S. 35) Ph.-A. Nr. 16, S. 248 ff. Der SchluB auf kausalen Zusammenhang wird fast unabweisbar in Fallen, wo an In- strumenten mit zahlreichen Tonen sich genaue Ubereinstim- mungen der absoluten Tonhohen (Schwingungszahlen) zeigen. So stimmen nach v. Hornbostels Messungen melanesiche Pan- pfeifen (aus Neu-Mecklenburg) mit javanischen Instrumenten ganz auffallend in der absoluten Tonhohe der einzelnen Tone iiberein (Ph.-A. Nr. 12, S. 132 ff.), ferner Blasinstrumente der Indianer in Nordwestbrasilien mit ausgegrabenen altperuani- schen Pfeifen (Ph.-A. Nr. 22, S. 388 ff.).

19 (S. 37) Panpfeifen, die nach diesem Prinzip zusammen- gestellt werden, fand A. Fric bei brasilianischen Indianern (nach V. Hornbostel, Ztschr. d. Internat. Musikges. X, S. 4).

20 (S. 38) Solche Doppelpanpfeifen von Indianern in Peru hat V. Hornbostel untersucht und dabei eine interessante (noch unveroffentlichte) Tatsache beobachtet. Die offenen Pfeifen sind namlich alle am Ende etwas ausgekerbt, offenbar zu Ab- stimmungszwecken. Offene Pfeifen geben nicht genau die reine Oktave der gleichlangen gedackten, sondern eine etwas

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vertiefte. Dies hat man bemerkt und darum die Schnitte an- gebracht, um die reine Oktave zu erhalten, Ein schoner Be- weis fiir die Kraft des fortschreitenden Gehors. Auch wenn man etwa annehmen wollte, da6 das Oktavintervall iiberhaupt erst durch den Tonunterschied einer offenen und einer gleich- langen gedackteii Pfeife gefunden sei, muBte man doch zu- geben, da6 das Gehor dann sich zum Richter aufgeschwungen und das von der Natur gegebene Intervall nach seinen For- derungen umgestaltet habe.

Dies ist um so bemerkenswerter, als dieselbe Erscheinung sich nicht blo6 an modern-indianischen sondern auch an aus- gegrabenen Pfeifen aus der altperuanischen Zeit findet.

21 (S. 39) Die Herleitung der konsonanten Intervalle aus den ersten Obertonen findet man oft ausgesprochen, z. B. bei Tylor (Anthropology), bei Wallaschek (AnfangederTonkunst); wie ja seit Helmholtz die Obertone Heifer in alien Noten sein miissen. (Mir selbst allerdings hat W. Pastor, Geburt der Musik, S. 52, diese Ansicht ganz mit Unrecht zugeschrieben.) Aber abgesehen von der im Text erwahnten Schwierigkeit spricht auch sonst vieles gegen die Annahme, daB Uberblasungstone die einzige oder die Hauptquelle gewesen waren. Oft sind z. B. die hoheren, zum Teil disharmonischen Teiltone leichter herauszubringen wie der Grundton.

Damit will ich aber nicht sagen, daB die Oberblasungs- tone einfluBlos gewesen waren. DaB das Gehor der Natur- volker sich gelegentlich sogar den Verstimmungen dieser Tone anbequemt, geht wieder aus der Untersuchung einer brasi- lianischen Panpfeife durch v. Hornbostel hervor (Ph.-A. Nr. 22.) Ein aus 11 Pfeifen bestehendes Instrument, dessen Zu- sammensetzung zuerst ganz unverstandlich schien, ist allem Anscheine nach dadurch entstanden, daB man von einer Pfeife ausgehend eine andere so schnitzte, daB ihr 3. Teil- ton mit dem Grundton der ersten eine Doppeloktave bildete. Man erhielt so eine (etwas zu groBe) Quarte. Nach dem gleichen Prinzip ging man von der zweiten zu einer dritten Pfeife usf. Dabei findet sich aber zugleich der 5. Teilton der ersten Pfeife gleich dem Grundton der siebenten, was akustisch nur darum moglich ist, weil die Obertone alle ein wenig zu tief sind. Dann wurde in das so entstandene Pfeifensystem ein

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zweites, in derselben Weise gebildetes eingeschaltet, dessen Tone aber immer zwischen je zweien des ersten in der Mitte liegen; jedenfalls darum, weil der Tonschritt einer Quarte fiir den melodischen Gebrauch zu groB erschien. In einer ahn- lichen Weise ist das Obertonprinzip auch bei einem andern Exemplar verwendet.

An diesem Falle sieht man, daB allerdings eine Benutzung der Oberblasungstone vorkommt, daB man aber durch das bloBe mechanische Obertragungsverfahren, die Verfertigung neuer Pfeifen in Ubereinstimmung mit den Oberblasungstonen der ersten, nicht zu den reinen Intervallen, nicht einmal zu reinen Oktaven, Quinten, Quarten gefuhrt wurde.

DaB wir den 7., 11., 13. Teilton nicht benutzen (Debussys Sechsstufenleiter darauf zuruckzufuhren, ware ganz verkehrt), ist ja auch schon ein Beweis, daB die Obertone als solche fiir unser Gehor nicht das Ausschlaggebende sind. Jene Teii- tone horen wir gelegentlich bei Oberblasungen, aber sie im- ponieren uns nicht, auBer den Schwarmern, die Naturprodukte als solche anbeten: wir konnen sie im Zusammenhang un- seres auf gutem Grund aufgebauten Tonsystems nicht brauchen. In urwiichsigeren Musikzustanden dagegen findet man tat- sachlich auch jetzt noch den 7. und 11. Teilton im Gebrauch. So bei den „Kiihreien" in der Schweiz, wo sie zweifellos auf den EinfluB des Alphorns zuriickzufUhren sind. Sie wan- derten von diesem Instrument auf den Gesang hiniiber, ohne durch das Ohr korrigiert zu werden. Der Senn, der solche Jodler mit der iibermaBigen Quarte (11. Teilton) bei der Stall- arbeit singt, nennt sie „Chiiadreckeler" und findet den leiter- fremdenTon angenehm, vielleicht auch mehr charakteristisch fiir das Geschaft.

Auf dem Alphorn selber wurde z. B. Anfang des vorigen Jahrhunderts folgende Weise geblasen (nach WyB, Sammlung von Schweizer Kiihreien, 3, Ausgabe, 1818, bei Alfred Tobler, Kuhreien, 1890, S. 46):

fP#£^=gg^^g^fe^fe^

Die alteste Notierung eines Kiihreiens findet sich in Rhaws Bicinia 1545 (die untere Stimme hat die Melodic). Man

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erkennt in der Weise deutlich das Alphorn-Vorbild, vgl. die Stelle:

Aber die erhohte Quarte ist hier in die reine umkorrigiert. Ein 1710 notierter Kuhreien dagegen weist an verschiedenen Stellen ausdrucklich die erhohte Quarte auf. (S. daruber A. Gluck, Vierteljahrschr. f. Musikwiss. VIII, 77 ff.) Wie ich bei Berlepsch (Die Alpen 1861, S. 360) lese, wurden die gesungenen Kuhreien fruher mit dem Alphorn begleitet. Dadurch ist die erhohte Quarte auch in den unbegleiteten Gesang ubergegangen. In den ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts soil sie noch viel haufiger gebraucht worden sein (Szadrowsky im Jahrbuch des Schweizer Alpenklubs 1868, S. 283).

AIs eine aus derselben Wurzel entstandene Gesangs- melodie (unter vielen anderen) setzen wir die alteste Auf- zeichnung eines Appenzeller Alpengesanges hierher (nach Ebel, Schilderung der Gebirgsvolker der Schweiz 1798, bei Tobler a. a. 0. S. 57):

m^^

'I^i

a^j ^Tx3=N^a^^Ey^-^

^fJPJ] J ^^'^ |^3^^=?^^tT^^^^^

Auch in einem der alten „Alpensegen", wie sie heute noch in der Urschweiz gesungen werden, ist die ubermaBige Quart erhaiten. S. die Notierung des Alpensegens aus der Melch- thaler Frutt (wo ich ihn auch selbst horte) bei A. Schering, Sammelbande d. Intern. Musikges. II, 669. Er beginnt:

wobei nicht b sondern ganz bestimmt h intoniert wird.

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Aus der heutigen Steiermark hat Dr. Pommer in seiner Sammlung ,,444 Jodler und Juchezer aus Steiermark" u. a. folgendes Beispiel gegeben, das jedesmal in genau gleicher Intonation gesungen wurde (vgl. Bericht iiber den III. KongreB der Internat. Musikges. 1909, S. 251):

p^^^#^^^^g

Ju - hu hu-hu-hu-hu!

In einem Falle hat dieses Alphorn-fis seinen Weg auch zu den tiefsten Wirkungen der Kunstmusik gefunden: wenigstens halte ich es fur sehr wahrscheinlich, da6 die wie eine Sieges- und Heilsverkiindigung aus Bergeshohe tonende Hornweise im letzten Satze von Brahms C-Moll-Symphonie, die dann von der Flote antwortend aufgenommen wird,

Horn.

i

^-f^rl _ LB

s

£

Flote.

i^.

m

^

^

usw.

r

unter der Nachwirkung solcher Schweizer Tone entstanden ist. In humoristischer Absicht hat aber bereits der 12jahrige Mozart in „Bastien und Bastienne" (in dem kleinen Dudel- sacksatz, mit dem Colas auftritt) und hat auch Mendelssohn in der klaglichen Trauermusik auf Pyramus' Tod diesen Ober- blasungston, der bei ungeschickten Blasern ungewollt da- zwischenkommt, verwendet. Also gelegentliche Einfliisse auch von unharmonischen Oberblasungstonen auf unsere Kunst- musik sind moglich, aber eine systematische Verwendung nicht.

Die erhohte Quarte der sog. Zigeunerleiter, orientalischer Melodien oder gar des 5. Kirchentons darf man aber nicht hierher ziehen, sie haben nichts mit dem 11. Oberton zu tun.

In ahnlicher Weise wie das Alphorn mogen auch die nor- dischen „Luren", uralte groBe Bronzehorner, auf denen zwolf

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und mehrObertone durch Oberblasung hervorgebracht werden konnen, auf die Entwicklung der dortigen Musik eingewirkt haben. Da fast immer zwei Luren von gleicher Abstimmung zusammen gefunden wurden, hat man vermutet, da6 auf ihnen zweistimmig geblasen wurde (Hammerich, Vierteljahrsschr. f. Musikwiss. X, 29 ff. W. Pastor in der vorher genannten Schrift S. 68ff.). Doch lassen sich auch andere Grtinde fur das Vor- kommen in Paaren denken. Hammerich, der genaueste Kenner dieser Instrumente, driickt sich dariiber sehr zuriickhaltend aus. Bei uns selbst pfiegt man ftir mehrstimmiges Blasen doch gerade Instrumente verschiedener Hohe zu nehmen. Auch die Genauigkeit, mit der die paarweise gefundenen Exem- plare gleich gestimmt sind, deutet eher darauf, da6 sie unison geblasen wurden.

22 (S. 41) Die Unterscheidung von Bias-, Saiten- und Schlaginstrumenten, wie sie im Texte steht, moge in dieser kurzen Darstellung passieren. Aber sie will nicht als er- schopfend gelten (z. B. kommen auch Rilleninstrumente vor, bei denen der Ton durch Dariiberstreichen erzeugt wird). Sie ist, wenn man's genau nimmt, auch logisch nicht einwandfrei. Man kann entweder klassifizieren nach den Einrichtungen, deren unmittelbare Folge die Luftschwingungen sind (z. B. scharfen Randern, an denen ein Luftstrom vorbeistreicht, Schwingungen von Saiten oder Membranen usf.), oder nach den Tatigkeiten, durch die wir diese Einrichtungen in Gang setzen (z. B. Schlagen oder Driicken, dann Streichen, Blasen usf.). Je nach dem Einteilungsprinzip gehoren die Orgel und das Klavier das erstemal zu verschiedenen, das zweite- mal zu derselben Klasse, die Saiteninstrumente umgekehrt das erstemal alle zu derselben, das zweitemal zu verschie- denen Klassen. Indessen auf diese logischen Verfeinerungen kommt es hier nicht an.

23 (S. 46) V. Hornbostel hat kiirzlich bei Untersuchung der von dem Forschungsreisenden Dr. Thurnwald aus den Admiralitatsinseln (Baluan) mitgebrachten Phonogramme von Tanzgesangen gefunden, da6 sie samtlich zweistimmig sind, und zwar sich wesentlich in Sekundenparallelen bewegen, ja sogar ofters am Schlusse aus dem Einklang in die Sekunde iibergehen, um mit dieser abzuschliefien (Ph.-A. Nr. 24). GewiB

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fiir unseren Geschmack das Wunderlichste von allem, was bisher gefunden wurde. Und doch auch nicht ohne Seiten- stucke in anderen Weltgegenden, selbst in Europa, auf die V. Hornbostel hinweist. Ich mochte vorlaufig die im Text angegebene Erklarung fiir die wahrscheinlichste halten. Man hort aus den Walzen die Rauhigkeit des Zusammenklanges, das Schwirren der Schwebungen deutlich heraus.

34 (S. 46) Sehr zutreffend scheint mir namentlich, was Billroth in dem lehrreichen Schriftclien „Wer ist musikalisch?" iiber die Bedeutung des Rhythmischen beigebracht hat.

25 (S. 48) Ch. S. Myers: The Rhythm-Sense of Primitive Peoples. Bericht uber den 5. Internat. PsychoIogen-KongreB in Rom 1904. A Study of Rhythm in Primitive Music. British Journal of Psychology I, 1905, p. 397. (Die Ergebnisse sind durch graphische Registrierung und durch Messungen der Zeitabstande zwischen den Akzenten beim Gongschlagen der Sarawak -Malaien auf Borneo gewonnen.) Sonstiges iiber exotische Rhythmik und rhythmische Polyphonie namentlich in Boas' Werk iiber die Kwakiutl-Indianer und bei v. Horn- bostel, Ph.-A. Nr. 14, S. 159ff., Nr. 16, S. 252 ff., Nr. 23, S. 266 ff.

26 (S. 48) AuBer den in der Musikbeilage mitgeteilten Proben rhythmischer Komplikationen moge hier noch ein Bei- spiel fiir die gleichzeitige Verbindung ungleicher Rhythmen stehen. Viele Gesange mit Paukenbegleitung bei den Kwakiutl- Indianern haben nach Fr. Boas' Beobachtung folgenden Typus:

Pauke. I^rjrjlpr^rjlprprn

Gesang. | f CJ f | f LJ f i f f f |

Jeder Part halt dabei, wie Boas versichert, seinen Rhythmus aufs genaueste inne. Bei einem von ihm notierten Liede geht die Stimme in * 4, die Pauke in ^/g, und zwar so, daB auf 3 Takte der Stimme 4 der Pauke kommen, also wieder auf je ^/s der Stimme ^/g der Pauke; wobei der Paukenrhyth- mus wieder der obige ist, der iiberhaupt besonders beliebt scheint.

27 (S. 52) Hierher wiirde das erste der von Wundt (Volker- psychologie II, 1) angegebenen Musterbeispiele gehoren. Es ist

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F. Boas' Werk iiber die Zentral-Eskimos entnommen. Aber Boas unterscheidet scharf die Eskimogesange, die sich in groBen Intervallen, zum Teil in aufgelosten Dreiklangen, ]a selbst in Oktavenschritten bewegen (s. unsere Melodiebeispiele Nr. 49 und50), und die Erzahlungen. Was er Iiierin Noten wieder- gibt, ist, wie er ausdrucklich bemerkt, der Erzahlerton, der sich auf einer konstanten Hohe halt und nur bei den akzen- tuierten Silben um einen Halbton nach oben abweicht. DaB diese Vortragsmethode und Stimmbewegung bei den Eskimos die friihere gewesen ware und also hier ein Rest ihres wirk- lich primitiven Singens vorlage, dafur existiert nicht der Schatten eines Beweises. Vgl. die folgende Anmerkung.

28 (S. 55) In dem groBen Werke von Rowbotham, History of Music, wird (I. Bd., 1885) die Urgeschichte der Musik in der Weise dargestellt, daB in einem ersten Stadium nur ein Ton, in einem zweiten zwei, in einem dritten drei Tone (immer nur um je eine Ganztonstufe verschieden) beniitzt worden waren. In einem vierten Stadium sei man dann so- gleich zu einer 5stufigen Leiter ubergegangen, wobei aber der Schritt von der Terz zur Quinte und der von der Sexte zur Oktave des Grundtons dem Urmenschen als gleichgroB mit den vorhergehenden Ganztonstufen erschienen seien.

Nun ist es natiirlich leicht, die uns vorliegenden Musik- beispiele von Naturvolkern so zu ordnen, daB man unter anderem auch diese vier Klassen erhalt. Aber es ist nicht moglich, zu beweisen, daB sie streng in dieser zeitlichen Ordnung aufeinanderfolgten. Das pathetische Deklamieren auf einem einzigen Ton oder auf nur wenigen finden wir bis in die neueste Zeit bei alien Volkern neb en reichentwickelten Melodien (ganz abgesehen von Fallen eines besonderen Raffinements, wie bei dem bekannten Eintonliede von Cornelius). Wenn auch anzunehmen ist, daB die ersten Gesange relativ eintonig waren, scheint es mir doch willkiirlich und gezwungen, absolute Eintonigkeit (und zwar seltsamerweise nach Row- botham immer auf dem Tone G) als Ausgangspunkt anzu- nehmen. AuBerdem bleibt es in Rowbothams Darstellung ganz dunkel, wie man gerade auf solche Stufen verfiel, die zueinander gefugt die Oktave ergaben, auch warum die beiden oberen Stufen den vorhergehenden gleichgeschatzt worden

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sein sollen. Es ist immer der alte Fehler: die Entstehung der konsonanten Intervalle bleibt unerklart.

Fetis, der das seinerzeit vorliegende ethnologische Ma- terial ebenso kenntnisreich wie unkritisch verwendete, hatte bereits in ahnlicher Weise, nur statt aus Ganztonstufen aus Halbton- und noch kleineren Stufen, die Leitern entstehen lassen, wobei ihm die stereotype Berufung auf „fortschrei- tende Gehirnorganisation" den Mangel psychologischer Er- klarungsmittel ersetzte. Solche Darstellungen erscheinen mir viel zu deduktiv. Die Wirklichkeit fiigt sich nicht so ein- fachen Schematismen.

29 (S. 57) Diese Leitern sind von Land, Ellis und mir (nach gemeinschaftlichen Beobachtungen mit Dr. Abraham) mit Sicherheit festgestellt worden (Ph.-A. Nr. 1). Nach einer brieflichen Mitteilung hat Myers bei den Insulanern der Torres-StraBe auch Gesange aufgenommen, die einer gleich- stufigen Leiter von 6 Stufen anzugehoren scheinen (s. unsere Me- lodiebeispiele Nr. 9 und 10). Doch stimmen die beobachteten Schwingungszahlen nicht so durchgangig und genau mit den berechneten, daB man einen sicheren SchluB darauf griinden konnte. Bei Gesangen wird man iiberhaupt niemals eine so genaue Ubereinstimmung mit irgendeinem Prinzip erhalten wie bei abgestimmten Instrumenten von der Art der siamesi- schen und javanischen Xylophone und Metallophone.

Wundt halt (Volkerpsychol. IIP, 477) die Annahme der Bildung einer solchen gleichstufigen Leiter nach dem bloBen Gehor fur „selbstverstandlich unzulassig", da sie den in seinem Institut gefiihrten Experimentaluntersuchungen wider- spreche. Die positive Erklarung scheint er in gewissen regelmaBigen Abstufungen der GroBe der Holzstabe und der Glocken zu suchen, aus denen die siamesischen Instru- mente bestehen. Wenigstens schlieBe ich dies aus dem Umstande, daB er in meinen Beschreibungen die Angabe der Dimensionen jener Instrumente vermiBt. Aber er iiber- sieht meine Bemerkung (Ph.-A. Nr. 1, S. 71, 72, 80), daB die Stabe an der unteren Seite ausgekehlt und daB iiberdies zur feineren Abstimmung Wachsklumpen angeklebt sind; ebenso im Inneren der Glocken. Infolgedessen hatte sich aus der gewis- senhaftesten Beschreibung der Dimensionen nichts entnehmen

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lassen. Ein Gang ins Leipziger Museum wUrde iibrigens geniigen, solche Ideen auszuschlieBen. Dort ist z. B. ein 22stufiges Xylophon aus Birma, dessen Stabe unten in ver- schiedenem MaBe ausgekerbt sind und auch Stellen erkennen lassen, an denen Wachsklumpchen gesessen haben mogen. (Naturlich darf man daher an soichen Instrumenten, die die Stimmung verloren haben, auch nicht, wie Wallaschek getan, Tonhohenmessungen machen.)

