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A. Bürider, τὸς . Präfident des ſchweizeriſchen Volksvereins. FE

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T. Allgemeine Weltlage.

Nah dem Sturze Napoleons I. erfand die Heilige Allianz das Syitem des Europäifchen Gleichgewichtes. Diefes, nur zur Lebensfriftung veralteter Stantengebilde und zur Wahrung Hochfonfervativer Intereſſen erfundene Syitem, das Jahre lang gleich einem Alp auf Europa laftete, wurde durch die Kevolutionen der Dreißiger- und Vierziger-Jahre zwar erihüttert, aber erft durch die Kriege von 1859 und 1860 und die Schöpfung des Königreichs Italien gründlich befeitigt. Napoleon II., den Zug der Zeit nicht verkennend, feste an die Stelle des Europätfchen Gleichgewichts das Nationalitätenprinzip und wußte durch diefes Prinzip, das er freilich je nach Bedürfniß bald mit Sprachgenoſſenſchaft, bald mit natürlichen Grenzen identifizirte, Frankreich für einige Fahre einen über⸗ wiegenden Einfluß zu erringen.

Mit dem Krieg vom Jahr 1866 und der Schöpfung des Nord— deutſchen Bundes hatte die Vorherrſchaft Frankreichs ein Ende, mit dem Krieg von 1870 ſollte dieſe Vorherrſchaft wieder erlangt und Deutſchland dafür gezüchtigt werden, weil es das von Frankreich proklamirte Nationali- tätenprinzip auch für fih in Anfprucd genommen. Allein der muthwillig heraufbeſchworene Krieg führte nicht nur zur tiefen Demüthigung Frank— reis und zum Sturz feines Kaiferthrones, jondern gab Deutſchland auch feine langerjehnte Einheit und damit eine Machtjtelung, welche gegenwärtig unbedingt die erjte auf dem europätfchen Kontinent.

Zroß feiner unerhörten Niederlage, feiner materiellen Einbußen und des Derluftes zweier Provinzen ift aber Frankreich phyſiſch und moralisch nicht gebrochen. Dank jener wunderbaren Claftizität des Geiftes, die ihm eigen, und Dank der reichen Hülfsquellen feines Landes hat das fran-

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zöfifche Volk in kurzer Zeit feine innern zerrütteten Zuftände auf eine, unfere republifaniichen und proteftantifchen Augen allerdings wenig ἀπε iprechende Weife geordnet, fein Finanzſyſtem geregelt, fein Heerweſen nach den Erfahrungen des Τερίε Krieges von Grund aus umgeftaltet. Das einzige Gefühl, das ganz Frankreich beherricht, iſt das der Revanche und daß ſich diefes Gefühl wenigftens in der Armee mehr und mehr zum feiten Willen geftaltet, beweist ihre unausgeſetzte Thätigkeit. Der Offizier, der unter dem Kaiſer flanirte, arbeitet jegt, und es mag eine noch wenig befannte Thatſache fein, daR die franzöſiſche Deilttärliteratur feit dem festen Kriege eben fo Vieles und vielleicht eben jo Gutes, als je die deutjche, zu Tage gefürdert.

Es unterliegt feinem Zweifel: das letzte Wort, wo Europa feinen Schwerpunkt oder wie e8 ein natürliches, auf gejunde nationale Staaten- bildungen und freiheitliche Entwicklung der Völker gegründetes Gleichgewicht finden foll, dieſes letzte Wort iſt noch nicht gefprocdhen. Ein neuer ſchwerer Kampf bereitet vor; ob im zwei, in fünf, in zehn Jahren, wer Tann das willen?

Neben der Eiferfucht und dem Ningen der verfchiedenen Nationali- täten gegen einander fehen wir noch zwei große, über die Grenzen der Staaten und Völker weit hinausreichende Gegenſätze: die internationalen Gegenſätze auf fozialem und die internationalen Gegenſätze auf kirchlich— veligtöfem Gebiet. Zwar: die erftern find vorläufig in den Hintergrund getreten; die rothe Internationale, über welche feit dem Fall der Parijer Kommune in den meiften einander fonft feindlichen Staaten das überein ftimmende vaeh victis ergangen, iſt in fich gefpalten und desorganifirt. Aber die fozialen Gegenſätze ſelbſt bejtehen fort; in den großen Städten Europas gähnt noch immer die furchtbare Kluft zwifchen Reich und Arm. Ueberfluß, Herzlofigkeit und lukulliſches Wohlleben, Aktien» und Börjen- ſchwindel auf der einen, jaurer Kampf ums tägliche Brod, Neid, ver- mehrte Bedürfniffe und Begierden auf der anderen Seite: das find Feine Grundlagen für fefte, dauernde Friedenszuftände, das find Zündftoffe, die nur günftiger Gelegenheit, ſchwerer politifcher Krifen bedürfen, um die ver— zehrende Flamme zu erzeugen.

In viel direfterer Beziehung, als die fozialen, ftehen die kirchlich— veligiöfen Gegenfäge zur gegenwärtigen Politik. Obgleich auch dieſe Gegenfäße über die Gränzen der Staaten und Völker weit hinausreichen,

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ſo haben ſie doch in jüngſter Zeit eine nationale Färbung dadurch an— genommen, daß die beiden feindlichen Großmächte, Deutſchland und Frankreich, recht eigentlich zu Vertretern der beiden kirchlichen Haupt— ſtrömungen geworden ſind. Schon unter der Herrſchaft Napoleons III. ſpielten geheime Fäden zwiſchen Rom und Paris, und ſehr wahrſcheinlich war der Umſtand, daß die Proklamirung der päpſtlichen Unfehlbarkeit fait gleichzeitig mit der Kriegserklärung an die proteſtantiſche Großmacht Preußen erfolgte, kein ungefähres Zuſammentreffen.

Der Ausgang des Krieges machte auf das Gemüth des tapfern und hochherzigen, aber durch Selbjtüberfchägung geblendeten franzöfifchen Bolfes einen erjchütternden Eindrud. Leichtlebig und gutmüthig in gemöhn- lichen Zeiten, fällt der Sranzofe doch in Zeiten politifcher Krifen Hin und wieder in einen Parorismus, der einen gewifjen dämonifchen Zug in feinem Weſen unverkennbar hervortreten läßt. Praktiker, Realiſt nad) Anlage und Geſchmack und nicht gewohnt, viel über religiöfe Gegenftände nachzudenken, findet er, wenn plöglich ein Weltereigniß, das den gewöhn— lichen Gang der Dinge durhbricht, ein großes Nationalunglüf an ihn herantritt, feinen feiten Halt in feiner Bernunft; er wird entweder Fana— tifer des Unglaubens, Jakobiner und Kommunard, oder er wird Fanatifer des Aberglaubens und jucht die Kroft zu feiner Erhebung in myſtiſcher Eftafe. Groß in feinen Tugenden, in feiner Aufopferungsfähigfeit, feinem Patriotismus, feinem Heldenmuth, ift der Franzoſe wenigſtens der ungebildete in folchen Zeiten ebenfo groß in feinen Fehlern und Ver— irrungen. An die Stelle feiner fonjtigen liebenswürdigen Eigenschaften tritt als ein eigentliches nationales Merkmal ein finfterer, Shmwärmerifcher, blutdürftiger Geift, der den Franzoſen als Menſchen zwar erniedrigt, als Staatsbürger und Krieger aber befähigt, nah Außen eine große Kraft zu entwideln. Die Albigenferfriege und Kreuzzüge, die in Frankreich ihren Anfang genommen, die Jungfrau von Orleans, die Bartholomäus: naht, die Hugenottenfriege, die Dragonaden Ludwigs XIV., der rothe Shreden der Jakobiner und Kommunards, der weiße Schreden ber Reſtauration und der Verſailler, dieß find Erſcheinungen in der fran- zöſiſchen Gejchichte, die man bei der Beurtheilung der gegenwärtigen Weltlage wohl im Auge behalten muß; denn fie zeigen einerfeits, weſſen das franzöfifhe Volk in gemifjen Zeiten fähig iſt und anderfeits, de} nicht nur dem geläuterten religiöjen Bewußtſein, nicht nur dem fittlichen

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Willen, fondern auch dem Fanatismus eine gewiffe, nicht zu unterfchäßende Kraft inne wohnt.

Nicht das ganze, aber doch ein großer Theil des franzöfifchen Bolfes befindet fich gegenwärtig im diejem religiöfen Paroxismus, der von der Geiftlichfeit mit allen Mitteln genährt und gefördert wird. Vom tiefiten Nationalhaß gegen Deutfchland, vom brennendſten Durjt nad Rache erfült, Haben die Sranzofen, foweit fie nicht Proteftanten oder Republikaner find, fich ganz in die Arme des Ultramontanismug geworfen und mit diefem unverjühnlichen Feinde des Proteftantismug ein Schuß und Trußbündniß gefchloffen. ‘So, wie der ultramontaue Tranzofe vom unfehlbaren Papite, von der Mutter Gottes und den Heiligen die Wieder- vergeltung an Deutjchland, jo erhofft umgekehrt Rom von dem Nationals haß und den Chaſſepots Frankreichs die Zertrümmerung der proteftantijchen und liberal=fatholifchen Neiche, die Aufrichtung einer jefuitifch - Elerifalen Weltherrſchaft. Und wahrlih! Die Hoffnungen Roms find nicht ohne jede Ausfiht auf Erfüllung. Oeſterreich ebenfalls unter jeſuitiſchem Einfluß, in Deutihland und Italien eine weitverzweigte ultramontane Agitation,

im Hintergrumde das lauernde Rußland find das nicht für das deutjche

Reich und Italien gefahrdrohende Wolken?

Mehr noh, als die unausgefegte Thätigkeit in der franzöſiſchen Armee, find die Walfahrten nad) Yourdes, das Anwachſen der Gejell- ſchaft des „Heiligen Herzens“ Vorboten des kommenden Sturmes. Die einzige Möglichkeit, Europa vor den Gräueln eined neuen Krieges zu bewahren, bejtünde darin, daß in Frankreich noch in zmwölfter Stunde ein Umſchwung zu Gunſten der Republif eintreten würde. Aber dazu ift wenig Ausfiht vorhanden; Fanatismus und Geld werden Chambord ihon zum Throne verhelfen. Dann können wir ficher fein, daß der θὲς vorjtehende Nationalfrieg mit Deutfchland trog und zur Schande des 19. Zahrhunderts eine religtöfe Färbung erhalten, mehr oder minder den Charakter eines Religionsfrieges annehmen wird.

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11. Die Stellung der Schweiz und die gegenwärtigen Revifionsbeftrebungen.

Angefichts diefer allgemeinen Weltlage jollten wir Schweizer Eines nicht vergeffen: daß unfer freies Alpenland unter den Mächtigen Europas gar viele Feinde hat. Wir follten nicht vergejfen, daß Hüben und drüben, in Deutſchland und Stalien fo gut, wie in Frankreich, die Hoffnung genährt wird, das Nationalitätenprinzip werde fi) auch an uns feindlich bewähren, die Anziehungsfraft der nationalen Centren werde unfer kleines, aus drei verfchiedenen Nationalitäten zufammengefettes Volt früher oder ſpäter auseinanderreißen!

Diefe Hoffnung fol, foweit e8 in der Macht unſeres Volkes liegt, zu Schanden werden! Wohl ift das Nationalitätenprinzip, jofern es dad Zufammengehörende vereinigen, das nicht Zujammengehörende trennen will, gefchichtlih durdaus berehtigt. Aber mit dem Wort „Nationalität“ darf Fein Mißbrauch getrieben werden. Es gibt eine Nationalität, die Höher und Ehrfurcht gebietender dafteht, als diejenige, die fih nur auf die Race, nur auf die Sprachgenofjenfchaft gründet, Es iſt dieß die Nationalität, welche auf der Liebe zur gleichen Heimat, auf der gemeinfamen Gejchichte eines Volfes, auf dem gemeinfamen Volks⸗ harafter, auf dem Bewußtſein der geiftigen und politifchen Zuſammen— gehörigfeit beruht. Eine folhe Nationalität find wir Schweizer, was bedarf es des Beweiſes? Iſt doch der Stempel der gemeinſamen Beſtim— mung dem Schweizervolk unverkennbar auf die Stirne gedrückt, iſt doch das Bild des gemeinſamen Vaterlandes dem Schweizervolk unauslöſchlich in's Herz gegraben!

Das Nationalitätenprinzip haben wir nicht zu fürchten, wohl aber die Mißdeutung dieſes Prinzips. Wollen wir Schweizer dieſer Miß—

deutung vorbeugen, wollen wir im kommenden Sturm die Freiheit und Selbſtſtändigkeit unſerer Nationalität erhalten, ſo muß das nationale Gefühl, das uns erfüllt, vorher noch äußere Form und Geſtaltung ge— winnen, zur natioffalen That werden. Vorher muß [{ die fenmweizerifche Nation aus ihrer äußern Zerfplitterung, aus dem ganzen Nachlaß des alten , ohnmächtigen Staatenbundes herausringen, vorher [1 enger und fejter im ſich zufammenfhliegen. Vorher noch muß fie in ihrer eigen- artigen jtaatlihen und fozialen, in ihrer militärifchen und rechtlichen Entwidlung den Anforderungen der Gegenwart gerecht werden. Nur dann kann die jchweizerifche Nation auf die Achtung Europas zählen, wenn fie gerüftet dafteht, wenn fie den andern Völkern Dank dem Vorzug re— publifanischer Inſtitutionen in allen Rulturbeftrebungen ein leuchtendes Vorbild bleibt und wenn fie durd die That Zeugniß ablegt von ihrer Lebensfähigkeit, ihrer Gejundheit, ihrer eigenartigen Beftimmung.

Das nationale Gefühl und der überwältigende Eindrud der großen Ereigniffe von 1870 und 1871 waren e8, welche den Reviſionsentwurf vom 5. März 1872 ins Leben riefen. Diefer Entwurf mußte der un— natürlichen Allianz der Ultramontanen und Kantonejen erliegen. Allein die Ideen marfchiren von felbjt. Eine wahre Idee kann zwar momentan durch die Gewalt äußerer Umftände an ihrer Verwirklichung verhindert werden, früher oder fpäter wird fie fich gleichwohl Bahn bredden. Daß mit der Verwerfung des lebten Entwurfes die Reviſionsidee felbjt nicht zu Grabe getragen war, daß fie fi) umgekehrt im Geift uud im Herzen des Dolfes immer mehr Eingang verfhafft, das zeigte ſchon der Ausfall der Nationalvathswahlen, der Umfhwung in Graubünden und Neuen- burg, die Wiederaufnahme der Reviſion durch die eidgenöffiichen Käthe. Mehr πο zeigte [Ὁ dieß in der Gründung und dem raſchen Anwachfen des ſchweizeriſchen Wolfsvereins und in dem, von ihm veranitalteten ſchweizeriſchen Volkstag in Solothurn. |

Schon ftehen wir wieder an der Schwelle der Reviſion; ſchon Liegen vor ung die Entwürfe des Bundesrates, der nationalräthlichen und jtände- räthlichen Kommiffion. Vom Centralfomite des ſchweizeriſchen Volksvereins ſind ſämmtliche Sektionen aufgefordert worden, dieſe Entwürfe zu prüfen und ſich ernſtlich zu fragen, ob und inwieweit fie dem in Solothurn aus— geiprochenen Volkswillen entiprechen; ob und inwieweit der ſchweizeriſche Volksverein, während es noch Zeit ift und bevor noch die Bundes—

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verſammlung ihr letztes Wort geſprochen, auf eine gründlichere und all— ſeitigere Reform unſerer Bundeszuſtände hinwirken müſſe.

Die am Solothurner Volkstag einſtimmig angenommenen Reſolu— tionen find der gemeinſame Ausdruck deſſen, was die Herzen der Reviſions— freunde bewegt. Es ijt wahr, aud das Bolf fann fi) irren, und id möchte mich am allerwenigjten zu denjenigen zählen, die das Volk für unfehldar erfären. Aber wenn je, jo gilt in Zeiten innerer oder äußerer Krijen, in Zeiten, wo eine große Idee, ein patriotifches Gefühl die Maffe bewegt, in Zeiten, wo nicht Klügeln und Abwägen, wo nur eine fühne, nationale That Helfen kann, wenn je, gilt in ſolchen Zeiten das Sprihwort: „Vollesſtimme ift Gottesftimme” ! |

Die Zeiten find ſehr ernft. Wohl Hat die Schweiz, mitten in den Stürmen, die feit Jahrzehnten unfer Land umtoden, mitten im Ringen der Völfer nad nationaler Einheit und Selbititändigfeit, mitten in den Kämpfen der verfchiedenen Nationalitäten gegen einander, bis ἰδὲ ihre Selbitjtändigfeit, die Unantaftbarfeit ihres Gebietes bewahrt. Während um uns ber Staaten entjtunden und Staaten vergingen, während alte, hochberühmte Reiche von ihrer Höhe herabjanfen und neue jugendfriiche Schöpfungen kraftvoll emporjtiegen, blieb die Schweiz bis jest unberührt von diefen Stürmen, ein neutraler Boden, eine Aſylſtätte für alle politiſch - Berfolgten.

Ader dürfen wir hoffen, daß dies immer fo bleiben wird? Sprechen im Gegentheil nicht viele politiſche und militäriihe Gründe dafür, daß gerade unjer Yand oder Belgien für den nächſten großen Nationalfrieg als Kriegsjchauplag auserfehen ift? Als vor zwei Jahren die rothen Hofen in unzählbarer Menge über den Jura hereindrangen und al’ unſere Thäler jih mit Flüchtlingen anfüllten, durchzudte da nicht die Gemüther unſeres Volkes eine Ahnung, daß aud für uns die Idylle aufgehört und dad Drama begonnen? Fiel e8 uns da nicht wie Schuppen von den Augen, wie ficher wir uns bisher geträumt, wie nahe wir oft dem Derderben gewejen, wie wunderbar wir bewahrt worden? Fühlten wir da nicht auf einmal, wie enge verwoben unjer Geſchick mit dem ganzen Ummwandelungs- und Entwidelungsprozeß Europa's, wie leicht bon einem Tag auf den andern das gewohnte Bild des Friedens fich in ein Bild des Krieges und der Zerftörung verwandeln kann? Klangen uns die fremdländiichen Yaute, die wir hörten, Hang uns das dumpfe

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Rollen der Kanonen und Mitrailleufen auf dem Pflafter unjerer Straßen nicht wie eine Mahnung, eine ernjte und vielleicht letzte Mahnung, unfer Haus zu beftellen, während es nod Zeit ijt?

Darum, Revifionsfreunde, laßt uns Hoch emporhalten das Panner mit dem weißen Kreuze im rothen Felde und uns enger und feiter um dafjelbe- fchaaren. Wohl wird diejes Zeichen feinen Eindrud machen auf diejenigen, die ihr Vaterland nicht in der Schweiz, fondern in Rom haben. Aber es gibt Andere, die εἰπῇ, als ihr Did ποῦ nicht umflort war, mit der gleichen Liebe, mit der gleichen Begeifterung zu diefem Zeichen emporjchauten. Bieten wir diefen, mit und entzweiten Brüdern die Hand, ſuchen wir uns, ohne auf unfere großen Zielpunfte zu verzichten, mit diejen Rantonefen zu verftändigen. Manches läßt ſich vielleicht auf eine, für das Kantonalgefühl weniger verlegende Weife erreichen; Manches, das im lestjährigen Programme apodiktifch aufgeſtellt war, kann falultativ gelaffen werden. Sagen wir diefen Kantonefen, daß auch wir feine An— hänger einer bureaufratifch zugefpisten Centrafifation find, daß auch wir fein individuelles Leben unnöthig zerftören wollen. Prüfen wir noch εἰπε mal unbefangen all’ ihre Bedenken, und ſuchen wir da, wo ein foldhes Bedenken irgendwie begründet erjcheint, demjelben gerecht zur werden.

Allein die Nachgiebigkeit hat ihre feiten Grenzen. Da, wo das Leben ſelbſt und feine Bedürfniffe aus den Fantonalen Schranken hinaus— drängen, da, wo dur diefe Schranken die nationale Kraft und Würde der Schweiz beeinträchtigt wird, da wollen wir feine Konzefjionen machen, da wollen wir die fantonalen Schranken getrojten Muthes niederreißen.

An unferen großen, in Solothurn aufgeftellten Zielpunkten wollen wir unentwegt fejthalten, und da, wo der Ernſt der Zeit eine gründliche, alffeitige Reform für unfer Vaterland nothwendig macht, jede Nachgiebig- feit als Schwäche fennzeichnen. |

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III. Militär.

(Solothurner Bolfstag.) Mljeitige Hebung und nationale Gejtaltung unferer Wehrfraft.

Dieß ift eine Forderung, von der die Revifionspartei nicht abgehen fann und nicht abgehen wird. Niemand weiß, wie bald unferem Vater— land die Prüfungsitunde fchlagen wird; aber das wiljen wir: die Zeiten jind fo ernſt, der Uebelftände find fo viele, daß mit Kleinen Verbefferungen und halben Maßregeln nichts gethan iſt. Wir verlangen deßhalb eine jofortige, ganze und gründliche Umgeftaltung unſeres Wehrmejens.

Wenn wir von den Vorzügen abjehen, welche das Milizſyſtem über- haupt vor den ftehenden Heeren voraus hat, jo müjjen wir uns befennen: unfere Armeeorgantjation ijt die fchlechtefte in ganz Europa. Wir find ein kleines Volk und trotzdem haben wir es noch zu feiner nationalen Armee bringen fünnen.

Wohl ift in Verfaſſung und Gefegen viel von der fehmeizerifchen Armee die Rede; in Wirklichkeit aber haben wir nur taftijche Einheiten, daneben die 25 größern oder Heinern Armeeen der Kantone, und aus diefen 25 Armesen oder Armeechen wird jemweilen im Fall der Roth das jonft nur auf dem Papier ftehende Bundesheer zuſammengeſchweißt!

Wohl haben wir im Prinzip die allgemeine Wehrpflicht und wir bringen dieſfes Prinzip auch regelmäßig zur Anwendung, wenn mir irgend einen armen Teufel von Seftirer, der aus religiöfen Sfrupeln den Milttärdienft verweigert, mit barbarifchen Strafen belegen müſſen; δας neben Hat diefes Prinzip, Danf dem Sfalafyitem, Dank der gewifjenhaften Kontrole der Kantone, nicht verhindern fünnen, daß in unferm Vaterland Zaufende und abermald Taufende von mwehrfähigen Schweizerbürgern vom aktiven Militärdienst befreit find, [εἰ es nun, weil über fie gar feine

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Kontrolle geführt worden, oder weil fie aus unftatthaften, nichtigen Grün- den, dur die Gunſt irgend eines kantonalen Machthabers difpenfirt worden find.

