151 Srschiüüön am 4. Jänner 1.904 V. Jalir

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KARL KRAUS

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Nk. 151 WIEN, 4. JÄNNER 1904 V. JAHR

Unter dem Titel: »Der Fall der Prinzessin Louise von Coburg« hat die , Frank furter Zeitung' in ihrem Abendblatt vom 22. Dezember einen Artikel veröffentlicht, den ich, nachdem ich beschlossen hatte, ihn als die bemerkenswerteste »Stimme des Auslands« über die österreichische »Affaire« den Lesern dieses Heftes mitzuteilen, in der ,Arbeiter-Zeitung' vom 25. Dezember exzerpiert fand. Die Sache ist von so ungeheurer Wichtigkeit, das reichsdeutsche Urteil über den psychiatrischen Skan- dal, der zwischen Agram und Coswig spielt, von so peinlicher Entschiedenheit, daß ich mich für ver- pflichtet halte, den Artikel der ,Frankfurter Zeitung' hier in seinem Wortlaute wiederzugeben:

»Das ,Neue Wiener Journal' läßt sich unter dem Schlagwort »Prinzessin Louise von Coburg im Hausarrest' aus Dresden schreiben: ,Ein Hausarrest, der vor mehreren Tagen der Prinzessin Louise von Coburg, welche sich bekanntlich in einer Heilanstalt unweit Dresden befindet, auferlegt wurde, bildet in den hiesigen Gesellschaftskreisen das Gesprächsthema. Die Prinzessin hat sich nämlich, wahrscheinlich in Ermangelung einer anderen Gesellschaft, in etwas weitgehender Weise mit dem Hausmeister der Heilanstalt angefreundet . . . Louise von Coburg hätte sich gewiß die gerade entgegengesetzten Folgen dieser Affaire gewünscht : Jetzt wurde nämlich der Don Juan an die Türe gesetzt, die Prin- zessin aber muß in der Anstalt verbleiben'. Diese höhnische Notiz ist eine Niederträchtigkeit*), da sie, wahr seh ei n-

*) Das Wiener Diebsblatt ist jetzt natürlich auf die .Frankfurter Zeitung' schlecht zu sprechen. Es revanchiert sich mit Notizen,

lieh in ganz bestimmter Absicht, eine von aller Welt ver- lassene und wehrlose Frau in der öffentlichen Meinung vollAids zu vernichten trachtet. Die Angelegenheit dieser Prinzessin ist trotz aller offiziösen Mitteilungen von Coburg-Koharyscher Seite bis auf den heutigen Tag vollkommen dunkel geblieben. Finanzielle und psychiatrische Motive sind darin so eng vermischt, daß man doch endlich einmal auf eine amtliche Untersuchung des Falles durch die sächsischen Behörden dringen sollte, denn man vermöchte wirklich nicht einzusehen, warum eine Unglückliche einen geringeren Anspruch auf den Schutz der Gesetze haben sollte, bloß weil sie zufällig eine Prinzessin ist. Resümieren wir kurz die Affaire: die Prinzessin Louise von Coburg hatte die Leere eines unbefriedigten Lebens durch allerlei, nicht immer die Dehors wahrende Liebesabenteuer auszufüllen gesucht und hat dabei viele und leichtsinnige Schulden gemacht. Beide Verfehlungen sind bisher in fürstlichen Kreisen häufig genug vorgekommen, ohne daß man die betreffenden Personen stets gleich für irr- sinnig erklärt hätte. Bei der Tochter des Königs Leopold lag die Sache anders. Ihr Verhältnis mit dem Oberleutnant Matassich hatte zu einem großen Skandal geführt, und ihre Schulden waren so beträchtlich geworden, daß der Gatte, der sehr begüterte Prinz Philipp von Coburg, um diese Verpflichtungen in ihrer vollen Höhe zu tilgen, allerdings tief hätte in die Tasche greifen müssen. Die Internierung der Prinzessin erst in einer österreichischen, dann in einer sächsischen Heilanstalt erleichterte die schwier ige Situation nach jeder Richtung. Der Leichtsinn der Dame erklärte und entschuldigte sich jetzt auf

die von sittlicher Entrüstung überquellen, daß man von Frankfurt aus >in frivolster Weise den niederträchtigen Klatsch aus dem in- timen Familienleben der Fürstin Elisabeth Windisch-Graetz in die Welt gesetzt hat«. Ist das nicht zum Durchgehen komisch.? Das ordi- närste Schnüfflerblatt der Welt ist's, das so aufbegehrt! »Es hat für uns überhaupt den Anschein«, erklärt es, »als ob die .Frankfurter Zeitung' seit dem Tode ihres vortrefflichen Chefredakteurs Dr. Stern an Zuver- lässigkeit der Nachrichten und Noblesse des Tons wesentlich verloren hätte.« Das ist gewiß sehr beklagenswert, und das ,Neue Wiener Journal' ist vor allen berechtigt, es zu rügen, weil es ja - als ein Gewohnheits- dieb der Nachrichten der , Frankfurter Zeitung' am meisten unter der Verschlechterung des deutschen Blattes leidet.

Anm, d. Herausgebers.

natürliche Weise, und die Gläubiger ließen sich willig herbei, ihre Forderungen beträchtlich zu ermäßigen. Mancher Unbeteiligte aber argumentierte so: Kann nicht Jec^er, dessen Geisteszustand man unter einem bestimmten Vorurteil beobachtet, in den Verdacht geraten, nicht ganz normal zu sein? Und gibt es selbst bei wirk- lichen Defekten solcher Art nicht unzählige Nuancen von den augenfälligsten Erscheinungen herab bis zu den feinsten Stimmungen, die auf dem Grenzgebiet zwischen Krankheit und Gesundheit liegen? Und warum sollte es unmöglich gewesen sein, daß die Prinzessin, ohne ernstlich krank zu sein, in eine Anstalt gebracht wurde, da man doch ihren Liebhaber, an dessen Schuld niemand recht glaubte, gleichsam zur Strafe ins Zuchthaus schickte? All dies geschah vor etwa fünf Jahren, und sejther ist die Prinzessin ihrer Freiheit beraubt. Was von Zeit zu Zeit über sie in die Öffentlichkeit dringt, sind inspirierte Berichte,*) in denen die eine oder andere neue Sonderbarkeit der Prinzessin geschildert wird, als ob man daraus gegenüber etwa wachwerdenden Bedenken den Eindruck hervorrufen wollte, daß die aus der Welt Verschwundene wirklich krank sei. Und die gleiche Absicht verfolgt vermutlich die oben wiedergegebene Notiz. Was wahr daran ist, weiß Niemand, aber das glauben wir doch mit Bestimmtheit aussprechen zu dürfen: ist sie wahr, so wirft sie auf die Heilanstalt, in der sich die Prinzessin befindet, ein ungünstigeres Lichtes auf die unglückliche Frau, die vielleicht in ihrer Verzweiflung nach jedem Mittel greift, um den Weg in die Freiheit zurückzufinden. Jedenfalls: steht sie unter Aufsicht oder nicht? Und wenn derartiges geschehen konnte, wie gelangte die Kunde davon aus den Mauern der Anstalt auf die Straße und wer hatte ein Interesse daran, sie in die Welt hinauszuposaunen? Wir glauben, der Fall der Prinzessin Louise von Coburg liegt derartig, daß alle Freunde der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit genügenden Anlaß hätten, sich mit ihm zu beschäftigen.«

Die »Freunde der Menschlichkeit und der Ge- rechtigkeit« — heutzutage eine besondere Couleur haben sich wohl an der Sache eines französischen Hauptm^-nns verspekuliert und wollen sich auf so

*) Aufpassen, Bachrach ! Anm. d. Herausg.

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riskante Gefühlsgeschäfte nicht mehr einlassen ? Viel- leicht gibt ihnen diese Publikation einen Stoß!

Pie Armee für die Armeelieferanten! Das ist der patriotische Gedanke, den Kestranek gegen Kropatschek verficht. Man braucht, um zwischen Stahl und Bronze zu wählen, nicht zu überlegen, wessen Autorität man vertrauen will: jener des Ge- neral-Artillerie-Inspektors, der unser hervorragendster Waffentechniker ist, oder der des kommerziellen Leiters der Prager Eisenindustrie-Gesellschaft. Auch muß man, wenn die Montanindustriellen feierlich be- kunden, daß Nickelstahl ein besseres Material für Geschützrohre sei als Schmiedebronze, nicht erst die Frage auf werfen, woher den Herren solche Kenntnis kam, da doch die Leistungen der Schmiedebronze die Ergebnisse der Schießversuche mit Schmiede- bronze-Rohren — ebensosehr Geheimnis sind wie ihre Zusammensetzung und Bearbeitung: Der kleine Be- trug, der versucht ward, als man im Montanverein den Daten über das Geschützmaterial, welches die Eisenindustriellen einführen wollen, jene über das Geschützmaterial entgegenstellte, welches die Artilleristen abschaffen wollen, als man Nickel- stahl nicht mit der neuen Schmiedebronze, son- dern mit der alten Stahlbronze verglich ver- schlägt wenig. Und nicht mehr kommt darauf an, ob das Lob stichhält, welches die Industrieritter den Nickelstahlrohren der Skoda- Werke zollen. Nur das Übermaß der Dreistigkeit soll zurückgewiesen werden, mit der man sich darauf beruft, daß die 24 cra-Rohre, die aus den Skoda -Werkstätten der Kriegsmarine geliefert wurden, tadellos seien; denn jüngst erst ward bekannt, daß ein vor Jahresfrist von der artilleristischen Prüfungskommission der Kriegsmarine

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übernommenes Rohr unbrauchbar geworden ist, und von zwei Rohren, die neulich übernommen werden sollten, bekam das eine beim kommissionellen Br- probungsschießen Risse. Dennoch könnte die öster- reichische Industrie vielleicht Kanonenrohre kleinen KaUbers Peldgeschützrohre fehlerlos herstellen. Gewiß ist aber, daß Bronzerohre kaum halb so viel kosten wie Stahlrohre, und unbezweifelt ist, daß man in keinem Staat, der in der Lage Österreich-Ungarns wäre, Kanonenrohre in staatlichen altbewährten Werk- stätten herzustellen, jemals daran denken würde, die Armee von der Privatindustrie abhängig zu machen. Nur in Österreich, wo Industriefeind heißt, wer der Industrie nicht die Steuerlasten auf Kosten wirt- schaftlich schwächerer Bevölkerungsschichten erleich- tern will, wer das Defizit der staatlichen Bahnen nicht durch verlustbringende Tarife für die Beför- derung von Industriegütern erhöhen will, wer endlich nicht Antisozialpolitiker und nicht der Meinung ist, daß den Industriellen die Beiträge zur Kranken- und Unfallversicherung ihrer Arbeiter ermäßigt werden müssen, nur hier darf man sich unterfangen zu erklären, das Urteil der Militärs, die Ersparnis von Miüionen, die Unabhängigkeit des Staates bei der Beschaffung von Waffen, alles, was für die Wahl der Bronze den Ausschlag gibt, gelte nichts: aus Pa- triotismus müsse man Kanonenrohre von Nickelstahl fordern. Unparteiisch, heißt es, soll noch einmal zwischen Stahl und Bronze entschieden werden. Und die Unparteilichkeit soll dadurch garantiert werden, daß die Partei der Industriellen in eine neue Prüfungs- kommission Vertreter entsenden darf. Man habe Grund zu zweifeln, wird behauptet, ob die Kommission, die sich für die Schmiedebronze aussprach, unvor- eingenommen war. Sicherhch aber konnten jene weder vorher noch nachher etwas einnehmen, welche sich gegen den Nickelstahl erklärten, und man wird dem General- Artillerie-Inspektor v. Kropatschek und dem

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Arsenaldirektor Thiele, wenn schon nicht das bessere Verständnis, so jedenfalls den selbstloseren Eifer für die Interessen der Armee zutrauen als jenen, die sie als Lieferanten umwerben. Es ist indes vielleicht den Eisenindustriellen selbst gegenwärtig weniger daran gelegen, daß der Entschluß, Bronze als Rohrmateriai zu wählen, umgestoßen werde, als daß ihnen der Staat die so ersparten Millionen durch die Bewilligung hoher Preise für Lafetten, Protzen, Munitionswagen und Geschosse, welche die Privatindustrie liefern wird, hinwerfe. Noch immer ist es nicht zu spät, den Grundsatz, daß die Armee für die Armeelieferanten da sei, zu verwirklichen. Und dem Freisinn in Jour- naille und Parlament muß dieser Gedanke ja auch ganz plausibel sein. Wenn Kanonen wie überhaupt das Heer in einer Zeit, in der man nicht mehr um der Ehre willen Kriege führt, dazu bestimmt sind, wirtschaftliche Interessen zu schützen: warum sollte man an das Zukunftsinteresse denken, für das die Kanonen einmal schießen werden, und nicht vielmehr an jenes, das mit dem Kauf von Kanonen verbunden ist? Die Industriellen sind überdies nicht die einzigen Leute in Österreich, die sich auf eine vorteilhafte Arnaeefreundlichkeit verstehen. Auch die Herren mit dem Papierweizen führten bewegliche Klage darüber, daß durch das Verbot des Terrainspiels die Ver- sorgung der Armee erschwert werde. j.

Oeit der Ärztedebatte im niederösterreichischen Landtag ist in der liberalen Wiener Presse ein neues Schlagwort heimisch geworden. Allwöchentlich wird uns berichtet, daß »Opfer der Ärztefurcht« ihre christlich-soziale Gesinnung mit schwerer Krankheit oder gar mit dem Tod gebüßt hätten. Das wäre schließlich, wenn's wahr ist, vom liberalen Standpunkt als Dezimierung der christlich-sozialen Wählerschaft

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nicht allzusehr zu bedauern. Und vielleicht würden die Fälle bestrafter Ärztefeindlichkeit, in denen die Namen der Ärztefeinde immer sorgfältig verschwiegen werden, nicht einmal so häufig in der liberalen Presse auftreten, wenn sie nicht der Hoffnung lebte, daß eine noch stärkere Verminderung der christlich- sozialen Wähler sich durch Abschreckung werde er- reichen lassen. Wie viele oder wenige Opfer aber die Ärztefurcht auch heischen mag, unerträglich wäre es, wenn auch nur ein einziger Fall sich wirklich ereignet hat, in dem es ein Opfer nicht eigener, sondern fremder Furcht gab, wenn wirklich ein Kind die Torheit seiner Eltern mit dem Leben bezahlt hat. Ein dreizehnjähriges Mädchen, so ward jüngst erzählt, sei vor einem Monat mit einer eitrigen Ent- zündung hinter dem Ohr ins Allgemeine Kranken- haus gebracht worden; die Ärzte hatten den Eltern erklärt, ein operativer Eingriff sei »absolut notwendig, da das Leben des Kindes in Gefahr schwebe«. Aber aus Mißtrauen gegen die Ärzte hätten die Eltern die Einwilligung zur Operation verweigert, und als sie nach einem Monat mit dem sterbenden Kind wieder- kamen, um jetzt endlich der Operation zuzustimmen, sei es zu spät gewesen. Das Kind ward operiert, aber es starb am selbigen Tage. Das mag gruseligen Zeitungslesern gar rührsam zu hören sein. Aber mit Empörung müßte der Menschenfreund feststellen, daß sich, wenn die Erzählung wahr ist, die Ärzte einer unerhörten Pflichtverletzung schuldig gemacht haben. Denn sie durften, als sie vor einem Monat den lebensgefährlichen Zustand des Kindes und die Not- wendigkeit einer Operation erkannten, die unver- nünftigen Eltern nicht einfach mit ihrer Ärztefurcht und deren minderjährigem Opfer davonziehen lassen, um selbst sich vielleicht von der Klinik weg in einen Ärzteverein zu begeben und einen Protest gegen die Landtagsmajorität mitzubeschließen. Wir haben ein Strafgesetz, dessen § 360 lautet: »Wenn dargetan

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wird, daß diejenigen, denen aus natürlicher oder übernommener Pflicht die Pflege eines Kranken ob- liegt, es demselben an dem notwendigen medizinischen Beistande, wo solcher zu verschaffen war, gänzlich haben mangeln lassen, sind sie einer Übertretung schuldig, und nach Beschaffenheit der Umstände mit Arrest von einem bis zu sechs Monaten zu bestrafen<. Jedem Arzt muß dieser Paragraph bekannt sein, und ebenso ist es gewiß, daß Eltern, die mit ihrem Kind den Arzt aufsuchen, es dem Kinde »an dem not- wendigen medizinischen Beistand mangeln lassen«, wenn sie dem Arzt die Hilfeleistung, die er uner- läßlich findet, verwehren. War es also den Ärzten nicht gelungen, die Zustimmung der Eltern zur Ope- ration zu erlangen wobei sie überdies den Eltern eindringlich erklären mußten, daß sie sich, falls das Kind stürbe, des mit strengem Arrest bis zu einem Jahr strafbaren Vergehens gegen die Sicher- heit des Lebens schuldig machten , dann mußte unverzüglich eine Strafanzeige erstattet werden. Frevelhafter Leichtsinn ist es, wenn Ärzte durch diese Anzeige wegen einer Übertretung ver- hüten konnten, daß die Eltern des schwereren Ver- gehens schuldig würden, und es nicht verhütet haben. Droht wirklich die Unvernunft, deren Ausschreitun- gen wir im Landtag erlebt haben, das Wirken der >\rzte und das Wohl der Patienten zu schädigen, dann dürfen die Ärzte nicht mit Protesten und Vorstellun- gen beim Minister ihre Pflicht getan zu haben glau- ben. Wenn sie ihr eigenes Recht finden wollen, müs- sen sie vor allem dazu helfen, die im Strafgesetz ver- bürgten Rechte der Hilflosen zu schützen. Die Kin- der wenigstens sollen davor bewahrt bleiben, daß die Kindischen mit ihrer Gesundheit und ihrem Leben spielen. J. P.

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Ich erhalte die folgende Zuschrift: »Die Moral«, so stand neulich in der ,Fackel', »ist offenbar aufs beste gewahrt, wenn die Furcht der Gatten, Kinder zu zeugen, und die Furcht der Gattinnen, Kinder zu gebären, nicht zur Abtreibung der Leibesfrucht, sondern bloß zu einer unnatürlichen Enthaltsamkeit führt, welche die Ehen zerrüttet, und zu höchst legitimen ehelichen Schweinereien«. Das scheint ohne alle Ironie die Meinung des geltenden Strafrechts zu sein. Und ein guter Moralist braucht bloß ein schlechter Kriminalist zu sein, um auf den Gedanken zu kommen, man müsse nicht sowohl die Unmoral der Fruchtabtreibung von dem Delikts- charakter befreien, als vielmehr der andern Unmoral, welche die Empfängnis verhütet, den Deliktscharakter aufprägen. Solch ein guter Moralist und schlechter Kriminalist ist beispielsweise der Verfasser des Schweizer Strafgesetzentwurfs; es ist bekannt, daß er den Hütern der Gesetze Spionierdienste an den Türen ehelicher Schlafzimmer zugemutet hat und der Meinung ist, der Staat müsse den Leuten, die ihn um den von der Ehe zu erwartenden Bevölkerungs- zuwachs prellen, wenigstens das Vergnügen stören. Aber gegen die Unterlassung des ehelichen Ver- kehrs kann auch Herr Professor Stooß kein straf- rechtliches Mittel ausfindig machen. Und weil infolge dessen die Verhütung der Empfängnis auch in dem von den sorgsamsten Kriminalisten be- schützten Staate immer möglich sein wird, scheint die Frage von unwiderstehHcher Logik: Wenn es keine Pflicht des Zeugens und Gebarens gibt und wenn man nicht etwa, sobald eine Empfängnis erfolgt ist, statt körperlicher und sozialer Hygiene Theologie treiben und sich in einen Streit darüber einlassen will, ob durch die Vernichtung des Keims nicht eine Seele zerstört werde, was anderes hat dann das Verbot der Fruchtabtreibung zum Zweck, als die Gesundheit der Mutter zu schützen? Strafbar müßte

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die Vernichtung des keimenden Lebens immer bleiben, wo die Gesundheit der Mutter bedroht wird. Doch ist es unsinnig, solches für ein Delikt eigener Art zu halten und nicht für einen Fall von Kurpfuscherei, von unbefugtem ärztlichem Eingriff, der gleich an- deren zu verfolgen ist. Dem Arzte aber müßte, wenn die Mutter sie wünscht, die Abtreibung der Leibes- frucht so gut wie irgendwelche Eingriff gestattet sein, natürlich unter der Verantwortlichkeit für Polgen, die auf einen begangenen Kunstfehler schließen lassen. Vor jeder Operation wird eine Indikation gestellt; bei der Fruchtabtreibung wäre sie besonders verant- wortungsvoll, aber keineswegs schwieriger als sonst. So steht es indes mit der Frage der Frucht- abtreibung gegenwärtig nicht, daß Moral oder gar Logik den Standpunkt des Staates bestimmten. Der Staat will ganz einfach Nachwuchs haben. Und wenn er schon bei uns die unehelichen Geburten, so sehr er sich ihrer freuen mag, nicht zu vermehren bemüht ist wie's Frankreich einst durch das Verbot, der Vaterschaft nachzuforschen, tat , will er sich doch wenigstens die ehelichen Geburten nicht vermindern lassen. Ohnmächtig ist er freilich gegenüber einem Einverständnis der Ehegatten, welche einem Einkind- oder höchstens Zweikinder-System anhangen. Wie aber Ohnmacht zumeist zur Schadenfreude zu führen pflegt, so ist es für den Staat allemal ein rechtes Gaudium, wenn den einverständlichen Gatten ein Malheur passiert. Jahre lang hat's keine Kinder mehr gegeben, die Leutchen haben sich in Sicherheit ge- wiegt, aber eines Tages nach einer Nacht, in der nichts anderes als sonst geschah muß die Frau dem Mann jenes Geständnis machen, welches herkömm- licherweise süß genannt wird. In diesem Augenblick glaubt man, der Staat sei eine Person und man höre ihn vor der Türe kichern: Hab' ich euch endlich? Diese Augenblicke sind es, für die der Staat das Verbot, das keimende Leben zu zerstören, aufge-

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richtet hält. Denn in unserer Zeit, der die alte Ord- nung zerfallen ist und die sich eine neue, soziale nicht zu zimmern vermag, müßte die Unerträglich- keit des Lebens die psychische gleich der physi- schen und materiellen immer neue Tausende zu dem Entschluß führen, was ungerufen und unerwünscht ins Leben hereinschlüpfen will, um jeden Preis fern- zuhalten, ihm die Tür zuzuschlagen, ehe es noch auf der Schwelle Fuß fassen kann. Aber diesen Ent- schluß entmutigt das Strafgesetz. Seinen Sinn könnte der Proletarier, dem die Ehefrau das sechste Kind ankündigt, etwa in den Worten fassen: Die Un- gelegenheiten der Armen bedeuten für den Staat die guten Gelegenheiten der Armee.

Ker Dieb von Abbazia hat, so schreibt mir ein Kriminalist, jetzt im Gefängnis dritthalb Jahre Zeit, darüber nachzudenken, wofür er eigentlich dritthalb Jahre Gefängnis bekommen hat. Betrug der Wert der Juwelen, die er dem Erzherzog Ludwig Viktor ge- stohlen hat, mehr als dreihundert Gulden, so ist's, weil kein Milderungsgrund vorlag, zu wenig. War aber der Schaden geringer, so ist's zu viel: Sechs Monate bis zu einem Jahr, könnte der Dieb meinen, hätten nach § 178 des Strafgesetzes genügt. Denn der Diebstahl war zwar, weil er mehr als fünfundzwanzig Gulden ausmachte, ein Verbrechen, aber »nicht weiter beschwert«. Wo indes das Rechtswissen keine Auskunft gibt, findet das Kechtsgefühl eines Kichters in Österreich noch immer einen Ausweg. Hätte man denn einen Menschen, der einen Erzherzog bestiehlt, vielleicht als ganz gewöhnlichen Dieb behandeln sollen? "Ungewöhnliche Umstände werden einem strebsamen Juristen leicht als erschwerende erscheinen, und wenn ein Diebstahl auch bei geringerem Betrag »durch die Eigenschaft des Täters« § 176 St.-G. zum Verbrechen wird, so ist es durchaus plausibel, daß er bei höherem, wenn-

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gleich dreihundert Grulden nicht überschreitenden Betrag durch die Eigenschaft dessen, an dem er verübt wird, zu einem Verbrechen unter erschwerenden Umständen werden kann und mit einem bis zu fünf Jahren zu bestrafen ist. Daß unter den erschwerenden Umständen, welche das Gesetz aufzählt, ein solcher sich nicht findet, ist wahr und konnte den Eichter wankend machen. Doch kennt das Strafgesetz hinwieder den Fall, daß ein läßliches Vergehen, wenn es an einem Erzherzog begangen wird, sich als Verbrechen qualifiziert. Und die Analogie des § 64 drängte sich dem Kichter unwiderstehlich auf; da es ein bis fünf Jahre Kerker kostet, einem Mitglied des kaiserlichen Hauses zu nahe zu treten, sollte man denken, daß, wer sich gar in die Badekabine eines Erzherzogs drängt, nicht leichteren Kaufs davon kommen dürfe. Also überlegte der Richter, und dem Dieb in Abbazia ist recht geschehen . . . Noch gibt es zwar keinen Paragraphen, der den Diebstahl an einem Mitglied des kaiserlichen Hauses besonders ahndet. Wenn aber der Erzherzog Ludwig Viktor so leutselig ist, sich in das Gedränge eines öffentlichen Herrenbades zu begeben, so sind so ungewöhnliche Umstände gewiß erschwerende. Die Strafgesetzreformatoren mögen ersehen, wie notwendig es ist* neue Diebstahlsparagraphe zu schaffen. Dafür gibt es ja wieder andere, die sie aufheben könnten . . .

Qeheimrat Riedler hat richtig abgesagt. Und dem Unterrichtsministerium vv^ar es doch diesmal ernstlich darum zu tun gewesen, eine hervorragende Kraft für die Wiener Technik zu gevs^innen. Was hat man Riedler nicht alles versprochen ! Aber auch an Taten hat es nicht gefehlt. Damit man den neuen Lehrer w^ürdig empfangen könne, scheute mCn sogar Ausgaben nicht, und die Zeichensäle der Maschinen- bau-Abteilung w^urden frisch angestrichen. Dennoch bleibt Riedler in Berlin-Charlottenburg, und in Wien gibt man, seitdem man sich vom ersten Schrecken

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erholt hat, zu, es sei eigentlich von allem Anfang recht unwahrscheinlich gewesen, daß der erste Mann der ersten technischen Hochschule Deutschlands sich zur Übersiedlung nach Österreich bereit finden werde. Müssen wir also für alle Zukunft darauf verzichten, Männer solchen Ranges an die Wiener Technik heran- zuziehen? Gewiß, wenn das nur vom Unterrichts- ministerium abhängig bleibt. Denn auch ein Unter- richtsminister, der so fähig wäre, wie Herr v. Hartel unfähig ist, könnte Deutschlands Anziehungskraft für große Techniker nicht verringern, und Österreichs Anziehungskraft für große Techniker zu vermehren, vermögen bloß die österreichischen Industriellen. Will man für Wien einen hervorragenden Lehrer des Maschinenbaus finden, so hätte man ihn auf die folgende Art zu suchen: Die österreichischen Maschinenbau-Unternehmungen müßten sich mit dem Unterrichtsrainister über die Berufung und mit dem Berufenen über die Bedingungen der Annahme einigen. Sie müßten dem Mann, dem man zumutet,, auf ein großes Einkommen in Deutschland und auf gewinn- reiche Beziehungen zur deutschen Industrie zu ver- zichten, aus eigenen Mitteln ein hohes festes Gehalt garantieren und ihm für die Verwertung seiner Ar- beiten Verträge anbieten, die der geistigen Leistung gerechten Lohn sichern. Was jeder außer Herrn v. Hartel für die medizinische Fakultät in Wien weil Wien eine reiche Praxis gibt zustandebrächte, ihr Lehrer von Weltruf anzuwerben, das kann für die Wiener Technik der Unterrichtsminister allein nicht leisten. Patriotische Industrielle würden es ermög- lichen. Aber wir haben, scheint es, bloß industrielle Patrioten. j.

Der Pariser Professor d'Arsonval hat jüngst auf eine An- frage des ,Matin' geantwortet, er brauche zur Fortsetzung seiner Radiumforschungen dreißigtausend Francs, »und darauf« so

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berichtet der Pariser Korrespondent der ,Zeit' >hat der gene- röse ,Matin' sogleich in den eigenen Beutel gegriffen und die 30.000 Franken zu beliebiger Benützung an den Akademiker überwiesen«. In edler Entrüstung ruft der Herr von der ,Zeit' aus: >So wird hier Reklame für Zeitungen gemacht! Denn nur auf diese Reklame kam es dem Blatte an; das Radium selbst ist ihm fürchterlich gleichgiltig«. Seien wir stolz: In Wien gab es niemals ein Blatt gleich dem ,Matin', der um der Reklame willen für die Radiumforschung Opfer bringt, niemals einen ,New- York Herald', der nur zur Reklame einen Stanley auf die Suche nach Livingstone schickte. Unsere Zeitungen machten nie Reklame für sich mit den Arbeiten eines Forschers, den sie unter- stützten; sie machten nur bisweilen für die Arbeiten eines Forschers Reklame, der sie unterstützte. Bei der ,Zeit' ist auch dies unmög- lich. Sie ist ein anständiges Blatt und will nicht von der Korrup- tion, sondern ausschließlich von der Dummheit leben. Finden sich Leute, die ihr Geld geben, nicht etwa, um irgend etwas dadurch zu erreichen, sondern bloß aus Unverstand, dann ist sie zufrieden. Jede ftlbstlose Tat wird übrigens belohnt: Wer für die , Zeit' Geld hergibt, erhält statt des Titels > Idiot« den viel besser klingenden > Kommanditist«. Ob der ,Zeit' aber auf die Dauer der Beweis gelingen wird, daß man von Kommanditisten allein leben kann? Ursprünglich hat das Programm der ,Zeit' anders gelautet: sie wolle von den Abonnements leben. Als indes einer nach dem andern das Abonnement aufgab, gab auch die ,Zeit' ihr Programm auf. Heute wird das Blatt Staatsbeamten, Offizieren, Lehrern, Bankbeamten kurz, fast allen Gebildeten, die es bisher, wie begreiflich, nicht geschenkt nehmen wollten, für einen Gulden monatlich, also unter dem Selbstkostenpreise geliefert. Wächst dabei das Abonnement, so muß auch das Defizit wachsen, und je mehr Leute sich bereit finden, mit der Lektüre eines sinn- und saftlosen Journals die Zeit zu verschwenden, desto mehr haben die Geldgeber unter der ,Zeit'-Verschwendung zu leiden.

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In der liberalen Versöhnungsära des Herrn v. Koerber, in der Friede den Menschen auf Erden und

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schon wieder einem Pollak der Adel gegeben wurde, in der fortwährend ausgeglichen, überbrückt und angenähert wird, bildet vor allem ein Problem die Sorge der Regierenden: die »Annäherung« des Richterstandes und des x4.dvokateiistandes. Die Reform der Geschwornenjustiz ist bereits angebahnt: im Schwurgerichtssaal wurde mit feierlichem Gepränge ein neues Bild des Kaisers enthüllt. »Im Namen Seiner Majestät zu Recht erkannt«: die Bedeutung dieses Satzes wird, wenn auch noch das Recht ein wenig renoviert sein wird, mit der Zeit voll gewürdigt werden. Aber die gewisse »Annäherung« macht noch Schwierigkeiten. Die Richter haben sich auch in Österreich bisher ihre Unabhängigkeit zu bewahren gewußt. Ihre außeramtliche natürlich. Ihr Privat- leben brauchte sich von obrigkeitlichen Winken nicht beeinflussen zu lassen. Wo sie aßen, tranken, Feste feierten was ging das den Justizminister an? Ab 1904 soll es anders werden. Die Advokatenkammer gibt am 5. Januar eine Sylvesterfeier, und »Seine -Exzellenz wünscht«, verkünden Zirkulare, daß sich Euer Wohlgeboren an ihr beteiligen. Die »Verstän- digung« soll angebahnt werden. Herr v. Koerber glaubt nämlich, daß sich Richter und Advokaten bisher wie Deutsche und Tschechen gegenüberstanden. In Wahr- heit war manchem feinfühligen Richter die Geduld gerissen, wenn eine p'-ononcierte Zierde des Barreaus sich allzu üppig geberdete, und mancher anständige Anwalt war aufgebraust, wenn ein gemütsarmer Ver- handlungsleiter das Schicksal des Angeklagten über -die Schablone seiner Borniertheit spannen wollte. Anstatt nun endlich im Garten der Justiz zu jäten und den Disziplinarrat der Advokatenkammer an : seine Pflicht zu mahnen, kommandiert man die Gegner zu einem gemeinschaftlichen Souper, das so nebenbei auch die durch den neuen Zivilprozeß in ihren Ex- pensenhoffnungen getäuschten Gemüter beruhigen soll. Einsichtige Richter und anständige Anwälte, die

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keinen Grund zur Versöhnung haben, wie sie keinen Grund zur Entzweiung hatten, sollen sich mit den bedenklichen Vertretern des andern Standes an einen Tisch setzen. Sie werden sich's hoffentlich überlegen und fernbleiben, wenn Blutdurst und Expensenhunger sich zum Mahle vereinigen.

,Neue Freie Presse' (Morgenblatt, 19. Dezember):

»Von Universitätsprofessor Dr. Eduard Schiff in Wien er- halten wir folgende Mitteilungen: Die Methoden der signaletischen Photographie oder der anthro- pometrischen Messungen, welche Alphonse Bertillon ausgebildet hat, sind bekannt. Sie werden zur Wiedererkennung rück- fälliger Verbrecher verwendet. . . Früher hat man bei Personsbe- schreibungen auf deutlich sicht- bare Gebrechen, Narben, Ver- stümmlungen, Tätowierungen, Muttermäler, auf Nasen- und Ohrenformen und andere Äußer- lichkeiten Gewicht gelegt. . . In China und Indien wurden von altersher . . . die Abdrücke des feinsten Reliefs der Fingerhaut signaletisch verwendet ; . . . Ber- ti Hon 's System basiertauf genauen Messungen von Individuen, deren Körperwachstum bereits abge- schlossen ist. Es werden vorge- nommen : erstens Körpermes- sungen, Körpergröße, Spann- weite, Sitzhöhe; zweitens Mes- sungen am Kopfe, Länge und Breite des Kopfes, Länge und Breite des Ohres; drittens Mes- sungen an Gliedern der linken Körperseite, Fuß, Mittelfinger,

Brockhaus' Konversations-

Lexikon. (Supplement-Band 17, 1897):

>Bertillonsystem oder Bertillonage, die von dem Fran- zosen Alphonse Bertillon zu be- wunderungswürdiger Exaktheit ausgebildete Methode, anthro- pometrische Messungen zur Wie- dererkennung (Identifikation) rückfälliger Verbrecher zu ver- werten. Während man früher vor- züglich auf Gebrechen, Narben, Verstümmlungen, Muttermäler, Tätowierungen, Komplexion, Nasen- und Ohren formen, in China und Indien auf Abdrücke der Tastleisten der Tastballen der letzten Fingerglieder u. a. den Hauplwert legte, treten diese besondernMerkmale nun in zweite Linie. Bertillons System basiert auf genauen Messungen, bei denen die linke Körperhälfte als die konstantere im allgemeinen bevorzugt wird. Dieser Methode kommt zustatten die fast absolute Unveränderlichkeit des mensch- lichen Knochengerüstes vom 20. Lebensjahre an . . . Nach dem B. werden vorgenommen

1. Körpermessungen : Körper- größe, Spannweite, Sitzhöhe;

2. Messungen am Kopfe: Länge und Breite des Kopfes, Länge und

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kleiner Finger, Vorderarm ; vier- tens wird die Farbe der Regen- bogenhaut (Iris) nach einer Skala bestimmt. Diese Daten werden auf einer Photographie, respek- tive auf einem Zählblatte ver- zeichnet, und die Blätter nach einem bestimmten System ge- ordnet. Die Bertillonage ist der- zeit in allen Kulturstaaten ein- geführt. In Paris wurden nach diesem System identifiziert: 1883 49, 1884 241, 1885 425, 1886 356, 1887 487, 1888 550, 1890 614, 1891 600 und 1892 680 Menschen.«

Breite des rechten Ohrs; 3. Mes- sungen an Gliedern der linken Körperseite: Fuß, Mittelfinger, kleiner Finger, Vorderarm; 4. wird die Farbe der Regenbogen- haut des Auges (in sieben Stufen) festgestellt. Die gewonnenen Zahlen werden auf die Photo- graphie oder, da sich diese als entbehrlich erwiesen, auf ein Zählblatt . . . verzeichnet. Das wichtigste an Bertillons System ist dieOrdnung dieser Zählkarten. . . Seit seiner Einführung wurden in Paris nach dem B. iden- tifiziert: 1883: 49, 1884: 241, 1885 : 425, 1886 : 356, 1887 : 487, 1888 : 550, 1890 : 614, 1891 : 600, 1892 : 680, im ganzen 4564 Ver- brecher.«

Universitätsprofessor Dr. Eduard Schiff ist nicht Professor der Statistik; er hätte sich sonst gewiß bemüht, die Lücken aus- zufüllen, die unser Wissen von den Erfolgen der Bertillonage aufweist, weil der Artikel des 1897 erschienenen Lexikonbandes über das Jahr 1892 hinaus keine Angaben liefert und die Zahl der im Jahre 1889 Bertillonierten durch ein Übersehen ausgefallen ist. Aber Universitätsprofessor Dr. Eduard Schiff ist wohl, so vermutet der Laie, von Beruf Stil verbesserer und bemüht sich, das im Konver- sationslexikon niedergelegte Wissen der Menschheit um stilistische Veränderungen zu bereichern? Die ,Neue Freie Presse' hat indes wiederholt versichert, der Herr sei Dermatologe, und er gibt sich selbst neuestens für einen Röntgenstrahlenforscher aus, beschuldigt in der Fortsetzung eben jener Zuschrift an die ,Neue Freie Presse' französische Ärzte, welche die Radiographie der Bertillonage dienstbar gemacht haben, eines an ihm begangenen Plagiats und erklärt, es wäre ihm lieber gewesen, »wenn die Röntgenstrahlen als Art icle de Vienne in die forensische Medizin eingeführt worden wären«, anstatt als Article de Paris. So streng richtet der Herr die Benützung fremden geistigen Eigentums, während er selbst einen Article de Brockhaus den Zeitungslesern als Original- Article de Schiff aufbindet.

X

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Dm Bildnis Dorlan Grajr's.

(Zum Bildnis des Friedrich Schütz.)

In jenem Blatte, dessen Inseratenspalten der Anpreisung jeglicher Perversität geöffnet sind und dessen Eigentümer notorischer Weise auch aus der Vermittlung päderastischen Verkehrs Gewinn ziehen, ist, wie man weiß, ein gewisser P. Seh. in sitt- licher Entrüstung über Oscar Wilde entbrannt. Sein literarisches Verdammungsurteil, das vor allem den Dichter der »Salome« traf, ließ er mit Beziehung auf Wilde's Roman »Das Bildnis Dorian Gray's« in den Worten gipfeln: »OfiFenbarungen von der albern- sten Banalität«. Zwei davon möchte ich hier in der trefflichen Verdeutschung Felix Paul Greve's (J. C. C. Bruns' Verlag in Minden); vor der andern Ausgabe warne ich zitieren. Die erste ist eine Rede über den Wert der Jugend, der ich an ergreifender Wirkung höchstens die berühmte szenische Gestaltung des gleichen Motivs bei Ferdinand Raimund an die Seite stellen könnte. Lord Henry zieht den schöne Dorian Gray, daß ihm die Sonne nicht den Teint verbrenne, in den Schatten des Gartens. »Was liegt daran?« ruft der Jüngling lachend. »Ihnen sollte alles daran liegen, Mr. Gray.« »Und warum?« »Weil Sie wundervoll jung sind; und die Jugend der einzige wertvolle Besitz ist«. Auf die Bemerkung »Ich finde das nicht, Lord Henry«, antwortet dieser:

»O nein, jetzt nicht. Aber eines Tages, wenn Sie alt und runzlich und häßlich geworden sind, wenn der Gedanke Ihre Stirn mit seinen Furchen gezeichnet, und die Leidenschaft Ihre Lippen mit häßlichen Flammen verzehrt hat, dann werden Sie es empfinden, und Sie werden es furchtbar empfinden. Jetzt mögen Sie gehen, wohin Sie wollen - Sie bezaubern die Welt. Wird das so bleiben ? Sie sind von wundervoller Schönheit, Mr. Gray. Runzeln Sie nicht die Stirn! Es ist wahr. Und Schönheit ist eine Form des Genius Schönheit ist mehr als Genius, denn sie bedarf keiner Erklärung. Sie gehört zu den großen Tatsachen der Welt, wie die Sonne, wie der Frühling oder der Widerschein jener silbernen

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Sichel des Mondes in dunklen Wassern. Sie läßt sich nicht an- fechten. Sie hat ein göttliches Recht auf die Herrschaft. Sie macht zu Fürsten, die sie besitzen. Sie lächeln. O, wenn Sie sie einst verloren haben, werden Sie nicht mehr lächeln . . . Die Menschen sagen wohl, die Schönheit gehöre der Oberfläche. Mag sein. Aber der Gedanke gehört ihr noch mehr. Für mich ist die Schönheit das Wunder der Wunder. Nur Flachköpfe urteilen nicht nach dem Schein. Das wahre Geheimnis der Welt liegt im Sichtbaren, nicht im Unsichtbaren ... Ja, Mr. Gray, Ihnen waren die Götter gnädig. Aber was die Götter geben, das nehmen sie bald zurück. Sie haben nur wenige Jahre, um wirklich, vollkommen und ganz zu leben. Wenn Ihre Jugend dahingeht, dann wird auch Ihre Schönheit schwinden, und plötzlich werden Sie entdecken, daß keine Triumphe mehr Ihrer harren; oder Sie müssen mit jenen niedrigen Siegen zufrieden sein, die das Gedächtnis Ihrer Vergangenheit bitterer machen wird als Niederlagen. Jeder schwindende Mond führt Sie einem schrecklichen Etwas näher. Die Zeit beneidet Sie und bestürmt Ihre Lilien und Rosen. Sie werden bleich werden und hohlwangig und stumpfen Blickes. Sie werden schrecklich zu leiden haben ... O, nutzen Sie Ihre Jugend, solange sie da ist. Ver- schwenden Sie nicht das Gold Ihrer Tage; hören Sie nicht auf die Langweiligen, leihen Sie nicht Ihre Hilfe den doch Verlorenen; werfen Sie Ihr Leben nicht fort für die Toren, die Vielen, die Niedrigen. Das Alles sind kranke Ziele, falsche Ideale unserer Zeit. Leben Sie ! Leben Sie das Leben voll Wunder, das in Ihnen ruht ! Lassen Sie nichts sich entgehen. Suchen Sie stets nach neuen Empfindungen. Fürchten Sie nichts . . . Ein neuer Hedonismus, das ist es, was unser Jahrhundert braucht. Sie könnten sein sichtbares : Symbol sein. Mit Ihrer Persönlichkeit können Sie alles tun. Die ' Welt gehört Ihnen einen Frühling lang . . . Den Moment, da ' ich Sie traf, sah ich, daß Sie nichts davon wußten, wer Sie eigentlich sind, wer Sie sein könnten. Ich sah so viel in Ihnen, was mich I bezauberte, daß ich gezwungen war, Ihnen etwas von Ihnen zu ' erzählen. Der Gedanke kam mir, wie traurig es wäre, wenn Sie verschwendet würden. Denn nur so kurze Zeit wird Ihre Jugend dauern nur so kurze Zeit! Die Menge der Feldblumen welkt, aber sie blühen wieder. Die Blüten der Bohne sind ebenso gold- \ gelb im nächsten Juni wie heute. In wenigen Wochen werden

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purpurne Sterne auf der Klematis schweben, und Jahr nach Jahr wird die grüne Nacht ihrer Blätter die purpurnen Sterne bergen. Aber uns kehrt niemals die Jugend zurück. Der Pulsschlag der Freude, der uns mit Zwanzig durchzuckt, wird matt und träge. Unsere Glieder werden schwer, unsere Sinne entschwinden. Wir entarten zu scheußlichen Gliederpuppen, in denen nur ein Gedächtnis spukt, das Gedächtnis der Leidenschaften, vor denen wir in Furcht zurückbebten, und das Gedächtnis der Versuchungen, denen nachzugeben wir den Mut nicht fanden. Jugend! Jugend! Es gibt nichts in der Welt außer der Jugend !<

Später nimmt Dorian den Gedanken auf: >Ja, Lord Henry prophezeite richtig; ein neuer Hedonismus mußte kommen, der das Leben neu schaffen und es vor jenem strengen, unschönen Puritanertum schützen sollte, das in unseren Tagen seine furchtbare Auferstehung feierte. Gewiß sollte er seinen Kultus des Intellekts erhalten; aber niemals sollte er eine Theorie oder ein System annehmen, das in sich das Opfer -irgend einer Erfahrung der Leidenschaft einschlösse. Sein Ziel sollte die Er- fahrung sein, nicht die Früchte der Erfahrung, mögen sie süß oder bitter sein. Er sollte nichts wissen vom Asketismus, der die Sinne tötet, noch auch von der gemeinen Verworfenheit, die sie abstumpft. Er sollte den Menschen lehren, sich auf die Momente des Lebens, das selbst nur ein Moment ist, zu konzentrieren. Wohl wenige von uns haben noch nie vor Sonnenaufgang gewacht, sei es nach einer jener traumlosen Nächte, die uns fast in den Tod verliebt machen, sei es nach einer jener Nächte des Schreckens und mißgestalteter Freude, wenn durch die Kammern des Gehirns Phantome schweben, schrecklicher noch als die Wirk- lichkeit und belebt von jenem lebendigen Leben, das in allem Grotesken schlummert und das auch der Gothik seine dauernde : Lebenskraft leiht; denn diese Kunst, möchte man meinen, ist ins- besondere die Kunst derer, deren Seelen von der Krankheit des Traumes getrübt sind. Mählich schleichen weiße Finger durch die } Vorhänge, und sie scheinen zu zittern. Als schwarze, phantastische r Gestalten kriechen Schatten in die Winkel der Zimmer und lagern sich dort. Draußen regt sich das Rascheln der Vögel im Laube oder die Schritte der Menschen, die an ihr Werk gehen, oder das 1 Seufzen und Stöhnen des Windes, der von den Hügeln hernieder-

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kommt und um das schweigende Haus wandert, als fürchte er, den Schläfer zu wecken^ und müsse doch den Schlaf aus seiner pur- purnen Höhle rufen. Schleier nach Schleier aus dünner, dämmriger Gaze hebt sich, und nach und nach kommen Formen und Farben den Dingen zurück, und wir sehen, wie der nahende Tag der Welt ihr altes Gesicht zurückgibt. Die blassen Spiegel erhalten wieder ihr nachbildendes Leben. Die flammenlosen Kerzen stehen, wo wir sie ließen, und neben ihnen liegt das halbgeöffnete Buch, in dem wir lasen, oder die drahtumflochtene Blume, die wir beim Tanze trugen, oder der Brief, den zu lesen wir fürchteten oder zu oft gelesen hatten. Nichts scheint uns verändert. Aus den unwirklichen Schatten der Nacht steigt das wirkliche Leben, das wir kannten. Wir müssen es aufnehmeUj wo wir es fallen ließen, und ein furchtbares Gefühl beschleicht uns das Gefühl der Not- wendigkeit, ewig in demselben ermüdenden Kreise festgestellter Gewohnheiten unsere Kraft zu ver- brauchen, oder vielleicht auch ein wildes Sehnen kommt uns an, unsere Augen möchten einmal des iVIorgens über einer Welt sich öffnen, die in der Dunkelheit neu zu unserer Freude geschaffen wäre, einer Welt, in der die Dinge neue Gestalten und Farben hätten und verwandelt wären oder neue Geheimnisse bärgen, einer Welt, in der das Vergangene keinen oder geringen Platz einnähme oder doch in keiner bewußten Form der Verpflichtung oder der Reue fortlebte; denn selbst die Erinnerung an die Freude hat ihre Bitterkeit, die Erinnerung an den Genuß ihren Schmerz.«

Hundert dichterische, tiefe und geisterfüllte Worte ließen sich aus diesem Buch zitieren. Was aber be- deuten sie einem F. Seh., der durch das eine (auf Seite 87) so gründUch verstimmt wurde?:

>Dann fragte er, ob ich für irgend eine Zeitung schriebe. Ich sagte ihm, ich hätte nie eine gelesen. Er war furchtbar ent- täuscht und vertraute mir, daß die ganze Theaterkritik sich gegen ihn verschworen habe, und jeder einzelne Kritiker sei käuflich.« »Es sollte mich nicht wundern, wenn er recht hätte. Aber, nach ihrem Aussehen zu urteilen, können dafür die meisten auch nicht teuer sein«. . .