Nehmen wir aber einmal an, urspriinglich sei die Siamesen- leiter doch auf mechanischem Wege entstanden, indem man Stabe von ganz homogenem Material und iiberall gleicher Dicke, nur von verschiedenerLangegenommen: nachwelchem Gesetz muBlen dann die Langen abgestuft sein, um diese Leiter zu geben? Da die Schwingungszahlen je zweier be- nachbarter Tone sich hier wie 1 : \2 verhalten, und da die Langen der Stabe unter den genannten einfachsten Voraus- setzungen im umgekehrt-quadratischem Verhaltnis zu den Schwingungszahlen stehen miissen, so mu6 man, um bei ge- gebener Lange l^ eines Stabes die Lange L des nachsten Stabes zu erhalten, l^ durch \2 dividieren. Wie sollten die Siamesen das wohl ohne Logarithmentafel anfangen? Ich habe selbst (a. a. O. S. 101 f.) eine Hypothese ins Auge gefaBt, nach welcher die Siamesenleiter mechanisch durch eine eigentUmliche Saitenteilung entstanden sein konnte, habe aber auch dieses Prinzip als sehr unwahrscheinlich er- wiesen. Es wird also wohl dabei bleiben miissen, daB die siamesische und die javanische Gleichstufenleiter demGehor entsprungen sind. Wenn dies mit den Leipziger Experimental- untersuchungen nicht stimmt, so kann ich daraus nur eine neue Bestatigung der darin nachgewiesenen prinzipiellen Versuchsfehler entnehmen. (Vgl. Ztschr. f. Psychologie I, 419 ff. und oben Anm. 17.)

30 (S. 58) Ph.-A. Nr. 1, S. 96ff.

31 (S. 58) Ph.-A. Nr. 21 (Fischer).

32 (S. 59) Eine besondere Abhandlung iiber Heterophonie hat Guido Adler veroffentlicht (Jahrbuch der Musikbibliothek Peters, 1908). Da er an Helmholtz vermiBt, daB dieser nicht einmal den Namen der Heterophonie anfiihre, so scheint ihm entgangen zu sein, daB vor meiner Abhandlung iiber

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Siamesenmusik iiberhaupt niemand von Heterophonie als be- sonderer Stilform gesprochen hat. Den Ausdruck selbst ent- nahm ich einer platonischen Stelle, die bei den Philologen viele Diskussionen hervorgerufen hat und die ich bereits friiher (Geschichte des Konsonanzbegriffes 1897) durch Auslegung des Wortes „antiphon" im Sinne von „diaphon" verstand- licher gemacht zu haben glaube. Es schien mir, da6 Plato mit „Heterophonie" das gleichzeitige Umspielen einer Melo- die durch Varianten gemeint habe, wie es bei orientalischen Voikern heute vorkommt, und darum schlug ich fiir diese Art der Musikiibung den Namen Heterophonie vor. Aber natur- lich war es mir nicht urn den Namen zu tun, sondern um die Sache, d. h. um die Zusammenfassung weitverbreiteter und eigenartiger Erscheinungen unter einem besonderen, von dem der Polyphonie und Harmonie ebenso wie dem der reinen Ein- stimmigkeit unterschiedenen Begriff. Das ist, was in dieser Sache von mir herriihrt, ohne da6 ich es aber fiir eine groBe Leistung ansehen mochte. Lange vorher hatten Dr. Miiller und V. Zedtwitz chinesische und japanische, Land und Grone- man javanische Partituren veroffentlicht, aus denen der Sach- verhalt zu entnehmen war, die ich ubrigens auch bereits Ton- psychol. II (1890) S. 402 erwahnte. Daniel de Lang, der von Land-Groneman und von mir (Siamesen S. 131) zitiert wird, hatte diese Art des Musizierens auch schon ganz richtig be- schrieben. So vie! iiber das Historische.

Viel mehr aber kommt es darauf an, da6 der neue Be- griff nicht sogleich wieder seiner Eigenart entkleidet und mit anderen vermengt werde. In dieser Hinsicht mochte ich be- merken, da6 das Parallel-Organum und der Dudelsackstil, ob- gleich beide in Verbindung mitHeterophonie vorkommen konnen, doch keinesfalls selbst als Heterophonie zu fassen sind, wie es nach der Adlerschen Darstellung, wenn ich sie recht verstehe, den Anschein hat. Ferner daB die vom Ver- fasser beigebrachten Musikbeispiele nur zum kleinsten Telle wirklich heterophon sind, im iibrigen aber entweder nur Falle verschiedener Formen des beginnenden Kontrapunkts, „nota contra notam", oder, wie die Lineffschen russischen Gesange, wesentlich Beispiele einer volkstumlich-ungeschickten Har- monisierung. (Frau Lineff beschreibt sie allerdings in der

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Einleitung p. XV selbst ganz im Sinne der Heterophonie. Aber ihre Partituren lassen nur erkennen, da6 man nach har- monischer Fiihrung der Unterstimmen, besonders nachTerzen- gangen, strebt und dazwischen immer wieder in Oktaven- parallelen oder Unisono zuriickfallt. Gelegentlich treten zwar bei diesen Parallelen audi melodische Abweichungen eiri, wie in unserer Dorfmusik etwa der Klarinettist seine Seiten- spriinge macht. Aber eine als Stilprinzip durchgefiihrte Heterophonie kann ich im allgemeinen hier nicht finden; am ehesten noch etwa in den zweistimmigen Liedern des II. Ban- des.)

Auf dem Wiener KongreB der Internationalen Musikgesell- schaft, Pfingsten 1908, hat v. Hornbostel eine Ubersicht der mannigfaltigen Zwischenstufen zwischen rein unisoner und har- monisch-polyphoner Musik gegeben. Die ausfuhrliche Klassi- fikation der Formen, die gedruckt unter die Horer verteilt wurde, ist nicht in den KongreBbericht ubergegangen; aber es findet sich in diesem eine lehrreiche Darlegung der An- schauungen, die sich der kundigste Forscher iiber exotische Musik bisher iiber die Entwicklung in dieser Hinsicht gebildet hat (S. 298f. Vgl. auch Ph.-A. Nr. 19 S. lOSSff. uber die Ver- gleichung des exotischen mit dem mittelalterlichen Organum). In diesen Dingen ist die Untersuchung noch zu sehr im Flu6, um Definitives sagen zu konnen. Meiner eigenen Auffassung stellen sich die verschiedenen Gattungen des Musizierens in Hinsicht auf Ein- und Mehrstimmigkeit in folgendem Schema dar, bei welchem aber von vornherein zu beachten ist, daB die Gattungen sich in Wirklichkeit mehrfach miteinander verbinden, und da6 auch stetige Ubergange von einer zur anderen fiihren. Eben darum lassen sich die Grenzlinien in verschiedener Weise Ziehen.

1. Homophonie = Einstimmigkeit. Man gebraucht heute den Ausdruck homophon vielfach fur die einstimmige Melo- die mit akkordlicher Begleitung. Dieser Sprachgebrauch wurzelt in dem Vorurteil, daB es Melodien ohne Akkordunter- lage uberhaupt nie und nirgends geben konne. Es wiirde mir zweckmaBig scheinen, mit diesem Vorurteil auch den wunderlichen Sprachgebrauch aufzugeben, und mit Helmholtz als homophon nur die rein melodische Musik zu bezeichnen, die Stumpf, AnfSnge der Musik 7

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weder objektiv noch auch in der bloBen Vorstellung des Horers Akkordunterlagen voraussetzt. Kann einer sich primi- tive Melodien nicht anders als mit Akkordbegleitung vor- stellen, so mu6 er wenigstens in ihrer Beurteilung von sol- chen subjektiven Zutaten abstrahieren.

Homophonie, wie wir sie hier verstehen, kann aber noch in engerem und weiterem Sinne gefaBt werden. Im weiteren Sinne umfaBt sie nocli die Oktavenverdoppelung der Melodic, insofern man namlicli Oktaven als gleiche oder wenigstens aquivalente Tone ansieht.

2. Organum = Singen oder Spielen in Parallelen. Gibt man die Identitat der Oktaven nicht zu, so gehoren schon alle Oktavenverdoppelungen, wie beim Singen einer Me- lodie durch Manner und Frauen, hierher. Jedenfalls aber und vor allem handelt sich's um durchgefuhrte Quinten- und Quartenparallelen. Terzen-, Sexten- und Sekundenparallelen fallen streng genommen nur dann unter diesen Begriff, wenn dabei wirklich das Intervall unverandert bieibt, also nicht groBe mit kleinen Terzen wechseln, wie dies in unserer Musik durch die diatonische Leiter bedingt ist. Da6 in Afrika solche Quasi-Parallelen vorkommen, scheint eben auf einen euro- paischen EinfluB hinzudeuten. Nur in gleichstufigen Leitern, also auch z. B. in unseren chromatischen, gibt es Terzen- parallelen mit vollig unverandertem Intervall.

Natiirlich konnen auf solche Art auch drei und mehr Stim- men sich verbinden, indem z. B. zwei in Oktaven gehen, die dritte zwischen ihnen in der Quinte oder Quarte des tieferen Tones mitgeht.

Zum Organum im weiteren Sinne rechnen wir auch die Falle, in denen die Parallelitat nicht ausnahmslos, Note fiir Note, durchgefuhrt, sondern streckenweise andere Intervalle eingefugt sind; wie wenn die Stimmen vom Einklang aus suk- zessive zur Quarte iibergehen, in diesem Intervall dann parallel weiterschreiten, um am SchluB wieder in den Einklang iiber- zugehen. (Schweifendes Organum Hucbalds, occursusbeiGuido von Arezzo, wozu sich gleichfalls Analogien in der exotischen Musik finden.)

3. Bordun- oder Dudelsack-(Orgelpunkt-)weise = das Festhalten eines Tons, wahrend eine andere Stimme eine

99 ^

Melodic angibt. Der feste Ton kann dabei uber oder unter der Melodic, bci mehr als zwei Stimmen auch zwischen den iibrigen liegen, er kann ununterbrochen oder mitPauscn, etwa zu Anfang jcdcs Taktcs, angegeben werden, es konnen auch zwei Oder mehr Tone miteinander regelmaBig in unmittel- barer Folge oder kurzen Zeitstanden wechseln (Ostinato) und andere Modifikationen eintreten, die das Wesen der Sache doch nicht andern.

Mit einem primitiven Orgelpunkt fallt eine bestimmte Form des Guidonischen Organums zusammen („saepe autem . . . organum suspensum tenemus", Noten s. Oxford History of Music 1, 69): ein Beispiel des Oberganges der Formen in- einander durch Grenzfalle.

4 Heterophonie = gleichzeitiger Vortrag mehrerer Va- rianten eines Themas. In der einfachsten Form ist dies nichts als eine leichte Modifikation der Homophonie; wenn z. B. ein beweglicheres Instrument oder ein eigenbrodlerischer Sanger da und dort eine kleine Verzierung anbringt. Man mochte sagen, die Heterophonie sei die unausbleibliche Folge des Zusammenwirkens mehrerer, die die namliche Melodic vor- tragen woUen; ebenso wie Oktaven- oder Quintenparallelen die unausbleibliche Folge sind, wenn Sanger oder Instrumente mit verschicdener Tonlage dieselbe Weise zugleich vortragen wollcn, und der Orgelpunkt, wenn zwei Klangquellen zusammen- wirken, deren eine iiberhaupt nur einen Ton besitzt. Die Hetero- phonie trat jedenfalls, wie die iibrigen Formen, zuerst zufallig ein, entwickelte sich dann aber zur absichtlich gebrauchten Kunstform, die auch angewandt wurde, ohne da6 die urspriing- lichen Anlasse dazu notigten.

5. Polyphonie = gleichzeitiger Vortrag mehrerer ver- schicdener Melodien, die nur etwa gelegentlich in konsonanten Intervallen oder im Einklang zusammentreffen. Auch hiervon scheinen sich Beispiele oder Vorstufen in der exotischen Musik zu finden, Besonders aber bietet die Friihzeit unserer Musikepoche Belege. Das Gehor findet einen Reiz darin, mehreren ganz verschiedenen Melodien zugleich (bzw. in raschem Wechsel der Aufmerksamkeit) zu folgen; und je verschicdener die Melodien in der Richtung, Geschwindigkeit, dem ganzen Charakter derTonbewegung, urn so besser. Auf

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die Wirkung der einzelnen so entstehenden Zusammenklange kommt es dabei nicht prinzipiell an. Sobald dieser Gesichts- punkt wesentlich in Frage kommt, das haufige Zusammentreffen in Konsonanzen und vor allem in konsonanten Dreiklangen angestrebt wird, geht diese Form in die nachste iiber.

Im weitesten Sinne des Wortes umfaBt Polyphonie natiir- lich alle Formen au6er der ersten. Wir gebrauchen es aber hier im engeren Sinne, den es in der Musikgeschichte er- halten hat: fUr die Gleichzeitigkeit mehrerer Melodien, die als wesentlich verschiedene aufgefaBt werden. In diesem Sinne steht sie neb en den ubrigen Formen, wenn auch Obergange iiberall denkbar sind.

6. Harmonische Mu3ik = die schon im gleichzeitigen Erklingen mehrerer unterschiedener Tone und in der Auf- einanderfolge solcher Tonkomplexe Quellen asthetischer Lust und Unlust findet.

Ich mochte nicht behaupten, da6 den Naturvolkern die Freude am Mehrklang als solchem, also cine Vorstufe unseres Harmoniegefuhls, ganzlich und allenthalben fehle (vgl. Abbil- dung 2 und 3). Aber unser Akkordsystem, wie es sich allmahlich entwickelt hat, mit seinen Hauptdreiklangen in Dur und Moll auf dem Grundton, der Dominant und Subdominant, mit den aus den Dreiklangen resultierenden Tonleitern, in denen jeder Ton erst von den Dreiklangen aus Sinn und Wirkung, ja auch erst seine genaue Abstimmung erhalt, mit den dissonanten Ak- korden (Diskorden), die nach bestimmten rationellen Regeln in die Hauptdreiklange und zuletzt in den Grunddreiklang iiber- gehen das ist etwas durchaus Neues, wozu wir vor dem letzten Jahrtausend ebenso wie in der gegenwartigen exoti- schen Musik keine Seitenstiicke finden.

Die harmonische Musik hat aber alle friiheren Formen nach Moglichkeit in sich aufgenommen. Wie sie sich mit Polyphonie verkniipft, lehren die groBen Meister kontra- punktischer Kunst. Heterophone Bildungen finden sich tausend- fach innerhalb des harmonischen Rahmens, schon bei jeder die Melodic mit Figuren verzierendcn Nebenstimme. Im ob- stinaten Ba6, im Orgelpunkt ragt die Bordunweise herein, das Organum im Quintieren des Volkes, in den „Mixturen" der Orgel, wie in so manchen modernen KUhnheiten, bei denen

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allerdings vielfach darauf gerechnet ist, daB man die Par- allelen nicht deutlich wahrnimmt. Nur die strenge Hoino- phonie existiert fur unser BewuBtsein insofern nicht, als auch eine vollkommen einstimmig ausgefiihrte Melodic, wenn sie innerhalb unserer Dur- und Molleitern liegt und den sonstigen Charakter unserer Melodien tragt (deutliche Tonika, gewohnte Rhythmik und Struktur), von uns unwillkiirlich nach dem harmonischen Schema aufgefaBt wird. Immer schwingen Dreiklange sozusagen mit. Anders freilich, wenn man sich durch Gewohnung an exotische Weisen umtrainiert.

Ein solche Einf iigung anderer Formen in eine vorherrschende Hauptform finden wir aber auch in exotischer Musik. So sind in der heterophonen Musik der Siamesen, Javaner, Chinesen haufig langere Quartenparallelen eingefugt. In China kommt nach neueren uns zugekommenen Aufnahmen sogar eine interessante Spielart der Heterophonie vor, bei der zwei Stimmen ein Thema gleichzeitig in Varianten, aber im Ab- stand einer Quarte vortragen, also eine durchgefuhrte Ver- kniipfung von Prinzip 2 mit 4. (Ph.-A. Nr. 29.)

Alle bisher vorfindlichen Arten der Musikiibung in Hin- sicht der Ein- und Mehrstimmigkeit diirften sich in die ange- gebenen Formen auflosen lassen.

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Zweiter Teil.

Ges^nge der Naturv51ker.

Die folgenden Beispiele sollen die Ausftihrungen des Textes und der Anmerkungen wenigstens teil- weise erlautern und belegen. Die meisten davon sind den in Anm. 1 naher bezeichneten Quellen ent- nommen. Ph.-A. Nr. . . bedeutet die Nummer der dort erwahnten Publikationen aus dem Berliner Phonogramm-Archiv.

Die Naturvolker haben meistens eine ungeheure Passion fiir das Singen. Sie singen bei jeder Ge- legenheit und stundenlang, wobei die namliche Weise unbegrenzt, wenn auch nicht immer unver- andert, wiederholt werden kann. Wo in unseren Notationen Wiederholungszeichen fiir ein ganzes Lied angegeben sind, bedeuten sie in der Regel eine solche vielfache Wiederholung. Aber auch wo wir, derOriginalschreibung eines Verfassers folgend, keine solchen Zeichen hingesetzt haben, ist anzunehmen, daB in Wirklichkeit solche Wiederholungen statt- fanden.

Nennen wir die folgenden Melodieproben „pri- mitiv", so muB man diese Bezeichnung, wie gegen- tiber den meisten Produkten sogenannter primitiver Kunst, die der Gegenwart angehoren, nicht zu

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wortlich nehmen. Es sind eben GesSnge von schrift- und literaturlosen Volkern. Wenn man sich aber in die Struktur der Melodien vertieft und zugleich uberlegt, was alles vorausgegangen sein muB, urn die Entstehung solcher Gebilde moglich zu machen, so wird man sie in den meisten Fallen als Produkte eines schon ziemlich entwickelten Kunstsinnes an- sehen mtissen. Die Grenzlinie zwischen einer von theoretischem Nachdenken befruchteten und einer urwuchsig reflexionslosen Kunst bleibt dabei immer- hin bestehen. Die Begriffe „exotisch" und „primi- tiv" diirfen heute nicht mehr zusammengeworfen werden, wie es z. B. noch Ambros tat, als er die chinesische, indische, arabische Musik unter dem Kapitel „Anfange der Tonkunst" brachte; wie es aber sogar in einem neueren groBen Werke uber diesen Gegenstand geschieht, wo in den Melodie- beispielen die alte chinesische Tempelhymne mitten zwischen einem Gesange der Papua und einem der Fidschi-Insulaner angefuhrt wird.

Allgemein gilt, da6 der Eindruck eines primi- tiven Gesanges durch die Noten mehr oder weniger ungeniigend wiedergegeben wird. Schon die Into- nation unterliegt an vielen Stellen eigentumlichen Abweichungen. Durch besondere Zeichen (s. u.) suchen wir an bemerkenswerteren Stellen diese Abweichungen und sonstige Eigentumlichkeiten der Intonation anzudeuten. Aber auch die Art der

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Stimmgebung und zahlreiche Vortragsgewohnheiten, von denen unsere Verzierungen (Vorschlage u. dgl.) nur ein abgeschwachtes Bild geben, sind fiir den Ge- samteindruck oft ebenso wesentlich, als der Noten- bestand. Unsere eigenen Gesange konnten in sp^- teren Zeiten, wenn nicht phonographische Aufnahmen da waren, nach den bloBen Noten nur in sehr un- adaquater Weise wiedergegeben werden. Auch die Vortragszeichen wUrden nicht hinreichen, namentlich da man uber ihre Ausftihrung ebenso streiten wUrde, wie man heute iiber die Ausftihrung der um zwei Jahrhunderte zuriickliegenden Zeichen schon streitet. Wenn wir gar den wirklichen Klang einer Plica Oder eines Ochetus (Schluchzer) aus dem 13. Jahr- hundert horten, wtirden wir uns wahrscheinlich verwundern. Gerade der Gesang ist zu alien Zeiten ganz durchsetzt von Vortragsmanieren, und gerade die des Gesanges lassen sich am wenigsten genau in Zeichen fixieren. Mit solchen jetzt veralteten gesanglichen Vortragsformen scheinen nun die der Naturvolker eine gewisse Ahnlichkeit zu haben. Einiges daruber ist bei unseren Notenbeispielen in den Erlauterungen sowie oben in Anm. 12 bemerkt. Naheres in Bakers Indianergesangen, in meiner Arbeit iiber die Bellakula-Indianer, in den Abhandlungen aus dem Phonogramm-Archiv und in neueren Beschrei- bungen von Forschungsreisenden (die alteren Berichte kiimmerten sich wenig um solches Detail).