Wohl haben wir eidgenöffische Vorfchriften über die Inſtruktion der Infanterie, aber fie verhindern nicht, daß nad) 25 verfchiedenen Inſtruktions— plänen gearbeitet wird und daß die von den Kantonen ertheilte Inſtruk— tion eine jehr ungleichartige ift. Während fie in einigen Kantonen und als Berner darf ἰῷ Bern mit Stolz zu diefen Kantonen rechnen wenig zu wünſchen übrig läßt, fteht dagegen in andern Kantonen die Ausbildung der Offiziere fowohl, als der Mannfchaft, unter aller Kritik.

Wohl haben wir eidgenöffiiche Vorſchriften über die feldmäßige Aus- rüftung der Zruppenförper und die Verwaltung des Srieg&materials ; allein es ijt nicht lange her, daß in der Bundesverfammlung konſtatirt wurde, daß von allen 25 Kantonen nur 2 diefen VBorfchriften nachgefommen ; und die Öarantie der Fantonalen Verwaltung ift fo groß, daß es bei dem plöglichen Aufgebot im Jahr 1870 Kantone gegeben Hat, welche während der erjten Wochen des Krieges, aljo gerade während der Eritifchen Zeit, ihren Bataillonen wegen Munitionsmangel nur 10, fage zehn Patronen verabfolgen fonnten !

Welcher Schweizer, der vom Militär Etwas verjteht, und es mit dem Baterland ehrlich meint, will diefen Augiasſtall nicht ausräumen helfen ? | 4

Allerdings werden von den Föderaliften gegen die projeftirte Milttär- reform ſehr gewichtige Bedenken erhoben, Bedenken, die nicht fo kurzhin abgefertigt werden können, fondern gründlich geprüft werden müffen. Die Föderaliften jagen: Durch eine alffeitige Centralifation unferes Milttär- wejens, durch die Abtreiung des Kriegsmaterials, der Milttärgebäude, der Aushebung, der Inſtruktion, der Verwaltung an den Bund, verlieren die Kantone jede militärifihe Bedeutung und damit auch einen wefentlichen Theil ihrer Souveränetät. Wohl ift ihnen ſcheinbar noch das Recht gelaffen, über die Wehrfraft ihres Gebiets zu verfügen, aber um dieß zu können, müſſen fie vorher vom Bund das nöthige Kriegsmaterial, Waffen und Munitien, entlefnen; ja fie müffen, da fie feine militärifchen Organe mehr haben werden, jchlieflich die Bundesorgane um Vermittlung angehen. Umgelehrt wird die ſchon jest bemerfbare Militärbureaukratie verzehnfacht; ein Heer von fäbelrafjelnden Bundesbeamten verbreitet ſich über die ganze

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Schweiz, unſere Republik wird durch die militäriſche Allmacht unſerer Centralgewalt gefährdet.

Ich ſage: Dieſe Bedenken ſind nicht ganz aus der Luft gegriffen. Wohl mag es einzelne Bureaukraten und Säbelraßler geben, denen eine ſolche bureaukratiſch zugeſpitzte, in's Extrem geführte Militärzentraliſation ſehr erwünſcht wäre. Unſer Ideal aber iſt ſie gewiß nicht.

Was verlangte der Volkstag in Solothurn? Eine nationale Or— ganijation unferer Wehrkraft. Iſt dieß etwa gleich bedeutend mit Centralt- jation ? Durchaus nicht, denn wie in gewiſſen Beziehungen allerdings eine größere Eentralifation zur Nothwendigfeit wird, fo erfordert gerade ein. gejundes, natienales Heerweien in anderer Beziehung eine größere Decentralifation. Allerdings Feine Decentralifation nah Kantonen.

Wir wollen eine nationale Organifation, im Gegenſatze zur fantonalen. Borerfi muß das Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht, das gegemmärtig nur auf dem Papier fteht, einmal zur Wahrheit werden. Sowie von Bundeswegen jedem Schweizer die gleichen Rechte eingeräumt, ſowie alle Vorrechte de8 Ortes und der Geburt abgefchaftt worden find, fo follen iedem Schweizer auch die gleichen Pflichten gegenüber dem Vaterland auf- erlegt werden. Dekhalb muß nicht aur das Skalaſyſtem befeitigt, fondern es muß durch den Bund aud die Aushebung der Rekruten geregelt und beforgt, die Dienftpflicht der verſchiedenen Altersflaffen feſtgeſetzt, über alle wehrfähigen Schweizer, alfo auch über Diejenigen, welche nicht mehr im Bundesheer dienen, eine Kontrole geführt werden. Beſondere Fantonale Truppenkörper follen nicht mehr zugelajjen fein.

Zu einer nationalen Organifation gehört ferner, daß der Bund, jowie er von Jedem das Gleiche fordert, Jedem auch das Gleiche gibt: Waffen, Kleider und Ausrüftung. Die Unterftügungspflicht des Bundes gegenüber der Wehrmännern, die im eidg. Dienft verunglücen, darf nicht nur auf dem Bapier ftehen, fordern es muß im Anſchluß an die Winfel- riedjtiftung Ion im Frieden für Aeuffnung eines Hinreichenden Fonds 669 jorgt und der Bund dadurch) in die Möglichkeit gefeßt werden, feine Unterftügungspfliht auch zu erfüllen. Am Beſten würde dazu verwendet ein Theil des jährlichen Ertrages der Milttärpflichterjagiteuern.

Zu einem nationalen Heer gehört ferner mit abjoluter Nothwendig- teit Einheit und Gleichartigfeit der Eintheilung, der Verwaltung und der Hnfteuftion. Bei der Eintheilung der Armee [01{ die Größe und Anzahl

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ihrer Glieder ausſchließlich nach militärifchen Gründen beftimmt werden. Militäriſch find aber die natürlichen Glieder der Armee die Armeedivifionen und die Divifionsbezirke, nicht die in ihrer Größe und Konfiguration jo verjchiedenartigen Kantone. Nun wird Jedermann zugeben müfjen, daf unfere Armeedivifionen fo lange nur auf dem Papier beftehen, als die ganze Friedensthätigkeit der Armee durch) da8 Medium der Fantonalen Militärdireftionen, der kantonalen Ynftruftoren, der Tantonalen Kom— mifjariate, der fantonalen Zeughausverwaltungen ftattfinden muß. Soll unjer Heermwejen gefunden, joll unfere Armee in Wahrheit eine nationale, Telstüchtige Armee werden, fo muß jenes Medium ſämmtlicher kantonaler Inſtanzen aus dem Organismus der Armee gründlih und vollftändig hinausgedrängt werden. Dagegen fällt es uns allerdings nit ein, an die Stelle der kantonalen Beamtungen ein Heer von ftändigen Bundes- beamten zu jeßen.

Was wir nicht wollen, im Eimverjtärdniß mit den Föderaliften nicht wollen, iſt eine Militärbureaufratie. Um diejelbe zu vermeiden, um in Wahrheit zu einer gefunden, nationalen Heeresorganifation zu gelangen, muß an die Spige der Organifation Ein großes Prinzip geftellt werden, das wegen jeiner politifchen, wie militäriihen Tragweite ſchlechterdings die Aufnahme in die Bundesverfaffung verlangt. Es iſt dieß das Prinzip der Selbftverwaltung der einzelnen Truppenförper.

Wir wünſchen eine ganz Heine Anzahl von ftändigen VBerwaltungs- beamten und Angeftellten, in der Hauptjache aber ald Berwaltungsorgane die Organe de8 Bundesheeres jelbit, die Kommandanten, Offiziere, Kom- mifjäre 2c. der verſchiedenen Einheiten!

Jede Armeedivifion forgt auch im Frieden für alle ihre Bedürfniſſe jelbft, ihr Kommandant überwacht nicht nur die jährliche Aushebung der Rekruten, die Ynftruftion und Ausrüftung, jondern απ) die ganze Ber: waltung des Kriegsmateriale.

Ebenſo wird das Kriegsmaterial der Brigade im Bezirk derjelben unter Auffiht des Brigadefommandanten verwaltet. Bei der DS (Regiment) deßgleichen.

In der taktifhen Einheit der Infanterie, im Bataillon, für die Verwaltung folgende Grundſätze:

Das Kriegsmaterial, ſo weit möglich, wird ἊΣ einzelnen Manne verabfolgt. So vor Allem aus die Waffe. Das übrige Kriegsmaterial,

das zur feldinäßigen Ausrüftung des Bataillons gehört (Munition, Kapüte, Deden , Borrathskleider, Kocgeräthichaften, Fourgons, Caiſſons 2c.), wird im Stammbezirt des Bataillon felbft magazinirt und unter der Rontrole und DBerantwortlichkeit des Bataillonsfommandanten und der δας. mit beauftragten Offiziere durch eine geeignete Perfönlichkeit im betreffen- den Bezirk verwaltet.

Wenn man in der fünftigen Armeeorganiſation die Dreitheilung (Aus- zug, Neferve und Landwehr) adoptirt, fo wird jeder Bataillonsbezirk 3, wenn man die Zweitheilung adoptirt, 2 Bataillone umfaſſen. Gewiß be- findet fi nun [αὐ in jedem Bataillonsbezirf, namentlid) in den Amts— fiten, ein geeignetes, feſtes und trodenes Gebäude, in welchem das Kriegs- material für die 2, refp. 3 Bataillone ſicher untergebracht werden kann. Falle da und dort ein Anbau für Unterbringung der Fuhrwerke nöthig fein follte, jo wäre dies feine große Sache.

Ebenſo wird in jedem Bataillonsbezirk irgend eine geeignete Perjönlichkeit, etwa ein alter Militär, finden laſſen, um gegen ein mäßiges Honorar das Kriegsmaterial der 2 oder 3 Bataillone zu verwalten. Von Zeit zu Zeit müßten jelbjtverftändlich einzelne Offiziere mit der Inſpeltion beauftragt, von Zeit zu Zeit einzelne Soldaten des Bezirkes aufgeboten werden, um beim Reinigen der Gegenftände, Ausklopfen der Deden ꝛc. mitzuhelfen; furz, das Ganze wäre eine höchſt einfache, wenig Eoftjpielige Sache und die praftiiche Ausführung des Grundjages der Selbitverwal- tung bei gutem Willen mit jehr geringen Schwierigfeiten verbunden.

Bei diefer großen Decentralifation, bei dieſer bis auf die einzelne taktiſche Einheit, da8 Bataillon (oder wenigftens bis auf da8 Regiment), berabgehenden Selbjtverwaltung der Armee würden die berechtigten Befürd- tungen der Föderaliften von jelbjt dahinfallen. Diefe [ὦ felbft verwalten- den Truppenkörper wären gegen die Militärhureaufratie eine viel größere Garantie, ald es je die Kantone gewefen jind und jein werden. Ein ſäbelraſſelndes Bundesbeamtenthum würde zur Unmöglichkeit, centraliftifche Algewalt wäre da nicht mehr zu befürchten, wo die Waffe in den Händen des Mannes, die Munition im Stammbezirk der taktiſchen Einheit ſich befände. Aber auch die Kantone hätten bei diefem Prinzip der Selbit- verwaltung ihren VBortheil. Während fie allerdings als ungehörige Glieder mit Recht vollitändig aus dem Organismus der Armee hinausgedrängt werden, ijt es ganz gut zuläjfig, daß fie, als politifche Gewalten, zu der

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Armee und auch zu ihren einzelnen Gliedern, ja bis zur taktiſchen Ein— heit herab in einem gewiſſen Verhältniß ſtehen, das ihnen zur Aufrecht— haltung der Ruhe und Ordnung im Innern gemeinfam mit dem Bunde die Kontrole und die Verfügung über die Wehrfraft ihres Gebietes er- mögliht. Wenn das Prinzip der Selbitverwaltung der einzelnen Truppen- förper fonfequent durchgeführt wird, fo braucht ein Kanton zu einem Truppenaufgebote feiner Vermittlung des Bundesrathhaufes, er braucht aber auch feine befondere fantonalen Milttärorgane. Er wendet fi einfach an den Kommandanten des betreffenden Truppenförpers (Bataillons, Regi- ments 20.) und ertheilt ihm den Befehl, durch fein Bureau die Truppe aufbieten zu laffen. Ein fantonales Milttärbureau, Kommiffariat, Zeug- haus tft da ganz überflüffig, die Truppe ift ja bereit® im Befik von Allem, was fie nöthig Hat, um in's Feld zu rüden.

Dieſe Decentralifation, diefe Selbftverwaltung der einzelnen Truppen⸗ förper hat aber nicht nur große politiiche, fondern noch größere militäriſche Borzüge. Site ift nicht nur eine Garantie gegen die vor den Föde— raliften mit Recht befämpfte bureaufratiiche Allmacht der Centralgewalt, gegen ein Ueberwuchern des Beamtenthums, jondern fie ift auch ein Mit- tel, die Kontrole über die Verwaltung des Kriegsmaterials unendlich zu vereinfachen und die rajchere Miobilifirung des Bundesheeres zu ermög- lichen. Beim gegenwärtigen Syitem Heat gerade die übergroße Eentrali- fatton der Verwaltung in verfchiedenen Kantonen, wie 2. B. Bern, und die dadurch erfchwerte Kontrole und Mobilifirung wiederholt zu großen Uebelftänden geführt.

Da ich gerade vom Kriegsmaterial und von der Nothwendigkeit einer Decentralifotion der Verwaltung rede, fo muß ich hier nothwendig auf eine Spezialität eintreten, die wegen ihrer ungeheuren Wichtigkeit nicht nur in den Gefegen, fondern fon in der Verfaſſung berührt jein jollte. Es betrifft dies die Errichtung mehrerer Patronenfadrtfen in den verſchiedenen Landesgegenden der Schweiz.

Bekanntlich befigt die Eidgenoffenfhaft nur eine einzige Patronen» fabrif, diejenige in Thun; die Fabrik bei König fabrizirt nur Hülfen, it mithin nur ein Appendix von jener.

Nun hat ein angejehener Staatsmann, der Leider gegenwärtig in. den Reigen unferer Gegner fteht, bereits vor drei Fahren dieſen Uebel⸗ ſtand hervorgehoben. Hr. Nationalrath Ruchonnet hat in der Sitzung

de8 Nationalrathes im Dezember 1870 in einer ausgezeichneten Rede darauf Hingewiefen, daß die Errihtung mehrerer Patronenfabrifen in verjchiedenen Landesgegenden für die Schweiz nicht nur fehr wünſchens⸗ werth, fondern unter Umftänden geradezu eine Lebensfrage ſei. Aud) die HH. Roguin und Aepli haben im Ständerath die gleiche Anſicht jehr warm verfochten.

Warum der Chef des ſchweizeriſchen Militärdepartements, dem unfer Heerweſen jonft jo viel zu verdanken hat, gerade in dieſer hochwichtigen Trage den berechtigten Wünſchen der Waadtländer Deputirten entgegen» getreten, ift uns noch Heute umerflärlih. Jedenfalls Hat der Umjtand, daß die Bundesverfammlung damals die Motion der HH. Ruchonnet und Sonforten der Hauptſache nad) verworfen, nicht dazu gedient, das Miß- trauen unferer Föderaliften in das eidgenöffiiche Wehrwejen und in die eidgenöffische Kriegsverwaltung zu bejeitigen.

Warum ift die Erftellung mehrerer Patronenfabrifen für die Schweiz eine abjolute Nothwendigfeit ?

Erſtens, weil eine einzige Fabrik im Kriegsfalle nicht im Stande ijt, rajch genug die nöthige Anzahl Munition zu erjtellen. Unſere Babrif in Thun kann täglid nur 100,000, vielleiht im Nothfalle 150,000 Pa— tronen fabriziren. Für den Laien eine ungeheure Zahl, für den denfenden Militär ſehr wenig!

Sollte und das Verhängniß treffen, in einen Krieg zwiſchen Frank— reih und Deutjchland, vieleicht auch Oeſterreich und Italien hineingezogen zu werden, jo wird es dann jelbftverjtändfich nicht mehr von uns abhängen, einſeitig mit diejer oder jener Macht Frieden zu ſchließen, auch im Falle einer Niederlage nicht. Sol unfer Land nicht den Kriegsſchauplatz für beide ftreitenden Parteien abgeben, jo müjjen wir, einmal angegriffen, gegenüber unferem Angreifer auch ausharren bis zu Ende, fonjt δὲ ung die andere Partei auf dem Naden. Davon ift aber dann feine Rede, daß die Sache mit einem oder mit zwei Treffen abgethan ift, fondern der Krieg kann aud für uns ein oder zwei oder noch mehr Jahre andauern.

Wie verhält fih nun zu einer ſolchen Eventualität die Leijtungs- fähigkeit unferer einzigen Patronenfabrife? Haben mir einen Gegner, der energifch vorgeht, jo müfjen wir doc) gewiß die Möglichkeit annehmen, daß wir nicht nur einen gemüthlichen Poftenfrieg zu führen, Heine Vor— poftengefechte zu Liefern haben. Nein, mir müfjen uns auf Schlachten,

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wirkliche Schlachten gefaßt machen. In dieſem Falle iſt es aber ſehr leicht möglich, daß unſer —- überdieß viel zu kleiner Patronenvorrath ſchon in 10 Tagen auf der Neige iſt. Man ſoll, um das Gegentheil zu be— weiſen, nicht mit dem Kriege von 1866 und dem verhältnißmäßig ſehr geringen Munitionsverbrauch der Preußen exemplifiziren. Damals, als Hinterlader gegen Vorderlader ſtund, machte ſich die Entſcheidung ſehr raſch; überdieß werden unſere Miliztruppen ſich nie eine preußiſche Feuer— disziplin aneignen. Im letzten Kriege, ſo namentlich in der zweiten Hälfte deſſelben, und bei der Belagerung von Paris war der Munitionsverbrauch zeitweiſe ein ganz enormer.

Unſer Repetirgewehr iſt eine ausgezeichnete Waffe, aber nur, wenn man fie gehörig fpeist; denn im Kriegsfalle wird fie unſere Munition mit raſender Schnelligkeit aufzehren. Alfo muß für Erfag, reichlichen Erjag der Patronen gejorgt fein. Wie fteht e8 mit diefem Erjaß, wenn nah 10 Zagen, nach einer oder zwei Schlachten unfere Armee oder größere Theile der Armee ihre Munition verfchoffen haben? Das Quantum Pa— tronen, das unfere Fabrik täglich fabrizirt, genügt nur zur Speifung eines einzigen Bataillons; mithin das Quantum, das in 10 Tagen erjtelit werden kann, höchftens zur Speifung einer Divifion. Deßhalb müſſen wir in den Stand gefeßt werden, im Kriegsfalle nit nur 100,000 bi8 150,000, jondern mindeftene 700,000 bi8 1,000,000 Patronen

täglich zu fabriziren.

Ein zweiter, ebenjo gewichtiger Grund für die Nothwendigkeit mehrerer Patronenfabrifen befteht in der Möglichkeit, daß unferer einzigen Patronenfabrik ja irgend ein Unfall zuftoßen könnte. Iſt es nidt ein unfeimlicher Gedanke, daß im Kriegsfalle das Wohl und Wehe der gefammten Wehrfraft unferes Landes von einem einzigen Gebäude und zwei Mafchinen abhängt? Wie leicht kann ein Gebäude durch eine Feuersbrunſt oder Erplofion zerftört, wie leicht durch Nachläffigleit oder Böswilligfeit oder durch ein Naturereigniß irgend etwas an einer Mafchine verdorben werden, daß diefelbe für längere Zeit nicht mehr in Betrieb gefegt werden Tann? ft nicht vor ſechs Jahren die Patronenhülfen- fabrif in König ein Raub der Flammen geworden ?

Es ift noch ein anderer Fall denkbar. Eine franzöfifhe Armer bricht in unfer Land ein, wir haben das Unglück, eine Schlacht zu verlieren. Wir werden zurücgedrängt, zur Aarelinie, über die Aarelinie

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hinaus bis zur Emmenlinie. Dort fegen wir uns feft, unfere zerftreuten Streiikräfte fammeln fich wieder, die gefammte Armee ift bereit zu einem kräftigen Vorſtoß. Allein es beginnt an Munition zu fehlen, viele Caiffons find leer, auch die Patrontaſchen find Leichter geworden. Lägen nun eine oder zwei Patronenfabrifen Hinter unferem Rüden, in Luzern oder Zürich, jo wäre dem Mebeljtande von einem Tag auf den anderen abgeholfen. Allein unfere einzige PBatronenfabrif in Thun ift natürlich durch ein Detafchement des bis zur Warelinie vorgedrungenen feindlichen Heeres beſetzt, unſere einzige Lebensader vollftändig unterbunden. Was wollt Ihr nun thun, Ihr Herren Oberften, die Zhr im Frieden die Nothmendig- feit mehrerer PBatronenfabrifen nicht einjehen wollte? Unfere Armee mit ungenügender Munition gegen den Feind führen? Werden die Soldaten Euch folgen, oder werden fie nicht vielmehr nach Verrath fchreien

Alles kann fih in der Weltgeſchichte wiederholen. Aus dem Yahre 1798 Haben wir ein Volfslied, das die Thaten der Berner gegenüber den Franzoſen befingt und bei dem jede Strophe mit dem Refrain ſchließt: |

Aber fie gaben uns feine Munition, Darum liefen wir davon !

Gegen die Erftellung mehrerer Patronenfabrifen wird vielleicht der Kojtenpunft geltend gemacht werden. Aber es Handelt fi) ja nur um Erjtellung der nöthigen Gebäulichkeiten und um Anfchaffung der Mafchinen, damit die Fabriken im Kriegsfalle fofort in Thätigkeit gefeßt werden können. Es fällt mir nidt ein, vorzujhlagen, daß in Friedenszeiten mehr als eine Fabrik in Thätigkeit geſetzt werden ſolle.

Ferner wird hervorgehoben werden: Wenn ſchon die Fabriken erftellt find, fo fehlt ja, um fie in Betrieb fegen zu können, das nöthige Perfonal. Schafft doch das nöthige Perfonal Her! Es gibt in unjerem Vaterlande Taufende, die wegen irgend eines Kleinen förperlichen Gebrechens zum gewöhnlichen Meilitärdienfte untauglich find, aber ganz gut zur Patronenfabrifation verwendet werden fünnten. Laßt diefe Leute durch die jtändigen Arbeiter einige Wochen in der Patronenfabrifation: inftruiren, organifirt jie, bildet aus ihnen eigene Kompagnieen, die ihre Dienit- pflicht als Arbeiter in den Munitionsfabrifen erfüllen und die. ihr dann im Kriegsfalle ſämmtlich aufbietet, um unter Aufficht des ftändigen Per— jonal® in ſämmtlichen Fabriken verwendet zu werden!