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Strebertum und Langeweile lassen es sich nicht nehmen, der Kaiserin Elisabeth ein Denkmal zu setzen. Ihr »Exekutivkomite« hat ein paar altgediente Bildhauermeister aufgefordert, die Schwie- rigkeit der Wahl zwischen drei schlechten Entwürfen zu über- winden, und die »Experten« entschieden für das Werk des Herrn Bitterlich. In einer Stadt, in der Klinger's Beethoven angeulkt wurde, muß man sich über das Treiben eines patriotischen Komites, das gegen die Proteste moderner Künstler zu einer endlichen Erledigung seiner Ordensbeschwerden gelangen will, nicht weiter entrüsten. Nur Freunden einer humoristischen Lektüre sei der Bericht der sachverständigen Herren dringendst empfohlen. An dem Modell des Herrn Bitterlich haben sie nur einige >Mängel< auszusetzen. So unter anderen: »Das Antlitz entbehrt des bedeutenden Ausdruckes«. »Allein alle diese Mängel <, heißt es da, »sind nicht so tiefgreifend, als daß sie nicht im Verfolge der weiteren Durchbildung leicht zu beheben wären«. Die Auffassung des Herrn Professors Bitterlich ist also zugegebener- maßen eine spießbürgerliche. »Dieser Entwurf wird daher als Grundlage für die Ausführung des Denkmals weiland Ihrer Majestät der Kaiserin Elisabeth von den Unterzeichneten einmütig empfohlen«.

Die putzigste Weihnachtsgabe, welche die in den Wiener Redaktionen beschäftigten Christkindlein den braven Lesern diesmal beschert haben, ist die Rundfrage der ,Österreichischen Volks- zeitung': »Welche Worte (Poesie oder Prosa) widmen Sie als Inschrift für das Denkmal der Kaiserin Elisabeth in Wien?« Eine schönere Gelegenheit für Leute, die nichts zu sagen haben, war kaum zu ersinnen. Und wer würde es wagen, in einem Falle, wo Schmock als Palladin des Andenkens einer Kaiserin auftritt, nicht zu antworten? Den Reigen eröffnet Herr v. Bezecny mit dem originellen Vorschlag, auf das Monument als Inschrift die Worte zu setzen: »Kaiserin Elisabeth«. Schön, aber einfach; und des Nachdenkens Mühe war dem Finder erspart geblieben. Viele andere folgen seinem Beispiel. Frau Ottilie B o n d y ist schon komplizierter, Sie schlägt vor: »Kaiserin Elisabeth. 1837—1898«. Frl. Jenny v. Glaser setzt gar die Orte der Geburt und des Todes hinzu. ' Der Dichter PhiUpp Haas von Te(pp)ichen aber glaubt, die beste Ehrung der Verstorbenen gefunden zu haben. Er empfiehltseine Verse :

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Du hast die Seligkeit, Unerreichte! Es weint um Dich ein treues Volk im Land, Es weint, denn in Dir, hehre Fürstin, reichte Der Edelsinn der Schönheit seine Hand.

Ich glaube, die Frau des Menelaus in der »Schönen Helena« dichtet ungefähr:

Doch die Hand

Soll man reichen

Dem edlen Jüngling mit Verstand

Ohnegleichen . . .

Ob aber Kaiserin Elisabeth noch die Seligkeit haben wird, wenn des Dichters Haas Verse auf ihrem Denkmal prangen, bleibe dahingestellt. Die Widmung des Herrn v. Hartel, der sich als Philologen empfehlen zu müssen glaubt und ein lateinisches Sprüchlein verfaßt hat, würde sie wenigstens nicht verstehen. Der Verlagsbuchhändler Alfred Ritter von Holder schlägt vor: >Der edelsten Fürstin in Treue und Liebe die Bewohner Wiens«. Er formuliert die Gefühle, die ihm die Mitarbeiter seines wissen- schaftlichen Verlags entgegenbringen. Warum schweigt der Besitzer der Buchhandlung Manz, der doch auch nicht schlechtere Honorare zahlt? Fünf Verslein, kurz und langweilig, hat der bei allen patriotischen Gelegenheiten geweckte »Schulmann« Dr. Leo Smolle beigesteuert. Aber der ganze Tiefsinn des Problems ist in der Antwort des Herrn Alfons Herold, des liberalen Hoteliers, aus- geprägt: »Ich würde empfehlen, einfach und schlicht zu setzen: (Kaiserin Elisabeth'. Ich motiviere es damit, daß ich aus persönlicher Wahrnehmung in meiner Eigenschaft als Ge- schäftsführer des , Hotel Europe' in Salzburg (in den Jahren 1868 und 1869) von der erhabenen Kaiserin sehr ^t durch Ansprachen beim Herrichten der Tafel ausgezeichnet wurde. Die Diners wurden nämlich am Bahnhof vom , Hotel Europe' in Salzburg für die I hohe Frau in dazumaliger Zeit beigestellt. Stets war die Kaiserin äußerst leutselig, dabei höchst einfach und schlicht in allem, in Ausdrucksweise, Bewegungen u. s. w. und wird mir unvergeßlich : bleiben.« Die Motivierung ist einleuchtend. Die Diners am Bahn- : hof in Salzburg wurden vom »Hotel Europe« beigestellt, wo Herr Herold Geschäftsführer war. Später wurde er liberaler Politiker.

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Das Publikum,

»Über die Weihnachtspremieren in den Münchener Tlieatem wird uns telegraphisch berichtet: Die Uraufführung von Strind- berg's Trauerspiel ,Das Band' im Schauspielhause hatte mäßigen, bestrittenen Erfolg. Wilde's Drama ,Salome' erhielt ge- teilten Beifall. Schönthan's Erstaufführung von , Maria Theresia' im Residenztheater brachte es bei glänzender Ausstattung zu warmem Beifall.«

ANTWORTEN DES HERAUSGEBERS.

Beobachter. Konsul? Schon faul! . . . Was sich zwischen dem edlen Nheriman und dem edlen Kolischer, zwei großen Khans, ab- spielte, wiederholt sich jetzt, wie aus den Gerichtssaalberichten hervor- geht, in der Niederung, in der schlichte Beys ihres Amtes walten. Immerhin dünken sie sich noch bedeutend genug, um neben sich den Julius Cäsar, der auch ein Konsul war, als ein armes Waserl erscheinen zu lassen. Bondy Bey ! Das klingt ! Aber österreichische Richter sprechen von Erpressung, wo die feinsten Sitten der Türkei betätigt wurden. Die Herrschaften leben bei uns gemütlich nach der Devise >Verkauft's meine Orden ich fahr in Himmel!«, und rechnen darauf, daß auch dem Antikorruptionisten der Appetit vergehen werde, in den Balkan- dreck, den Kehricht vor der Pforte und in den Orienlschmutz zu greifen. Was treibt denn der Herr Kolischer, der die persische Ge- neralsuniform anlegt, wenn er Inserate für seine drei Winkelblätter acquirieren geht? Na kehren wir den berühmten Warnruf um: Videat res publica, ne quid consulibus detrimenti capiat !

Friedensfreund. Ja, die Suttner! Es ist kaum zu glauben. Und der Börsenwöchner hat sich auch aus Leibeskräften dagegen gesträubt, es zu glauben. Am 11. Dezember hatte man erfahren, daß der Nobel- preis einem Engländer zuerkannt worden sei. Aber noch am 13. De- zember erklärte Herr Benedikt jeden für einen Sonderling, der da meinte, >daß Pulver und Schieß wolle trotz des Nobelpreises an die Baronin Suttner noch recht lange gangbare Artikel bleiben« würden, und spekulierte ä la baiss# in den Aktien der Hirtenberger Patronen- fabrik. Schließlich hat jedoch die Wiener Börsenpresse zugeben müssen, daß William Randal Cremer wirklich der Baronin Suttner vorgezogen wurde. Mancher gute Patriot ist ob solcher Zurücksetzung einer ver- dienten österreichischen Frau gekränkt. Nur die Wiener liberalen Zeitungs- leser wissen jetzt nicht, was eigentlich mehr zu bedauern ist : daß nicht , eine Österreicherin den Friedenspreis erhielt, oder daß Österreich nicht ' neue Kanonenrohre aus Stahl erhält.

Inserent. Im Hause des Lippowitz spreche man jetzt nicht vom , Spagat! Ein Spagathändler hat sich so schreibt mir ein Mitarbeiter— '. erkühnt, einen Prozeß durch alle drei Instanzen gegen das ,Neue . Wiener Journal' zu gewinnen : Der Unverschämte verlangte bares Geld ] für den Spagat, den er dem Blatte geliefert hatte, und die Gerichte '

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so preßfeindlich sind die Oerichte in Österreich bereits geworden erkannten zu Recht, daß in Österreich auch Zeitungen verpflichtet sind, ihre Schulden über Verlangen des Gläubigers in Kronenwährung anstatt durch Inserate zu bezahlen. Vergebens beschwor Herr Lippowitz die Richter, sie möchten doch ein Einsehen haben : nie hätte er für Hun- derte von Kronen Spagat bezogen, wenn er geglaubt hätte, daß In- seratenscheine von dem Lieferanten nicht ebenso unweigerlich ange- nommen werden müßten wie Banknoten. Das Gericht stellte den Tat- bestand fest: Ein Inseratenagent des ,Neuen Wiener Journal' kommt zu einem Spagathändler. Ich inseriere nicht!, erklärt der Händler. Der Agent setzt ihm zu: Die Inserate sind so billig wie nirgendwo. Mir noch immer zu teuer, ist die Antwort. Aber Sie brauchen uns keinen Kreuzer für die Inserate zu bezahlen; wir nehmen statt der Bezahlung von Ihnen Spagat ! Der Händler hält bis zur Erschöpfung Stand ; schließlich drückt ihm der Inseratenagent denn doch einen Auftrag ab. Von da an bestellt Herr Lippowitz Spagat nur noch bei dem neuein- gefangenen Inserenten. Bald geht die Rechnung in die tausend Kronen. Endlich bittet der Händler, den Rest, der nach Abzug der Inseraten- kosten verbleibt, zu begleichen. Herr Lippowitz weiß nicht, wie ihm geschieht: Sie wollen Geld? Keine Spur! Inserate können Sie haben, so viele Sie wollen. Und darüber kommt es zum Prozeß. Die Gerichte entscheiden: Nicht der Kaufmann hat sich verpflichtet, Inseratenaufträge zur Ausgleichung der Spagatrechnung zu geben, sondern das ,Neue Wiener Journal' hat sich verpflichtet, Spagataufträge zur Ausgleichung der Inseratenrechnung zu geben. Der Lieferant kann nicht verhalten werden, zu inserieren, aber das Blatt ist verhalten, zu bezahlen. Das ist ein Urteil, welches alle Rechtsverhältnisse der Wiener Presse umstößt, und man wird diesen Schlag nicht so bald verwinden wie die Aberkennung einer Zeitungsehre. Soll es dena wirklich dazu kommen, daß Wiener Zeitungsmenschen nicht nur die Bedürfnisse der Zeitung, sondern am Ende auch ihre persönlichen durch Barzahlung bestreiten ? Wollen die Gerichte Schneider, Schuster oder gar Buchhändler gegen die Presse aufhetzen?

Techniker. In Nr. 150 ist ein Irrtum unterlaufen. Die der Ver- öffentlichungspflicht unterliegende Bilanz ist natürlich jene der > Aktien- gesellschaft für Szczepanik's Textil- Industrie- Fabriksanstalt«. Deren Gründerin und Schuldnerin ist die offene Handelsgesellschaft >Societ^ des inventions Jan Szczepanik & Cie«, welche wegen Versäumnis des Lieferungstermins der Textilmaschinen das von dem neuen Geldgeber jetzt glücklich aufgebrachte Pönale von 40.000 Kronen bezahlen sollte. Nun ist der Aktiengesellschaft mit dem Pönale und der offenen Handels- gesellschaft durch den uneigennützigen Geldgeber zur Wahrung der Ehre Polens geholfen, und beide Unternehmungen werden wohl noch ein Weilchen fortleben. Die Verwechslung beider liegt übrigens nahe. Nicht nur wegen des gemeinsamen Wiener Domizils in der Prager- straße, sondern auch wegen des Zusammenhangs, der durch die Per- sonen hergestellt ist: durch den in beiden Unternehmungen ausgebeuteten Erfinder und durch den beide ausbeutenden »Bankier< Ludwig Kleinberg.

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Damenschneider. Zur Theatertoilettenfrage: >Wie oft ist an die Presse die eindringliche Mahnung ergangen, gegen diesen Unfug und Unsinn (des Toilettenluxus) Front zu machen. Von Zeit zu Zeit schlägt ihr auch das Gewissen und sie wagt die Bemerkung: Es wäre am Ende doch wohl ein bischen zu viel und wohl auch nicht ganz am Platze. Aber dann kommt ein neues Stück, in dessen Mitte eine wegen ihrer großartigen Toiletten bekannte Künstlerin steht; das Stück wird abfällig beurteilt, die künstlerische Leistung mit wohlwollender Duld- samkeit eben berührt, die Pracht der Toiletten aber mit Angabe der Lieferanten mit hellem Jubel bewundert. Es ist ja so weit gekommen, daß Schauspielerinnen einfach als Toilettenträgerinnen behandelt werden, daß sie sogar in dem verbreitetsten Wochenblatte lediglich ihrer Toiletten wegen bildlich dargestellt werden.« Diese Sätze sind einem Feuilleton des Herrn Paul Lindau entnommen, das die ,Neue Freie Presse' abdruckt. Ein paar Wochen nach dem > Maria Theresia «-Skandal! Dies ehrlose Volk sagt auch dann noch, daß es geregnet hat, wenn es sich selbst ins Gesicht spuckte.

Scherenschleifer. Der dumme Dieb hat sich schon wieder selbst verraten. ,Neues Wiener Journal' vom 21. Dezember: Ein Londoner Bericht über »fragwürdige Musikdiplome«. An der Spitze steht: >Von unserem Korrespondenten«, und zum Schluß heißt es: >Da kaum anzunehmen ist, daß die Gesellschaft trotz ihres Namens (Reis School of Music of Oermany...) in unserem Vaterlande viele Geschäfte macht! . Unser Korrespondent oder unser Vaterland ? Eins oder das andere ! . . Ein paar Tage später herrschte im , Neuen Wiener Journal' große Auf- regung. Ein Manuskript war eingelaufen! Von einer Hand be- schriebenes Papier! Es war eine Zuschrift des Burgschauspielers Heine, der für die »Weihnachtsnummer« die Frage beantworten mußte, >wie er zum Theater kam«. In* der freudigen Erregung schickte man das Manuskript ungelesen in die Druckerei. Es erschien mit allen Bissig- keiten, mit denen Herr Heine die Belästigung in der Weihnachtswoche quittierte, und enthielt die folgende Wendung: »Ich höre Sie unmutig mit Federhalter oder Schere aufschlagen und es klingt wie war- , nendes Geflüster: ,Zur Sache, wenn's beliebt ....'«

Mondsüchtiger. Für Geld ist alles möglich! »Prachtwetter herrscht jetzt auf dem Semmering«, hieß es in der Weihnachtsnummer der ,Neuen Freien Presse', »tiefblauer Himmel wölbt sich über die Berge, '■ mild und wohlig ist die Temperatur, um Mittag wird es recht warm. Nachts verleiht der Silberglanz des strahlenden Vollmondes der idyllischen Szenerie poetischen Zauber«. Am 25. Dezember war zwar, wie ein Blick in den Kalender lehrt, schon Neumond. Aber im In- seratenbureau war Vollmond aufgegeben, und dabei bleibt's, wenn sich auch die Astronomen auf den Kopf stellen! Die Administration ver- fügt über den Weltenraum so gut wie über den Raum des lokalen Teils . . . Und sie bewegt sich doch ! hat Galiläi gerufen. Sicherlich war er ein unbotmäßiger Redakteur, der seine Meinung gegen die Ansicht eines Inserenten, daß sie sich nicht bewege, durchsetzen wollte.

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Habitus. Wenn ich Alles, was ich in fünf Jahren über die Ver- derbtheit der Wiener Theaterkritik geschrieben habe, zusammenfassen wollte, es würde an Wirkung hinter einer einzigen Tatsache, die wir jetzt erleben, zurückbleiben: dem Fall Buchbinder. Daß Theater- direktoren die elenden Stücke des aus dem kritischen Machtbereich Ge- worfenen annehmen, wäre, wenn nicht die Furcht vor einer journa- listischen Renaissance des Mannes sie bestimmte, wohl ein starker Gegen- beweis gegen meine Darstellungen von dem Zusammenhang zwischen Produktion und Kritik. Wie glänzend sind sie aber erhärtet durch die Haltung, die heute die Rezensentenschar gegen den einstigen Kollegen ein- nimmt. Der Anblick, der sich da dem Leser der Vorstadttheaterkritiken bietet, ist ein so anwidernder, daß es zur sittlichen Pflicht wird, sich des schlechtesten Lieferanten, der je die Wiener Possenbühne besudelt hat, anzunehmen. Herr Buchbinder hat sich, seitdem er nicht mehr Notizen schreibt, gewiß nicht verschlechtert. Aber wenn man ein paar Jahrgänge zurückblättert, so wird man ersehen, daß die »Dritte Eskadron«, »Er und seine Schwester« und der »Spatz« Meisterwerke reinster Volks- poesie waren, deren Schöpfer man nie zugetraut hätte, daß er zu jenem Auswürfling herabsinken könnte, der den Mut hat, seinen Namen auf die Theaterzettel von »48 Stunden Urlaub« und »Der Mameluck« zu setzen. Die Notizenschreiber wissen besser als die Theaterdirektoren, daß der Mann nicht mehr zu fürchten ist, daß ihre eigenen Stücke vor seinem Tadel sicher sind : also drauf und dran ! Ward der letzte Schund, den er früher geleistet, über Wasser gehalten, so würde er jetzt nicht pardonniert werden, auch wenn er einen »Zerbrochenen Krug« oder den »Revisor« schriebe. Etwas Scheußlicheres als diese Hetzjagd auf einen, der keinen Revolver hat, bloß weil er keinen mehr hat, etwas Elementareres als dies Geständnis, daß aus- schließlich das geschäftliche Cliquen Interesse das öffentliche Urteil be- stimmt, läßt sich nicht ersinnen ! Das ,Neue Wiener Journal', in dessen Dienst sich Herr Buchbinder verblutet, für das er sein Bestes an gemeiner Kulissenschnüffelei hergegeben hat, ist natürlich allen voran. Am 15. Jänner 1902 schrieb Herr Tann-Bergler: »Vor einem ausver- kauften, eleganten Premi^renhause in der Hofloge wohnte Erzherzog Franz Ferdinand der Vorstellung bei fand gestern die Erstaufführung des dreiaktigen Musikschwankes ,Der Spatz' statt. Zwei bühnen vertraute Männer, denen das Theaterpublikum schon unzählige vergnügte Abende dankt, waren in Kompagnie gegangen, um wieder emmal im Sinne ihrer Tradition zu arbeiten. Bernhard Buchbinder, der erfolggewohnte Autor, und Charles Weinberger, der in einschmeichelnden, wienerischen Melodien empfindet. Das Verhältnis, in dem ich zu Buchbinder stehe, auferlegt meinem Referat den Zwang der weitestgehenden Re- serve. Er ist Journalist. Eine geheiligte Überlieferung an der bisher noch Niemand zu rütteln gewagt hat, ohne direkt verbrecherischer Ge- lüste geziehen zu werden, schreibt vor, daß den Zeitungsleuten eine möglichst üble Nachrede zutheil werde, vor Allem in den Zeitungen. Er ist femer mein Bureaukollege. Es hieße die Satzungen eines jeglichen

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Bureaukratismus auf den Kopf stellen, wollte ich alles Schöne anders als mit Bedauern, die Bedenken hingegen ohne die gewisse herzliche Genugtuung notieren, welche als das untrüglichste Kennzeichen der Unparteilichkeit gilt und den Verdacht gesinnungsloser ,Kameraderie' und Cliquengemeinheit wenigstens mildern, wenn auch nicht beseitigen kann. Er ist schließlich seit Jahren mein persönlicher Freund. Nun weiß aber doch Jedermann, daß es der schönste, er- habenste und in der überwiegenden Zahl der Fälle auch der einzige Gewinn der Freundschaft ist, Unannehmlichkeiten einzuheimsen. Auf diese Grundsätze mußte ich hinweisen um sie anwenden zu können . Neckisch, nicht wahr? Dann heißt es: > Possenhaft-lustige, oft karneva- listisch -übermütige Handlung«, »sprudelnder Dialog«, >Knallerbsen, die massenhaft explodieren«, »urtoller zweiter Akt«, »wiederholt heraus- applaudiert« u. s. w. Der »Spatz« war natürlich ebenso blödsinnig und fiel ebenso durch wie »48 Stunden Urlaub«, über die Buchbinder's Nachfolger am 8. November 1903 neun Zeilen schreibt: »Die Bezeichnung Posse ist gewissermaßen eine Bitte um Nachsicht. Jener Teil des Publikums, der die oberen Ränge füllte, verstand die Andeutung und lachte. Der andere Teil hat den Autor energisch angeblasen. Mit der Konstatierung, daß der Inhalt seine komischen Wirkungen aus der Dummheit eines polnischen Offiziersdieners zu bestreiten sucht und daß Herr Lackner sich Mühe gab, der Rolle gerecht zu werden, glaube ich der Referentenpflicht diesmal Genüge getan zu haben. Vielleicht haben Andere mehr Lust, sich mit dem Stück auseinanderzusetzen.« Und am 23. Dezember über den »Mameluck« : »Die Handlung ist aus einem Roman Jokai's zugeschnitten, da sich seine Mitautorschaft doch wohl nicht dahin erklären ließe, daß er Bernhard Buchbinder ins Deutsche übertragen hat« . . . Was wäre über die elende Carltheateroperette, was über das Durchfallsstück des Raimundtheaters geschrieben worden, wenn sie vor des Autors Vertreibung aus dem kritischen Paradiese ans Rampen- licht gelangt wären? Gibt es etwas, das die Erbärmlichkeit dieses Cliquentreibens grimmiger illustrierte als die Tatsache, daß ich mich heute in Wien des Bernhard Buchbinder annehmen muß?!

Zionist. Ich muß es ablehnen, zum »Attentat gegen Dr. Max Nordau« Stellung zu nehmen. Dieser satirischen Überfülle bin ich nicht gewachsen. Schon die bloße Tatsache eines Makkabäerkränzchens ! Und daß der »Attentäter« auf zwei Schritte Distanz zweimal schoß und nicht traf! Eine »Kugel« kam geflogen: wäre sie aus Wien vom Restaurant Tonello gekommen, sie hätte ihr Ziel sicherlich nicht verfehlt! Bezeichnend genug, daß sie, wie gemeldet wird, Herrn Nordau »am Kinn streifte«; er konnte sich also überzeugen, daß sie nicht rituell zubereitet war, und wich ihr aus. Chaim Selig Louban heißt der »Fanatiker«, der sich bis zur Gründung des Königreichs nicht gedulden wollte. Er wurde verhaftet und wird, wie verlautet, zur Strafe mit dem Marmorek- Serum behandelt werden ... Es ist zu viel. Ein Satiriker kann zusperren, wenn ihm die Wirklichkeit derartige Schmutzkonkurrenz bereitet.

Herausgeber und verantwortlicher Redakteur : Karl Kraus. Hnick von lalioda & Siesel. Wien. III. Hintere ZollamtutraBe n

Erschienen am 16. Jänner 1904 Y. Jibr

Die Fackel

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KARL KRAUS.

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Kommissionsverlag für Deutschland:

OTTO MAIER, LEIPZIG, Stephanstraße Nr. 12.

Die Fackel

Nr 152 WIEN, 16. JÄNNER 1904 V. JAHR

3er Auflösungsprozeß vor dem Handelsgericht.

Ist es denn möglich, über die ,Zeit' einen ifiiusanten Artikel zu schreiben? Oft entsank mir die '^eder, wenn ich ihr zumutete, dieses Blattes zu ge- enken. Im Dunst der Schläfrigkeit, die das bloße Aus- prechen des Namens erzeugt, muß jeder polemische Ville erschlaffen. Wenn die »Geldgeber« eines Tages nter Kuratel gesetzt und der journalistische Freak, m den sie ihre Gefühle verschwendeten, verreckt ein wird, werden wir das langsam aus narkotischem chlaf erwachende Wien sich nur mühsam in der [orruption seines Geisteslebens zurechtfinden und die !^eue Freie Presse' lange nicht als Schandblatt wieder- •kennen sehen. Wie märchenhaft ist diese Stadt ver- andelt, die einst bewegter Frohsinn war, dann in sidvoUem Kampfe stöhnte und nun zwei Haschisch- ringern aus dem Osten erlag, die bloß das Zauber- wort auszusprechen brauchten: Lesen Sie die ,Zeit'l. . . )a gibt es kluge Leute, die immer davon sprechen, ie ,Zeit* habe »Hoffnungen erweckt«. Was ist doch ie Sprache für eine Meisterin der Ironie 1 Wir sind üfrieden, wenn es der ,Zeit' gelungen ist, unter nderem auch unsere Verzweiflungen einzuschläfern, für ich verdanke ihr mehr. An ihrer täglich erneuten |ual habe ich die Nichtigkeit einer rein sittlichen i^eltbetrachtung erkennen gelernt, die törichte Halt- sigkeit eines Standpunkts, dem die runzlige Vettel, ie darauf pocht, daß sie für Geld nicht zu haben ist, öher steht als die anmutige Hure. Es ist ein Erlebnis,

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von einem so tragischen Humor erfüllt, von einer so aufrüttelnden Wirkung des Kontrastes: Bin Sitten- richter predigt, und seine Lehre macht sich die Häßlichkeit zunutze und entblößt, da keiner sie mag, ihre Scham : Seht her, i c h bin anständig ! . . . Dies ist mein Glaube: eine Geißel Gottes ward uns die ,Zeit' gesendet, die Eiferer, die bekehren wollten, zu bekehren, unfreudige Menschen zu lehren, daß diesem armen Leben nur ästhetische Denkart frommt und daß wir über der Verachtung der ,Neuen Freien Presse' nie vergessen sollen, ehrbare Langweile für der Übel schlimmstes zu halten . . .

Und wenn die Langweile nicht einmal ehrbar wäre? Wenn hinter der sozialpolitischen Maske schäbigste Ausbeutergesinnung ihr Spiel triebe ? Solche Enthüllung wäre so wenig interessant wie die Kor- ruptionsfreiheit eines von allen Grazien gemiedenen Blattes. Die Unbestochenheit der ,Zeit*, die niemand bestechen will, entzieht sich so sehr der öfTentlichen Anerkennung wie ein Fehltritt, von dem man erführe, dem öffentlichen Tadel : der schlechte Geschmack des Zahlers wäre beklagenswert, nicht die Hingabe der unappetitlichen Jungfer. Bankpauschalien nehmen ist eine Schande des Talents, sie nicht nehmen kein Ruhm der Talentlosigkeit. Und es bleibt ja noch außerhalb des Gebiets, wo Meinungen gegen Valuta eingelöst werden, ein Spielraum übelster Gesinnung. Was soll denn die dreimal ekle Farce von dem »reinen Blatt«, das die alte Preßverderbnis abzulösen kam und dem ich nachweisen kann, daß es an seine Korrespondenten Zirkulare mit der Mahnung ver- sendet hat, fleißig »Mitteilungen aus der chronique scandaleuse« ihrer Städte zu sammeln ? Wenn j e Schmutz- konkurrenz eine Konkurrenz des Schmutzes war, so war es das Treiben einer Zeitung, deren Leitern in dem kulturhistorischen Prozeß, der neulich vor dem Handels- gericht spielte, zugerufen wurde, daß sie in die ,Neue Freie Presse' ein Kuppelinserat einschmuggeln

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ließen, um die blödsinnige Sensation eines Artikels »Rückenraarkstudien« bereiten zu können. Wir haben das Schauspiel erlebt, daß Redakteure als Gerichts- zeugen die Gelegenheit benützten, das eigene Blatt vor aller Welt zu verleugnen, daß der erste Kritiker, Herr Hof rat Burckhard, sich beeilte, jeden Einfluß auf redaktionelle Angelegenheiten abzulehnen und sich feierlich von dem Schmutz loszusagen, aus dem die Angriffe der ,Zeit' gegen Fräulein Adamovics entstanden. Aber es ließe sich auch nachweisen, daß die Zeitung, die auf das Programm des jour- nalistischen Anstands fundiert wurde, die Lippo- witzkunst nicht nur im Durchforschen fürstlicher Ehe- betten, sondern auch in der kostenlosen Benützung fremder Geistesquellen erlernt hat. Mit Recht hat der Klageanwalt statt eines handelsgerichtlichen einen Strafprozeß gegen die ,Zeit' geführt, mit Recht den Angeklagten Singer und Kanner, die besonders empfindlich auf das Wort »Kultur« reagieren, zuge- rufen, die ,Zeit' sei heute ein Blatt, »dessen sich ein Kulturmensch schämen müsse«, mit Recht der sozial- politischen Firma einen »Menschenkonsum« vorge- worfen, der »einem Sklavenmarkt« zur Zierde ge- reichen müßte. Aber er erwähnte nicht, daß statt der einundzwanzig entlassenen Mitarbeiter einund- zwanzig Scheren angeschafft wurden. »Nehmen Sie nur drei Tage«, schreibt mir ein gewissenhafter Sammler, »und Sie werden über die Fülle billigen Plauderstofifs, den die ,Zeit* bietet, staunen: Im Abend- blatt vom 10. Dezember ist der ,talentvolle Rossini' und der ,schlagfertige Parlamentarier* dem Abend- blatt der ,Vossischen Zeitung' vom 9. Dezember ent- nommen, im Abendblatt des 11. ist eine Notiz über Spencer aus der Mitte eines größeren signierten Ar- tikels der ,Frankfurter Zeitung' geholt, im Abendblatt vom 12. entstammten , Heine über Berlioz' und ,Björnson über den Vogelmord' derselben ungenannten Quelle.« Wenn's Abend wird, geht eben auch die ,Zeit' stehlen,

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und in ihrem »Kleinen Feuilleton« kann man alles finden, was am nächsten Morgen erst das ,Neue Wiener Journal', das uns nur einmal täglich erfreut, enthalten wird. Aber der kulturpolitische Dieb ist feiner. Er arbeitet mit Titeländerung und ein bischen polnischer Retouche und behält, wenn im bestohlenen Blatt eine entlegene Zeitschrift oder ein fremdländisches Journal zitiert war, ihre Namen vorsichtig bei, damit der Anschein erweckt werde, als hätte die ,Zeit' selbst alle Blätter durchstöbert, um ihren Lesern das Interessanteste zu bieten. »Übe'r den Ursprung der Worte ,Trust' und , Budget* plaudert der ,Temps' . . »Gibt es denn wirklich«, fragt mein Sammler, »in der Redaktion der ,Zeit' Leute, die den ,Temps' lesen können? Wozu dennl In der Re- daktion der , Vossischen Zeitung' wird er ohnedies gelesen und übersetzt. Und der Einfachheit halber ist gleich die nächste Notiz des Berliner Blattes, unter dem Titel »Praktisch«, mitgestohlen.«

Der Entlarvung der sozialpolitischen Ausbeuter, die über einen »gewonnenen Prozeß« jubeln, weil sie bloß zur Zahlung von 18.000 Kronen an einen ent- lassenen Redakteur verurteilt wurden, mag man sich, so verfehlt es sonst wäre, dem Jammerblatt interne Schlechtigkeiten nachzurechnen, ehrlich freuen. Denn es ist vielleicht doch möglich, daß sie ihre populäre Wirkung auf die Hintermänner des Blattes übt, die bisher absolut nicht dazu zu bewegen waren, kein Geld für die ,Zeit' herzugeben. Wenn das geistige Unvermögen, welches in das Blatt gesteckt wurde, zum Himmel stank, ward man immer wieder von den Freunden langweiliger Lektüre es muß auch solche Käuze geben mit der Meldung überrascht, daß anstatt eines lesbaren Beitrags eine neue Million ein- gelaufen sei. Daß man eher eine galizische Steppe in ein Kornfeld verwandeln wird, als die ,Zeit' und wenn die Herren Riedl und Gallia um ihretwillen verarmten in eine individuell gemachte Zeitung,

muß der jüngste Setzerlehrling bezeugen. Das »farb- lose Nachrichtenblatt«, das Herr Kanner im Unmut zu machen gelobte, wäre ein farbloseres Meinungs- blatt, wenn ihm der regierungsfreundliche Verwal- tungsrat wieder erlaubte, selbst mitzuarbeiten, und nichts vermag die Öde, welche die ,Zeit' beseelt, besser zu bezeichnen als die Tatsache, daß hier schon die anempfindsame Geschicklichkeit des Herrn Saiten wie Persönlichkeit wirkt. Aber vielleicht verhütet der öffentliche Skandal die weiteren Ver- suche ruhmloser Helden, ein bodenloses Faß zu füllen und die Tyrannei der Impotenz dem Wiener Geistes- leben zu erhalten. Und kann der Hofrat v. Philippo- vich, der schon nach dem Erscheinen der Adamovics- Artikel zwischen seiner akademischen Würde und seiner Stellung als Präsident des Aufsichtsrats der ,Zeit' hätte wählen müssen, nach den Enthüllungen dieses Prozesses noch schwanken? Ist es wirklich wahr, daß er, den sozialpolitische Hoffnungen zu einer Gemeinschaft mit tarnopolitischen Unternehmern führten, keinen höheren Ehrgeiz mehr kennt als den in seiner Zeugenaussage einbekannten : »Es ist meine unangenehme Aufgabe, die Herren fortwährend darauf aufmerksam zu machen, daß die Ausgaben möglichst in engeren Grenzen gehalten werden«? Man mag an- nehmen, daß er erst aus dem Prozeß von den Vorgängen in der Redaktion erfahren hat, und wie 21 Mitarbeiter in fünfviertel Jahren entlassen wurden. Aber das System der Herren Kanner und Singer war schon vor zehn Monaten in der ,Fackel' nachgewie- sen, als ein GeMnnungsgenosse des Herrn Hofrats in Nr. 132 schrieb : »Von allem Anfang war es zweifellos, daß ein großer Teil der armen Teufel, die aus festen Stellungen herausgerissen und in die Redaktions- bureaux der ,Zeit' verpflanzt wurden, wieder entlassen werden müsse. Und für diese sichere Annahme ist der unwiderlegliche Beweis in dem Kostenvoranschlag niedergelegt, den man uns Sozialpolitikern im letzten

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Frühjahr ,8tren^ vertraulich' zusandte und auf Grund dessen das Kapital zur Verfügung gestellt wurde.« Nach jenem Kosten veranschlag, von dessen Auf- stellungen ausdrücklich versichert wurde, »daß eine Erhöhung derselben ausgeschlossen erscheint«, sollten bei der ,Zeit' außer den Herausgebern 12 Redakteure angestellt werden. So erzählte die Zuschrift des Sozial- politikers und fuhr fort: »Als aber im vergangenen Sommer das Redaktionspersonal der ,Zeit' zusammen- gestellt wurde, engagierte man ohne alle Rücksicht auf das einzuhaltende Budget darauf los, Redakteure und Zeilenhonorarschreiber, weit über alle Möglichkeit, sie zu beschäftigen und zu entlohnen, hinaus. Und heute geschieht in der Zeitungsschmiere ,Die Zeit', was so oft in den Theaterschmieren Österreichs und Deutschlands geschehen ist: noch kürzlich haben wir in der Theater-Enquete gehört, wie der oder jener Direktor statt eines jugendlichen Liebhabers, den er braucht, ihrer drei engagiert und den Paragraphen, der ihm das Recht auf Kündigung innerhalb der ersten sechs Wochen der Saison einräumt, dazu benützt, sich ' der beiden Überzähligen zu entledigen und dem dritten, der dem Publikum am besten gefallen hat, den Kontrakt zu verschlechtern. So sieht auch die Sozialpolitik der ,Zeit' aus.« Klarer als durch diese Zuschrift konnte durch den Prozeß des Herrn Ganz gegen die ,Zeit' nicht ihr System, nur die Zahl jener konnte gezeigt werden, an denen es betätigt wurde. Aber in jedem einzelnen Fall weiß Herr Isidor Singer heute sicherlich so gut wie damals eine Ausrede, und es kann Richter geben, die sie ihm glauben, solang sie an dem System zweifeln. Nur die dreiste Be- hauptung dürfte der Herr jetzt nicht mehr wagen, die er der ,Fackel' (Nummer 134) als Berichtigung aufgezwungen hat: »Wahr ist, daß kein einziger der Angestellten der ,Zeit* aus Gründen der Spar- samkeit oder deswegen entlassen wurde, weil ich einsah, daß ich zu viele an mein Unternehmen

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gebunden hatte.« Im Prozeß des Herrn Ganz sagte als Zeuge der Bibliograph Herr A. L. Jellinek aus: »Ich war redaktionell tätig und hatte das Archiv anzulegen. Bis diese Arbeit geleistet war, durfte ich nach dem Vertrage nicht kündigen, mir konnte sechswöchentHch gekündigt werden. Für den Fall, daß ich das Archiv innerhalb einer bestimmten Zeit fertigstelle, wurde mir eine Prämie zugesichert: Ich bekam die Kündigung, bevor ich noch auf die Prämie Anspruch gehabt hätte. Als ich sie vom Professor Singer verlangte, berief er sich auf Geldmangel«. »Sie meinen Sparsamkeit!« rief der Rechtsanwalt der ,Zeit' der noch immer sozialdemokratische Organisationen vertretende Herr Harpner in diese Zeugenaussage hinein. Die Spar- samkeit, die den Herausgebern im vorigen Winter ein Vorwurf war und berichtigt wurde, ist jetzt ihr Entschuldigungsgrund, und wenn sie wirklich nicht selbst eingesehen haben, daß sie zu viele Mitarbeiter an ihr Unternehmen gebunden hatten, so hat der Präsident des Aufsichtsrats, Hofrat Philippovich, vor Gericht bekundet, daß es sein Amt sei, den Hofrat Wetschl im Hause Singer zu spielen. Im Prozeß Ganz ist nur die Frage nicht gestellt worden, ob die Entlassung von 21 Mitarbeitern etwas anderes als die Einschränkung des Betriebs auf den von allem Anfang an geplanten Umfang bedeuten konnte. Wenn irgend einer der Entlassungsgründe, um welche die Herausgeber der ,Zeit' niemals verlegen waren, stichhalten soll, dann müßten statt der Entlassenen neue Kräfte verwendet, nicht bloß die Ausbeutung der Übriggebliebenen nach dem Versprechen verstärkt worden sein, das die Herausgeber der ,Zeit' in dem Memoire an die Kommanditisten (Nr. 132 der ,FackeP) erteilt hatten: mit ihren Mitarbeitern »den größten geistigen Nutzeffekt zu erzielen«. Und was sagt Herr V. Philippovich, der bei der sozialpolitischen Affen- komödie ernst bleibt und der »außerordentlichen Leistung« des Herrn Kanner applaudiert, zu der Pointe,

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daß dieselbe Mitarbeiterin, die erst durch Klage- drohung das garantierte Honorar erlangen konnte und fünf Stunden antichambrieren mußte, bevor sie sich von Herrn Kanner anschnauzen lassen durfte, sich im Auftrage der ,Zeit' als Arbeiterin in einer Zigaretten- hülsenfabrik verdingt hat »um Studien für einen Artikel über die Behandlung der dort beschäftigten Arbeiterinnen durch den Chef anzustellen« ? . . .

Seitdem beim Handelsgericht Prozesse geführt werden, haben die Richter sicherlich niemals Emotionen durchgemacht wie bei diesem, in dem sich alle Ver- worfenheit des Pressetreibens vor ihnen enthüllte, als ob sie nicht über den Geldanspruch eines gekündigten Redakteurs, sondern über das Wesen der Preßkorruption zu urteilen hätten. Nicht wieviel die ,Zeit* schuldig ist, war das Ergebnis der Verhandlung, sondern daß sie schuldig ist. Mögen menschliche Unzulänglich- keiten, die Unverträglichkeit von Temperamenten, alle Böswilhgkeiten von Chefs gegen Angestellte entschuldbarer machen, offenkundig ist die mala fides der Herausgeber der ,Zeit' gegenüber der Öffentlich- keit, die man getäuscht und auf Jahre hinaus um die Hoffnung auf eine reine Presse betrogen hat. Weg mit dem Schund! Hätten wir einen Groben Unfug-Paragraphen, er müßte angewendet werden auf den vor keinem Pissoir haltmachenden Reklamelärm dieser Nichtskönner. Daß sie nicht nur die Öffentlich- keit malträtieren, sondern sich selbst, haben wir erst aus dem Prozeßbericht erfahren. Mit Staunen las man die Kernsätze: »Die Hälfte der Redakteure ist schon hin.«. . . »Um drei Uhr früh lösen wir Chefs uns bei der Arbeit ab und können uns bloß bei der Maschine sprechen« . . . »Auspitz sagte mir, daß Kanner Wut- anfälle habe, während welcher er Papiere und auch schwere Gegenstände zu Boden werfe« . . . »Singer sagte, man darf Kanner in seinen Vorarbeiten nicht stören, denn er braucht Nachtwandlersicherheit« . . . »Kanner warf einmal ein Tintenfaß zu Boden« . . . »Autokrat« . . .