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Schwierigkeiten macht aber auch vielfach der Rhythmus und die Takteinteilung. In manchen Fallen ist alles sofort klar, in anderen kommt man entweder uberhaupt nicht zu einem Rhythmus, der sich in unsere Taktformen fugt, oder man muB bestandig mit dem Takte wechseln. Und doch ist es besser, wo es geht, dieses Hilfsmittel anzuwenden: die Ak- zentverteilung, die durch die Taktgliederung gegeben ist, erleichtert die Ubersicht der ganzen Struktur auBerordentlich.

Die Texte der Gesange sind fast tiberall weg- gelassen, da sie doch nur wenigen Eingeweihten verstandlich waren. Nur die Bestimmung eines Liedes wird, wo Angaben daruber vorliegen, in den Erlauterungen vermerkt.

Vielfach hat man die notierten Gesange um eine Oktave tiefer zu denken, da von den Autoren der Violinschllissel auch fur Mannergesange gewahlt wurde, wie er ja auch bei uns fur den Tenor benutzt wird.

+ tiber der Note bedeutet Erhohung, - Vertiefung eines Tones, ^f f^ ein schleifendes Herabsteigen aus nicht genau bestimmbarer Hohe zu dem betref- fenden Ton, bzw. ein Herabsteigen von ihm aus, f ^ I eine gleitende Verbindung zweier Tone, cz:^ ein legatissimo, J J J eine mehrmalige merkliche Akzentuierung eines Tones, ohne da6 er doch neu einsetzte (Pulsando, namentlich bei Indianern stehende

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Vortragsgewohnheit, ubrigens auch im Mittelalter als „reverberatio" und bis ins 18. Jahrhundert als „vocalisazione aspirata" oder „balancement" ge- brSuchlich), J das namliche, wenn die Dauer des Tones den Wert einer Viertelnote nicht iiberschreitet, V eine Atempause ohne Zahlwert. DieEinklammerung eines Tons (J) bedeutet, da6 seine Hohe nicht genau erkennbar ist. Die Vorzeichnung zweier Taktarten, wie f f, soil heiBen, daB die beiden einander regel- maBig, Takt urn Takt in dem ganzen Gesang ablosen. Die meisten der folgenden Gesange sind nach phonographischen Aufnahmen wiedergegeben, wobei die groBte Zuverlassigkeit erzielt werden kann. In einigen Fallen habe ich aber auch nach direktem Horen niedergeschriebene eingefugt, die besonders gut beglaubigt sind oder, wenn auch in Einzelheiten Zweifel bleiben, durch gewisse Eigentiimlichkeiten, die man fur richtig wiedergegeben halten darf, be- sonderes Interesse bieten. Die aus dem Berliner Phono- gramm-Archiv stammenden Notierungen wurden, so- weit sie schon veroffentlicht sind, von den Herren V. Hornbostel und Fischer unter meiner Mitbeteiligung wiederholt genau nachgepriift, woraus sich kleine Abweichungen von der fruheren Form erklaren. Man kann ja vielfach den Takt, die Vorzeichnung, auch einzelne Tone, die zwischen den unsrigen liegen, verschieden schreiben; iiberdies ist durch die fort- gesetzte Ubung den beiden Herren eine immer groBere

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Sicherheit in der raschen Erfassung der Details zu- gewachsen. Mehrere Gesange sind hier ausfuhr- licher wiedergegeben als bei der ersten Veroffent- lichung, andere zum ersten Male publiziert.

Wir beginnen die Reihe mit den primitivsten Gesangen, die uns zuverlassig und genau bekannt sind, denen der Wedda in Ceylon, ordnen aber die folgenden nicht nach dem Prinzip fortschreitender melodischer Entwicklung, sondern gehen, im allge- meinen wenigstens, in geographischer Richtung von da ostlich weiter nach der Siidsee zu, dann nach Amerika, das wir von Suden nach Norden durch- wandern, weiter zu den Eskimo, endlich nach West- und Ostafrika. Innerhalb kleinerer geographischer Gruppen wird man dabei immerhin ofters zugleich einen Fortschritt in der Melodiebildung bemerken. Aber es ist vorlaufig nicht mSglich und wird vielleicht auch spater nicht moglich sein, aus den samtlichen musikalischen Produkten der Menschheit eine ein- deutig fortschreitende Reihe aufzustellen, weil der Fortschritt von Anfang an in sehr verschiedenen Richtungen erfolgt. Dagegen werden wir allmahlich bei den geographisch benachbarten oder ethnologisch zusammenhangenden Volkergruppen auch immer mehr zusammenhangende oder verwandte musika- lische Zustande finden und so ein groBes einheit- liches Bild der musikalischen Leistungen gewinnen. Die folgende Zusammenstellung erhebt nicht den

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entferntesten Anspruch hierauf, sie will nur ganz fragmentarische Proben liefern, an denen bestimmte EigentUmlichkeiten besonders deutlich hervortreten. Man kann aber nicht daran zweifeln, daB binnen kurzer Zeit die musikalischen Merkmale ebenblirtig neben die iibrigen treten werden, die uns den Zu- sammenhang der Volker auf der Erde erkennen lehren. Konnen doch in einzelnen Fallen schon jetzt die darauf gegrUndeten Schlufifolgerungen das Gewicht groBter Wahrscheinlichkeit beanspruchen, namentlich wenn man mit dem Bau der Melodie zu- gleich den der Instrumente und deren genaue Ab- stimmung beriicksichtigt, wobei sich in Hinsicht der absoluten Tonhohe, der Leitern u. s. f. Koinzidenzen gezeigt haben, deren zufalliges Vorhandensein alien Wahrscheinlichkeitsregeln widersprechen wlirde.

Die Voraussetzung fur solche Durchschlagskraft ist aber sorgfaltiges Studium aller Einzelheiten, bei den Melodien ebenso wie bei den Instrumenten. Die unseren Beispielen beigefugten Bemerkungen mogen weiteren Kreisen eine Vorstellung davon ge- wahren, auf welche Punkte es dabei ankommt. Ohne- hin verdienen ja alle Dokumente, die Licht auf die Urgeschichte und die noch bestehenden tieferen Kulturstufen unseres Geschlechtes werfen konnen, genaueste Analyse. Untersuchen wir gewissenhaft prahistorische T5pfe und Scherben und jede Kante eines Eolithen, vergleichen und zergliedern wir

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und zwar mit Recht die scheuBlichsten Fratzen, die rohesten Zeiciinungsversuche, so mUssen wir auch den musikalischen Produkten primitiver Volker ein objektives und eindringendes Studium widmen, statt sie, bis zur Unkenntlichkeit modernisiert und mit Klavierbegleitung versehen, ais „U.S. A. National Music" sUB singenden Saiondamen oder erfindungs- armen Komponisten zu Uberliefern. Die scharfen Worte, mit denen v. Hornbostel diese Unsitte ge- geiBelt hat, sind leider nur zu zeitgemSB.

Metr. J

la.

208.

-t^^-^^:^! -'-J ^ -' ^-^

i

4_j_;j_j_^

m

^^^^

^=^s

-^^m

lb.

Metr. J = 208.

i

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fcg=j_j:xr^

^^^^^

Metr. J = 210.

110

2 a.

Metr. J = 208.

2b.

iM^^^^^^

usw.

la und lb sind zwei Lieder der Wedda auf Cey- lon nach phonographischen Aufnahmen der Frau Pro- fessor Selenka (Ph.-A. Nr. 20). Drei bzw. zwei Tone bilden das mit geringen Varianten immer wiederholte Motiv. Das Intervall der beiden tieferenTone bei 1 ist nach Dr. Wertheimers Messungen ein Ganzton, das des mittleren zum hochsten ein Halbton, so da6 hier der Melodieumfang eine kleine Terz betragt. Der hochste Ton kommt hauptsachlich im Anfange vor, in den SchluBformeln niemals. In dem zweiten Liede sind aber die Abstande verkleinert. Die beiden tieferen Tone stehen nur urn einen ^/^-Ton vonein- ander ab, und ein dritter hoherer, der auch hier ge- legentlich vorkommt, liegt nur V4"Ton Uber dem zweiten, so da6 der ganze Umfang hier nur einen Ganzton ausmacht. Vielleicht ist der dritte Ton hier iiberhaupt nicht beabsichtigt, sondern nur durch eine starkere Akzentuierung des zweiten entstanden. Da die beiden Lieder von verschiedenen Sangern, einem alten und einem jungen, gesungen wurden,

Ill

kann man die verschiedene StufengroBe vielleicht als individuelle Eigentumlichkeit der Sanger betrach- ten.

Die Metronomisierung ist hier nach den Angaben von Frau Selenka, die sich der Gesange noch sehr genau erinnert, beigefugt (sonst pflegt das S. 1 1 er- wahnte Mittel dazu zu dienen). Das ZeitmaB wird streng innegehalten. Die Taktstriche habe ich gegen- iiber dem Original vermehrt. Man konnte den hau- figen Taktwechsel reduzieren, wenn man -^ ^^s Haupttaktart wahlte, aber die Periodisierung tritt in unserer Schreibart deutlicher hervor. Die Einschie- bung Oder Auslassung einzelner Taktteile, wodurch aus geradzahligen ungeradzahlige Taktarten werden, widerstrebt unserem Gefiihl, findet sich aber bei Naturvolkern haufig. Sie mag mit dem Text oder der Vortragsnuancierung zusammenhangen.

Wir wtirden vom musikalischen Standpunkte die beiden Lieder als ziemlich identisch, als wenig verschiedene Formen derselben Melodie betrach- ten. Wahrscheinlich gelten sie den Wedda auch nur als Abarten innerhalb eines Typus. Die Texte sind verschieden (das erste ist nach einer Notiz bei Selig- mann „The Vedda" ein Unterhaltungslied).

Dieser Art sind fast alle von Frau Selenka mit- gebrachten Gesange. Auf einer (von Dr. Wertheimer nicht wiedergegebenen) Walze findet sich allerdings ein Duett, bei dem unverkennbar zwei nach einer

112 -

gewissen Regel, doch in schwer auflosbarer Weise, gleichzeitig singen. Sie bewegen sich dabei aber auch nur im Umfange einer kleinen Terz.

Diese Wedda-Gesange mogen ein Beispiel jener Ur- Oder Vorstufe der Musik geben, die nur kleine Tonschritte verwendet. Weder Konsonanz noch Ton- verwandtschaft scheinen dabei eine Rolle zu spielen. Dennoch haben sie schon eine gewisse Struktur, bestimmte, regelmaBig wiederkehrende Wendungen mit Varianten, endlich besondere, bestimmt gebaute SchluBformeln. Der SchluBformel selbst geht immer ein „Vorbau" voraus, dessen letzter Ton regelmaBig der tiefste ist, wahrend der SchluB selbst oft in dem mittleren Ton erfolgt; z. B.

Vorbau SchluB

IKJ ^ ^-^ s

2a und b sind gleichfalls Wedda-Gesange aus dem Werke „The Vedda^' von C G. und B. Z. Selig- mann (1911), worin der Psychologe Ch. S. Myers (Cambridge) zalilreiche phonographisch aufgenom- mene Lieder wiedergibt und analysiert. Er teilt sie in drei Gruppen, je nachdem sie nur 2 verschiedene Tone Oder 3 oder 4 5 verwenden. Aber bei den letzteren vermutet er schon fremde Einflusse. Die der beiden ersten Gruppen sind den Wertheimer- schen recht ahnlicii, wie dies ja bei dem geringen Tonvorrat, den kleinen Stufen und der einfachen

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Rhythmik kaum anders sein kann. Die beiden hier ausgewahlten (aus Gruppe B und C), die dem pri- mitivsten Wedda-Stamme, den Sitala Wanniya, angehoren, sind interessant durch die regelmaBig wiederkehrende Taktfolge '^U, ^U, die sich ebenso auch bei einem anderen Liede desselben Stammes (einem Schlafliede) findet. Die Akzentverteilung bei 2a hinder! uns, etwa einfach ^4 vorzuschreiben. Die beiden Lieder sind wieder, wie bereits Myers bemerkt hat, offenbar nur Varietaten eines Melodie- typus (oder melodisch uberhaupt identisch)'. Bei dem zweiten Liede wurden die beiden oberen Tone regelmaBig etwas vertieft intoniert, so da6 alles naher aneinanderruckt, ahnlich wie im zweiten der Wert- heimerschen Gesange.

Obrigens sind nicht alle Myersschen Gesange in Taktform geschrieben, viele fUgten sich einer solchen nicht. Das gleiche ZeitmaB der Wertheimerschen und der Myersschen Lieder scheint Zufall, es finden sich auch viele andere Metronomzahlen.

Die Wedda, wenigstens die ursprtinglichen und von Nachbarstammen unbeeinfluBten, denen diese Gesange angehoren, haben keine Instrumente, nicht einmal Schlaginstrumente.

* Beim ersten ist in Myers Notierung nur aus Versehen ein drittes Kreuz, fiir ais, vorgezeichnet; nach den tonometri- schen Angaben S. 353 ist das Intervall der beiden hoheren Tone sogar noch etwas kleiner als ein Halbton.

S turn p f, Anfange der Musik o

114

3.

Metr. J = 132.

Solo.

^^^^iSS^^

^

rit.

Weiber.

i

i

Chor.

Manner.

rit.

m

i^i

Fauken.

r r

IT ,1)

I r r

jEJ=g^^-fJ^^j?rr3i-^J7hR^f^^

r l; r rlr 1/ r rlr lt r rlr c/

Wir lassen zwei Beispiele von den Ureinwohnern der Andamanen-Inseln folgen. Sie sind zwar nicht phonographisch aufgenommen, dtirften aberausauBe- ren und inneren Grunden im wesentlichen richtig no.tiert sein. Besonders gilt dies vom ersten, das nebst acht weiteren ganz ahnlichen Proben von M. V. Portman bei sudlichen Stammen der Insel- gruppe aufgeschrieben wurde. (Andamanese Music, Journ. of the R. Asiatic Society, Vol. XX, Part 11, p. 181 ff.) Die genauen Detailbeschreibungen anda- manesischer Musik, die Portman gibt, erwecken Ver- trauen. Die Intervalle betreffend bemerkt Portman

- 115

(der statt f immer eis schreibt), daB die als Halb- tonschritte notierten Stufen eigentlich als Vierteltone gesungen wurden, daB sie aber wahrscheinlich doch als Halbtonstufen gemeint seien. Sie werden wohl, wie bei den Wedda, unseren Stufen nicht genau ent- sprechen, da unsere chromatische Leiter ein spates Entwickelungsprodukt ist, hier aber nur eben kleine, durch die Stimme noch unterscheidbare Stufen ge- sungen werden, die naturlicherweise nicht immer ganz gleich ausfallen. Es wMre inkorrekt, aus solchen Notierungen und Berichten den Gebrauch von Vierteltonen im theoretischen Sinne des Wortes zu erschlieBen. Uberdies gibt Portman dem GehOr der Andamanesen ein schlechtes Zeugnis. Einen angegebenen Ton konnten die besten Sanger nur nahezu treffen, die meisten blieben urn einen Halb- ton darunter oder darUber. Urn so weniger darf man ihnen eine Leistung zuschreiben, die hohe Aus- bildung der Stimme und des Gehors verlangen wurde. Der systematische Gebrauch von Viertel- tonen und noch kleineren Unterschieden, v^ie er z. B. von den Griechen berichtet wird, ist ein Pro- dukt raffinierter Kultur.

[Einige vielfach zitierte Beispiele angeblicher Viertelton-Musik seien hier nebenbei beleuchtet. Es sind aus Neuseeland in dem Werke des Gouver- neurs Grey (vgl. unsere Anm. 12) vier Melodien

iiberliefert, die Davies, der eine gelehrte Einleitung

8*

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liber das enharmonische System der Griechen vor- ausschickt, unter Zuhilfenahme eines Monochords aufgeschrieben hat, und die sich nicht bloB in Viertel- tOnen, sondern sogar in enharmonischen Intervallen bewegen. Ein Lied z. B., das sich in den bisherigen Beispielsammlungen ohne eine kritische Bemerkung aufgenommen findet, besteht fast nur aus den Noten d, eses, e, eis, f. Die Eingeborenen sollen also d und eses, eis und f unterscheiden. Das mag ein anderer glauben!

Auch die in dem alten Reisewerke von Langs- do rff notierte und sehr haufig angeftihrte, ohneFrage- zeichen Ubernommene Melodie der Nukahiwa (auf den Washington-Inseln im Stillen Ozean) soil in Vierteltonschritten gesungen worden sein. Sie geht fortwahrend von e nach g und wieder zuruck. In der Notierung sind als Zwischenstufen nur f und fis angegeben, in den Bemerkungen dazu (von Tilesius) ist aber erwahnt, daB es sich um Vierteltonschritte handele. Es war wohl auch nur ein Hinauf- und Herunterziehen des Tones, ein „brummendes Ziehen" der Stimme, wie es auch in dem Berichte genannt wird. Obrigens ist die Notierung mangelhaft. Aus den Erlauterungen geht z. B. hervor, daB irrtumlicher- weise der Violin- statt des BaBschlussels vorgezeich- net ist, was bereits Fetis richtiggestellt hat.]

Samtliche Gesange Portmans bestehen aus Solo und nachfolgendem Chor, und alle bewegen sich in

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diesen kleinen Stufen aus drei Tonen; nur die ab- solute Tonhohe ist verschieden angegeben. Der SchluBton ist aber nicht uberall der mittlere, sondern audi manchmal der hochste oder tiefste von den dreien. Das Solo wurde in freierem Tempo ge- sungen, die Chore streng im ZeitmaB.

Sehr bemerkenswert sind die Oktaven- und Quintenparallelen des Chors, die sich ebenso bei jedem Liede wiederholen. Bezuglich der Quinten bemerkt Portman auch wieder, daB er sie zwar fUr durchweg intendiert halte, daB sie aber gelegentlich als kleine Sexten intoniert wurden; wie aberhaupt noch andere Intervalle als die notierten zum Vor- schein gekommen seien, die er jedoch nur als Her- ausfallen aus dem angestrebten Unisono der einzel- nen Stimmen auffasse. Alles dieses zeigt den guten Beobachter.

An Instrumenten besitzen die Andamanesen nur Pauken, die bei den Chorgesangen in Tatigkeit treten, wie das Beispiel zeigt.

Nr. 4 findet sich in dem Werke von E. H. Man, On the Aboriginal Inhabitants of the Andaman Is- lands, 1883, S. 172. Es ist von Dr. Brandes notiert. Die Erlauterungen sind durftig. Die untere Stimme, die dort als die Note d erscheint, ist sicherlich nicht als Gesangsstimme, sondern als Paukenrhythmus zu verstehen. Der geringe Tonumfang des Gesanges und die monotone Wiederholung (das StUck geht

118

jedenfalls noch beliebig lange so weiter, der Verfasser erzahlt von stundenlangen nachtlichen GesSngen) entspricht so sehr den vorher angefuhrten zuver- lassigen Beispielen, da6 wir auch dieses im wesent- lichen als authentisch betrachten durfen. Es scheinen bei den Ureinwohnern der Andamanen, wie bei den ursprunglichsten Stammen der Wedda, Melodien mit groBerem Tonumfange nicht vorzukommen. Urn so wichtiger ist der Gebrauch der Oktave und Quinte bei den Chorgesangen.

j;=#^:ty-:|:::jLj» ji nrrtx^m

JRezit. auf tr tlT

Rezit.

^z^ii=f.ziczm=r P cr J^^

usw.

Metr. j = 100, allmahlich schneller

J J j:

usw.

119 7.

"""--s

p^=g^r^g=f^m^^"gT-1^i^^

Mann

f^ r'rlr^n 'J r^=r^^

-usw.

GesSnge des Waldvolkes der Kubu auf Sumatra, nach phonographischen Aufnahmen des Museums- direktors Hagen in Frankfurt a. M. (Ph.- A. Nr. 16). Hier begegnen wir einem ganzlich anderen Typus. Es dominieren die groBen konsonanten Intervalle Oktave, Quinte, Quarte, die auch ziemlich rein ge- troffen werden, obgleich die Kubu auf einer sehr tiefen Kulturstufe stehen und ihre Gesange sich sonst nicht in unsere Formen, namentlich nicht in eine Takteinteilung fUgen. Wo eine Trommelbeglei- tung vorhanden ist, scheint sie im wesentlichen sieben- teilig, aber auBer Zusammenhang mit den rhythmisch betonten Stellen des Gesanges. Nur an zwei Ge- sangen glaubt v. Hornbostel, der aile untersucht und in Noten gebracht hat, auch eine etwas festere und zwar siebenteilige Rhythmik zu erkennen, die aller- dings an verschiedenen Stellen durch Einschaltung von Pausen, durch Verkurzungen oder Verlangerun- gen des Tonbestandes unterbrochen wird.