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Endlich, und dies iſt der wichtigſte Einwand, wird geltend gemacht werden, daß Patronenfabriken doch gewiß nicht in die Bundesverfaſſung hineingehören; das ſei Sache der Geſetzgebung und Adminiſtration. So! Als ob nicht hundert unwichtigere Dinge in der Bundesverfaſſung ſtünden, als ob nicht die Erſtellung von mehreren Patronenfabriken in verſchiedenen Landesgegenden für die Schweiz geradezu einſt zur Exiſtenzfrage werden könnte!

Seht, dort bauen einige Kinder ein Kartenhaus! Seht, wie ſie eine Karte auf die andere aufthürmen, wie das Gebäude immer größer, immer ftattlicher wird! Aber ah! Jetzt fümmt ein böfer Bube, bläst ein wenig, und der ganze ftattliche Bau fällt zufammen.

‚Ein foldes Kartenhaus ift das fchweizerifche Wehrmwefen, fo lange wir nicht in verfchtedenen Gegenden Batronenfabrifen befigen.

Hiemit verlaffe ich die Verwaltung, um mir πο einige Bemerkungen hinfichtlic der Inſtruktion zu erlauben. Auch Hier, auch von der Ueber— nahme der Fnfanterteinftruftion dur) den Bund fürchten unfere Födera- Iiften ein Ueberwuchern des Bundesbeamtenthums. Mit gleihem Unrecht! Auch an die Spite der Inſtruktion muß Ein großes Prinzip geftellt werden: dasjenige der Selbjtinftruftton der Armee.

Gegenwärtig haben wir in der Schweiz 25 Fantonale Oberinftruf- toren der Infanterie; am die Stelle derfelben würde für jede Armee- dioifion je ein Oberinftruftor, alfo, je nad) der Zahl der Divifionen, 8 bis 10 Dberinftruftoren treten. Diefe Oberinftruftoren müßten aller- dings ſtändige Milttärbeamte fein, das Gefeg würde beitimmen, ob ihre Mahl durd) den Bundesrath oder durch die Bundesverfammlung ftattfinden jolle. Jedem Oberinftruftor foliten nur etwa 3 bis 4 Ständige Unterinftruf- toren beigegeben werden. Das ftändige Inſtruktionsperſonal wäre in die Divifion, deren Unterricht ihm obläge, ebenfalls einzutheilen.

Durch die Heine Zahl des ftändigen Inſtruktionsperſonals würde ermöglicht: 1) eine fehr gute Auswahl; 2) eine anftändige Beſoldung. Unter Anleitung diefer wenigen ftändigen Inſtruktoren würde der ganze militärifche Unterricht der einzelnen Truppenkörper, wie der Refruten, dureh die nicht. ftändigen Offiziere und Unteroffiziere der Divifion ertheilt, Schon jegt werden vielerort8 fo namentlich im Kanton Bern die Offiziere und Unteroffiziere zur Ertheilung des Militärunterrichts ver- wendet. Bei der geringen Zahl des ftändigen Perfonal® müßte dies

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natürlich noch in viel ausgedehnterem Maße geſchehen. Mehr Dienſtzeit, als jetzt, hätte dies für den einzelnen Offizier und Unteroffizier nicht zur Folge, wohl aber er. größere Anforderungen an jeine militäriſchen Kennt- niffe, au feinen militärischen Takt. Die Oberaufficht über den militärifchen. Unterricht ftünde in jedem Divifionsbezirk dem Kommandanten der Dipi- fion zu.

Durch diefe Selbitinftruftion der Armee würde das von den Föbera- liſten jo jtarf betonte Ueberwuchern des Beamtenthums zur Unmöglichkeit; im Gegentheil würde die Zahl des ftändigen Perſonals bedeutend reduzirt. Der militärifche Vortheil wäre aber nod) größer. Erft dadurch, daß der Offizier und Unteroffizier richt nur befehlen, fondern auch inftruiren und feine Befehle erläutern und begründen lernt, wird er feiner Sache gewiß und gewinnt dadurch gegenüber feiner Mannſchaft diejenige Autorität, welche die Grundlage des militärifchen Gehorſams bildet.

Allgemein ift man darüber einig, daß die durchſchnittliche Aus- bildung unferer Armee, insbeſondere unferer Cadres, im Vergleich zu der- jenigen anderer Armeen ungenügend ift. Um diefem Uebelftande fo weit möglich abzuhelfen, wird gewöhnlich vorgefchlagen:- die KRefruteninftruftion bedeutend zu verlängern, auf zwei, ja auf drei Monate; häufiger Wieder- holungsfurjfe zu veranftalten, Cadres- (Offiziers- und Unteroffiziers:) Schulen einzuführen. Ih bin grundſätzlich Gegner diefer Art von Neuerungen. Vielleicht läßt ſich der Rekrutendienſt etwas verlängern, die Wiederholungskurfe auch, aber jedenfalls nur im einem fehr befcheidenen Maße; fonft verlaffen wir allmälig den Boden des Milizfyftens, wir bürden unjerem Lande zu große und überdieß unnöthige finanzielle Laften auf, oder find genöthigt, durch Verminderung der Dienftjahre unfere Armee zu verkleinern. Wohl weiß ih), daß das deal eines Kleinen, wohlausgerüfteten und wohlgeſchulten Bundesheere8 in gar vielen Köpfen ſpukt; für mid tft diefes Kleine Bundesheer fein deal, fondern einfach ein Mißfennen unferer republifanifchen Zuftände, eine Schwächung unferer Wehrfraft, ein zwar langſamer und allmäliger, aber ficherer Uebergang zum ftehenden SHeere.

Ein viel wirffameres und republifanifchen Zuftänden entfprechenderes Mittel, unjerem Milizheer eine tüchtige militärifche Ausbildung zu geben, befteht darin, daß die Bundesverfaffung das Prinzip aufftelt: Unfer Milizheer fei auf die Volksſchule zu bafiren und der Militär-

| ren unterricht der Refruten habe an einen vorbereitenden Unterricht in der Volksſchule ſich anzufchliegen. Ein Milizheer, das diefen Namen verdienen ſoll, muß den militärifchen Unterricht nicht erft mit den jungen Männern, fondern jhon mit den Knaben beginnen. Nur dann iſt das Milizheer dem ftehenden Heer ebenbürtig, nur dann findet e8 einen Erjag für defjen jahrelange Dienjtdauer, wenn die militäriſche Ausbildung einen weſent— lichen Beftandtheil der ganzen Knabenerziehung ausmacht.

Das Kadettenweſen ift bet und zwar erſt in den Anfängen, allein der Chef de8 fchweizerifchen Militärdepartements® hat das große Berdienft, durch Einführung einer einheitlichen, für das eidgenöſſiſche Raliber berechneten Waffe und durch mannigfache Anregungen dem Kadetten= wejen eine neue, vielverjprechende Bahn eröffnet zu haben.

Die Zeit muß und wird fommen, wo nicht nur in einzelnen Stadt= und Sefundarfchulen, fondern in jeder Volksſchule der militärijche Unter- richt als obligatorisches Fach betrieben wird. Allein, um nicht mißverjtanden zu werden, will ich für das SKadettenwejen der Schweiz in kurzen Zügen das Bild einer Organijation entwerfen, wie mir dafjelbe als Ideal vorſchwebt.

Die Kommandanten eines jeden Bataillonsbezirks überwachen den Radettenunterriht. Für denfelben find drei Altersftufen vorgefehen: In der erjten Altersjtufe bis zum 13. Jahre nur Turn- und Schwimm- unterricht, jowie Drdnungsübungen ohne Gewehr. Den Bolksjchullehrern, welche ebenfalls dienjtpflichtig und in die Armee eingetheilt find, Liegt hier die Inſtruktion ob. Zweite Altersjtufe vom 13. Jahr bis zum Austritt aus der Schule. In jedem Bataillonsbezirke werden die 2— 3 ältejten Fahrgänge der in diefem Bezirke enthaltenen Volksſchulen, zu Kadetten- Kompagnieen vereinigt, durch Offiziere injtruirt. Gewehrkenntniß, Zirail- leurſchule, Sicherheitsdienft. Am Sammelplag der Kompagnie (etwa im Schulhaus) ein Depot von Waffen und Munition. Die dritte Alters- jtufe (vom Austritt aus der Schule bis zum Eintritt in das Bundesheer) wird ebenfalls in Kompagnieen vereinigt. Der militärifche Unterricht knüpft hier an denjenigen der zweiten Altersjtufe an und wird ebenfalls durd) die Dffiziere des betreffenden Bataillonsbezirks und unter Aufficht der Bataillons- Kommandanten ertheilt. |

Dieß wäre das Gerippe der Orgänifation. Gegen diefelbe wird man zwei Einwände haben; Erſtens, man bürde den Offizieren des

Bundesheeres dadurch, daß man ſie zur Ertheilung des militäriſchen Jugendunterrichts anhalte, eine zu große Laſt auf. In Wirklichkeit iſt dieſelbe viel geringer, als die, welche ihnen durch Einführung von be— ſondern Offiziersſchulen auferlegt wird. Jährlich höchſtens 10 bis 12 Uebungstage. Ueberdieß iſt der Kadettenunterricht für den Offizier zehnmal inſtruktiver, als ſo eine Offiziersſchule, wo dem theoretiſchen Unterricht die praktiſche Anwendung mit den Truppen nicht jeden Tag auf dem Fuße nachfolgt. Würden Hin und wieder ebenfall® die Unter— offiziere und SKorporale des betreffenden Bezirks zum Kadettenunterricht herangezogen, fo wäre dieß auch für fie ein größerer Nuten, als eine Unteroffiziers- und Korporalsſchule, in welcher fie einfach den Dienſt der Soldaten thun müſſen.

Zweitens wird der Einwand erhoben werden: Das Kadettenwefen jet ganz ſchön und gut für die größern Ortjchaften, allein in der Volks— ihule, auf dem Lande, wo die Knaben ftundenmweit auseinanderwohnen, jet das Kadettenweſen praftiich nicht durdführbar. Ich kann da aus eigener Erfahrung reden, daß es proftifch durchführbar iſt, indem id während drei Jahren die Schuljugend aus 7 Landſchulgemeinden zu einer Kompagnie von 50—70 Kadetten vereinigte und mit Hülfe einer Anzahl Dffiziere inſtruirte. Trotzdem Alles auf Freiwilligkeit beruhte und Die entferntern Kadetten an den Webungstagen eine Stunde weit herkommen mußten, hatte die Sache dody einen guten Fortgang, ja es nahmen im zweiten nnd dritten Fahre auch Solche daran Theil, die im Yahre vor— her die Uebungen bejucht Hatten und feither aus der Schule ausgetreten waren. Am Sammelplag der Kompagnie wurde ein Appartement des Schulhauſes zur Aufbewahrung der Waffen und Weunition eingerichtet und mußte dieſes fo die Stelle eines kleinen Zeughaufes verfehen.

Auf die Art und Weife, wie der Kadettenunterricht zu ertheilen wäre, will ich hier nicht eintreten. Genug Einzelheiten! Will man unfer Milizheer wirklich auf eine höhere Stufe der Ausbildung Heben und ihm gleichwohl den Charakter eines Milizheeres belafjen, jo muß man Unten, in der Volksſchule anfangen und dort den Grundſtein legen. Xiegt der einmal feft, jo wird die Aufrichtung des ganzen Gebäudes feine große Mühe erfordern.

Nicht bei den Herren Oberjten bei den Schulbuben liegt die Zufunft unferer Armee! s

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Der Solothurner Volkstag hat nicht nur eine nationale Geſtaltung, jondern überhaupt alljeitige Hebung unferer Wehrfraft verlangt.

Selbjtverjtändlich hat diejes Verlangen nit den Sinn, daß Alles, was unferer Armee von Nuten fein fünnte, in die Bundesverfaffung Aufnahme finden müſſe. Die Bundesverfaffung darf nicht eine voll ftändige Militärorganifation enthalten, fie darf nur allgemeine Grundfäge, Zielpunfte und Direktiven aufftellen.

Bon der größten Wichtigkeit für die Hebung unferer Wehrkraft ift eine ungejäumte und gründliche Landesbefeſtigung. Wohl hat fhon nad) den Beſtimmungen de8 Art. 21 der gegenwärtigen Bundesverfaffang der Bund das Recht, im Intereſſe der Eidgenoffenfchaft oder eines größeren Theiles derfelben öffentliche Werfe zu errichten. Allein bei der Dring- lichfeit der Frage dürfte e8 nichts fchaden, wenn eine beftimmte, auf die

Landeöbefeftigung Hinweifende Direktive in diefen Artifel Eingang fände. iR Eine rationelle Landesbefeftigung kann uns zwei Vortheile ge- währen :

Eritens , daß fie von Vornenherein den Feind abhält, und anzu⸗ greifen, oder |

zweitens, daß wir im Falle eines feindlichen Angriffs mit verdoppelter Wehrkraft diefem Feind entgegentreten können.

Beim Wiederausbrud) eines Krieges zwifchen Frankreich und Deutſch— land wird das Erftere jehr wahrſcheinlich verfuchen, den Krieg in das Land feines Feindes zu tragen. Nun ftehen ihm aber in der Front Metz und Straßburg drohend gegenüber, fo daß [ὦ die franzöfifche Armee wohl hüten wird, den Stier bei diefen beiden Hörnern zu paden. Liegt für die Sranzofen, fo lange unfer Land mit feinen fchönen breiten Heer- ftraßen offen , unbefeftigt da fteht, die Verfuhung nicht fehr nahe, hier einen raschen Durchbruch zu wagen? Umgekehrt, werden fie ſich nicht zweimal bedenken, mit uns anzubinden, wenn die hauptſächlichſten Straßen, Brücenübergänge und Engpäffe durch ftehende Werke gefperrt find ?

Aber ſollten fie es gleichwohl wagen , welchen immenſen Bortheil würde uns dann eine rationelle Zandesbefejtigung gewähren ? Ohne dier felbe ift es gar nicht denkbar, daß unfere Armee gegenüber einem raſch und ficher operirenden Gegener vor dem Zufammenftoß ſich vollftändig befammeln , den Aufmarſch vollenden könnte. Und gefegt auch), es ge- länge ihr dieß, wie fehr würde der Mangel an allen Feſtungswerken die

ον ΚΝ, δ ε

nachherige Zerjplitierung unferer und δίς Konzentration der feindlichen. Kräfte befördern !

Ueber die fchweizerifche Zandesbefeitigung, die von denfenden Mili— tärs jo dringend verlangt wird, herrichen noch vielerorts die irrigiten Borftellungen. Sei man ſich doch klar, daß man ja feine große Central- feitung nad) dem Mufter von Met und Mantua will! Nicht nur würde eine jolche die finanziellen Kräfte unſeres Landes überjteigen, fie entſpräche auch gar nicht einer geſunden, auf thätige Dffenfive gerichteten Krieg- führung.

Was unfern Verhältniffen am Beften entfpricht, ift nach meinem Dafürhalten gar feine eigentliche Feſtung, wohl aber ein Syitem von Heinen Feſtungswerken und Forts (Sperrforts).

Solde Sperrforts find mit 2—3 Gefhügen fehr ſchweren Kalibers versehen und für eine Landwehrbefagung von 2 400 Manıt ein- gerichtet.

Supponiren wir einen Angriff von Seiten Franfreihe. Kann da nicht durd) wohlangebrachte Sperrfort8 im Jura einerfeits, in den Walliferz, Simmenthaler- und Freiburger Bergen anderſeits, jowohl die rechte, αἱ die Linke Flanke unferer Aufitelung vollftändig gefichert werden ? Sit dort die Konfiguration des Landes nicht derart, daß man mit Heinen Werfen und geringem Koftenaufwand große Thäler, ja ganze Xandes- gegenden fürmlich ſperren kann? wohlverjtanden nicht fo hermetiſch, daß nicht einzelne Streifforpe und Armeepartifelhen gleichwohl Hindurd) fönnen ; aber fperren für jeden größern Truppenkörper, für die Artillerie, den Train, 20.

Und fommen dazu in. der Ebene noch kleine Werke, welche die hauptſächlichſten Flußübergänge, die wichtigften Straßen und Eijenbahn- Inotenpunfte decken, wird durch ein folches Beſeſtigungsſyſtem, das vielleicht mit einem Aufwand von nur 10 Millionen erftellen ließe, ohne eine einzige eigentliche Feftung die Stellung der Schweiz gegen Weften nicht gerade um das Doppelte verjtärft ?

Diie Kriegsgeſchichte Iehrt, daß ein Gebirgsland feiner Bevöfferring nur dann Schuß gewährt, wenn nicht nur der Menſch, ſondern aud) das Terrain für die Kriegsführung gehörig vorbereitet worden ift. Iſt dies nicht gejchehen, fo wird ſich der fremde Eindringling die Konfiguration des Bodens ganz in gleicher Weif:, wie der Einheimifche dienjtbar machen

il. sa ὩΣ

fünnen. Ich erinnere nur an die Kämpfe der franzöfifchen Armee unter Zecourbe, an die Erftürmung der Grimſel ꝛc.

Die alten: Eidgenoffen, welche dem Feind doc ſtets in offenem Feld entgenzutreten wagten, waren gleichwohl weit davon entfernt die Bedeutung der Landesbefeftigung zu unterfchägen. War doc faft jede Stadt eine Kleine Feſtung, waren doch faſt in jedem Thale Thalfperren, jog. Leben, angebracht, wurden ja doch alle größern Schlachten der Eid- genoffen um damalige Feſtungen herum gefchlagen (Sempach, Raupen, Grandfon, Murten, Dornach) oder auc bei Thallegen (Morgarten, Nä- feld, Stooß). In allen diefen Schlachten diente die Feſtung oder die Thalletze dazu, den Feind in feinem Vordringen aufzuhalten, und umgefehrt den Aufmarſch der fehweizerifchen Armee und die Konzentration ihrer Kräfte zu ermöglichen.

Wie viel nothwendiger erfcheint Heutzutage noch ein rationelles Syſtem der Landesbefejtigung ?

Hiermit Ichließe ich meine Srörterungen und stelle nur πο die Trage: Entſpricht einer der beit Anlaß der Bundesrevifion aufgeftellten Entwürfe allen Anforderungen unferes Wehrmejeng

Den Entwurf der nationalräthlihen Kommiffion übergehe ich, weil derjelbe in einigen Punkten {θαι [ἃ Hinter die gegenwärtige Bundes- verfaſſung und die Schon bejtehenden Kompetenzen des Bundes zurücgeht.

Der bundesräthliche Entwurf ift eine Abſchwächung des letztjährigen.

Der legtjährige Entwurf, welcher allen Anforderungen weitaus am meiften entfpricht,. hat immerhin zwei bedeutende Mängel: Einerſeits, weil er ſich für die Vollziehung der Militärgejege noch immer an die Kantone bindet und überdies neben dem Bundesheere noch immer bejondere fantonale Truppenförper vorſieht; amdererfeits, weil er zu viel der Geſetz— gebung überläßt und uns feine ficheren Garantien gibt gegen eine über- triebene, militärifch wie politifch verwerfliche Centralifation.

. ‚Würde nicht dem Verlangen des Solothurner Volfstage® nach all- feitiger Hebung und nationaler Geftaltung unferer Wehrfraft und gleich zeitig auch den berechtigten Wünfchen und Befürchtungen der Föderaliſten Rechnung getragen, wenn man den Milttärartifeln etwa folgende Faſ— : jung gäbe? | —59 Art. 18. Jeder Schweizer iſt wehrpflichtig. Wehrmänner, welche infolge des eidgenöffifchen Militärdienſtes ihr Leben verlieren oder dauernden

u en

Schaden an ihrer Gefundheit erleiden, haben für fi) oder ihre Familien, im Talle des Bedürfniffes, Anfprud) auf Unterftügung de8 Bundes. Derjelbe jorgt durch Beſtimmung eines Theiles der Milttärpflichterfag- jteuern für Aeuffnung eines Hinreichenden Fonds.

Art. 19. Das Bundesheer bejteht aus der gefammten, nad) der eidgenöffiichen Geſetzgebung dienftpflihtigen Mannfchaft. In Zeiten der Gefahr verfügt der Bund auch über die nicht in das. Bundesheer ein- getheilte Mannſchaft und alle übrigen Streitmittel, über deren Beſtand Kontrole geführt wird. Die Kantone verfügen, infoweit fie nicht durch verfaffungsmäßige oder gejegliche Anordnungen befchränft find, -direft und ohne Vermittlung der Bundesbehörden über die Wehrfraft ihres Gebietes, insbejondere auch über die aus ihrem Gebiete refrutirten taktiſchen Ein— heiten de8 Bundesheeres ſammt deren Rriegsmaterial.

Art. 205. Der Bund erläßt die Geſetze über das Heerwefen. Der Bund ertheilt den gefammten Militärunterriht. Die Koften des Unter— richtes, der Bewaffnung, Bekleidung und Ausrüftung trägt der Bund. Das Kriegsmaterial der Kantone in demjenigen Beitande, welder nad) den bisherigen Geſetzen vorgefchrieben ift, geht auf den Bund über. Immerhin bleibt das Berfügungsreht der Kantone, nah Maßgabe von Art. 19, Lemma 3, vorbehalten. Der Bund ift berechtigt, die Waffen- pläße und die zu militärischen Zwecken dienenden Gebäude, melde in den Kantonen vorhanden find, nebſt der zugehörigen Einrihtung, zur Be— nußung oder als Eigenthum zu übernehmen. Die näheren Bedingungen der Uebernahme werden durch die Bundesgefeßgebung geregelt.

Art. 20° Die Ausführung der Militärgefege gejchteht, unter Auf- jicht de8 Bundes und der Kantone, durch die Organe des Bundesheeres. Hinfihtlid) der Organifation und Verwaltung follen folgende Grundſätze zur Anwendung fommen: 1) Das Bundesher jol nah dem Terri— torialitätsprinzip eingetheilt fein. 2) Soweit nicht militärifhe Gründe ‚entgegenjtehen, jollen die taftiihen Einheiten aus der Mannjchaft dejjelben Kantons gebildet werden. 3) Jeder Truppenförper von der Größe einer taftiichen Einheit der Anfanterie verwaltet auch in Friedenszeiten fein ‚ganzes, zur feldmäßigen Ausrüftung gehörendes Kriegsmaterial, insbejondere die Munition, jelbjt. Das Kriegsmaterial, ſoweit es nit an die Mannjchaft abgegeben werden fann, ift im Stammbezirfe des betreffenden Truppenförpers zu magaziniren. 4) Die Infanteriewaffe bleibt in den Händen des Mannes.

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5) Es follen in verfchiedenen Landesgegenden der Schweiz eine Anzahl für den Rriegsfall leiftungsfähiger Munitionsfabrifen erjtellt werden.