»Kanner spricht nicht, sondern schreit« . . . »Ich hätte auch Familienvater werden können« . . . »Ich hatte die Befürchtung, daß ich die Last nicht werde ertragen können, und habe mich von fünf Ärzten untersuchen lassen, besonders Augen und Magen« . . . »Kanner hat einen Magenkrampf bekommen; stören Sie ihn in seiner Nachtwandlersicherheit nicht!« ... »Opfer ge- bracht« . . .»Lebensaufgabe« . . . »Lebensarbeit« . . . »Die anderen haben geträumt, wir haben gehandeltl«... Ja, um Himmelswillen, was ist denn los? Ging da ein neuer Bismarck daran, ein Reich zu hämmern? Oder kamen zwei Jüdlein aus Galatz, um ein »farb- loses Nachrichtenblatt« zu machen? Wenn das »Handeln« so anstrengend ist, ist das gewiß be- dauerlich; wenn es aber so geräuschvoll betrieben wird, werden sich die Hausbewohner Ruhe zu ver- schaffen wissen I Ist es erhört, daß Zeitungsleute, deren Dasein durch keinen persönlichen Zug, keinen neuen Gedanken, keinen Tropfen Humors entschuldigt wird, das Publikum fortwährend mit ihrem internen Weh und Ach behelligen? Man muß sie, um den grimmigen Kontrast von Ursache und Wirkung zu erfassen, in mehreren Gerichtsverhand- lungen persönlich in Augenschein genommen haben: Herrn Isidor Singer, den nur die Großmannssucht treibt und der Ehrgeiz, als »Prinzipal« anerkannt zu werden, und Herrn Kanner, der seine Parvenurechte schon gewaltsamer betätigt. Neben Singer, der wirk- liche Verdienste um das Blatt hat, indem er das elektrische Licht überall abdreht, wo es überflüssiger- weise brennt, berührt die Persönlichkeit seines un- produktiveren Genossen, der, da er nicht mehr Minister stürzen darf, Redakteure stürzt, recht wenig sympathisch. Singer's geistige Genügsamkeit, die sich treuherzig in dem Geständnis offenbarte. Kanner habe ihm einmal zugerufen, er rede von einer redaktionellen Angelegen- heit »wie der Blinde von der Farbe«, ist ein über- wiegend mildernder Umstand : an diesem Manne wird

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vom Ästhetischen natürlich abgesehen die ganze Tendenz des Antisemitismus zuschanden, um sich erst an Herrn Kanner's Wesensart wieder zu erholen. Hier arbeitet eine aufreizende Kniffigkeit mit den kleinen Mitteln osteuropäischer Kultur. Wenn Isidor Singer einen Ausgleich, der ihm um 4000 Kronen billiger zu stehen gekommen wäre als der »Sieg«, scjheitern läßt, um die Besucher seiner Jours, die im Saale anwesend sind, nicht um den Genuß seiner »großen Rede« zu bringen, wenn er nach den nieder- schmetternden Gerichtstagen im Briefkasten von einem »gewonnenen Prozeß« spricht und für die »in verschiedenen Zuschriften uns ausgesprochenen Glück- wünsche« dankt, so wird man über diese dummen- augusthafte Outrierung eines eitel beschränkten Sinnes lachen. Die geringere Gutartigkeit des Herrn Kanner verrät sich in dem Abdruck des richterlichen Urteils, in dessen Begründung ein Satz dreist hinein- gefälscht wird, den der Advokat der ,Zeit' ge- sprochen hat: Das Beweis verfahren habe »die voll- ständige Haltlosigkeit der Behauptungen über die unerträglichen Zustände und speziell das Benehmen des Chefredakteurs gegenüber den Redakteuren er- geben«. Ein schnurgerader Verstand und ein völliger Mangel an Temperament entkleiden Herrn Kanner's Ge- fährlichkeit zwar nicht ihrer Intensität, wohl aber jedes ästhetischen Reizes. Das ist die unerquickliche Art von Händlerschlauheit, die durch das Mitwägen der Emballage übervorteilt, das ist jene kleine Ge- rissenheit, die imstande ist, einen tauben Sekretär anzustellen, damit er vor Gericht wahrheitsgemäß bezeuge, er habe keinen Skandal im Zimmer des Chefs gehört, und nicht Grauen, sondern Unbehagen flößt die Erscheinung dieses Mannes ein, dessen kribbelige Beredsamkeit auf die Haut wie Ameisenlaufen wirkt. Wer die Kompagnie vor Gericht gesehen hat, den kann der Anblick eines Blattes nicht mehr ent- täuschen, dem farblose Beschränktheit und blutarme

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Tücke das geistige Gepräge leihen. Auch den Auf- lösungsprozeß der jZeit*, der vor dem Handelsgericht spielte, hat lähmende Langweile begleitet, Langweile begleitet die ,Zeit' zum AJbgrund. Was aber tut selbst ein Abgrund, wenn er sich vor einem Blatte wie dem der Herren Singer und Kanner öfifnet? Er gähnt 1

Une campagne abomlnable.

Unter diesem Titel bringt das ,Echo de Paris' vom 10. Januar einen vortrefflichen Artikel über die »campagne de calomnies« gegen die Prinzessin Louise von Coburg, deren Schauplatz das ,Neue Wiener Journal' und deren Stratege der Hof- und Polizei- advokat Dr. Bachrach ist, während der prinzliche Feldherr sich weit außer Schußlinie hält. Das ,Echo de Paris' zitiert die jüngste Niederträchtigkeit der neuen Wiener Journaille gegen die unglückliche Prin- zessin und fügt hinzu: »Cette Ironie d'un goüt d^testable a produit une tr^s mauvaise impression sur le public qui, ^mu par les appels de quelques jour- naux allemands, et surtout de la ,Packer de Vienne, recommence ä s'intdresser ä la Situation de la prin- cesse.« Von den Stimmungsnotizen, die über die Ver- schlimmerung des Zustandes der Prinzessin in regel- mäßigen Intervallen in der Wiener Presse auf- tauchen, heißt es: »On dit que ses articles, repor- tages et interviews n'dmanent pas de l'initiative des journaux qui les publient, mais qu'ils sont inspirds. On nomme l'avocat qui les inspire et le personnage qui inspire l'avocat«. Es folgt eine eingehende Schilderung der Machinationen

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^egen Louise von Coburg, um auch das französische Publikum zu der Erkenntnis zu bringen, die allen anständigen Menschen in Österreich längst feststeht: »Que les indiscr^tions die Nachrichten, die an- geblich aus der Heilanstalt in Coswig stammen, trotz der Arztespflicht des Schweigens sont voulues, c'est ä dire ordonn^es, et que ceux qui les ordonnent ont un intöröt ä les ordonnerc . . .

Eine drollige Rundfrage in ernster Sache hat das »Deutsche Volksblatt' veranstaltet. Sämtliche Wiener Theater- und Variet6- direktoren versichern nach der Brandkatastrophe in Chicago über- einstimmend, daß in ihrem Haus das Publikum am sicher- sten sei. Herr Direktor Mahler hebt besonders hervor, daß das Opemgebäude dem Besucher, >gleichgiltig, ob er Logen-, Parkett-, Parterre- oder Galleriebesucher ist breite Zugänge bietet.« In der Stunde, in der ich dies Gutachten las, erhielt ich den Brief einer Persönlichkeit, die in öffentlichen Dingen ein ge- wichtiges Wörtchen zu sprechen hat: »Würden Sie nicht etwa geneigt sein, aus Anlaß des Theaterbrandes in Chicago die Aus- gänge des Parketts unserer Hof-Oper zu schildern? Ich bin überzeugt, daß bei einer aus irgendwelchem Anlasse eintretenden Panique der allergrößte Teil der Parkettbesucher ums Leben käme. In dem engen winkligen Gang, in dem man über meh- rere Stufen hinab und durch eine überaus enge Pforte hindurch vom Parkett zur Garderobe kommt, würden Menschen zu Hun- derten erdrückt und zertrampelt! Ich bin überzeugt, daß Sie durch eine genaue Schilderung dieses Engpasses sich großes Verdienst erwerben würden« . . . Jeder einzelne Direktor legt den größten Wert auf die Feststellung, in wieviel Minuten sein Theater erfor- derlichen Falles geleert sein kann. Da muß man nun wirklich bedauern, daß die Herren, die in der Prognose so gut überein- stimmen, ihre Zuschriften nicht kollationiert haben. Sicher wäre dann manche Behauptung unterblieben, welche jetzt durch die bloße Neben- einanderstellung der Gutachten als Übertreibung enthüllt wird. Das Deutsche Volkstheater ist inlVa, das Jubiläumstheater in 3, dasRai-

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mundtheater in 4, das Theater in der Josefstadt in 2, dasTTieater an der Wien- wenn ich nicht irre, das größte -in 1 und das Jantschtheater das kleinste in 5 Minuten zu leeren. Am besten ist Herr Karezag: >Auf Ihre gefl. Anfrage wage ich ruhig zu behaupten, daß das Theakr an der Wien eines der sichersten, wenn nicht das sichersre Theater Wiens bei Feuersgefahr ist.« Es ist gut, daß der Eindruck dieser Paprika -Schlesinger -Offerte durch das bescheidene Geständnis gemildert wird, daß das Theater an der Wien in der Ära Karezag »ohne Gedränge in einer Minute geleert« ist. Der Aufenthalt auf den Gallerien dieses hundertjährigen Hauses ist geradezu verlockend: >Die Galleriebesucher kommen in jedem Stockwerk an Fenstern vorbei, die ins Freie und auf sichere Plätze führen.« Trotzdem fügt Herr Karezag noch eine Lehre hinzu: »Wer ruhig bleibt, kommt immer sicher ins Freie« und spielt den letzten Trumpf der himmlischen Schutz- vorrichtung aus: >Gott soll uns vor jeder Gefahr bewahren, aber auch in der Gefahr nicht verzweifeln lassen. Hochachtungsvoll die Direktion« . . . Auch auf den Gallerien des Carltheaters ist man so sicher wie bei sich zuhause (wenn's im Bett brennt), und da ohnedies in den Zwischenakten fortwährend »frisch Wasser gerufen wird, so ist jede Feuersgefahr ausgeschlossen. In dem berühmten >Colosseum« aber sind sämtliche Bedienstete mit Signalpfeifchen versehen, und die Artistinnen müssen sich beim Haarbrennen elektrischer Apparate bedienen... »Alles gerettet!«

Sie aßen so fröhlich beisammen und hatten einander so lieb, die Advokaten und die Richter. Alle gegenseitigen Beschwerden schienen sich in ge- meinsame Magenbeschwerden auflösen zu sollen. Bei guten Reden floß der Champagner munter fort. Der Vizepräsident der Advokatenkammer sprach von Fortschritt und Freiheit, welche die Advokaten immer hochzuhalten haben, und die anwesenden Richter : gelobten im Stillen, sich jeder Einmischung in diese Obliegenheit der Advokaten zu enthalten. Nachdem hierüber volle Einmütigkeit erzielt war, ließ man dem

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Küchenchef mitteilen, es sei Zeit, mit dem Brati der Hühner zu beginnen, da jetzt der Ministerpräside das Wort ergreife und Herrn v. Koerber's Tischred( erfahrungsgemäß etwa die Zeit der Zubereitung ein Poulards ausfüllen. Der Leiter des Justizministeriur rief die Tafelgenossen als Zeugen dafür auf, daß »sich seine eigenen Gedanken mache«, und gab den zwei zum besten. Der Zweck der Reform des Zivi Prozesses sei kein anderer, als in ihm den Grundsa zur Geltung zu bringen, daß ein fetter Prozeß bess ist als ein magerer Vergleich, eine Auffassun durch welche die Advokaten augenblicklich zu A hängern der Reform bekehrt wurden. Der Grundsa der Strafjustiz aber laute: »Der schuldige Urheb einer strafbaren Tat ist entweder der Strafe od dem Irrenhause zu überantworten!« Herr v. Koerl erkannte also ausdrücklich an, daß auch künft Personen, welche als unzurechnungsfähig erkan werden, nicht mit Gefängnis werden bestraft werc dürfen, und die Gerichtspsychiater können darüt beruhigt sein, daß sie wie bisher unentbehrlich s€ werden, um die Irrenhäuser vor Überfüllung schützen. Blutdurst und Expensenhunger, ward neuli hier gesagt, würden sich im Sofiensaal zur Ta setzen; Herr v. Koerber hat die Richter, die an c Tafel saßen, durch die Erklärung beruhigt, Schwäche soll das Gerichtsverfahren niemals an^ kränkelt werden«, und die Advokaten durch Versprechen, daß »ein einmal eingeleiteter (Ziv Prozeß in der Regel auch nur durch einen Gerieb Spruch beendet werden sollte« und nicht durch V gleich. So sind denn die Geister einig geword Unklar ist nach den Zeitungsberichten über das P im Sofiensaal bloß, in welchem Kostüme die Teilnehr erschienen waren: Herr v. Koerber behauptete, i sei zumute, als ob er von seinem steilen politiscl Gipfel in eine »tiefer gelegene Almhütte unpolitisc Menschen« gekommen wäre, und es muß also inmit

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H^räcke auch Älplertrachten gegeben haben. Die ter hatten, wie es scheint, diese Festgewandung assend gehalten. Eine noch ungewöhnlichere aber !n die Advokaten gewählt; ihr Sprecher erklärte, ätten früher den Harnisch getragen, aber »nur leute den Schlafrock angezogen«. So seitsam war äußerlich das Bild der Vereinigung von Richtern Advokaten. o

Aus einem Bericht des »Vorwärts' in Berlin über einen ssungsprozeß, den dort die Versicherungsgesellschaft »Viktoria« irt hat: > Direktor Thon von der ,Viktoria' gab an, in dem ler Witzblatt ,Pschütt' seien unwahre Angaben über Viktoria' veröffentlicht worden. Die Direktion habe dem itt' durch Vermittlung eines Wiener Rechtsanwalts nachweisen daß die Veröffentlichungen bezüglich der .Viktoria' auf hren Tatsachen beruhen, und gleichzeitig sei die Redaktion enannten Blattes ersucht worden, weitere derartige Veröffent- igen zu unterlassen. Aus diesem Anlaß habe die Direktion dings 14.000 Kronen in Wien deponiert, aber ledigHch ^nwaltshonorar. Über solche Höhe eines Anwalts- 5rars waren Staatsanwalt undRichter sehrerstaunt, rtor Thon bemerkte jedoch, es sei mit dem Anwalt ausdrücklich nbart worden, daß Redakteure oder Mitarbeiter des tes von dem Gelde nichts erhalten dürften, damit cht den Anschein habe, als wolle die ,Viktoria' das Schweigen ^resse erkaufen.« . , . 14.000 Kronen Anwaltshonorar die ler Advokaten werden darüber noch mehr erstaunt sein als Berliner Gerichtspersonen. Aber wie unwirtschaftlich muß fiiner Versicherungsgesellschaft gearbeitet werden, die, bloß len Schein zu wahren, dem Advokaten für seine Bemühungen das Schweigen eines einzigen Blattes eine Summe auszahlt, der man, wenn sie zru Preßbestechungen verwendet würde, ein :s Dutzend solcher Blätter kaufen könnte! Solche Ver- endung läßt sich nur durch eine satanische Freude an der eit erklären: zweifellos hat man das Witzblatt von dem

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14.000 Kronen-Depot wissen lassen, aber ihm die Vereinbarung i dem Advolcaten über seine Verwendung verschwiegen. Ist also c Witzblatt wirklich düpiert worden, und haben journalistis«; Erpressungsversuche in Wien l^einen andern Erfolg, als den Ad\ katen der angegriffenen Unternehmungen zu einem glänzend Einkommen zu verhelfen? Die Preßkorruption als Mittel, den Adi katenstand zu fördern, diese Kulturmission ist bisher noch nie gewürdigt worden. Wenn man nur wüßte, wieviel von den 14 000 der Advokat der »Viktoria« unter Barauslagen verrechnet hj

Dronze oder Stahl? Der Streit wütet fort, ab< die Entscheidung ist gefallen. Wir bekommen Kanone^ röhre aus Bronze. Wohl uns und der Kunst! »ReÜ die Kreuze aus der Erden, alle müssen SchwerU werden!«, hat einst Herwegh gesungen. Möge uri wenn künftig der Krieg ins Land kommt, ein b' geisterter Künstler erstehen, der da ruft: Schmel die Monumente des Zumbusch ein, alle müssen Kanone sein! Die Geschützprüfungskommission hat Herz fi die Kunst bewiesen. Wenn sie den Stahl gewäh! hätte, würden die Denkmäler von Zumbusch ewi stehen. i '

»Hine Frage: Gibt es heutzutage überhauf noch verkannte Künstler?« Der Musikkritiker de ,Neuen Freien Presse* wirft die Frage auf, weil i Wien ein Verein unter dem Namen Konrad Ansorge' wie vielsagend ist es, daß uns dieser Name s wenig sagt I daran geht, lebenden Tonkünstler Gehör bei einem Publikum zu verschaffen, das die Tonschwingungen der modernen Seele feinhörige ist als die zünftige Kritik. Und Herr Korngold erteil sich die Antwort: »Es ist in unserer Zeit schwei nicht überschätzt zu werden. Die gesteigerte Publi

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Mtät, das geschäftige Interesse an der Kunst und

künstlerischen Fragen, die Suche nach neuen geistigen

>onsationen holt jedes Talentchen aus seinem Winkel.

'iS lebt eine gewisse Angst in der Mitwelt vor dem

ächelnden Vorwurf der Nachwelt.« Wehmütig muß,

ils sein Nachfolger so perorierte, der greise Hanslick

genickt haben: Ja, wir sind weit gekommen, seitdem

iurch die »gesteigerte Publizität« der Glaube an die

Jnfehlbarkeit der ,Neuen Freien Presse' erschüttert

ind die Warnung, die »Talentchen« eines Anton

Brückner und Hugo Wolf nicht zu »überschätzen«,

Qißachtet ward. Aber die ,Neue Freie Presse* darf

ich rühmen, daß sie sich bis zum heutigen Tag treu

\ iieblieben ist, und wenn Herr Korngold versichert,

«ikonrad Ansorge verhalte sich zu Hugo Wolf wie

pheodor Kirchner zu Schumann, will er natürlich

aicht Wolf durch den Vergleich mit Schumann ehren,

ondern bloß Ansorge durch den Vergleich mit Kirchner

llierabsetzen. Nieraals hat die Musikkritik aus der

5I i'ichtegasse in einem »geschäftigen« Interesse für die

jlunst vor der Nachwelt gebangt, und statt des

ji ^chelnden Vorwurfs der Unterschätzung ward höchstens

l\ ler entrüstete der Überschätzung bei einer Nachwelt

fskiert, von der Herr Charles Weinberger, weil er

er Mitwelt nicht Spaß zu machen vermag, sprechen

arf. Andere Zeiten mit anderen Liedern sind ge-

ommen, aber der liberale Stumpfsinn hört immer-

j mit den alten Ohren. Während jedoch Herr Korn-

4old bei Ansorge schüchtern die bewährte Methode

if'Btätigt, beweist der unentwegte Kalbeck den Mut,

i|e heute noch bei Hugo Wolf anzuwenden. Es ist

^ lerrn Kalbeck's Ehrgeiz, zu zeigen, daß er von Beruf

! t, was er durch Berufung nicht werden konnte,

^cianslick's wahrer Nachfolger, und wenn sich jüngere

fsf'unstfeinde mit dem Starrsinn musikalischer Gewohn-

. ^itstiere gegen neue Kunsteindrücke wehren, gibt

-■ sich mit der neuesten Kunst nicht erst ab und wehrt

!f« ch immer noch mit dem alten Haß gegen Künstler,

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die dem Leben entrückt sind, baut ihnen aus dem alten Unflat, mit dem er sie zeitlebens beworfen, Grabdenkmäler. Im neuen Jahre Ansorge zu verkennen, hat der Mann wahrhaftig nicht nötig, der das alte Jahr mit der Verunglimpfung Hugo Wolfs beendigt hat. Wolfs »Elfenlied« und »Peuerreiter« sind ihm »dankbare pittoreske Tonstücke von nicht gerade tiefem Gehalt«. Von der »Christnacht« erklärter: »Chor und Orchester verrät eine fast bemitleidenswerte Dürftigkeit des Gefühles und den bittersten Mangel an edler musikalischer Kunst.« Wolf habe das Gedicht »mit den bunten kreidigen Farben seines Chors und dem falschen Flittergolde seines Orchesters übertüncht und beklebt, dergestalt, daß es ein fast barbarisches Aus- sehen gewonnen hat«; es ist ein »ewiges Glitzern und Gleißen der Instrumente«, das die »gequälten oder trivialen Melodien der Singstimmen« begleitet. Herrn Kalbeck's endgiltiges Urteil über Hugo Wolf aber lautet: »Wo es sich darum handelt, den Musiker von Erfindung, Gemüt und Seele zu zeigen, ist Hugo Wolf nur ausnahmsweise einmal zu sprechen«. Man könnte zweifeln, ob kritische Äußerungen wie diese für Bösartigkeit der Gesinnung oder für Borniertheit des musikalischen Sinns zeugen, und man sollte dabei erwägen, daß Dummheit meist verdirbt, aber Ver- derbtheit selten dumm macht. Ist indes die Beschränkt- heit eines Kritikers minder gefährlich als Beckmesser- Bosheit? Nirgends ist die Kultur mehr bedroht, als wo der Ohnmacht, zu verstehen, die Macht verliehen ist. Und es handelt sich nicht um Herrn Kalbeck's Persönlichkeit, wenn Hugo Wolf geschmäht wird und wenn wir im selben Feuilleton des ,Neuen Wiener Tagblatt', in dem solches geschah lesen, daß nur der Schwung des philharmonischen Orchesters unter Nikisch' Führung die Zuhörer über das »chro- matische Elend« der Faust-Ouvertüre Wagner's habe hinwegreißen können. Unerträglicher als Herr Kalbeck ist die gemeine Stupidität eines Publikums, das sich

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auch heute noch nicht über ihn empört, so wie es sich nicht empört hat, als er im März 1899 von Bruckner's a dur Symphonie schrieb, sie unterscheide sich von den anderen Symphonien des Komponisten »höchstens durch die größere Schwäche ihrer Erfindung«, und als er den größten Symphoniker nach Beethoven mit den Worten brandmarkte : »Impotenz des Römlings, dessen geistiger Horizont ewig von Weihrauchwolken umnebelt war.« a.

Von dem Herausgeber des Weininger'schen Nachlasses erhalte ich die folgende Zuschrift: Sehr geehrter Herr! Ich bitte Sie, folgende Zeilen, welche auf die in der , Fackel' vom 23. Dezember enthaltenen Bemerkungen über die Weininger- Biographie Bezug nehmen, freundlichst veröffentlichen zu wollen; Ad 1.) und 2.): Ich bin zu wiederholtenmalen Augenzeuge der in der Biographie erwähnten Szenen gewesen.

Ad 3.): Die Darstellung seines Gesundheitszustandes ist wiederholten eigenen Aussagen des Verstorbenen entnommen.

Hochachtungsvoll Wien, den 31. Dezember. Moriz Rappaport.

Der Vater Otto Weininger's, dem ich diese Zuschrift vorwies, bedauert die Nötigung, neuerlich in dieser schmerzlichen Sache das Wort zu ergreifen, und beklagt die Hartnäckigkeit, mit der der Biograph seines Sohnes »jedes harmlose Bläschen, das sich auf der Persönlichkeit des Verstorbenen zeigt, zu einem Abszeß schlimmer Art umzugestalten« sucht. Er verwahrt sich gegen einen pietät- vollen Freundeseifer, der durch Aufpürschung abnormaler Züge den Verkleinerern des Lebenswerkes Otto Weininger's zuhilfe eilt, und ersucht noch besonders, die aufgebauschte Wiedergabe der »drei Möglichkeiten«, die es für seinen Sohn nach dessen angeblichem Bekenntnis gegeben haben soll (Galgen, Selbstmord, glanzvolle Zukunft siehe Vorrede S. XIX), auf ein »Kaffeehausgespräch in vielleicht visionärem Scherz* zu reduzieren, das »den starren ernsten

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Ton, den der Herr Biograph dabei anschlägt, in keiner \ rechtfertigt«. Der Behauptung aber, Otto Weininger sei Epilep gewesen einer Behauptung, die gewiß nichts Ehrenrührig« sich schließe und die geistige Bedeutung des Verstorbenen im geringsten zu schmälern geeignet erscheine , hätte er wohl gehütet zu widersprechen, wenn auch nur der gerii Anhaltspunkt vorläge, sie für glaubwürdig zu halten. Da wiederholt wird, bleibe ihm nichts übrig, als der Erklärung Herrn Biographen das Zeugnis des Arztes entgegenzustellen:

5./1. 1904.

Gefertigter bestätigt, daß er als langjähriger Hausarzt Familie Weininger mehrfach mit dem am 4. Oktober v. J. storbenen Dr. Otto Weininger verkehrt, diesen auch mehr ärztlich behandelt hat, aber niemals an ihm auch nur geringsten Symptome von Epilepsie, auch nicht ein sogenar psychisches Äquivalent, d. h. eine Seelenstörung, die bei man« Kranken an Stelle von epileptischen Anfällen auftritt, bemerkt

Gefertigter ist auch der vollsten Überzeugung, daß Verstorbene kein Epileptiker war.

VII. Westbahnstraße 37. Dr. J. Engel m. p.

Ein Clownscherz nach den traurigen Erörterungen, die der voranstehenden Erklärung hoffentlich abgeschlossen sind; gibt kaum ein reichsdeutsches Blatt, das nicht dem im Feuerb seines Geistes getöteten Schöpfer von >Geschlecht und Chara- dem übrigens bald in dritter Auflage erscheinenden Werke, ernste Betrachtung gewidmet hätte, und draußen ist um die Ja! wende kaum eine Revue der »berühmten Verstorbenen« von ] erschienen, in der nicht des Dreiundzwanzigjährigen auf ehren\ Art gedacht worden wäre. In der Totenschau der im Geburts des Philosophen erscheinenden ,Neuen Freien Presse', die kt verewigten Reporter oder Librettisten unerwähnt läßt, ist der N Otto Weininger fürsorglich ausgemerzt. Kann man sich Grotesk als diesen Eifer vorstellen? Nun glauben diese größenwahnsinni Schwachköpfe bereits, daß sie lebendigschweigen könr Und das können sie schon gar nicht!

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Die »Scharfrichter« sind dahin, und man kann, ohne Aten zu müssen, Philistern aus der Seele zu sprechen, ge- oekennen, daß es nicht gerade sensationell war. Von dem isenpaar, das hier schon Peter Altenberg gewürdigt hat, ab- n, steht die Gesamtleistung unter dem Niveau der Überbrettelei Jradsky und Straus, die ihrerzeit ein Mitarbeiter der ,Fackel' ein Gefühl zu unsanft behandelt hat. Die Humore eines auf labende vergröberten Udelquartetts sind nicht der Comble abaretkunst, und es ist unbegreiflich, wie sich modern dün- Künstler die alte Anekdote von der Notdurft des Betrun- der den Wasserstrahl eines Springbrunnens nicht hemmen - die bekannte Verwertung des »Mäneken piß<-Motivs , wie ; Abdominalspässe der »Verschönerungskommission« zum geben können. Da dies ausgesprochen ist, kann mit umso em Nachdruck gegen die Frechheit der Wiener Künst- eln protestiert werden, die dem Publikum auch das wirklich .n den Darbietungen der »Elf Scharfrichter« verleidet haben. Wedekind, dessen »Rabbi Esra« offenbar nur durch eine ilige Darstellung um seine Wirkung gebracht wurde, haben {urschen behandelt, als ob er mit Herrn Buchbinder die ne gehütet hätte. Hätte Wedekind's Dialog auch an und 1 enttäuschen müssen, so bliebe doch die Respektlosigkeit, r dabei von dem faszinierendsten Dramatiker Deutschlands :hen wurde, denkwürdig. Was soll man dazu sagen, wenn mtagshumorist der ,Neuen Freien Presse' einem Wedekind 3er von einem >Tiefpunkt snobistischer Humorlosigkeit« Oder wenn derselbe Knabe zugibt, in einem Programm, '»mpositionen von Gedichten Liliencron's und Dehmel's , habe »bei diesem und jenem Lied auch der Text gerade störend gewirkt«? Sollte es wirklich einmal Errichtung journalistischer Schulen Ernst werden, so muß tschieden für die Einführung der Prügelstrafe plaidieren.

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Mer jGaulois' hatte kürzlich die »Vernach- mg« von Heine's Grab auf dem Montmartre t. Die , Frankfurter Zeitung' stellt nun

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fest, daß der Blumenschmuck des Grabes regelmäßi] erneuert und gepflegt wird, fügt aber hinzu: >Da: das Grab selbst heute nicht mehr den rührende] Eindruck hervorbringt wie früher, eine von viele: Besuchern mit Bedauern empfundene Tatsache is die Schuld der Wiener , Liberalen', die unter Pührunj ihres Herrn Noske eines Tages Heinrich Heine au politischen Gründen für sich entdecken zu müssei glaubten und über das wehrlose schmale Dichtergra' das protzige Marmordenkraal stürzten, mit dem de Bildhauer Herr Hasselriis durch halb Europa, von Achilleion bis Paris, lange vergeblich hausiere] gegangen war.«

«

tlerr Dr. Lueger wird jetzt gefrozzelt, weil e das von Herrn Zifferer's Schwiegersohn erbaute »Hauj der Kaufmannschaft« wegen seines »weanerischej Schan« lobte und sich unter den Festgästen des g^ adelten Herrn Pollack gütlich tat. Vor zwei Jahren noQ habe der christlichsoziale Führer in einer Interpellatio jene liberalen Persönlichkeiten beschimpft, die Geld^ für den Landtags wahlfonds sammelten, um »durcj Stimmenkauf in Masse und großartige Bestechung^ die Wahl von solchen Individuen zu ermögliche welche die Interessen des jüdischen Großkapitä vertreten«. Die Regierung ward damals aufmerksa gemacht, daß es sich »um Aufbringung ganz außei ordentlicher Geldmittel handeln müsse«. Und unter Angegriffenen habe sich Herr Leopold Pollack b funden . . . Wo die Inkonsequenz des Herrn Dr. Lueg liegen soll, ist nicht einzusehen. Jetzt, da Herr Polla^ geadelt wurde, meldet sich der Bürgermeister wied zum Wort, weil es sich eben neuerdings »u die Aufbringung ganz außerordentlicher Geldmitf gehandelt haben muß« . . .

I Leopold Pollack

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Regierungskassabuch.

(Dezember 1903)

Biedermann-Turonyi

Ritt, von

Baron

160.000 Kr. (Rabatt!)

500.000 Kr.

ANTWORTEN DES HERAUSGEBERS.

- Gewerbeinspektor. Am 19. Dezember erhielt ich das folgende

treiben: >Heute Höteldirektor, kann ich Ihnen nur aus vollem Herzen Sflr den in Nr. 149 der »Fackel' gebrachten Artikel .Kellnerjungen' )! lanken. Auch ich war einmal Kellnerjunge. Und wenn ich heute als ierzigjähriger Mann einem fünfzigjährigen ähnlich sehe, so ist dies /ohl auf die Überanstrengung und die Mißhandlungen meiner Jugend- ihre zurückzuführen. Sie können in dieser Sache nicht scharf genug ;eißeln!< Ja, wenn's nur jeder Piccolo bis zum Hoteldirektor brächte! iber manche gehen, aus Furcht vor ausbeutenden Wirten und befrackten /lißhandlungsgehilfen, vorzeitig in die Donau.

Theaterfreund. Es ist zu dumm ! Weil jetzt endlich in den Ber- iner Theatern Sicherheitsmaßregeln getroffen wurden, die seit dem ^ingtheaterbrand allen Theatern in Österreich vorgeschrieben sind, amentiert Herr Paul Lindau: »Alles um uns her gemahnt uns mit irutal eindringlicher Fürsorge an die Lebensgefährlichkeit unserer harm- osen Theaterfreude«. Und für den Nachweis, daß die Sicherheitsvor- i:ehrungen der Wiener Theater den Berlinern, wenn sie bei ihnen ein- jeführt werden, alle Theaterlust vergällen und beständige Todesangst iinjagen müssen, hat sich Herr Lindau den Feuilletonraum der Neuen Freien Presse' ausgesucht. »Von allen diesen Sicherheitsvor- :ehrungen<, erzählt er, (,N. Fr. Presse', 12. Januar), »habe ich den ;isernen Vorhang am meisten auf dem Strich« ; unerträglicher als aller Jnfug, den man bisher im Theater habe ertragen müssen, sei »das etzt behördlich angeordnete Herablassen des eisernen Vorhangs in den 'ausen*. Schrecklich, dieses »eiserne Ungetüm von vollendeter Scheuß- ichkeit«: »Ping-pang! Ping-pang! Mit rasselndem Oestöhne wird das :iserne Untier auf das Podium herabgewunden. Nur nicht ängstlich ! Die brave Feuerwehr ist da 1 . . . Daran hatten wir in dem Momente mch gerade gedacht«. Zweiundzwanzig Jahre lang haben wir Wiener jisher nach jedem Aktschluß die Courtine sinken gesehen, ohne daß lie Augen durch ihre Scheußlichkeit und die Ohren durch ein rasselndes Oestöhne beleidigt wurden. Aber nach dem Brand in Chicago bat die Neue Freie Presse' Herrn Paul Lindau, uns die Erkenntnis beizubringen, laß durch das Herablassen der Courtine nicht die Berliner Theater- besucher beruhigt, sondern die Wiener künftig beunruhigt werden nüssen. Es ist zu dumm 1

Dramatiker. Es ist bei dem kargen Raum, der meiner publi- nstischen Tätigkeit gegönnt ist, und bei dem überreichen Stoff, den ich lewältigen soll, ganz ausgeschlossen, daß ich mich, von grundsätzlichen

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Erörterungen abgesehen, auch noch in jedem einzelnen Palle jedes ver- kannten Talentes annehme. Wenn Ihre »Erlebnisse in Wiener Theater- und literarischen Kreisen« krasser und t)rpischer Art sind, so ersuche ich um kurzgefaßte schriftliche Mitteilung.

Kulturmensch. Zu einer Polemik des Professors Forel gegen den Hygieniker Hueppe druckt die .Arbeiter- Zeitung' einen Brief des Psychiaters ab, in welchem er erzählt, daß er das JVlanuskript seines Aufsatzes vor einigen Monaten der .Zeit' übersendet habe. Es wurde dort nicht gedruckt, der Autor aber, dem man zuerst überhaupt nicht antwortete, in der schamlosesten Weise hingehalten. Schließlich hieß es, das Manuskript sei verloren. >Es ist merkwürdige, schließt Forel, >daß die gleiche ,Zeit' und manche andere ähnliche Blätter mich wiederholt und dringend um Aufsätze bitten, wenn es ihnen gerade in den Kram paßt, solche jedoch zunächst nicht beantworten und dann verlieren, wenn es ihnen nicht in den Kram paßt. Ich habe das schon mehrfach erlebt und werde immer vorsichtiger. Die .Zeit' telegraphierte mir sogar um einen Aufsatz über die Prinzessin von Sachsen. Ich refusierte denselben selbstverständlich, da ein Arzt über seine Kranken nicht schwätzt. Es ist aber bezeichnend: Das Manuskript eines solclttfh Aufsatzes wäre sicher nicht ,verloren' gegangen. Sapienti sat. «... Nicht jeder Gelehrte hält so rein, j

Literat. Nein, > Zapfenstreich« ist keine Dramatisierung der Bilse'schen Sensation und hat mit dieser nicht das mindeste zu schaffen. Wenn die Direktion des Deutschen Volkstheaters trotzdem eine Notiz an die Blätter versendet, in der es heißt : > Das am Samstag dem 1 6. d. zur ersten Aufführung gelangende militärische Drama ,Zapfenstreich' von Franz Adam Beyerlein spielt in einer kleinen deutschen Garnison an der französischen Grenze«, so erwächst aus solcher Methode bloß die bittere Erkenntnis, daß heutzutage die Literatur an der Popularität des Schunds schmarotzen muß.

Feuerwehrmann. >Das Feuer entstand durch die Funken eines platzenden Leitungsdrahtes« . . . >Über den Ausbruch des Feuers herrscht noch keine Einstimmigkeit. Unbedingt feststehend ist, daß entzündliche Dekorationsstücke irgendwoher einen Funken empfingen«... >Fast alle Stimmen erklären, es lag das uralte Vergehen vor, entzündliches Material den Einflüssen von Feuer auszusetzen« . . . >Das Blitzlicht, das für den Mondschein mit Hilfe von Calcium erzeugt wurde...« ...»Nicht ein einziger atmete noch, als man die zerschmetterten Leiber auflas«... »Ein Uraht hielt den Vorhang in Zweidrittel der Höhe auf; er wurde zum Todesengel«... In Chicago brennt's, und der Wiener Blätterwald steht in hellsten Geistesflammen.

Berichtigung.

In einem Teile der Auflage von Nr. 151 (S. 23, 5. Zeile von oben) sind die Stegreifverse aus der »Schönen Helena«, welche die Klytämnestra spricht, irrtümlich der »Frau des Menelaus« in den Mund gelegt. Es soll auch dort richtig heißen: Frau de» Agamemnon.

Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus. Druck von lahoda & Sieeel. Wien. III. Hintere ZolUmtsttraSe 3,

I

153 Erschienen am 27 Jänner 1904 V. Jihr

ie Fackel

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KARL KRAUS.

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Die Fackel

Nr 153 WIEN, 27. JÄNNER 1904 V. JAHR

Die Briefe der Prinzessin von Coburg.

Wenn dieses Heft der ,FackeP erscheint, wird eben ein Justizskandal beendet sein, dessen Ausgang ich, weil meine Geduld geringer ist als meine Erbitterung, nicht abwarten konnte. Ich weiß also, da ich diese Zeilen niederschreibe, noch nicht, ob der Zivilrichter, der über den Anspruch des Besitzers der Briefe Louisens von Coburg gegen deren treulosen Verwahrer |izu entscheiden hat, wenigstens in der zweiten Ver- indlung stark genug war, die Abtretung des Aktes die Staatsanwaltschaft zu beschließen und vor ''erkündung dieses Beschlusses noch den zudringlichen |,>Nebenintervenienten«, der die Briefe für eine völlig iLunbeteiligte Person, für den Gatten, ergattern wollte, aus dem Saale zu weisen. Ein widerlicheres Schauspiel als die erste Verhandlung dieser Streitsache ist uns |lange nicht geboten worden, und mit größerer Selbst- lyerständlichkeit ward noch selten am hellichten Tag Jer Versuch gemacht, das Gesetz zu Gunsten der über lem Gesetze Stehenden umzumauscheln. Herr Geza lattasich hat von der Prinzessin Louise von Coburg Iriefe und Photographien erhalten. Sie füllen zwei lartons, welche er, da er von Wien abreisen muß, jinem Menschen namens Barber, der sein Advokat fat, anvertraut. Ein Hallstätter Cretin, der Jus studiert jat, könnte nicht leugnen, daß M. der Besitzer der Briefe ist und das Recht hat, sie zu jeder beliebigen 5©it von dem Verwahrer zurückzufordern. Dem Emp- fänger gteht der Sachbesitz des empfangenen Brief-

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papiers zu, der Schreiberin das Autorrecht an dem Inhalt der Briefe. Andere Rechtsmöglichkeiten gibt es da nicht. Wird das Autorrecht an den Briefen verletzt, veröffentlicht der Empfänger sie gegen den Willen der Prinzessin, so ist es ihr oder ihrem Kurator gestattet, den strafrechtlichen Weg zu betreten. Einen Präventiv- schutz gegen jene Möglichkeit gibt es nicht. Nie aber könnte ihn der Vertreter des Prinzen von Coburg, als der der unvermeidliche Bachrach in die Verhandlung hineinschneite, ansprechen. Daß er dem Besitzer der Briefe eine mißbräuchliche Verwendung zumutete, ist eine Insulte, deren Abwehr Privatsache des Herrn Mattasich ist. Öffentliche Zurückweisung erheischt die Beleidigung, die dem gesunden Menschenverstand zugefügt wird, wenn d%r Vertreter des Prinzen von Coburg seine »Nebenintervention« mit der Verpflichtung begründet, den Richter darauf aufmerksam zu machen, daß »Briefe ehebrecherischen Inhalts nicht Verkehrs- gegenstand sein dürfen«. Nun geht zwar der Inhalt dieser Briefe den Herrn Bachrach so wenig an wie die Tatsache, »daß die Prinzessin während ihrer Ehe in einer Weise mit dem Kläger verkehrte, die leider Gottes weltbekannt ist« ; aber diese Sätze durften gesprochen werden, ohne daß der Richter ein Wort dej Rüge für den Beleidiger einer wehrlosen Frau fand! Ehebruch ist ein Antragsdelikt; nach Herrn BachracB ist aber das Schreiben zärtlicher Briefe an eine vonl Gatten verschiedene männliche Person »verboten^ Nach Ansicht anderer Juristen bliebe es selbst nac^ Publikation der Briefe, deren Inhalt heute niemand außer der Absenderin und dem Empfänger kennen darf, strittig, ob der Gatte auch nur wegen Ehren- beleidigung klagen könnte. Aber Herr Bachrach ist Hof- und Polizeiadvokat, und im Bewußtsein die-^er Machtstellung durfte er es wagen, die mangeli e Befugnis durch Mittel der Einschüchterung wettzu- machen und auszurufen: »Das fehlte uns noch, daß selbst der Richter seine Hand dazu gebe, daß solche

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Briefe bekannt werden können 1«... Fühlt sich der Disziplinarrat der Advokatenkamraer noch berufen, Standes^enossen wegen Standesvergehungen zu strafen, oder betrachtet er sich schon ausschließHch als Keusch- heitskommission? Er hat neuHch toller Weise einen Advokaten verurteilt, der unentgeltlich das literarische Programm der »Herrenabende« eines Artistenvereines bereichert hatte. Warum werden nicht Advokaten diszipliniert, die schweinische Anek- doten erzählen? Würden die Standesrichter, die den gewiß nicht erquicklichen Herrn bestraften, sich's verübeln, wenn sie einem jener »Herrenabende« bei- gewohnt und über seine Darbietungen gelacht hätten? Welch drolliges Quiproquol Die Herrschaften haben einmal gehört, es sei ihre Pflicht, den »unanständigen Advokaten« auf die Finger zu sehen, und jetzt glauben sie, es handle sich um solche Kollegen, deren Tonart für junge Mädchen nicht paßt... Oder sieht der Disziplinarsenat die Standeswidrigkeit jener Zoten- heferung etwa darin, daß sie unentgeltlich geschah ? . . . Wenn er endlich wieder zeigen will, was in Wahrheit seines Amtes ist, wird er sich für den Prozeß um die Coburg-Briefe interessieren, wird er die Figur des »Verwahrers« und die RoUF jenes ge- schäftigen Männchens besehen müssen, das seit Jahren so üppig von der Unzurechnungsfähigkeit einer Prin- zessin lebt.