Nr. 5, als „Minnelied eines Junglings" bezeichnet, aber von einem aiteren Mann gesungen, beginnt mit

120

einem Triller oder Tremolo auf der Oktave des Grundtons (wenn wir a^ als Grundton betrachten), senkt sich dann durch eine erhohte groBe Terz (cis^), die moglicherweise als Quarte des Grundtones zu verstehen ist, auf diesen herab und verweilt lange darauf, mit Ausweichungen um einen Ganzton nach unten. Dann folgt ein Rezitieren auf den beiden letzten Tonen, das aber v. Hornbostel keineswegs als einen Sprachgesang im eigentlichen Sinne be- zeichnet wissen will, da das tonale Element stets scharf ausgepragt bleibt. Darauf setzt die Stimme wieder starker auf der frei angeschlagenen Quinte ein, steigt unvermittelt zur langgehaltenen Oktave und sinkt wieder in ahnlicher Weise herab. So folgen noch verschiedene Wiederholungen mit genau gleicher Intonation.

Nr. 6, eine Zauberformel zur Krankheitsheilung, vom Zauberdoktor gesungen, zeigt dieselbe Ton- bewegung, durchlauft aber alle Tone einer fiinf- stufigen Leiter (bei der Wiederholung ist noch ein f als Durchgangston eingeschaltet). Zwischen den hier mitgeteilten Stellen bewegt sich die Stimme langere Zeit nur auf d, e, g, ahnlich wie im ersten Stack (g, a), aber mit ausgesprochenem ZeitmaB.

Von ahnlicher Art sind die meisten ubrigen Kubu- gesange. Fast alle setzen auf einer hohen, sehr lange gehaltenen Note, meistens der Oktave des Haupttones mit groBerTonstarke ein. Der Klangfarbe

121

nach ist es oft mehr ein Schreien als Singen, aber den Intervallen nach Musik im eigentlichsten Sinne des Wortes. Oberall treten die konsonanten Intervalle als Ruhepunkte stark hervor, gelegentlich auch die kieine Septime des Grundtons. Die Sekunden- schritte, meist groBe, zuweilen auch kieine, mogen dabei immerhin nur durch bloBe Distanzabmessungen getroffen werden. Aber bei den unvermittelt ein- setzenden und gut getroffenen Quarten, Quinten, Oktaven ist dies unmoglich anzunehmen. Ofters wird ein Ton auch durch ein rasches, stetiges Glissando von oben oder unten erreicht, ohne da6 die Sicher- heit der Intonation darunter litte.

Die ganze Tonbewegung erinnert offenbar stark an die der tirolischen Juchzer und erscheint als ein guter Beleg fUr die vorgetragene Hypothese vom Ursprung der Musik aus Signalrufen. Einer der Gesange wird auch direkt als „Zuruf der Kubu im Walde" bezeichnet. Er geht vom Anfangston direkt um eine voile Duodezime herab und besteht wesent- lich nur aus diesen beiden Tonen.

Nr. 7 ist ein Duett, vom Zauberdoktor und einer Frau gesungen. Diese halt die hohere Oktave des Grundtons, zu der sie von einer unbestimmt intonier- ten Quinte stetig herabsteigt, lang aus, wahrend der Mann auf dem Grundton und dessen Unterquarte rezitiert. So geht es auch weiter. Interessant als primitivste Art einer Orgelpunktmehrstimmigkeit.

122

Die Kubu besitzen Blasinstrumente, mehrere Arten von Floten, die allerdings von den benachbarten Ja- vanern iibernommen scheinen. Diese Instrumente haben zur Einburgerung und Festigung der Intervalle im BewuBtsein der Sanger gewiB beigetragen, werden aber bei obigen Gesangen nicht gebraucht.

Metr. J = 120

dim.

^w^^^^^^mM^^^^m

m^^^aE^^^jryj .^-i^

(alias)

r

An der Westkiiste von Australien (Beagle-Bay) von Missionaren phonographisch aufgenommen; bis- her unveroffentlicht. Das Lied v^ird immerfort v^ieder- holt, dabei aber statt des letzten c haufig das An- fangs-e vorweggenommen, so da6 dieses funfmal auftritt. Es wird in genauem ZeitmaB gesungen und schreibt sich am einfachsten v^ie hier, in zwei Ab- teilungen zu je 12 Vierteln gegliedert, die erste in vier 3/4-Takten, die zweite in drei V4-Takten; doch wtirden nach der Akzentuierung die ersten 12 Viertel sich noch besser in die Taktfolge ^4* ^4* '^U fugen. Der Gesang M^ird durch Trommelschlage auf jedem Viertel und durch Ratteln begleitet.

Das Beginnen auf hohen starken Tonen und die Senkung auf tiefe schwache scheint fiir australische

123

Gesange ganz typisch zu sein. Zahlreiche Bericht- erstatter aus alter und neuer Zeit von Collins bis Beckler tun dieses Zuges Erwahnung. Auch von den Karesau-Papua in Deutsch-Neuguinea berichtet Prof. P. Schmidt, da6 der Melodiengang zumeist absteigend sei; der SchluB erfolge dort stets auf der unteren Tonika oder mit einem Sprung von da zu ihrer hoheren Oktave. (3. KongreBbericht der Internationalen Musikgesellschaft 1909, S. 297.)

9.

Metr. J = 80.

JTU-J-J-Je;^^^

Metr. . = 120.

10.

^.J^rm^^^d^^^zn^j.

i

^

7?^=1^

r^

Diese Gesange hat Ch. S. Myers auf den Murray- Inseln in der Torres-StraBe phonographisch auf- genommen und seine darnach gemachten Abschriften und Messungen mir freundlichst uberlassen. Auf den Triolen des ersten Liedes v/ird immerfort das Wort „semarer" wiederholt.

- 124

Das merkwurdigste an beiden Liedern ist, da6 sie auf das Bestreben hinzuweisen scheinen, die Oktave in sechs gleiche Teile zu zerlegen, ahn- lich wie dies durch unseren temperierten Ganzton geschehen kann. Nach den von Myers beigegebenen tonometrischen Bestimmungen entsprechen die Inter- valle, wenigstens bei dem ersten Gesang, ziemlich gut einer solchen Voraussetzung. Bei dem zweiten wird der Ganzton mit dem Absteigen immer kleiner, so daB der letzte der drei Schritte nur einen guten 3/4-Ton betragt. In einem dritten, hier nicht mit- geteilten Liede, dessen Struktur dem des ersten gleicht (stufenweise absteigend mit einem aufstei- genden Oktavenschritt in der Mitte) werden ein- zelne Stufen doch erheblich groBer als unser Ganz- ton genommen. Es ist daher zunachst, bis wir weitere Anhaltspunkte haben, noch nicht als sicher zu betrachten, daB wirklich eine gleichstufige Sechs- tonleiter intendiert ist.

Bemerkenswert ist jedenfalls wieder die iiberall festgehaltene Tonbewegung nach unten, ebenso aber das Vorkommen des Oktavenschrittes, der auch, wie es scheint, gut getroffen wird.

11. Metr. J- = 100.

m^^=i4=^^±^^^^^^=^

125

jlj" J J^^E^^^^^^^^^E^

^' zi. zn

i

JJ ^ I J Jt^^Egg^^pEg

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iFn^3r--°^-^:^rj=rQ=^p^3

ritard.

|_ju_^iTjS^4^EgfrrT^^pfegg

12.

Metr. J = 192. F

f--^-^ r r r c/^^^^'r r r r ^

i^ i i i i j^" i i-^-^-^^^r^

i

HI J-f|i-i!=tf; ^ Q

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B

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j^^r r ^- ^ n^&^r-if-^.i=^£E^

126

i

P^

W^^^i i ^ ^

usw.

Zwei Proben aus dem sudlichen Telle von Neu- Mecklenburg (Ph.-A. Nr. 12). Nr. 11 ist ein „Regen- zauber" aus Lamassa, von elnem Hauptling gesungen. Die Rhythmisierung bot, so elnfach sle jetzt aussleht, V. Hornbostel enorme Schwlerlgkelten und machte die Notierung zu einer wahren Geduldsprobe. Das gewahlte Taktschema schelnt, obgleich es den melo- dischen und dynamlschen Akzenten zuwellen nlcht entspricht, dem Eindruck noch am ehesten gerecht zu werden. Der erste Ton v^ird, wle bel anderen Liedern aus der glelchen Gegend, mlt elnem Ab- wrarts-Gllssando elngeleltet, das so geschlckt In den ersten Ton iibergefuhrt wlrd, da6 es schwer fallt, dlesen als den Anfangston zu erkennen. Den SchluB bildet elne Art Llppentrlller, aus elner auf- und ab- wartsgleltenden Tonbewegung mit gleichzeitlgem br bestehend; v. Hornbostel vermutet darin elne sym- bolislerende Nachahmung des Donners.

Nr. 12 wird zum Sonnentanzfest in King von vielen Sangern gleichzeitlg gesungen und von Tanz- Evolutlonen begleitet; In den Phonographen sang

127

aber nur einer. Die Periodisierung ist klar: jede Strophe hat einen hohen und einen tiefen Teil, der immer mit einem langeren Verweilen auf dem tief- sten Ton endet. Die Melodiebewegung bleibt sich im allgemeinen bei den Wiederholungen gleich, aber jede Strophe (es sind noch mehrere in v. Horn- bostels Abhandlung veroffentlicht) bringt Varianten. Das ZeitmaB wird trefflich innegehalten; aber Takt in unserem Sinne ist nicht hineinzubringen, wenn auch zeitweise ein ^/^-Takt hervorzutreten scheint.

Sehr merkwurdig ist hier, wie auch bei anderen Neu-Mecklenburgischen Gesangen, der bestandige Wechsel zwischen Falsett- und Bruststimme (durch F und B bezeichnet) beim hohen und tiefen Teil, wobei das Falsett sehr weich und angenehm klingt und der Ubergang der Register ineinander geschickt ausgefuhrt wird. Auch das freie Einsetzen der Duo- dezime bei den Wiederholungen ist sehr bemerkens- wert.

Die Intonation der Intervalle, die v. Hornbostel hier genau gemessen hat, wird durch die Noten teil- weise nur annahernd wiedergegeben. Bei Nr. 11, welches nur aus den Tonen a d^ e^ g^ be- steht, ist die Quarte a d^ stark vergroBert. Die Quarte d^ g^ rein, e^ liegt fast genau in der Mitte zwischen d^ und gK Man hat also a immer erheblich tiefer, e^ erheblich hoher zu nehmen, als es nach unserer Intonation der Fall ware. Bei 12

128

ist die Terz e^ von c^ aus gerechnet auch etwas er- hoht. Sehr rein sind die Oktaven c^ c^, d^ d^, e^ e^. a ist gegen a^ ein wenig, aber auch nur unbedeutend, zu tief. Die Intonation der Oktaven ist uberhaupt bei Naturvolkern durchschnittlich von auffallender Reinheit.

In Neu-Mecklenburg finden sich wohlausgebildete Panpfeifen, auf denen Melodien geblasen v^erden, also eine selbstandige Instrumentalmusik. Diese Pfeifen weisen nach v. Hornbostels Untersuchungen deutlich auf eine friihere Verbindung mit Java hin. Aber die Gesange scheinen mit den auf den Pfeifen vorgetragenen Tonweisen nicht enger zusammen- zuhangen.

13.

. Metr. J = 144.

-^4 J- -^ =4

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Diese fur unsere Ohren recht anmutende Weise, als „Totenklage einer Mutter" bezeichnet, hat nebst vielen anderen Dr. Thurnwald aus Melanesien fUr

129 -

unsere Sammlung mitgebracht. Sie stammt aus der kleinen Insel Nissan zwischen Neu-Mecklenburg und den Salomon-Inseln. v. Hornbostel hat sie nach dem Phonogramm genau notiert und mir als Probe der ganz eigentumlichen dort geubten Jodel-Gesange aberlassen. Diese Kunst, die uns schon in Neu- Mecklenburg begegnete und nicht minder afrikani- schen Stammen wohlbekannt ist, findet sich hier in hohem Grade ausgebildet. Die Falsett-Tone sind in den Noten mit dem Hals nach oben geschrieben, die Brusttone nach unten. Die Melodie wird immer- fort wiederholt, aber immer mit Varianten, wobei man sich auch an die Takteinteilung nicht ganz strenge bindet. Unter welchen Bedingungen eine solche melodisch und technisch vorgeschrittene Sangeskunst in Melanesien entstanden ist, dariiber werden nahere Untersuchungen hoffentlich bald Licht verbreiten. Sie scheint in Verbindung zu stehen mit einer vielfach durchgefuhrten Mehrstimmigkeit, die uns in Erstannen setzt, wovon aber hier noch keine Proben mitgeteilt werden konnen.

Bemerkenswert ist die ungenierte Erweiterung des V^-Taktes durch Einschiebung eines Viertels. Aber auch an einem Melodieton der sonst so ein- ganglichen Weise macht sich das Exotische geltend: an dem e^ des vierten Taktes. Die fortgesetzten Quartenschritte d^ a^ e^ a^ d^ bertihren uns unmelodisch und hart. Solche Melodiefuhrung

Stumpf, Anfiinge der Musik 9

130

wird aber notwendig, wenn die Terz des Grund-

tones aus irgendeinem Grunde vermieden wird: sei

es, da6 die in dieser Gegend gebrauchliche Leiter,

d. h. das Tonmaterial, aus dem alle Melodien ge-

bildet werden, diesen Ton iiberhaupt nicht enthait,

Oder daB er bei einzelnen Melodien eines bestimm-

ten Ausdrucks halber ausgeschaltet wird. Die Leiter,

soweit sie dieser Melodie entnommen werden kann,

ware: d— e g a h d^ eine funfstufige

ohne Terz, wie sie auch vielfach bei den Indianern

vorkommt. Darum wurden der Dreiklang und der

Dominant-Septimenakkord, die wir unwillkurlich zu

dieser Melodie hinzudenken, unzulassige Zutaten

sein, und damit ruckt uns die Melodie selbst wieder

erheblich ferner.

14. Metr. J= 116.

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i^^^y^^=h^^S^^^^^j^i±rM]

Metr. J = 152. I.

15.

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#^iN^^=^=^;^gEE^

131

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usw.

16.

Metr. J. = 100 (a)

-i-:^h^i-J-±3^

(c)

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(ao)

(b)

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(c)

(b)

i^z^j=Ea^j1 J, J j^^

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(ao)

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#=i=J=*

usw.

9*

Metr. J- = 100. I.

132 17.

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IV.

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USff.

Mit diesen Beispielen wenden wir uns nach Amerika zu den Indianern, und zunachst zu den siid- amerikanischen. Die primitivsten Weisen, die hier vorkommen, dtirften die der Feuerlander sein, von

133

denen uns Hr. W. Furlong kurzlich Proben sandte. Sie haben eine gewisse Ahnlichkeit mit den Wedda- Gesangen. Aber ich kann davon nichts mitteilen, da sie noch nicht naher untersucht sind.

Die obigen Melodien sind Gesange derTehueltsche in Patagonien, von Prof. Lehmann-Nitsche phono- graphiert. Dr. Fischer hat 51 davon in Noten tiber- setzt (Ph.- A. Nr. 15). Sie stehen im allgemeinen auf einer niedrigen Stufe, setzen sich aus kleinen Motivchen zusammen, innerhaib deren sich die Stimme fast nur in Ganz- oder Halbtonstufen be- wegt und die endlos wiederholt werden. Im ganzen kommt dabei meistens ein Tonumfang von einer Quarte oder Quinte, selten ein groBerer heraus. Dennoch bieten auch diese Lieder dem, der sich darein vertieft, bemerkenswerte, ja anziehende Seiten, namentlich in Hinsicht ihrer Struktur*.

* In Fischers Abhandlung sind unsere vier Lieder Nr. 31, 21, 8 (S. 946) und 46. Die Notenbilder, die auf Grund der oben erwahnten Revision von uns als zutreffendste befunden wurden, weichen etwas von den dort gegebenen ab. Aber die Abweichungen betreffen entweder AuBerlichkeiten der Schreibung (z, B. urn die Halfte verkiirzte Notenwerte bei Nr. 16) Oder andere Setzung der Taktstriche oder langere Fortfuhrung der Melodien. Nur bei Nr. 14 weicht auch die Rhythmisierung etwas von der Fischerschen ab, wahrschein- lich weil wir nicht den Anfang, sondern spatere Wieder- holungen der immer wiederkehrenden Weise, die besonders klar hervortraten, als typische zugrunde legten. Gerade fiir diese auBerst simple Weise war das treffendste Notenbild schwer zu finden wegen der kleinen Intervalle und des viel- fachen Uberschleifens der Tone.

■r- 134

Nr. 14 gleicht ziemlich den Wedda-Gesangen: Umfang nur eine kleine Terz, Melodiefuhrung ganz einformig.

Nr. 15 ist schon ein wenig reicher, als ware die Weise aus der ersten durch Erweiterung des Motivs herausgebildet. Teil II ist eine abgekiirzte Wieder- holung von I, wobei aber zweimal in den sonst regelmaBigen 3/2-Takt eine durch punktierte Klammern abgegrenzte Enklave von 3 Achteln eingeschoben wird, die wie ein Echo gemeint scheint, ahnlich den beliebten Echos in der Musik des 18. Jahrhunderts. Dann folgen einige weitere Wiederholungen, von denen die funfte noch angefugt ist, weil hier sogar eine Enklave von 9 Achteln in die sonst unverandert wiederholte Melodic eingeschoben ist. Diese Ein- schiebungen, die bei II noch dazu zwischen den zwei Achteln eines Viertels stehen, dunken uns ganz irrationell, sind aber sicher nicht willkiirlich, sondern folgen gewissen Regeln. Man konnte auch sagen, der gewohnliche ^^l^-Takt sei in II beide Male zum i^/g-, in V zum 21/g-Takt erweitert, welche alle sich durch 3 teilen lassen. Und man konnte, wenn es nicht zu gewagt ware, auch hier auf Parallelen aus der FrUhzeit unserer Musik verweisen: auf die mannigfaltigen Unterarten der divisio novenaria und duodenaria bei den Mensuralisten des 14. Jahr- hunderts (Joh. Wolf, Geschichte der Mensural- Notation von 1250—1460, I, 28 ff., 274 ff.). Auch

135

Alterationen der Pausen kamen damals vor, wie sie heute nicht mehr gebrauchlich sind, wie sie uns aber bei Indianern noch begegnen werden.

Nr. 16 ist das uns verstandlichste der Lieder. Es setzt sich aus 3 Motiven zusammen, die immer- fort in verschiedener Ordnung einander ablosen. Das Motiv a erscheint bald mit dem ersten Viertel, bald ohne dieses (ao). Gelegentlich wird eine Pause von drei Achteln eingeschaltet, wodurch der ^/g- in 12/g-Takt ubergeht, wie im letzten Takt unserer No- tierung. An spateren analogen Stellen wird diese Pause ausgefullt, indem statt ao die Form a einsetzt, wodurch dann ebenfalls 12 Achtel herauskommen

Nr. 17 haben wir hier in groBerer Ausdehnung wiedergegeben, weil es eine besonders lehrreiche Struktur aufweist. Man bemerkt sofort die haufig eingeschalteten Vs-^akte. Der Abschnitt II ist in dieser Hinsicht wie in der ganzen Rhythmisierung die genaue Wiederholung von I. Der Abschnitt III ist wieder durch dieEinfugungzweier, mitpunktierten Klammern zusammengefaBten Takte, die als Wieder- holung der beiden vorausgehenden erscheinen, so- wie durch die drei letzten Takte, die sich ebenfalls als eine wiederholende Bekraftigung des Schlusses darstellen, erweitert; sonst ganz identisch gebaut. Bei IV sind gleich anfangs, an der durch den Stern bezeichneten Stelle, die zwei ersten Takte von I aus- gelassen, dann geht es analog wie dort weiter. So

136

folgen noch viele Varianten der gleichen Grund- form.

Nicht minder merkwurdig ist bei diesem Stucke die Tonbewegnng, die erst nach vielfaltigem Studium festgestellt werden konnte. Physikalisch gemessen sind die Tonschritte noch nicht, aber es ist kein Zweifel, da6 die obige Notierung im ganzen die wirkHchen Verschiebungen der Tonhohe trifft, und da6 der Sanger am Schlusse des Abschnittes III wieder richtig auf dem Tone d, der tieferen Oktave des Ausgangstones, ankommt. Er bewirkt dies ein- fach durch Ganzton-, Quinten- und Quartenschritte von einer Phrase zur anderen; ges h ist ja fur den Natursanger sein gewohnter Quartenschritt.