Hinfihtlih der Inſtruktion follen folgende Grundfäge zur Ans wendung fommen. 1) Der Bund verwendet zur Ertheilung des mili- tärifchen Unterrichtes das Cadre des Bundesheeres. 2) Der militärische Unterricht des Bundesheeres fol an einen vorbereitenden, in der Volks— ſchule zu ertheilenden Unterricht anjchließen.

Die Mitwirkung der Kantone an der Ausführung der Militär- gefege wird durch die Bundesgefeßgebung geregelt.

Art. 21. Dem Bunde fteht da8 Recht zu, im Intereſſe der Eid- genofjenfchaft oder eines großen Theils derjelben, insbefandere zur Bornahme einer allfeitigen Randesbefeftigung, auf Koften der Eidgenoſſenſchaft öffentliche Werke zu errichten u. ſ. w.

| IV. Recht.

(Solotdhurner Bolfstag.) Anbahnung eines einheitlichen Rechtes,

In diefer Forderung liegt eine Konzeſſion an die Föberaliften injoweit, als zwar an der Idee der Recht3einheit feitgehalten, dagegen dieje Rechtseinheit nicht ſofort in's Werk gejebt, jondern eben nur an— gebahnt werden joll. Die Möglichkeit, zu einem einheitlichen Rechte zu gelangen, joll durch die neue Bundesverfaffung dem Schweizervolke ge= geben tWerden; dagegen joll die Gentralifation manches Rechtögebieteg, die im lettjährigen Programme appodiktiih verlangt war, fafultativ gelafjen werden.

Die Anträge des Bundesrathes jcheinen mir in diejer Beziehung dem Berlangen des Solothurner Volkstages nah „Anbahnung eines einheitlichen Rechtes" vollftändig zu entſprechen.

Wie zu Gunften der Schwurgerichte denjenigen Kantonen, welche diejes Inſtitut bereits befigen, in jämmtlichen Revifionsentwürfen eine Konzeffion gemacht worden ift, jo ſcheint es mir, könnte aud zu Gunften eines andern Inſtitutes eine Konzejfion an gewiſſe Kantone in Die Bundesperfaffung aufgenommen werden. Dieſes Inſtitut find die bereits erworbenen unablösbaren Grundpfandredhte, die Gültbriefe, für deren Fortdauer ein großer Theil der landwirthſchaftlichen Bevölferung bejorgt ift. Könnte man nicht dem, vom Bundesrathe borgejchlagenen Art. 55 etwa noch folgenden Zuſatz geben: „Bereit3 erworbene unablösbare Grundpfandrechte dürfen durch die Bundesgejegebung nicht ablösbar erklärt werden.”

RE VER

Im Uebrigen gibt der Rechtsartifel inſoweit zu feinen Bemerkungen Anlaß, als die Wünjchbarkeit eines einheitlichen Rechtes im Grunde ge- nommen bon allen Richtungen, auch von den Föderalijten, zugegeben wird. Die Differenzen drehen fi nicht um da3 einheitliche Recht jelbit, ſondern lediglihd um die Frage, mie und durch melde Organe diejes einheitliche Recht geſchaffen werden joll, ob auf dem Wege von jogenannten Berfaffungsgefegen, unter oder ohne Mitwirkung der Kantone, mit oder ohne Referendum? Auf diefe Fragen merde ich bei der jogenannten „Erweiterung der Volksrechte“ zurüdfommen.

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Υ. Soziales.

(Solothurner Volkstag.) Bolfswirthichaftliche Neformen. Ermeiterung der individuellen Rechte. Ein Schweizerbürgerrect.

Soviel πο zu wünſchen wäre, hier wollen wir den Reviſions— wagen nicht überladen! Was uns von den Räthen geboten wird, ift entichieden gut; das Auffichtsrecht des Bundes über die Waflerbau- und Forſtpolizei im Hochgebirge; die einheitlichen Beitimmungen zum Schuße der Arbeiter gegen Gejundheit und Sicherheit gefährdenden Gewerbebetrieb und über die Kinderarbeit in den Yabriken; die Regelung des Banfnoten- wejens; die unbejchränfte Befugniß zur Feſtſetzung von Maß und Ge- wicht; das Verbot der Spielbanten dies Alles find volkswirthſchaft— lie Reformen von großer Tragweite. Und mas die Erweiterung der individuellen Rechte anbelangt, jo find die Freizügigkeit der wiſſenſchaft— lihen Berufsarten und der Eheartifel wahre Perlen der Revifion. Aber Eins fehlt uns, daS und weder im Niederlafjungsartifel des letztjährigen Entmwurfes, ποῦ im MNiederlaffungsartifel der diesjährigen Entwürfe geboten wird: das Schweizerbürgerredt.

Mas faht diefer Begriff in ſich?

1) daß das ganze Schweizerland einfach wie eine große Ge— meinde angejehen wird, im welcher ſich jeder Schweizer abjolut frei bewegen und fich überall niederlafjen fann, wo 68 ihm beliebt;

2) daß jeder Schweizer an dem Orte, wo er ich niedergelafjen hat, aljo an dem Orte, der den Mittelpunkt jeiner Lebens- thätigfeit bildet, auch im Vollgenuſſe aller. feiner bürgerliche und politiichen Rechte fteht.

DB

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Der letztern Anforderung ift dur Art. 42 jo ziemlich Rechnung getragen ; nicht fo der freien Niederlaffung durch Art. 44. Wohl find

in diefem Artikel im Bergleich zu den bisherigen Züftänden große Fort=

Ichritte enthalten ; aber jo lange die Kantone noch berechtigt find, Kris minalijirte oder Verarmte auszumeifen oder ihnen die Niederlaffung zu verweigern, kann von einem Schweizerbürgerreht im Sinne des Solo— thurner Bolkstages nicht die Rede jein.

Warum einem Kriminalifirten, dem e3 mit feiner Befferuug Exnft it, nicht die Möglichkeit verſchaffen, fi) durch eine Veränderung feines Wohnſitzes feiner bisherigen Umgebung, der Verführung und der Ber- ahtung, zu entziehen und an einem neuen Ort ein neuer Menſch zu werden ?

MWarım dem DBerarmten zur ganzen Laſt τὰς Daſeins auch noch die Laſt aufbürden, wie ein Peſtkranker von einem Ort zum andern geichoben zu werden?

Ich verkenne die Schwierigkeit durchaus nit, von Bundeswegen in die Armenverhältnifje der Kantone einzugreifen. Streiten fi) doch gegenwärtig in den Kantonen drei verichiedene Syſteme um den Vor— rang: das der ödrtliden, daS der heimathlichen und das der abjolut freiwilligen Armenpflege.

Der Bund mag es da anfangen, wie er mill: Sobald er an die armenrechtlichen Verhältniffe der Kantone Hand anlegt, wird er bejtehende Anschauungen und Borurtheile verlegen, der Oppofition gegen den Nie⸗ derlaſſungsartikel rufen.

Wäre ἐδ da nicht am einfachſten, man würde Die ἘΝ der Armengenöffigfeit von derjenigen der Niederlaffung vollſtändig trennen, gerade jo wie man die Frage der Burger- und Korperationsgüter eben- fall3 davon getrennt Hat? Nur dann gelangen wir zu einem mahren Schweizerbürgerrecht, wenn mir ‚einerjeit3 daS Necht der Niederlaffung unter den Schub des Bundes ftellen, und wenn wir amderjeitS die

Regelung der Armenverhältniffe ebenjo ausjchlieglih den Kantonen

überlafjen.

Bon Bundeswegen ſei das Niederlaffungsrecht jedes Schweizers ein unbejchränftes. Nehme man doc Amerika zum Borbid! Wenn ich mic) auf dem weiten Gebiet der Union niederlaffen kann, mo ich will,

ohne daß ich jemanden wegen meiner Vergangenheit oder meiner Ver⸗

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mögensumſtände Rechenſchaft ablegen muß, jo jollte dieß doch in der

Heinen Schweiz auch möglich fein.

Allein umgekehrt laſſe man den Kantonen die Freiheit, die Ange— hörigen aus andern Kantonen in Bezug auf die Armenunterftügung gutfindenden Falls unter ein Ausnahmsgeſetz zu ſtellen, fie nach Belieben gar nicht oder in einem geringern Maße zu unterftügen, als die eigenen Kantonsangehörigen. Kommt jo ein Schweizerbürger aus einem andern Kanton in eine Gemeinde und verarmt da, jo fünnen folgende Even— tualitäten eintreten: Entweder er läßt ſich durch jeine Armuth verleiten, zu betteln, zu vagiren, die Leute zu beläftigen ; dann fällt er unter das Armenpolizeigejeg des betreffenden Kantons und wird beftraft; oder er bettelt nicht, er vagirt nicht, er beläftiget nicht, aber er und feine Fa— milie Hungert ; dann kann ihn der betreffende Kanton, die betreffende Gemeinde, wenn fie das Herz dazu hat, einfach feinem Schickſal über- lafjen. Jeder Kanton joll beredtigt fein, einen Shweizerbürger aus einem andern Kanton verhungern zu lajjen; aber er joll nit bere&tigt jein ihn fortzumeijen. | Glaubt man nicht jo weit gehen zu fünnen, jo adoptire man doch

den bezüglichen Antrag der nationalräthlien Kommiſſion, welcher wenigitens

einen Uebergang zum Schweizerbürgerrecht enthält.

Dem Berlangen nad einem Schweizerbürrecht fchiene mir etwa

folgende Faſſung der Art. 42 und 44 zu entipreden : Art. 42 fiatt Yemma 4:

Der Niedergelafjene genießt an ſeinem Wohnſitz alle Rechte der Kantonsbürger und mit Ddiefen auch alle Rechte der Gemeindsbürger, mit Ausnahme :

1) des Mitantheil3 an Burger- und Korporationsgütern, 2) der Berehtigung zu öffentlicher Unterftügung im Falle der Berarmung. |

Urt. 44. Feder Schweizer hat das Recht, ſich innerhalb des jchmweizeriihen Gebietes an jedem Drte niederzulaffen, wenn er einen Heimathichein oder eine andere gleichbedeutende Ausweisſchrift beſitzt.

Die Regelung der armenretlihen Berhältniffe der Niedergelaffenen it ausihlieglih Sache der Kantone.

(Lemma 2, 3, 4 fällt weg, 5 und 6 bleibt).

vi. Schule und Kirche.

(Spolothurner Volkstag.) Eine obligatorijche, unentgeldliche und konfeſſioneller

Führung entzogene Volksſchule (nad) franzöfiicher Ueberſetzung é6cole laique ).

Eivilehe und von bürgerlichen Beamten geführte Civilſtandsregiſter. Freiheit für

jedes Glaubensbefenntnig. Wahrung der Rechte des Bundes gegen jede Kirchen-

organijation und jede Firchliche Anftalt, die nicht auf nationaler und republifaniicher

Grundlage beruht. Aufhebung der Nuntiatur und der nicht national und republi- kaniſch organijirten Bisſsthümer.

Wie das politiſche, ſo iſt auch das kirchlich-religiöſe Leben durch— weht von einem demokratiſchen Zuge. Allein, während wir Schweizer auf politiſchem Gebiete die unbedingte Gleichheit vor dem Gejebe, das allgemeine Stimmrecht, daS freie Vereins- und Verſammlungsrecht ſchon befigen, {πὸ wir auf firhlichem Gebiete erſt an der Schwelle der Neu— zeit angelangt und haben erſt angefangen, uns don den Banden fonfelfio= neller Bevormundung loszuringen.

Diefer demofratifche Zug Hat jeine tiefe Berechtigung. Während viele ἅπας Gemüther davon die Zerfegung, den Zerfall des Firchlichen Lebens befürchten, hege ich umgekehrt die fejte Ueberzeugung, daß [ὦ heutzutage nur in vollftändig demofratifirten Einrichtungen ein gejundes, firchliches Leben entwideln Tann. In der Freiheit wird Π ein großer Theil unſeres Volkes, den das unrepublifaniiche Bevormundungsſyſtem Bisher der Kirche entfremdete, mit Liebe wieder den firhlichen Beftrebungen zumenden.

Der demofratiiche Zug auf kirchlichem Gebiete, die Oppofition gegen jede konfeſſionelle Bevormundung, macht fi in verſchiedenen Richtungen geltend. |

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Vorerſt will ſich der Einzelne für feine Berfon durch Leine konfeſſio— nellen Hafen oder Häklein den Vollgenuß feiner bürgerlichen Rechte irgend— wie berfümmern laſſen. Er will feine Ehe abjchliegen, feine Kinder in die. Standesregifter eintragen lafjen können, ohne irgendwelche konfeſſio— nelle Gebräuche mitmachen, ohne irgend jemanden darüber Rechenschaft ablegen zu müfjen, ob. er Ddiejer oder jener oder auch gar feiner Kon— fejfion angehöre. Solange wir noch kirchliche, ſtatt bürgerliche Trauung, jolange wir ποῷ Taufregifter, ftatt Geburtsregifter Haben, ift der Bürger bon den Fonfejlionellen Hafen und εἴπ nicht befreit.

Ferner will fih der Bürger durch feine Konfeffion in der Aus— übung feiner elterlichen Rechte beſchränken laſſen. Er will nicht gezwungen jein, jeine Kinder einen beftimmten Religionsunterricht befuchen und ihnen eine Erziehung angedeihen zu lafjen, die vielleicht mit feiner eigenen, fitt= (ich religiöfen Ueberzeugung im Widerſpruch jteht. Jeder Zwang in Diefer Beziehung ift gewiß nur vom Uebel. Mag die Oppofition des Bürgers

‚gegen einen bejtimmten KReligionsunterricht nun von einem geläuterten

religiöſen Bemwuptjein oder aber nur von Gleichgültigfeit oder Feindſchaft gegen Alles Religiöje herrühren: Im einen, wie im andern Falle kann Zwang nur dazu dienen, die Kluft zwiſchen ihm oder feinen Kindern und der Kirche zu erweitern.

Wie im Bezug auf das religiöfe oder * nicht religiöſe Einzel—

leben, jo macht ſich der demokratiſche Zug der Zeit geltend auch in

Bezug auf das kirchliche Genoſſenſchaftsleben. Gleichheit der Rechte für alle Konfeſſionen, ſofern ſie gewiſſe, aus dem Weſen des republi— kaniſchen Staates nothwendig ſich ergebende Bedingungen erfüllen. So wenig als in das religiöje Einzelleben, ebenſowenig foll der Staat in das Kirchliche Genoſſenſchaftsleben mo dafjelbe wirklich nur religiöfe Zwecke verfolgt mit roher Hand eingreifen.

Wie das Borrecht bejtimmter Konfejfionen und Dogmen, fo ver- urtheilt der demofratiiche Zug unferer Zeit au) das Vorrecht eines be- fimmten Standes des geiftlihen. Die Kirche ift die Gemeinfchaft der Gläubigen. Wo der Geiftlihe mehr fein will, als ein Diener diefer Kirhe, mehr als ein beitellter Lehrer und Ausleger, mehr als ein be— geijterter Verkünder göttlicher Wahrheiten; wo der Geiftliche, Kraft der Würde jeines Amtes, fi) vor Gott und dem Menfchen über die anderen Kicchenglieder erhaben und bevorrechtet fühlt, wo er, kraft der Würde

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jeines Amtes, eine ftändige Vermittlerrolfe zwiſchen Gott und den MWeltlihen beanjprudt, wo er endlich, Fraft der Würde feines Amtes, die Gemifjen beherriht und knechtet, da. foll dem Geiftlichen heutzutage ‚fein Waizen mehr blühen! Unfere demofratifhe Zeit mag - Propheten gar wohl vertragen; ja, in Wahrheit jollte jeder Geiftliche ein Prophet jein; aber was fie nicht mehr verträgt, find geiftlihe proteftantijche oder katholiſche Hochwürden.

Wie jehr mißkennt ein großer Theil unjerer Geijtlichfeit noch immer die Zeichen der Zeit, und mie jehr ΠῚ dadurch gerade unter den Liberalen die Abneigung und das Miptrauen gegen den ganzen Stand vermehrt und verſchärft worden! Wie's in den Wald Ichallt, jo jchallt’3 wieder Heraus. Weil die Geiftlichfeit in kirchlich-religiöſen Dingen noch immer ein Vorrecht vor den Weltlihen beanſprucht, jo find vielerort3 die Weltlihen dazu gefommen, nicht nur, wie recht und billig, dieſe Anſprüche zurüdzumeiien, jondern auch umgekehrt, den Weltlichen ein Vorrecht vor den Geiftlichen zu verſchaffen; jo beim Ausſchluſſe der Geift- lichen aus vielen gejeßgebenden Behörden, aus der Volksſchule ꝛc. Da= mit hat man nun offenbar über das Ziel Hinausgejhoffen. Sp wenig man dem geiftlihen Stand bejondere Rechte einräumen, jo wenig man Π don ihm bevormunden lafjen jol, ebenjowenig joll man aus ihm einen Pariasſtand machen, ebenjomwenig joll man ihm die, jedem Schmeizer- bürger zuftehenden bürgerlichen und politifchen Rechte vorenthalten.

Mo die Gegenjäbe noch immer am ſchroffſten auf einanderftogen, it die Volksſchule. Während diejelbe noch vielerorts einen ftreng kon— fejfionellen Charakter Hat und ganz unter dem Einfluffe der Geiftlichkeit fteht, geht umgekehrt eine ſcharf ausgejprochene Richtung dahin, den Religionsunterricht aus der Volksſchule zu verbannen und die Geiftlichen aus derſelben auszufchliegen offenbar nur eine Rückwirkung gegen jenes Bevormundungsiyiten.

Der Solothurner Volkstag verlangte weder das eine, ποῷ das andere. Dei der vorausgegangenen Berathung der Rejolutionen wurde von dem Ausdrude „konfeſſionsloſe“ Volksſchule, weil unklar. und zwei— deutig, Umgang genommen, dagegen der Ausdrud adoptirt: fonfefjioneller Führung enthobene Volksſchule“. Wenn man bei der Ueberſetzung in’s Sranzöfiiche den allerdings auch zmweideutigen Ausdrud „Ecole laique* zuließ, jo geſchah dies nur mit dem ausdrüdlichen Vorbehalte,

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daß der Ausprud | „Ecole laique* in diefem, und nur in diefem Sinne

verſtanden jein jolle.

Eine gejeglihe Beſtimmung, daß nur ein „fkonfeſſionsloſer“ Reli— gionsunterricht ertheilt werden dürfe, ift praftifch nicht durchführbar, meil jih die Grenzlinie gejeglich nicht beftimmen läßt, wo beim Religions— unterrichte das Konfeffionelle anfängt und wo es aufhört. Etwas konſe— quenter wäre allerdings die Verbannung des Religionsunterrichts überhaupt. Allein auch hier muß man fragen, wo fängt der Religionsunterricht an, wo hört er auf? Iſt nicht auch in der Naturlehre, im Geſchichtsunter—

richte, in der Geographie eine fittlich=religiöfe Einwirkung möglich?

Und wenn ἐδ auch gelingen jollte, die Religion vollftändig aus der Volksſchule zu verbannen, was gewänne man dabei? Iſt denn die

Religion in Wahrheit eine jo gefährlihe Sache?

Verſteht man unter Religion nicht blos ein künſtlich aufgerichtetes Dogmengebäude, nicht blos ein Fürwahrhalten diejer oder jener gejchichtlichen Thatſachen, nicht blos ein Syſtem äußerer Objervanz, jondern eine höhere Triebfeder zur Bekämpfung der Selbjtjucht, zur Unterordnung unter eine jittliche Weltordnung, die Richtung aller Geiftesfräfte des Menſchen auf ein großes, ideales Lebensziel Hin ijt dann ein Religionsunterridt, der in den Herzen der Jugend ſolche Gefinnung pflanzen, der: jolche Bereinigung aller Geiftesfräfte bewirken fann, in Wahrheit nicht die Blüthe, das deal einer gefunden Bolfserziehung? Und wenn vieler- orts der Religionsunterricht nicht ift, wie er jein jollte, wenn taujend Schlingpflanzen und Unfräuter das Ewige, Unvergängliche überwuchern, it nicht trogdem jede Religion, jo ungeläutert fie jein mag, thatjächlich für das Volk no immer der Brennpunkt feines geiftlich-fittlichen Lebens, wird nicht das Volk immer fein Schönftes und Beites, Alles, wodurch es über die Regungen der Selbitjucht, über den Staub des Erdenlebens erhoben wird, zu jeiner Religion, zu feinem Gottesdienjte in die engſte Beziehung bringen?

Iſt es da nicht eine Heilige Pflicht, auch in der Volksſchule an dieje oberſte ideale Triebfeder des Volkes anzufnüpfen und dafür zu jorgen, daß nah und nad die erjtidenden Schlingpflanzen und Un— fräuter entfernt , die religiöfen DBorftellungen und Begriffe geläutert und dadur die Kraft des fittlihen Willens gehoben werden kann?

3

Viktor Hugo’3 Ausſpruch, „den Unterricht für die Schule, die Er— ziehung für die Yamilie”, iſt eben nichts als ein Bonmot und entſpricht ganz der Franzöfiihen Oberflächlichkeit. So menig man die einzelnen Seelenfräfte des Menjchen, Vernunft, Berftand, Gemüth, Willen, mwill- fürlich auseinanderreigen kann, ebenjowenig es möglich, Unterricht und Erziehung, Verſtandes⸗, Gemüths- und Willensbildung durch eine hinefische Mauer zu trennen.

Ich mißkenne die materialiftiiche, dem Idealeu feindliche Strömung unferer Zeit durchaus nicht; allein ich Hoffe, eS ſei dieſe Strömung nur ein Auswuchs der Zeit, eine, im Leben der Völker, wenigſtens im Leben unſeres Volkes vorübergehende Erſcheinung. So menig modern Dies Eingen mag, wahr it es doch: wichtiger als alle Reformen auf. poli= tiſchem und fozialem, auf militäriſchem und rechtlichem Gebiete, wichtiger als alles Das, iſt für unfer Volk die Hebung der fittlihen Kraft, die Zäuterung der religiöfen Begriffe und Borftellungen, die Feſtigung des religiöfen Bewußtſeins. Lehrt uns nicht Die Gejchihte, dag nur δα 8 Volk Frei bleibt, welches ſich vor den zerjegenden Einflüffen des Mtateria- lismus bewahrt, welches feinen fittlih=religiöjen Kompaß nicht verliert? Sp mwiderwärtig jeder Glaubensfanatismus, ebenjo widerwärtig ijt ver Fanatismus des Unglaubens. Der eine, wie der andere, entjpringt aus einem jchmalen Gehirn oder aus einem engen Herzen, der eine, wie der andere joll der Volksſchule fern bleiben.