«

Ein Kollege der Herren Bachrach und Barber viele haben sich zum Wort in der , Fackel' ge- meldet — sendet mir die folgenden Ausführungen:

Ich bin Rechtsanwalt, aber doch nicht Jurist genug, um die klare Rechtslage in dem Prozeß um die Herausgabe der Briefe der Prinzessin Coburg mißverstehen zu können. Mich interessiert lediglich die zivilrechtliche Seite des Falles, der nicht nur mein natürliches Rechtsgefühl, das ich mir dummer Weise noch erhalten habe, aufwühlte, sondern auch

mein geringes Vertrauen in meine Gesetzkenntnisse in bedenkliches Wanken brachte, da ich las, daß drei Kollegen pardon, zwei Kollegen und ein Re- gierungsrat — mit der Pose juristischer Überzeugung dafür eintreten, daß der Dr. Barber die ihm über- gebenen, ich sage gar nicht anvertrauten, Briefe seinem Freunde, ich sage nicht Klienten, Mattasich auf dessen Verlangen nicht ausfolgen mußte. Da Dr. Barber ein ihm von Mattasich »anvertrautes Gut« diesem vorenthielt, so könnte man auf den ersten Blick glauben, daß hier nach § 183 St.-G. eine Ver- untreuung vorliege, für welche sich der Staatsanwalt interessieren könnte. Diese naive Rechtsanschauung wäre vielleicht zutreffend, wenn es sich um ein Dutzend Silberlöffel, die Herr Dr. Barber nicht herausgibt, handelte; oder um eine 2D0 K- Rente. Da aber die nicht einmal als Makulatur verwertbaren Briefe einer Prinzessin in Frage stehen, welche so wertlos sind, daß sich für sie das Obersthofraeisteramt interessiert und der Präsident der Wiener Advokaten- .kammer zu ihrer Wiedergewinnung die Hand bietet, so kann man nicht einmal zur Überzeugung gelangen, daß hier auch nur ein Verwahrungsvertrag von Herrn Dr. Barbe# gebrochen wurde dann würde ja die Sache gerade so erledigt, wie wenn es sich um die Briefe des Frl. X oder Y handelte , sondern muß vielmehr annehmen, daß hier einer jener ver- zwickten Fälle des praktischen Lebens unter der glorreichen Intervention des Dr. Bachrach geboren wurde, für welche das Gesetz nichts vorgesehen hat oder bei deren Lösung es unbequem wird. Was also zwischen Dr. Barber und Mattasich sich ereignete, ist ein contractum sui generis. Da Dr. Bachrach seine Hand im Spiele hat, bedarf es hiefür keines weiteren Beweises. Denn seit er mit dieser unglückseligen Causa beschäftigt ist, scheinen die Bestimmungen des allgemeinen bürgerlichen Gesetz- buches: »Wenn jemand eine fremde Sache in seine

Obsorge übernimmt, so entsteht ein Verwahrungsvertrag 957); der Verwahrer muß dem Hinterleger auf Verlangen die Sache. . .zurückstellen 962)«, gänzlich außer Kraft gesetzt, aus dem einfachen Grunde, weil sie wirklich recht unangenehm sind. Dagegen wurde, um den Abstrich am Gesetze wett zu machen, dieses für den vorliegenden Fall in genialer Weise fortgebildet. Dr. Barber rechtfertigt nämlich seine Untreue durch den Hinweis auf § 1425 A. B. G.-B, der da sas-t: »Kann eine Schuld aus dem Grunde, weil der Gläu- biger unbekannt, abwesend, oder mit dem Angebotenen unzufrieden ist, oder aus anderen wichtigen Grü n d en nicht bezahlt werden, so steht dem Schuldner bevor, die abzutrsigende Sache bei dem Gerichte zu; hinterlegen.« Ja, ist es denn schon ein genügend wichtiger Grund, die Interessen des Freundes, Klienten und Hinterlegers preiszugeben, daß Herr Dr. Bachrach ganz nebulose Eigentumsansprüche erhebt, trotzdem der § 323 A.B. G.-B. sagt: »Der Besitzer (und das war Mattasich zweifellos) einer Sache hat die rechtliche Vermutung eines giltigen Titels für sich; er kann also zur Angabe desselben nicht aufgefordert werden«, , trotzdem §324 anordnet: »Diese Aufforderung findet auch dann noch nicht statt, wenn jemand behauptet, daß der Besitz seines Gegners mit anderen rechtlichen Vermutungen, z. B. mit der Freiheit des Eigentums, sich nicht vereinbaren lasse. In solchen Fällen muß der behauptende Gegner vor dem ordentlichen Richter klagen und sein vermeintliches stärkeres Recht dartun. Im Zweifel gebührt dem Besitzer der Vorzug«, trotzdem § 348 bestimmt: »Wenn der bloße Inhaberin Barber war mehr, nämlich Verwahrer, hatte daher stren- gere Pflichten) von mehreren Besitzwerbern zugleich um die Übergabe der Sache angegangen wird und sich Einer darunter befindet, in dessen Namen die Sache aufbewahrt wurde, so wird sie vorzüglich diesem übergeben und die Übergabe den Übrigen bekannt gemacht« 1 ? Dr. Barber durfte daher, wenn er sich

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nicht eines schweren Standesvergehens schuldig machen wollte, den Gegnern seines Klienten nicht schon die Vollstreckung eines Urteils sichern, dessen Fällung diese noch gar nicht verlangt hatten. Denn wie läßt sich dieses Vorgehen mit § 12 der Advokaten- ordnung vereinbaren, welcher vorschreibt: »Wenn die Vertretung aufgehört hat, ist der Advokat verpflichtet, der Partei über Verlangen die ihr gehörigen Urkunden und Akten im Originale auszuhändigen,«? Was sagt der Disziplinarsenat der Advokatenkammer zu einer Auffassung der Anwaltspflichten, welche den Gegnern des Mandanten Schergendienste leistet?

Aber all dies wird noch durch die bornierten Rechtsausführungen des Dr. Bachrach weitaus über- boten. Er ist ein Pfadfinder auf dem Gebiete des zivilen Blödsinns, denn er behauptet nach dem Be- richte der ,Neuen Freien Presse^, daß ein Verwahrungs- vertrag nicht zustande kommen konnte, weil es an dem Eigentumsrechte der Briefe fehle. Abgesehen davon, daß es trotz Bachrach unter Juristen unbe- stritten ist, daß der Empfänger eines Briefes durch Übergabe seitens der Post das Eigentum an dem Briefe, noch deutlicher an dem Briefpapiere erwirbt, gehört es wohl zu den scharfsinnigsten juristischen Kombinationen, einfach zu sagen, weil möglicherweise ein Mißbrauch des geistigen Eigentums eintreten könnte, bestehe überhaupt kein materielles. Oder einfacher, weil eventuell ein Bauer sein Haus anzünden könnte, kann er expropriiert werden. Wie würde sich, um auf die Voraussetzungen des Verwahrungsvertrages zurückzukommen, Herr Dr. Bachrach verhalten, wenn er einen bloß entliehenen Regenschirm in einer Garderobe abgab und der Garderobier ihm die Rück- stellung verweigerte, weil Herr Dr. Bachrach nicht Eigentümer ist? FreiUch, Briefe einer Prinzessin!

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In das ,Neue Wiener Tagblatt' vom 16. Jänner ist durch das Versehen eines Redakteurs die folgende Notiz geraten:

>(Prinzessin Luise von Coburg.) Aus Dresden, 15. d., wird uns telegraphiert: Prinzessin Luise von Coburg erscliien gestern Abends mit dem Geheimrat Pierson, dem Leiter der Heilanstalt Coswig, in einem Konzert. Die Prinzessin sah überaus frisch und gesund aus und wurde lebhaft begrüßt. Sie unterhielt sich mit verschiedenen Aristokraten. Von einer geistigen Umnachtung war nichts zu bemerken.«

Und wieder ist ein Hofseparatzug des Herzens abgegangen, und wieder rufen die Kondukteure einer klatschsüchtigen Öffentlichkeit jede seiner Stationen aus. Ob der Erzherzog Ferdinand Karl das »Professors- töchterlein« heiraten wird, darüber zerbrechen sich mit den beteiligten Verwandten auch die Wiener Chefredakteure die Köpfe, vor der Wohnungstür eines schlichten Familienvaters kampieren Reporter, und wenn uns die Häuslichkeit der Erwählten in klärchen- haften Zügen geschildert wird, so mag man nur be- dauern, daß ein kaiserlicher Prinz den Buben, die seine Braut in der Leute Mund gebracht haben, nicht versprechen kann, ihnen einmal spanisch zu kommen . . . Der Kaiser hat noch nicht zuge- stimmt, aber Herr Lippowitz ist dafür. Und er sendet dem hocherfreuten Schwiegervater einen Interviewer. Die Unterredung ist denkwürdig. Der Hofrat »fügt sich in sein Geschick« und »empfängt die vielen Besucher, die jetzt erscheinen, mit der ihm eigenen liebenswürdigen Höflichkeit«. »Sie werden mir nicht zumuten, daß ich mich über die ganze Sache derzeit irgendwie äußere.« Nichts sei ihm pein- licher, als wenn er seinen Namen in der Zeitung lesen müsse. »Ich muß mich entschieden dagegen verwahren, bestimmte Auskünfte zu geben. Man muß in seinen

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Äußerungen vorsichtig sein . . . Ich kann keine Aus- kunft geben, ich werde auch nichts dementieren und all das ruhig hinnehmen, was in dieser Sache ge- schrieben wird.« Darauf habe sich der Interviewer, »von dem liebenswürdigen Professor bis an die Wohnungstür geleitet«, empfohlen. Auch das ist ein Interview. Würdiger wäre ein Verhalten des Professors gewesen, das dem ,Neuen Wiener Journal' ermöglicht hätte, am nächsten Tage zu schreiben: »Gestern hatte einer unserer Redakteure Gelegenheit, von dem Vater des Mädchens, dem schlichten Manne der Wissen- schaft, über die Treppen hinuntergeworfen zu werden«. Der Herr Hofrat muß bereits seine Unerfahrenheit in diesen Dingen bereuen. Vor Herrn Lippowitz hatte dessen publizistischer Schüler, Herr Kanner, ihm einen Bedränger gesendet, und der arme Mann mußte hinterdrein sich dagegen verwahren, daß er die ihm von der ,Zeit' in den Mund gelegten Worte gebraucht habe: er habe es »für eine Höflichkeitspflicht er- achtet, den Redakteur des genannten Blattes zu empfangen, aber wenn er gewußt hätte, daß davon i in dieser Weise Gebrauch gemacht werde, hätte ^ er ganz entschieden dagegen Einspruch erhoben«. Und wie zum Hohn schreibt dann die Bande, der Professor hätte gewiß »ein stilles, häusliches Glück, von dem die Welt nichts weiß« dem Glück des Glanzes, in den sein Kind mit einem Male gehoben sei, vorgezogen. Da der Vater so unfreundlich war, sich zu wehren, so betrachtet Herr Kanner »die vielbesprochene Heiratsafiaire seit gestern abends als erledigt«. Er teilt uns nur noch mit, wie es den Hof kreisen gelang, den Erzherzog von seinem Plane abzubringen. »In einer Familienkonferenz bei der Erzherzogin Maria Therese wurde beschlossen, noch einmal eine Einwirkung auf den Erzherzog zu ver- suchen, eine Aufgabe, die Erzherzog Otto über- nahm. Diese entscheidende Unterredung wurde gestern nachmittags durch das Telephon geführt und

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dauerte weit über eine Stunde«. Kein Wunder, daß Ferdinand Karl müde wurde und nachgab; dem Telephon ist es zu danken, daß Habsburgs Haus- gesetz, eine weniger neuzeitliche Einrichtung, stand- hält. Herr Lippowitz behauptet freilich, der Erz- herzog halte an der Heiratsabsicht unerschütterlich fest, und höhnt mit wahrer Schadchenfreude die ver- gebens dementierenden Hofkreise. So ist denn jeden- falls dafür gesorgt, daß die schon durch die Herren Frischauer und Saiten hergestellten Beziehungen zwischen dem Erzhaus und der Bevölkerung nicht gelockert werden. Wird aus der Heirat dennoch nichts, was verschlägt's, daß der Name eines Mädchens in die übelsten Klatschmäuler gebracht wurde? Für den »Zug des Herzens« gibt's nun einmal Freikarten, und der »Liebesroraan« eines Erzherzogs ist ein Rezensions- exemplar.

Nach den Interviewern die Schilderer. Das ,Neue Wiener Journal' läßt sich eigens aus Prag telegraphieren, daß die Erwählte des Erzherzogs dort allgemein durch ihre Schönheit Bewunderung erregt habe. »Auch die Mutter der jungen Dame fiel durch ihre Schönheit auf, die sich also auch auf die Tochter vererbt zu haben scheint«. Dagegen versichert die ,Zeit': »Ein schlanker junger Prinz ist Erzherzog Ferdinand Karl immer gewesen.«

Der Erzherzog hält am 19. Jänner auf dem Prager Theater- vereinsball Cercle. Er spricht .über den »Zapfenstreich«, die politische Lage, über Stahl und Bronze und über den Prager Aufenthalt. »Die Privatangelegenheit des Erzherzogs«, ver- sichert die ,Zeit' anerkennend, »wurde selbstverständlich von keiner Seite mit irgendeinem Worte berührt.«

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Jahresabschluß,

(Zufluß :)

Kronen

(Abfluß :)

Kronen

Diverse diskrete Ein-

Ständige Beihilfen . .

460.000

nahmen für patrioti-

120 Auslandsartikel

sche Zwecice ....

1,315.000

(Marke »großer Staats-

mann«) ä 500 K . .

60.000

»

1125 Inlandsartikel ä

100 K

112.500

600 Dutzend Notizen

(»Klugheit« und »Ge-

schick«) per Dutzend

50 K

30.000

Konfidenten und Kon-

fidentinnen höherer Art

30.000

Demontierung vonKon-

kurrenten

70.000

Für verschiedene patrio-

tische Zwecke . . .

250

Saldovortrag

552250

»In einer englischen Pro- vinzzeitung ist das folgende In- serat erschienen:

Qesucht.

Eine wirklich häßliche, aber erfahrene und tüchtige Gouver- nante zur Beaufsichtigung und Erziehung von drei Mädchen, deren ältestes 16 Jahre alt ist.

»Beim Polizeikommissariat Mariahilf lief gegen eine junge, hübsche, zur damaligen Zeit ge- rade ohne Engagement befind- liche Schauspielerin die ano- nyme Anzeige ein, daß sie ge- heime Prostitution betreibe. Das Polizeikommissariat leitete hier- auf Erhebungen ein, ließ die Schauspielerin bewachen und

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Die betreffende Person muß musikalisch sein und Deutsch und Französisch verstehen. Brillante Konversationsgabe , liebenswürdige Manieren und körperliche Schönheit nicht ge- wünscht, da der Vater viel zu Hause ist und außerdem er- wachsene Söhne vorhanden

sind. ,

Das Inserat hat sofort Zu- schriften an die englischen Tageszeitungen veranlaßt, in denen darüber Klage geführt wird, daß ein hübsches Qesicht und liebenswürdige Manieren für eine Gouvernante ein wahres Danaergeschenk seien. ,Die un- vernünftigste und undankbarste Person,' heißt es in einem Briefe, ,für die man als Gou- vernante tätig sein kann, ist die verheiratete Frau vorgerückten Alters, deren Schönheit dahin ist und die nun eifersüchtig auf ihren Gatten ist.' ,Ich habe vor Kurzem eine gute Position in Bayswater verloren,' schreibt eine Andere, ,weil Mrs. X. glaubte, ich liebäugelte mit ihrem Bruder, einem kahlköpfigen Offi- zier. Es war nicht wahr er hielt sich nur häufig in der Kinderstube auf, weil er die Kinder gern hatte. Soll ich nun hungern, weil ich hübsch bin? Mehrere Stellenvermittlungs- bureaux haben mir bereits ge-

lud eine Anzahl Leute vor, die bei ihr verkehrt hatten. Obwohl nun alle diese Zeugen die An- gezeigte entlasteten, verurteilte der Polizeikommissär Scheibs die Schauspielerin doch wegen »gewerbsmäßiger Unzucht« zu achtundvierzig Stunden Arrest. Die Quartiergeber der Schau- spielerin — ein Fahrradmecha- niker und seine Frau waren bei der Polizei gleichfalls vernom- men worden. Sie gaben dort an, daß absolut nichts Unzüchtiges vorgekommen sei. Wohl sei es öfter vorgekommen, daß mehrere Herren zu gleicher Zeit bei der Schauspielerin auf Besuch waren, doch geschah dies immer in Gegenwart der Hausleute. Gegen die Quartiergeber, denen der Polizeikommissär gleich von allem Anfang an ,Schub' und das ,Einsperren' in Aussicht gestellt hatte, wurde hierauf auch tatsächlich eine Anklage wegen Kuppelei erhoben. In der Ver- handlung erklärten sich beide Angeklagten für nichtschuldig und versicherten, daß nie etwas Unzüchtiges vorgekommen sei. Wenn zu ihrer Mieterin Herren auf Besuch kamen, so seien sie immer zugegen gewesen. wurde hierauf die Schauspielerin als Zeugin einvernommen. Sie gab zu, einen ziemlich großen Be- kanntenkreis und auch viele Ver-

k

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sagt, ich sei zu jung und sähe ehrer zu haben. Die Zeugin führt zu »mädchenhaft' aus.'« das eben darauf zurück, daß sie

Schauspielerin, hüh>sch und dabei von hebenswürdigen Umgangs- formen sei. JVlan könne sie aber unmögh'ch dafür verantwortlich machen, daß diese ihre Bekannten ihre Gesellschaft suchen. Die Zeugin gab auch ohneweiters zu, }mit einem Herrn in intimen Be- ziehungen zu stehen.Wenn andere zu ihr kamen, so geschah es nur, um mit ihr zu plaudern oder Karten zu spielen. Die Besucher seien nie mit ihr allein gewesen. < »Dat veniam corvis, vexat censura colurabas«. Das ist vielleicht das perspektivischeste Wort, welches Juvenal geprägt hat: es trifft die Sexualheuchelei der Gesellschaftsordnungen, die Männerraoral der Generationen bis ans Ende der Welt. Alles verzeihen die Sittenrichter den Raben und peinigen die Tauben. Die Frau darf nur, was der Mann will, aber nur, wenn sie es selbst nicht will. Und wehe, wenn das schwächere Gefäß der Sittlichkeit unsanftester Berührung nicht Stand hält! Ist es zierlich, greift man gern darnach und wirft's, wenn es zur Neige geschlürft, verächtlich in die Ecke . . . Die beiden Zeitungsnotizen, die ich oben zusammenstellte, habe ich an einem Tag gefunden. Ist's nicht das Halali der Hetzjagd auf die schöne Frau? Aus dem bür- gerlichen Erwerbsweg geworfen, verfällt sie der Fehme, wenn sie den andern betritt. Für die aufreizende Wir- kung dieser Parallele ist die Frage belanglos, ob die Schauspielerin wirklich wie's im lieblichen Jargon gesetzgeberischen Stumpfsinns heißt »gewerbs- mäßige Unzucht« getrieben hat oder nicht, ob außer dem Angriff gegen Geschlecht und Selbst- bestimmungsrecht ihr auch eine persönliche Unbill

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zugefügt wurde. Man mag dies getrost annehmen und versichert sein, daß hier kein Grund vorlag, die Tücke eines aus engstirnigem Geist gebornen Gesetzes spielen zu lassen, und daß bloß ein Polizeigehirn die Lust angewandelt hat, in Machtvollkommenheit zu glänzen und die Spässe eines Indizienprozesses in die Verwaltungssphäre zu übertragen. Aber aucti der Beweis »geheimer Prostitution« würde an der Scheuß- lichkeit der Sache nichts ändern. Man fragt sich, in welchem Jahrhundert man eigentlich lebt, wenn gemel- det wird, daß eine Frau die Behörde darüber beruhigen mußte, daß ihre Besucher nicht mit ihr allein im Zimmer waren, daß sie bloß geplaudert und sonst nichts getan haben, was den Herrn Scheibs irritieren könnte. Wozu PoHzeikommissäre auf der Welt sind, erkennt man also nicht nur, wenn Raubmörder und Taschendiebe entwi- schen. Aber daß sie auf der Welt sind, kann man sich nur daraus erklären, daß doch hin und wieder noch etwas geschieht, was »das Schamgefühl gröblich zu verletzen geeignet« ist. Freilich, würde man nicht, wenn man die Sexuairichter am Werke sieht, glauben, daß sie ihr eigenes Dasein der Paarung eines Paragraphen mit einer Gesetznovelle zuschreiben?. . . Daß ein Mädchen »auch ohne finanzielle Absicht Besuche empfangen kann, ist »hieramts« undenkbar. Man sollte aber |meinen, daß sie auch im andern Falle kein Rechts*- ;gut verletzt und daß die Gefährdung ihrer Ethik ihöchstens ihren Freund, ihren Vater, ihren Gott, aber Inie und nimmer den Staat etwas angeht. Die tiefe Un- [sittlichkeit einer Sittenpolizei, die Lizenzen für Prosti- litütion erteilt, die gewerbsmäßige Unzucht Unbefugter |nicht duldet und vielleicht nächstens den Befähigungs- lachweis verlangen wird, die unter allen Umständen jich der schwersten Eingriffe in Privatleben und lelbstverfügungsrecht der Frauen schuldig macht, ['redet sich vergebens auf hygienische Notwendigkeiten |3,us. Der Erfolg aller Reglementierung scheitert an^ hrer selbstverständlichen Aussichtslosigkeit, und das

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Mißverhältnis zwischen behördlichem Eifer und der organischen Größe einer in Prauennatur und Gesell- schaftsstruktur wurzelnden Erscheinung ist nur ein humoristischer Kontrast. Daß man wirklich die Hygiene will und nicht die »Sittlichkeit«, würde erst bewiesen, wenn Männer Gesetze gegen Männer schüfen, wenn's Paragraphe gäbe, welche die bewußte Übertragung einer venerischen Erkrankung mit Zuchthaus bedrohen. Der bürgerlichen Welt, die aufschreit, wenn die SittenpoHzei irrtümlich eine »anständige Frau« brutalisiert hat, geschieht nur Recht von ihrem eigenen Recht. Nicht der »Mißgriff«, der Griff empört den Menschenfreund, und jeder »Zwischenfall«, der uns die Bestialität der Behandlung prostituierter Frauen erkennen läßt, ist erfreulich. In einer Gesellschafts- ordnung, deren bessere Stützen tue besseren Beutel- schneider sind, werden ausschließlich dem Weib sittliche Lasten aufgebürdet, statt der Raben die Tauben gepeinigt. Und »Sittlichkeit« ist, was das Schamgefühl des Kulturmenschen gröblich verletzt.

Pie antisoziale Tendenz der Journaille wird auch dem blödesten Auge täghch offenbarer. Die Parole des Straßenräubers: »Das Geld her oder das Leben!« ist ein harmloses Scherzwort gegenüber dem Ruf der organisierten Gesellschaftsfeinde: »Die Nachricht her oder das Leben!« ... Da ich noch im Flügel- kleide liberaler Schuld steckte und mich's nach den Lorbeeren eines geistigen Taglöhners gelüstete, empfing ich das erste Grauen über diesen Beruf, Schicksale in Originalnachrichten einzufangen, in dem Augenblick, da im Sommer war's den im Kurort sich er- holenden Hyänen gemeldet ward, eine Leiche liege auf dem Perron des Bahnhofs. »Anscheinend den besseren Ständen angehörend«. Das Rudel war aufgestört. Einen reisenden Wiener, dessen Familie

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in Wien weilte, hatte der Herzschlag getroffen.

n Uhr, »für's Abendblatt« ging's noch. Da half keine

)rstellung, daß Frau und Kinder das Unglück

ahren sollten, bevor sie's in der Zeitung läsen.

lus Ihnen wird nie ein Journalist 1 «.. .

In Wien ward ein gutes Werk vorbereitet. Die Theaterlandeskommission trat zusammen, um an den Lehren von Chicago die Sicherheitszustände der Wiener Schauspielhäuser zu prüfen. Eine Aktion, deren Wert in ihrer Geheimhaltung liegt: Die Kommissionsmit- glieder werden an irgend einem Abend eine Stunde vor Beginn der Vorstellung in dem Lokale erscheinen und es erst eine Stunde nach Schluß verlassen; sie wollen ihre Aufmerksamkeit der Art der Füllung und Räumung des Hauses, dem Benehmen der Billeteure als Sitzanweiser, den Garderobeverhältnissen u. s. w. ^widmen. Es wurde beschlossen, die Beratungen als vertraulich zu erklären. Die Kommission, heißt es, will vorläufig ihre Beschlüsse geheim halten, weil die Inspizierung der einzelnen Etablissements eine überraschende sein soll, so daß seitens der Direktoren keine Vorbereitungen getroffen werden können . . . Woher weiß ich das alles ? Aus den Zeitungen! Sie haben pünktlich den Theaterdirektoren gemeldet, daß ihnen eine Überraschung bevorsteht, und sicherlich wurden in den letzten Tagen die Billeteure und Theaterarbeiter, welche die Kommission »nach ihren Instruktionen zu befragen« beschlossen hat, so gut gedrillt, daß sie wenigstens in jener kritischen Zeit, in der die Gefahr des Besuchs der Kommission besteht, tadellos funktionieren werden. Nach Abschluß der Inspektion soll ein »Communiquö« das österreichische Allheilmittel gegen Pest, Feuer und pohtische Not herausgegeben werden; daß darin etwas von »musterhafter Ordnung« stehen wird, darauf könnte man eine Wette eingehen . . . Eine frivo- lere Niedertracht als gerade dieser Verrat vertraulicher Entschließungen unter höhnender Angabe ihrer Ver-

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traulichkeit war nicht zu ersinnen. Man kann den Verdacht nicht Raum geben, daß eines der Kom missionsraitgUeder aller Namen wurden gedruckt das Geheimnis preisgegeben hat; wie haben sich's di« Reporter zu verschaffen gewußt? Die einzige Möghch keit einer Kontrolle der Wiener Theater ist verschüttet und »überrascht« wird wohl nur die Landeskoraraissioi sein, wenn sie auf ihrem Rundgang sehen wird, wi( überall alles aufs beste bestellt ist.

Wenn an der Riviera die Blattern herrschen werden in den Wiener Zeitungen den trügerischei Kundmachungen des Obersten Sanitätsrates authen- tische Hötelierreklamen entgegengestellt. Hier komm die alte Parole des Straßenräubers mit der Variant( zu Ehren: »Das Geld her und das Leben Grauen- hafter aber, weil im tiefsten Wesen des journalistischer Berufs begründet, ist die Pühllosigkeit der Nachrichten- jagd. Wenn in Wien ein Theater brennen wird, wei sein Direktor die behördliche Kontrolle mit einej rasch arrangierten Sicherheit getäuscht hat, wird es irgendwo heißen: Die Maßnahmen der Theaterlandes- komraission, die wir als die ersten bekanntzu- machen in der Lage waren, haben , sich leider . . .

»Wien, den 19. Januar 1904, An Herrn Karl Kraus, ah verantwortlichen Redakteur der periodischen Druckschrift ,Di{ Fackel' in Wien, IV., Schwindgasse Nr. 3. Als durch die beilie gende Vollmacht ddo. Wien, 16. April 1901 ausgewiesener Vertretet des Herrn Ernst Vergani, Herausgebers des , Deutschen Volksblattes' in Wien, VIII., Josefsgasse 4—6 fordere ich Sie auf Grund des § 19 des Preßgesetzes auf, folgende Berichtigung des in der Nr. 147 der periodischen Druckschrift ,Die Fackel' auf den Seiten 17—19 gebrachten Aufsatzes den gesetzlichen Bestimmungen entsprechend aufzunehmen. Es ist unwahr, daß Herr Ernst Vergani seit Monaten im ,Deutschen Volksblatte' einen Kampf gegen das Wiener Brauhaus geführt hat; es ist unwahr, daß das .Deutsche Volksblatt' vor dem

IT

Besuche in Rannersdorf warnte; wahr ist vielmehr, daß das .Deutsche Volksblatt' stets für die Interessen des .Wiener Brau- hauses' eingetreten ist, daß das .Deutsche Volksblatt' nur einen Kampf gegen den derzeitigen Präsidenten des .Wiener Brauhauses', den Landesrat Dr. Eduard Thoraas geführt hat und dementspre- chend über das Wiener Brauhaus in der Morgenausgabe vom 12. November 1903. also vor dem Besuche Dr. Luegers in Ran- nersdorf geschrieben hat: .Zahlreiche ehrenwerte Männer wir nennen hier nur den in der antisemitischen Partei als grundehr- lichen und rechtschaffenen Mann bekannten Kunsthändler Herrn Heindl waren bemüht, den... total verfahrenen Karren wieder ins rechte Geleise zu bringen, allein alle diese Versuche, Ordnung zu schaffen und das von den Sympathien der Bevölkerung getragene Unternehmen zur Blüte zu entfalten, schei- terten und so mußte sich sogar ein Mann wie Heindl, der

gewiß das Vertrauen aller Genossenschafter genoß, dazu bequemen, seine Bemühungen, die im Interesse des Brauhauses lagen, einzu- stellen und aus dem Vorstande auszutreten Im Interesse

des Wiener Brauhauses, eines Unternehmens, das die kräftigste Förderung aller verdient, wäre es zu wünschen, daß der heutige Besuch nicht seinem . . . Leiter, sondern dem Unternehmen zugute käme, daß er ihm neue Freunde

zuführen möge, die ihm über alle die zahlreichen Klippen

hinweghelfen.' Dr. Robert Gruber als Vertreter des Herrn Ernst Vergani, Herausgebers des .Deutschen Volksblattes'.«

Zu den Obligationen, die Herr Vergani, seitdem er von Mühldorf nach Wien kam. besitzt, gehört bekanntlich auch der Kampf gegen die Korruption. Und darum, nur darum bekämpft er das >Wiener Brauhaus«. Oder vielmehr nicht das »Wiener Brauhaus«, sondern bloß den Herrn Dr. Thomas. Die christlich- sozialen Parteiführer waren offenbar ebenso wie die .Fackel' falsch unterrichtet, da sie durch den Massenbesuch in Rannersdorf für die Interessen des Brauhauses demonstrierten. Sie glaubten das Unternehmen durch die Angriffe geschädigt und hätten sich, wenn sie rechtzeitig erfahren hätten, daß Herr Vergani ein Schützer des Brauhauses ist, gehütet, für eine Einzelperson, die im ,Deutschen Volksblatt' zufällig bekämpft wird, Stimmung zu machen. Herr Vergani , aber klärt den Bürgermeister über seine Absichten auf, indem er

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die ,FackeI' berichtigt. Seine Zuschrift entspricht diesmal dem Ge- setz, und darum muß sie gedruckt werden. Vor einigen Wochen hatte es der Rechtsfreund des Herrn Vergani mit einer weniger gelungenen Berufung auf den § 19 versucht. Ich lehnte ab, der Rechtsfreund brachte die Klage ein, der Richter sprach mich frei. Aber erfahrungsgemäß erscheint jede vom .Gericht abgewiesene Berichtigung eines Tages in zweiter, wesentlich verkürzter Aus- gabe, und in der juristischen Reparaturanstalt des Herrn Dr. Gru- ber wird zwar langsam, aber solid gearbeitet. So muß die alte Geschichte heute aufgewärmt werden. Zu den Obligationen, die Herr Vergani, seitdem er von Mühldorf nach Wien kam, besitzt, gehört nicht zuletzt auch die Verpflichtung, der Wahrheit zum Siege zu verhelfen.

Der Präf ekt des Seine-Departements hat, wie die , Arbeiter-Zeitung' nach Pariser Blättern erzählt, einen Erlaß gegen einen Unfug herausge- geben, der auch bei uns einen erheblichen Umfang angenommen hat: das Ausleihen der Zeitungen durch die Zeitungshändler. Das Zirkular, das allen Inhabern von Zeitungskiosken zugestellt worden ist, stützt sich auf die Anzeige des Syndikats der Pariser Presse und nennt bestimmte Kioske, bei denen das entgeltliche Ausleihen von Zeitungen, die nachher den Zeitungsverwaltungen als unver- kauft zurückgestellt werden, besonders im Schwange ist. Der Präfekt macht die Kioskinhaber darauf aufmerksam, daß ihre Konzession sich nur auf den Verkauf und nicht auf das Ausleihen von Zeitungen beziehe und daß eine Übertretung dieser Befugnis den Verlust der Konzession zur Folge haben werde. Die Kioskinhaber, die den Zeitungshandel nicht selbst betreiben, werden gleichwohl für die Übertretungen ihrer Stellvertreter haftbar gemacht. Der Präfekt fordert sie auf, diesen die strengsten Unterweisungen zu erteilen. Überdies ist den Inhabern der zur Anzeige gebrachten Kioske die amtliche Verständigung zugegangen, daß im Falle der Wieder- holung des Unfugs die strengsten Maßregeln getroffen würden. >Das Vorgehen des Präfektenc, fügt die , Arbeiter-Zeitung" hinzu, »istganz in der Ordnung. Allerdings, die eigentliche Schuldan dem unanständigen Verfahren trägtdasPublikum. Es gibt Leute,

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ie sonst im ,Ehrenpunkt' eine große Empfindlichkeit bekunden, aber ch nicht scheuen, aus Schmutzerei mit der Zeitungsverkäuferin inen Handel zu schließen, der auch strafgesetzlich als Betrug nd Mitschuld am Betrug strafbar ist. In Wien, wo die Rechtlichkeit ft mehr mit der Polizeifurcht als mit der Achtung vor den Rechts- rundsätzen zusammenhängt, fügt des Ausleihen den Zeitungen leträchtlichen Schaden zu.« Manche Leser der ,Fackel', denen das aufschneiden der Hefte lästig war, haben vergebens über den 'orteil gegrübelt, der den Verlag bewogen hat, die kleine Unbe- uemlichkeit über den Käufer zu verhängen. Die Fragen, die immer 'ieder einliefen, beantworten sich jetzt von selbst. Das Leihgeschäft, as zu florieren begann, mußte erschwert werden. Eine Anzahl der eachtetsten Bürger, Vertreter aller Stände, besonders einige Zierden ,es Barreaus, hatten als alte Zigarrenkunden mit ihrer Trafikantin »ereits das Abkommen getroffen, für 1 Kreuzer des Genusses einer eistigen Arbeit, die größer ist als die ihre, teilhaftig zu werden. . .

Das .Neue Wiener Journal' hat eine Kulturmission: Die {enommeen zu heilen, die durch die ,Fackel' zu Schaden gekommen ind. Neulich ist wieder der Musikalienhändler Qutmann in die Reparatur gekommen. Aber ich hätte nicht geglaubt, daß schon in paar kleine Notizen in der ,Fackel' die Anwartschaft auf ein (Wiener Portrait« verleihen, und wer bis heute noch daran gezweifelt lat, daß der Musikalienhändler Qutmann eine berühmte Persönlichkeit 5t, hört es jetzt aus seinem eigenen Munde. Der Interviewer reilich muß sich vor dem Publikum ein wenig entschuldigen und teilt seine 87. Berühmtheit mit den verlegenen Worten vor: >Er wandelt ein wenig abseits von der großen Menge, und mit seiner Popularität im Volk ist es nicht weit her.« Dafür die bei den (ünstlern! »Mag er auch beim Musikahenhandel und beim Conzertarrangement seine Rechnung gefunden haben, so scheint er loch nach der Schilderung ernster Kritiker in ersterLinie Idealist jewesen zu sein.« Und nun ?rzählt Herr Gutmann, wie er Anton Jruckner gefördert habe. Sogar dem Portraitisten wird schwül. Er ragt den Mann, der doch nur >in erster Linie« Idealist ist, »ob iie vielen Künstler, mit denen er in geschäftlichem Verkehr stand,

lerj tenj

iredl nil

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nicht manchmal mit ihm in Streitigkeiten materieller] Natur kamen.« > Herr Gutmann antwortet mir mit seiner sanften, salbungsvollen Stimme: ,Nein, niemals. In den dreißig Jahr habe ich mit keinem Künstler noch Prozeß geführt, es gab ni Zwistigkeiten.'< Und gerührt fragt der Reporter weiter: >Sind Künstler dankbare Menschen? Anerkennen sie es^ wenn man sich für ihre Sache opfertpc ... Ich bemerke^ hiezu, daß der Leser, der etwa glaubt, daß ich übertreibe, die zitierten Sätze im ,Neuen Wiener Journal' vom 10. Jänner nach- lesen kann. Zu welchen Opfern an der Einnahme des Autors Verleger fähig sind, ist ja so gut bekannt wie das mehr hingebende als hergebende Verhalten von Agenten beim Verrechnen der Konzerteinnahmen. Aber wenn Herrn Qutmann auch, im Verkehr mit Komponisten und Virtuosen, nicht das geringste Verschulden nachzuweisen ist, so wirkt jene Frage in ihrer allgemeinen Fassung doch aufreizend. Daß er nie einen Prozeß geführt, wäre möglich, würde aber nichts bedeuten. Künstler sind, wenn schon nicht immer dankbare, so doch meistens furchtsame und ungeschickte Menschen. Daß es in den dreißig Jahren keine Zwistigkeiten gab, ist bestimmt nicht richtig. Aus den letzten Jahren ist vielleicht noch der Fall Dohnany in Erinnerung, von dem in Musikerkreisen lange gesprochen wurde, und an mich selbst haben sich des öfteren Künstler um Rat gewendet, die mit der Impresa des Herrn Qutmann unzufrieden waren. Ich erinnerte sie an die Pflicht der Dankbarkeit, die jeder Künstler seinem Verleger schulde. Nur habe ich leider in allen Fällen das Gefühl zurückbehalten daß es mit der Popularität des Herrn Gutmann nicht nur im Volk, sondern auch bei den Künstlern > nicht weit her« ist. . .

Parabel.

Von Peter Altenberg (Wien).

Im Affenreiche von einst erhob sich ein etwas heiler gefärbter Affe an einem Krück-Aste aufrecht und sagte mit exaltierter Stimme: »Und es wird, es muß eine Zeit kommen, sie ist organisch unentrinnbar

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1 der notwendigen Entwicklung von Ursache zu Wirkung, da werden die Affen auf Zweien gehen, auf- geht, und die Kletter-Hände werden verkümmern ,1 Geh-Püßen und Ihr werdet nicht mehr Buch von jst zu Ast behende schwingen tl »Blender Dekadent I«, brüllte ihn nun die Herde 1, »Willst du unsere wertvollsten Kräfte verkümmern

achen?!?«

»Jawohl«, erwiderte der heller gefärbte an einem eiuraaste aufrecht gelehnte Affe, »zu Gunsten

ertvollerer Kräfte, die da kommen werdenl« Darauf hin schrieb der damalige Nerven-Pathologe

ofessor Schimpanse eine Broschüre :DieD^cadence

id ihre Gefahren.

ANTWORTEN DES HERAUSGEBERS.

Beobachter. Wie ein Blitz aus heiterm Himmel traf mich neulich

folgendeZuschrift : >Wien, am 9/1. 1904. An die Redaktion der .Fackel',

;n, IV. In rechtsfreundlicher Vertretung des Herrn Clemens Khan

ischer, persischer General und Sektionschef i. D., stelle ich auf Orund

§ 19 des Preßgesetzes das Verlangen, in der nächsten oder zweit-

'lenden Nummer Ihrer Zeitschrift in der Rubrik ,Antworten des Heraus-

Iprs' die nachstehende Berichtigung der in der Nummer 151 Seite 24

llialtenen Notiz zu veröffentlichen: Es ist unwahr, daß Herr Kolischer

Ifdie von ihm herausgegebenen Zeitungen persönlich Inserate acquirieren

oder jemals persönlich Inserate acquiriert hat, und es ist demzufolge

|i unwahr, daß er bei einem solchen Gange seine persische Generals-

3rm anlegt oder jemals angelegt hat. Achtungsvoll Dr. Bondy.«

das macht nichts! . . . Bondy, Bondy? Hat der nicht neulich den Franz

-Orden bekommen? Ja, er hat ihn bekommen. Wofür? Das wußte

Mensch. Aber ich weiß es. Er bekam ihn >in rechtsfreundlicher

ketung des Herrn Clemens Khan Kolischer, persischer General und

lionschef i. D.« Herr Bondy bat, Herr Koiischer lief, Herr Hofrat

leben kam, der Kaiser rief: Laßt mir herein den Bondy! . . . Was

|m Kolischer den Einfluß auf den Präsidialisten des Herrn v. Koerber

:hafft hat, weiß ich allerdings nicht. Über die Berichtigung ist

zu sagen, daß sie einer satirischen Metapher, aber nicht der Wahr-

die ihr zugrundeliegt, den Garaus macht. Natürlich dachte ich nicht

Jmtferntesten daran, daß Herr Kolischer wirklich die persische Ge-

suniform anlegt, wenn er Inserate acquirieren geht. Wahr ist nur,

Agent, der für das von Herrn Kolischer gekaufte Armeeblättchen

l-ate acquirieren geht, sich zum Beispiel bei einem ahnungslosen

ijärlieferanten von Schuhoberteilen als Abgesandten des Qe-

I

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her als Kolischer vorstellt. . . . Man ist sich über die Bedeutun eines »persischen Generals« nicht ganz klar. Es ist möglich, daß ein östei reichischer Feldwebel im Range niedriger ist, möglich, daß auch de »persische Sektionschef« mehr bedeutet, als ein österreichischer Kanzlei offizial. Ich weiß es nicht, höre nur von einer dem Qroßvezier Emin-ci Sultan nahestehenden Seite, daß es sich beim »General« um keine militärischen Rang handelt, sondern um einen Titel, der in Persien auc für Verdienste um die Hebung des Schafwollexportes verliehen werd kann. Aber in Teheran erschrickt man gewiß auch gewaltig, wenn d Ankunft eines »kaiserlichen Rates« aus Wien bekannt wird, und erinnern uns noch, daß sogar in Paris alle monarchistischen Instink rebellisch wurden, als der , Figaro' unter den die Ausstellung bi suchenden österreichischen Staatsmännern einen leibhaftigen »conseiÄ imperial« nannte. Ich wollte aber durchaus nicht gesagt habe daß alle Annoncen, die in den Herrn Kolischer gehörenden Blättern e scheinen, ausschließlich durch den Respekt vor Titei und Würden d Herausgebers verschafft werden. Es gibt zum Beispiel Großwäscii, fabrikanten, die sich auch für die Erwirkung der Lizenz, daß Reisenden Luxuswäsche en detail in der Provinz verkaufen dürfen, Brückenanstrichfirmen, die sich schon für das bloße Versprechen, daß ihi die behördliche Bewilligung verschafft werde, dankbar erweisen. Ich wol! aber auch nicht gesagt haben, daß Herr Kolischer Inserate aca rieren geht. Er fährt natürlich, wenn er mit Geschäftsleuten zu uin handeln hat, und zwar in einem Gummiradier, den der Fuhrwerksbestti E. gegen ein Inserat zur Verfügung gestellt hat. Dies ist nun wec unerlaubt noch unehrenhaft. Aber anderseits wird durch die Berichtigu auch die Tatsache nicht aus der Welt geschafft, daß man als Gene nicht nur Schlachten, sondern auch Inserate gewinnen kann.

Sammler. Bringen auch Sie wieder einmal etwas? Sie wisse ich kann, wenn ich den »Eindruck der Vollständigkeit« vermeiden w nur das Allerwichtigste brauchen. Also: Der Börsenwöchner schri neulich, im Eisenbahnministerium nenne man die großen Schmerzen;« Herrn v. Wittek »sehr höflich und liebenswürdig für den Gebralt des Delphin: Mehrerfordernis«. Der gute Mann hat einmal die lateinla Wendung: »in usum Delphini« gehört. Der Ausdruck wurde uo Ludwig XIV. für die Bearbeitung der zum Gebrauche des Dauphi bestimmten klassischen Lektüre geprägt und später auf alle Moralze« angewendet. Der Börsenwöchner aber verwechselt den Kronprinzen j\ Frankreich mit dem Seetier. Oder will er, da er Herrn v. Wittek ein stummen Fisch vergleicht, auf die Stellung unseres EisenbahnministeiS Herrn Taussig anspielen? Den Delphinen schreibt man »AnhänglidUl an den Menschen und Liebe zur Musik« zu, und es ist ja bekannt, n Herr v. Wittek aus dem Wasser ist, wenn Herrn Taussig's Siref klänge ertönen.

Offizier. Sie schreiben: »Die ,Zeit' (Abendblatt vom 20. J über Mannlicher: ,Seit 1878 beschäftigte er sich mit der struktion verschiedener Repetiergewehre mit Geradezj|;

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Verschluß und Pakettladung und vervollkommneteseine Erfindung immer mehr, bis er beim automatischen Repetiergewehr, bei dem auch die Verschlußfunktion durch den Druck des Pulvergases selbsttätig bewirkt wird, angelangt war er hatte das nach ihm benannte ,System Mannlicher' praktisch verwertbar gemacht. Nach vielen Versuchen entschloß sich die Heeresverwaltung, eine Neubewaffnung der Armee mit Gewehren d i e s e s Systems vorzunehmen.' Soweit die ,Zeit'. Wenn sie recht hat, dann führt unsere Armee jetzt automatische Repetierer; wenn sie recht hat, dann hat Mannlicher die Idee des Mittelschaflsmagazin- Repetierers nicht (wie man allgemein glaubt) erst 1885, sondern schon 1878 gehabt. Es ist nun immerhin möglich, daß sich unter den Lesern der ,Zeit' auch ein Reserveoffizier befindet; möge er vertrauensvoll bei dem bleiben, was man ihn in der Freiwilligenschule gelehrt hat: daß die Armee keine automatischen Repetierer hat und die Idee des Mittelschaftsmagazins (schlechthin ,System Mannlicher') erst aus dem Jahre 1885 stammt.< Nichts stimmt! Die ,Zeit' ist aus den Fugen: Schmach und Gram, daß ich zur Welt, sie einzurichten, kam !