Wer sich die Muhe nimmt, auch nur einen ein- zigen derartigen Gesang eines sehr niedrigstehenden Indianerstammes naher zu analysieren, der wird die verbreitete Meinung, als handle es sich bei den Naturvolkern mehr um ein formloses Heulen als um kunstlerisch geformte Produkte, oder auch nur die Ansicht K. Buchers, als schatzten sie an der Musik nur den Rhythmus, hatten aber „keine Empfindung fur die verschiedenen Tonhohen", als seien ihre Gesange „monoton, fast melodienlos", sicher nicht mehr teilen konnen.

Hervorragend genau darf man sich naturlich die Intonation der Patagonier nicht gerade denken. Die Terzen werden z. B. nach Fischers Beobachtungen

137

in ein und demselben StUcke bald groB, bald klein, bald neutral genommen. Dagegen werden allerdings das Tempo und der Rhythmus recht gleichmaBig innegehalten, was damit zusamnienhangen wird, daB die meisten Lieder Tanzlieder sind.

Die Patagonier haben als Instrumente auBer der Trommel einen Musikbogen, auf dem auch Stucke von ahnlicher Einformigkeit wie Nr. 14 mit auBerst schwacher Tongebung vorgetragen werden.

18.

Metr. J = 152.

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138

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Gesang eines Toba-Indianers aus Bolivien, von Prof. Lehmann-Nitzsche in St. Pedro phonographisch aufgenommen, durch v. Hornbostel und Fischer auf- gezeichnet, bisher unveroffentlicht. Uber den Inhalt des pathetisch vorgetragenen Liedes ist nichts mit- geteilt. Es ist wieder ein Beispiel der typischen Abwartsbewegung mit decrescendo. Nach langem Verweilen in der Tiefe setzt die Wiederholung in voller Starke unvermittelt auf den hohen, sehr gut getroffenen Anfangstonen ein. Die Einzelheiten nach Tonbewegung und Takt sind hier mit besonderer Sorgfalt wiedergegeben. Sie erscheinen kompliziert genug, kehren aber bei den Wiederholungen des Ge- sanges, sowie in den drei Aufnahmen des Ganzen, die von demselben Individuum vorliegen, mit groBer Ubereinstimmung v^ieder. Wir haben z. B. abgezahlt, wieviele Viertel auf die Note c^ im 8. bis 10. Takte fallen: es sind immer genau 15. Ftir die Verzierungen des c- im 2. bis 4. Takte soil die nach verschiedenen Versuchen gewahlte Schreibweise nur als eine an- nahernde gelten. Es schien auch ein e^ darin vorzu-

139

kommen, aber das sind eben Manieren, die wir weder genau schreiben noch nachmachen konnen. Selbst die Tongebung ist dabei anders als gewohnlich. Auch die Tonbewegung in den beiden 74-'rakten ist nicht gut aufzuschreiben; jedenfalls kommen aber beim Abzahlen 7 Viertel heraus.

Der Gesang hat den auBerordentlichen Umfang von 2V2 Oktaven. Im wesentlichen halt er sich in einer funfstufigen Leiter mit Terz (bald groBer bald kleiner); andere Tone werden nur im Durchgange gebraucht.

Manner.

19.

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Frauen.

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Manner.

S^^^;7=F1^BJL4-CpL

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140

„Sehr altes religioses Lied der Yaqui-Indianer" im Staate Sonora an der Nordgrenze von Mexiko. Unter dieser Bezeichnung ist es mir nebst anderen Indianergesangen von J. C. Fillmore mitgeteilt (s. m. „Beitrage zur Akustik und Musikwissenschaft" III). Es ist nicht von Fillmore selbst aufgeschrieben, son- dern ihm von dem Bruder eines Mannes, der gegen 30 Jahre als Gefangener unter den Yaqui lebte, iiber- liefert. Ich ubernehme naturlich hier keine Garantie fur die Genauigkeit der Aufschreibung und habe es nur darum aufgenommen, well es, wie auch Fillmore bemerkt, bisher ein Unikum unter den Indianer- gesangen bildet, in Hinsicht des uber der Manner- stimme durch die Frauen ausgehaltenen Begleittones. In dieser Beziehung ist die Aufschreibung auch ge- wiB vertrauenswurdig. Wenn man nicht einen euro- paischen EinfluB vermuten will, v^urden wir darin einen schonen Fall der Orgelpunktweise bei Natur- volkern haben, analog Nr. 7. Beide Male liegt der festgehaltene Ton oben. Wir v^erden aber auch ein Beispiel der umgekehrten, heute gebrauchlicheren Lage finden (Nr. 27).

20. Metr. J = 80.

- 141

^a^gE^^^^^faE^

\^^^^^^^^^^^^^^^3^i^

Stammt von den Zuni-Indianern (Pueblos). Es ist von Oilman nach phonographischen Aufnahmen von Walter Fewkes (dem ersten, der diese Methode benutzte) in Noten gesetzt und von mir in ubersicht- licherer Weise, aber materiell ganz unverandert, um- geschrieben (s. o. S. 65)*. Hier ist es urn einen hal- ben Ton tiefer gesetzt. Die eingefugten Striche sollen die Hauptabsatze bezeichnen. Eine Taktgliederung ist nicht eingezeichnet, doch v^urden sich die beiden mit mf beginnenden Hauptabsatze in je einen ^4" und einen ^/4-Takt zerlegen lassen (die letzte Note nur urn Vs verlangert), wahrend der SchluBpassus wesentlich im ^ g-Takt steht.

Das Lied, das nur ein Abschnitt eines langeren Gesangsstuckes ist, zeigtv^ieder die absteigendeTon- bewegung und zugleich die abnehmende Tonstarke so vieler primitiver Gesange. Mit seiner fanfaren- artigen Einleitung und seiner leise verhauchenden Coda ist es ein schones Beispiel der pathetischen,

* Nur bei + in der vorletzten Zeile notiert Oilman einen halben Ton hoher. Hier handelt es sich aber sicher urn eine zufallige Entgleisung des Sangers. Die Tone liegen ja ohne- dies den Notenwerten meistens nur nahe, ohne sich ganz da- mit zu decken, uberdies sind solche leise, kurze und tiefe Tone oft schwer zu identifizieren.

142

impetuosen Art, die besonders dem Singen der Pue- blo-Indianer eigen scheint. Wir wtirden sagen, daB es in der absteigend melodischen Mollleiter steht, mit SchluB in Dur. Doch darf man es wohl auch hier mit der groBen und kleinen Terz nicht zu streng nehmen, die Intonation nShert sich nur mehr der einen oder anderen, die nachstliegende Note hat Oilman jedesmal gewahlt. Eigentiimlich bertihrt der Anfang sowohl des einleitenden Teiles als auch des Hauptteiles in der Sekunde des Tones, der uns als Tonika erscheint und es in diesem Falle wohl auch fur die Indianer ist. Auch wir fangen zwar durch- aus nicht immer mit der Tonika an, mit der Sekunde aber doch selten. In das Ethos dieser Melodic kann man sich bei ofterem H5ren immerhin gut hinein- leben und einen Eindruck davon gewinnen, womit ich nicht sagen will, daB er ganz derselbe ware wie bei den Indianern.

Die nordamerikanischen Indianer haben nur auBerst wenige und durftige Instrumente, auBer Pauke und Rattel nur gelegentlich Fl5ten, in ein- zelnen Gegenden auch ein Xylophon, das aber aus Afrika importiert scheint. Um so erstaunlicher ist ihr unbegrenzter Reichtum an mannigfaltigen und wohlgebauten Liedern.

21.

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143

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P^^l^

b^j=^^i^

Aus den von Oilman neuerdings nach den Auf- nahmen von W. Fewkes veroffentlichten religiosen Gesangen der Hopi-(Moki-)Indianer, die gleichfalls zu den Pueblo gehoren.

Oilman ist durch seine tonometrischen Analysen zu der Meinung gekommen, daB die Puebloindianer zwar eine Tendenz zu konsonanten Intervallen haben, zur Oktave und besonders zur Quinte und Quarte, daB sie aber sonst die groBten Freiheiten in der In- tonation aufweisen. Auch vvriirden die Intervalle von jedem Sanger anders wiedergegeben. Es sei nur der allgemeine Weg, den die Melodie nimmt, vor- gezeichnet. Er nennt diese Lieder deshalb Rote- Songs, Routengesange, und erfindet ein graphisches Schema, das sie besser als unsere Noten zum Aus- druck bringe.

Obiges ist der dritte deracht„Schlangengesange", die Starke Ahnlichkeit miteinander haben, alle ein- fach gebaut, auch von einfachem Rhythmus und mit immer wiederkehrenden absteigenden Schritten urn (ungefahr) eine Quarte, Terz oder Quinte. Die No- tierung ist hier nicht die von Oilman selbst gegebene,

144

die nur seinen allgemeinen subjektiven Eindruck darstellen soil, sondern nach seinen genauen Dia- grammen durch v. Hornbostel so aufgezeichnet, und zwar gewissermaBen als Durchschnitt (nicht im mathe- matischen, sondern psychologischen Sinne) aus den zahlreichen Varianten bei den Wiederholungen, die Oilman alle in seine Diagramme eingetragen hat. Die Tonhohe der einzelnen Noten schwankt dabei in der Tat nicht unbetrachtlich, doch meistens inner- halb eines Halbtons. So wird der Hauptton e, auf den die Weise immer zuriickkehrt, vielfach als dis intoniert, das tiefe gis umgekehrt als a. Das Vor- herrschen der Quartenschritte ist jedenfalls der charakteristische Grundzug dieses Gesanges. Aber etwas Subjektives bleibt allerdings auch an v. Horn- bostels „durchschnittlicher" Notation haften; man mtifite sonst eben samtliche Wiederholungen mit um- standlichen diakritischen Zeichen in Noten setzen, und schliefilich waren bei jeder neuen Wiederholung sicher neue kleine Veranderungen aufgetreten.

Die Takteinteilung ist gleichfalls nach den Dia- grammen als wahrscheinlich intendierte durch v. Horn- bostel vorgeschlagen; Oilman verzichtet auf Takt- gliederung.

Die ubrigen Lieder auBer den Schlangengesangen sind bedeutend komplizierter. Sie zeigen eine ahn- liche Strukturwie unser nachstfolgendes Beispiel, auch einen groBen Tonumfang, z. B. den einer Duodezime,

145

ebenso die absteigende und leise verklingende Tonbewegung, dann wieder den plotzlichen Uber- gang zu hoher und starkster Stimmgebung, wobei der Ton auch gelegentlich noch urn eine halbe Stufe in die Hohe getrieben wird (Oilman p. 171, 181) usw. V. Hornbostel hat versuchsweise samtliche Ge- sange mit alien Wiederholungen in gleicher Weise wie den obigen aus den Diagrammen in Noten uber- setzt, und wir haben den Eindruck gewonnen, daB trotz der unbestreitbaren UnregelmaBigkeiten der In- tonation doch ein festeres Ton- und Taktgerust zu- grunde liegt, als Oilman selbst anzunehmen geneigt ist. Es gibt auch bei uns Sanger, die es mit der Reinheit genauer, andere, die es weniger genau nehmen. Aber es scheint bei den Indianern auch gewisse Tone der Leiter zu geben, die sicherer, an- dere, die unsicherer getroffen werden oder vielmehr einen breiteren Spielraum fur die Intonation zulassen. Dazu kommen noch die durch den Ausdruck beding- ten, also keineswegs zufalligen, sondern ganz regel- maBigen Alterationen an bestimmten wiederkehrenden Stellen einer Melodic. Wir werden dies alles so- gleich beim nachsten Liede bestatigt finden.

22.

Metr. J= 112.

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146

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147

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148

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Alter „Totengesang" einer Truppe von Pueblo- Indianern, die vor einigen Jahren nach Berlin kamen. Sie wurden als Hopi-Indianer bezeichnet, doch ist es nicht sicher, ob sie gerade diesem Stamme an- gehorten. Der Gesang wurde nach einer von der Favorit-Gesellschaft aufgenommenen Grammophon- platte durch Dr. Fischer in Noten gebracht, die Notierung dann noch durch v. Hornbostel und mich oftmals nachgepriift, da sie groBe Schwierigkeiten bereitete. Das Lied klingt so temperament- und stimmungsvoll aus der Aufnahme heraus, daB wir

149

versuchen wollten, es der Vorstellung und dem Ver- standnis moglichst nahe zu bringen. Das Bild ist so treu, als es nur immer mit unseren Zeichen her- zustellen ist. Das gehaltene fis in der 7. Zeile wurde auBerst unrein, von verschiedenen zugleich ver- schieden intoniert, im ganzen stark zu hoch; auch sonst wird in dem Sttick gerade das betonte fis leicht etwas hoher genommen, manchmal (bei ^v) klingt es aber auch wie ein Triller mit eis, einer scheint es da zu tief gesungen zu haben.

Der Tonbestand ist im wesentlichen der einer Funfstufenleiter, ein Hauptton laBt sich aber schwer feststellen. Am ehesten noch cis; fUr uns ware es naturlich a. Nur ganz wenige Tone fallen aus der funfstufigen Leiter heraus: abgesehen von der un- deutlich intonierten Einleitungsformel, kommt einmal gis, einige Male f und einmal i\ sowie an bestimm- ten Stellen (unter C) his vor. Dies sind ganz sicher keine zufalligen Entgleisungen, sondern Abweichun- gen zu bestimmten Ausdruckszwecken. Hier ist nichts von Unreinheit in den Stimmen zu merken, und bei den Wiederholungen wird f wie his genau ebenso genommen.

Wir bemerken noch, daB die Tonhohe sich wahrend des Gesanges langsam in die Hohe zog, im ganzen etwa um einen Viertelton. In der Notierung ist dies nicht beriicksichtigt. Bei Gilmans Zuni-Ge- sangen wird derselbe Zug ofters hervorgehoben. Auch

150

bei den Bellakula-Liedern bemerkte ich das NMm- liche. Ebenso Hj. Thuren bei den Eskimo (s. u.). Deutlich und sehr interessant ist die Struktur. Vorausgeschickt wird, wie so oft bei Indianerliedern, eine kurze Einleitungsformel, deren Tonhohen recht unbestimmt herauskommen, weshalb sie hier mit kleinen Noten geschrieben sind. Sie wird fast mehr gebellt als gesungen. Dann folgen die durch Doppel- striche getrennten und mit Buchstaben bezeichneten Abteilungen, unter denen die mit gleichen Buch- staben offenbar melodisch als Wiederholungen gel- ten. B kommt viermal vor, immer allerdings mit gewissen Freiheiten, C erscheint zweimal, A und D nur je einmal. A beginnt mit den uns nun schon bekannten, fur unser Ohr harten Quartengangen, ver- lauft dann in ein lang ausladendes melodisches Mur- meln auf den Tonen fis, e und cis, das aber rhythmisch streng geregelt bleibt. B ist ein Zwischensatz, der dreimal einen neuen Aufschwung, in Cj, D und Cg vorbereitet. Diej^-Stellen werden mit groBem Affekt vorgetragen. B verlauft das zweitemal in ein Par- lando, das von einzelnen Sangern schon begonnen wird, wahrend andere noch den SchluBton cis aus- halten. Es wird rhythmisch genau in der angegebenen Weise vorgetragen. Den SchluB des Ganzen bildet eine Art Schrei, ganz gleichzeitig, aber auf ver- schiedenen Tonhohen, ungefahr den angegebenen. Wahrscheinlich geht das Lied an sich noch viel langer

151

so fort, und haben die Sanger nur einen kUnstlichen SchluB fur ihren damaligen Vortrag herbeigefUhrt.

Ganz kompliziert und doch nicht regellos ist fUr unsere Auffassung die Takteinteilung. Das ZeitmaB wird auBerordentlich genau festgehalten, obgleich der Gesang nicht durch Pauken oder HSndeklatschen unterstutzt wurde. Im ganzen scheint ein vierteiliger Takt zugrundezuliegen, der aber vielfach urn einen Oder zwei Teile verlangert, auch gelegentlich ver- kiirzt wird. Diese Anderungen treten aber wieder mit einer gewissen RegelmaBigkeit ein. Man ver- gleiche die drei ersten Versionen von B. Ihre Takt- gruppen sind:

4+6+5 4+6+4+6 4+6+5

Die erste und dritte Version sind also genau

gleich eingeteilt, die zweite anders, aber in sich

selbst wieder regelmafiig. Die Einteilung von C

ist beide Male fast genau dieselbe (an einzelnen

Stellen sind von uns die regelmafiig fehlenden

Sechzehntelpausen in Klammern erganzt, urn die

Schreibung in Vs zu ermoglichen, eigentlich mUBte

man ^^li^-Takt schreiben; es handelt sich eben hier

urn eine sehr prSzis innegehaltene Pause, die mit

unseren gewohnten Takten nicht wiederzugeben ist).

D zerfallt wieder in zwei Abteilungen von genau

^ ' u Ti.*i 4 + 5 + 6 4 + 5 + 6 gleicher Taktfolge: ^— j-^ ; —j~^ .

152 23.

i

Metr. J = 52.

^^^^^I^SI

K=^F=^^rJ^^1tJ^4;jj=1

^^Q=^H^-^^=ffi:ffl#^

p^qi^-itjz^gai^^ umm

fea-^HT^$n-j' ^ji J I ; J^

24.

Metr. J = 116.

^^a^^i^f^^s^^

^^^i^^^^^p^^

.g =T=— .1

1^^ JU'^- J)liU^i 1 i^ 1 i ^ '-^

Aus der groBen Sammlung von Miss Curtis (s. o. S. 65). Fur vollige Genauigkeit kann ich nicht einstehen, aber die technisch gewandte Schreibung

153

und die Strukturanalyse verraten so viel musikali- sches VerstSndnis, daB man die Tongestalten im allgemeinen wohl als richtig, nur vielleicht ein wenig impressionistisch wiedergegeben, ansehen darf. Nr.23, S. 489 des Werkes, ist ein Schlaflied (Lullaby) der Hopi. Die Sechzehnteltriolen dtirften wesentlich einen gleitenden Ubergang bedeuten. Das Lied klingt auch uns stimmungsvoll, wozu die absteigende ver- minderte Quarte nicht wenig beitragt, wenn auch fis wahrscheinlich nur als ein vertieft intoniertes g zu verstehen ist. Beachtung verdient die Gliederung des Liedes. Der L Teil hat sieben Takte, die un- verandert wiederholt werden, der 2. bringt ein neues Thema von flinf Takten, das mit geringen Verande- rungen zweimal wiederholt wird, die letzte Wieder- holung ist urn einen Takt verkurzt. Darauf beginnt (von mir durch Doppelstriche abgetrennt) die Re- prise des ersten Teiles, zunachst in sieben Takten mit einer Veranderung seines Anfanges, die ihn dem Thema des zweiten Teiles ahnlich macht. Dann in weiteren sieben Takten genau nach dem ersten Teil. Das Schema ist also: 2X7, 3X5, 2X7 (nur ab- gesehen von dem ausgelassenen Takt im zweiten Teil). Nr. 24 (S. 120 des Werkes) ist ein Gesang der Iruska, eines Pawneestammes in Oklahoma, wieder von der Hohe zur Tiefe gehend und lang auf dem SchluBton ruhend. Die Leiter ist die fUnfstufige ohne Terz.

154

25.

Metr. Gesang J, = 54. Trommel ^ = 108.

^^=M^^^^^^^^

Trommel

iLJ LJ LJ

usw.

§^ ; P cri^Eg^g^^j:ra-fp^

^ig-g~p1g g_E!rMl^^^

j^jwiucxiajxTn^^^^

i

; p pig p ^'m_-g_g-ij.:=g^

^M=H=^^^-rrrrm=^^

^ ^

26.

Metr. J- = 56.

I

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f-p JlJTgziJl^^

^

?E^

n Ll

Trommel, /rem. Ratteln, Pfeife.

fe^^^^^^^^^^

^^71 i ii^-n* J J ^ i' J ^^

155

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j-j-r^^^g^EFj

Schneller.

^^

i^^^^^^

LJ U LJ U

Aus dem Werke von Miss A. Fletcher uber die Hako-Zeremonie, ein religioses Fest der Pawnee- Indianer (s. o. S. 65). Die Gesange sind von Mr. E. S. Tracy nach phonographischen Aufnahmen wiedergegeben, er hat seine Wiedergabe dann auch noch einmal mit dem Gesange der Festleiter (Kura- hus) verglichen.