Ich frage noch einmal, wenn e3 auch gelingen jollte, die Religion vollftändig aus der Volksichule zu verbannen, was gewönne man dabei ? Glaubt man etwa, man würde damit den Religionsunterricht überhaupt unterdrüden fünnen? Nein, aber jtatt den Religionsunterricht zu heben, ftatt ihn unter öffentlicher Kontrolle in der Volksschule ertheilen zu laſſen, würde man ihn umgekehrt den ertremen religiöfen Richtungen außer der Bolsihule in die Hände jpielen, der öffentlichen Kontrolle entziehen, mehr und mehr zu einer Pflanzſchule konfeſſioneller Selbitgerechtigfeit und gegenfeitiger DVerfegerung herabmwürdigen. Nehmt der Volksſchule alien Religionsunterriht und ihr verwandelt eine fruchtbare Wieje in ein dürres Haideland, ihr entzieht der Volksſchule ihren Schwerp unft, ihr entzieht ihr das lebendige Interefje des Volkes; gegen euren Willen wird ſich die Schule früher oder ſpäter vom Staate trennen und sh, vom Staate emanzipirten Kiche nachfolgen.

J

Alſo den Religionsunterricht nicht aus der Volksſchule hinaus! Dafür aber Freiheit im Religionsunterricht, vollſtändige, allſeitige Freiheit!

In erſter Linie, wie es die nationalräthliche Kommiſſion in Art. 48

verlangt, Freiheit für den Einzelnen. Während ſonſt grundſätzlich der

Unterricht in der Volksſchule ein obligatoriſcher iſt, ſoll es umgekehrt

beim eigentlichen Religionsunterricht, der ſo tief in das innerſte Heilig— thum der Familie eingreift, von Bundeswegen jedem Bürger unbedingt freiſtehen, ſeine Kinder dieſen Religionsunterricht beſuchen oder auch nicht beſuchen zu laſſen. „Wo der Geiſt des Herrn iſt, da iſt die Freiheit“, alſo kein Zwang, ſondern vollſtändige, allſeitige Freiheit. Iſt der Re— ligionsunterricht in der Volksſchule ſo, wie er ſein ſollte, ſo wird er ſeine Anziehungskraft ſchon geltend machen.

Aber Freiheit nicht nur für den Einzelnen, Freiheit auch für die Schule gegenüber der Konfeſſion. Um dieſe Freiheit zu ermöglichen, muß nothwendig ein Prinzip, das ſich gegenwärtig im kirchlichen Leben der Kantone Bahn brechen will, in der, von der Eidgenoſſenſchaft überwachten Volksſchule zur Anwendung kommen. Dieſes Prinzip iſt das Gemeinde— prinzip. Jede Volksſchule beruht auf einer Volksſchulgemeinde. Dieſe Schulgemeinde ſoll von Bundeswegen berechtigt ſein, in der Volksſchule den, ihrer Ueberzeugung zuſagenden Religionsunterricht ertheilen zu laſſen. Keine Konfeſſion ſoll da durch Vermittlung der Kantonalbehörden hinein— regieren, bindende Vorſchriften aufſtellen, Dogmen- und Glaubenszwang ausüben können. Die Volksſchule ſei, wie es der Volkstag in Solothurn verlangte, konfeſſioneller Führung, konfeſſioneller Bebormundung enthoben, eine Ecole laique in dieſem und nur in dieſem Sinne.

Der Bund und die Kantone dagegen übernehmen die Pflicht,

. darüber zu machen:

1) daß die den Eltern Hinfichtlich des Religionsunterrichtes ge- währte Freiheit in feiner Weile beeinträchtigt werde;

2) daß der Religionsunterricht in der Volksſchule die Sittlich— feit, die öffentlide Ordnung und den fonfeffionellen Frieden nicht. verlebe.

Alto eine öffentliche Kontrolle hierüber joll fattfinden im Uebrigen aber ſoll weder der Staat, noch eine Konfeſſion in den Religionsunter—

richt eingreifen dürfen.

Wie im Bezug auf den Religionsunterricht, jo ſtoßen in der Volks— ſchule αὐ in Bezug auf die Stellung der Geiftlihen die Gegenjäge ſchroff auf einander. In einigen Kantonen ift den Geiftlichen πο von Amtes- wegen eine bevorzugte Stellung in der Schule eingeräumt; das demo- kratiſche Prinzip verlangt, daß dieje VBorrechte aufgehoben, daß jede geilt- πῶς Herrjhaft oder Benormundung gründlich bejeitigt werde. Allein auch hier wollen wir nit in das andere Ertrem verfallen; die Geijt- lichen ſollen als ſolche im Volksſchulweſen gerade die gleichen Rechte haben, tie jeder andere Schweizerbürger, nicht mehr, nicht minder. Ihr Aus— Ihluß aus der Volksſchule wäre eine um jo größere Ungerechtigkeit, als die Volksſchule namentlich der proteſtantiſchen Geiftlichfeit viel, ſehr viel zu verdanken hat. Sind doch in vielen Gemeinden die Geiftlichen, jeien fie num dieſer, jeien jie jener dogmatischen Richtung, recht eigentlich die Stütze der Volksſchule, die Förderer ailer freilinnigen und humanen Beftrebungen. Daneben will ih nicht leugnen, daß es nicht auch Geift- lie entgegengejegter Art gibt. Allein bevor wir Jurijten die Entfernung der Geiftlihen aus der Volksſchule verlangen, follten wir uns doch vor— her ehrlich Fragen und uns dieſe Frage ebenjo ehrlich beantworten, was denn wir Juriften bis jegt in der Volksſchule geleiftet haben?

Wenn gegen die ultramontanen Geiftlihen und insbejondere gegen die Ordensgeiftlichen geltend gemacht wird, daß ohne die Beſchränkung ihres Einflufjes die Volksſchule jchlechterdings nicht gedeihen könne, 70 gebe ich dies unbedenklich zu. Wenn ihnen aber diejer ſchädliche Einfluß Toll entzogen und unter Umftänden jede Bethätigung in der Volksſchule Toll unterjagt werden fünnen, jo muß der Grund zu einer ſolchen nur jheinbar ausnahmsweilen Behandlung in etwas ganz Anderen liegen, als in ihrer Eigenjchaft als Geiftlihe. Maßgebend find Hier höhere nationale Gefihtspunfte, auf die ich Tpäter zu reden komme.

Im Mebrigen ift da, wo es fih um Gewährung bürgerlicher Rechte, oder um die Auferlegung bürgerlicher Pflichten Handelt, der einzig rihtige Standpunkt der, daß man weder Klerifer noch Laien, jondern nur gleichberechtigte und gleich verpflichtete Schweizerbürger Fennt.

Ich refümire dahin: der demofratifche Zug der Zeit verlangt nicht Ausſchluß des Religionsunterrihtes, nicht Ausſchluß der Geiftlihen aus der Volksſchule. Das Einzige, was er verlangt Bejeitigung des Staatskirchenthums, foweit dasjelbe Die Bevorrechtung

A

Diefer oder jener Glaubensrichtung, diefes oder jenes Standes, joweit e3 die fonfejfionnelle Bevormundung der Schule, joweit e3 daS Hineingreifen des Staates in. das Glaubensleben des Einzelnen und der kirchlichen Genoſſenſchaften in ſich faßt.

| . Die Trennung de3 Staates don der Kirche, gleichbedeutend mit der bollftändigen Indifferenz des Staates gegenüber den fittlich-religiöjen Beftrebungen, iſt durchaus nicht eine nothwendige Konjequenz dieſer Befeitigung des Staatskirchenthums. Gerade im demokratischen Staat, wo da3 gleiche Volk den Staat, das gleiche Volk bis auf verſchwindend Heine Minderheiten die Kirche oder die Gejammtheit der Kirchen bildet, wo Staat und Kirche eigentlich nichts Anderes find, als verjchiedene Zebensäußerungen eines und desjelben Volkes, gerade im demofratiichen Staat halte ich diefe vollftändige Ixennung von Staat und Kirche für ein unnatürliches Verhältnig. Wie im einzelnen gejunden Menſchen Die verichiedenen Geiftesträfte ſich Harmonijc ergänzen und vertragen, jo Indien auch im demokratiſchen Bolfsleben die verſchiedenen Lebens- äußerungen diejes Volkes in Harmonie und lebendiger Wechjelbeziehung zu einander ftehen. Wie die Kirche zum Staat, jo joll der Staat zur Kirche, oder zur Gefammtheit feiner Kirchen in ein freundliches, wohl— wollendes Verhältniß treten, und Soll fi) diefe Kirchen- und Religions— freundlichfeit des Staates vor Allem aus darin bewähren, daß er die fittlichereligiöfen Beftrebungen der Kirche mit feinen materiellen Hülfs- mitteln unterftügt, und daß er e3 dadurch nicht nur den reichen, ſondern auch den armen LZandesgegenden und Gemeinden ermöglicht, Religions— lehrer zu Halten, öffentliche Gebäude für den Gottesdienſt zu benußen. -

Allerdings’ wäre nun eine Konjequenz des demokratischen Prinzips, eine Konfequenz der Beſeitigung des StaatzkirchenthHums die, daß von Bundeswegen fejtgefeßt würde: die Kantone haben, jofern fie die kirch— lihereligiöfen Beftrebungen aus Staatsmitteln unterftügen mollen, dieſe Unterftügungen gleihmäßig allen Religionsgenoſſenſchaften, allen kon— feffionellen Richtungen zu verabfolgen.

Eine fernere Konfequenz wäre ferner die, von Bundesmwegen das Gemeindeprinzip, wie wir e3 für den Neligionsunterriht in den Schul- gemeinden borjchlagen, auch für die territorialen Kirchgemeinden zur Anwendung zu bringen, und von Bundeswegen feitzujegen, daß nicht nur die privaten kirchlichen Genoſſenſchaften, jondern auch jede ſtaatlich

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anerkannte, territoriale Kirchgemeinde als ſolche, ihre Kirchlich - religiöfen Berhältnifie innerhalb der Schranken der Sittlichfeit und öffentlichen Drdnung frei und unabhängig von jeder Konfelfion ordnen dürfe.

Sollen wir anläßlich der Bundestevifion diefe Konjequenzen ziehen ? Ich glaube nein. Die gleidmäßige ftaatlide Unterftügung aller. reli— giöſen Richtungen, inbegriffen die Sekten und die Juden, märe eine Forderung an die Kantone, für welche einjtweilen dem Volke das Ver— ſtändniß vollftändig abgeht. Und was die zweite Forderung, die Durch— führung des OGemeindeprinzipes in den fantonalen Volkskirchen, die Selbititändigfeit der territorialen Kirchgemeinden anbelangt, fo thut man beſſer, dieſes Gebiet vorläufig ‚den Kantonen zu belafjen. Einzelne Kan- tone find bereit3 vorgegangen ; im Kanton Bern legt der, von Regierungs- rath Teujcher ausgearbeitete und vom Großen Rath in zweiter Berathung angenommene Rirchengejegentwurf den Schwerpunkt des Firchlich-religiöfen Lebens ganz in die territoriale Kirchgemeinde, indem derjelben nicht nur ettva das Wahlrecht der Geiftlihen , ſondern aud) das Betorecht gegen Beichlüffe der Kantonsſynode ertheilt wird.

Bon Bundeswegen fann zur Bekämpfung des Staatsfirchenthums nur verlangt werden: Vollſtändige Glaubeng- und Gemifjensfreiheit für den Einzelnen und Wahrung der bürgerlichen und befonders der Elterlihen Nechte desjelben. Freie Ausübung gottesdienftliher Hand— fungen nicht nur für die anerfannten riftlicden Konfeſſionen, ſondern über- haupt für jede kirchliche Genoſſenſchaft. Freiheit für die Volksſchule, reſp. die Schulgemeinde in der Ertheilung des Religionsunterrichtes.

MWenn nun der Bund, ſoweit e8 in jeinen Mitteln fteht, das veraltete Staatskirchenthum befämpfen hilft, wenn er dem demokratischen Zuge der Zeit nachgebend, das kirchliche Leben fi möglichſt frei ge= falten und entfalten läßt, jo ift er umgekehrt berechtigt, an die einzelnen kirchlichen Genofjenihaften gewiſſe kategoriſche Forderungen zu ftellen. Er darf von ihnen‘ verlangen :

1) daß fie wirfli nur fittlich- religiöie —* verfolgen;

2) daß ſie ſich und ihre ganze äußere Organiſation zu den idealen Grundlagen, auf denen das NR, St: αἰδε ‚gebäude beruht, in Einklang jeßen. }

Wenn eine kirchliche Genofjenfhaft unter dem Dedmantel der Reli-

gion nach Augen gerichtete, ehrgeizige und jelbftfüchtige Pläne verfolgt, wenn

ἀράν I “ὦ Ὁ.

——

der Beſtand eines über alle Länder verzweigten, mit großen materiellen

Hülfsmitteln verſehenen Kirchenverbandes dazu benutzt wird, den Staat,

die Schule, die Familie, die ganze bürgerliche Geſellſchaft zu unterjochen, dann iſt das freie Gewährenlaſſen einer ſolchen Kirche für den Staat geradezu ein Selbſtmord. Namentlich gilt dies für den republikaniſchen Staat, weil eine ſolche Kirche, ihrem Zweck entſprechend, ſtets unrepu— blikaniſch, abſolutiſtiſch organiſirt iſt, und dadurch zu den Grundlagen des Staates in ſchroffen Gegenſatz tritt. Eine ſolche Kirche mit aller Macht zu bekämpfen, das ift wahrhaftig feine Beſchränkung der Religions— freiheit, das ift für den Staat einfach ein Aft der Nothwehr, der Noth- mehr nicht nur für ſich, jondern auch für die Schule, die Yamilie, Die ganze bürgerliche Geſellſchaft.

| Damit verlaffen wir das Staatsfir ch ent h um um uns dem Kirchenſtaat zuzuwenden.

In der katholiſchen Kirche ſuchten ſich ſeit der Reformation un— verkennbar zwei ganz entgegengeſetzte Richtungen Geltung zu verſchaffen: Eine ächt chriſtliche Richtung, welche ſich die Ausſöhnung mit dem Pro— teſtantismus, ein friedliches Zuſammenleben beider Konfeſſionen, und die ultramontane Richtung, welche ſich den Vernichtungskampf gegen die Häretiker zum Ziele ſetzte. Beide Richtungen nannten ſich katholiſch, beide hatten das gemein, daß fie, im Gegenſatz zu den Nationalkirchen der Broteftanten, ftreng am fosmopolitiihen Bau, an der internationalen Einheit der Kirche fefthielten. Aber während die chriſtliche Richtung diefe Einheit in einem ganz idealen Lichte betrachtete und durch dieſelbe das Reich Gottes auf Erden zu begründen hoffte, betrachtete umgekehrt die ultramontane Richtung die Einheit der Kirche als ein jehr reales Mittel zur Begründung der päpftlichen Weltherrſchaft. Jener Richtung mar die Religion Selbſtzweck, dieſer Richtung mar nicht nur die Einheit der Kirche, jondern die Religion jelbft ein Mittel zur Erreichung eines äußern Zwedes, der mit der Religion gar nichts mehr gemein hatte.

Nach der Verſchiedenheit des Zweckes, der durch die internationale Einheit der Kirche erreicht werden follte, wurde dieje*Einheit von den beiden Richtungen in der Eatholifchen Kirche auch ganz verſchieden aufge faßt. Während die chriftliche Richtung die Einheit der Kirche ſuchte im

Feſthalten an den hergebrachten und angemwohnten, allen Katholiken ge=

meinfamen Formen und Gebräucen, in der Gemeinjamfeit des Gottes=

dienſtes und frommer Liebeswerke, während die chriſtliche Richtung den römiſchen Biſchof nicht als einen unbeſchränkten Herrn über die Gewiſſen, ſondern nur als den äußern Vertreter der Kircheneinheit betrachtete, ſuchte die ultramontane Richtung, entſprechend dem Zwecke, den ſie ver— folgte, die Einheit der Kirche vor Allem aus in der Uniformität, in der ſtrammen Disziplinirung, in der Knechtung derſelben durch Rom, in der ſchroffen Ausmerzung freierer Einflüſſe, in unaufhörlichen Intriguen und Hetzereien gegenüber jeder kirchlichen und politiſchen Richtung, die der angeſtrebten päpſtlichen Weltherrſchaft hindernd in den Weg trat.

Die ultramontane Richtung, thatkräftiger , agreſſiver und in ihrer

Urt auch konſequent, hatte für fi) die traditionnellen Herrjchergelüfte und Anſprüche der Päbſte und die daraus hervorgegangene, auf die Ver— wirklichung der päbſtlichen Weltherrjchaft berechnete, ftreng hierarchiſche Drganijation der katholiſchen Kirche. 5 Mehr und mehr ſuchte deßhalb die ultramontane Richtung gerade Dieje äußere Organijation mit der katholiſchen Religion zu identifiziren oder doch zu einem mwejentlichen Be- Itandtheile diejer Religion zu erheben. Damit war das geeignetjte Mittel gefunden, jede volksthümliche, den päbſtlichen Herrſchergelüſten wideriprechende Reform der fatholiiden Kirche und jede Annäherung an die proteftantiichen Kirchen unmöglich zu machen. Die hriftliche, weniger thatkräftige Richtuug in der Fatholifchen Kirche fügte fi, nach ſchwachen, erfolglofen Reformverſuchen, in das jcheinbar Unabänderliche; fie be- quemte fich, die hierarchiſche Kirhenorganifation tale quale anzunehmen, ohne ihr jedoch grundjäglich den Charakter der Heiligkeit beizulegen. Dieſe Halbheit hat jeither böje Früchte. getragen.

Die eigentlihen Vertreter der ultranıontanen Rihtung waren liche Orden, vor Allen aus der Jeſuitenorden. Nach dem Tridentiner Konzil, wo unter der Leitung dieſes Ordens ein großer Feldzugsplan gegen den Proteſtantismus geſchmiedet und dadurch der Anſtoß zu end— loſen Kriegen und Verfolgungen gegeben wurde, befam die ultramontane Richtung in der Tatholifchen Kirche und in den Fatholifchen Staaten immer mehr die Dberhand und bald ausschlieglihen Einfluß a den Gang der äußern Ereigniſſe.

Hinrichtungen Philipp's und Alba's, die Bartholomäusnacht, * Beltliner- mord, die Dragonaden Ludwigs XIV., und endlich die Bürgerfriege in

BE Zu ν un ΨΥ ΠΡ > 2 ΨΨΡΝΣ Zu

unjerm Baterland find ewige Denkfteine und Blutzeugen der ultramon- tanen Gefinnung. Wohl mögen auch die Proteftanten nicht immer frei geweſen fein von aller Schuld; wohl mag aud hier Unduldjamfeit und blinde Befehrungswuth das euer gejchürt Haben; aber jo viel ift ficher, ohne das Streben der Ultramontanen, das Rad der Gejchichte gemwaltfam wieder zurüdzurollen, ohne ihr Streben nad päbftliher Weltherrichaft hätte die Gejchichte alle jene Gräuel nicht aufzumeijen. ᾿

Die päpftlihe Weltherrihaft zu begründen, die proteftantifchen Staaten zu zerftören, den proteftantifihen Geift zu erftiden, das ift da- mals der ultramontanen Richtung allerdings nicht gelungen. Aber gelungen iſt es ihr, manchem DBolfe unheilbare Wunden zu jchlagen. Während im Anfange des 16. Jahrhunderts in ganz Europa ein reges, allfeitiges Streben fih Fund gab, während auf jedem Gebiet des geiftigen Lebens taujend jchwellende Knospen und Keime einen herrlichen Geiſtes— frühling ahnen ließen: Schien es nad jenen Religionskriegen, als ſei ein tödtlicher Froſt über alle Länder gegangen; die Blüthen, die [ἢ eben entfalten wollten, waren gefnidt, der fruchtbare Garten in eine Wüſte verwandelt, Europa in feiner Kulturentwicklung auf Zahrhunderte surüdgemorfen. |

Dies Alles hatte Europa den Ultramontanen und nur den Ultra— montanen zu verdanfen !

In der allgemeinen Abjpannung, welche auf die furchtbaren Re— ligionsfriege des 16. und 17. Jahrhunderts folgte, verloren die religiöfen und kirchlichen Gegenfäge nad) und nad) ihre Kraft und Schärfe. Man begann, da3 ungeheure Elend zu überjhauen, das Priefterehrgeiz und fünjtlih genährter Yanatismus über die Völker gebracht: die bürgerliche Geſellſchaft, das Familienleben zerrüttet, die Sitten vermwildert, Der Wohlitand ganzer Länder dahin! Mehr und mehr brach ſich die Ueber— zeugung Bahn, daß Priefterehrgeiz und Yanatismus mit Kriftlicher Ge— finnung nichts gemein habe, mehr und mehr regte fich das Gemiffen der Bölfer zur leiſen Selbſtanklage: daß Diejenigen, welche mit der Ber- folgung und Befämpfung Andersdenkender Gott zu dienen gehofft, da= mit nur eine ſchwere Blutfhuld auf fi) geladen. Auch in den fatho- liſchen Ländern erwachte das chriſtliche Bewußtſein, das mährend der Kriegögräuel durch den Ultramontanismus niedergehalten worden, wieder mit erneuerter Stärke, in allen Wohlmeinenden regte ſich die Sehnjudt

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nad Vertragung, nah aufrihtiger DVerjöbnung mit den Broteftanten.

Dies war aber auch die Zeit, mo fich gegen die mwejentlichite Urſache

der erlebten Gräuel, gegen den hauptſächlichſten Träger der ultramontanen

Idee, gegen den Jeſuitenorden jener unvertilgbare Abſcheu in den Herzen

der Völker feſtſetzte.

Mit der Aufklärung des vorigen Jahrhunderts begann ein neuer

Sturm gegen den Ultramontanismus. Wie Voltaire, Rouſſeau und unzählige Andere in der Wiſſenſchaft, jo kämpften Friedrich IL, Kaiſer Joſeph und Bombal in der Politik für religiöje Toleranz, für Glaubens— und Gemifjenzfreiheit. Die Ideen der Zeit wirkten jo gewaltig, daß nicht nur die katholiſchen Höfe und Regierungen, ſondern ſelbſt die ka— tholiſche Kirche, ja die Spiben derjelben, davon beeinflußt wurden. Es it ein ewig denfwürdiges Ereigniß, daß Papſt Clemens XIV. der tra— ditionellen PBolitif der Nachfolger Petri entſagte und das thätigjte Werk- zeug zur Erlangung der päpjtlihen Weltherrſchaft den Jeſuiten— orden aufhob, durch welchen Aufhebungsbeichluß fi) Clemens XIV. bekanntlich jein Todesurtheil jelbft ausſprach.