Feuerwehrmann. Die Sache ist klein, aber drollig. Ein düsteres Montagsblättchen meint, daß in Wien »gar kein Grund zur Ängstlichkeit vorhanden« ist. >Was kann bei uns geschehen? Gar nichts, überhaupt nichts. Fängt schon irgendwo durch irgend einen Zufall irgend ein Fetzen Feuer, so wird dies gelöscht, ehe noch eine Verbreitung möglich ist. Und wenn selbst der Zunder hell aufflammt, so findet der Brand gar keine Nahrung. Es ist also die Angstmeierei durchaus nicht am Platze.« Das ist einleuchtend. Brennt ein Fetzen, so würde, wenn keine Panik entstünde, in den meisten Wiener Theatern dem Publikum wirklich kein Haar gekrümmt werden. Durch einen brennenden Fetzen kann also nichts geschehen. Aber viel- leicht durch die Auiführung von »Hoffmanns Erzählungen*? Dasselbe Montagsblättchen, das sich jetzt vor dem Feuer so wenig fürchtet und beruhigend eingreift, hat nämlich seinerzeit durch Wochen gegen die geplante Aufführung der Offenbach'schen Oper gehetzt und vor deren seit 1881 bewährter Feuergefährlichkeit Publikum und Direktion gewarnt.

Frivatbeamter. Alles Unrecht der Welt kann ich mit zwei schwachen Armen nicht auffangen. Ich habe es wiederholt ausgesprochen, daß Fälle von Ausbeutung oder Zurücksetzung in privaten Betrieben hier unerörtert bleiben müssen. Und wenn Ihr ehemaliger Chef, wiewohl Sie strengste Pflichterfüllung durch viele Jahre nachweisen können, über Sie gehässige Auskünfte erteilt, die es Ihnen seit langer Zeit unmöglich machen, einen neuen Erwerb zu finden, so wäre meine Intervention lange nicht so wirksam wie die des Zivilgerichts. Neun Zehntel der Affairen, die mir seit Jahr und Tag berichtet werden, gehen den Advokaten und nicht die , Fackel' an.

Udbitu^. Trotz dem dummen Leitartikel der ,Neuen Freien Presse', der wieder einmal von toraufreißerischem Pathos geschwellt ist, weisen Ha weis »Politiker« nicht die Spur einer »liberalen« Tendenz

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auf. Die gesunde Moral des Stückes lautet: > Politische Parteien a Bund Hadern wie der andere!« (Daraus wurde freilich in den späteren Aufführungen: >Politische Parteien ane wie die andere !<) Die dramatische Schwäche des Werkes liegt in der Unentschlossenheit, mit der der Autor allzulange zwischen dem Standpunkt des liberalen Phrasen- dreschers und dem des politikverachtenden Onkels zu schwanken scheint. Der fünfte Akt, in dem der Lehrer von der liberalen Presse so schmäh- lich im Stich gelassen wird wie vorher der Kleingewerbler von der christlichsozialen Partei, schafft Klarheit. Aber die ,Neue Freie Presse' hält sich die Augen zu und leitartikelt von den Versprechungen, die Herr Hawel die Christlichsozialen nicht halten läßt . . . Ein Stück von unstreitig erzieherischem Wert in der Freude über stoffliches Neuland schweigt der Kunstrichter , willkommen wie » Gerechtigkeit <, »Rote Robe« und >Lokalbahn«. Sehenswert schon wegen der Gestal- tungen der Herren Kirschner und Homma. Welcher Lärm würde losgehen, wenn diese Charakteristiker, namentlich der zuerst genannte, in einem Berliner Ensemble bei uns gastierten !

Musiker. Ein Berliner Blatt veranstaltete eine Rundfrage: was die »führenden Geister« sich vom Jahre 1904 erhoffen und erwünschen. Herr Richard von Perger sprach den Wunsch nach »Verbesserung der Wiener Musikzustände« aus... Die Erfüllung scheint nicht so fern zu sein. »Wie verlautet«, melden die Blätter, »soll sich mit Ende dieser Saison in der Leitung des Wiener Konservatoriums eine Ver- änderung vollziehen. Direktor Richard v. Perger dürfte aus dem Amte scheiden und Professor Heuberger sein Nachfolger werden.«

Meister Anton. Die , Auster', die sich, wie aus den letzten politischen Debatten Bayerns hervorgeht, so entschiedener klerikaler Gunst erfreut, ist ein pornographisches Witzblatt. Politik! Das schlechte Kon- kurrenzunternehmen, das neben dem gefährlichen ,Simplizissimus' ent- standen ist, muß gefördert werden. Pornographie ist in solchem Falle kein Hindernis. Aber da finde ich in der letzten Nummer ein wirklich schönes Gedicht von Friedrich Benz. Ein Hymnus auf die Hetäre:

Verzichterin im Anfeil

Der Obern und untern Welten

In deiner Kinderlust verbirgt sich das Menschenheil

Sei Wanderin unter den Hütten und Zelten.

Fromme Siegbehaftete

Stete Verbluterin

Gestürzte, in die Höhe Geraffte

Du Weltdurchleuchterin

Das konnte in einer klerikalen Druckerei gedruckt werden ! Zoten gingen ja noch; aber eine philosophische Rechtfertigung? Ich verstehe die Welt nicht mehr!

Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl. Kraus. Hrnck von lahoda & Siesel. Wien. IIL Hintere ZolluntsstnB« *

:. 154 Erschienen »m 12. Februar 1904 V. Jahr

ie Fackel

Herausgeber:

KARL KRAUS

Erscheint drei- oder zweimal im Monat. Preis der einzelnen Nummer 24 h.

(acbdnick and gewerbsmäBiges Veriefhen verboten; g^erichtliche Verfolgang

vorbehalten. <^

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WIEN.

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ÖiE Fackel

Nr. 154 WIEN, 12. FEBRUAR 1904 V. JAHR

Peuerlärm.

In Chicago brennt's, und in Wien verlieren sie die Köpfe. Die Theaterlandeskoramission geht um und erzeugt' durdhgefährUche Drohungen panikartigen Schrecketi; Zöitungspäpier gibt dem Brand def'Ge^ müter neue Nahrung. Der IndustriellenbaU wird diesr mal nicht unter dem Protektorat des Kaisers, aber unter der Devise eröffnet, daß d^r Musikvereinssaal feuergefährhch sei. Ein paar Stunden vorher hat dies die Polizei verlautbaft Und nach langem Parlaitientiereöl und Intervenieren den Industriebaronen und Industrie* rittern gestattet, auf einfehi Vulkan zu tanzen. Wenn in Wien ein Höfrat ausrutscht, Werden Verbote gegen das Wegwerfen von Orangenschalen und Verordnun- gen über das Aiifstreuen bei Glatteis erlassen. Freuen wir uns, daß diesmal so ehtferifites Unheil das behörd- liche Gewissen geschärft hat. Wer nicht Theater; Konzerte und Bälle' besluch^n öiuß/ den' mag die Ent- hüllung belustigen, däßaufeinitiäl alles feue'rgefährlich sei. Lange genug hat die Aufsichtsbehörde geschlummert, und es iatschoti anerkennenswert;' (iaßeie diesmal ihren Winterschlaf unterbricht, um den ermüdenden Rund- gang durch die Theater Wiens, den sie sonst nur zu Beginn der Saison tut, anzutreten. Aber die sieben Schwaben wagen sich nur mit vorgehaltenem Regent schirm an den Feind und sind gewiß wieder mit eilji wenig Preßlärm zu verscheuchen. Im riesigen Sophien- Saal, der beinah so viel Leute faßt, wie bei einer. au^ brechende« Panik ;getötet'J%iät^en, fiödfet/;d^'»Con^

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cordiaball« statt. Es muß nicht angenehm sein, bei den Klängen eines Wein berger'schen Walzers zu ster- ben, und wenn auch die Menschen, die sich auf einem Concordiaball zusammenfinden, so ziemlich die wert- loseste Schichte der Wiener Gesellschaft repräsentieren, so gebietet doch die Pflicht der Humanität, auch die Beschaffenheit des Sophiensaales, der weitaus panik- fördernder ist als der Musikvereinssaal, behördlicher Aufmerksamkeit zu empfehlen. Aber in den Wiener Redaktionen wurden säratUche Zuschriften, in denen dies gesagt war, in den Papierkorb geworfen. Und die Wiener Vorstadttheater? Der fromme Glaube, daß Preikartenbesitzer nicht verbrennen können, bestimmt hier die Maßnahmen der journalistischen Feuerpolizei. Aber die Herren scheinen ganz vergessen zu haben, daß es auch ein zahlendes Publikum gibt, dem trotz Herrn Karezag und der himmlischen Vorsehung vor den Gallerien des Theaters an der Wien bange wird. Der Ausschuß des Bezirkes Josefstadt erklärt, jede Ver- antwortung für das Unheil, das der seit mehr als hundert Jahren zwischen Zinshäusern eingekeilten Theater- baracke entströmen könnte, abzulehnen. Sofort sind die Brandreporter mit der Dementierspritze zur Stelle, und irgend ein Theaterlöwy depeschiert in alle Welt, der »Wiener Antisemitismus« wolle die Axt an ein blühendes Unternehmen legen. Eine Aufsichts- behörde, die bei Zeitungsgeräusch nicht scheu wird, hätte und dies lange vor Chicago die Sperrung . des Josefstädter sogut wie des Carltheaters und desr Theaters an der Wien verfügen müssen. Mit Recht ist man jetzt, da sie viel weniger einschneidende Maßnahmen verlangt, über sie entrüstet. Seit Jahren prüft sie bei Saisonbeginn und findet, wie's in den Zeitungen zu lesen steht, »alles in vollster Ordnung«. Plötzlich ergibt sich die Notwendigkeit, da und dort . etwas an einem Ausgang zu flicken, und das Publi- | kum, das nach der zweihundertsten Aufführung des] »Rastelbinder« lechzt, zu beunruhigen. Vom Herbst ab, '

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so wird versprochen, wollen wir für eure Sicherheit sor- gen, bis dahin könnt ihr den leisesten Anlaß zu einer Panik benützenl Ist das nicht die frivolste Sicherheitspolitik, die sich denken läßt? Sofortige Sperrung der drei Buden würde allem Bangen ein Ende machen. Nicht einen Tag länger dürfte behörd- liche Gewissenhaftigkeit das Publikum der furcht- baren Erwartung des nun einmal an die Wand ge- malten Übels überlassen. In Berlin hat der hurtige Wilhelm, der sich eben nicht einmal von einer Theater- katastrophe den Vorrang der Plötzlichkeit ablaufen lassen will, die Schließung seiner Oper unter dem geschmackvollen Motto verfügt: »Lieber soll's eine Million kosten, als daß auch nur ein Statist ver- brennt!« Warum wird unserm Kaiser nicht nahe- gelegt, mit Rücksicht auf die vierte Gallerie des Burgtheaters und die Parkettausgänge der Oper ähnliche spontane Entschlüsse zu fassen ? Warum hat die Theaterlandeskommission nicht den Mut, gegen die drei alten Wiener Vorstadtbühnen pietätlos zu ^sein? Die kleinen Sicherheitsmittelchen, die jetzt ver- ordnet werden, beseitigen des Übels Wurzel so wenig wie Salben den Krebs, und sie verschlimmern nur jene Gemütsverfassung des Publikums, welche der Nährboden einer Theaterkatastrophe ist. »Nicht Mandragora noch alle Schlummerkräfte der Natur verhelfen je dir zu dem süßen Schlaf, den du noch gestern hattest 1«. Das Publikum i§t aufgestört. Es wird bei den Texten Viktor Leon's kein Auge mehr schließen können. Es weiß, daß die drei alten Bühnen schon durch ihr Dasein den denkbar schärfsten Wi- derspruch gegen die baupolizeilichen Bestimmungen bilden, wonach Theatergebäude nach allen Seiten frei stehen müssen. Und zwei davon stehen nicht einmal an der Straße, sondern sind durch angebaute Häuser davon abgesperrt. Wer malt die Verheerungen, die hier eine Panik bereiten wird? Sollte man es, fragen mich Leser, für möglich halten, daß Theaterge-

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bäude mit derart schmalen und elenden, mehreren Gallerien gemeinsamen Stiegen alljährlich für benutz- bar erklärt wurden? Wird sich die für die Sicher- heit des Publikums verantwortliche Kommission auch weiterhin durch die Spiegelwände der von Zeit zu Zeit auf den Glanz hergerichteten Foyers blenden lassen? Wird man endlich einsehen, daß die schönen Vestibüle bloß den Zweck haben, die Leichen der Theaterbesucher zu bergen, welche auf Stiegen, die nicht drei Nebeneinandergehenden Platz bieten, er- drückt wurden? Und diese Galleriegarderoben ! >Man erinnere sich«, heißt es in einer Zuschrift, »daß einige Leute, die ihre zwei Sous durchaus zurückerhalten wollten, den ans Tageslicht hinaufdrängenden Menschen- strom auf dem Bahnhof der Pariser Untergrund- bahn stauten. Es brauchen sich gegebenen Falls im Carltheater oder im Theater an der Wien nur ein paar männliche oder weibliche ,NigerP zu finden, die ihre ,G'luft' verlangen, und das Er- gebnis wäre das gleiche.« Bringen diese schauder- vollen Garderoben auch an brandfreien Theater- abenden den ruhigsten Besucher in Raserei, sie würden im Fall einer Panik zu unheilvollsten Hin- dernissen werden.

Anfang Juli 1900 habe ich ein Bild der Wiener Indolenz entworfen, das gerade heute die Leser, zumal die neu nachgerückten, ansprechen wird. Wie damals die Theaterlandeskommission vor der Presse, die sich gegen den Verlust des Operettenterminmarktes wehrte, zurückgewichen ist, die Schilderung vom Sündenfall österreichischer Autorität, ist jetzt von aktuellstem Interesse. Ich schrieb in Nr. 46:

». . . . Es handelt sich um eine Komödie, über die noch nach Schluß der Saison referiert werden mußte. Die Theater sind geschlossen, aber dieTheaterlandeskommission hatte zu spielen begonnen, und da ihr Spiel mit der Sicherheit des Publikums, mit der Existenz von Bühnenleuten einen vollen Monat währte, so gab's alle Hände voll zu tun. Wenn ich von Händen spreche

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so will ich sagen, daß die Theaterjournalisten mit Erregung, mit der bei ,großen' Premieren der Saison gehm^habten, ihres Amtes walteten. In solcher Gemütsverfassung vergaßen sie freilich, die Leser über Tendenz und Wesen der aufgeführten Komödie zu unterrichten. Sie warfen das Wort ,Theaterlandeskommission' in die Debatte und überließen es dem Publikum, sich über seine Bedeutung klar zu werden. Und das Publikum ging mit dem Eindruck nachhause, jene Theaterlandeskommission sei ein zum Schutz einer gewinnsüchtigen Librettistenclique geschaffenes De- partement der niederösterreichischen Statthalterei. Wie es kam, daß dieser Eindruck schließlich auch die richtige Beurteilung der Komödie enthielt, will ich in raschen Zügen zu erklären versuchen. Anfang Juni erwachte die sogenannte Theaterlandeskom- mission aus ihrem Schlafe, der nicht einen, sondern recht viele Winter gedauert hatte. Die ältesten Theaterbesucher erinnerten sich ihrer Existenz nur aus jenen Tagen, da sie nach den Bränden des Ring- und Stadttheaters zur nachträglichen Beruhigung des Pub- likums in flüchtigen Sitzungen zusammengetreten war. Ein Theater nach dem andern brannte ab, aber wir hatten die Genugtuung, daß nicht nur ,Alles gerettet', sondern auch die Theaterlandes- kommission uns unversehrt erhalten war. Seit Jahrzehnten be- schäftigt sie sich damit, für die noch nicht von einer Katastrophe ereilten Theater Wiens bauliche Adaptierungen zu .verlangen'. Und in diesem oft geäußerten, nie gestillten Verlangen ward sie fast sentimental. Nie hat sie sich sie ist ja eine österreichische Behörde bis zu jener seelischen Höhe verstiegen, die man Energie nennt, und wenn sie eines Morgens aus den Zeitungen von einem großen Feuerbrand erfahren hätte, der an der Wien oder in der Praterstraße gewütet, so hätte sie erstaunt gerufen: ,Seht ihr, ich habe es immer prophezeit', und wäre mit der heim- lichen Sehnsucht nach baulichen Adaptierungen wieder ein- geschlafen. Neulich erfuhr sie, daß zwei der ältesten Wiener Theatergebäude ihre Besitzer wechseln sollen. Herrn v. Jauner, den Branddirektor, hatte sie im Carltheater, Frl. v. Schönerer im Theater an der Wien wirtschaften und abwirtschaften lassen. Pietätvoll hatte sie jenem, dessen Brandroutine ihrem Laienurteil zweifellos über- legen war, nachsichtig hatte sie der Directrice, die wohl hohe Protektion besaß, nicht ins Handwerk pfuschen wollen. Und in

der Tat: künstlerisch und finanziell waren die beiden Theater zusammengekracht, die morschen Gebäude standen. Nun ward ein Wechsel der Besitzer angekündigt ; es wäre die Zeit gewesen, artig und in Ruhe ,bauliche Adaptierungen zu verlangen'. Statt dessen ließ unsere vortreffliche Kommission die neuen Männer alle Vor- bereitungen für die neue feuergefährliche Aera treffen, alle Engage- ments abschließen und das Publikum mit verheißungsvollen Zeitungsnotizen verlocken. Als aber die neuen Schauspieler sich den neuen Direktoren, diese sich den neuen Eigentümern ver- pflichtet und alle Brücken für ein künstlerisches und materielles Fortkommen hinter sich abgebrochen hatten, begann sich die Theaterlandeskommission mit einem Male zu räkeln, rieb sich den Schlaf von Jahrzehnten aus den Augen und schrie den vor Schreck erstarrten Theaterleuten die Frage entgegen, warum man sie nicht früher geweckt habe. Der Wunsch, alles Versäumte nachzuholen, gab ihr die lange vermißte Energie wieder, und mit Stentorstimme sprach sie das Verlangen nach baulichen Adaptierungen aus.

Diesmal forderte sie, und so dezidiert, daß alles, was in Wien an Theaterfragen interessiert ist, mit Zittern und Bangen der kommenden Saison entgegen sah. Man begann nämlich die Theaterlandeskommission ernst zu nehmen. DieVernünftigen freuten sich der neuen Tatkraft und fanden es ganz natürlich, daß eine Behörde, wenn auch spät genug, Maßnahmen für die körperliche Sicherheit des Theaterpublikums zu treffen gewillt ist. ,Niederreißen!' zu dieser Parole hat sich längst die Pietät für die zwei alt- berüchtigten Menschenfallen : Carltheater und Theater an der Wien bekehrt. Wer je mit Schaudern daran gedacht hat, daß die alten Operettenschätze durch den Einbruch jener Horde von tantiemen- gierigen Redakteuren verwüstet wurden, der hat auch mit Schaudern an die Möglichkeit gedacht, beim Anhören eines Librettos von Landesberg oder Stein und einer Melodie von Weinberger des gräßlichen Feuertodes zu sterben. Offenbach's reizvolle , Hoffmanns Erzählungen', bei deren zweiter Darstellung das Ringtheater in Flammen aufging, wurden in Wien seit jenem Abende nicht mehr gespielt. Wollten wir's so weit kommen lassen, daß der Theater- aberglaube uns auch die Werke unserer Bauer, Leon, Buchbinder und Landesberg entrückt? Die Kommission stellte Bedingungen, deren Erfüllung mit dem Niederreißen der alten Gebäude identisch

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war. Bis zum Aufbau der neuen konnte sich die Operette erholen Längst war ein autoritativer Befehl herbeizuwünschen, der die Produi<tion etwa mit dem Jahre 1885 abschlöße und das Anfertigen von Libretti in Wiener Redaktionen bei Strafe der Ausweisung des Autors in die jeweiHge ungarische Heimalsgemeinde verböte. Nun waren's die Einsichtigen zufrieden, daß die Reform der Vor- stadtbühne wenigstens vom Architekten angebahnt werden sollte. Was aber taten die Operetten] obber? Wenn das Börsengebäude vor der Demolierung stünde, die beteiligten Kreise würden den Markt in die benachbarten Kaffeehäuser verlegen. Unsere Librettisten brauchen ihr Haus. Und so geberdeten sie sich, da der Wille der Kommission ruchbar wurde, wie eine Mutter, der man ihr Schmerzenskind entreißen will.

Da die Herren insgesamt in Redaktionen sitzen, so war die Stellung der liberalen Presse in diesem Kampf um einen von feindlicher Macht bedrängten , Platz' von vornherein gegeben. Die Theaterlandeskommission wurde ob ihrer bisherigen Lethargie belobt, ihr erster Versuch zur Tatkraft mit hohnvoller Empörung zurückgewiesen. Es war ein ganz merkwürdiges Schauspiel. Manchmal mußte man sich fragen, für wen da eigentlich gekämpft, in wessen Interesse diese gesträubten Federn geführt werden. Dienen sie den Wünschen des Publikums, das gläubig und in fast hypnotischer Verzückung jedem ihrer Züge folgt? Nein; denn dieses Publikum ist doch berufen, in den Theatern, deren Rekon- struktion sich die Journalistik tapfer widersetzt, zu verbrennen. Also verrichten sie Arbeit im privaten Wirkungskreise, indem sie schnöde Interessen des materiellen Eigennutzes vertreten? So muß es wohl sein. An der ununterbrochenen Existenz der beiden Theater haben ausschließlich die Parasiten ihrer Tanti^men- kassen ein Interesse. Heuchlerisch verbrämen sie die selbstgesuchten, selbstsüchtigen Argumente mit jener ranzigen , Pietät' für die ehr- würdigen Kunststätten, die man nicht dem Verfall preisgeben dürfe. Aber was sonst hat den Verfall dieser ehrwürdigen Kunst- stätten — lange vor dem Wunsch der Theater komm ission zur Tat gemacht, als dieses schuftige Kartell journalistischer Unterhändler, das von den Direktionen durch kritische Bedrohung jahraus jahrein die Annahme seiner elenden Stücke erpreßte? Wer sonst als diese klebrigen Kulissiers, die gestikulierend

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heute im Zwischengang des Parketts die Theaterkurse ausmachen und morgen vor der Rampe als beseligt lächelnde Autoren erscheinen? Die Leiterin des Theaters an der Wien hat, von dieser Bande vollständig ausgeraubt, in einer Anwandlung von Ekel ihrem Amte entsagt. Herrn v. Jauner im Carltheater drückten die Herren eines Tages ihren Revolver in die Hand. So starb die Operette. Wenn jetzt die alten Mauern, hinter denen sie einst gelebt und Generationen erfreut, fallen sollen, so ist es wahrlich kein Anlaß, Trauer anzulegen.

Ich will zugunsten der Herren annehmen und soweit sind sie sich auch ihrer Verantwortlichkeit bewußt , daß nicht die bloße Aussicht auf eine Serie von Sensationsberichten für den Fall eines Theaterbrandes ihren Standpunkt in dieser Frage be- stimmt hat. Der Wunsch nach Erhaltung zweier gefährlicher Ruinen ist zur Ehre der Wortführer unserer öffentlichen Meinung sei es gesagt lediglich dem Selbsterhaltungstriebe entsprungen. Wien könnte sich eine Zeitlang ohne Operettenbühne durch- fretten, aber in dem Budget seiner kritischen Berater würde der entfallenden Post »Tantiemen' die finanztechnisch gesprochen »Bedeckung' fehlen. Das Publikum mag sehen, wie es bei aus- brechender Panik durch die engen Korridore des Theaters an der Wien ins Freie gelangt; die Kritik hat auf ihren von allen Seiten freien Plätzen nichts zu fürchten ....

Aber wenn man so die unwürdigsten Schmierer für ehr- würdige Kunststätten, wenn man die Zerstörer aller Tradition für die Erhaltung eines Kunstgenres sich ereifern sah, so durfte man darum nicht glauben, daß sie bloß in eigener Sache die Feder führten. Auch die Kapitalistenkonsortien, die an der kostenlosen Übernahme der beiden Bühnen interessiert sind, mußten jeden Auttrag der Theaterkommission als einen argen Strich durch die eben abgeschlossene Rechnung empfinden. Und wann hätte sich unsere Presse geweigert, den Wünschen einer kapitalskräftigen Gruppe, deren Interessen zum Überfluß noch den eigenen parallel liefen, als Sprachrohr zu dienen? Eine der beiden alten Bühnen

oh über die dreimalig geheiligte Tradition eines Kunstgenres!

geht in den Besitz des Prager Kattundruckers Kubinzky und jenes Herrn Simon über, der einst in Prag Holzhändler war und nun mit der alten Sehnsucht nach Brennmaterial sich für das

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Theater an der Wien zu interessieren begann. Hier gab's mit Aussicht auf ein gutes Trinkgeld gerechte Ansprüche zu vertreten, und Herr Juh'us Bauer, dem die Aufführungsmöglichkeit seiner jährlichen Operette da gibt's gar nichts zu lachen ! eine ernste Lebensfrage bedeutet, ging mit gutem Beispiel voran, indem er Herrn Simon als ,Wiener Patrizier' lancierte.

Mit jenem gewissen Geschrei, das bei uns von altersher unbotmäßige Behörden einschüchtert und das an einem unseligen Tage auch die Aufhebung des Zeitungsstempels durchgesetzt hat, stürzte sich die Rotte der für ihre Domänen besorgten Merkantil- literaten und Buchmacher auf die Theaterkommission, und wie sonst oft in Fragen des öffentlichen Interesses, so konnte man auch diesmal die strammsten Antisemiten mit den prononciertesten Herren von der Schachergilde an einem Strange ziehen sehen. Das , Deutsche Volksblatt', das als einziges Gegengewicht zu seinen verdächtigen Bankinseraten eine verschwenderische Fülle von anti- korruptionistischen Ausrufungszeichen hinter verdächtigen Eigen- namen bietet, hat in der Frage des Advokatenwuchers den Herren vom ,Barreau' treue Gefolgschaft geleistet. Und da es in der Theaterfrage zwischen einer Gefahr für das Leben der Wiener Theaterbesucher und einer für die Taschen der Herren Kubinzky (!) und Simon (!) zu wählen galt, hat sich das Blatt keinen Moment besonnen, welcher von beiden Gefahren im öffentlichen Interesse kräftiger zu wehren sei. In einem langen Artikel klagte es am 6. Juni über die Begehrlichkeit der Kommission, deren Verfügungen ,einen Sturm des Unwillens' in Wiener Theaterkreisen erregt hätten, dem sich ,eine gewisse Berechtigung' nicht absprechen ^ieße. Es sehe zwar selbst ein, daß die beiden Häuser ,den idealen Anforderungen an ein modernes Theater nicht entsprechen'. Aber da die Kommission so viele Jahre untätig dem alten Schlendrian zugesehen, so dürfe sie sich jetzt nicht einer so »krassen Inkon- sequenz' schuldig machen . . .

Zum Schlüsse bittet der wackere Antikorruptionist ,um Rücksicht auf die wirtschaftlichen Interessen der Männer, die es gewagt haben, in den beiden fraglichen Theatern Wien zwei Kunstinstitute erhalten zu wollen', also vor allem der Herren Kubinzky (!) und Simon (!)...

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Die Theaterbehörde hatte Feuerlärm geschlagen. Daß es ein blinder war, hat kein Kenner der beiden Örtlichkeiten, wofern er nur uninteressiert und aufrichtig ist, zu behaupten gewagt. Aber daß es Lahme waren, die das Signal gegeben, sollte sich nur zu bald erweisen. Ich hatte keinen Moment an die Entschlossenheit dieser Kommission geglaubt, nur an ihre Ungeschicklichkeit, die sie voreilig Befehle aussprechen ließ, deren Ignorierung sie nach- träglich kompromittieren muß. Die ganze Energie war nichts als Theaterfeuer, und die Interessentengruppen haben einen Erfolg aufzuweisen, der sie selbst noch mehr überraschen dürfte als jene, die so naiv waren, einer Theateraufsichtsbehörde Sorge für die körperliche Sicherheit der Theaterbesucher zuzumuten. Jetzt sehen wir, daß sie nicht dazu erschaffen ward, das Gefühl der Sicherheit zu mehren, sondern: ein Gefühl der Unsicherheit zu erzeugen. Daß das Carltheater und das Theater an der Wien lebensgefähr- liche Orte sind, haben bisher so manche schon gefühlt, aber sie konnten nichts dagegen tun. Klar ausgesprochen hat es erst die löbliche Theaterkommission, die auch nichts dagegen tut. Ein beschämenderes Schauspiel ward seit langem nicht der Öffentlich- keit geboten, und weit mehr als die kecke Resolution eines Stadt- rates in Sachen Heine könnte uns das zage Zurückweichen einer Landesbehörde vor dem Gekläff einer feilen Presse und vor den Wünschen etlicher einflußreicher Geldmänner im ,Ausland' kom- promittieren.

Eine Behörde hat die Öffentlichkeit allarmiert, indem sie unter fachmännischem Beirate den Zustand zweier großer Schau- spielhäuser als eminent sicherheitsgefährlich bezeichnete und den vollständigen Umbau als die einzige Bedingung der Spielerlaubnis gelten lassen wollte. Auch die Opemredouten konnten durch zwanzig Jahre .anstandslos' abgehalten werden; als aber irgend ein bis dahin unbekannter Architekt im Wege der Zeitung auf ihre Gefährlichkeit hinwies, zögerte das Hofamt nicht, die Faschings- freuden ein für allemal aus den geräumigen Hallen des Opem- gebäudes zu verbannen. Jetzt hat eine Staatsbehörde ihr Machtwort gesprochen, und sie steht nicht an, es sofort zurückzuziehen, da sich die Herren Kubinzky und Simon ungehalten zeigen und die Herren Bauer und Landesberg eine Schmälerung ihres jährlichen Einkommens befürchten. Etliche geringfügige ,Adaptierungen', die

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von den Besitzern großmütig zugestanden werden, solkn der Landesbehörde die Schmach völliger Demütigung ersparen, sollen das Publikum über die nun einmal ins Land gerufene Gefahr beruhigen. Es gibt indes nur einen Ausweg: Das Publikum wird die beiden Stätten, die mit ämtlicher Genehmigung wieder ehr würdig sein dürfen, meiden, so daß die Möglichkeit einer Panik auf das von der Behörde gewünschte Minimum reduziert sein wird.«

Ein Theater sperren ist immer nützlicher als eines eröffnen, und von dem kulturellen Moment ab- gesehen, muß man bloß an die Zahl der Neugrün- dungen denken, welche die Brotlosigkeit so erhebhch steigern halfen. Schreckt uns die Perspektive, daß wir uns ein Jahr ohne »Göttergatten« und »General- konsul« durchfretten müßten? Die Journaille fühlt antisozial, da sie dem Gewinst ihrer Operetten- jobber die Sicherheit des Publikums opfert. Gewiß würde der sozialer fühlen, der die Sorge um das Leben der Theaterbesucher über die Sorge um das wirt- schaftliche Wohl des in der Saisonmitte obdachlosen Bühnenpersonals stellte. Aber die »vis major« wäre fühl- los, wenn sie nicht beiden Rücksichten zugleich genügen könnte. Es kann gar nicht davon die Rede sein, daß Staat und Stadt nicht die Pflicht hätten, dem Theater- direktor, den die Sperrung des Theaters der Schuldig- keit gegenüber den Angestellten entbindet, die Mittel an die Hand zu geben, allen Ansprüchen bis zur Erbauung des neuen Hauses gerecht zu werden, und die Errichtung sicherer Betriebsstätten müßte selbst durch Zufluß aus öff'entlichen Mitteln ge- fördert werden. Ein Staat, der durch Jahrzehnte seine Pflichten gegen die Sicherheit seiner Bevölkerung vernachlässigt hat, ist, wenn ihn späte Einsicht zur Sperrung eines Theaters zwingt, mindestens verpflichtet, den Schauspielern die Gagen zu bezahlen. Man erhebe ein paar Wucherer in den Adelsstand, und die Kosten sind hereingebracht. Vielleicht kann man dann auch Herr v. Koerber wird sich gewiß nicht sträuben

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den Journalisten die vorläufig entfallenden Tantiemen erstatten. Der Wohltätigkeit sind keine Schranken gesetzt. Wie immer aber der Staat über seine Regreß- pflicht denken mag, es geht nicht an, sich über amerikanische Fahrlässigkeit das Maul zu zerreißen und drei alte Angstherbergen, neben denen das Iroquois- theaterals ein Vorbild der Sicherheit erscheinen mußte, im Vertrauen auf das Glück des dummen Kerls von Wien einem neuen Jahrhundert zu erhalten. Die Ein- sperrung des Direktors Jauner nach dem Ringtheater- brand war ein Schwabenstreich der irdischen Gerechtig- keit, der sich an den heutigen Direktoren der Vor- stadtbühnen wiederholen wird, wenn wieder einmal die Schuld höherer Faktoren Menschenopfer fordern sollte. Aber das Übel, das abgewendet werden kann, ist heute so klar erkannt, so deutlich in den Protokollen der Theaterlandeskoramission bezeichnet, daß vielleicht doch für den Ernstfall eine Überraschung zu gewär- tigen ist und wir statt der unschuldigen Theater- pächter den Minister des Innern und den Statthalter auf der Anklagebank sehen werden.

Wucher.

Das naive Zeitalter eines Kürnberger hat von der Revolution geträumt, die in Österreich kommen werde, wenn einmal die Gesetze angewendet würden. Aber kindlich wie der Glaube an den großen sozialen Kladderadatsch erscheint uns Abgeklärten solcher Chiliastenwahn. Auf einen österreichischen Zukunftsstaat der Gesetzlichkeit hoffen wir nicht, und wer hätte den Zukunftsstaat österreichischer Ge-

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setzlichkeit zu fürchten! Würden Österreichs Ver-' waltungsgesetze, an die Kürnberger dachte, dereinst angewendet, so werden es Österreichs Verwaltungs- behörden sein, die sie anwenden. Und sollten öster- reichische Verwaltungsbeamte die Gesetze anders an- wenden als österreichische Richter? Wem hülfe es, wenn künftig hierzulande »nach bestem Gewissen« nicht bloß geurteilt, sondern auch verwaltet würde, da doch das »beste Wissen« ebenso von Verwaltungs- bearaten wie von Richtern Paragraphen-Kenntnis ist und tiefe Unwissenheit vom Leben! Heute können wir uns über den Unsinn der Verwaltung noch mit dem Gedanken trösten, daß er ungesetzlich ist. Aber trostlos ist es, daß der Sinn der Gesetze in den Ge- richtssälen zur Unvernunft wird: wir haben ein Wuchergesetz, und unsere Gerichte handhaben es zum Schutze der Wucherer.

Zwei Arten von Prozessen sind bei den Wiener Ge- richten die zahlreichsten : Die Wucher- und die Ehren- beleidigungsprozesse. Man kann daraus schließen, daß zwei Klassen von Menschen in Wien die zahlreich- sten sind: Die Bewucherten und die Leute mit einer ramponierten Ehre. Die österreichische Rechtspflege aber besteht darin, daß die Männer mit der schad- haften Ehre in unseren Gerichtssälen regelmäßig als Kläger auftreten, während die Bewucherten die Rolle von Angeklagten zu spielen haben. Als im Mai 1881 das Wuchergesetz erlassen ward, da dachte man, nun würden die Wucherer einer nach dem andern vor das Strafgericht gezogen werden. Und seither er- scheinen die Wucherer auch wirklich ohne Unterlaß vor den Strafgerichten, als Zeugen, als Privatbe- teiligte, Schutz gegen ihre Opfer heischend. Zu den sechs Monaten bis zwei Jahren strengen Arrests, die auf gewerbs- oder gewohnheitsmäßigen Wucher gesetzt sind, hat es noch keiner von ihnen gebracht, aber viele sind den Richtern als Gewohnheitszeugen wohlbekannt; als Zeugen in Prozessen, die freilich

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von den Gerichten nicht als Wucherprozesse geführt, von den Zeitungen nicht Wucherprozesse genannt werden : angeklagt ist ein heruntergekommener Lebe- mann, der Wechsel gefälscht oder Juwelen heraus- gelockt hat, und der Inspirator des Staatsanwalts ist ein Wechseleskompteur oder Juwelier, dessen kauf- männische Ehrbarkeit sich besonders wohltuend abhebt von dem skrupellosen Leichtsinn des verlumpten Aristokraten. Triumphierend verläßt der solide Kauf- mann den Gerichtssaal: er hat wieder einmal durch das Strafgericht an einem zahlungsunfähigen Opfer ein Exempel statuieren lassen. . . Gibt es aber, so könnte ein ahnungsloser Zeitungsleser fragen, in Wien nicht auch wirkliche Wucherprozesse solche, in denen Wucherer verurteilt werden? Und ein ahnungsloser Wiener Strafrichter würde in gutem Glauben ant- worten: gewiß; jüngst erst hat sich der Prozeß Pajor abgespielt, und hat nicht ein christlichsoziales Blatt den Gerichtssaalbericht unter dem Titel »Das Haupt einer jüdischen Wucherkompagnie« veröffentlicht? Dieses »Haupt« war ein kleiner Geldagent, der Zu- treiber von Wucherern; er wurde verurteilt wegen Schädigung der Wucherer: Um sich eine Provision herauszuschlagen, hatte er unwahre Angaben des Geldnehmers vor den Geldgebern bestätigt. Jetzt hat ein bürgerliches Strafgericht den Wucherern Genug- tuung an ihrem ungetreuen Bediensteten verschafft, und das Militärstrafgericht wird den Leutnant Inaudy wegen Wechselfälschung abtun. . .

Wenn aber die österreichischen Richter es einmal satt werden sollten, die Schergen der Wucherer zu sein, so brauchen sie, um zu einer wirksamen Hand- habung des Wuchergesetzes zu gelangen, nur die typischen Aussagen der meisten Wechselfälscher mit- einander zu vergleichen. Wer nicht schon aus der Tatsache, daß gefälschte Wechsel fast immer Wucherer- wechsel sind, Erkenntnisse über die Technik des Wuchers zu schöpfen vermag, den müßte es wenig-

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stens stutzig machen, daß immer wieder der Fälscher den Ankläger den »Beschädigten« seinerseits der Verleitung zur Fälschung anklagt. Und wirft man ernsthch die Frage cui bono? auf, so läßt sicli nicht verkennen, daß die Fälschung der Absicht nach zum Nutzen des Wucherers und zum Nach- teil des Bewucherten stattfand. Aller Scharfsinn des Wucherers ist darauf gerichtet, es dem Därlehens- werber unmöglich zu machen, daß er bei Fälligkeit der Schuldurkunde den Einwand des Wuchers erhebe. Das primitive Mittel, bei mäßigen Zinsen hohe Pro- visionen für vorgeschobene Mittelsmänner zu ver- langen, verfängt auch bei österreichischen Richtern nicht immer mehr. Der Wucherer muß also weiter gehen und den Kreditnehmer zu unsittlichen oder strafbaren Handlungen drängen, um sich den Raub zu sichern. Häufig genügt ein Ehrenwort, bei minder- jährigen Schuldnern oft die Suggestivfrage: Sie sind natürlich großjährig? und die Mahnung, daß die Ver- schweigung der Minderjährigkeit ein Betrug wäre.*) Aber wo große Summen auf dem Spiel stehen, ist das Kavalierswort dem Wucherer eine zu unsichere Bürgschaft; er braucht ein Pressionsmittel, das nicht versagen kann. Und das darf nicht weniger als ein Verbrechen des Schuldners sein. Ein Wechsel

*) Freilich macht sich nach § 15 des Wuchergesetzes einer Übertretung schuldig, >wer sich von einem Minderjährigen oder von einer Person, für welche die Nichteinhaltung einer unter Ehrenwort übernommenen Verpflichtung die Strafe des Verlustes ihrer Dienstes- stellung zur Folge haben kann, die Erfüllung der Verpflichtung aus einem Kreditgeschäfte unter Verpfändung der Ehre, eidlich oder unter ähnhchen Beteuerungen versprechen läßt<. Aber der Minderjährige wäre' nur dann wirklich geschützt, wenn man unter >ähnlichen Beteuerungen« auch die Behauptung der Großjährigkeit subsumieren, ihn dafür den Fall natürlich ausgenommen, daß er Geburlsdokumente fälscht straf- los und den Wucherer in jedem Fall für strafbar erklären würde, in dem er sich über die Volljährigkeit, wenn sie nicht völlig zweifellos war, nicht dokumentarische Gewißheit verschafft hat. Vollends wertlos ist der Schutz derjenigen, bei welchen der Bruch des Ehrenworts dert Verlust ihrer Dienstesstellung zur Folge haben kann. Dieser Schutz

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auf 10.000 Kronen, der für ein Darlehen von 500 Kronen ausgestellt wurde, ist mit dem besten Giro nicht mehr als 500 K wert; droht am Verfallstag nicht der Aussteller des Wechsels mit dem Strafgericht, so ist zehn gegen eins zu wetten, daß es der Girant tun wird. Hat aber der Schuldner das Giros einer ihm nahestehenden Person gefälscht, so braucht der Wucherer nichts zu be- sorgen; vorausgesetzt natürlich, daß entweder der Schuldner selbst zahlungsfähig ist oder wenigstens der Girant und daß dieser sich dem Druck, den die Dro- hung mit der Strafanzeige gegen den Wechselfälscher ausübt, nicht zu entziehen vermag. Alle Schhche werden deshalb aufgeboten, um dem Schuldner die Fälschung eines Giros zu suggerieren. Und der Leicht- fertige tut endlich, was, wie er wohl weiß, der Wunsch seines Gläubigers ist; er zweifelt nicht daran, daß er keineswegs etwa den Wucherer irreführt, sondern daß vielmehr der Wucherer, indem er ihm das Odium der angeblichen Irreführung auf lastet, an ihm eine Erpressung ausübt. Wer diesen Hergang erfaßt, wird die Fälle der Fälschung von Wuchererwechseln, die vor das Strafgericht gelangen, ganz anders beurteilen^ als österreichische Richter pflegen. Billigt man dem Schuldner den guten Glauben an die eigene Zahlungs- fähigkeit oder an die Zahlungsfähigkeit und Zahlungs- willigkeit desjenigen zu, dessen Namen er als Giranten

kann höchstens dem gänzlich verkommenen Offizier nützen, der mit der Drohung, ihm sei alles eins und er lasse sich kassieren, um nur den Wucherer in den Arrest zu bringen, nicht bloß den Wucherzinsen ent- geht, sondern den Gläubiger auch um das bar Hingegebene prellt. Der verschuldete Offizier aber, der noch moralischen Halt besitzt und für die Armee gerettet werden sollte, kann das ihm abgerungene Ehrenwort niemals gegen den Wucherer geltend machen; er wird zahlen mehr, als er kann oder sich niederschießen, aber der Wucherer ist gewiß, daß die Standesmoral seines Opfers höchstens mit dem Armee- Revolver als Waffe gegen den eigenen Leib und niemals mit Geselzesparagraphen operiert, die zum allgemeinen Wohl die individuelle Unmoral ausdrück- lich gestatten. Offizieren und Staatsbeamten kann auch das beste Wucher- gesetz nicht helfen, sondern lediglich eine staatliche Organisation ihres Personalkredits. Anm. des Verf.

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auf den Wechsel gesetzt hat, so ist seine Handlung zwar unethisch unethisch besonders gegenüber dem unwissenthch zum Giranten Gemachten , aber nicht dolos, nicht strafgesetzlich faßbar; zwischen dem Wucherer und dem Darlehensnehmer, der ihn nicht getäuscht hat und nicht schädigen wollte, be- steht bloß ein zivilrechtliches Schuldverhältnis. Das Strafgericht aber hat sich an den Wucherer zu halten: sei es, daß er wegen Verleitung zur Fäl- schung, beziehungsweise, weil er den Wechsel weiter- begeben hat, obwohl ihm die Fälschung des Giros bekannt war, wegen Mitschuld zu bestrafen ist denn eine Mitschuld des Wucherers liegt, so seltsam es klingt, vor, wenngleich keine strafrechtliche Schuld des Bewucherten besteht , sei es, daß man ihn nach § 2 des Wuchergesetzes aburteilen will: der Wechsel mit dem falschen Giro könnte, ohne daß man dem Sinn des Gesetzes Gewalt antut, als eine zur Verdeckung eines Wuchergeschäftes errichtete »Urkunde, welche unwahre Umstände enthält« auf- gefaßt werden. Mögen die Gerichte indes das Urteil, wie immer sie wollen, juristisch konstruieren, zweifel- los ist der Tatbestand: daß der Wucherer die An- zeige wegen Fälschung nicht erstattet, damit die

ihm wohlbekannte Fälschung bestraft werde, sondern daß er dem Strafgericht zumutet, den Schuldner für seine Zahlungsunfähigkeit zu bestrafen

die eine zivilgerichtliche Angelegenheit ist und für die Weigerung des als Giranten Bezeich- neten, zu zahlen, eine Weigerung, welche nichts als das Scheitern eines vom Wucherer begangenen Erpressungsversuchs bedeutet. Gerichte, die bei sol- chem Tatbestand den Wechselschuldner wegen Fäl- schung verurteilen, handeln nach einer Abschreckungs- theorie, die eigens von den Wucherern erdacht zu sein scheint; denn sie schrecken bloß Väter, Ver- wandte oder Freunde, deren Namen von einem leicht- sinnigen Burschen mißbraucht wurden, davon ab, die

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Forderungen des Wucherers zurückzuweisen und gegen ihn die Gerichte anzurufen. Sie sanktionieren durch strafgerichthches Urteil die Überzeugung der Wucherer, daß das Wuchergesetz nur gegen die Dummen, die es nicht zu umgehen wissen, das all- gemeine Strafgesetz aber für die Gescheiten ge- schaffen wurde, die, wo ihre schmutzigen Hände nicht hinlangen, Frau Themis zu bereden verstehen, daß sie mit dem Schwert dreinschlage.