Nr. 25 (S. 171 des Werkes, dort eine Oktave tiefer notiert, also im Tenor-Sinne zu lesen) wurde als ein sehr alter Gesang bezeichnet. Er bezieht sich auf den Laubvogel (v^ren), der den Pawnee als ein immer lachender, glucklicher Vogel gilt. Man er- kennt leicht, daB das Lied aus sechs Perioden von je funf Takten besteht. Wir haben sie durch Doppelstriche gesondert. In den drei letzten Tak- ten jeder solchen Periode kehren immer dieselben Silben wieder: whe ke re v^e chi, die angeblich den Vogelruf nachahmen. Interessant ist auch die

156 -

Melodiebewegung: die ftinf Takte nehmen zuerst ihren Ausgang von i\ dann von d^, dann von b, welches wohl als Hauptton zu gelten hat; dann gehen sie noch eine Terz unter diesen her- unter und bleiben ganz auf g liegen. Der nach- ste, vierte Abschnitt beginnt wieder mit dem Haupt- ton, der letzte endlich wiederholt den ersten. Fiir uns auffallig, aber keineswegs selten, ist der un- gleiche Rhythmus der Pauken und des Gesanges.

Nr. 26 (S. 251), von bestandigen raschen Trommel- schlagen (Tremolo) sowie von dem Larm der Rat- teln und Pfeifen begleitet, wird bei einer anderen Episode des Festes gesungen. Es enthalt eine Aufforderung an die Kinder, heranzukommen und ihre Gaben zu bringen. Alle Viertelnoten werden etwas tremolierend mit „PuIsation" gesungen. Nach dem absteigenden Hauptthema, in dem ein drei- taktiges Motiv einmal wiederholt und ein zweitaktiger Anhang beigefugt wird, folgt ein Zwischensatz von fUnf Takten in tieferer Lage, dann das Hauptthema und eine zweitaktige, obigem Anhang nachgebildete SchluBformel. Die Leiter wieder funfstufig ohne Terz.

27.

Andante c. moto. y-

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157

Pf^j-rl^^^^^^^

o\ ^ t\ ij-iXt-^U H=Mj=g 1 1 g-g

usw.

usw.

28.

gi=LL-^E^^^=^g

5mal wiederholt.

Allegro.

29.

-4

g^g^S^^:^;^^^F=F^I^E^O

gJn- J' J J' -^ \^^i^.h^xTf^

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Andante.

30.

%^l=i-^=^^:1=v=P^^-f;=C:p^f-f^^

158

i

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31.

Andante.

^^^^i^M=MMM

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t^=p4=t^=tn— t^-t

i^^^p^Egj^^^^^^d^j

Diese Lieder sind nebst vielen anderen von Th. Baker vor der Zeit des Phonographen, aber mit sehr gewissenhafter Beachtung und Erlauterung des Details aufgeschrieben (s. o. S. 64).

Nr. 27 ist ein Kriegslied der Irokesen (Text: Ich gehe). Es scheint in Perioden zu sechs bzw. drei Takten gegliedert zu sein. Als Fortsetzung ist zu- nachst eine Taktpause zu denken. Bemerkenswert ist der Gesang durch die zweite Stimme, die jeden Takt im Grundtone markiert; vielleicht ein Ersatz der Pauke. Hier liegt der Orgelpunkt unten, gegen- uber den beiden schon besprochenen Beispielen.

Nr. 28 ein uralter religioser Dankgesang der Irokesen; von Mannern gesungen, die urn zwei mitten im Tanzsaal aufgestellte Hoizbanke herum-

159

traben (Baker S. 37). AuBer den Hauptakzenten wurde bei jedem Schritt der ungraziosen Bewegungen auf den entsprechenden Ton ein schwacherer Ak- zent gelegt. Man kann statt unserer Einteilung (Baker verzichtet auf Taktgliederung), wenn die Hauptakzente durchweg mit den Taktakzenten zu- sammenfallen sollen, den Gesang auch aus einem V4- und einem ^U- (2/4 + ^U) Takt zusammen- setzen. Nach funfmaliger Wiederholung wird mit einem Schleifer geschlossen, der „wie ein Juchzer ausgefuhrt wird" und jedenfalls in einem stetigen Herabgleiten der Stimme besteht (Baker S. 17 und unsere Anm. 12). Das merkwurdigste an dem Liede ist aber sein Tonumfang, da es, abgesehen von dem SchluB, aus einem einzigen Ton besteht. Solche Gesange, die manche als die uranfanglichsten be- trachten, kommen also in der Tat vor, und dieser soli ja auch wirklich sehr alt sein. Aber wer weiB, ob er nicht schon bei seinem ersten Auftauchen eine Ausnahme war und die Monotonie absichtlich, der erhabenen Wirkung wegen, gewahlt wurde.

Nr. 29, der „Omahatanz", ist ein Lieblingstanz verschiedener Indianerstamme unter den Dakota (Sioux). Baker schreibt ihn in 2/4- Durch die Vor- zeichnung ^^ scheint mir aber die Gliederung des Stuckes sehr klar hervorzutreten. Der Teil nach dem (von mir eingefugten) Doppelstrich ist offen- bar eine Wiederholung des ersten. Man hat nur

160

anzunehmen, daB im 1. Takte dieses 2. Teiles die Pause vom Sanger urn ein (hier uber dem System eingeschaltetes) Viertel verkurzt wurde, ein Lapsus, der auch bei uns vorkommt, und daB umgekehrt im drittletzten Takt eine bei Baker stehende iiber- zahlige Viertelpause, vielleicht als Atempause, ein- geschaltet ist.

Man sieht aucli leicht, daB der zweite Teil jedes Taktes mit seinen sechs Vierteln hinsichtlich der Rhythmik nur eine verlangerte Wiederholung der vier Viertel des ersten Teiles ist. Das Ganze scheint mir rhythmisch sehr reizvoll.

Eigentumlich ist auch der Beginn des Liedes auf der Sekunde des Haupttones.

Nr. 30 ist das erste Lied im Erntefest der Iro- kesen, ein Tanzlied, dessen dramatische Ausfuhrung Baker (S. 39) beschreibt. Es wird durch Schlagen der Rattel auf eine Holzbank begleitet. Text: „Er kam vom Himmel zu uns nieder und gab uns diese Worte." Das Lied ist von Baker ohne Takteinteilung geschrieben, scheint mir aberin einem 74-Takt wieder ganz abersichtlich zu werden. Man muB nur vor der Wiederholung eine Viertelpause eingeschaltet denken. Die Tone gehoren ausschlieBlich dem Drei- klang an. Den SchluB bilden Interjektionen.

Nr. 31, ein LiebesHed der Kiowa in Arkansas, ist wieder nur aus Tonen des Durdreiklanges gebaut. Die Gliederung ist von mir durch Doppelstriche angedeutet.

161

Solche Dreiklangsmelodien stUtzen anschei- nend eine von J. C. Fillmore und Miss A. Fletcher vertretene Anschauung, wonach den Indianern ein latentes Harmoniegefuhl zukomme (vgl. m. Beitr. z. Akustik I, 63ff, II, Iff.). Aber die Experimente mit Indianern, die Fillmore als beweisend ansieht, indem die Indianer bestimmte Akkordbegleitungen als ihren Intonationen entsprechend anerkannt haben sollen, unterliegen starken Bedenken. Es scheint doch wie ein genauer Kenner, F. Boas, mir sagte Sug- gestion mitgewirkt zu haben. Immerhin bedarf das hMufige Vorkommen von Indianermelodien, die nur Oder fast nur aus T5nen des angenaherten Drei- klanges gebildet sind, einer Erklarung, liege sie vielleicht auch nur darin, dafi man bei einem be- stimmten Melodietypus sich auf drei Tone der ge- w5hnlichen Funfstufenleiter zu beschranken iiebt, die urn mehr als die kleinste Stufe dieser Leiter auseinanderliegen. v. Hornbostel, der Intonations- studien unter den Pawnee in Oklahoma zu machen Gelegenheit hatte, vermutet, daB der Gebrauch des zerlegten Dreiklangs so zustande gekommen sei, da6 man in den Zv^ischenraum der Quinte eben einen annahernd mittleren Ton einschaltete, also durch Distanzschatzungen. Dafur spricht, daB gerade die Terzen oft in schwankender Weise intoniert v^erden. Sie bleiben noch lange ein sozusagen weicher Bestandteil des musikalischen Knochengerlistes,

Stumpf , Anfange der Musik H

162

nachdem die Grundkonsonanzen langst fest ge- worden.

Vielfach wurde frtiher auch behauptet, da6 die Naturvolker in Moll sangen. Dies ist in solcher Allgemeinheit ganzlich unbegriindet. Eher lieBe sich wohl Dur vertreten, in Wahrheit ist aber zumeist keines von unseren beiden Tongeschlechtern ganz scharf ausgesprochen. (Bezeichnend ist ein Fall, wo das namliche Lied von Boas in Moll, von Fillmore in Dur geschrieben wurde, s. Boas, Songs of the Kwakiutl- Indians p. 2). Die scharfe Ausbildung dieses Gegen- satzes konnte erst erfolgen, als man zu dem syste- matischengleichzeitigenOebrauchevonmindestens drei Tonen uberging, was bekanntlich sehr spat in der Musikgeschichte eintrat.

32.

Metr. Gesang J = 168, Pauke J = 104. I.

H=t

g"^-^=£

s

9t

-#^^^

^

3?^^

Pauke: p p p usw.

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III.

IV = II

^^^^^^^^^m^E^^

163

[^^-I^Hrt^^^^^^'N^-^^^

V.

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^^E^

^^

§Et

(Pauke:) f

33.

Metr. J = 80.

i^^

II.

f^^ 1 r r ^^^^

^^

^^1^^^^^^^

#=^=p:

III.

2.volta:f J J

g^FS^£F3^^=^=^^"^^J=S=^=^

2.volta: t J J J

^Er=n^^^n=rr-r i ["^n

gf

34.

Metr. J = 100. I.

i-^gH^j-LjIl=jz=jb^3^4^=g^

164

m

IV.

^S^^^^B^^

^=r-n^

^

Proben aus den 200 von Miss Densmore kurz- lich nach phonographischen Aufnahmen veroffent- lichten und mit Erklarungen und Analysen begleiteten Gesangen der Chippewa- (Odschibwa-) Indianer in Nord-Minnesota. Die Verfasserin hat zwar tono- metrische Bestimmungen nicht versucht, hebt aber die eigentUmlichen Abweichungen der Intonation an bestimmten Stellen hervor und bemerkt, daB sie mit groBer Konstanz wiederkehren. Zwei Sanger, die nach 7 Monaten etwa 20 Gesange zu wiederholen hatten, zeigten die namlichen Abweichungen an den nSmlichen Stellen. Das Tempo der Paukenbegleitung weist bei diesen Gesangen haufig die seltsamsten In- kongruenzen gegentiber dem des Gesanges auf, so da6 es unmoglich war, das rhythmische Verhaltnis beider nach dem Gehor zu erkennen, und da6 selbst die jur Stimme und Pauke gesondert angegebenen Metro- nomzahlen kein einfaches Verhaltnis als intendiert erscheinen lassen. Die Vermutung liegt nahe, daB in solchen Fallen beide Teile ein bestimmtes ab- solutes Tempo ohne Riicksicht aufeinander durch- ftihren.

165

Nr. 32, ein Aufnahmegesang bei der religiosen Hauptzeremonie, bietet hierfur sogleich ein Beispiel. Die Pauke vollfiihrt gleichmaBige Schlage ohne Ak- zente, von denen ungefahr, aber nicht genau, je zvvei auf drei Achtel des Gesanges kommen. Nur im SchluBteil fallen die Schlage genau mit den Vierteln des Gesanges zusammen. Der Gesang selbst ge- wahrt ein sehr ubersichtliches Bild: das Thema von I wird in 11 urn eine Quarte tiefer aufgenommen, erweitert und in die Tiefe gefuhrt. Nach einem kurzen, mit kuhnem Nonensprung beginnendem Zwischensatz (III) folgt eine genaue Wiederholung von II (IV), endlich eine kurze SchluBformel (V). Der ganze Habitus dieses Liedes, die absteigende Bewegung, die nachahmenden Wiederholungen auf tieferen Intervallen, der groBe Tonumfang, sind typisch fur die Mehrzahl dieser Chippewa-Gesange.

In Nr. 33, gleichfalls einem Aufnahmegesange, (ohne Paukenbegleitung phonographiert) ist II die ge- naue Nachahmung von I auf der Unterterz. Ill fuhrt mit einer Art Gegenbewegung zum Haupttone zu- ruck. Dann wird das Ganze genau wiederholt, nur an zwei Stellen wird ^Z^- mit ^/^-Takt und um- gekehrt vertauscht. Die Verlangerung oder Ver- kurzung um eine Einheit gilt in solchen Fallen offenbar als unwesentlich, wie wir schon so oft gefunden haben.

Nr. 34, ein Heilungsgesang, ebenfalls ohne Pauke aufgenommen, von einer alten Frau mit rauher

166

Stimme, aber sehr sicherer Intonation vorgetragen,

zeigt wieder einen vollkommen klaren Bau. Das

rhythmisch fesselnde Motiv von I wird in II nach

alien Regeln der Kunst auf der Unterterz wieder-

liolt; III ist tonal etwas freier, fuhrt aber die Melo-

die in genau gleicher Riiythmik und in gleicher

Bewegungsrichtung weiter, IV geht mit einer den

Anfang kopierenden Wendung vollends auf den

tiefen Grundton hinab. Die Leiter ist, wie bei Nr. 32,

ftinfstufig.

Den Umfang einer Duodezime hat ein groBer

Teil dieser Lieder, und zwar beginnen sie besonders

gern mit der oberen Duodezime des Haupttons und

senken sich allmahlich herab, um mit diesem zu

schlieBen. Manche erstrecken sich sogar iiber zwei

Oktaven. Es finden sich auch in dieser Sammlung

ausgesprochene Dreiklangsmelodien, bei denen an-

dere Tone (der funfstufigen Leiter) hochstens als

gelegentliche Durchgangstone vorkommen (z. B. Nr.

115, 128); doch tritt die Sexte des Grundtons ofters

als melodisch nicht unwesentlicher Bestandteil zu

den Dreiklangstonen hinzu (z. B. Nr. 129).

35. Metr. J = 66 (80). Solo.

Pv^^^^f^^i^^^^'=f=g^^gi

^ y. 0 1 0

rascher

^^^^m

^^m

167

Tempo imo. Chor.

Doiif^a. f ^ f. ^ P. ^ f. %. f. ^ f. ». f. ^ f. ^ f

Pauke: rprp /p^p ^P^P ^P^P "'"•

dimin.

^^-^"m^^^^w^^^^

^g^rjT^St^^^-;^ I J n j^gj

Metr. ^== 108

36.

g^|i^£^g^f:^::^t^^

a

^^^^Q^T^^ ^ I Ql^^lE^

dimin.

9^ ^jjj jTr;H^^^3-^^3-j-j^^^3=^

^r^^J J J_£

37.

Metr. J = 52. +

^

^

^m

e^

^^

viel langsamer noch langsamer

^^^^^^^^m\

168

Aus den Gesangen der Bellakula-(Bilchula-)Indi- aner in Britisch-Columbien, die ich selbst vor der phonographischen Ara, aber mit aller mir erreich- baren Genauigkeit aufgezeichnet habe (s. S. 64). Nur die Taktformen blieben mir an einigen Punkten zweifelhaft, da ich damals noch niclit wuBte, daB man mit ^/4 u. dgl. bei den Indianern als ganz ge- wohnlichen Takten zu rechnen hat. Das zweite der von mir aufgezeichneten Lieder, das ich in ^^/g schrieb, steht nach einer Mitteilung von Fr. Boas, der es spater in der Heimat der Truppe selbst horte, in ^/g; wie es in diesen einzufiigen ware, ist mir alierdings nicht ganz klar. Zwei andere Lieder habe ich da- mals schon auf Boas' Anregung hin in ^4 geschrie- ben (Doktorgesang und Menschenfressergesang).

Nr. 35 ist ein Liebeslied („Dies ist mein Bruder, er hat mein Herz krank gemacht, er hat meine Liebste genommen: so weine ich diesen Tag.")- Der Chor- refrain, der aus Interjektionen besteht, wurde auch als selbstandiges Stuck beim „Gesellschaftstanz" ge- sungen und dann etwas rascher, J = 80, genommen. Die Vor- und Nachschlage bedeuten mehr ein Hin- auf- und Hinunterziehen des Tones; sie kehrten an den betreffenden Stellen mit voller RegeimSBigkeit wieder. Die Leiter ist funfstufig, die allgemeine Melodiebewegung wieder von oben nach unten, beim Chor zugleich decrescendo, am Schlusse fast mehr ein Brummen als ein Singen. Auffallend die SchluB-

169 -

wendung zur Terz. Die Paukenschl^ge immer auf den schlechten Achteln.

In erstaunlicher Weise ist hier die Melodie des SolosSngers vom Chor umgebildet (oder umgekehrt). Die ersten sechs Takte des Solisten entsprechen den ersten drei des Chors, die letzten fOnf des Solisten den letzten fUnf des Chors. Die Umbildung ist frei und doch die Korrespondenz unverkennbar, wie man es von einer guten, ich mochte sagen stil- vollen, Variation eines Themas in unserer Musik verlangt.

Nr. 36, ein Tanzgesang auf Interjektionen, wieder durchgSngig mit Pauken auf den schlechten Takt- teilen, wieder von oben nach unten und decrescendo, wieder mit SchluBwendung zur Terz. An zwei Stellen wurde e regelmaBig in einer seltsam un- sicheren Weise intoniert, das erstemal anscheinend etwas erhoht, das zweitemal etwas vertieft, zugleich leiser als die angrenzenden Tone. Auch diese z6- gernd tastendeTongebung an ganz bestimmten Stellen, als ob man nicht fest auftreten wollte, scheint ge- radezu zu den Ausdrucksmitteln primitiver Musik zu gehoren. Obrigens spielt dieser Ton fUr den Indianer hier sicher nicht die RoUe des Haupttones wie fUr uns, die wir das StUck in Emoll harmoni- sieren wOrden. Vielmehr ist ihm sicher h Hauptton.

Nr. 37 ist ein Trauergesang, der bei einer Leichen- verbrennung vorgetragen wird, Fremden eigentlich

170

nicht vorgesungen werden darf. Der Text scheint aus Interjektionen (Uai usw.) zu bestehen. Die Notierung war hier besonders schwer. Eine Anzahl von Tonen wurde in der durch die Zeichen ange- gebenen Weise alteriert. Die Struktur denkt man sich vielleicht am besten so, da6 man die zwei ersten Takte als Vorbau betrachtet, wie ihn die Indianer lieben; dann folgt das Hauptthema in 3 Takten, welches in den folgenden Takten mit einer an den Vorbau erinnernden Anfangswendung und verlanger- tem Schlusse wiederholt wird. Zuletzt herrschte bei dem Vortrage eigentlich kein Takt mehr, die drei letzten Noten wurden fast wie halbe Noten ausge- halten.

Solo.

38.

Chor.

■^ -w- -w- -w- -w- -w-

Pauke. ''J?p?p ''5?p?p| usw.

T^nrrr^'i n i-^^n

^M

f—^tr^i^

^^-'^^^^^

39.

(Original eine groBe Sexte tiefer.)

^S

=P=i§

^

P

^k=tj-tm-j^n^a

171

Aus den von Boas direkt notierten Gesangen der Nutka-Indianer, die ebenfalls an der Kuste von Bri- tisch-Columbien wohnen (Brit. Assoc. Rep. 1890). Der erste ist ein Hauptlingsgesang beim Potlachfeste. Jeder Hauptling hat sein Lied, das auch nach seinem Tode zur Leichenfeier gesungen wird. Es steht hier als v^^eiteres Beispiel eines Eintonliedes (vgl. Nr. 28). Auch hier sol! wohl die Monotonie hochste Wurde und Feierlichkeit ausdrucken. DaB sie nicht Aus- fluB primitivster Musikzustande ist, lehrt das zv^eite Lied desselben Stammes, ein Schlaflied (Lullaby), das sehr an das der Hopi, oben Nr. 23, erinnert. Es hat vielleicht in Wirklichkeit nicht ganz so euro- paisch geklungen, wie es jetzt nach den Noten scheint, ist aber jedenfalls von Monotonie trotz seiner ein- schlafernden Absicht v^eit entfernt.

40.

Allegro

fe^lE^

g^

1^

Stabe: I- p I p p p p J I p p ^ J ^ I usw.

j^^^^^^S^^^^=^

I P P P P P P

i

1

I

p p p p p

p p p p p p

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-J. ; -

p p p p p I USW.