Nachdem die franzöfiihe Revolution Europa durchbraust, nachdem die von ihr proflamirten Menjchenrechte nah und nad im. Bölferleben ih Eingang verſchafft und praftiiche Anwendung gefunden ſchien der Ultramontanismus das Wejentlichjte feiner Kraft eingebüßt zu haben. Umd als erit die großen Verkehrsmittel, Dampfidiffe, Eijenbahnen, Zelegraphen entjtunden, als jämmtliche Völker, proteſtantiſche und Tatho- liihe, zu einander in die mannigfaltigiten Handels und Berfehröbeziehungen traten, da jchien der, nur auf der jehroffiten kirchlichen Abgeſchloſſenheit beruhende Ultramontanismus al3 τῶ Πᾧ = politiiche Macht von Tag zu Tag mehr ein vollftändig überwundener Standpunkt zu merben.

Wie jehr hat man fich getäujcht! Die ulttamontane Partei, eine Weile desorganijirt und ohne Fühlung mit den neuen Zeitjtrömungen, begann unter der Leitung des Sejuitenordens ſich nad und nad zu reorganifiren. Unverrüdt ihr Ziel die Begründung der päpſtlichen Weltherrſchaft im Auge behaltend, fieng fie damit an, da, wo 48 ihr vortheilhaft jhien, der neuen Zeit, der neuen Ordnung der Dinge ſcheinbar zu affommodiren. Ebenſo 20, als bieg- und jchmiegjam, wurden die Ultramontanen in den Ländern, wo fie in Minderheit waren und wo es ihnen vor Allem aus darauf ankam, ein offenes Feld für

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ihre Wühlereien zu erhalten, die eifrigſten Verfechter der religiöſen To—

leranz, der kirchlichen Friheit ; während ſie umgekehrt da, wo ihre Macht

noch nicht gebrochen war, mit der ganzen Intoleranz früherer Jahr— hunderte jede andere Richtung niederhielten.

Nun kam es darauf an, vorerſt innerhalb der katholiſchen Kirche, ſpeziell innerhalb des Klerus ſelbſt, die Oberhand wieder zu gewinnen. Wie ſchon erwähnt, war auch die katholiſche Geiſtlichkeit von den Ideen der Zeit nicht ganz unberührt geblieben, vielerorts bemerkte man bei ihr einen freiſinnigen, toleranten, ächt chriſtlichen Geiſt; Zierden der Kirche, wie Weſſenberg und Lacordah, liegen eine dauernde Ausſöhnung zwiſchen Katholifen und Proteſtanten, ja eine einjtige Wiederbereinigung auf Grundlage eines geläuterten Chrijtentgums Hoffen. Dem Allem mußte nun eim Ende gemacht, der Einfluß jener Männer gebrochen, beim fa= tholiihen Prieſter die riftliche Gejinnung durch joldatiihe Disziplin und Subordination verdrängt werden. Dank der hierarchiſchen Kirchenorgani— jation, und Dank den vielen Jeſuitenſeminarien ift es denn auch den Ulttamontanen und zwar Hauptjählih im Laufe dieſes Jahrhunderts gelungen, den von jenen Männern im fatholiihen Klerus ausgejtreuten Samen des Chriſtenthms großentheils wieder zu zerjtören, und den fatholiihen Klerus nad) und nad) wieder an Disziplin und Subordination zu gewöhnen. Cine wie wohlthuende, aber wie jeltene Erſcheinung ift noch gegenwärtig ein alter katholiſcher Geiftlicher aus der Schule Weſſen— bergs! Unter den jüngern Slerifern wird man vergebens nad joldhen ausjchauen.

Herher fam 68 nun darauf an, die Kluft zwiſchen Katholiken und Proteftanten,, die jih im Laufe der Zeit an vielen Orten beinahe aus— gefüllt, wieder zu erweitern. Hetzereien und Wühlereien begannen bis es gelungen war, das friedliche Einvernehmen, das zwiſchen den beiden Konfejlionen herrjchte, zu -zerftören, den alten fonfejjionellen Hader wieder wadhzurufen und dadurch ‚die fatholiiche Bevölkerung immer mehr der Führung ihrer geiftlihen Offiziere zu unterwerfen.

Aber Ein großer Schritt mußte noch gethan werden, um die

katholiſche Kirche vollends zu unterjochen. Die hierarchiſche Kirchen—

organiſation, der die Ultramontanen aus leſcht begreiflichen Gründen von jeher den Charakter der Heiligkeit zu geben geſucht, mußte auf die Spitze getrieben, ein kirchliches Dogma aufgeſtellt werden, welches jede Annäherung

sr De an den Proteftantismus radikal ausſchloß, welches die Halben und Zögernden nöthigte, Farbe zu befennen, eitweder aus der katho— liſchen Kirche auszutreten oder ſich blind und millenlos zu unterwerfen. Die Unfehlbarkeit des Römiſchen Bapftes mußte zum Glaubensſatz er— hoben werden. |

Es war ein veriwegenes Beginnen, aber bis jeßt mit Erfolg ge= frönt. Wie wenig fannten die flugen Staatsmänner, welche mit mit- leidigem Lächeln auf das Konzil in Nom herabichauten, und die Aufftellung des neuen ſcheinbar lächerlichen Dogmas als die legten Zudungen einer längft überwundenen Partei erklärten, die Macht und wunderbare, über alle Länder verzweigte Organifation der Jeſuiten! Diefe mußten gar wohl, was fie thaten, als fie durch den Mund des Konzils jene ungeheuerliche. Zumutdung an die fatholiiche Chriftenheit ftellten! Hatten fie doch dur jahrelange Thätigkeit den Boden zur Aufnahme des neuen Dogmas vorbereitet, wußten fie ja do, daß bei der bon ihnen eingeführten Disziplin und Subordination nur ein ver— ſchwindend Heiner Bruchtheil des katholiſchen Klerus eine ernfthafte Oppofition wagen würde. Enchklika und Shllabus waren dem neuen Dogma als Fühler vorausgegangen, ohne die Gewiljen der Fatholiichen Geiſtlichen bedeutend aufzurühren; mit Recht durften alfo die Jeſuiten annehmen, daß auch hier das Gemiffen ſtumm bleiben merde.

Und es iſt denn auch jo gefommen. Als im Jahr 1870 das Unfehlbarkeitsdogma aufgeftellt wurde , erhob fi zwar ein Schrei der Entrüftung durch die ganze Chriftenheit. Aber ‚heute, nad) drei Jahren, hat das neue Dogma bei faſt ſämmtlichen katholiſchen Geiftlihen und infolge defjen auch in der ungeheuren Mehrheit ihrer Gemeinden Ein- gang gefunden, und fängt das, von feinen geiftlihen Führern verblendete Volk ſchon jetzt an, jede Regung des chriſtlichen Gewiſſens, jeden Wider- fand gegen das neue Dogma als eine Keberei, als einen Abfall von der Kirche zu betrachten !

Wie wenig fennen die Aufgeklärten, welche über das Unfehlbarfeits- dogma, wie über andere abergläubifche Vorftellungen die Achjel zuden, die Bedeutung und Tragweite diefes Dogma’3! Hier handelt es fi nicht um eine abergläubifche Vorftellung, fondern um ein jejuitiiches Lojungswort, um das Lofungswort einer mwohlorganifirten kirchlich-poli— tiſchen Partei, um ein Loſungswort, das gleichbedeutend ift mit. blinder

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Unterwerfung unter Rom, Kampf gegen Alles, was fi dem Streben nad päpftlicher Weltherrichaft mwiderjegt. Mit dem Unfehlbarfeitsdpogma ift alles Kulturfeindliche, alles Geſetzwidrige, alles Staatsgefährliche, das früher nur von einer Fraktion innerhalb der Kirche ift angeftrebt worden, offen und unverhüllt zum Zielpunfte für alle Katholifen erhoben; an die Stelle einer kirchlichen Genoſſenſchaft, in welcher fi) bis dahin das chrift- lich-⸗religiöſe und das ultramontan = hierarchifche Element die Waage ge- Halten, ift unter dem Dedmantel der Religion eine internationale Verſchwörung getreten.

Wenn die Ultramontanen gegenüber den Ultfatholifen und Pro— teitanten behaupten, die Lehre von der päpftlichen Unfehlbarfeit ſei der fatholiihen Kirche auch früher nicht fremd gemejen, jo liegt in Diejer Behauptung eine Dojis, aber auch nur eine Dofis Wahrheit. Wahr iſt es, daß e3 in der fatholiichen Kirche von jeher zwei Strömungen ge= geben Hat, eine hriftliche und eine ultramontane, und daß das Unfehl- barfeitsdogma in feinem Keime allerdings ſchon in den früheren, auf Weltherrſchaft gerichteten Beitrebungen der Ultramontanen und in der von ihnen eingeführten hierarchiſchen Kirchenorganifation enthalten mar. Wahr ift es aber auch, daß das chriſtliche Element in der katholiſchen Kirche von jeher die ultramontanen Beftrebungen verwarf, wie es denn auch Heute die Krönung des ultramontanen Gebäudes vermirft. Alt ift wohl der Jeſuitismus, neu ift aber die Verwandlung der fatholijhen Kirche in eine Jejuitenfirde.

Damit ift num aber die rechtliche Stellung des modernen Staates nit zu den Katholiken, nicht zur katholiſchen Religion, wohl aber zur fatholiichen Kirche in ihrer gegenwärtigen äußern Organijation, in ihren gegenwärtigen äußeren Zielpunkten von Grund aus verändert worden.

Bor Allen aus gilt dies für den republifaniichen Staat. Wenn das deutjche Kaiferreih mit der römiſchen Hierarchie den Kampf auf- genommen, jo iſt dies zum Theil wenigftens doch nur deshalb geſchehen, weil fich Hier zwei Autoritäten, die faijerliche und die päpft- (ide, um den Vorrang ftritten. Es iſt noch nicht jo lange her, daß man in Preußen aud die Ultramontanen, als ihre Anmaßung noch nicht jo unverblümt hervortrat, zu den Stützen des Thrones zählte und ihre Hülfe zur Bekämpfung der Demokratie jehr gern entgegen nahm. Seht hat ſich dies freilich geändert. Während auf der einen Seite die mider-

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ſpenſtigen Prieſter gemaßregelt werden, ſchwelgt man auf der andern Seite in der ſüßen Hoffnung, „der Stein ſei ſchon im Rollen, der die Füße des deutſchen Koloſſen zertrümmern werde.“ Aber wird Dies immer jo bleiben? Wenn das deutſche Reich den Sturm fiegreich be— fteht, werden die ebenſo gejchmeidigen, al3 in ihrem Ziele folgerichtigen Ultramontanen nit mit der deutſchen Regierung ein Abkommen zu treffen Juden, werben fie fih nicht, beiferer Zeiten harrend, der neuen Ordnung der Dinge jheinbar fügen? Und der deutjche Kaiſer, mird ihm eine ſolche Unterwerfung unter feine Autorität nicht genügen Menn ihn die Kirche gibt, was des Kaiſers ift, wird er ſich auch noch darum kümmern, ob fie dem Volke gibt, was des Volkes ijt?

Ganz anders im republifaniihen Staate. Hier handelt es fich nicht um einen Kampf zwiſchen zwei Autoritäten, jondern um einen Kampf zwiſchen Autorität und Freiheit. Ein republifaniiher Staat und ein hierarchiſches Kirchenregiment find ſchlechterdings unverjöhnliche Gegenſätze. Das republifaniihe Prinzip des Staates muß auch die Kirche durchdringen oder es wird umgekehrt vom Abjolutismus, der in der Kirche herrſcht, Früher oder jpäter au) aus dem Staate verdrängt erden.

Die Anerkennung der katholiſchen Konfeſſion und das Jeſuiten— verbot in der Bundesverfalfung von 1848 zeigen deutlich, daß man fi) ihon damals bewußt war, die Fatholiihe Kirche enthalte in fich ein be— techtigtes religiöjfes und zugleich ein unberechtigtes, mit unjeren republi= fanischen Zuftänden unverträglices Moment. Leider gab man ji ſchon damals dem Irrthume Hin, mit den Jeluiten auch den Jeſuitismus jelbit aus der Fatholifchen Kirche verbannt zu haben.

St es nicht ein wahrer Hohn, daß die Jeſuiten, mährend das Jeſuitenverbot bei uns noch fortbefteht, faktiſch von Rom aus die Tatho- liſche Kirche in der Schweiz beherrjchen, daß fie diejer Kirche dur Krö— nung des hierarhifchen Gebäudes den Stempel des Jeſuitismus auf- gedrüct haben? Entweder man ſchaffe das Jeſuitenverbot ab, oder man gehe nicht nur den Jeſuiten, ſondern auch dem Jejuitismus in der katho— lichen Kirche zu Leibe.

Aber wie, das ift die große Frage?

Dergefjen wir nicht, daß wir, wenn wir den Jeſuitismus in Der katholiſchen Kirche befämpfen wollen, nicht in das andere Extrem, in

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das Staatzfirhenthum früherer Jahrhunderte verfallen dürfen. Es Tann nicht in der Aufgabe des modernen Staates liegen, in daS innere Glaubensleben der katholiſchen Kirche einzugreifen. So ftaatsgefährlich das jejuitiiche Dogma der Unfehlbarfeit ift, als bloßem Dogma fann ihm der Staat als folder mwenig anhaben, er kann ihm höchſtens zur Aufrechtbaltung des fonfejfionellen Friedens den Eingang in die Volks— ſchule vermehren. Allein der Staat als jolder darf die Einzelnen, welche an die Unfehlbarfeit des Papſtes glauben, in ihren Rechten nicht beichränfen, noch weniger darf er Bekehrungsverſuche mit ihnen anjtellen. Mögen die Infallibiliften jchlieglih jogar dazu fommen, den Papſt an— zubeten, auch daS geht den Staat nichts an. Nicht nur der Glaube, auch der Aberglaube und der Unglaube hat jeine unantaftbaren Rechte.

Vergeſſen wir niht: Das innere Glaubensleben in der fatholiichen Kirche kann nit vom Staate, nit von Dben herab, jondern nur von Unien herauf, vom fatholiihen Volke jelbit geläutert und ge= hoben merden. Und dieſer Läuterungsprozeß hat denn auch ſchon be= gonnen. Klein ift zwar der Anfang, aber groß ift die Zukunft der altfatholiichen Gemeinden, wenn fie ftetS den gleichen freifinnigen und Hriftlichen Geift, der fie bis jebt auszeichnet, Π zu bewahren willen, wenn fie fi) immer Elarer bewußt werden, daß fie nit nur das Un— tehlbarfeitspogma, nicht nur dieſes äußere Pannier des Jeſuitismus, jondern den Jeſuitismus ſelbſt in allen jeinen Konjequenzen befämpfen und dem Chriſtenthum in der katholiſchen Kirche wieder zum Siege ver— helfen müfjen. Ueberall in der katholiſchen Kirche beginnt das chriſtliche Element fih zu regen, aber nur noch ſchüchtern, denn zu gewaltig laftet der äußere Drud der Hierarchie, der Drud der internationalen jefuitifchen Verſchwörung auf allen Katholiken.

Diefen Drud zu entfernen, wäre eine Hauptaufgabe des republi- kaniſchen Staates, hätte er nicht noch eine größere Aufgabe zu erfüllen. Dieje Aufgabe befteht darin: Nicht nur den Drud der Hierardie, jondern die Hierarchie jelbft aus dem Staatögebiete zu entfernen.

Ich habe bereits darauf hingewieſen, daß ein republifaniiher Staat und ein abjolutiftiiches Kirchenregiment unverjöhnliche Gegenſätze find. Es iſt eine auffallende Erſcheinung, daß gerade jebt, mo auf allen Ge- bieten des kirchlich-religiöſen Lebens ein tiefer, demokratiſcher Zug ſich

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geltend macht, auf der andern Seite die Hierarchie durch das Unfehl- barfeitzdogma auf die Spite getrieben wird. Das muß nicht biegen, das muß breden. Wenn der republifaniiche Staat mehr, als jeder andere Saat vom Jeſuitismus gefährdet wird, jo. hat er dafür auch wirkſamere Mittel, den Jeſuitismus zu befämpfen. Diejes Mittel befteht in der Republifanijirung der katholiſchen Kirche, oder viel- mehr in. der Republifanijirung aller Sirden.

So Sehr fi der moderne Staat davor hüten muß, in das immere Glaubensleben einer Kirche fig einzumijchen, jo jehr iſt es feine Pflicht, auf die Äußere Organiſation und. die ganze, nad Außen gerichtete Thätig= feit der Kirchen ein jharfes, mwachjames Auge zu haben. Religion und

äußere Kirchenorganijation gehen einander nichts an. Die Heiligfeit der

römischen Hierarchie. ift nichts, als eine mohlberechnete jejuitiiche Er- findung, die am allerwenigjten im republikaniſchen Staate berüdfichtigt werden 7011.

In Art. 6, litt. der gegenwärtigen. Bundesperfafjung ift den

Kantonen freigeftellt, ji ihre Berfafjung jelbft zu geben, jofern dieſe Berfaflung die Ausübung der politiichen Rechte nach republifaniichen demofratiihen oder repräjentativen Formen geftattet. Analog dieſem Artikel jollte Π der Bund auch gegenüber den einzefnen Kirchen ver- halten. Jedes Statut einer kirchlichen Genoſſenſchaft, jede Kirchen— verfafjung, follte dem Bunde zur Genehmigung unterbreitet werden müſſen. Zwar, jo wenig der Bund den Kantonen, jo wenig jollte der Bund den Kirchen ihre Berfaffungen pofitiv machen; aber jo, wie der Bund die KHantonsperfaffungen, ebenſo jolte der Bund die Kirchen— verfaflungen nur injomeit genehmigen, als fie mit dem Wejen des republifaniihen Staates im Einklange find. Alſo don Seiten des Bundes ein rein negatives Verhalten, indem: der Bund jede Kirchen— verfaflung nicht genehmigt, wenigſtens nicht unbedingt genehmigt, die nicht national, nit republifanisch ift. Jede Kirchenverfaſſung wäre aber ohne Weiteres zu genehnigen, jofern fie. ‚diefen Anforderungen Genüge [εἰ οἰ,

Was iſt das Merkmal einer nationalen und republikaniſchen Kirchen— verfaffung? 1) wenn fie die Kirche und ihre Organe zu Feiner fremden Macht in ein direktes und äußeres Abhängigkeitsverhältniß jebt; 2) wenn fie innerhalb der Kirche die Ausübung der Eirchlichen Rechte. nach republi—

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kaniſchen demokratiſchen oder repräſentativen Formen ſichert; 3) wenn ſie durch die Mehrheit der Kirchenglieder jeder Zeit abgeändert werden kann. | "Gegenüber jeder Kirchenverfaſſung, die dieſe Anforderungen nicht erfüllt, joll der Bund das Recht haben, entweder die Genehmigung direkt zu verweigern, oder aber durch ſchützende Gejegesbeitimmungen den Wir- fungsfreis der Kirchenorgane auf eine angemefjene Weiſe zu befchränfen.

Den Anfang mache man damit, eine tabula rasa zu ſchaffen und das fernere Hineingreifen einer fremden, unrepublifaniihen Macht in unjer Volksleben zu verhindern. In erjter Linie verfüge man die Yuf- hebumg der beftehenden Bisthümer und die Aufhebung von Allem, was bisher Hierarhiihes darum und daran hing. Zwei Biſchöfe find fort, fafje man die anderen nadhfolgen. Der Bund joll, entiprechend dem negativen Verhalten des Staates, den Katholifen fein Nationalbisthum aufnöthigen. Aber er joll die Errihtung neuer Bisthümer oder ander- meitiger Kirchenvertretungen nur dann genehmigen, wenn diejelben auf nationaler und republifaniiher Grundlage beruhen.

Dann muß das Verbot gegen die Leiter der internationalen Ver— ſchwörung, die Jeſuiten, dahin verjchärft werden, daß ihren Gliedern geradezu das Betreten des Schweizerbodens unterjagt wird. Das Jefuiten- verbot muß auch auf andere geiftliche Orden ausgedehnt und wenigſtens die Wirkſamkeit derſelben beſchränkt werden können.

Auch die Klöſter find nicht zu jchonen. In früheren Zeiten un— Ihuldige Zufluctsftätten für weltmüde, zu beſchaulichem Leben geneigte Menſchen, find fie gegenwärtig großentheils nichtS Anderes mehr, αἵ Uhunefter der Reaktion, als finftere Kaſernen, in welchen das ftehende geiftlihe Heer des unfehlbaren Pabſtes im Hinterhalte Liegt, um fi von. Zeit zu Zeit auf ein gegebene Zeichen über das ganze Land zu er- gießen und für die ultramontanen Zwede Propaganda zu machen. Das Beſte wäre, fie aufzuheben oder doch ihre Aufhebung anzubahnen. Will man nicht joweit gehen, jo made man ihre Aufhebuug fakultativ und beſchränke ihren ſchädlichen Einfluß.

Alſo zuerſt tabula rasa gemacht! Auf diefe und nur auf diefe Weile wird es möglih jein, die römiſche Hierarchie in unferer Republik vollftändig zu brechen, das Erdreich zu lockern und den Boden für neue Schöpfungen empfänglich zu machen. Jetzt ift die Pyramide

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unjerer katholiſchen Kirche auf ihre Spitze den unfehl- baren Bapftin Rom geftellt; ftelle man fie wieder aufihre Baſis das brave katholiſche Bolfinder Schweiz und auf das religiöſe Gewiſſen dieſes Volkes und es weit πα und nach von ſelbſt geſündere kirchliche Zuſtände eintreten.

Bon Seiten der Ultramontanen werden gegen die Nationalifirung und Republifanifirung der katholiſchen Kirche verſchiedene Einwände er- hoben werden. Speziell gegen die Nationalifirung wird man geltend maden: Es liege ja im Weſen der katholiſchen Kirche, daß fie als allgemeine chriſtliche Kirche nicht national fein könne, jondern an ihrer, über die Grenzen der Nationen und Staaten hinausreihenden inter- nationalen Beftimmung feithalten müſſe. Die Ultramontanen vergefjen dabei Eines: daß zwijchen international und antinational ein großer Unterjhied it. An der internationalen, fosmopolitiiden Beitimmung der katholiſchen Kirche will ἰῷ nicht rütteln, aber dieſe internationale Beitimmung befteht nicht darin, daß fi) die Kiche zum Stante und zu den Staatögejegen in Widerſpruch jeßt, nit darin, daß fie eine äußere, dem einzelnen Staate überlegene Machtitellung erringt und in ihrem Streben nad) Weltherrichaft dieſen Staat knechtet. Die inter- nationale fosmopolitiihe Beitimmung ift auf ivealem Gebiete zu juchen, in der Begründung des Reiches Gottes auf Erden, in der allgemeinen Berbreitung Hriftliher Gefinnung. Eine internationale herrſchende Kirche ift der Gegenſatz, eine internationale dienende Kirche die Verwirklihung des Chriſtenthums. |

In dieſem legtern Sinne ἔαππ die katholische Kirche zugleich natio— nal und zugleich. international, fosmopolitifch ſein. National, indem fie fi), wie jede andere Kirche, in ihrer äußern Organiſation dem betreffen- den Staate anjchmiegt, mit feinen Grundlagen in Einklang jet; inter- national, fosmopolitii, indem fie an der, den nationalen Aufgaben nicht wipderjprechenden, aber über. die nationalen Aufgaben hinausteichenden Idee des Chriſtenthums fefthält. Man kann ein guter Familienvater jein und gleichwohl ein guter Gemeindebürger ; ein guter Gemeindebürger und gleihwohl ein guter Staatsbürger; ein. guter Staatsbürger und gleichwohl ein guter. Weltbürger. Freilich nah ultramontanen Begriffen nicht, denn da. kann man nicht zugleich Gott dienen. und dem Vaterlande; ein ulttamontaner Chrift und ein. Patriot find. zwei unvereinbare Dinge.