Die Schöpfer des Wuchergesetzes haben sicher- lich nicht geahnt, wie es in der gerichtlichen Praxis angewendet werden würde. Wenn es aber heute bei dem Stillstand unserer Gesetzgebung das Wich- tigste ist, die Handhabung der Gesetze zu kritisieren, so darf doch auch nicht verschwiegen werden, daß jeder besseren Absicht, den Wucher zu bekämpfen, ein grundschlechtes Gesetz von allem Anfang an Zaum und Zügel angelegt hat. Die Tage liberaler Herrlichkeit waren kaum erst entschwunden, als man nach reichsdeutschem Muster in Österreich ein Wuchergesetz ausarbeitete. Ärger als irgendwo in der Welt hatte hier der entfesselte Kapitalismus ge- haust; enger als überall jedoch waren hier auch noch Jahre lang nach dem Krach die Geister gebunden, in den Gedankenketten des Manchestertums verstrickt. Auf österreichischem Boden hatte damals Jhering zu der Überzeugung kommen müssen: »Es wird erst neuer bitterer Erfahrungen bedürfen, bis man wieder inne wird, welche Gefahren der von allen Seiten entbundene individuelle Egoismus für die Gesellschaft in seinem Schöße trägt, und warum die Vergangen- heit es für nötig gehalten hat, ihm einen Zaum an- zulegen. Unbeschränkte Verkehrsfreiheit ist ein Frei- brief zur Erpressung, ein Jagdpaß für Räuber und Piraten mit dem Rechte der freien Pürsch auf Alle, die in ihre Hände fallen wehe dem Schlachtopfer ! . . Daß die Wölfe nach Freiheit schreien, ist begreiflich. Wenn aber die Schafe in ihr Geschrei einstimmen.

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so beweisen sie damit nur, daß sie eben Schafe sind«. Und die österreichischen Schafe schrieen, als man dem Wucher zu Leibe gehen wollte, so laut, daß alle Vernunft im Lande betäubt ward. Ein Jahr vorher hatte das deutsche Reichsgesetz die Merkmale des Wuchers festgestellt: strafbar sollte sein, wer »unter Ausbeutung der Notlage, des Leichtsinns oder der Unerfahrenheit eines Andern bei einem Darlehen oder im Falle der Stundung einer Geldforderung sich oder einem Andern Vermögensvorteile versprechen oder gewähren läßt, welche den üblichen Zins- fuß dergestalt überschreiten, daß nach den Um- ständen des Falles die Vermögens vor teile im auffälligsten Mißverhältnisse zur Leistung stehen«. Aber in Österreich wollten Regierung und Parlament den notleidenden, leichtsinnigen oder un- erfahrenen Schuldner nicht so ohneweiters schützen; strafbarer Wucher liegt nach österreichischem Gesetz erst vor, wenn der Darlehensgeber sich Vermögens- vorteile versprechen oder gewähren läßt, »welche durch ihre Maßlosigkeit das wirtschaftliche Verderben des Kreditnehmers herbeizu- führen oder zu befördern geeignet sind«. Jedes gelungene Wuchergeschäft ist daher straflos. Denn wenn es dem Schuldner glückte, seine Verpflichtungen zu erfüllen, ist der unwiderlegliche Beweis erbracht, daß die Bewucherung nicht geeignet war, sein wirt- schaftliches Verderben herbeizuführen oder zu be- fördern. Man muß in Österreich, damit einen der Staat vor dem Wucherer rette, zuerst durch Wucher ruiniert sein. Hat man aber das Unglück, nicht ruiniert zu werden, so bleibt der Wucherer ein ehrbarer Kauf- mann, den niemand in seinem gesetzlichen Erwerb stören darf. Und daran ist's nicht genug. Der Regie- rungsentwurf des Wuchergesetzes hatte bloß die gelun- genen Wuchergeschäfte sanktioniert; aber das öster- reichische Abgeordnetenhaus bereicherte den Gesetz- entwurf um einen Paragraphen, der auch das miß-

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lungene Wuchergeschäft straffrei macht. Es ist der § 7 des Gesetzes: »Die Strafbarkeit erlischt, wenn der Täter, bevor der öffentliche Ankläger oder das Strafgericht von der Tat Kenntnis erlangt, den gesetzwidrigen Vorgang behebt und dem Kredit- nehmer das bezogene Übermaß samt gesetzlichen Zinsen vom Tage des Bezuges an zurückerstattet.« Brauchte es mehr als diesen Paragraphen, damit das Wuchergewerbe, blühe? Im schlimmsten Fall, wenn der Ausgebeutete sich aufrafft, um sich des Ausbeuters zu erwehren, oder wenn tatkräftige Angehörige oder Rechtsfreunde sich seiner annehmen, riskiert der Wucherer nichts, als daß er, der Strafanzeige vor- beugend, seine Forderung ermäßigt, mit der Rückgabe der Darlehenssumme samt fünf bis sechs Prozent Zinsen sich abfinden läßt. Der reiche Aristokrat, der hohe Militär oder Beamte, der aufrechte Fabrikant oder Kaufmann, dessen verschwenderischer Sohn der Ver leitung des Geldmannes erlag, wird, indem er Kapital und landesübliche Zinsen bezahlt und den Wucherer laufen läßt, um dem eigenen Kind nicht durch An- prangerung seines Leichtsinns vor Gericht schaden zu müssen, noch billigen Kaufs davon zu kommen glauben; und hat doch um die Tausende zuviel ge- zahlt, die dem Leichtfertigen über seine Darlehens- forderung hinaus vom Wucherer aufgedrängt und die wie ein Glücksgeschenk verschleudert wurden. Der Leutnant Inaudy wollte 2000 Kronen leihen und nahm gegen eine Verschreibung auf 10.000 Kronen mehr als das Doppelte. Aber die Verleitung zum Leihen, durch die künstlich Verschwendungssucht erzeugt wird, ist kein Delikt; das Gesetz weiß nichts davon, daß Unerfahrenheit und Leichtsinn eines Jünglings, dem der Vater vernünftig die Bezüge zumißt, auch dann schon ausgebeutet werden, wenn ihm auch ohne übermäßige Zinsen ein erbschafts- belauernder Geldgeber die Mittel zu lebemännischem Aufwand bietet. So bleibt die wahre Schädigung

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straflos, und für das Risiko, daß ihm ein Wucher- geschäft mißglücke d. h. daß er einmal bloß den Gewinn eines redlichen Kreditgebers erzielen könnte , entschädigt sich der Wucherer an einem Dutzend anderer Opfer, die zu schwächlich sind, sich des § 7 des Wuchergesetzes zu bedienen. Ein Gesetz, das die Unerfahrenen behüten wollte, ist in Wahrheit für die Wachsamen geschrieben: Schutz findet, wer die Energie findet, den Einwand des Wuchers rechtzeitig zu erheben. Und Schutz findet in jedem Fall der Wucherer vor den Straf folgen seines Tuns.

Es ist aber nicht genug an dem, daß eine Klasse von Schuldnern, über deren ach! wie oft so be- scheidenes — Lebemannstum bürgerliche Moralisten die Nase rümpfen, dem Wucher ausgeliefert wird. Ausdrücklich erklärte die Weisheit österreichischer Gesetzgeber im Jahre 1881, daß es auch ein Gebiet solid bürgerlicher Tätigkeit gebe, das dem Wucher nicht verschlossen werden dürjfe. Der Gott der Kaufleute war den Alten auch der Gott der Diebe. Aber obschon wir Diebstahl und Handel zu unter- scheiden wissen, wollen wir doch nicht zugeben, daß zwischen Handel und Wucher eine deutliche Unter- scheidung möglich ist. Der weitere Wucherbegriff des deutschen Reichsgesetzes wird auch auf den Handel angewendet; in Österreich jedoch ist, laut § 14 des Wuchergesetzes selbst wer Zinsen fordert, deren Maßlosigkeit das wirtschaftliche Verderben des Kreditnehmers herbeiführt, kein Wucherer, wenn er's in einem Handelsgeschäft tut und Gläubiger wie Schuldner Kaufleute sind. Vergebens hat der Abge- ordnete Dr. Jaques ein liberaler Jurist als Für- sprecher eines Minoritätsvotums das österreichische Abgeordnetenhaus davor gewarnt, »für Kaufleute ein Privilegium odiosum zu schaffen, wonach sie als Objekt strafloser Bewucherung angesehen werden könnten«; vergebens haben die feinsten Köpfe des Herrenhauses, Männer wie Habietinek, Graf Schönborn und Graf

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Leo Thun dafür gestritten, daß die Moral österrei- chischen Handels nicht geringer eingeschätzt werde als jene des deutschen Kaufmannsstandes; wir dulden nicht, daß die Verletzung über die Hälfte aus der Handelssitte getilgt werde, und man kann in Öster- reich nicht einmal den Gedanken fassen, daß Wucher im Handel Wucher also ein Delikt bleibt.

Und wie hat man seit dem Jahre 1881, während das Wuchergesetz sich wirkungslos, zeigte, alle Stände der Ausbeutung freigegeben! Osterreich ist das klassische Land des Wuchers, heute wie zuvor. Die Not ländHcher Grundbesitzer, deren Arbeit im mo- dernen Österreich ärger dem Gläubiger frohndet, als sie je vor der Zeit der Bauernbefreiung den Guts- herren diente, hat sich schließlich im Parlament Gehör verschafft. Aber anstatt die Wuchergesetzgebung zu j verbessern, haben agrarische Abgeordnete die Exe- 1 kutionsordnung verdorben. Und noch hat die Gesetz-

gebung keinen Schritt getan zu einer wirksamen Organisation des Bauernkredits, die den Raiffeisenkassen ohne staatliche Förderung unmöglich ist. Man hat die Arbeiter vor Bewucherung schützen wollen und das Trucksystem verboten; doch bekämpft man die Konsumvereine, anstatt das Konsumvereinswesen durch eine Kreditorganisation auszugestalten, und weist den Arbeiter an den Greisler, den Wucherer des kleinen Manns, der in Detailpreisen maßlose Schuldzinsen und Risikoprämien fordert. Und man hat endlich mildere Formen des Wuchers zwischen 12 und 15 Prozent gesetzlich im Versatzärater- wesen geschaffen, und überläßt die Kreditbedürfnisse der Beamten Selbsthilfe-Vereinen, d. h. Vereinen, in denen Geldgeber, als Standesgenossen maskiert, sich selbst helfen, während niemand den Geldnehmern hilft. Die Frage des Personalkredits ist die österreichische Hauptfrage. Denn die wichtigste Einteilung der Öster- reicher ist diese: in Leute, die vom Borgen leben, und solche, die am Leihen zugrunde gehen; in Wucherer und Bewucherte. J. F.

Das »Porträt« des Musikalienhändlers Qutmann, das siehe Nr. 153 der Künstler des ,Neuen Wiener lournal' ent- worfen hat, bedarf einer kleinen Retouche. >Mag er auch« so vernahmen wir >beim Musikalienhandel und beim Konzert- arrangement seine Rechnung gefunden haben, so scheint er doch nach der Schilderung ernster Kritiker in erster Linie Idealist gewesen zu sein«. In den dreißig Jahren seiner segensreichen Tätigkeit hat, so hörten wir, Herr Gutmann nie Prozesse oder Zwistigkeiten mit Künstlern gehabt, und mit bewundernder Rührung fragte der Porträtist, ob Künstler dankbare Menschen sind, ob sie es anerkennen, »wenn man sich für ihre Sache opfert«. Also eine kleine Retouche! Daß der Idealist Qutmann beim Konzertarrange- ment seine Rechnung gefunden hat, muß selbst blindeste Ver- ehrung zugeben. Aber unbekannt dürfte es sein, daß er beim Konzertarrangement bisher immer zwei Rechnungen gefunden hat. Das verhält sich nämlich so: Herr Qutmann hält bekanntlich die Musikkritik durch gutbezahlte Konzertinserate, die er den Wiener Zeitungen gibt, in Zügel. Die Spesen dieser Inserate rechnet er naturgemäß den konzertierenden Künstlern als Baraus- lagen auf. Herr Qutmann hat nun bei den ihm willfährigen Ad- ministrationen einen ganz spassigen Usus eingeführt: er läßt sich über die eingeschaltete Konzertreklame zwei Rechnungen ausstellen. Da die Zeitungen sein Inserat direkt und nicht durch einen Agenten erhalten, so gewähren sie ihm selbst den üblichen Nachlaß von 257o- Die eine Rechnung quittiert nun den Empfang des ermäßigten In- seratenbetrages: die ist für die Buchführung des Herrn Qutmann ausgefertigt; die andere quittiert den Empfang des vollen Inseraten- betrages: die übermittelt Herr Qutmann als Beleg dem Künstler, mit dem er seine »Barauslagen« verrechnet. All die Jahre hat also Herr Qutmann als Inseratenagent die Geschäfte gemacht, die man dem Konzertagenten mißgönnte, und die Wiener Zeitungen haben in vollem Bewußtsein, daß die Differenz den Schaden der Künstler bedeute, das System der doppelten Rechnung bewilligt. Die ,Zeit', die sich anfangs weigerte, kirrte Herr Qutmann durch Entziehung der Wochenprogramme. Herr Rose, der Konkurrent, soll den spas- sigen Usus auch schon eingeführt haben. Jetzt fehlt nur noch, daß Herr Rose auch dem päpstlichen Nuntius im Konzertsaal die Hand küßt.

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Herr Hofrat Max Burckhard war ein übler Theaterdirektor und ist kein guter Theaterkritiker. Seine Meinung ist nicht immer interessant, aber durchaus sympathisch ist er dort, wo er mit ihr >nicht hinter'm Berg halten kann«. Seine journalistische Auf- richtigkeit läßt auf ein besseres Vorleben schließen. Als Zeuge in dem handelsgerichtlichen Prozeß gegen seine Chefredakteure ver- wahrte er sich gegen die Zumutung eines inneren Zusammenhangs mit der ,Zeit', und jetzt hat er sie gar in ihren eigenen Spalten angegriffen. Die Manuskripte des Hofrats Burckhard wandern geraden Weges in die Druckerei, sie bleiben kontraktgemäß von einer Lesung und Begutachtung durch die Herren Singer und Kanner verschont. Am 28. Jänner veröffentlichte er in der ,Zeit' eine Notiz über die Entlassung einer kleinen Schauspielerin aus dem Verbände des Deutschen Volkstheaters. Es erregte einiges Auf- sehen, daß Herr Burckhard die Besprechung der nicht eben be-l deutenden Affaire mit vollem Namen unterzeichnete. Der Kenner aber verstand die Absicht, welche die Worte diktiert hatte :

>Wenn diese Darstellung auf Richtigkeit beruht, dann würde sie wohl jedenfalls das Eine auf das deutlichste illustrieren, wie mangelhaft das Vertragsrecht den Schauspieler schützt, und wie leicht es dem Direktor ist, ein Mitglied trotz Vertrages durch Brutalität hinauszuekeln. Was dieser Vorfall übrigens sonst noch ,illustrieren' würde, braucht nicht erst gesagt zu werden«.

Vor dem Handelsgericht wurde es nachgewiesen, wie leicht i es den Herausgebern der ,Zeit' war, die meisten ihrer Ange- stellten trotz den Verträgen durch Brutalität hinauszuekeln . . ' Herr Burckhard hat ein erfreuliches Beispiel gegeben. Mögen sich auch andere Schriftsteller das Recht sichern, ihre Manuskripte geraden Weges in die Druckereien zu befördern. Dann werden wir in den Wiener Zeitungen endlich die Wahrheit über die Wiener Zeitungen erfahren.

Aus der Berichtigung des J. Singer in Nr. 134 der ,Fackel':

»Wahr ist, daß kein ein- ziger der Angestellten der ,Zeit' aus Gründen der Sparsamkeit oder deswegen

Aus einem Zirkular, das mir am 5. Februar zuging :

»Der ergebenst Gefertigte, derzeit Filialleiter der Tages- zeitung ,Die Zeit', erlaubt sich Euer Hochwohlgeboren seine

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entlassen wurde, weil ich einsah, daß ich zu v iel e an mein Unternehmen gebunden hatte«.

Dienste anzubieten .... Zum Schlüsse sei noch erwähnt, daß der Gefertigte das Dienstverhält- nis bei der ,Zeit' nur aus dem Grunde auflöst, weil bei der- selben aus Ersparungsrück- sichten eine bedeutende Reduzierung des Personals bevorsteht«.

Neulich wurde eine Frau wegen Beleidigung der Kaiserin Maria Theresia von einem Wiener Gericht zu vier Monaten Kerkers verurteilt. Ist es erlaubt, ein Strafgesetz, dessen Entstehung in die Zeit Maria Theresia's zurückreicht, blödsinnig zu nennen?

ANTWORTEN DES HERAUSGEBERS.

DiseipUnarrat. Dieses Österreich ist wirklich das Land der UnWahrscheinlichkeiten : Ein Richter hat den Ansturm der Coburg'schen Hausmacht abgewehrt, den anmutigen Herrn Dr. Barber verurteilt, die Briefe zurückzustellen, und den Nebenbuhlern des Unrechts, den Bach- rach und Feistmantel, die Oerichtstür gewiesen. Als heiteres Moment ist aus dem Verhandlungsbericht ein Zwischenruf zu zitieren. Als ein frü- herer Diener des Klägers Zeugenschaft ablegte, rief Herr Barber ver- ächtlich : >Das war also der Vertrauensmann des Herrn Mattasich!« Ernster ist, daß Herr Dr. v. Feistmantel das Vorgehen des >Verwahrers« der Briefe als korrekt bezeichnet hat. Dazu gehört immerhin mehr Mut, als man dem Präsidenten der Advokatenkammer zugetraut hätte. Wenn

jetzt auch noch der Disziplinarrat der Advoicatenkammer Mut hat

Ober Herrn Barber herrscht keine Meinungsverschiedenheit, über Herrn

Bachrach auch nicht. Aber Herr Dr. v. Feistmantel könnte immerhin noch

dazu gebracht werden, die Rolle, die er im Prozeß gespielt hat und als

Kurator« der gefangenen Prinzessin spielt, als undankbar zu empfinden . . .

Politiker. Sie melden : > Ministerpräsident Koerber verkehrt eifrig oei Frau Schratt und das Preßbureau berühmt sich guter Beziehungen £ur .Fackel' ,Alles gerettet!'« Die erste Nachricht mag ebenso wahr sein, wie sie gieichgiltig ist. Die zweite kann ich nicht kontrollieren. Ich weiß nur mit Sicherheit anzugeben, daß die , Fackel' sich keiner Be- uehungen zum Preßbureau berühmt.

Feinschmecker. Der »Objektivität« halber sei gern verzeichnet, laß Herr Gfrorner, der als Qeschworner den Totschlag pardonierte

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und als Konditor die Lebensmittel verdarb, die Geldstrafe, zu der ihn das Bezirksgericht verurteilt hat, nicht erlegen muß. Ein Appellsenat, unter dem Vorsitz des L.-O.-R. Adamu, sprach ihn kürzlich frei, »weil in seinem Geschäfte wohl Inkorrektheiten vorgekommen seien, durch diese jedoch die Gesundheit von Personen nicht gefährdet war«. So hat denn nicht nur der Richter erster Instanz, sondern auch der Magistrat, der Herrn Gfromer schon vor diesem verurteilt hatte, und die marktämtliche Kommission, die im Laden des Herrn Gfromer Russennester aushob, Unrecht behalten, und der guten Sache ist zum Durchbruch verholfen. Schimmeliges Dunstobst und mit Staub bedeckter Quittenkäse sind zwar nicht appetitlich, aber durchaus nicht gesundheitsgefährlich, und der erfolgreiche Berufungswerber konnte wohl »nachweisen«, daß die verdor- benen Waren nicht zum Gebrauch bestimmt, sondern nur zu dekorativen Zwecken aufgehoben wurden. In der ersten Verhandlung hatte ihm die Versicherung wenig genützt, daß der Kasten, in dem die Schätze aufbewahrt waren, >so versperrt gewesen sei, daß er dem Personal nicht zugänglich war«. Der Appellsenat ließ sich durch dies Argument rühren, sprach frei und flößte allen Vertretern der Lebensmittelbranche, die marktämtliche Revisionen zu scheuen haben, wieder Mut ein. Wenn wieder einmal in einer Wurst ein Handschuhdaumen gefunden werden sollte, so werden wir das als eine Überraschung, schlimmstenfalls als eine »Inkorrektheit«, aber keineswegs als eine Gefahr für die Gesundheit des Käufers zu betrachten haben. Das Glück ist blind, und ein andermal kann's ja auch geschehen, daß wir in einem Fisch den Ring des Poly- krates finden. Und das ist gewiß nicht ungesund . . . Man darf also in Österreich seine Frau mit der Hacke erschlagen. So will's Herr Gfromer, der in seinem Konditorladen schimmeliges Dunstobst feilhält. Man darf in Österreich schimmeliges Dunstobst feilhalten. So will's Herr L.-G.-R. Adamu, der in jenem Richterkollegium saß, welches mich einst wegen »Ehrenbeleidigung« zu einer Geldleistung vemrteilt hat, die dei^ Ertrag eines Jahres in öffentlichem Interesse geleisteter geistiger Arbeit bedeutet. Ja, die »Ehre« ist bei uns ein behebteres Rechtsgut als die körperliche Sicherheit, und dem Ansehen einer korrupten Theaterclique nahetreten, ist etwas, was man in Österreich nicht darf. Wenn ich nicht verantwortlicher Redakteur der , Fackel' wäre, möchte ich Gattenmörder oder wenigstens Lebensmittelverfälscher sein! *

Rallstätter Kretin. Die ,Zeit' wird bekanntlich ihrer »kulturi aktuellen« Aufgabe vor allem durch die Fixigkeit gerecht, mit der sie in ihrer Sonntagsbeilage wie in ihrem Depeschensaal > Bildin« jener Per- sönlichkeiten bringt, die eben »im Vordergmnd des Interesses stehen«. Da man von der Mandatsniederlegung des Tschechenführers Herold j sprach, zögerte sie nicht, ihren Sonntagsiesem das Porträt des Wiener Hoteliers Herold vorzuführen, und im Depeschensaal wurde neulich de» Jahrestag des Kanossaganges Kaiser Heinrichs IV. auf würdige Weise gefeiert. Über einer erläuternden Notiz sah man die Photographie Heinrichs IV. von Frankreich, die nicht nur die bekannte Physiognomie! mit dem Henriquatre-Barte, sondem übertriebener Weise sogar dettj

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Aufdruck >Henri IV.« aufwies. »Welche Erschütterung aller Quartaner- weisheit«, klagt ein Leser, >die das berühmte Huhn im Topfe und den wohlbekannten Ravaillac in den Investiturstreit verwickelt sieht!« Aber das macht nichts. Wenn der Quartaner auch falsche Antworten gibt, die Hauptsache ist, daß sie prompt sind. Und daß >wir als die ersten in der Lage« waren, unseren Lesern zu zeigen, wie Herold und Heinrich IV. nicht ausgesehen haben! ... In einem Montagsblatt wird der 60. Geburtstag des Eisenbahnministers v. Wittek gefeiert, mit Bild von Karl Emil Franzos. Und der Tod des Karl Emil Franzos besprochen, mit Bild von Professor Hochenegg. Eine Würdigung des neuernannten Ordinarius für Chirurgie mußte unterbleiben, da im letzten Moment kein unrichtiges Bild zu beschaffen war ... Na ja, als Quelle für Ge- schichtsforschung sind die Zeitungen nicht so ernst zu nehmen, wie noch immer vielfach geglaubt wird. Begeht doch z. B. selbst das ,Neue Wiener Journal' wo es sich nämlich auf seine eigenen Federn verläßt Mißgriffe. Frau Körner habe, so wußte es anläßlich der Schwind-Feier zu melden, den Berger'schen Prolog >in ihrer bekannten gewinnenden Art« zum Vor- trage gebracht. Dieses durchaus zutreffende Urteil wurde nur leider durch die Tatsache abgeschwächt, daß an Stelle der Frau Körner, die im letzten Augenblick hatte absagen müssen, ein unbekannter Student den Prolog gesprochen hat.

Geograph. Die ,Neue Freie Presse' bezeichnet am 8. Februar als den Schauplatz des russisch -japanischen Krieges die >östlichste Peripherie des Erdballs, wo der Stille Ozean zum Gelben und zum Japanischen Meer sich verengt«.

Dieb. ,Neues Wiener Journal', 27. Jänner: >Die Entdeckung des Radiums«. Man liest: >. . . Daß aber unter der Vernachlässigung der ernsten Forschertätigkeit auch so sensationelle Entdeckungen wie die des Ehepaares Curie zu leiden haben, sollte man eigentlich von der Stellung der Wissenschaft in Frankreich nicht erwarten. Von großer Wichtigkeit ist es auch, den Atemzug der kindlichen Seele zu belauschen, um sich vor pädagogischen Miß- griffen zu bewahren....« Ja was ist denn das? Wie kommt das Radium zum Atemzug der kindlichen Seele? Was haben chemische Forschungen mit pädagogischen Mißgriffen zu schaffen? Nun, die Schere kann nichts dafür, aber der Kleister hat- diesmal zu viel des Guten getan. Am nächsten Tag findet sich nämlich ein Artikel: >Die Seele des Kindes«. Darin fehlt der Absatz, der irrtümlich dem Artikel über das Ehepaar Curie angehängt ist. Der Dieb hatte Radium und Kinderseele mit einer Hand zusammengerafft und gar nicht gemerkt, daß hier irgendetwas nicht stimme. So hat er sich wieder einmal selbst verraten.

Friseur. Die Qualität des Lesepublikums des ,Neuen Wiener Tagblatts' muß eine sonderbare sein. In der Nummer vom 1. Februar erteilt der Briefkastenmann gleich an zwei Adressen die folgenden Winke :

Disespoir. Reiben Sie die Kopfhaut mit grauer Salbe, welche Sie unter diesem Namen in der Apotheke bekommen, Abends ein und ver-

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binden Sie Kopf und Haare über Nacht mit einem Tuche; die Haare iTiBssien täglich mit einem 5taubkamm durchgekämmt, und durchsucht und die Einreibung mehrmals wiederholt werden. Nach einigen Tagen verderi Kopf und Haare gewaschen .

Und:

Ungreziefer, L. Waschen des Kopfes mit Petroleum, dariiv Ein- binden über Nacht. Früh abwaschen mit Seifenwasser und gut durch- kämmen. Die zurückbleibenden Nisse werden mittels Waschungen mit ^ig entfernt.,

Zwei > liebe Leser«!

Tierarzt. .Deutsches Volksblatt' vom 10. Februar. Vor den Wiener Landesgericht ist ein Kridatar wegen Brandlegang - und hörn - sexueller Vergehung angeklagt. Das zweite Delikt kommt bekanntlich :: den besten Familien vor. In der Hütte des Armen wie im Palaste es Reichen wird es, dort als Verbrechen, hier als Krankheit, geübt. Sog.r in Herrscherhäusern soll es nicht unbekannt sein. Das .Deutsche Volk - blatf schreibt: »Wie wir schon erwähnt, hatte der Ehrenjude Schoßber: - Of*'ohnheiien. die von eiirer Perversität zeigen, v. : eine solche in reio arischen Kreisen gar jiie vorz kommen pflegt!« Ein weiterer Fair von Hundswut ist bis; r mcljit.w verzeichnen.

Schmock. Preisfrage: Welcher Ball »übertraf an Sdiönbeit uri vornehmer Eleganz all seinö Vorgänger« ?

Höfling. Übersiedlungen nach Prag', Abbazia. Ragusa. Meran. Auf. allen- Linien und Nebenlinien Züge des Herzens, in direkter lind aufik in verkehrter Richtung, Und wieder wird »amtlich« dementiert, daß ' »ein . junger Prinz aus einer Nebenlinie« mit einer Wirtstochter »ein ernstes Liebesverhältnis unterhalte und die Absicht habe, sie zu ehejichen«. Und wenn schon! Der junge Prinz kann für die Thronfolge nie in Betracht kommen, sein Handeln ist Privatsache. Oder müssen wir uns auch dafür interessieren, wie kaiserliche Prinzen leben und lieben?' Nächstens wird es uns bereits bekfimraem, wenn in dem Wahlspruch »Tu Felix Austria nube!« der Nachdruck ausnahmsweise nicht auf dem Heiräten liegt ... Es ist zu viel ! Wir tun nicht mehr mit. Mögen sich die Lakaiengeraüter einstweilen beruhigen ! Nicht zur Neugierde, zur Ehrfurcht zwingt uns Österreicher das Gesetz.

MITTEILUNG DER REDAKTION.

Unverlangte Manuskripte werden nur zurück- gesendet, wenn frankiertes und adressiertes Kuvert beilag. Es genügt die einer Drucksache \ entsprechende Frankierung, da die Rücksendung wegen Zeitmangels ohne scKriftliche Begleitworte, Bedauern oder Begründung, erfolgt.

Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus. Druck von lahoda & Sieeei. Wien. III. Hintere ZollamtsstraBe 3.

[bb ErscMenen am 24. Febraar iöOd

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Die Facki

Herausgeber:

KARL KRAUS

Erscheint drei- oder zweimal Im Monat. Preis der einzelnen Nummer 24 h.

Irock nnd Jtewerbsniäßigea Verleihen verboten: ffeiJcfitUche Verfolpiinsr

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KLAVIERKUNSTSPIEL = APPARAT

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mit seiner größten vSkala und seiner geteilten Abdämpfung für Baß und Diskant ermöglicht allein die schwierigsten Kompositionen von Liszt, Beethoven etc. originalgetreu zu spielen. Den Vortrag künstlerisch bis in die kleinsten Feinheiten auszug(^stalten bleibt ganz der indi- viduellen Auffassung des Spielenden überlassen.

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Zur Besichtigung wird höfhchst eingeladen, Pro- spekte gratis, Bezugsquellen werden angegeben.

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Die Fackel

Nr 155 WIEN, 24. FEBRUAR 1904 V. JAHR

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ils ist sehr löblich, daß als prompte Illustration zu dem Wucher- Artikel in Nr. 154 der ,FackelV der Prozeß Z i n n e r aufgeführt wurde. Herr Pollak, der Anwalt des Staates, erklärte, daß auch an Verbrechern ein Verbrechen verübt werden könne. Das ist unbe- streitbar. Wann aber kommen endlich die Prozesse gegen die Verbrecher an die Reihe? Eine sympathische »Rechtsfindung«, um die Staatsanwälte und Wucherer in freundschafthchem Einvernehmen bemüht sindl Herr Zinner mag das unsauberste Individuum sein, das je die Anklagebank gedrückt hat: der Gesellschaft wäre noch immer besser gedient, wenn man den Schädiger der Wucherer laufen heße und sich seiner als Zeugen gegen die Zeugen bediente. Herr Zinner, der ihnen ethisch ebenbürtig und intellektuell gewachsen war, verdankt ihnen bloß eine Kerkerstrafe. Aber so manchem Opfer ihrer Erpressertücken haben sie den Revolver in die Hand gedrückt. Unsere Wucherer sind nicht in Polizeifurcht aufgewachsen. Erinnert sich jener Sicherheitsbeamte, der gern außeramtlicK interveniert, wie er einst in Gegenwart einer Rotte »Geschädigter« einen ehrenhaften jungen Gelehrten, letwa eine Stunde vor dessen Selbstmord gedemütigl hat? . . . Die Staatsanwaltschaft sollte doch endlich, wieder die Agenden an sich nehmen, die allzulange schon im übertragenen Wirkungskreis die ,Packel*' verrichten mußte. Ich wurde schamrot, als die Behörde (jene Musikerswitwe, der von Privatdetektivs ein Iden Kapellmeister Ziehrer belastendes Manuskript'i

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herausgelockt wurde, an die , Fackel' wies. Und nun laufen bei mir täglich Anzeigen gegen Wucherer ein: »Ihrer freundlichen Aufmerksamkeit sei die Agentenbande Soundso in dem und jenem Kafifee- hause empfohlen. Sie würden sich den Dank vieler Betrogener erwerben.« Ja, ich kann doch niemanden verhaften? Könnte ich's, so manche Tafel im Hause eines Wucherers würde plötzlich aufgehoben und so manchen Staatsanwalt und Polizeibeamten ließe ich von dort abführen.

»Über 1150 Gramm Blut fehlen«. So kon- statiert das jDeutsche Volksblatt' mit Befriedigung. In Prag wurde ein junges Mädchen ermordet, und der Herr, der im Wiener Antisemitenblatt das Blut- referat innehat, ist bereits zur Stelle. Ein Lustmord ist natürlich ausgeschlossen. Und schon wird auch beobachtet, wie sich »der Bevölkerung eine große Aufregung bemächtigt«. . . Na, nur keine Übertrei- bungen ! Das Volk hat gegenwärtig dringendere « Sorgen und dürfte selbst durch ein Abonnement auf j das ,Deutsche Volksblatt' nicht mehr auf jenes geistige] Niveau hinunterzudrücken sein, auf dem ein Interesse' für den »Ritualmord« und verwandte Fragen erst \ möglich ist. In Prag schUeßt schon der mit gemischt- J sprachigen Straßentafeln verhängte politische Horizont die Lösung solcher Probleme aus . . . Viel wichtiger aber ist jetzt, zu vermeiden, daß sich eines andern Bevölkerungsteiles »große Aufregung« bemächtigt. jj Man sollte meinen, daß die Juden endlich einmal die . I ihnen zugeschriebene Klugheit beweisen, auf den alten : Schwindel nicht mehr hereinfallen und sich im Stillen i' freuen werden, daß der Antisemitismus seine wirt-l schaftliche Mission aufgegeben und in vollkommenerj Vertrottelung sich ins Ausgedinge der Ritualscherze ^

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zurückgezogen hat. Hoffentlich läßt es sich diesmal kein Vertreter jüdischer Interessen einfallen, im Musikvereinssaal pathetisch zu werden ! Dies wäre gefährlicher als der Stumpfsinn des , Deutschen Volks- blatts',das doch sicher zum Kuschen zubringen ist, wenn ihm ein paar jüdische Bankdirektoren beweisen, daß in ihren Häusern zwar Christengeld, aber nicht Christenblut verwendet wird.

Pas folgende vom Dezember datierte Schreiben eines in Peking lebenden Österreichers wird mir übermittelt :

Allenthalben war großes Erstaunen, als bekannt wurde, Österreich hätte, dem Beispiele der anderen Mächte folgend, sich einer Land-Konzession auf chinesischem Boden bemächtigt. Gründe? Weil es die Anderen ebenso gemacht. Aber wir sind mit einer unscheinbaren Macht hier erschienen, umso unscheinbarer, als an Ort und Stelle nur die Lan- dungstruppen gesehen wurden. Dies versetzte die Chinesen in den Glauben, daß wir als AUiierte Deutsch- lands und nur unter seinem Schutze uns dazu er- mächtigten. Dabei ist gerade unsere Konzession den Chinesen ein Dorn im Auge; sie wird von zwei Seiten direkt von der Chinesenstadt begrenzt und bildete früher einen Teil von dieser. Da wir sie nun haben, heißt es den besten Nutzen daraus ziehen. Die Re- gierung ist für eine materielle" Unterstützung schwer zugänglich. Ein Privatinteresse ist nicht vorhanden, um aus diesem Stückchen Land eine Niederlassung nach dem Muster der anderen Mächte zu machen. Da wir bei der Besitznahme die Gewaltanwendung versäumten, wären wir jetzt zu einer kostspieligen Expropriierunggezwungen, falls wir ernstlich die Absicht hätten, etwas für die Sanierung und Regulierung zu tun und das wiedererwachte chinesische Leben aus den un-

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beschreiblich kleinen und schmutzigen Gäßchen zu treiben. Die arme, aber zahlreiche Bevölkerung ver- hielt sich ruhig, die Verwaltung hatte kein Defizit. Als man letzthin den Entschluß gefaßt, ein Konsulat und Kasernen auf der Konzession zu bauen, wurde ein Expropriierungsversuch gewagt. Eine Verordnung zur Taxierung der Preise für Boden und Gebäude wurde erlassen. Ob der niedrigen Entschädigungen gab es großes Geschrei seitens der Chinesen, die sich mit einer Petition an den Vize-König wandten. Die Sache fand natürlich in der lokalen Presse ihr Echo, und das Ganze wurde aufgebauscht, in einem Sensa- tionsartikel als Raubakt hingestellt. Die Beschwerde war zum Teil gerechtfertig, da eine Entschädigungs- summe von 70 Taels = 200 Kronen für einen Ziegel- bau der ersten Kategorie durchaus unzulänglich ist. Und nun ist es von dieser Aktion still geworden, obwohl ein energisches Vorgehen, sei es auch nicht ganz gerechtfertigt, gewiß bessern Eindruck gemacht hätte. . . Wir haben also eine Konzession, ein Kon- sulat und ein Detachement (20 30 Mann). Der Besitz des emen begründet die Notwendigkeit der beiden anderen. Aber die Notwendigkeit des Ganzen? Fromme Wünsche sind es, daß man mit der Zeit österreichische Kaufleute heranziehen wird, die sich hier niederlassen werden, um der Regierung ge- fäUig zu sein; drei Kilometer vom internationalen Ge- schäftszentrum entfernt, in einem armen Chinesen- stadtteile, in den sich hineinzuwagen immer einen Entschluß kostet I . . . Was bis jetzt in kommerzieller Beziehung geleistet wurde, ist die Erteilung einer Lotto-Kollektur ein Export, der uns wenig Ehren eingebracht hat und von den Rivalen auch ent- sprechend ausgenützt wurde. Selbstdiechinesische Verwaltung hat sich aus moralischen Grün- den bemüssigt gesehen, ihre Untertanen davor zu warnen. Und die Pointe: daß es nicht einmal ein Österreicher ist, der von diesem Privi-

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legium einen Nutzen zieht, sondern einige deutsche Geschäftsleute. . . Man interessiert sich bei uns viel zu wenig für das, was im fernen Osten vorgeht, und unterschätzt diesen Markt der Zukunft. Es ist sehr zweifelhaft, ob es wirksame Mittel gibt, den Unternehmungsgeist zu beleben und anzuspornen: um es tun zu können, müßte einer vorhanden sein. Man müßte den Leuten sichere Geschäfte anbieten, womöglich Resrierungsgeschäfte , die mit keinem Risiko verbunden sind, damit sie zuerst die Scheu vor dem Fremden, Unbekannten verlieren. Jetzt ist das Waffenverbot aufgehoben, China wird noch für Millionen Bestellungen machen. Die Aera der Bahnen und der folgenden Erschließung beginnt. Nach den außerordentlichen Resultaten der Belgier, Amerikaner etc. »reißen sich« alle Nationen um derartige Kon- zessionen. Auch die Eröffnung der Minen ist in aller- nächster Zeit zu erwarten. Der Wettlauf hat die Chinesen stutzig gemacht, und sie wollen sich augen- blicklich zu keiner weiteren Konzession entschließen. Ein günstiger Moment, um großmütig China die paar Quadratkilometer, die uns nur Scherereien machen und kaum je etwas eintragen werden, zu überlassen und dafür praktischere Vorteile zu erlangen, Pri- vilegien für ausschließliche Regierungslieferungen, Bahnen- und Minen-Konzessionen. Durch diese Liefe- rungen würden unsere Firmen mit dem Lande in Fühlung kommen und dank dem chinesischen Kon- servatismus diese Fühlung nicht verlieren. Unter den Bahnkonzessionen ist z. B. die Sechuen-Bahn, die eine der reichsten Provinzen Chinas mit einer Bevölkerung von über 40 Millionen dem Verkehre erschließen wird; dann die Kaigan- Bahn, eine Teil- strecke der Karawanenstraße Peking-Kiatka, der direk- testen Verbindung Chinas mit Europa. Und sollte auch mit der Zeit ganz Nordchina in russische Hände kommen, wird solch ein Besitz ein wertvolles Tausch- objekt bleiben, an welchem man nur gewinnen kann.

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Unsere Metall-Industrie würde durch diese großen Be- stellungen einen neuen Aufschwung erhalten, auch der Lloyd hätte einen guten Vorwand zu einer rascheren Entwicklung, mit einem Wort, das bisher unbeachtete und unterschätzte Österreich hätte Ge- legenheit, in den internationalen Konkurrenzkampf einzutreten, gestützt auf Vorteile, die den Erfolg sichern

Im Prozeß gegen den wegen Betrugs und sexu- eller Vergehungen verurteilten Josef Schoßberger sagte der Staatsanwalt nach unberichtigten, also wohl rich- tigen Gerichtssaalmeldungen :

>. . . Auch alle natürlichen Triebe wirken mit Gewalt auf den Menschen ein; das Gesetz aber gebietet, allen diesen Trieben zu widerstehen, sobald sie auf Kosten fremder Rechtsgüter befrie- digt werden müßten. <

Der Angeklagte Schoßberger hat seinen per- versen Trieb nicht auf Kosten »fremder Rechtsgüter« befriedigt, da er dem freien Willen seines Konsorten nicht Gewalt antat, dessen Gesundheit nicht schädigte. Also war er wegen Betruges zu verurteilen, wegen des Sexualdelikts auch nach Ansicht seines Anklägers freizusprechen. Versteht sich, vom Standpunkt eines kommenden Gesetzes. Die Erklärung des Staatsanwaltes ist, selbst wenn im vorliegenden Fall ein »fremdes Rechtsgut« verletzt wurde, mindestens für die Reform des Strafgesetzes richtunggebend. Gegen die perversen Triebe bedarf's keiner anderen gesetzlichen Schran- ken als gegen die natürlichen: Schutz der Unmündig- keit, der persönlichen Freiheit und der Gesundheit. Ihr Walten kann nur dort strafbar sein, wo es diese »fremden Rechtsgüter« berührt hat. . . Ist die Wiener t) Staatsanwaltschaft wirklich so vernünftig? Oder ist sie es nur infolge fehlerhafter Gerichtssaalbericht- erstattung?

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Psychiatrie.