^^

1^1

172

Ein gleichfalls von Boas notierter Gesang der Kwakiutl beim Lehalspiel (Journ. of American Fol- klore 1888 p. 51). Er steht im Vs-Takt, aber mit Ein- schaltung zweier ^/^-Takte. Auffallend ist die fiinf- stufige Leiter mit der groBen Septime (die ganze Tonbewegung Takt 3—5 deckt sich mit der des Melchtaler Alpensegens, s. oben S. 89, aber das h kann hier doch kaum den gleichen Ursprung haben, moglicherweise , ist es nur als ein vertieftes c ge- meint, analog dem fis in Nr. 23). Charakteristisch der SchluB auf der Sekunde.

Die Kwakiutl sind nach Boas sehr erpicht auf genaue Ausflihrung der Gesange und Tanze, jeder MiBgriff gilt als Schimpf; ja bei gewissen Gelegen- heiten wird der Tanzer in solchem Falle getotet. Ihre Floten sind ungewohnlich gut und kiinstlich gearbeitet (s. die Abbildungen in Boas' groBerem Werke „The Social Organisation etc." p. 445).

41. Metr. J = 126.

Trommel: | ^ r ^ 7 p r | p p 7 J 7 J | 7 J 7 pi

P p 7 p 7 P I 7 p 7 p 1 1 p p 7 p 7 p 1 7 p 7 pi nsw.

Ein von Boas phonographierter und notierter Tanzgesang des namlichen Stammes (aus dem zu- letzt erwahnten Werke), den ich wegen seiner

173

rhythmischen EigentUmlichkeit hersetze. Man kann natUrlich in der Gesangsstimme auch durchweg V4-Takt annehmen, indem man im 2., 4., 6. Takte Synkopierung eintreten laBt. Aber der unseren rhyth- mischen Gewohnheiten widerstreitende Eindruck des Ganzen wird dadurch doch nicht aufgehoben, nament- lich wenn noch die Akzentuierung der schlechten Achtel durch die nachschlagende Trommel dazu- kommt. Auch wiirde durch die Verwandlung der ^/g- in ^U-Takie das jeweilige 3. Achtel in diesen Takten einen Akzent erhalten, den es im Munde der Sanger offenbar nicht hatte. Im weiteren Verlaufe findet 5ich der sonst regelmaBige Trommelrhythmus auch an einigen Stellen durch ^/g-Takte unterbrochen, weshalb Boas fur die Trommel ^^/^ Vs vorzeichnet. Der melodische Gang der Stimme erinnert stark an einen meiner Bellakula-Gesange (Nr. 2, nicht unter den hier reproduzierten). In diesem Kiistenstriche findet nach den Angaben der Indianer selbst ein starker musikalischer Wechselverkehr statt.

42. Metr. J^ = 170.

f^E&s^^^m^^i^^m

m

fri^-= N;=t=A=N==^+-l fe=^^=R

m^^:^^^^^

^^^^^^^^Ep£j^.zf^|

174 43.

Metr. J = 160. + 1

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i=\-

,^|E|El^^l^j^

¥ -g^

i^

Trommel: l^^i^l^l^l^ usw.

I 5

+ 3

^^^^^■^J .J^=^^

+ 6 1 I 7 8J_

+ 9

feir^^

usw.

Metr. J^ = 200.

9

44.

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Trommel: ^^^ UJ LH IH LL! LLI IL! UJ UJ

^v ^. 0=

^^¥^^^^~

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as as L

Metr. J = 158.

U LU

f ^ f f p

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45.

to-riQ:^;

'^

Trommel: J^ T | ^^ 7 ^ T ^^ ^ I J^ ^ ^'^ ^ ^^^ ^ I "^w.

^^^^^^^m

^

m

^=^^-i^iT

175 46.

Metr. J = 198.

Trommel: f f | usw.

^*^=5

-»-1— •-

47.

Metr. J = 164. I- (Falsett.)

^^^^=m^m.

ay

Trommel: rprprjrp ?pyprp7j usn.

i^^^^^^^i^l^^j^^r^P^I^I^^^^E^^I^

^=l^^^^lEg^;gE^BHr-c^d^^

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i

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F^g^fM=^3^

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fcEf=^^^^

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usw.

176

Aus den 43 nach Boas' Phonogrammen von Abra- ham und V. Hornbostel aufgeschriebenen und durch- gangig tonometrisch bestimmten Gesangen der Thomp- son River-Indianer im Inneren von Britisch-Columbien (Ph.- A. Nr. 10). Die meisten davon haben nur einen geringen Tonbestand und Tonumfang; manche glei- chen sogar den WeddagesMngen. Doch sind auch Dreiklangmelodien darunter (besonders fallt eine aus den Tonen des reinen absteigenden Molldreiklanges auf, Nr. 16), und einzelne erreichen den Umfang einer Oktave oder None. Die auBerordentlich schwierige Rhythmisierung der meisten wurde zum Teil nur durch die begleitenden Trommelschlage uberhaupt ermoglicht. Die Metronomisierung ist hier nur scha- tzungsweise (auf Grund der Tonlage der Manner- oder Frauenstimmen) beigefugt, da kein Stimmpfeif- chen bei der Aufnahme angegeben worden war.

Nr. 42, ein Spielgesang (hier gegenliber der Vor- lage mit verkurzten Notenwerten geschrieben), macht einen sehr temperamentvollen Eindruck, wird mit rhythmischer Verve und Exaktheit gesungen; das Ganze mit abnehmender Starke, die dann bei der Wiederholung(beliebigoft)wiedervolleinsetzt.Dieab- steigenden Quartengange erinnern an frtiher erwahnte.

Nr. 43, ein nur aus drei Tonen bestehendes, me- lodisch einformiges Tanzlied, ist doch durch die Rhythmisierung, ja auch durch die Struktur inter- essant. Die gleichformig taktierende Trommel, die

177

auf dem zweiten Achtel jedes Viertels nachschlagt, gestattet die VierteltOne als Tone gleicher Zeitdauer auseinanderzuhalten und zu zahlen. Die gewahlte Taktgliederung, Abwechslung von ^4" und V4-Takt, ist durch die RegelmaBigkeit, die so in das Ganze kommt, gerechtfertigt. Die Takte 1, 3, 5, 7 usf. haben untereinander einen gleichen oder verwandten Ton- fall, ebenso die Takte 2, 4, 6, 8 usf. untereinander. AuBerdem sind die ganzen durch Doppelstriche begrenzten Teile melodisch offenbar identisch und die Abweichungen nur Varianten. Die Fortsetzung bringt denn auch nur weitere Wiederholungen dieser 4 Takte mit weiteren Varianten. Der erste Takt des Ganzen ist ein Vorbau, wie er uns oft begegnet.

Gleichwohl konnte man nach Anleitung der Uber dem Notensystem stehenden Striche das Ganze auch in regelmaBig abwechselnden ^4- u"d V2-Takten schreiben. Wir mtissen dahingestellt lassen, welche Taktierung dem Sinne der Indianer mehr entspricht; ftir uns sind beide Formen sehr ungewohnt, und doch zeigen beide strenge Konsequenz in der Durch- fuhrung.

Die beiden folgenden Nummern sind religiosen Inhalts, Nr. 44 ein religioser Tanzgesang; beide von dreiteiliger Rhythmik, wie wiederum die Trommelbe- gleitung erkennen laBt. DieMelodiefuhrung derersten bringt aber doch wieder durch die Synkopierungen,

Stumpf, AnfSnge der Musik 12

178

die funftaktige Periode und die uns fremde kleine Septime Exotisches hinein. Die zweite, Nr. 45, steht in funfstufiger Leiter, deren Hauptton b auch fur unser Gefuhl Hauptton sein wiirde.

Als Gegensatz dazu ist Nr. 46, ein Tanz- gesang mit etwas widerspenstiger Melodiefuhrung in der ersten Halfte, aufgenommen, weil er besonders deutlich zeigt, wie verschieden unser Tonikagefuhl von dem des Indianers sein kann. Wir wiirden doch wohl das Stuck in Fdur harmonisieren. Fiir den Indianer scheint aber c Hauptton zu sein, wie auch Abraham und v. Hornbostel annehmen. Da6 am Schlusse, nachdem der Hauptton lange ausgehalten ist, noch ein benachbarter auftaucht, haben wir schon ofters bemerkt.

Nr. 47, als „Lyrischer Gesang" bezeichnet, be- ginnt mit einem kleinen Vorbau auf dem Anfangston, der bei der Wiederholung wegfallt (vgl. 42). Es ist in seinen zwei Abschnitten schon gebaut (man be- achte die Nachahmung des 2. und 3. Taktes auf der hoheren Quarte zu Beginn des 2. Teiles), wird mit klarer Falsettstimme gesungen, und konnte auch uns gefallen. Bei den spateren Wiederholungen treten nur geringe Varianten auf. Die Intonation weicht alierdings besonders beim fis von der uns- rigen ab, indem es um einen Viertelton zu hoch genommen wird. Auch das hohe e ist um eben- soviel erhoht.

179

48. Weiber.

Chor.

Hauptling.

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Manner. T T T T T T

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r T

Ausnahmsweise greifen wir hier auf eine ganz alte Notierung aus derselben Ktistengegend zuriick. Sie ist 1787 aufgenommen, 100 Jahre spater in den Berichten der Smithsonian Institution fur 1888 ab- gedruckt, sonst meines Wissens in der neueren Literatur nirgends angefUhrt, ist aber aus inneren Grunden sehr beachtenswert. Sie steht in Dixons Voyage Round the World 1789, p. 243, auch in der

12*

- 180

deutschen Obersetzung von J. R. Forster 1790, S. 219, als Gesang der Sitka-Indianer nordlich von Van- couver, vor dem Eintreten in einen Handel (Di- xon wollte Felle erhandeln). Der Berichterstatter, ein Begleiter Dixons, denkt selbst gering liber seine musikalischen Kenntnisse und will fUr die Genauig- keit nicht einstehen, aber er hat den Gesang oft gehort und beschreibt seine Eigentumlichkeiten in genauer Obereinstimmung mit der Notierung, hebt namentlich auch das Auseinandergehen der Chor- und der Hauptlingsstimme hervor. Der Gesang wurde fast eine halbe Stunde ohne Unterbrechung immer wiederholt und war begleitet von taktmaBigem Handeklatschen und Paukenschlagen, vom Schwingen der Rattel und mannigfachen Gestikulationen des Hauptlings. Eine ubereinstimmende Beschreibung im Buche des Reisegefahrten Dixons, Portlock, aus demselben Jahre. Er betont „the most exact man- ner" des Singens.

Da die Technik der Notation tadellos ist (im Ori- ginal ist auch der Tenorschlussel verwendet), mochte ich die Selbstkritik des Verfassers eher als ein Zei- chen dafiir ansehen, daB er gut gehort hat; denn gerade die Schwierigkeiten der Ubertragung exoti- scher Intonation in unser Notensystem pflegen we- niger musikalische Ohren nicht zu bemerken. Ob die einzelnen Tonschritte genau den hierstehenden entsprachen, ist naturlich unsicher. Aber die all-

181

gemeine Form der Melodiebewegung wird wohl richtig erfaBt sein. Sie verdient in doppelter Hin- sicht Beachtung: einmal wegen der alten Zeit, aus der sie stammt und aus der uns sonst Uber primitive Musik kaum etwas GlaubwUrdiges in Noten uber- liefert ist, dann aber besonders wegen der eigen- tumlichen Art von Mehrstimmigkeit. Die HSuptlings- melodie setzt, mehrmals durch Pausen unterbrochen, auf c^ ein und senkt sich dann nach a herab. Die Chormelodie, spater einsetzend, dann aber nicht weiter unterbrochen, geht teilweise mit ihr im Ein- klang, teilweise umspielt sie einen vom Hauptling festgehaltenen Ton, senkt sich dabei gleichfalls herab, geht zum Schlusse sogar auf die untere Dominante und von dieser wieder zur Tonika hinauf. Jede der beiden Weisen, die einfachere des Hauptlings, die reichere des Chors, tragt aber den namlichen all- gemeinen Charakter. Am fuglichsten ordnet sich daher diese Sangesweise unter den Begriff der Heterophonie, wovon wir gegenwartig unter den Indianern kein Beispiel mehr finden. Man konnte aber sogar einen schwachen Anfang von kontra- punktischer Stimmfuhrung darin finden.

Adagio non troppo.

49.

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182

50.

Allegro.

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Gesange der Zentral-Eskimo in den auBersten nordostlichen Teilen des amerikanischen Kontinents und den benachbarten Inseln (nordlich der Hudson- Bay), von Boas 1883 oder 1884 nach direktem Horen aufgeschrieben (s. Anm. 1). Auch da scheinen im ganzen einfachere Weisen als bei den Indianern der mittleren Regionen gesungen zu werden. Die beiden hier mitgeteilten Lieder beginnen und schlieBen mit der Interjektion „Aia" auf den Fermaten. Sie scheinen vorzuglich in unser Tonsystem zu passen, der zweite klingt fast wie ein aufgeloster Dur-Vierklang. Da- neben stehen aber wieder andere, fiir uns weniger genieBbare. Genaueres uber die Intervalle hat Boas nicht mitgeteilt.

51.

Metr. J = 72.

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183

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Kajaklied aus Ostgronland, aus den von Thal- bitzer und Thuren klirzlich veroffentlichten Proben, von Thuren selbst nach den phonographischen Aufnahmen gemaB den von Abraham und v. Horn- bostel aufgestellten Prinzipien in Noten gesetzt, zum groBen Teil auch tonometrisch untersucht. In unserem Lied ist die groBe Terz rein, die Quinte erheblich vertieft. Die Verfasser sind der Meinung, daB ein festes Tonsystem in Ostgronland nicht ent- wickelt sei. Sie haben den Eindruck, als besaBe jeder Sanger seine individuelle Tonleiter (vgl. Gil- man bezUglich der Hopi). Sie riihmen jedoch die bewunderungswurdige Technik in Hinsicht des kom- plizierten und mit groBter Konsequenz durchgefuhr- ten Rhythmus. Der Rhythmus der Trommel (des ein- zigen Instruments der Ostgronlander) scheine auBer Zusammenhang mit dem des Gesanges; nur zuv^eilen mache ein Ritardando des Sangers den Eindruck, daB er sich mit den Schlagen in Ubereinstimmung setzen wolle, worauf dann aber v^ieder beide Rhythmen auseinandergehen. Die ganze Vortragsweise zeuge

184

von einer uralten Tradition. Die Tonbewegung sei immer (nach dem ersten Aufsteigen) eine absteigende, der gewohnliche Tonumfang eine Quinte oder Sexte. Soeben beim Abschlusse des Druckes erscheint die vollstandige Sammlung der beiden Forscher: The Eskimo Music, 1911. Sie umfaBt 129 zum groBeren Teile phonographierte Lieder aus Ostgron- land nebst einigen aus Nordwestgronland. Eine ganze Anzahl zeigt eine dem obigen Lied (dort Nr. 121) sehr ahnliche Tonbewegung: Aufsteigen zur Quinte und Senkung von da durch die Terz (und Sekunde) oder durch die Quarte. Halbton- stufen kommen nur gelegentlich im Durchgange vor. In einem Liede begleitet ein Chor den Sanger in der Weise, da6 er den Ton a M^iederholt angibt, wahrend der Solist von f tiber a (stark erhoht) oder direkt nach c hinaufgeht. Dann tritt Unisono ein. Den SchluB der Gesange bilden haufig einige musikalisch unbestimmbare stark aspirierte Laute, wie sie auch bei Indianern vorkommen, zu deren Gesangen sich hier iiberhaupt manche Analogien finden (auch z. B. die kleine allmahliche Erhohung der absoluten Tonhohe, von der oben zu Nr. 22 die Rede war, die freilich auch bei uns vorkommt). Die Musik spielt bei den Ost- gronlandern eine solche Rolle, daB sogar bei Gerichts- verhandlungen Anklager und Verteidiger singen (Juri- dical Drum Songs), woraus begreiflicherweise eine besonders lebhafte Art von Musik entspringt.

185

In Nordwest- und Stidwestgronland ist nach Thalbitzer die Musik schon stark europaisiert. Bei den Polareskimo, von denen R. Stein 1902 nach direktem H5ren 39 Gesange aufgeschrieben, hat in den letzten Jahren der Norweger Leden phono- graphische Aufnahmen gemacht, die er selbst ver- 5ffentHchen wird. Sie versprechen weitere Aus- beute fUr die Erkenntnis der Beziehungen zwischen den Eskimo und den Indianern.

52.

Metr. J = 176.

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53.

Metr. J = 152.

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Wir fUgen noch einige Melodien aus Afrika bei. Aus diesem Erdteil liegt zwar auch schon viel phonographisches Material vor, es ist aber noch

186

weniger bearbeitet. In den Ktistenlandern von Af- rika und selbst in manchen inneren Gegenden durften europaische Einflusse vielfach mitwirken, auch sol- che aus alterer Zeit. DaB die heutigen Eingeborenen eine Melodie als ihr ausschlieBliches Eigentum und Erzeugnis betrachten, ist noch kein gentigender Be- weis, daB sie es wirklich ist.

Die obigen beiden Lieder, die man wohl fur echt halten darf, sind von Pater Witte in Atakpame, Togo, phonographisch aufgenommen und von Prof. Pater W. Schmidt nach diesen Aufnahmen aufgezeichnet (Ztschr. Anthropos I, S. 76 und 71). Sie gehoren den Ewe-Negern an, und zwar den Ge- oder Anecho- leuten. Sie werden von Trommeln begleitet. P. Witte halt es bei der besonderen Bedeutung des Tonfalles in den Ewesprachen fur mogUch, daB die Ton- bewegung der Melodie teilweise mit der des Textes zusammenhange, aber eine strenge Abhangigkeit bestehe keinesfalls. Die Melodien tragen ja auch einen rein musikalisch durchaus verstandlichen Cha- rakter.

Das erste Lied bezieht sich auf ein altes Priester- verbot, zweimal im Jahre Yams zu pflanzen. Die Gliederung ist ubersichtlich: nach dem zweitaktigen Thema ein Zwischentakt, dann die Wiederholung des Themas auf der Unterquarte. Die Funfteiligkeit des Taktes steht nach P. Schmidt auBer Zweifel. Ein diesem angeftigtes, ganz analog verlaufendes

187

Liedchen (Kinderspottlied auf die WeiBen), worin die Gdur-Tonart noch deutlicher hervortritt, das aber ebenso mit d^ beginnt und mit d^ schlieBt, dUrfte schon stark europaisch beeinfluBt sein.

Nr. 53 ist ein Madchenlied, worin die Sympathie fur einen jungen Mann ausgedriickt wird. Wenn es auch fUr uns in Dmoll zu stehen scheint, ist doch schwerlich fUr die Eingeborenen d Hauptton. Das cis wird an mehreren betonten Stellen vertieft (die Bindung nach der Fermate und den Glissandostrich habe ich nach P. Schmidts Angaben eingefugt). Das Lied wird in ziemHch straff em, fast steifem Rhyth- mus gesungen. Der Takt auch hier zweifellos fUnf- teilig; nur einmal kommt ein 6. Viertel am Takt- schluB hinzu, wo ein (uniibersetzter) Ausruf im Text eingeschaltet scheint.

Schnell.

54.

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188 55.

Gesang:

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Kleine Trommel in G, groBe in E:

A A A A A A

i rm n rnTi n rm

r. 1. r. 1. r. 1. r. 1. usw.

Brettchen : r. r. r.

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1. 1

usw.

r. I. r. r. 1. r.

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USW.

(Brettchen wie vorher.)

56.

Gesang:

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^-^ J f f 1^

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Gr. Trommel:

Handeklatschen:

A

^ J

i

189

6

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usw.

usw.

3

r. I. r. 1. r. r. 1. r. r. 1. r.

Diese Beispiele sind dem Buche des Regierungs- lehrers J. Schonharl in Lome „Volkskundliches aus Togo" 1909 entnommen. Sie stammen gleichfalls von den Anecho-Leuten. Schonharl hat sie direkt nach dem Gehor aufgezeichnet. Seine Erlauterungen und die sorgfSltige Beachtung rhythmischer Kom- plikationen zeigen ihn als einen guten Beobachter. Auf die Ausfuhrung der Rhythmen mit den ein- heimischen Instrumenten hat er sich selbst eingelibt. Man darf also die Notierungen im allgemeinen fur authentisch halten. Die Melodien sollen zum Teil alt sein, aber immer neue Texte erhalten. Die dritte Melodie allerdings wird als nur 15 Jahre alt be- zeichnet und scheint entschieden europaischen Ur- sprungs. Sie ist hier nur wegen der rhythmischen Begleitung aufgenommen, die die Eingeborenen hinzu- gefUgt haben. Schonharl versichert, daB die meisten Ewelieder sich in zweiteiligen Rhythmus gliedern lassen; wie denn auch die 20 von ihm mitgeteilten zumeist im ^/^Takte geschrieben sind. Doch wurden

190

auch Lieder, besonders wahrend der Tanzpausen, ohne Trommelbegleitung gesungen, die sehr wechsel- vollen Rhythmus haben und sich in keinen Takt teilen lassen. Metronomzahlen sind nicht beigegeben worden, aber es ist erwahnt, daB die Tanzlieder durchweg in sehr heiterem schnellen, immer feuriger werdenden Tempo gesungen werden.