Gegen die Republifanifirung der katholiſchen Kirche wird geltend gemacht werden: die fatholifche Kirche beruhe ja auf der Autorität, nicht auf der Freiheit. So? Nachdem es den Ultramontanen nad) Jahr— hunderte lang fortgefegtem Geiftesdrude gelungen, in der katholiſchen Kirche die Autonomie des Gewiſſens, die Autorität der fittlihen Mächte dureh die Autorität eines Dalai Yama zu. verdrängen, will man auch dem modernen republifaniihen Staate die Zumuthung maden, dieſe letztere Autorität zu reſpektiren? Allerdings ift die Dalai-tama-Autorität weder mit der kirchlichen, noch mit der politiihen Freiheit eines Volkes vereinbar; aber gerade deßhalb muß fie bejeitigt und an die Stelle dieſer Autorität das Prinzip der Freiheit gejeßt werden! Nur in der frei organifirten katholiſchen Kirche wird das religiöje Gemifjen des katho— liſchen Volkes wieder erwachen, werden die fittlihen Mächte wieder zur Geltung fommen, werden Staat und Kirche wieder in ein freundliches, wohlmwollendes Verhältnig zu einander treten.

Wird unjere Heine Republif im Kampfe mit der römischen Hierarchie obfiegen? Furchtbar find die Waffen der legtern, furchtbar ift die über alle Yänder verzmweigte Organijation der Jeſuiten, unermeßlich ihre geiftigen und materiellen Hülfsquellen. Vergeſſen wir nicht, wie viele StaatSmänner ſchon ihre beiten Kräfte an diejen Feind gewagt und wie ſchließlich gegen— über deſſen Macht nnd eiferner Konjequenz ihre Kräfte erlahmt find.

Mit bloßen Anläufen ift eben nichts getan. Wollen wir obfiegen, jo müfjen wir das Uebel bei der Wurzel anpaden. Auch die meit- gehenditen Beichlüffe und Berfügungen find fruchtlos, jofern mir die Macht der römiſchen Hierarchie nicht durch Aufftellung feſter, verfaſſungs— und gejeßmäßiger Normen zu brechen juchen. Die Berjonen, die Be- hörden mechjeln, aber die Verfaffungen, die Geſetze bleiben.

Die Gejege dürfen aber, ſoweit fie fih auf das innere Glaubens— leben, auf den Gottesdienft, auf den Religionsunterricht beziehen, nicht im Geifte des veralteten Staatskirchenthums, jondern fie müſſen im Geifte der Freiheit gejchrieben fein.

Umgekehrt, ſoweit fich dieſe Gejege auf die äußere Organijation und Machtftellung der kirchlichen Genofjenjchaften beziehen, müſſen fie mit radifaler Ausichließlichfeit Alles ausmerzen, mas nicht national, was nit republikaniſch, mas ftaatsgefährlih if. Es ift das Kennzeichen eines gefunden Staates, daß er ein jchädliches Geſchwür zu rechter

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Zeit und ohne Schonung ausſchneiden darf. Es ift das Kennzeichen eines ungejunden Staates, da er den Kaijerfchnitt vermeidet, die Entſcheidung vertagt, das Geſchwür forteitern läßt.

Entjprechen die Entwürfe des Bundesrathes und der beiden Kom— miſſionen den geftellten Anforderungen? - Am meiften offenbar der Ent- wurf der nationalräthlihen Kommilfion. Allein auch diefer Entwurf leidet an Unvollftändigfeit und Inkonſequenz; man fieht es den einzelnen Artikeln an, daß fi) da verſchiedene Standpunkte gefreuzt haben, daß man über daS Berhältnig von Staat und Kirche, don Gemeinde und Individuum πο lange nicht einig ift. |

Im Schlupartifel der nationalräthlichen Kommiſſion vermißt man Beſtimmungen über den Religionsunterricht; die ſtänderäthliche Kom— miſſion will mit dem Staate aushelfen und vergißt dabei, daß der Staat eben ſehr oft nichts iſt, als der Büttel einer Konfeſſion. Warum nicht das einzig Vernünftige und Freiheitliche, das Gemeindeprinzip, mit dem begrenzten Auffichtsrechte des Staates

Im Kicchenartifel vermißt man das Hauptprinzip, durch das allein die römische Hierarchie gebrochen werden fann: Im republifaniichen Staate. nur republifanifche, von feiner fremden Macht abhängige Kirchen. Ferner ijt mit den bejtehenden Bisthümern nicht tabula rasa gemacht, und der Art. 496, jo wohlgemeint er fein mag, enthält fogar eine Rüdfehr zum alten Staatskirchen- und Baftorentdum.

Im Anschluß an den Entwurf der nationalräthliden Kommilfion nehme ich mir die Freiheit, nachfolgende Modifikationen und Ergänzungen borzujchlagen : |

Art. 25. Der Bund ift befugt, eine Univerfität, eine polytechniſche Schule, ein Technikum und andere höhere Unterritsanftalten zu errichten oder ſolche Anftalten zu unterftüßen.

Die Kantone jorgen für: obligatorifhen und unentgeldlichen Primar- unterricht.

Der Bund ift beugt, über das Minimum der Anforderung an die Primarſchule Vorſchriften zu erlaſſen.

Den Geiſtlichen als ſolchen ſtehen der Volksſchule keine beſondern Rechte zu.

Geiſtlichen, welche zu einer fremden Macht in einem direkten und äußern Abhängigkeitsverhältniſſe ſtehen, insbeſondere den Ordensgeiſtlichen,

—— air.

fann ſowohl dur den Bund, als durch die Kantone ἰδ in der Volksſchule unterſagt werden.

Der Religionsunterricht in der Volksſchule darf nur in einer, dem Willen der Schulgemeinde entſprechenden Weiſe ertheilt werden. Der Bund und die Kantone haben darüber zu wachen: 1) daß die in Art. 48, Lemma 3 vorgeſehenen Rechte der Eltern und Vormünder in feiner Weiſe beeinträchtigt werden; 2) daß der Religionsunterricht in der Volks— ſchule weder die. öffentlihe Ordnung und Sittlichfeit, noch den konfeſſio— nellen Frieden verlebe.

Art. 48. (Wie die nationalräthlihe Kommiffion, mit Ausnahme des legten Lemmas:) Niemand ift gehalten, bejondere Kirchenfteuern zu bezahlen u. ſ. mw.

Art. 49. Die freie Ausübung gottesdienftliher Handlungen ift innerhalb der Schranfen der Sittlichfeit und der öffentlichen Ordnung gewährleiſtet.

Den Kantonen, ſowie dem Bund bleibt vorbehalten, ‚für Hand- habung der öffentlichen Ordnung und des Friedens unter den Konfeffionen, jowie gegen Eingriffe Firchlicher Behörden in die Rechte der Bürger und des Staates die geeigneten Maßnahmen zu. treffen.

Jede kirchliche Genofjenihaft ift verpflichtet, für ihre Verfaſſung die Genehmigung des Bundes nachzujuchen.

Diefe Genehmigung ift ohne Weiters zu ertheilen, injofern:

a. die Kirchenverfaffung nichts den Vorſchriften der Bundes— berfafjung Zumiderlaufendes enthält;

b. fie die Kirche und ihre Organe zu feiner fremden Macht in ein direktes und äußeres Abhängigfeitsverhältniß jebt;

c. fie die Ausübung der kirchlichen Rechte nach republifaniichen repräjentativen oder demofratiihen Yormen fichert: |

d. [16 von den Kirchgenoffen angenommen morden ift und τὸς pidirt werden kann, wenn die abjolute Mehrheit derjelben es verlangt.

Gegenüber einer Kirchenverfafjung, welche diefe Anforderungeu nicht erfüllt, jteht es im Ermeſſen des Bundes, entweder die Gemährleiftung zu verweigern und die Kirchliche Genoſſenſchaft aufzulöjen, oder aber durch ſchützende Gejegesbeitimmungen den Wirfungsfreis der auf eine angemeſſene Weiſe zu beſchränken.

Das gleiche Recht fteht dem Bund απ) gegenüber bejondern kirch— lichen Anftalten, wie 2. B. den Möftern, zu.

Unjtände aus dem Brivatrehte, welche über die Bildung oder Trennung von kirchlichen Genofjenjchaften entjtehen, fünmen auf dem Wege der Beichwerdeführung der Entiheidung der J— Bundes⸗ behörden unterſtellt werden.

Die beſtehenden Bisthümer auf ſchweizeriſchem Gebiet. τον gehoben; die Errichtung neuer Bisthümer unterliegt der Genehmigung des Bundes.

Die Eidgenoſſenſchaft anerfennt feinen ftändigen Vertreter einer auswärtigen geiftlichen Gemalt.

Art. 490. Die geiftliche Gerichtsbarkeit iſt abgejchaft.

Art. 49. (geftrihen).

Art. 49d. Der Orden der Jeſuiten und die ihm affiliirten Ge- jelliehaften dürfen in feinem Theil der Schweiz Aufnahme finden und und es ift ihren Gliedern das Betreten des Schweizerbodens unterjagt.

Diefes Berbot kann dur) Bundesbejhlug auch auf andere geift- hide Orden ausgedehnt werden.

(Art. 49e, ἢ, g, wie die nationalräthlihe Kammiſſion.)

hi vi.

Erweiterung der Volksrechte.

Wenn wir uns diejes, an ſich ungenauen Ausdrudes hier bedienen, jo gejchieht e8 nur, weil derjelbe nun einmal gebräuchlich; in Wirklich- feit Tann es fi bei der Einführung des Referendums, Betos ꝛc. nur um eine direktere Betheiligung des Volkes an der Geſetzgebung oder Ver— maltung, nicht aber um eine Erweiterung feiner Rechte Handeln. Iſt ja das Volk ſchon im Repräſentativſtaat ausſchließlicher Souverain.

(8 mag auffallen, daß die vom Volkstag in Solothurn beichloffenen Rejolutionen mit feinem Wort dieſer ſog. Ermeiterung der Volksrechte erwähnen. Der Grund davon lag einfah in dem Beftreben, am Bolfg- tag nur ſolche Rejolutionen aufzujtellen, welche als Ausdruck der, allen entſchieden Freiſinnigen gemeinjamen Ueberzeugung gelten konnten. Nun ſind aber im ſchweizeriſchen Volksverein ſehr viele Freunde, aber gewiß auch Gegner des Referendums, und herrſcht unter den wärmſten und aufrichtigſten Patrioten noch jetzt große Verſchiedenheit der Anſichten darüber, οὐ und in wieweit nnd in welcher Form eine direktere Be— theiligung des Volkes an der Gejeßgebung und Verwaltung ftattfinden ſolle.

Immerhin fann man die Thatjache, daß fich das Referendum nun einmal ſchon in den meiften Kantonen eingebürgert hat, bei der Revifion der Bundesverfafjung jchlechterdings nicht unberüdfichtigt Tafjen. Gerade die Rafchheit und Vieljeitigkeit feines Erfolges ſcheint mir dafür zu Iprechen, daß das neue Inſtitut denn doch‘ ein berehtigtes Moment enthält und daß es nur darauf ankömmt, dieſes berechtigte Moment herauszufinden und von den anhängenden Schlafen zu reinigen.

Unbeftreitbar {ΠῚ das Referendum εἶπε Konfequenz der demokratiſchen Entwidlung der 30er und 40er Jahre. Vom Grundgeſetz ift nur ein Schritt zu: den übrigen Gefegen, und wenn’ das Volk feine Souveraine—

SGB

tätsrechte auch in Bezug auf die letztern direft ausüben will, jo ijt dieß nur eine naturgemäße Yolge feines gejteigerten Selbſtbewußtſeins, jeiner vieljeitigeren Bildung, jeiner vermehrten Erfahrungen auf politiichem, rechtlichem und jocialem Gebiet. Die Hauptjache dabei bleibt aber, daß das Volk in weiſer Selbſtbeſchränkung jeine Bethätigung nur auf foldhe Gebiete ausdehnt, wo e3 dem einzelnen Bürger möglih und bon Nuben it, Π die nöthige Einficht zu verschaffen. Diek find vor Allem aus die allgemeinen Yandesgejege, welche die vielfachen Beziehungen der Bürger unter fi), und ihre Beziehungen zur Staatsgewalt, zur Gemeinde, zur Kirche 2c. normiren. Alfo das ganze Givil- und Strafrecht, der Civil— und Strafprozeß, das Bollziehungspverfahren und Wechjelrecht, die Geſetze über. die Steuern und Jonjtige öffentlihe Yajten, die. Jagd- und Fiſchereigeſetze, das Kirchengeſetz, das Gemeindegejes, Schulgejeß u. 7. w. Alle diefe Gejege beziehen jih auf Eegenftände, mit denen jeder Bürger Ihon von Haus aus mehr oder weniger vertraut ift, weil er mit ihnen in öftere Berührung kommt; und wenn ihm Anfangs auch die nöthige Einfiht in die ganze Oekonomie eines wohldurchdachten Gejeges abgeht, jo hat er doch in den meijten Fällen genügende Lebenserfahrung, daß er durch Belehrung aufgeklärt werden Tann, und auch ein genügendes, perjönlihes Intereſſe, daß er dieſe Belehrung ſucht. In der That fieht man. nicht ein, warum der gleiche Bürger, der über die oft fomplizirten Beſtimmungen einer Berfaflung urtheilen Tann, nit im Stande jein joll, fi über die ihm viel näher liegenden Beftimmungen eines Gemeinde- gejeßes, eines ehelichen Güterrechtes 2c. eine vernünftige Meinung zu bilden.

Eine direkte Bethätigung des Volkes am Erlaß ſolcher allgemeinen Landesgejege kann nur mwohlthätig wirken. Einerſeits gejtaltet ſich dieſe Bethätigung zu einem wirklichen Bolfsbildungsmittel, der Bürger wird ſich viel mehr, al3 dieß beim ftrengen Repräſentativſyſtem der Fall wor, jeiner Stellung und Aufgaben in der bürgerlichen Gejellihaft bewußt, und das Prinzip „daß Gejeßesunfenntniß vor feinem Gericht als Ent- ſchuldigung geltend ‘gemacht werden kann“, erhält etwelche Berechtigung. Underjeits ift diefe Bethätigung ein wirkffamer Damm gegen über- flüffige Geſetzmacherei, gegen ſchlecht redigirte, unverftändliche, oder auch gegen allzu fomplizirte, unvolfsthümliche Geſetze. Jedes Geſetz, welches die Beziehungen der Bürger unter ſich, oder. ihre Beziehungen zur Staatsgewalt, zur Gemeinde, zur Kirche, zur Schuleizc. normirt,

δον

darf fih, wenn es wirkſam fein fol, nicht allzuweit von der normalen Bildungsftufe des Volfes entfernen oder muß menigftens, der Form und dem „Inhalte nah, dieſe Bildungsftufe in ernfte Berückſichtigung ziehen.

Ich bin aljo prinzipiell für die direkte Bethätigung des Volkes an der Gejesgebung, aber nur unter einer Vorausfegung : daß fich diefe Bethätigung auf die oben angeführten Landesgeſetze beichränfe.

In den meilten Kantonen hat man nun offenbar weit über das Ziel Hinausgejhoflen, indem man auch die Verwaltungs- und Spezial- gejege und die Beichlüjfe, ja jogar das Büdget dem Bolfe zur Abſtim— mung unterbreitet.

Was kümmert fih die Maffe des Volkes 3. B. um den Inhalt einer Medizinalordnung, eines Emolumententarif3 oder eines Geſetzes, welches die Organiſation der Finanzverwaltung bejchlägt, und was für eine Möglichkeit oder was für ein Intereſſe Hat der Bauernknecht, der Taglöhner,, der Hauſirer, fih über die Zmedmäßigfeit oder Unzweck— mäßigfeit ſolcher Gejege aufklären zu laſſen? Werden ihm dieje Geſetze troßdem zur Annahme oder Verwerfung vorgelegt, jo nimmt er fie ent- weder gedanfenlos an, oder wenn er gerade mißtrauiſch oder übellaunig ift, jo verwirft er fie eben jo gedanfenlos. Die ganze Geſetzgebung ift der Willfür und dem Zufall anheimgegeben.

Noch verwerflicher ift es, dem Volke die Beichlüffe der oberſten Landesbehörde vorzulegen. Wohl giebt es Beſchlüſſe, welche von immenjer Tragweite find; aber nit die Tragweite einer Sache joll maßgebend jein, ob dieſe Sache vor das Volk gehört, ſondern lediglich die Möglich- feit, daß das Volf etwa von der Sache veriteht.

Man joll mir nicht dorhalten, ich predige den „bejchränften Unter- thanenverftand“. Mag das Volk politiſch noch jo reif fein, die Wichtig- feit und Tragweite vieler Beſchlüſſe, vieler Spezial- und Verwaltungsgeſetze wird es deßhalb nicht begreifen, weil es nicht ſelbſt am Staatsruder fist, meil ihm der nöthige Einblid in den ganzen Staatsorganismus, in die Bedürfniffe des Staatshaushaltes abgeht. Könnte man das ganze Volk in die Rathsſääle hineinnehmen, dann fünnte man es über die fompfizirteften Spezial- und Verwaltungsgefege, über die Wichtigkeit und Tragweite jämmtliher Beihlüffe aufklären. Bei allgemeinen Landes— gejegen können die Volfsvereine die Aufgabe das Volk nach und nad) aufzuklären übernehmen ; bei Spezial- und Verwaltungsgejegen, oder bei

——

Beſchlüſſen, die doch ſtets innerhalb eines beſchränkten Zeitraumes gefaßt werden müſſen iſt dies auch den beſtorganiſirten Vereinen unmöglich.

Wenn es ſchon in den Kantonen wünſchenswerth iſt, daß ſich die direkte Bethätigung des Volkes auf die allgemeinen Landesgeſetze be— ſchränke, ſo iſt dies bei den komplizirten Verhältniſſen des ſchweizeriſchen Bundesſtaates noch in viel höherem Maße der Fall. In dem Vorſchlag, alle Bundesgejege und die Bundesbejhlüffe nicht dringlicher Natur dem fafultativen Referendum zu unterwerfen, erblide ἰῷ eine Schwächung der Bundesautorität, ein bedenkliches Agitationsmittel, und deßhalb eine große Gefahr für unſer Yand. |

Dieje Gefahr wird um jo größer dadurch, daß nicht nur 50,000 Schmeizerbürger, jondern auch 5 oder 8 Kantone die Volksabſtimmung verlangen und damit den Bundesbehörden jeder Zeit den Fuß vor— halten können.

sch miederhole es: Ich bin ein Freund des Referendums, aber nur, wenn man dafjelbe auffakt und behandelt als einen Damm gegen den Erlaß unvolfsthümlicher Landesgejege und als ein Volks- umd ein Rechtsbildungsmittel. Ich bin aber ein entſchiedener Gegner des Peferendums, wenn man dasſelbe zu emem Inſtitut des Miptrauens in die Landesbehörde herabwürdigt. Zu einem Inſtitut de3 Mißtrauens würdigt man es aber herab, wenn man jämmtliche Bundesgejege und auch die Bundesbeſchlüſſe der Bollsabftimmung unterbreitet.

Unfere Republik verlangt eine feite, ftarfe Regierung, die im Voll— gefühl ihrer Verantwortlichkeit handelt, zumal in diejer ernſten, unheil- ſchwangern Zeit. Wohl heißt es in Art. 85 der verjchiedenen Entwürfe, daß Beſchlüſſe dringlicher Natur der Bollsabftimmung enthoben jeien. Uber ift nicht jeder zeitgemäße Beſchluß dringlich, oder wo läßt fich die Grenze zwischen dringlichen und nicht dringlichen Beichlüffen ziehen ?

Ich Halte aljo dafür, es jollte im ſchweizeriſchen Bundesjtaat nur für eine ganz beftimmte Auswahl von Gejegen die Volksabſtimmung vorgejehen werden. Dieſe Gejege find diejenigen, welche ſich auf Gegen- fände des (formellen oder materiellen) Rechtes, und zwar des bürger- lichen und des Strafrechtes beziehen.

Ulein wenn die direkte Bethätigung des Volkes in diefer Weije auf ein vernünftiges Maß zurüdgeführt worden ift, jo bin ἰῷ dann

-

‚umgekehrt dafür, diefe Bethätigung des Volkes jo jehr als möglich zu

erleichtern. Im Bundesftaat iſt die rationellfte Zorm für Ausübung der Bolfsrechte offenbar das fafultative Referendum, in Berbindung mit der Initiative. Allein wenn man die Bethätigung des DBolfes an der Gejesgebung zu Wahrheit will werden lafjen, oder wenn man nicht bei jedem Anlaß einer gemaltigen Agitation rufen will, jo ſoll die Volks— abftimmung nit nur von 50,000, jondern von 20,000 Bürgern ver- langt werden können.

Hinſichtlich der Initiative jchiene mir ein Verfahren jehr zweckmäßig,

das ſ. 3. in der franzöfiichen Nationalverfammlung und im Konvent

Eingang gefunden. Dieje Behörden luden jehr oft die Vertreter größerer Korporationen ein, ihren Berhandlungen mit berathender Stimme θεῖς zumohnen. Sollte es nun nicht zuläjlig jein, daß 20,000 Schweizer— bürger, welche an die Räthe ein Initiativbegehren zu jtellen haben, ſich für Diejen jpeziellen Zweck durch einen Ausgeſchoſſenen mit bloß be— rathender Stimme jollten vertreten lafjen fünnen 20,000 Schmweizer- bürger, die zufällig im gleichen Bezirk wohnen, wählen einen National- rath ; allein jollten 20,000 andere Schweizerbürger , die nicht durch Die Zufälligfeit des MWohnfiges, jondern dur ein gemeinjames Intereſſe verbunden find und dieſes Intereſſe durch ein Initiativbegehren mani- feftiren,, nicht ebenjo ſehr ins Gewicht fallen, nicht ebenjo jehr eine

Vertretung fordern fünnen? Würde dadurdh nicht ein äußerſt Ieben-

diger Wechjelverfehr zwiſchen dem Volk und den eidgenöffiihen Räthen ermöglicht ? |

Die Volksinitiative der 20,000 Schweizerbürger jollte jchlechthin jeden Gegenjtand, jedes Bundesgejeg und jeden Bundesbeichluß betreffen fönnen. Allein nur wenn fi) das Jnitiativbegehren auf ein Bundes— gejeg über Gegenftände des bürgerlichen oder Strafrechtes bezieht, jollte eine Weitersziehung an das Volk ftattfinden. Bei andermweitigen Bundes— gejegen und bei Beſchlüſſen jeien die Räthe oberfte Inſtanz.