Aus dem gerichtsärztlichen Gutachten über den ~Dr. Zinner:

»Er hatte Zittern, heftige Krämpfe beim Einschlafen, morgens Üblichkeiten. Er ist auch innerlich haltlos geworden, seine ursprünglich feinere Empfindung in poetischer und literarischer Beziehung wurde durch den Alkohol immer mehr in den Hinter- grund gedrängt. Er hatte keinen Geschmack mehr an feineren Darbietungen des Burgtheaters und der Oper, und ethisch immer tiefer sinkend, trieb er sich mit weiblichen Bekannten im Tingel-Tangel herum.«

Sapperraent! Sappermentl Wer hätte je gedacht, dajß es für die Frage, ob Herr Zinner Betrug und Veruntreuung begangen hat, wichtig sein würde, zu erfahren, daß er keinen Geschmack mehr an den feineren Darbietungen des Burgtheaters und der Oper gehabt hat ? Mindestens scheint nach der Anschauung der Wiener Gerichtspsychiater der Besuch der Hof- theater ein Beweis morahscher Vollwertigkeit zu sein. In Wirklichkeit ist dem leider nicht so; es handelt sich lediglich um eine Geschraacksfrage, und Herr Zinner hätte nicht den übelsten Geschmack bewiesen, wenn er dem Genuß mancher Novitäten der letzten Jahre die Gesellschaft »weiblicher Bekannter« (schrecklich!) im Tingel-Tangel vorgezogen hat. Es ist auch ein Irrtum, zu glauben, daß man durch den Verkehr mit weiblichen Bekannten oder durch den Aufenthalt in einem Vari^t^ ethisch immer tiefer sinkt. Ich habe beides schon erprobt, kann aber ruhig behaupten, daß ich mich um keinen Schritt der Möglichkeit, Depots zu veruntreuen, näher gerückt, sondern im Vollbesitze meines ethischen Hochmutes fühle und würdig, Heraus- geber der ,Packel' zu sein. Die Kunstinteressen und privaten Neigungen des Herrn Zinner wären im Gut- achten wie in der ganzen Verhandlung besser unerörtert geblieben. Sie sind wirklich kein Maßstab. Einer kann ein Don Juan sein der schmierige kleine

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Advokat war es nicht und doch vom Scheitel bis zur Sohle ein Ehrenmann in wirtschaftlichen Dingen. Einen andern brauchte das Gelübde der Keuschheit nicht zur Enthaltung von fremdem Eigentum zu zwingen. Das schwindende Interesse des Herrn Zinner an den Darbietungen des Burgtheaters könnte und wenn er Millionen veruntreut hätte noch immer eher für den künstlerischen Verfall des Burgtheaters als für den sittUchen des Herrn Zinner zeugen. Und der Mann ist nicht zu bedauern, weil er durch seine Verhaftung an dem Besuch der »Jakobsleiter« von Davis verhindert wurde! . , .

tierr Pötzl ist als Beschauer des Wiener Klein- lebens eine so geschlossene und künstlerische Persön- lichkeit, daß es wirkUch schade ist, wenn er sich durch fortwährende kritische Aufregung aus seiner Position zu bringen sucht. Man kann sehr viel gegen die gedankliche Anmaßung der Fakultäten maierei Klimt's einzuwenden haben, aber es geht doch auf die Dauer nicht an, diesen außerordenthchen Könner deshalb zu verunglimpfen, weil seine Frauengestalten nicht »mollert« sind und dem Ideale der »Mudel- sauberkeit« nicht entsprechen. Und es ist einfach nicht wahr, daß die Anerkennung der Hodler und Munch ausschließlich Sache der Snobs ist, wie Pötzl's versifizierter Ärger uns neulich glauben machen wollte. Überhaupt bekenne ich, daß mir das Treiben der Snobs im Kunstgehege zwar lächerlicher, das der Philister aber gefährlicher scheint. Der Snob fördert das Unkraut, der Philister hindert die Edel- pflanze. Spießer zur Strecke bringen, war, wenn ich im Blätterwald streifte, immer meine höchste Weidmanns- lust ! Es ist bedauerlich, daß Herr Pötzl, den so manche Wiener Skizze, die er geschrieben, hoch über den Troß

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schreibender Kommis stellt, sich immer wieder ins kritische Revier begibt. Der kleinste Horizont schließt die Möglichkeit feinster Künstlerschaft ein, aber hinter ihm liegt das Recht, eine Meinung zu äußern über tCünstlerschaft, die hinter ihm liegt. Man kann eine prächtige humoristische Betrachtung über das Rind- fleisch bei »Meißl und Schadn« schreiben. Aber der Standpunkt, von dem aus man die moderne Kunst abtut, ist dann in der Regel auch der einer Sach- verständigkeit über Kruspelspitz und Hieferschwanzl.

Zahlreiche Leser wünschen Näheres über die Lebensge- wohnheiten des Herrn Lippowitzzu erfahren. Ich weiß nichts, und es ist nicht Sache der , Fackel', große Männer bei ihren täglichen Verrichtungen zu belauschen und sie nach ihren »Lieblingsspeisen und Lieblingsgetränken« zu beurteilen. Ich glaube immerhin, daß Herr Lippowitz gern Krebse ißt, weil sie bekanntlich zwei Scheren haben, und daß er Mineralwässer nicht leiden kann, weil auf ihnen immer die Quelle angegeben ist. Aber mich interessieren nur die öffentlichen Funktionen des Mannes. Und da muß ich neidlos anerkennen. Uneingeschüchtert durch warnende Zurufe aus allen Gauen Deutschlands, mit einer Selbstverständlichkeit, die den Diebstahl als journalistisches Naturrecht heiligt, krabbst das traurige Lippowitzblatt am helllichten Tage weiter. Hundertmal ist hier und andern Orts der Dieb ein Dieb genannt worden, und anstatt wegen Ehrenbeleidigung zu klagen, ging er hin und stahl. Vergebens gellen ihm, wenn er in seiner prachtvollen Equipage, die ihm der Schere Arbeit erwarb, dahinrollt, die Segenswünsche unbezahlter Mitarbeiter ins Ohr. Der Diebsanzeiger, der hier etabliert ward, hat nichts gefruchtet. Herr Lippowitz ist ein Feind jeglicher An- geberei, nicht nur jener der Quelle. So bleibt nichts übrig als ihm, dem Reichsdeutschen, von Zeit zu Zeit landsmännische Urteile über seine Wiener Wirksamkeit vorzuhalten. Nach der , Frankfurter Zeitung', nach den zahllosen Festnagelungen literarischer Fachblätter meldet sich jetzt das ,Berliner Tageblatt'. In der Nummer

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vom 12. Februar finde ich einen >Briefkasten der Redaktion«, der den folgenden Anruf enthält:

Redaktion des «Neuen Wiener Journal'. Wir müssen zugeben, daß Sie mit großem Geschick aus verschiedenen Be- richten unseres New -Yorker Korrespondenten sich ein hübsches Feuilleton > Amerikanisches Leben« zusammengestellt haben. Es wäre uns aber lieber, wenn Sie weniger Geschicklich keit und dafür mehr Anstand besäßen.

In der ,Neuen Freien Presse' hat sich an ein Feuilleton des Herrn Ludwig Fulda eine angeregte Diskussion über >d i e Kunst des Übersetzer s< geknüpft. Da bekamen wir so manche drollige Probe vorgesetzt, über die sich Einsender und Blatt mit Recht lustig machten, und die ,Neue Freie Presse' konstatierte, daß sie >jeder Beschreibung spotte«. Wie schade, daß man nicht auf das nächst- liegende Beispiel verfiel! Am 26. Jänner war in der 42. Fort- setzung des Ohnet'schen Romanes »Der Weg zum Ruhme«, der in einem großen Wiener Blatt erscheint, der Satz enthalten: »Ich würde lieber eine wüste barbarische Orgie im Hofe hören, welche die ,Diamanten der Königin' oder ,Der Postillon von Longjumeau' spielt.« Im französischen Original heißt es: Orgue de Barbari e. Vielfach wird behauptet, daß dies auf deutsch so- viel wie Drehorgel bedeutet. .. Unnötig, hinzuzufügen, daß das Blatt, welches barbarische Orgien im Hofe hört, die ,Neue Freie Presse' ist.

Salzburger Literaturleben.

In Salzburg herrscht große Aufregung. Das Stück eines »Heimatkünstlers« man versteht darunter Literaten, deren Talentlosigkeit sich auf jenen Ort, wo sie zuständig sind, erstreckt ist im dortigen Theater durchgefallen. Bei der zweiten Vor- stellung kam es sogar zu einem Skandal. Darauf erschien im ,Salzburger Tagblatt' (No. 30. vom 8. Februar, Seite 6) das nach- stehende Inserat:

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Erklärung !

Die »Qlockenspielkinder< wurden von Kommissionären des Instituts- inhabers Kaiser ausgepfiffen und lassen sich alle anderen Dienstmänner zu solchen, dem hohen Publikum abfälligen Handlungen nicht herbei und bitten, bei eventuellen Aufträgen dieses zu berücksichtigen. Die hiesigen Packträger, Stadtträger, Expreß und Dlenstmänner.

Welchen Erfolg hatte »Rose Bernd«?

,Neue Freie Presse': »Man hörte nach den Aktschlüssen viel applaudieren, auch konnte der anwesende Dichter oft genug vor den Vorhang treten; es schien aber doch, als ob aus diesem Beifall mehr Höflichkeit als Herzlichkeit zu ver- nehmen wäre. Das Publikum ist nicht recht mitgegangen.«

,Neues Wiener Tagblatt': »Großer Erfolg ... in die Ehren des Abends teilen . . . Gerhart Hauptmann dankte in Person für rauschenden Beifall und unzählige Hervorrufe.«

,Neues Wiener Journal': > Das Publikum, welches der Stoff abzustoßen schien, wollte sich nicht für das Stück erwärmen . . . und Hauptmann wurde erst vom dritten Akt an gerufen, <

,Zeit': »Hauptmanns Drama hat trotz der Abschwächung, die der kernige Dialekt im Burgtheater erfahren mußte, gestern eine tiefgehende Wirkung geübt. Anfangs verhielt sich das Pub- likum zwar etwas kühl, aber es wurde immer mehr in den Bann der Dichtung gezogen und äußerte nach den letzten Akten seinen Beifall in zahlreichen Hervorrufen und lebhaften Ovationen für den Dichter«

, Ostdeutsche Rundschau': »Qerhart Hauptmann konnte es mit seinem neuen Schauspiel ,Rose Bernd' auch in Wien zu nicht mehr als zu einem sogenannten »Achtungserfolg* bringen. Es war beinahe schon ein Erfolg blinder Hoch- achtung vor der Person des anwesenden Dichters, von dem man wußte, daß er hinter der Kulisse bereit stand, hervor- gerufen zu werden. Sein Schauspiel jedoch . . . begegnete gestern tauben Ohren und unbewegten Gemütern. . . Es fiel sanft in das Massengrab, das im Theaterjargon ,Archiv' heißt.«

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.Reichswehr': >Qerhart Hauptmann erschien nach den folgenden Akten. Man begrüßte ihn stürmisch, er hat seine Gemeinde, die zu ihm betet und ihn preist, er mag Icünden was er will.«

,Deutsches Volksblatt': >Gerhart Hauptmann dankte persön- lich für den Beifall, der kein allzu lauter war und in den sich auch ziemlich energisches Zischen mengte.«

»Österreichische Volkszeitung': >... Erst nach dem dritten Akt setzte voller Beifall ein und als Qerhart Hauptmann selbst dafür dankte, brach lauter Jubel los und der Dichter mußte einhalbdutzendmal erscheinen. Die prächtige Dar- stellung trug viel zu dem Erfolge des Stücks bei.<

»Deutsche Zeitung': »Es war der schwerste Mißerfolg, den Hauptmann in Wien erfuhr, weit verdrießlicher als jener

des ,Armen Heinrich'.«

«

Väter und Söhne.

Richard Wagner war im November 1875 nach Wien gekommen, um den »Tannhäuser« zu in- szenieren. Gelegentlich einer Auseinandersetzung mit den Künstlern der Hofoper, in der es sich um die Aufklärung eines durch eine Ansprache Wagners an das Publikum hervorgerufenen Mißverständnisses handelte, sprach er im Regiezimmer des Theaters die Worte: »Ich selbst kann mit den Zeitungen nicht in Verbindung treten, denn ich verachte die JournalistikI«

Siegfried Wagner war im Februar 1904 nach Wien gekommen, um dem Direktor der Hofoper den »Kobold« zu überreichen. Auf dem Ball der Wiener Presse, den er am Abend seiner Ankunft trotz der Erschöpfung einer vielstündigen Reise be- suchte, hielt er im Komiteezimraer eine Rede, die in die Worte ausklang: »Die Ooncordia lebe hochl«

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Andachtbücher .'^) Von August Strindberg.

Abends, ehe ich einschlafe, meditiere ich erst eine halbe Stunde, das heißt, ich lese in einem An- dachtbuch, das ich je nach der Gemütstimmung wähle. Zuweilen habe ich ein katholisches ; das bringt einen Hauch des apostolischen, traditionellen Christentumes mit ; das ist wie Latein und Griechisch ; das sind die Ahnen ; denn mit dem katholischen Christentum be- ginnt unsere, meine Kultur. Mit dem römischen Ka- tholizismus fühle ich mich als römischen Bürger, europäischen Staatsbürger; und die eingeflochtenen lateinischen Verse erinnern mich daran, daß ich Bildung habe. Ich b i n nicht Katholik, bin es nie gewesen, denn ich kann mich nicht an ein Bekenntnis binden. Darum nehme ich mitunter ein lutherisches altes Buch, mit einem Stück für jeden Tag im Jahr ; und das benutze ich als Geißel. Es ist im 17. Jahrhundert geschrieben, als es die Menschen schlimm auf Erden hatten. Darum ist es schrecklich streng, predigt das Leiden als eine Wohltat und eine Gnadengabe. Selten hat der Prediger ein gutes Wort ; kann einen zur Ver- zweiflung bringen ; aber darum kämpfe ich gegen ihn. Es ist nicht so, sage ich mir, und dies ist nur dazu da, um meine Kräfte zu versuchen. Der Katholik hat mich nämlich gelehrt, daß der Versucher in seiner häßlichsten Rolle auftritt, wenn er den Menschen zur Verzweiflung bringen und einer Hoffnung berauben will ; aber die Hoffnung ist eine Tugend für den Ka- tholiken, denn von Gott Gutes glauben, ist der Kern der Religion ; Gott Böses zutrauen , ist Satanisraus.

Zuweilen greife ich zu einem wunderlichen Buche aus der Aufklärungsperiode des 18. Jahrhunderts. Es ist anonym , und ich kann nicht sagen , ob es von einem Katholiken, Lutheraner oder Galvinisten ge-

*) Aus dem unveröffentlichten schwedischen Manus- kript Strindberg's übersetzt von Emil Schering.

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schrieben ist, denn es enthält christHche Lebensweis- heit eines Mannes, der Welt und Menschen kennen gelernt hat und der auch ein Gelehrter und ein Dichter ist. Er pflegt mir zu sagen, wessen ich gerade für den Tag und die Stunde bedarf. Und wenn ich mich einen Augenblick gegen seine Ungerechtigkeit und seine unsinnigen Forderungen an einen Sterblichen auf- gelehnt habe, kommt der Verfasser gleich mit meinen Einwendungen. Er ist, was ich einen raisonnablen Menschen nenne, der mit beiden Augen sieht und Recht und Unrecht nach beiden Seiten verteilt. Er- innert etwas an Jakob Böhme, der fand, das alles Ja und Nein enthalte.

Bei großen Gelegenheiten muß ich zur Bibel greifen ! Ich besitze mehrere Bibeln verschiedenen Alters; und es scheint mir, als stände nicht dasselbe in ihnen ; als besäßen sie verschiedene Stromstärke oder Fälligkeit, auf mich Eindruck zu machen. Eine, in schwarz Karduan, mit Schwabacher im 17. Jahr- hundert gedruckt, hat eine unerhörte Kraft. Sie hat einer Priesterfamilie gehört, deren Stammtafel auf der Innenseite der Deckel geschrieben steht. Es ist, als wären Hass und Zorn in diesem Buche akkumuliert ; und es schilt und straft nur ; wie ich die Blätter auch wende, immer komme ich zu Davids oder Je- remias' Verwünschungen von Feinden; aber die will ich nicht lesen, denn sie erscheinen mir unchristlich. Zum Beispiel, wenn Jeremias betet : »So strafe nun ihre Kinder mit Hunger, und laß sie ins Schwert fal- len, daß ihre Weiber ohne Kinder und Witwen seien, und ihre Männer zu Tod geschlagen u. s. w.« Das ist nicht für einen Christenmenschen. Wohl kann ich verstehen, daß man Gott um Schutz gegen seine Feinde bittet, die einen hinabziehen wollen, 'wenn man hinauf strebt; gegen die. Feinde, die einem aus Bosheit das Brot rauben. Ich verstehe auch, daß man Gott danken kann, wenn der Feind geschlagen ist, denn alle Völker haben Te Deum gesungen nach

einem gewonnenen Sieg; aber spezifizierte Strafe auf die Widersacher herabbitten, das wage ich nicht. Und ich kann mir wohl sagen, was damals für Jere- mias oder David paßte, paßt jetzt nicht für mich.

Dann aber habe ich eine andere Bibel, in Kalbleder und Goldpressung, aus dem 18. Jahrhundert. Es steht natürlich dasselbe darin wie in der ersten, aber der Inhalt präsentiert sich auf eine andere Weise. Dieses Buch sieht wie ein Roman aus und kehrt mir meistens seine schöne Seite zu, selbst das Papier ist heller, die Typographie heiterer, und es läßt mit sich reden, wie Jehova, wenn Moses Vorstellungen zu machen wagt, die voller Zorn sind. Zum Beispiel, als das Volk von neuem murrt und Moses alles satt hat, wendet er sich vorwurfsvoll an den Herrn : »Hab' ich nun all das Volk empfangen oder geboren, daß Du zu mir sagen magst : Trag es in deinen Armen, wie eine Amme ein Kind trägt ? . . . Woher soll ich Fleisch nehmen, das ich all diesem Volke gebe?... Ich vermag alles das Volk nicht allein zu ertragen, denn es ist mir zu schwer. Und willst du also mit mir tun, so erwürge mich lieber...« Jehova antwortet, nicht unfreundlich, auf die Vorstellungen , und schlägt zu Moses' Hilfe die Wahl der siebzig Ältesten vor. Das ist ja nicht der unerbittliche rachgierige Gott vom alten Testament. Und ich grüble nicht darüber ; ich weiß nur, daß ich Zeiten habe, wo das alte Testament mir näher als das neue ist. Und daß die Bibel, für uns im Christen- tum Geborene, eine erziehende Kraft hat, das ist sicher; ob .darum, weil unsere Vorväter psychische Kräfte in das Buch gelegt, zugleich als sie sie daraus holten, wäre schwer zu sagen. Heiligtümer, Tempel und heilige Bücher besitzen faktisch diese Kraft als Akkumulatoren, aber nur für den Gläubigen, denn der Glaube ist meine Lokalbatterie, ohne welche ich das stumme Pergament nicht zum Sprechen bringe. Der Glaube ist mein Gegenstrom, der durch Influenz Kraft weckt; der Glaube ist das Reibzeug, das die

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Glasscheibe elektrisiert ; der Glaube ist der Rezipieiil, und muß Leiter sein, sonst kommt es zu keiner Auf- nahme ; der Glaube ist des Mediums Aufheben des Widerstandes, wodurch ein Rapport eintreten kann.

Darum sind alle heiligen Bücher stumm für den Ungläubigen. Denn der Ungläubige ist steril; sein Geist ist so pasteurisiert, daß nichts darin wächst; er ist die Negation, das Minus, eine imaginäre Quan- tität, die Kehrseite, das Saprophyt, das nicht von sich lebt, sondern auf den Wurzeln des Wachsenden ; er besitzt kein selbstständiges Dasein, denn um negieren zu können, muß er das Positive haben, das er negiert.

Schließlich gibt es Augenblicke, wo nur etwas Buddhismus hilft. So selten bekommt man ja, was man wünscht; was nützt es da, daß man wünscht? Nichts wünschen, nichts begehren, von den Menschen und dem Leben, und du wirst immer glauben, mehr bekommen zu haben, als du hast begehren können; und du weißt aus Erfahrung, wenn du bekommen hast, was du wünschtest, so war es weniger das Ge- wünschte als die Erfüllung selbst, die dir Freude machte.

Zuweilen fragt wer in mir: glaubst du daran? Ich bringe die Frage sofort zum Schweigen, denn ich weiij, der Glaube ist nur ein Zustand der Seele und kein Gedankenakt, und ich weiß, dieser Zustand ist mir heilsam und erzieherisch.

Es geschieht jedoch, daß ich mich gegen die unsinnigen Forderungen, die allzu strengen Er- mahnungen, die unmenschlichen Strafen erhebe, und dann verlasse ich für einige Zeit meine Andacht- bücher; aber ich kehre bald zu ihnen zurück, von emer rufenden Stimme aus der L^rzeit gemahnt: »Denke daran, daß du ein Knecht in Egyptenland gewesen bist, und der Herr dein Gott dich davon erlöst hat.« Dann schweigt meine Opposition, und ich komme mir wie ein undankbarer feiger Lümmel

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vor^ wenn ich meinen Retter vor den Menschen ver- leugnen wollte.

Ihr Ruf.

»Und dann mit dem »Und dem!« »Und dem 1 Ja, waren Sie denn selbst dabei? »Ich? Gott, das ist doch einerlei II Man sagt ja doch ganz allgemein « Gewiß I Dann muß es ja so seini

»Und neulich dies »Und dasU »Und das Ja, haben Sie's denn selbst gesehn? »Was selbst I? Wozu? Ich bitte schön II Wo alle Welt, ganz allgemein « Gewiß 1 Dann muß es wohl so seinl

»Und Sie??« Ich habe, sehr Verehrte, Auch nichts gehört, auch nichts gesehn Und will deshalb nur eingestehn, Daß manches Bild mehr lehrreich scheint Für den, der's malt, als den, den's meint.

»Ja aber wenn wenn's wahr ist ja?II« Wahr? Ja und wenn Sie mich ermorden: Sie ist, so oft ich sie besah, Bis jetzt nicht häßlicher gewordenl

Julius B ab Berlin.

ANTWORTEN DBS HERAUSGeBBRS.

Fregatten-Kapitän. Darüber, wie tapfer der japanisch-russische Krieg von der Wiener Presse geführt wird, ließe sich wirklich viel sagen. Ihr Beispiel ist nur eines von den vielen: Überrumpelung der zwei russischen Kreuzer Warjag und Korejetz vor Cheraulpo durch eine japanische Flottenabteilung. Noch bevor der Sachverhalt klargestellt ist, wirft die ,Neue Freie Presse' die dumme und gehässige Frage auf: ob, wenn umgekehrt zwei japanische Schiffe überrascht worden wären, diese

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auch, ohne einen Schuß abzugeben, die Flagge einfach gestrichen hätten, ob nicht vielmehr die japanischen Kommandanten, um nicht in die Hände des Feindes zu geraten, getrachtet hätten, ihre Schiffe in die Luft zu sprengen. Die Animosität der ,Neuen Freien Presse' gegenüber den '; Offizieren einer befreundeten Macht wird, so schreiben Sie, in Pola als »ungerecht und tölpelhaft« bezeichnet . . . Schraock als Marineur ist doch so übel nicht, und Sie stören ihm das Vergnügen durch die Frage, ob das russische Seeoffizierskorps es nötig hat, sich seinen Mut in der Re- ii daktion der , Neuen Freien Presse' zu holen!

DiszipUnarrat. In einer Zuschrift an die Tagesblätter verwahrt sich Herr Dr. v. Feistmantel, der bekanntlich nicnt nur Kurator der Prin- zessin Coburg, sondern auch Präsident der Advokatenkammer ist, gegen l|| die im Prozeß Zinner vertretene Anschauung, als ob die Zurückhaltung i| von dem Klienten gehörenden Barschaften zur Bezahlung von Expensen- forderungen eine advokatorische Usance sei, die auch die Billigung der Kammer fände. »Der Ausschuß«, so erklärt in seinem Namen Herr Dr. v. Feistmantel pathetisch, »legt Wert darauf, daß die Meinung nicht aufkomme, als würde eine laxere Behandlung der der ad vokatori sehen Treue entspringenden, mit der VertrauensstellungdesAdvokaten untrennbar verbundenen Verpflichtungen von den Standesbehörden geduldet werden.« Herr Dr. Feistmantel hat Sinn für Humor. Barschaften müssen die Advokaten ausliefern. Aber was ist's denn mit den Briefen, die der Klient seinem Anwalt übergeben hat? Wird der Disziplinarrat endlich gegen den Barber einschreiten? Wird er dem Polizeiadvokaten Bachrach, der den Anwalt des Herrn Mattasich zu der Veruntreuung angestiftet hat, das Interesse für die Briefe der Prinzessin von Co- burg — Briefe, die er nicht erreichte austreiben? Wird er gegen den Präsidenten Feistmantel einschreiten, der in offener Gerichtssitzung eine Handlung als korrekt gelobt hat, die er zwei Wochen später in einer Zuschrift an die Tagesblätter als eine den Advokatenstand diffamierende bezeichnet? ... f

Dramaturg. Herr Max Kalbeck ist vielleicht der einzige Wiener Kritiker, der gegen »Rose Bernd« gar keinen Einwand hat. Aber ergeht in seiner Bewunderung entschieden zu weit. So z. B., wenn er über Oerhart Hauptmann schreibt: »Das Theater hat ihn sehen, künstlerisch sehen gelehrt, und er versteht sich besser als irgend ein Akademiker auf die Gesetze der Bühne. Darum ist ihm auch das immerhin bedenkliche Wagestück gelungen, einen Vorgang, der mehrere Monate währt, in einen Abend zusammenzudrängen.« Man denke! Bisher konnten bekanntlich bloß solche Vorgänge dramatisiert werden, die im Leben auch nur von 7 bis 10 Uhr dauern. Zum Beispiel »Faust« ! . . . Herr Kalbeck ist Gerhart Hauptmann aus landsmannschaftlichen Gründen so freundlich gesinnt, daß er ihn nicht einmal für Handel und Wandel der Rose Berr.d verantwortlich macht. Und das will viel sagen. Herr Kalbeck ist nämlich »Idealist« und kann im Allgemeinen nur schwer über das »Stoffliche« in der Kunst hinwegkommen und sich mit dem Gedanken befreunden, daß Dichter nicht bloß in Gartenlauben, sondern auch in

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Kuhställen geaeihen können. Diesmal hat er sich's abgerungen. Er schildert den Kindesmord Roses und sagt: >Bei der göttlichen Fähigkeit des schöpfe- rischen Genius, sich selbst in den verschiedensten Formen zu objektivieren, werden wir uns hüten, den Dichter für die Gesinnung seiner Heldin zur Rechenschaft zu ziehen. Was sind spekulative Philo- sopheme auch mehr als Gedankenmusik, Stimmungen, die zu Reflexionen erstarrt sind, ehe sie wieder im grenzenlosen Meere des Unbewußten verfließen!? Die Gestalten, welche sich aus der Phantasie des Dichters losgelöst haben, führen fortan ein selbstständiges Dasein, und die Kraft und Ursprünglichkeit, mit der sie geschaffen worden sind, lebt in ihnen fort.« Herr Kalbeck will zur Vermeidung von Mißverständnissen sagen, daß Hauptmann den Kindesmord der Rose Bernd nicht billigt. Hoffentlich ist er auch überzeugt, daß Shakespeare sich nicht mit Richard III. und Schiller sich nicht mit dem Franz Moor identifiziert . . . Und doch und doch : von einer gewissen Parteinahme für Rose ist Hauptmann nicht ganz freizusprechen; das Stück schließt mit den Worten: »Das Mädel . . . was muß die gelitten han!« Die Aufführung der >Rose Bernd« bringt das Feuilleton des anmaßenden Klugschwätzers Paul Goldmann über die Berliner Premiere in Erinnerung. Hauptmanns Entwicklung mag sich in noch so absteigender Richtung bewegen, es ist doch ein schmachvoller Anblick, ihn im führenden Blatt deutsch-österreichischer Intelligenz dem Witzdrang seichtesten Schmockgeistes preisgegeben zu sehen. Von Paris spuckt Herr Nordau, von Wien Herr Schütz und von Berlin Herr Gold- mann auf die moderne Kunst: eine Tripelallianz pharisäischen Flach - Sinns, wie man sie sich »gesünder« nicht denken kann. Herr Goldmann, der einst, da er seiner schmalzigen Breslauer Sentimentalität noch nicht die »Überlegenheit« angeschminkt hatte, in einer Ischler Sommernacht über ein Gedicht Hugo v. Hofmannsthals Tränen vergießen konnte, kann jetzt nicht genug Hohn für den Nachdichter der »Elektra« aufbringen. Er mag ja mit manchem, was er gegen »Rose Bernd« sagt, Recht haben. Solche Leute, die zwickeraufsetzend die Kunst begutachten, haben immer eher »Recht«, als die sie bloß fühlen. Aber der Ton, in dem das alles 80 von oben herab gesagt wird, ist ein so unsäglich widerwärtiger, diese endlose Diarrhöe zwölfspaltiger Klugheit so unappetitlich, daß einem die Parteibegeisterung derer um Hauptmann noch sympathisch wird. Was aber hat Herr Goldmann hauptsächlich an »Rose Bernd« auszusetzen? Man höre: »Bisher galt es als die Aufgabe des Bühnenschriftstellers, die dramatischen Ereignisse des Vorganges, den er behandelt, auf dem Theater darzustellen. Hauptmann verlegt sie in die Zwischenakte. Das Drama spielt sich bei ihm in den Zwischenakten ab; in den Akten erscheinen dann die Personen auf der Bühne, um über das, was ihnen in den Zwischenakten widerfahren ist, zu reden. ,Rose Bernd' bietet, wie gesagt, ein .klassisches' Beispiel für diese Methode. Vor Beginn des Stückes oder in den Zwischenakten ist Rose Bernd von Flamm verführt worden, ist sie von Streckmann gezwungen worden, sich ihm hinzu- geben, hat sie vor Gericht den Meineid geschworen, hat sie ihr Kind gemordet. In den Akten werden dann Gespräche geführt über die

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Verführung, die Vergewaltigung, den Meineid, den Kindesmord. Es läßt sich nicht leugnen, daß das Schreiben eines Dramas sich wesentlich vereinfacht, wenn man aus dem Drama die Ereignisse wegläßt.« Herr fl Ooldmann findet es also störend, daß die Vorgänge der Verführung, der fl Vergewaltigung und des Kindesraordes sich nicht auf offener Szene abspielen. Die > Ereignisse« sind für ihn die Hauptsache, nicht deren seelische Verarbeitung. Ein Drama, aus dem die Ereignisse > weggelassen « sind, ist für sein Gefühl keines. Wie anders wirkt dies Zeichen auf mich ein: der zartfühlende Kritiker der (Österreichischen Volkszeitung' rechnet es nach der Wiener Premiere der >Rose Bernd« ausdrücklich »zu den Mängeln des Dramas, daß sich die wichtigsten und intimsten Vorgänge, die sonst die Öffentlichkeit sorgfältig scheuen, auf freiem Feld abspielen«. Und dabei handelt sich 's bloß um ein freies Feld hinter den Kulissen!

Geograph. Die ,Neue Freie Presse' (9. Februar / meldet, Admiral Spaun habe >am 7. Februar, 10 Uhr vormittags« eine >in Peking am 8. Fe- bruar um 1 Uhr 30 Minuten aufgegebene Depesche« erhalten, und 7^ bemerkt dazu belehrend: »Der Zeitunterschied erklärt sich durch die Differenz der geographischen Länge zwischen Peking und Wien«. Setzen ! Ein Leser korrigiert wie folgt: Da die Pekinger Ortszeit jener von Wien entsprechend der Lage der beiden Orte bei einem Längenunterschied von zirka 100 Graden ä 4 Zeitminuten um 400 Minuten = bb,'\ rund sieben Stunden voraus ist, so war es. als die Depesche (nach . Angabe der , Neuen Freien Presse') um 10 Uhr vormittags des 7. Fe- 5 bruar in Wien anlangte, in Peking 5 Uhr nachmittags des 7. Februar, ' weil Peking gleich Wien auf der asiatisch-europäischen Seite der tat- j sächlichen (auch der nautischen) Datumgrenze gelegen ist. Da ferner 1 im Allgemeinen jedes Telegramm vor dem Zeitpunkte seiner An- kunft aufgegeben worden sein muß, kann eine Pekinger, in Wien \ um 10 Uhr vormittags des 7. Februar angelangte Depesche in ' Peking nicht nach 5 Uhr nachmittags des 7. Februar aufgegeben worden sein. Daß aber im vorliegenden, besonderen Falle die De- i pesche in Peking dennoch erst um 1 Uhr 30 Minuten am 8. Februar, j also entweder früh (i. e. 8V2 Stunden nach ihrer Ankunft in Wien) t oder nachmittags (i.e. 2OV2 Stunden nach ihrer Ankunft in Wien) ! aufgegeben werden konnte, erklärt sich sonach nicht »durch die Differenz j der geographischen Länge zwischen Peking und Wien«, sondern nur J durch die Ignoranz der .Neuen Freien Presse'. Sollen der Unter- schied der Tage . und die Angaben der Uhrablesungen aufrecht bleiben und die aufklärende Bemerkung der Redaktion überhaupt einen Siajj bekommen, so muß es heißen: Ankunft der Depesche in Wien: 10 Uhr abends des 7. Februar, Aufgabe in Peking: 1 Uhr 30 Min. früh des 8. Februar. Laufzeit VI2 Stunden. Ein anderer Leser \ schreibt mir: »Auf Grund jenes Paragraphen des Preßgesetzes, der Sie \ verpfhchtet, die haarsträubendsten Blödsinnsäußerungen der ,Zeit' zu berichtigen, fordere ich Sie auf, der folgenden Richtigstellung des Ar- \ tikels ,Zeitdifferenz und Datumgrenze' (,Zeit'-Morgenblatt vom 10. d. M., j

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Seite 6) Raum zu geben: Es ist unwahr, daß ,die Zeitdifferenz, die bei einem Längenunterschied von 15 Grad eine Zeitdifferenz (!) von einer Stunde ausmacht', von der geographischen Breite beeinflußt wird. Es ist unwahr, daß sie am Äquator am größten ist. Es ist unwahr, daß auf dem Meridian 180" ö. L. Oreenwich in dem Augenblicke, wo in Oreenwich 8^ früh des 1. Juli ist, zugleich 8^ abd. des 1. Juli und 30. Juni gezählt wird. Wahr ist, daß die Differenz der Ortszeiten mit den Breitegraden nicht das mindeste zu tun hat; wahr ist, daß diese Differenz per Längegrad am Äquator gerade so groß ist, wie unter jedem andern Breitegrad. Wahr ist, daß auf dem Meridian 180° (mit alleiniger Ausnahme der Aleuten, wo in dem oben gegebenen Bei- spiel der 30. Juni geschrieben wird) der Kalender um S"" abd. Oreen- wicher Zeit denselben Tag zeigt, wie in Oreenwich selbst und die dem fernen Osten entstammenden Leute mit alleiniger Ausnahme der ,Zeit'- redakteure ganz genau von der Existenz ^iner im großen und ganzen östlich des Meridians verlaufenden Kurve, der sogenannten , Datum- grenze', wissen.«

Vater. Ich kann doch nicht von jedem Todesfall an der Wiener Hancielsakademie Notiz nehmen ? Was hier vor langer Zeit über das Königtum Sonndorfer geschrieben wurde, gilt leider auch heute noch. Der Herr Regierungsrat wirkt in unverminderter Rüstigkeit, und sein Dolinski, der vormalige Offizier, hat noch immer die gewissen Rückfälle, denen seine Schüler eine mehr rekrutenmäßige als pädagogisch sachgemäße Behandlung verdanken. Kenner. (Ein Taschendieb im Oerichts- saale.) Vor den Augen des Straf- richters der Leopoldstadt, Oerichts- sekretär Dr. Pick, wurde gestern ein irecher Taschendiebstahl verübt, wie gewöhnlich, fanden sich auch gestern zahlreiche Personen als Zu- hörer im Strafverhandlungssaale ein, die, da wenig Sitzplätze im Saale I sind, vor der Barriere Aufstellung nahmen. Während der Verhand- lungen wurde nun- einem der Zu- hörer die silberne Uhr aus der Weste gestohlen. Er bemerkte den Abgang erst beim Verlassen des Saales. Die Ausforschung des Diebes wurde eingeleitet.

Klein, aber fein. Im Oerichtsteil eines und desselben Blattes konnte man kürzlich die beiden Notizen im Zeiträume weniger Tage finden. Was geht daraus hervor? Ein Richter, dem der Reporter nicht wohl will, wird auch nicht genannt, wenn in seinem Verhandlungssaal eine Oeldbörse gezogen wird. Dagegen wird ein solcher Diebstahl immer

(Diebstahl im Oerichtssaale.) Während der gestrigen Verhandlung vor dem Bezirksgerichte Josefsfadt, in der es sich um die Ehrenbe- leidigungsklage von Dienstmännern handelte, wurde dem Klageanwalt aus dem Winterrocke eine Oeldbörse mit etwa 20 K gestohlen.

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>vor den Augen des Oerichtssekretärs Dr. Pick« verübt. Hier ist die besondere Frechheit erschwerend. . . Klein, aber fein. Die Technik der Oewaltreklame könnte an keinem drolligeren Beispiel illustriert werden. Der richterliche Funktionär, für den sie betätigt wird, ist im einzelnen Falle an der Nennung seines Namens sicherlich so unschuldig wie an dem Diebstahl, der vor seinen Augen verübt wird, den aber der Be- stohlene erst beim Verlassen des Saales merkt. Doch müßte endlich ein Gesetz zum Schutze der richterlichen Würde geschaffen werden, wonach das Reklamemachen im Oerichtssaal ebenso schwer wie ein Taschendiebstahl vor den Augen des Richters gestraft wird.

Klient. Wie oft soll ich's noch sagen! Einen Diebstahl zeigt man nicht bei der ,Fackel', sondern bei der Polizei an. Und wenn Ihr Advokat wirklich mit Absicht den Termin für Überreichung Ihrer Klage hat verstreichen lassen und das Interesse seines Klienten an den Gegner verraten hat, so geht man zifr Advokatenkaramer. Erst, wenn die aus irgendwelchem Grunde nicht will, kommt man zu mir.

Sammler. Was gibt's denn Neues? Der hochgebildete Börsen- wöchner schrieb das Wort: »Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu« dem Descartes, dessen System es stracks zuwiderläuft, anstatt dem Locke zu. Sein Kollege im Leitartikel versicherte, Japan »entfalte das Banner der offenen Tür«. Daneben hat sich »eine hervor- ragende japanische Seite« geäußert. Der hundertste Todestag Kant's wurde als Kant-Jubiläum nicht zu verwechseln mit dem Hartmann-Jubiläum gefeiert. Und so weiter. Und so weiter.

Literat. Ich glaube, die Trebitsch- Bewegung verebbt langsam. Seit zehn Jahren hieß es jede Woche : Österreich hat wieder einen Dichter Die Sache war langweilig geworden Da erklang, neuartig und über- raschend, der Ruf: Österreich hat wieder einen Übersetzer!, und die Herren Lothar und Saiten wetteiferten, diesem Siegfried Trebitsch, der auszog, den Drachen einer fremden Sprache zu überwinden, und diA deutsche umbrachte, die Palme reichen zu dürfen. Noch nie vielleicht' hat eine schlechte Übersetzung so viel Staub aufgewirbelt, wie in diesem Falle. Da man endlich die Affaire durch die Kellnersche Abfertigung er- ledigt glaubte, erstanden Herrn Trebitsch erst recht begeisterte Verteidiger. Kommende Literaturforscher werden vielleicht auch unserer Zeit noch eine gewisse Zurücksetzung der Originalgenies vorzuwerfen haben. Aber sie werden über die Fixigkeit staunen, mit der man in Wien die Übersetzer ans Licht gezogen hat . . . Freilich hat Herr Trebitsch auch Novellen geschrieben, über die in großen Blättern ernsthaft referiert wurde, und ich halte die Entschuldigung, es sei »noch immer besser«, wenn reiche junge Leute ihr Geld statt für Rennen für Dichten ausgeben, für eine Niederträchtigkeit. Ich bin auf das äußerste dafür, daß reiche junge Leute, die auch nur den geringsten Trieb zum Novellenschreiben ver- spüren, sofort zum Rennen fahren Ui.d daß sie im Zweifel immer lieber sich als die Literatur ruinieren sollen. Aber nicht dem produktiven Trebitsch, sondern dem Zerdeutscher Shaw's und Courteline's galt kurioser Weise die Begeisterung der Wiener journalistischen Freunde. Und nun folgt

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ihr leider die Berliner Ernüchterung auf dem Fuße. Im > Neuen Theater« ward Shaw's »Schlachtenlenker« aufgeführt, Herr Trebitsch, der das Stück aus dem Englischen in eine fremde Sprache übersetzt hat, reiste persönlich hin. Ein Ereignis von literarhistorischer Bedeutung. Da fuhr Fritz Mauthner im , Berliner Tageblatt' dazwischen und schrieb: »Der irische Publizist Shaw, der seit Jahren von berufsmäßigen Entdeckern als eine neue Größe angepriesen wird, wurde uns in einer offenbar unzulänglichen Übersetzung von Siegfried Trebitsch vorgeführt« . . . Ich glaube, die Bewegung verebbt langsam.

Analphabet. Im , Deutschen Volksblatt' (Abendblatt vom 10. Fe- bruar) war von einer Dunkelheit im Qerichtssaal zu lesen, »die im Interesse der Berichterstatter auch nicht durch das kleinste elek- trische Flämmchen erhellt« wurde. Ja, die Herren vom ,Deutschen Volksblatt' wollen eben die Finsternis!

Ungläubiger. »Aus Innsbruck wird telegraphiert : Papst Pius hat dem Erzherzog Eugen das Qroßkreuz des Christus-Ordens mit der Kriegsdekoration in Brillanten verliehen. Mit der Überreichung der In- signien und des Brevets dieser höchsten und seltensten Auszeichnung hat der Papst mit Beglaubigungsschreiben seinen Hofmaler den geheimen Kämmerer Conte Lippay als außerordentlichen Abgesandten betraut. Derselbe ist gestern hier eingetroffen, und heute vormittags erfolgte die Übergabe der Auszeichnung. Zu Ehren des päpstlichen Ablegaten fand um 1 Uhr ein Hofdiner statt. Conte Lippay ist nach Salzburg abgereist, wo er morgen mittags Gast des Oroßherzogs von Toskana ist«. Manchmal liest man in einer Zeitung und wähnt sich in einem Fieber- traum befangen. Die Lettern beginnen zu tanzen, kommen zu den unmöglichsten Verbindungen, und plötzlich liest man den Namen Lippay neben dem Namen Pius X. . . . Nichts ist unmöglich. Täglich erwarte ich die Meldung, daß Herr Sigmund Münz Kardinal geworden ist und der Erzbischof Kohn in die Redaktion der .Neuen Freien Presse' eintritt. Der »Kunstsinn der Päpste« ist traditionell. Warum aber hat Papst Pius X. gerade Herrn Lippay auserkoren? Warum nicht den Zeichner des .Extrablatt' oder des , Interessanten'? Ich hab's nicht glauben wollen, als ich las, der Papst habe Lippay, in dessen Bild nicht durch dessen Bild er sich getroffen fühlte, geküßt. Oder ich hielt es für den Ausdruck verzeihender Gnade, die nichts persönlich nimmt. Aber siehe, Lippay stieg immer höher, ward geheimer Kämmerer, Conte und endlich Mittler zwischen Seiner Heiligkeit und dem österreichischen Erzhause. Will man daraus auf die Unhaltbarkeit der Theorie schließen, daß die Juden es heutzutage zu nichts bringen können ? Will man Vergleiche ziehen zwischen der Behandlung, die Herr Lippay im Vatikan erfährt, und jener, die er in Wiener Advokalurskanzleien erfuhr, da er die Ab- drücke seines berühmten Bildes »Im Schwurgerichtssaal« an den Mann zu bringen suchte?... Ein Fiebertraum! Und auch die Nuntiatur will's nicht glauben. Sie ist, so wird gemeldet, »überaus befremdet«, da die Überbringung des Christusordens durch eine Privatperson »aller diplo- matischen Gepflogenheit widerspricht«, und hat sich auch an das

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Staatssekretariat des Papstes gewendet, um eine Aufklärung über den seltsamen Vorgang zu erhalten. Solange nicht eine amtliche Bestätigung aus Rom eingetroffen ist> >wird die Annahme des Ordens durch den Erzherzog in suspenso bleiben«. Blieb auch das Hofdiner, das Herrn Lippay zu Ehren gegeben wurde, in suspenso? Hoffentlich gelingt es der Nuntiatur, die den Vorfall darauf zurückführt, daß der Papst »mit den diplomatischen Formen noch nicht genau vertraut ist«, ihn also mit Fehlbarkeit entschuldigt, den irregeleiteten Kunstsinn Pius X. in andere Bahnen zu lenken. Wenn erst der Papst darüber aufgeklärt ist, daß Herr Lippay nicht, wie er ihm erzählte, mit der päpstlichen Familie Rezzonico, sondern im Gegenteil mit der Familie Lipschitz verwandt i dann wird alles wieder gut werden und die Christenheit an dem Beisp i ihres Führers sich aufrichtend lernen, daß Gläubigkeit, nicht Leicli gläubigkeit ihre erste Pflicht ist.

Bfichereinlauf.

Bessemer Hermann, Der Mann mit dem Spiegel. Geschichte eines ^Niedergangs. Leipzig- Rudnitz. Magazin-Verlag, Jacques Hegner.

Skfivana Karla, Potulny Zpeväk. Neutitschein. Verlag ,Novy Zivo:

LackaEmil, Gaia, Das Leben der Erde. Eine Dichtung. Leipzig. Modernes Verlagsbureau Kurt Wigand.

Lucka Emil, Sternennächte. Dichtungen. Leipzig. Modernes V^erlagt- bureau Kurt Wigand.

Weichberger Konrad, Schorlemorle. Studentengedichte. Leipzig. Modernes Verlagsbureau Kurt Wigand.

Hollitscher Dr. Jakob J., Friedrich Nietzsche. Darstellung und Kritik. (Mit einem Titelbild: M. Klein's Nietzsche- Statue.) Wien und Leipzig. Wilhelm Braumüller.

Ein Österreicher, Militär und Zivil. Zeitgemäße Betrachtungen. Wien und Leipzig. Wilhelm Braumüller.

Seh we gel Dr. H., k. u. k. Vizekonsul in Chicago, Die Einwanderung in die Vereinigten Staaten von. Amerika (Mit beson- derer Rücksicht auf die öst.-ung. Auswanderung). Wien und Leipzig. Wilhelm Braumüller.