Im groBen und ganzen lassen sich unsere Ton- arten auch auf diese Lieder iibertragen, ja einige (wozu auch ein auf S. 124 in eine Parabelerzahlung eingefugtes) bestehen fast ausschlieBHch aus Dur- Dreiklangstonen, ahnlich vielen IndianerHedern. Aber es wurde sich noch um die genauere Intonation handeln, und auBerdem kommen doch fast tiberall Harten vor, die lehren, daB das TonalitatsbewuBtsein nicht ohne weiteres dem unsrigen gleichzusetzen ist.

Als Beispiel fur diese Seite mag hier Nr. 54 dienen. Wir konnten es allenfalls in E-moll denken, ohne die (auch bei uns spater eingefuhrte) Erhohung der Septime. Aber schon dadurch und besonders durch den SchluB auf der Sekunde wirkt es fiir uns hart und befremdlich. Nach dem Verfasser schlieBen die Ewelieder vielfach in der Sekunde, Quarte oder Septime, wie uns AhnUches auch bei den Indianern begegnet ist (bei diesen Intervallnamen ist freilich bereits irgendein Ton als Hauptton angenommen). Die hier nicht beigeftigte Begleitung durch Schlag- instrumente ist noch einfach.

191

Dagegen zeigen Nr. 55 und 56 eine ausge-

sprochene Polyrhythmie derBegleitung. r. 1. bedeuten

die Anwendung der rechten und linken Hand. Die

afrikanische Musik ist hervorragend durch rhythmische

Polyphonic und darin zweifellos original gegenuber

der europaischen, ja sie vielfach Ubertreffend. Die

Ewe haben ein ganzes System von Trommeln ver-

schiedenster Art, die sich auch in verschiedener

Weise an der Gesangsbegleitung beteiligen. In bezug

auf die Abstimmung der einzelnen Trommelklassen

und den Rhythmus, in dem jede geschlagen wird,

herrschen bestimmte Gesetze. Die Lieder werden

immer von einem kleinen Trommelorchester, auch

durch Schlage auf Holz- oder Metallbrettchen und durch

Handeklatschen in mannigfaltigen Rhythmen begleitet.

57. Metr. J = 152.

Solo.

Cher.

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192

Solo.

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58.

Metr. J = 168. Solo.

59.

Metr. J- = Solo.

Chor.

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193

r-cr-r-^^^p^lf=7~f"pT^^^

Drei phonographisch beglaubigte Beispiele primi- tiver Mehrstimmigkeit aus Deutsch-Ostafrika. Das erste, nach Aufnahmen von Prof. Weule, gehort dem Stamme der Wanyamwezi aus der Bantu-Familie (Ph.- A. Nr. 19). Es ist ein Teil eines langeren Tanz- liedes, in welchem Chor und Solo in ahnlicher Weise abwechseln. Die untere Stimme des Chors klingt aus der Walze erheblich starker heraus, so daB die obere wie eine diskrete Begleitstimme er- scheint und das Ganze fur unsere Ohren genieBbarer wird, als es aussieht. In Wirklichkeit kSnnten je- doch beide Stimmen gleich stark gewesen sein und nur die verschiedenen Entfernungen vom Aufnahme- trichter an der Starkeverschiedenheit schuld sein. Weule erzahlt in seinem Reisewerke, daB der Ein- druck, wenn er die Leute aus einiger Feme solche Weisen in der Dammerung singen horte, ein ganz angenehmer gewesen sei; er bezeichnet sich aller- dings als einen Unmusikalischen. Aber auch an- dere Reisende riihmen den Wanyamwezi-Gesang als besonders eindrucksvoll. Der ganzen Struktur nach gehoren StUcke wie dieses langst nicht mehr zu den eigentlich primitiven.

Auch in den ubrigen von v. Hornbostel notierten Wanyamwezi-Gesangen geht mehrmals gegen den

Stumpf, AnfSnge der Musik *3

194

SchluB die Einstimmigkeit in Quinten-, Quarten- und Oktavenparallelen Uber.

BezUglich des Taktes ordnen sich die mit ^4 bezeichneten Takte nach der Anzahl der Viertel zwar ganz genau in diese Taktform (auch in anderen Aufnahmen, die von diesem Gesange vorliegen), aber die Akzentuierung macht den Eindruck, als begannen an den durch die kleinen Striche uber dem Noten- system angegebenen Stellen neue Takte. Man wtirde in diesem Falle vor dem ersten ^j^- zunachst einen 74-Takt bekommen und umgekehrt vor dem Wieder- beginn des 3/2-Taktes einen V4-Takt. Stellt man sich die Einteilung so vor, so gewinnt man in der Tat, wie V. Hornbostel bemerkt, noch ein besseres Bild des wirklichen Vortrags; und wir wissen ja, da6 VerlMngerungen und Verkiirzungen eines sonst fest- gehaltenen Taktschemas (also 74 ^^^ ^U bei sonst festgehaltenem V4) keine ungewohnlichen Vorkomm- nisse sind.

Nr. 58, als Hochzeitstanzlied bezeichnet, zeigt dieselben Eigentumlichkeiten. Es besteht aus einem immer wiederkehrenden Motiv von stets gleicher Lange. Im 2. Abschnitt des Soloteiles ist es zuerst melodisch modifiziert, lenktaber in die namliche SchluB- formelein. ImChor setztdieuntere Stimme dieWeise fort, die obere begleitet sie im Quartenorganum.

Die Wanyamwezi haben einen Musikbogen, eine Harfe, H5rner, Glocken und wieder viele Trommel-

195

arten. Floten scheinen selten. Zur Unterstlitzung des Rhythmus der Gesange dienen nur Trommeln und gelegentlich derMusikbogen. Auch bei diesem Stamme werden den alten Melodien immer neue Texte an- gepaBt.

Ein Seitenstuck bietet Nr. 59, phonographisch aufgenommen von Dr. Czekanowski (Ph.-A. Nr. 25). Es gehort dem benachbarten Stamme der Wasukuma an, der mit den Wanyamwezi auch sprachlich nahe Verwandtschaft zeigt. Aus dem langeren von v. Horn- bostel notierten Stiick ist hier der Anfang und SchluB (der aber nicht SchluB des ganzen Gesanges zu sein braucht, da die Walze zu Ende war) wieder- gegeben. Hier handelt es sich wieder vorzugsweise um Quartenparallelen. Interessant ist es aber, wie doch immer mit der konsonanteren Quinte geschlossen wird.

Metr. J = 126 Solo.

60.

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Pauke: uKT^ tXtT "^ Chor.

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usw. I , Solo.

usw.

Ich flige schlieBlich zur Vergleichung ein mun- teres StUcklein mit QuartengSngen bei, das ich nebst anderen Stticken 1887 von einer Singhalesentruppe

13^

196

horte, iiber deren Vorfiihrungen ich eingehende Auf- zeichnungen gemacht habe. Auch die Tone der Pauke waren die hier notierten, nur vielleicht eine Oktave tiefer. Bei den Quartengangen des Chors ist es auch hier die untere Stimme, die in der Ton- hohe des Vorsangers fortfahrt. Das ist nun nicht mehr Musik reiner Naturvolker, aber immerhin eine niedrigstehende gegenuber der der benachbarten asiatischen Kulturnationen, wo sich dieseiben Paral- lelgange finden. Vielleicht sind auch die Quarten- und Quintenparallelen in Ostafrika nicht ohne histori- schen Zusammenhang mit diesen asiatischen.

So sind wir zum Anfangspunkte, Ceylon, zuriick- gekehrt und beschlieBen damit unsere musikalische Reise urn die Erde.

197

Abbildungen primitiver Instrumente.

(Zu S. 35 ff. des Textes).

Wenige Proben sollen die Hauptgattungen und die Spielweise primitiver Instrumente illustrieren. Aus jeder Gattung sind rohere und entwickeltere Formen gewahlt.

Abbildung 1. Knochenpfeifen aus Grabern auf den Kalifornischen Inseln. Nach Th. Wilson, Prehistoric Art, Smithsonian Institution Report for 1896. Die Pfeifen sind nach dem Flageoletprinzip gebaut; gegen- uber dem seitlichen Loch fanden sich im Inneren Oberreste einer aus Gummi oder Asphalt bestehenden, bis zum offenen Ende reichenden Leiste, die den schmalen Spalt des Flageolets herstellte. Die An- blasebffnung ist gut ausgearbeitet. Das zweite Exemplar ist eine Doppelpfeife. Am unteren Ende waren die beiden Teilpfeifen durch eine jetzt ge- sprungene Asphaltmasse zusammengehalten; auBer- dem waren sie mit Bast umwickelt. In anderen Grabern derselben Inseln fanden sich auch Knochen- floten mit vier Lochern.

Abbildung 2. Ein Orchester von Panpfeifen- blasern auf den deutschen Salomon-Inseln. Nach A. B. Meyer und Parkinson, Album von Papua- Typen I. Das Bild gibt eine Vorstellung der ver- schiedenen Gr56en von Panpfeifen; und zwar sind

198

es hier durchweg zweireihige. Unser Phonogramm- archiv besitzt auch Aufnahmen der mehrstimmigen Musikstiicke, die von solchen Orchestern geblasen werden; sie klingen unserem Ohre hochst drollig. (Ph.- A. Nr. 30.)

Abbildung 3. Als Seitenstiick dazu ein Kameruner Orchester mit Kurbistrompeten, dessen Produktionen uns von Herrn Dr. Ankermann, Direktor am Berliner Museum fur Volkerkunde, dem ich auch das Bild verdanke, auf Walzen mitgebracht sind. Es ist die Musik des „Voma-Bundes", einer religiOsen Briider- schaft der Bali in Nordwestkamerun.

Abbildung 4. Musikbogenspieler aus dem Wald- gebiete des oberen Kongo, westlich vom Albert-See. Nach H.Johnston, The Uganda Protectorate, 1902. Die Saite wird an die Zahne (aber nicht mit den Zahnen) gehalten; mit der linken Hand wird sie verktirzt.

Abbildung 5. Basuto-MSdchen (SUdafrika), auf einem Musikbogen spielend. Aus Henry Balfours Monographic „The Natural History of the Musical Bow" 1899, nach dem Original von F. Christol. An dem Holz ist hier ein Ktirbisresonator befestigt (haufig ist das Band auch noch um die Saite ge- schlungen). Die eine Hand h^lt den Bogen und ver- ktirzt zugleich die Saite, die andere schl^gt die Saite mit einem StSbchen.

Abbildung 6. Lyra in Kavirondo, nordwestlich vom Viktoria-See. Aus dem zu Abb. 4 erwahnten Werke

199

von Johnston. Ein Schildkrotenpanzer, auf der Innen- seite mit einem Fell Uberspannt, dutch das die Saiten gehen, dient als Resonator.

Abbildung 7. Harfe der Pangwe (Fan) in Westafrika. Der Resonanzkasten ist ein ausgehohltes StUck Holz mit einer kleinen seitlichen Offnung. Das Bild ist mir von Herrn Dr. Tessmann, Direktor des LUbecker Museums, dessen Pangwe -Werk im Erscheinen be- griffen ist, freundlichst uberlassen.

Abbildung 8. Klangholzer auf der Gazellen-Halb- insel in Neupommern. Nach Dr. H. Schnee, Bilder aus der Sudsee, 1904.

Abbildung9.SignaltrommelnebstPauke,zumTanze gespielt, Westafrika. Aus dem Katalog der Crossby- Brown Collection (Metropolitan Museum) in New- York.

Abbildung 10. Xylophon (Amadinda genannt) bei dem Bagunda-Stamme in Ostafrika, nach Johnston a. a. O. Zwei Personen spielen hier gleichzeitig auf demselben Instrument, die KlOppel ruhen auf den gleichen Tasten. An den Holzstaben sieht man die zur genaueren Abstimmung ausgekerbten Stellen. In anderen und wohl den meisten Fallen liegen die Auskerbungen auf der unteren Seite.

Abbildung 11. Xylophon (Marimba) der Yaunde in Kamerun. Aus B. Ankermann, Die afrikanischen Musikinstrumente (Ethnolog. Notizblatt, Bd. 3, Heft 1). Die zahlreichen Abbildungen und Beschreibungen in

- 200 -

diesem Buche geben dem Leser, der sich naher zu unterrichten wUnscht, am besten einen Begriff von der Mannigfaltigkeit der in Afrika vorkommenden Instrumente, namentlich wenn er die Anschauung der Exemplare, die jedes groBere Museum ftir Volker- kunde in Fulle besitzt, damit verbindet.

Abb. 1.

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Abb. 2.

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203

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Abb. 4.

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Abb. 6.

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Abb. 7.

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Abb. 8.

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Abb. 11.

Stumpf, Anfange der Musik

14

Verlag von Johann Ambrosius Barth in Leipzig

Philosophische Reden und Vortrage

von Carl Stumpf

Professor der Philosophic an der Universitat Berlin

II und 262 Seiten. 1910. Broschiert M. 5.—, gebunden M. 5.80

I nh alt: Die Lust amTrauerspiel. Leib und Seele. DerEnt- wicklungsgedanke in der gegenwartigen Philosophie. ZurMe- thodik der Kinderpsychologie. Die Wiedergeburt der Philoso- phie. — Vom ethischen Skeptizismus. Die Anfange der Musik.

Der Tag: Es ist sehr erfreulich, daB Stumpf sich entschlossen hat, seine bei verschiedenen, zumeist akademischen Gelegenheiten gehaltenen Vortrage philosophischen Inhalts nunmehr auch in einem Bande gesammelt herauszugeben. Denn wenn auch solche Vortrage naturgemaB nur in all- gemeinen Zugen uber den jeweils in Frage stehenden Gegenstand Auf- klarung geben konnen, so hat es doch Stumpf stets in ungewohnlicher Weise verstanden, im knappen Rahmen solcher Vortrage das Recht seines eigenen Standpunktes zu erweisen und diesen zum Mittelpunkt der ganzen Darlegung zu machen. . . . Stumpfs gesammelte philosophische Vortrage sind in ihrer gedanken- und ausblicksreichen Knappheit keine sehr leichte, aber fur den, dem es um ein wirklichesVerstandnis der behandelten Fragen zu tun ist, sehr fruchtbare und geradezu unentbehrliche LektUre..

Zeitschrift fur Philosophie: Darin besteht in erster Linie der groBe Reiz der Sammlung, daB sie es ermoglicht, einen geschlossenen Eindruck von der philosophischen Personlichkeit Stumpfs zu gewinnen. Die Aus- fuhrungen erortern moglichst allgemein gehaltene Themen von der Warte zusammenfassender Uberschau aus. Letzte und hochste, in der philoso- phischen Besinnung immer wieder auftauchende Fragen werden in groBen Strichen entwickelt und ihre Losungsversuche al fresko angedeutet. Die Vortrage bieten eine Reihe meisterhatt gezeichneter Skizzen, die dem Fach- mann eine gedrangte Ubersicht und dem Studierenden eine groBzUgige und darum vortrefflich orientierende Einfuhrung in den Geist der philo- sophischen Forschung, in die verschiedenen Probleme und in die Bemiihungen um deren begriffliche Bewaltigung gewahren.

Dresdner Anzeiger vom 4. 6. 1911: Er ist der geborene, wissenschaft- liche Stilkiinstler; eine Freude und ein GenuB, ihm in das Labyrinth schwieriger Gedanken zu folgen, wie er das Wichtige hervorhebt, anderes anklingen laot, wieder anderes unterdriickt; ein besonderer Reiz, u'ie er, ohne im Inhaltlichen irgend etwas preiszugeben, seine Redeweise der je- weils gegebenen Situation anpaBt, zu den Kommilitonen anders spricht als zu koordinierten Arbeitsgenossen. Endlich ist er ein Meister objektiver Wiedergabe sowohl fremder Gedanken wie historischer Entwicklungen. Klassisch ist in der Philosophie nicht nur das stets fragliche Bleibende, sondern was einer letzterreichbaren Gesinnung unter bestimmten Denk- voraussetzungen einen bedeutenden und treffenden Ausdruck verleiht. Das tut dieses Buch, zu welchem man wie dem Verfasser so seinen Zeit- genossen aufrichtig GlUck wiinschen darf.

Verlag von Johann Ambrosius Barth in Leipzig

Beitrage, zur Akustik und Musikwissenschaft.

Herausg. von Prof. Dr. Carl Stum pf. In zwanglosen Heften.

1. Heft: V, 108 S. 1898. M. 3.60. Stumpf, Konsonanz und Dissonanz.

2. Heft: III, 170 S. 1898. M. 5.—.

C. stumpf, Neueres iiber Tonverschmelzung. M.Meyer, ZurTheorie der Differenztone und der Gehorsempfindungen iiberhaupt. M.Meyer, Ober die Unterschiedsempfindlichkeit fiirTonhohen. C. Stumpf und M. Meyer , MaBbestimmungen iiber die Reinheit konsonanter Intervalle. C. Stumpf, Zum EinfluB der Klangfarbe auf die Analyse von Zusammenklangen.

3. Heft: IV, 147 und 11 S. mit 9 Tafeln. 1901. M. 6.50. J. C. F i 1 m 0 r e , Indianergesange. P. von J a n k o , Uber mehr als zwolfstufige gleichscliwebende Temperaturen. O. Abraham und K. L. Schafer, Cber die maximaleGeschwindigkeit vonTonfolgen. O. Abraham und K. L. Schafer, Uber das Abklingen vonTonempfindungen. Carl Stumpf, Be- obachtungen iiber subjektive Tone und iiber Doppelthoren. K.L. Schafer. Die Bestimmungen der unteren Horgrenze. O. Raif, Uber die Fingerfertig- keit beim Klavierspiel. C. Stumpf, Tonsystem und Musik der Siamesen.

C. Stumpf und K. L Schafer, Tontabellen.

4. Heft: IV, 182 Seiten mit 3 Tafeln. 1909. M. 6.50.

C. S t u m p f , Uber das Erkennen von Intervallen und Akkorden bei sehr kurzer Dauer. L. Wi 1,1 iam Stern, DerTonvariator. K. L. Schafe r und Alfred Guttmann, .Uber die Unterschiedsempfindlichkeit fiir gleichzeitigeTone. C. Stumpf , CberzusammengesetzteWellenformen. C. Stumpf , Differenz- tone und Konsonanz. C. S t u m p f , Akustische Versuche mit Pepito Arriola. Paul von Liebermann und Geza Rev6sz, Uber Orthosymphonie. W. Kohler, Akustische Untersuchungen. I.

5. Heft: VI, 167 Seiten. 1910. M. 5.—.

C. stumpf, Beobachtungen iiber Kombinationstone. Erich M. v. Horn - bostel, Ober vergleichende akustische und musikpsychologische Unter- suchungen.

Handbuch der Akustik. Von Prof. Dr. F. Auerbach.

Gr.-8«. X und 714 Seiten. Mit 367 Abbiidungen. 1909.

Brosch. M. 25.—, geb. M. 27.—. Naturwissenschaftliche Rundschau: Eine besondere Empfehlung dieses fiir jeden in der Physik oder auf benachbarten Gebieten Tatigen schlechthin unentbehrlichen Werkes ist angesichts der Namen der Mitarbeiter wohl nicht notig. Die ungemein groBe Fiille der Tatsachen, die hier geordnet in knapper tfbersicht, mit reichemLiteraturverzeichniszusammengestellt,sichvorfindet, wird das Werk mit seinen verlaBlichen Angaben zu einem steten Heifer bei den Spezialarbeiten machen. Uberaus lobend ist die schone Ausstattung zu erwahnen.

Die Qrundlagen der Musik. Von Prof. Dr. F. Auer- bach. VI, 209Seiten mit 71 Abbiidungen. 1911. Geb.M.5.— .

Dieses Buch wendet sich an alle, die fiir Musik, sei es ein kiinstlerisches, sei es ein wissenschaftliches, sei es ein rein menschliches Interesse haben und es macht in keiner Weise besondere Ansprliche an die Vorbildung des Lesers. Es bildet zugieich Band 18 von Wissen und Konnen, Sammlung von Einzelschriften aus reiner und angewandterWissenschaft.herausgegebenvon Geheimrat Professor Dr. B. Weinstein, Charlottenburg.

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