Aber wenn die Bundesperfammlung unvolksthümliche Spezial- und Verwaltungsgeſetze erläßt, unvolksthümliche Beſchlüſſe faßt und den Un—

willen des Volkes gegen ſich erregt, was dann? Gebe man doch 50,000 Schmweizerbürgern daS Recht, die Abberufung der beiden Räthe

zu verlangen! Aber es it ja ein revolutionäres Inſtitut, diejes Ab—

berufungsrecht? Wenigſtens nad der Anficht gewiſſer Doftrinärs. Ich

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jehe nicht ein, was Revolutionäres darin liegen joll, wenn das Volk ſein Souverainetätsrecht ausübt und einfach die Amtsdauer der Räthe um einige Monate oder Jahre abkürzt. Iſt das etwas Revolutionäres, ſo iſt es jede Geſammterneuerung des Nationalrathes ebenfalls.

Die Abberufung, nicht das Referendum über Bundesbeſchlüſſe, iſt das wahre Korrektiv für eine Mißregierung.

Seht, dort fährt ein Schiff durch ein Meer voll Klippen und Untiefen! Die Schiffsmannſchaft iſt in großer Beſorgniß, denn der Steuermann iſt des Meeres unkundig und verſteht das Steuer nicht zu handhaben. Was iſt da zu rathen? Soll die ganze Schiffsmannſchaft,

wie toll, ſelbſt auf das Steuerruder losſtürzen, oder ſoll ſie einfach einem

andern, beſſern Steuermann das Ruder übergeben? Wer für das Erſte

iſt, wird zum Referendum über wer für das Zweite

iſt, für das Abberufungsrecht ſtimmen.

Wenn die Volksabſtimmung auf Civil- und Strafgeſetze beſchränkt ᾿ wird, tritt nun die fernere Frage an uns heran: Sollen wir neben dem

Volksvotum auch ein Standespotum zulaffen ?

Daß bei der maßloſen Ausdehnung, welche dem ste und der „Initiative in den bisherigen Entwürfen gegeben wird, bon einem Standespotum nicht die Rede jein kann, liegt auf der Hand. Denn daS märe ‚ein Zurüdgehen meit hinter 1848. Etwas anders geitaltet ih nun allerdings die Frage, wenn man Referendum und Initiative auf ein vernünftiges Maß zurüdführt. Allein auch da halte ich das Standespotum für überflüffig, weil ſchon bei der bloßen Bolfsabitimmung die einzelnen Lofalinterefjen nur zu oft in den Vordergrund treten umd das allgemeine Landesintereffe in den Hintergrund drängen merden.

Meberdieß verftoßt e$ gegen das Prinzip der Demofration, das

Schtweizerbol durch die Stände majorifiren zu laſſen.

Sch halte deßhalb dafür, daß bei der Abftimmung über die Civil— und Strafgefete des Bundes ein Standespotum nur unter folgenden zwei Vorausfegungen zugelaffen werden darf:

) wenn die Föderaliften in jämmtlihen andern Materien, fo namentlih im Militär, aufrihtig die Hand zur Verftändigung bieten,

und das Standespotum mithin nur als eine 5 Konzeſſſon der

Reviſionspartei anzuſehen iſt. *

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2) wenn dem Standespotum: nur. der Charakter eines: Sufpenfiv- vetos beigelegt und im: Folge: deſſen eine dauernde Majprifirung ‚des Volkes durch die Stände verhütet wird. Ein vom Schweizervolk ange— nommenes, bon den Ständen Herworfenes Geſetz ſollte πα einer be— ftimmten Frift dem Schweizervolf neuerdings: vorgelegt werden: können und bei diejer zweiten —— der ikea der. Stände mehr bedürfen.

Warum die beiden Kommiſſionen vom Imnuvrecht der —— nicht Umgang genommen, nachdem dieſes Initiativrecht bon föderaliſtiſcher Seite ſelbſt als etwas Unlogiſches worden, iſt mir nicht erklärlich.

Art. 856. Für Bundesgeſetze und Bundesbeſchlüſſe iſt die Zu— ſtimmung beider Räthe erforderlich.

Jedes Bundesgeſetz über Gegenſtände des bürgerlichen oder, Straf- rechtes ſoll dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorgelegt werden, wenn es bon 20,000 ſtimmberechtigten Schweizerbürgern verlangt: wird.

(Eventuell : Jedes Bundesgejet über Gegenſtände des bürgerlichen oder Strafrechtes joll dem Bolfe und den Ständen zur Annnahme, oder Verwerfung borgelegt werden, wenn e3 bon 20,000 jtimmberechtigten Schmweizerbürgern verlangt wird.

Iſt ein ſolches Bundesgejeg von der Mehrheit des Schweizervolfes angenommen, von der Mehrheit der. Stände jedoch verworfen worden, jo hat das Ständenotum nur die Wirkung eines Sujpenfivvetos. Das betreffende Gejeg muß nah Ablauf von Monaten und vor Ablauf - eines „Jahres dem Schweizervolfe nochmals unverändert zur Annahme oder Verwerfung vorgelegt werden und bedarf bei diefer zweiten Ab- ſtimmung nicht mehr der Zuftimmung der Stände).

Art. 89. Wenn 20,000 ftinnmberedhtigte, Bürger die Abänderung oder Aufhebung eines beftehenden Bundesgejeßes oder über eine beftimmte Materie die Erlafjung eines neuen Bundesgejeßes oder Bundesbejchluffes anbegehren , joll diefes Begehren in beiden Räthen zur Behandlung fommen und zwar unter Beobachtung folgender Grundfäße :

1) die Antragfteller Haben das Recht, fi) durch einen bejondern Abgeordneten, der jedoch nur mitberathende Stimme hat, bei den ein- ſchlägigen Verhandlungen in beiden Räthen vertreten zu Iaffen.

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Bezieht ſich das Begehren auf ein Geſetz über Gegenſtände des bürgerlichen oder Strafrechtes, ſo haben die beiden Räthe, wenn ſie dem Begehren zuſtimmen, den einſchlägigen neuen Geſetzesvorſchlag zu verein— baren und dem Volke (eventuell: dem Volke und den Ständen) zur An— nahme oder Verwerfung vorzulegen.

Stimmen nicht beide Räthe dem Begehren zu, ſo iſt daſſelbe der Abſtimmung des Volkes zu unterſtellen und wenn die Mehrheit der ſtimmenden Bürger dafür ſich ausſpricht, ſo haben die Räthe einen ent— ſprechenden Geſetzesvorſchlag aufzuſtellen und dem Volke (eventuell: dem Volke und den Ständen) zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen.

3) Bezieht ſich das Begehren auf ein anderweitiges Geſetz, oder auf einen Beſchluß, ſo findet keine Weitersziehung an das Volk ſtatt.

Art. 89 b. Wenn 50,000 Schweizerbürger vor Ablauf der Amtsdauer des Nationalrathes eine außerordentliche Geſammterneuerung der eidgenöſſiſchen Räthe verlangen, ſo ſoll dieſes Begehren dem Volke zur Annahme oder Verwerfung vorgelegt werden und im Falle der An— nahme eine ſofortige Geſammterneuerung beider Räthe ſtattfinden.

Art. 90. Die Bundesgeſetzgebung wird bezüglich der Formen und Friſten der Volksbegehren und der Volksabſtimmung das Erforderliche

feſtſetzen.

VII. ΄ Zweikammerſyſtem.

Die Vorzüge des Zweikammerſyſtems beſtehen darin, daß durch daſſelbe eine allſeitigere Landesvertretung ermöglicht, überſtürzte Beſchlüſſe verhütet und alle Vorlagen einer gründlichern Prüfung unterzogen werden. Die Nachtheile beſtehen darin, daß in Zeiten innerer oder äußerer Kriſen durch daſſelbe jede radikale, durchgreifende That erſchwert und leicht eine unheilvolle Schaukelpolitik hervorgerufen wird.

Wir Schweizer haben bis jetzt nur die Vorzüge des ΕΒ λυ ſyſtems fennen gelernt, aus dem einfachen Grunde, weil wir feit 1848 feine großen Kriſen durchzumachen hatten. Vielleicht ift die Zeit nicht mehr fern, wo wir auch jeine Nachtheile werden fennen lernen.

Das jchmweizeriihe Zweikammerſyſtem hat feine ganz bejonderen Skattenjeiten. Wenn der Ständerath und der Nationalrath fi) über eine Frage nicht einigen können oder nicht einigen wollen, jo kann abjolut nichts gejhehen, denn es gibt eben Feine höhere Inſtanz. Die Frage ‚bleibt ungelöft, jo dringlih auch ihre Löſung märe. | | Um diefem, in die Augen jpringenden Uebelſtand abzuhelfen, ift borgeihlagen worden: das Volk jelbft, als höhere Inſtanz, über die Differenzpunfte der beiden Räthe entjheiden zu laſſen. Allein, ſoviel Beitechendes dieſer Borjchlag auf den erften Blick hat, bei reiflicherm Nachdenken muß er doc verworfen werden. Erſtens befindet fich das Volk da, wo blos Beichlüffe, nicht Landesgeſetze in Frage ftehen, an und für fih nicht in der Möglichkeit, das Richtige vom Unrichtigen zu unter- ſcheiden. Zweitens märe ein ſolches Verfahren ein arger Einbrud in das Zweikammerſyſtem, weil ja faktiſch mit diefer MWeiteröziehung an das Volk der zweite Rath ganz überflüffig würde.

Die höhere Inſtanz muß gefunden werden in den Räthen ſelbſt, in der vereinigten Bundesverſammlung. Allerdings nicht in dem Sinne, daß derſelben in gewöhnlichen Zeiten jede Frage, über welche ſich die getrennten Räthe nicht einigen können, vorzulegen wäre. Sonſt thäte man ja beſſer, gar nicht getrennt zu verhandeln, ſondern bon vornherein zuſammenzutreten. Allein, für die Zeiten der Gefahr, denen wir nach meiner feiten Ueberzeugung entgegengehen, jollte eine ſolche Weitersziehung dringlicher Fragen an die vereinigte Bundes- verſammlung ſchlechterdings zuläflig jein.

Dadurch würde ein großer Uebelſtand umferes ſchweizeriſchen Zwei— kammerſyſtems bejeitigt und unjer Land möglicherweife vor dem Unheile bewahrt, das in Zeiten innerer oder aa er: aus jedem er ſyſteme entipringt.

Mit dem Vorſchlage des legtjährigen und der diesjährigen Ent- würfe, auch die ſtimmberechtigten Schweizerbürger geiftlichen Standes als wahlfähig in den Nationalrat zu erklären, wird eine große Unbillig- feit wieder gut gemacht. So wenig als geiftliche, tollen wir weltliche Vor— rechte; jo gut als die Weltlichen, follen auch die Geiſtlichen aller Rechte der Schweizerbürger theilhaftig fein.

Nichtsdeſtoweniger hat der Widermillen ‚vieler liberaler Katholiken, ihre ultramontanen Geiftlichen zu den eidgenöſſiſchen Räthen zuzulafjen, feine tiefe Berechtigung. Aber wenn man der Sache auf den Grund geht, jo ſieht man, daß diejer Widerwillen nicht gegen die Geiftlichen als ſolche, jondern gegen die Diener einer fremden, antiſchweizeriſchen Macht gerichtet ift. Es ift etwas Unnatürliches, daß derjenige, der fein Vaterland in Rom hat und der als Ultramontaner, als Vorkämpfer für die päpjtliche Meltherrichaft, von vornherein der Selbſtſtändigkeit unferer Nationalität und unferen republikaniſchen Einrichtungen feind ſein muß, über die Geſchicke unſeres Volkes mitberathen und mitbeſchließen ſoll.

Alſo Ausſchluß der Organe der infallibiliſtiſchen Kirche!’ Aber geſtützt auf melden Rechtstitel? Etwa wegen ihrer Eigenſchaft als Geiſtliche? Sollen alſo die liberal-katholiſchen und proteftantifchen Geiſt⸗ lichen, die doch meiſtens gute Schweizer und gute‘ Republikaner ſind, auch darunter leiden, daß ſie zufälliger mit —— die —— als Geiftlide gemein Haben?

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Der Ausſchluß des ultramontanen Klerus muß verlangt werden von einem höhern nationalen Geſichtspunkte aus.’ Kein Schweizerbürger ſoll wählbar jein in. den Nationaltath, der zu einer fremden weltlichen oder geiftlihben Macht in eimem direkten und äußern Abhängigkleitsperhältniffe fteht.

WVon dieſem Geſichtspunkte aus ſind alſo ausgeſchloſſen nicht nur die Organe Roms, ſondern auch die weltlichen Vertreter fremder Mächte (wie z. B. die Vertreter fremder, mächtiger Aktiengeſellſchaften oder die Konſulen fremder Staaten). Es iſt gar wohl: denkbar, daß feiner Zeit auch ‚Die, rothe Internationale, wieder, zu, einer jtaatsgefährlichen ar wird, jo. daß auch der Aal ihrer Organe

Der —— hat ſeine Bedeutung nicht nur als Kammer, ſondern ganz beſonders noch als Vertretung der Stände, wie ſie num einmal in der Schweiz, hiſtoriſch geworden find. led

Diefe Ständenertretung iſt durchaus feine nothwendige Folge des Zweikammerſyſtems. Wohl iſt der Senat der amerikaniſchen Union zu— gleich zweite Kammer und: zugleich, Vertreter der einzelnen: Staaten. Aber man verxgeſſe nicht, daß in jedem, einzelnen, Staate der Union ebenfallS zwei Kammern beſtehen, die fich lediglich, dadurch von einander unterjcheiden, ‚daß. die Mitglieder des Senates aus größeren Wahlkreiſen und für, eine längere Amtsdauer gewählt find, und. ein: höheres Alter haben müſſen, als die Mitglieder. des NRepräfentantenhaufes. si

Obgleich alſo die Schweiz, aller. Vorzüge des Zweikammerſyſtems auch ohne fürmliche Ständevertretung theilhaſtig ſein könnte, jo fällt‘ es mir gleihmwohl nicht ein, an der Bedeutung des Ständerathes als Ständevertretung irgendwie rütteln zu wollen. Die Aufhebung der Ständevertretung in den eidgenöſſiſchen Räthen wäre allerdings: ‚ein Uebergang zum; Einheitsftaate,: den feiner von sung will. /

Das Einzige, was ich vorjchlagen möchte, beftünde darin, dag ſchreiende Mißverhältniß in der Vertretung: der einzelnen Kantone ein wenig auszugleichen. Unſer Volk begreift jehr viel; aber nie wird 68 ‚begreifen, warum ‚der ‚Kanton Uri im Ständerathe: foviel Vertreter haben joll, wie. die Kantone, Zirih, Bern, Waadt, und warum ein Urner ſo ſchwer iu's Gewicht: fallen. ſoll, wie 40. Berner; noch weniger wird es begreifen, warum die bevölkerten Halbkantone Baſelſtadt und Appen-

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zell A.-Rh., mit ihrer Summe von Intelligenz, Bildung und Reichthum, im Ständerath nur einen, Uri dagegen zwei Vertreter haben fol.

Ich glaube, im meitaus größten Theile der Schweiz märe eine etwelche Ausgleihung dieſes Mißverhältniffes jehr populär. Wenn man 3. D. feitjegen würde, daß jeder Kanton mit einer Bevölkerung von weniger als 20,000 Seelen nur einen, jeder Kanton mit einer: Be- völferung von 20,000—50,000 Seelen zwei, jeder Kanton mit "einer Bevölkerung von 50,000—150,000 Seelen drei, und endlich jeder Kan— ton mit einer Bevölferung von 150,000 und mehr Seelen vier Ab- geordnete in den. Ständerath zu wählen habe, und daß die Halbfantone wie Kantone zu betrachten jeien, mit der Einjchränfung, daß fein Halb- fanton mehr als zwei Abgeordnete wählen könne, jo erhielte man, ftatt eines Ständerathes von 44, einen ſolchen von 65 Mitgliedern.

ie Kantone wären folgendermaßen vertreten: Züri, Bern,

St. Gallen, Yargau, Waadt mit vier, Graubünden, Teſſin, Wallis, Luzern, Freiburg, Solothurn, Thurgau, Neuenburg und Genf mit drei, Schwyz, Glarus, Bajelftadt, Bajelland, Zug, Schaffhaufen, Appenzell A.-Rh. mit zwei, Uri, Obmwalden, Nidwalden, Appenzell J.«Rh. mit einem Abgeordneten. Oder man könnte, ftatt vier, nur drei Kategorien machen und ſämmtlichen Kantonen und Halbfantonen mit einer Bevölkerung bis 21. 50,000 Seelen zwei Abgeordnete laſſen. In dieſem Falle er- hielte der Ständerath eine Stärke von 69 Mitgliedern. Würde durch eine ſolche Ausgleichung des beftehenden Mißverhältniffes die Kraft und das Anſehen unferer zweiten Kammer nicht verdoppelt und dadurch indireft auch * ἜΗΝ der Kantone wieder gehoben ?

Art: 71. Wahlfähig als Mitglied des Nationalrathes i ſtimmberechtigte Schweizerbürger, der zu feiner fremden geiſtlichen oder weltlichen Macht in einem direkten und re Abhängigfeit3- verhaltniſſe ſteht.

Art. 76. Der Ständerat) beiteht aus den ——— der Kantone.

Kantone mit einer Bebollerung⸗ don weniger als 20, 000 Seelen wählen einen Abgeordneten, Kantone mit einer Bevölkerung bon 20,000 50,000 Seelen zivei Abgeordnete, Kantone mit einer Be- völferung von 50,000— 150,000 Seelen drei Abgeordnete und Kantone

————

mit einer Bevölkerung von 150,000 und mehr Seelen vier Abgeordnete in den Ständerath.

Die Halbkantone find mie Kantone zu halten, mit der Ein- Ihränfung , daß Fein Halbfanton mehr als 2 Abgeordnete wählen darf.

Art. 87 (Zufag). In Zeiten der Gefahr ἐπι εἶδος die vereinigte Bundesperfammlung überdieß jede Frage, über welche fi) der National- rath und der Ständerath nicht einigen fünnen und welche von ihr auf den Antrag eines der beiden Käthe für dringlich erflärt worden ift.

In Gruppen oder Globo?

In den gefeßgebenden Behörden ift jede gruppen= oder artifelmeije Abftimmung nur eine eventuelle und wird ſchließlich immer πο über daS, aus der gruppen- oder artifelweifen Berathung und Abftimmung hervorgegangene Refultat in globo abgeftimmt.

Wäre die nicht zu kompliziert, müßte demgemäß auch jede gruppen- weile Bolfsabftimmung den Charakter einer eventuellen Abſtimmung haben. Sonſt läuft man Gefahr, den Bolfswillen zu fälſchen.

Alſo Schon aus diefem Grund ift die gruppentveije Abſtimmung verwerflich. Sie kann auch ſchlechterdings nur vom Opportunitätsſtand— punkt aus verfochten werden. Man hofft, durch dieſelbe wenigſtens Etwas, wengſtens den Kirchenartikel, unter Dach bringen zu können.

Aber ihr Klugen, ihr täuſcht euch gewaltig! Ihr vergeßt, daß die gleichzeitige Vorlage mehrerer Materien die Maſſe des Volkes ſtets verwirrt, ſtets unjhlüffig und mißtrauiſch macht. Ihr vergekt, daß ihr dur die Zerlegung des Revifionsmwerfes in verjchiedene Gruppen der Revifionsbewegung ihren hauptſächlichſten Impuls entzieht! Ihr ver- gebt, daß ihr einen mächtigen Strom in kleine Bächlein zerlegt und diefen Strom jeiner unmiderftehlichen Kraft vollftändig beraubt.

MWagt ihr es nicht, euch für die Globo-Abftimmung zu entjcheiden, jo gebt ung menigftens Eins: die ſucceſſive Abftimmung über die einzelnen Materien. Zuerft Militär und Finanzen, oder Schule und Kirche, und dann. fucceffive die anderen Gruppen. Aber dem Bolfe immer nur Eine Borlage, Ein Ja oder Ein Nein!

Gebt ihr uns diefe fucceffive Abftimmung, jo ift e$ immer πο möglich, daß die Revifionspartei beifammen bleibt und am Kampftag als geſchloſſene Phalanx aufmarſchirt. Gebt ihr uns aber die gleichzeitige

Abftimmung über die verjchiedenen Gruppen, jo übernehmet auch die ganze Berantiwortlichkeit, wenn durch dieſen Keil die Reviſionspartei ſollte auseinander geſprengt werden.

Doch, wie ihr uns die Sache vorlegt, iſt am Ende nicht ſo wichtig, als was ihr uns vorlegt. Iſt der Inhalt des Reviſionswerkes gut, entſchieden gut, ſo hoffe ich, es werde auch bei der gruppenweiſen Abſtimmung jeder Reviſionsfreund dazu ſtimmen.

Allein das Schiff der Reviſion, das noch dieſen Sommer mit ge— ſchwellten Segeln luſtig und geraden Wegs ſeinem Ziele zuſteuerte, iſt ſeither durch das Laviren der beiden Kommiſſionen in bedenkliches Fahr— waſſer gerathen. Nur wenn ſich die Räthe ſelbſt mit aller Macht aus dieſem Fahrwaſſer wieder herausarbeiten, kann der ſonſt unvermeidliche

Schiffbruch vermieden werden.

Zum Militärartikel der nationalräthlichen und zum Rechtsartikel der ſtänderäthlichen Kommiſſion wird die Linke der Reviſionspartei nie ihre Zuſtimmung geben. Unſer Minimum ſind hier die Anträge des Bundesrathes. Bevor wir in unſere neue Wohnung einziehen, wollen wir wiſſen, ob dieſelbe wohnlicher iſt, als die alte. Unſere liebe, aber ſehr ſchadhafte Bundesverfaſſung von 1848 wollen wir nur gegen etwas Beſſeres, nicht gegen Flickwerk vertauſchen.

Darum caveant Consules! Gebt uns Brod, nicht Steine!

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