Springer Rudolf, Die Krise des Dualismus und das Ende der Deäkistischen Episode in der Geschichte der Habsburgischen Monarchie. Eine politische Skizze. Wien. Kommissionsverlag Franz Deuticke.

Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus. nruck von lahoda & Siesel. Wien. III. Hintere ZollamtsstraB« 3

k. ioO ICischieneii am 9. März 1904

V. abr

Fackel

Herausgeber :

ARL KMU

Erscheint drei- oder zweimal im Monat.

Preis der einzelnen Nummer 24 b.

ehdruck und jfewerhsmäßjges Verleihen verboten; gerichtliche Verfolgung vorbeftaiien.

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Die Fackel

Nr 156 WIEN. 9. MÄRZ 1904 V. JAHR

Louise von Coburg und Rose Bernd haben neulich an einem Tage ihre Zügellosigkeit und ihr mit höfischen Sitten unvereinbares Vorleben zu büßen bekommen. Man hatte erwartet, daß Louise die Irrenanstalt in Lindenhof verlassen und Rose im Burgtheater bleiben werde. Am l. März sah man, daß man sich getäuscht hatte. Das Obersthofmarschall- amt ließ, um die alarmierten Leser der ,FackeP zu beruhigen, ein Gutachten über »die neuerliche Überprüfung des Geisteszustandes« veröffentlichen, welche die Vielgeprüfte, Schuldenreiche über sich hatte ergehen lassen müssen. Sie bleibt, da ihr sauberer Vater und ihr Gemahl sich zur Bezahlung der Schneider- rechnungen noch immer nicht herbeilassen wollen, »nach wie vor unfähig, ihre Angelegenheiten selbst zu be- sorgen« ; ihr »Zustand von krankhafter Geistesschwäche besteht unverändert fort«. Wir sind jetzt vollkommen beruhigt, und sogar davon überzeugt, daß nach einem weitern Jahre Lindenhof die Psychiater, die heute statt einer wissenschaftlichen Diagnose bloß die übliche Kuratorenphrase zu liefern imstande sind, mit bestem Wissen und Gewissen alle Symptome des Irrsinns werden konstatieren können . . . Leichter könnte man sich damit abfinden, daß Rose Bernd dem höfischen Leben entrückt wurde. Nur in diesem kotigen Klatschnest, dem an jedem Tage seine Sensation druckfertig serviert werden muß, war die Aufbauschung des Falles möglich.

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Eine unvernünftige Kritik, die nicht weiß, daß das Burgtheater nie mehr als eine Zuchtstätte guter Schauspielerei war, geht seit Jahren rait der idealen Forderung nach »Literatur« hausieren und bewirft einen Direktor, der einem Bernhard Baumeister zuliebe Schön- than spielt, mit jenen faulen Äpfeln, an denen sich Schiller's Schaffenslust erholt hat. Gewiß, die Ver- nachlässigung des klassischen Repertoires ist ein Ver- brechen, das gerade dem Leiter eines Schauspieler- theaters zur Last gelegt werden kann. Aber das Burgtheater soll auch literarisches Neuland entdecken, soll im Vordertreffen moderner Eroberungen stehen, und der Unvernünftigsten einer verlangt, daß es sich schämen solle, wenn ihm Herr Brahm in Berlin mit einer Hirschfeld-Premiöre zuvorgekommen ist. Nun, der »Geist des Burgtheaters« hat sich stets die österreichische Maxime zunutze gemacht: Wir können warten. Und im Bereiche spanischer Kunstetikette wirkte ihre Befolgung durchaus nicht widernatürlich. Wider die Natur einer Hofbühne ginge es, sie in modernen Geisteskämpfen, die noch nicht ausge- tobt haben, zu engagieren. Das mag traurig sein, aber wahr ist es. Ibsen mag der Welt mehr bedeuten als sämtliche Monarchen der Welt: wer einst im rechten Seitengang des Burgtheaterparketts aus der Kaiserloge ein heftiges Wort über »Klein Eyolf« er- lauscht hat, würde selbst die Verbannung eines Geistes, der die moderne Welt aus einer höhern Höhe sieht als der der schlewschen Dialekttragik, begreiflich finden. Der Preiheitspöbel möchte immer das Unver- einbare vereinen. Anstatt sich in seiner Art zu freuen, daß der Hof nicht hauptmannfähig ist, greint er jetzt, weil Hauptmann nicht für hoffähig erklärt wurde, und plagt die Welt mit seinem Leitartikel- jammer. Und dabei wird nicht einmal das natürliche Recht jedes Hausbesitzers respektiert, in seinem Hause seinen Geschmack und seine Vorurteile, sein Verständnis und seine Rückständigkeiten ein Wörtchen

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mitsprechen zu lassen, wird eine Maßregel als »Österreicherei« verhöhnt, mit der in Wilhelm's IL Theater einst dem künstlerisch viel zarteren »Hannele« begegnet wurde. Daß der deutsche Kaiser die Stadt mit der Puppenallee begnadet hat, daß er die deutsche Kunstentwicklung seinem knackfüßigen Geschmack Untertan machen will, dagegen und nicht gegen die Anstellung des Majors Lauff als Hoftheaterdichters wehrt sich deutsches Kulturbewußtsein. Will man den Mitgliedern des österreichischen Kaiserhauses, die bisher in öffentlichen Kunstangelegenheiten ruhige Zurückhaltung bewahrt haben, private Neigungen im eigensten Machtbereich verbieten ? Die Absetzung der »Rose Bernd« ist viel weniger überraschend als ihre Annahme. Am überraschendsten die Naivetät der Überraschten und die Dummheit der Autoren, die das Burgtheater noch immer als eine Literaturbühne be- trachten und sich für die Ehre, hier aufgeführt zu werden, entrechten lassen. »Überrascht« können wir höchstens sein, wenn wir daran denken, daß ein Literat an der Spitze der Hofbühne steht. Wenn wir uns erinnern, daß er dienstlich einem Oberststall- meister untersteht, werden wir's nicht mehr sein. Daß Herr Schienther, der Freund und Biograph Hauptmanns, den letzten Schlag so leicht verwindet, bleibt dann die einzige Überraschung. Sein glück- liches Naturell gewöhnt sich schließHch auch an den Gedanken, den jeder Kenner längst gedacht hat: daß das Burgtheater aus aller hterarischen Entwicklung endgiltig auszuschalten ist. Und da Sein oder Nicht- sein von hoher Gnade abhängt und die volle Pension ein Ziel ist, auf's innigste zu wünschen, so wird es selbst begreiflich, daß Herr Schlenther bei der Ver- treibung der Rose Bernd einem freundlichen Wunsch schon gehorchte, ohne den amtlichen Befehl abzuwarten. Wie sagt doch das Mitglied eines regierenden Hauses bei Shakespeare, das die aufrichtigen Naturen nicht leiden kann?

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Ich kenne Schurken, die in solcher Qradheit Mehr Arglist hüllen, mehr verruchten Plan, Als zwanzig fügsam unterthän'ge Schranzen, Die schmeichelnd ihre F*flicht noch überbieten.

Das einzige »öfiFentliche« Moment an der ganzen Angelegenheit, die überdies beigelegt worden wäre, wenn nicht, wie ein Tratschblatt selbst zugibt, »die vorzeitige Publikation die Bemühungen kompetenter Kreise, das Drama zu retten, gehindert« hätte, ist die autorrecht- liche Frage. Und diese ist durch das Entgegenkommen des im vorhegenden Fall betroffenen, dem Direktor befreundeten Dichters durchaus nicht aus der Welt geschafft. Man sollte es nicht für möglich halten, daß die Autoren, die das Burgtheater keiner Kontrakt- schließung würdigt, sich die Schändlichkeit jenes »Tantiferaenreverses« gefallen lassen, der nicht nur hausherrlichen Launen, sondern auch direktorialer Böswilligkeit jeden Spielraum öffnet und vor jedem Gericht als Schulbeispiel eines unsittlichen Vertrages anzufechten wäre. Ein Publikumsrecht wird durch die Sistierung der Aufführungen eines Literaturwerkes auf der Hofbühne nicht verkürzt. Dort, wo durch Absetzung eines Stückes ein Eingriff in die Rechte des Zuschauers wirklich erfolgt, dort kuschen die Hüter öffentlicher Interessen. Ich denke an den Fall, daß z. B. »Rose Bernd« nicht wegen Verstimmung einer Prinzessin ein- für allemal, sondern wegen Indisposition der Frau Medelsky einmal abgesetzt, daß an ihrer Stelle der »Bibhothekar« gegeben wird und daß die Käufer der Billets, wenn sie sich nicht zu solchem Genuß zwingen lassen wollen, ihres Geldes verlustig gehen. Gegen diesen Skandal, der wie das Bestehen der »Tantiferaenreverse« die Anmaßung eines Sonderzivilrechts für die Geschäftsführung der Hof- bühnen bedeutet, müßte in Leitartikeln gewettert, müßte die Hilfe der Gerichte angerufen werden. Die Empörung wegen der »Rose Bernd« ist ein Eingriff in das Privat- und Familienleben einer Erzherzogin. Würde die liebe Demokratie bei der parlamen-

tarischen Erledigung des Punktes »Zivilliste« ein wenig verweilen und gewisse Bedingungen für die künstlerische Verwaltung der Hofbühnen stellen, dann hätte sie auch das Recht, die höfische Zensur des Burgtheaterrepertoires zu mißbilligen. Heute wäre das ganze Geschrei über Rückständigkeit am Platze, wenn etwa die staatliche Behörde eine Privatbühne ge- zwungen hätte, »Rose Bernd« in ihrer Sünden und Tantiemen Maienblüte abzusetzen. Das Ärgernis, das eine Prinzessin an der Wald- und Wiesengeschlecht- lichkeit nimmt, enttäuscht uns nicht, und daß sie als Hausherrntochter Einfluß hat und ihn zur Beseitigung des Ärgernisses nützt, sollte uns auch nicht enttäuschen. Wäre ich Mitglied des kaiserlichen Hauses, ich würde zum Beispiel ohne weiters die »Jakobsleiter« absetzen lassen. Da ich es nicht bin, dürfte ich nicht einmal etwas dagegen einzuwenden haben, wenn mir verboten würde, bei der Aufführung dieses Stückes zu zischen, und wenn, wie in alten Hoftheaterzeiten, Wand- Plakate dem Publikum das Benehmen in den Pausen, die Enthaltung von jeder Beifalls- und Miß- fallsbezeugung vorschrieben. Der Groll der Literatur- pharisäer gegen die »peinlichen« Stoffe, die als ob Shakespeare nie einen »Macbeth« und »Titus Andro- nicus« geschrieben hätte— bloß die Originalitätssucht der Modernen in die Welt gesetzt hat, ist ja von anwidernder Dummheit, und die ehrliche Begeisterung der •Antisemitenpresse für die Absetzung der »Rose Bernd« verdient schon einen humoristischen Fußtritt. Aber der höfische Unmut hat uns nicht zu bekümmern und nicht zu verdrießen. Vielleicht ist einem Werke gegenüber, das aus geschlechtlichen Wirrungen seine Wirkung holt, gerade in hoher Gesellschaftsregion der Hinweis auf den Ernst des Lebens und auf die Zerstreuungsmission des Theaters keine Phrase. Und würde der liebe Liberalismus aufzumucken wagen, wenn Herr Theodor Ritter von Taußig ein Theater subventionierte und eine seiner Töchter die

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Aufführung von »Geschäft ist Geschäft« nach dem zweiten Akt ärgerUch verließe ? . . .

Per Lastzug der österreichischen Justiz schleppt wertlose Rechtsgüter mit und überführt die Gerechten. Wir leben im Lande der unschuldig Verurteilten und der schuldig Freigesprochenen. Wenn man die Anarchisten der Gesetzlichkeit am Werke sieht, er- scheinen einem die Bombenwerfer in milderem Licht. Erinnert man sich noch an die Geschichte vom aus- geliehenen alten Regenschirm? Im August 1900 hat's geregnet. Damals trug einer einen Schirm, der ihm nicht gehörte. Im April 1901 begegnete ihm der Eigentümer und erinnerte ihn an die Rückstellung. Aber wenn's gegen Regen einen Schutz gibt, so gibt's gegen Quartierfrauen, die wertloses Gerumpel fort- schaffen, keinen. Und keinen gegen die Justiz. So wird einem denn eines Tages eröffnet, daß man eine »Veruntreuung« begangen hat. Fünf Tage Arrest. Vom Landesgericht Wien bestätigt. Im August 1901 regnet's wieder, aber man wird nicht naß, wenn man' die Tage vom 13. bis zum 18. im Arrest zubringt. Am 18. August herrscht Kaiser wetter, und man kann die Zelle verlassen. Wer sich in Österreich einen Regenschirm ausleiht, kann darauf rechnen, einige Zeit gegen alle Unbilden der Witterung geschützt allen Unbilden der Justiz preisgegeben zu sein. Denn was nützt es, daß der Kassationshof das Urteil auf- hebt und »die neuerliche Durchführung der Berufungs- verhandlung: anordnet«? Es hat schon geregnet, der An- geklagte wird nach verbüßter Strafe freigesprochen, und

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bei schönem Wetter den Regenschirm aufspannen ist eine zwecklose Demonstration, die den armen Teufel für den nassen Jammer nicht mehr entschädigt. Ent- schädigt wird nämlich in Österreich nicht. Man teilt hier die Menschen ein in solche, die »vorbestraft« sind, und solche, die es noch nicht sind, und wer, weil Frau Themis Pausse-Couche machte, zu Schaden kam, hat bloß den Vorteil, daß dies bei der nächsten

> Beanständung« kein erschwerender Umstand ist

Frau Therese Giezinger, das Opfer der Rieder Justiz- katastrophe, verlangt jetzt 11.990 Kronen 13 Heller für Verdienstentgang, für die infolge vierjähriger Kerkerstrafe eingetretene Arbeits- und Erwerbsun- fähigkeit, für sonstige Verluste, Nachteile und Kosten, z. B. für das »ohne ihr Wissen und ihren Willen ver- äußerte Holz, für den Verlust ihrer Kleider, Einrich- tungsgegenstände und sonstiger Habseligkeiten«. Frau Therese Giezinger war nämlich dank der Helligkeit der Geschwornengehirne bloß zum Tode durch den Strang verurteilt worden. Eine Entschädigung für die Todesqualen, für das seelische und körperliche Leid der Kerkerjahre gewährt ihr das österreichische Gesetz nicht. Sie soll vollkommen gebrochen sein, krank und völlig mittellos. Der österreichischen Presse, die bloß für Unschuldige der Teufelsinsel pathetisch wird, kann man ein werktätiges Interesse für den heimischen Fall nicht zumuten. Es wäre wünschenswert, daß man den Kaiser, den es betrüben muß, daß in seinem Namen auch das Urteil von Ried gefällt wurde, von dem Furcht- baren verständigt. Er würde sicher verfügen, daß eine Summe, wie sie neulich dem Schwedenkönig zu Ehren für die neue Ausstattung eines Aktes von »Excelsior« verausgabt wurde, künftig den Opfern der österreichischen Unrechtspflege zugewendet werde.

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So mancher Stoßseufzer aus Pola dringt jetzt an mein Ohr. »Bringen schon unter normalen Ver- hältnissen unsere Tagesblätter über Marinefragen nur Stumpfsinn, so spottet das jetzt anläßlich des japanisch- russischen Krieges Gebotene einfachjeder Beschreibung. Wie kann Schmock sich unterstehen, auf einem Ge- biete, wo ihm kein Grundbegriff geläufig ist, seine Phantasie schweifen zu lassen und durch Redewen- dungen wie ,die ganze Welt' oder ,man staunt' die Leser für seine eigene Dummheit verantwortlich zu machen?« Ja, »wie kann«! Befähigungsnachweis für den Gebrauch von Druckerschwärze? Ach, der Gebrauch von Druckerschwärze ist selbst ein Befähigungsnach- weis für alles und jedes. Bin Reporter kann heute einen Admiral lehren. Und das Publikum »glaubt« immerzu. Die Macht der Presse fußt selbst auf dem Respekt der Fachmänner. Der Speziahst für Kriegs- wissenschaft denkt doch immer, daß ein Blatt, das hier Unsinn schwätzt, dafür in literarischen Dingen be- schlagen sein muß. Das Geheimnis ihrer Wirkung ist, daß die Journalistik von so vielem nichts weiß. Immerhin, ruchbarer wird der ganze Schwindel beim Betreten entlegener Spezialgebiete. Da fühlt man sich wirklich zu dem satanischen Gedanken angeregt, wie es wäre, wenn einmal die Wiener Journalisten in den Krieg ziehen müßten und Soldaten als Kritiker ihrer Ruhmestaten erständen. Die würden sich gewiß nicht erdreisten, mit Nonchalance und im Tone sachverstän- diger Routine an jede Lügendepesche ihr apodiktisches Urteil zu knüpfen. »Könnte man nicht«, fragt ein Marineoffizier in Pola, einer für viele, »einen Brander mit dem schreibenden Ungeziefer von Wien bemannen und vor Port Arthur versenken? Da würde sich gewiß kein Russe vorübertrauen!« Ich weiß nicht, ob man es könnte. Aber man sollte es wirklich selbst der standesüblichen Frechheit nicht zutrauen, daß Leute, die mit Wasser so selten in Berührung kommen, über Marinefragen Gutachten abgeben.

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Cin neues Strafgesetz wird die »Ehrenbeleidigung« in die folgenden Kategorien scheiden müssen: Schmä- hung, Verspottung, Beschimpfung und Verleihung eines türkischen Ordens. Daß es aber noch immer sonderbare Schwärmer gibt, ist leider unbestreitbar. Sonst hätte man nicht neulich erfahren können, daß in der Türkei ein großer »Ordensschwindel« aufgedeckt wurde. Die ottomanischen Dekorationen also, die in den letzten Jahren verliehen wurden, sind nicht ein- mal echt? Das ist zu dumm! »Zahlreiche ausländische Persönlichkeiten« sollen »kompromittiert« sein. Auch österreichische? Hoffentlich werden ihre Namen genannt werden. Man muß die Leute kennen lernen, die um eines Ideals willen, das sie auf ehrlichem Wege für hundert Gulden erreichen können, zu Fälschern werden. Solche Zustände, wie in der Türkei, sind bei uns »denn doch« nicht möglich ! Bei uns stimmt die Rechnung immer. Das Ordensgeschäft ist ein durchaus reelles, und wer nur beim Herzog in Gnade ist, . . Ich meine natürlich den Herzog von der ,Montagsrevue'. Er rühmt sich einer solchen Intimität mit Herrn v. Koerber, daß man behauptet, er bezahle seine Schulden nur mehr in eisernen Kronen...

Advokatenrechnungen.

Der Ausdruck »Blutdurst und Expensenhunger«, der hier gebraucht ward, als die , Fackel' wünschte, die würdigeren Vertreter des Richter- und des Anwaltstandes möchten sich von der ministeriell arrangierten Syl- vesterorgie fernhalten, hat auch die verstimmt, die er nicht anging, anständige Advokaten, die mir oft von richterlichem Blutdurst, und anständige Richter, die mir oft von advokatorischem Expensenhunger erzählt haben. Was verschlägt's? Ich lasse Sylvesterräusche als mildern- den Umstand gelten. Und gerade ich, der sich seit fünf Jahren wie em Versuchsobjekt in einer juristischen

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Klinik vorkommt, war berechtigt, das Wort auszu- sprechen. Ich hätte oft Gelegenheit gehabt, aus der Schule zu plaudern. Jetzt hat die , Frankfurter Zei- tung' (5. März) eines der lehrreichsten Kapitel aus meiner juristischen Leidensgeschichte veröffentlicht. Ich habe es mündlich da und dort zum Besten ge- geben, ahne aber nicht, wer der Mann sein kann, der unter dem Pseudonym Erich Xaver Wippling in einer Betrachtung über »Advokatenrechnungen in Wien« davon Notiz genommen hat. Er schreibt:

»Es gibt in unserer Zeit des immer reeller werdenden Han- delsverkehrs eigentlich nur noch zwei Sorten Leute in Europa, bei denen der ursprünglich geforderte und der schließlich bereitwillig an- genommene Preis in einem kaum glaublichen Mißverhältnis zu einander stehen. Das sind viele Straßenhändler in Neapel und viele Advokaten in Wien. Wenn man die Chiaia herunter- schlendert und dann unter den Palmen der Villa Nazionale längs des leuchtenden Meeres einherwandelt, entgeht man sicher nicht dem Gespräche mit jenen zudringlichen und doch amüsanten Kerlen, die einem nachlaufen und Stöcke, Kämme, Korallen, Lava- schmuck anbieten. Sucht man eine Reihe ihrer Sachen aus und fragt nach dem Preise, so addieren sie lange und gelangen dann etwa auf siebzig Lire. Nun bietet man ihnen drei statt der siebzig, und schließlich kommt das Geschäft nach vielen Dekla- mationen und Anrufungen der Madonna auf der Basis zustande, daß man acht oder neun Lire zahlt. Der Verkäufer steckt sie ein, und man bemerkt an seiner FröhHchkeit, daß er immer noch einen unerwartet günstigen Abschluß gemacht hat«.

Dann spricht der Verfasser von den »Expensen- rechnungen« der Wiener Advokaten:

»In dem Bewußtsein, daß dem Rotstift Gelegenheit geboten werden muß. Überflüssiges zu streichen, damit immer noch mehr als genug übrig bleibe, stellen die Advokaten eine Liste ihrer Leistungen auf, die in der Länge an den papiemen Bandwurm erinnert, den Leporello aus der Tasche zieht. Mein Himmel, was hat solch ein Anwalt nicht alles für Mühen auf sich genommen ! Da ist eine ,Zusammentretung' mit dem Klienten, die über zwei

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stunden gedauert hat. Während dieser Zeit wurde vielleicht zehn Minuten über den Prozeß gesprochen, und eine Stunde und fünfzig Minuten unterhielt man sich von Theater, Politik oder hübschen Frauen. Dann kommen sechs bis sieben , Fahrten' zum Gericht, um nachzusehen, ob der Gegner nicht irgend einen Antrag zu den Akten gestellt hat. (Berühmt geworden ist die vor Jahren einmal aufgestellte Post einer solchen Expensen-Note: ,Nachts aufgewacht ind über den Fall nachgedacht ... 50 Gulden'.) Hierauf folgt das viele Stunden beanspruchende Studium juristischer Bücher ,zum Zwecke der Information', obgleich sich der Laie sagt, daß er einen Advokaten gerade deshalb bezahle, weil es dessen Ge- schäft sei, die juristischen Bücher ohnehin zu kennen. Aus vielen Dutzenden solcher einzeln berechneter Berufshandlungen setzen sich die ,Expensen' zusammen, wobei die eigentliche Tätigkeit des Anwalts, nämlich die Wahrnehmung der gerichtlichen Termine, noch nicht liquidiert ist.<

Und nun wird ein konkretes Beispiel für die »arithmetischen Künste« angeführt, die der Verfasser gewissen Wiener Advokaten nachsagt. Er erinnert an einen »vor ein paar Jahren stattgehabten literarischen Prozeß«, dessen »hinter den forensischen Kulissen spielender Rechnungsakt« bis heute unbekannt ge- blieben sei:

> Durch publizistische Angriffe fühlten sich ein Theaterdirektor und ein Autor beleidigt. Sie verklagten ihren Gegner oder wie es in der wienerischen Gerichtssprache heißt sie ,klagten' ihren Gegner wegen Ehrenbeleidigung. Er wurde verurteilt und hatte die Kosten zu tragen. Da es in Österreich keine Gerichtskosten in Strafsachen gibt und die Kriminaljustiz einige der wenigen Sachen ist, die hier völlig frei zu sein sich rühmen dürfen, besteht die Ver- urteilung vornehmlich darin, daß der schuldig Befundene den Rechtsanwalt seines Widersachers zu bezahlen hat. Für die ihm I erwachsene Mühewaltung forderte nun im vorliegenden Fall dieser Herr eine Pauschalsumme von zwölftausend Kronen^ Zwei Tage hatte die Verhandlung gedauert, und da erschien eine solche Rechnung dem Gerichte denn doch etwas gepfeffert. Man ersuchte darum zunächst den Advokaten, die Nota zu spezifizieren, damit man sähe, weich zeitraubende Arbeit ihn zu der unverhält-

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nismäßig hohen Forderung berechtigte. Die Einzelaufstellung ward nunmehr dem Verlangen entsprechend eingereicht. Aber so große Mühe auch der Scharfsinn des Sachwalters darauf verwendet hatte, eine schier endlose Reihe von dienstlichen Handlungen herauszu- drechseln, die 12.000 Kronen wollten nicht zusammenkommen. Beim Addieren ergab sich in der spezialisierten Liste n u r die Summe von 7800 Kronen. Dieses Minus von 4200 war schon erstaunUch genug, da sonst auf Erden eine Pauschalsumme und nicht eine Rechnung im Einzelnen geringer zu sein pfl^. Nun besah man sich die verschiedenen Posten, die da aufgeführt waren. Der An- walt behauptete, er habe sechzig Nummern einer Wochenschrift durchlesen müssen, und berechnete dafür zweitausend Kronen. Da es sich um eine Publikation handelt, die jeder Kaffeehaus- besucher in ungefähr zwanzig Minuten zu lesen pflegt, erregte die Honorarforderung ein ziemliches Schütteln des Kopfes. Der Herausgeber der betreffenden Wochenschrift aber schrieb an die Richter, ersehe zu seiner freudigen Verwunderung, daß die Lektüre seines Blattes weit gewinnbringender sei, als dessen Herstellung. Das Resultat der gerichtlichen Festsetzung der Kosten war dann, daß dem Advokaten zwölfhundert Kronen zugebilligt wurden. Also 10% seiner ursprünglichen Forderung. Ganz wie bei den Straßenhänd- lem in Neapel. Ein überaus bezeichnender Punkt jedoch, von dem ein scharfes Licht auf den Unterschied zwischen österreichischer und deutscher Advokatur ausgestrahlt wird, fand sich noch in den Akten dieser Kostenfrage. Für die Prozeßführung war es nämlich not- wendig gewesen, als Zeugen einige in Berlin wohnende Theater- leute zu vernehmen, welche dort ihre Aussage gemacht hatten. Dem Termin wohnte als Vertreter des Wiener Advokaten ein an- gesehener Berliner Rechtsanwalt bei. An der von diesem deutschen Sachwalter für Wahrnehmung des mehrstündigen Termins ein- gesandten Rechnung konnte sein Wiener Kollege nichts änderrt sondern mußte sie im Original seiner Auslagennote beilegen. Und die Honorarforderung des Beriiners betrug zwanzig Mark. Worauf alle Wiener Justizbeamten trauernd ihr Haupt verhüllten. < Was die ,Frankfurter Zeitung' da erzählt, ist im Wesentlichen wahr. Daß die Pauschalsumme den Endbetrag der speziaHsierten Liste um 4200 Kronen

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tiberstieg, darauf könnte ich allerdings heute keinen Eid mehr schwören. Aber sonst ist höchstens noch die Mitteilung irrig, daß die ,Packel* eine Wochen- schrift ist. Richtig ist die Angabe der 7800 Kronen, richtig das Detail der für Lektüre der , Fackel* ein- gestellten 2000 Kronen. Herr Dr. Gustav Harpner

der nämliche Sozialpolitiker, der heute die Ausbeuter der ,Zeit' vertritt betonte, er habe sich der mühevollen Arbeit unterziehen müssen, um den Nachweis zu er- bringen, daß der Angeklagte einen »konsequenten Kampf« gegen seine Klienten Bahr und Bukovics geführt habe. Ich erwiderte in meiner Eingabe an das Landesgericht, daß Herr Dr. Harpner, wie ich nachweisen könnte, ein alter Leser, Abonnent und

bis zum Prozeßtage Freund der ,Fackel' ge- wesen sei, daß die Lektüre der bis zum Prozeß er- schienenen Hefte somit weder besonders mühsam noch unangenehm für ihn habe sein müssen und daß sie jedenfalls überflüssig war, da ich selbst nie in Abrede stellte, einen konsequenten Kampf gegen seine Klienten geführt zu haben. Ich wäre, da ich, um die »Beleidigung« nicht als eine zufällige, sondern als

in Glied in der Kette ernst gezielter Angriffe er- »/heinen zu lassen, mich selbst zu gleicher Zeit der leichen Arbeit unterziehen mußte, mit Vergnügen reit gewesen, dem Klageanwalt jene Nummern der |,Fackel' zu bezeichnen und zur Verfügung zu stellen, denen seine Klienten in einer ihnen unliebsamen eise genannt waren. Sollte das Gericht trotzdem die Fahnwitzige Forderung von 2000 Kronen für Lektüre liner Zeitschrift also eine Summe, die den Betrag der Geldstrafe, zu der ich verurteilt wurde, übersteigt be- willigen, »so würde für mich daraus die bittere Erkenntnis erwachsen, daß das Lesen der, Fackel' einträglicher ist als das Schreiben der ,Fackel'« ... So schrieb ich damals an das Wiener Landesgericht. Und wies der erschütternden humoristischen Kontrastwirkung zuliebe auf die von Herrn Dr. Harpner unter den Barauslagen angesprochene

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Summe für den Berliner Kollegen Dr. Wolfgang Heine hin, der auch sozialdemokratischer Anwalt ist und für die Mühe eines ganzen Vormittags 20 (oder 25 ? ) Mark berechnete.

Die Angaben der ,Prankfurter Zeitung* sind also durchaus richtig. Das ,Neue Wiener Journal* hat den Aufsatz inklusive der meinen Fall erörternden Stelle unter dem Titel »Phantasien eines Publizisten« abgedruckt. Mit Quellenangabe, da es ja mit dem Standpunkt des Artikels nicht einver- standen ist. Grotesk aber ist es, wenn ein Diebsblatt einer von ihm so oft gebrandschatzten Zeitung vor- wirft, daß sie »Räubergeschichten« erzähle. Nicht um uns mit fremden Federn zu schmücken, nein, nur »der Kuriosität halber entnehmen wir dem Artikel« einige Stellen. »Vielleicht beweisen Wiener Advokaten dem Herrn Wippling, daß sie es verstehen, kurzen Prozeß zu machen, wenn es sich darum handelt, ihren Stand gegen die kindlich-bösartigen Phantasien eines Sachunverständigen zu schützen«, ruft das Diebsblatt. Aber da werden die Wiener Advokaten kein Glück haben. Denn das Tatsächliche, das Herr Wippling vorbringt, ist buchstäblich wahr, und im übrigen findet er selbst für die Exzesse des Expensenhungers eine wohlwollende Erklärung in der methodischen Verständnislosigkeit, mit der manche Gerichte die Wertung der advokatorischen Arbeit vor- nehmen. In Deutschland biete schon der Tarif, der im Zivilprozeß die Vertretungskosten nach der Höhe des Streitobjekts berechnet, dem Advokaten eine materiell bessere Position. Der Wiener Kollege gehe auch bei einem Verfahren, bei dem Riesensummen in Frage kommen, verhältnismäßig leer aus, wenn er nicht durch vorherige besondere Vereinbarung sich seinen Anteil an dem Erfolge gesichert habe. Der Verfasser gibt ausdrücklich zu, daß die gerichtlich festgesetzte Entlohnung der Tätigkeit mit den großen Beträgen, die erstritten werden, in einem auffallenden Mißverhältnis

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steht* Hier wäre besonders der Praxis unseres Obersten Gerichtshofes zu gedenken. Man glaubt, den Expensen- hunger zu bekämpfen, indem man ihm auch die geringste Befriedigung versagt. Natürhch wird der gegenteihge Erfolg erzielt. 20 Kronen für die Berufungs- schrift einer Zivilklage, deren Gegenstand 40.000 Kronen w^ar, führt mit mathematischer Notwendigkeit zu einer Forderung von 2000 Kronen für Lektüre der ,FackeP . . .

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Die ärztliche Standesehre ist glücklich aus allen Landtagsfährlichkeiten gerettet. Aber wenn wir den Ansturm der Unberufenen auf die Forschung abge- wehrt haben und wieder schön unter uns sind, kön- nen wir ja manch' Hühnchen, das zu Versuchszwecken uns schließlich doch belassen ward, miteinander pflücken. Was macht denn die liebe Reklame? Die brieflich ordinierenden Ärzte und die Herren Professoren, welche Ferndiagnosen stellen, sind ein altes Kapitel. Heute wollen wir einmal eine neue Spezies diplo- mierter Annonceure betrachten. Daß sich Arzte dazu hergeben, den Erzeugern pharmazeutischer Prä- parate publizistische Dienste zu leisten, ist aus Nr. 36 der ,Fackel' (Ende März 1900) bekannt, wo der Fall eines Privatdozenten erörtert wurde, den's eine Zeit- lang sogar nach den Lorbeeren eines Inseratenagenten gelüstet hat. Die Abhängigkeit des redaktionellen Teils medizinischer Fachblätter von den Wünschen inserierender Firmen, die Fälschung der wissenschaft- lichen Meinung ward damals beklagt: »Nicht bloß der fernerstehende Arzt wird über den Wert eines Mittels getäuscht; was in Fachzeitungen stand, geht mit oder ohne Hinzutun des interessierten Inserenten in Tageszeitungen über und wird als echtes Geld der Wissenschaft in Kurs gesetzt ... In letzter Linie leidet

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unter solchem Geschäftstreiben der Kranke, der ein oft minderwertiges Mittel teuer nicht nur mit Geld bezahlen muß.«... Als eine Neuerung darf man es nun begrüßen, daß Ärzte über kosmetische Mittel Reklamefeuilletons schreiben. Ob es der publizistische Moral entspricht, der Empfehlung von Teintseifen,' Pasten, Parfüms, Mundwässern und all' den Schön- heits- und Reinlichkeitsmitteln, den >vielzuvielen«,auch nur im Inseratenteil Raum zu geben? Die gesamte Presse nickt freudig: *Oja« und »Javol«. Ich sage: Nein. Wenigstens vom Standpunkt eines Blattes, de das körperliche und wirtschaftliche Wohl seine Leser, soweit die Redaktion es beeinflußen kann, nicht gleichgiltig ist. Gewiß könnte es unter zehn tausend kosmetischen Mitteln hundert geben, die nich gesundheitsschädlich, zehn, die nicht mit Wucher Zinsen überzahlt sind; aber der Verlag der ,Fackel' läßt sich auf solche Untersuchungen nicht ein und lehnt auch die verlockendsten Anträge ab. Hier über nimmt bekanntlich die Redaktion auch .für den Inhalt des Inseratenteils eine Verantwortung. Anders in derj Tagespresse. Da ist es wieder die Administration, di für den Inhalt des redaktionellen Teils die Verant wortung übernimmt. Und so finden wir allwöchentlia da und dort eine »Schmucknotiz« oder eine Plauderei, di selbst nur ein Schönheitsmittel zur Verhüllung einer" bezahlten Warenreklame ist. Aber das eine Kosmetiku ist des andern wert; geschärfter Sinn merkt bald,! daß beide Schwindelmittel sind. Darum müssen die Erzeug«^ sich nach wirkungsvollerer Täuschung um- sehen.^/Der Leitartikel der , Neuen Freien Presse' ist ^^^.^ür'Tjwecke des Börsenschwindels so sehr in Anspruch genommen, daß er für die Anpreisung eines Seifen Präparates noch immer nicht zu haben ist. Aber e kommt wohl nicht so sehr auf den Ort der Einschal-| tung wie auf das Ansehen des Verfassers der emp- fehlenden Notiz an. Wozu hätten wir denn Ärzte? Das -wäre wahrhch ein unpraktischer Arzt, der den

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Eintrag einer kosmetischen Firma zurückwiese, einen ileklameartikel über ihre Erzeugnisse zu schreiben md mit seinem Namen zu vertreten. Mit Recht ieichnet er »Med. Dr. Josef Weiß, praktischer Vrzt in Wien«, der Mann, der seinen Namen unter en Artikel gesetzt hat, der am 31. Jänner in der Neuen Freien Presse' erschien und die Aufschrift ührte: »Meine Ansicht über Schönheits- aittel«. Welche Ansicht kann ein Arzt über Schön- leitsraittel haben? Daß sie fast alle zumindest wertlos, Fenn nicht gesundheitsschädlich sind? Gewiß ; und auch* inser praktischer Arzt legt in der Einleitung seines Aufsatzes dies Bekenntnis ab. »Während meiner ielj ährigen Praxis habe ich sehr oft Gelegenheit ;ehabt, ein Unzahl von Schönheitsmitteln nicht nur u untersuchen, sondern auch praktisch zu erproben ind deren Wirkung bei meiner Klientel zu beobachten, jin großer Teil dieser Präparate war an und für sich (wertlos, oft hatte ich Veranlassung, die Anwendung ^nes solchen Mittels zu verbieten, und nur selten Lonnte ich ein verwendbares Produkt finden. Was jh aber allen bisher versuchten Kosmeticis nach- jigen mußte, war, daß die Anwendung derselben ine total überflüssige, ja sogar verkehrte ist.« Ist lies das Bekenntnis eines menschenfreundlichen Varners? Ach nein, es ist bloß der Wunsch des un- Autern Wettbewerbers, die Konkurrenz schlecht zu lachen. »Nach so reichlicher Beobachtung ent- 5hiedener Mißerfolge freut es mich besonders, ndlich Kosmetika gefunden zu haben, welche zweck- ntsprechend sind und schon deshalb allein eine gute \/'irkung voraussehen lassen. Es drängt mich, ir diese ausgezeichneten Präparate ein befürworten- es Urteil abzugeben, da ich dies mit bestem Ge- issen tun kann. Ich meine die von der amerikanischen .'arfümerie Oja (erster amerikanischer Parfümerie- alast ,Oja*, folgt genaue Adresse) eingeführten Prä- ftrate, unter welchen ich die Oja-Seife und das Terol

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als hervorragende Mittel usw. usw.« »Noch mehr erfreut war ich über die Ipe-Knol!«i (Mittel gegen Haarausfall)« . . . »Es nürde zu weit führen, wollte ich alle Vorzüge der Präparate, welche die Parfüraerie Oja eingeführt hat, hervorheben, denn es war raii nur darum zu tun, weiteren Kreisen meine geraachter Erfahrungen mitzuteilen und im Interesse des Pub^ likums auf das Beste hinzuweisen, um so mehr, ab man sich ja heute in der Flut von angepriesene^ Schönheits- und Haarwuchsmitteln fast nicht mehr auskennt.« .... Nach dem Wohnungsanzeiger gibt zwei Dr. Josef Weiß in Wien. Bisher hat keiner voi beiden gegen den Mißbrauch seines Namens dem es handelt sich hoffentlich nur um einen solchen i protestiert. Ist aber der Autorname nicht fingiert, st wäre es jetzt an der Zeit, daß sich jeder der beide* dagegen verwahrt, mit dem andern identisch zu sein ,Neue Freie Presse' und ,Fackel' sind gern bereit

ihre Erklärungen aufzunehmen Oder sollte nicht di<

Ärztekammer rascher das Geeignete vorkehren? Oja'

J.

Ja, glauben Sie denn, lieber Leser, ich halte di antisemitische JournaHstik für weniger verworfen' Nur für talentloser 1 Darum konnte ich ihr die geringer Gefährlichkeit zuerkennen und mußte sie erst u zweiter Linie betreuen. Würde die Rücksicht auf da öflFentliche Wohl, auf Taschen und Gesundheit de Bevölkerung, mir's nicht so oft verwehren, die Ding vom rein ästhetischen Standpunkt zu betrachten, hätt ich nicht die leidige, von mir oft bereute Verpflichtur auf mich genommen, einen Spitzbuben ernster i nehmen als einen Dummkopf heiter, dürfte ich blo den Launen meiner satirischen Individualität genüger ja, ich bitte sich beiläufig vorzustellen, welch Ausbeute mir in den fünf Jahren die Wiener anti

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emitische Presse gewährt hätte? Am dankbarsten i^ar ich darum immer dort, wo Dummheit und chlechtigkeit sich im Gesichtsfeld meiner Wächter- itigkeit gepaart haben. Und da bin ich mir wahrlich einer Unterlassungssünde bewußt. Eher könnte man eraerkt haben, wie ich mit den Jahren der Erkenntnis, mein Blatt neben den Wünschen des Publikums uch dem Ausdrucksbedürfnis meines Naturells zu ienen habe, nachgab, den Zorn entließ, wenn mir 'sr Hohn besser gefiel, und die öffentlichen Schäden dem rivaten Spott opferte. Wenn ich so aber zu ilistischer Erholung die Gauner hinter den Tölpeln urückzusetzen begann, mußte mein Interesse für die anti- mitische Publizistik eo ipso wachsen. Nie werde ich ver- ennen, daß die ,Neue Freie Presse' gefährlicher ist als IS , Deutsche Volksblatt'. Aber man ist schließlich ich Ästhet, und bei der Table d'hote sind Leute, die it den Händen fressen, störender als die, welche (is Besteck säuberlich benützen und es nachher mit- 3hmen. Freilich, wo die antisemitische Presse gar )ch der Korruption nachstümpert, ist sie mir ja am ibsten. Sehr spassige Komplikationen ergeben sich ihon, wenn das , Deutsche Volksblatt' eine der Lügen- ethoden der Judenpresse, die ihm immer imponiert iben, nachzuahmen sucht, z. B. den Interview- hwindel. Felix Dahn, eine Eiche im Teutoburger ichterwald, feierte seinen siebzigsten Geburtstag, Lid es gab keine deutsche Brust, die nicht bei dem edanken, daß uns so viel Langweile noch so rüstig id gesinnungstüchtig entgegentritt, in ihrem Jäger- ohen Norraalhemd freudiger transpiriert hätte. Natür- )h mußten sich auch die »deutschen Antisemiten« |Sterreichs erhoben fühlen. Alles, was bei uns durch nen schlappen Hut feste Gesinnung und durch [hwarze Fingernägel deutsche Treue ausdrückt, was e »Heimatkunst« liebt und die »D^cadence« haßt, las Heinrich Heine für einen Stümper und Geßmann pn Jüngeren für einen Dichter erklärt, war festlich

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gestimmt, und die »deutsche« Tagespresse, die bei einigermaßen besserer Beherrschung der deutschen Grammatik wirklich Unheil anrichten könnte, brachte! weihevolle Artikel. Das ,Deutsche Volksblatt* war| sogar in der Lage, den Gefeierten selbst sprechen zu lassen. Auf dem bekannten, nicht nur für die Judenpresse gangbaren Weg: »Einer unserer Mit-' arbeiter hatte Gelegenheit . . Und Dahn sprach natürlich ganz im Sinne des Herrn Vergani. Nicht mehr so ganz später, als er in reichsdeutschen Tage»- blättern eine Zuschrift veröffentlichte, die zwar in-| zwischen auch in liberalen "Wiener Tagesblätterri zitiert wurde, die aber doch als ein Dokument von der Journaille Schande durch die , Fackel' konserviert zu werden verdient:

>Das »Deutsche Volksblatt' in Wien bringt zum 9. d. M' einen Bericht eines Herrn A. Hafner über einen Besuch bei mit (im Oktober), der von Lügen strotzt; das wäre gleichgültig^ würden mir nicht darin Urteile über Schriftsteller in den Munc gelegt, die (d. h. die Urteile) durchaus erlogen und mir schor wegen ihrer Rohheit höchst peinlich sind. Das Ganze hat, aL« ein Muster frechster Verlogenheit in unserer Tagespresse weit über meine Person hinausreichende Bedeutung. In meinen- Empfangszimmer sollen stehen , Büsten von Goethe, von Hermes von Epikur und Beethoven' frei erfunden! Ich soll nach Em- pfang eines völlig unbekannten Interviewers sofort in die Häni geklatscht haben, ein Dienstmädchen herbeizurufen, eine ,Jai] (österreichisch) von Gebäck und Tee zu bestellen, die ich da mit Herrn H. ,rauchend' (ich rauche nie!) bis Abend 9 Uhr (v<] 5 Uhr ab!) gemütlich plaudernd soll verzehrt haben; in Wahrh« schickte ich den Herrn ohne jede Jause nach höchstens zeh^ Minuten fort (der Aufsatz heißt: ein Abend bei F. D. !!), e machte mir einen sonderbaren Eindruck. Ich werde vie Stunden meiner kostbaren Zeit mit einem Interviewer vertrödeln! Richtig ist, daß ich ihm, weil er über Geldmangel klagte eine Karte an die Redaktion von ,Nord und Süd' gab, dort eine Aufsatz einzureichen, aber abscheulich gelogen ist, ich hal dabei gesagt: ,Wenn Dahn Sie empfiehlt, genügt das!' Weld Gemeinheit an Eitelkeit wird mir da zugeschoben! Dann soll id (einen Wildfremden!) gefragt haben, ,wie das geistige Leben ir Wien blühe?' Folgt ein angebliches ,Qespräch' über die ,neuer» Richtung' in der Literatur, in dem mir verächtliche Äußerung« über Julius Bierbaum (ich soll angeführt haben Gling-glang;

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loribusch, Dagluiglua-Glulala Trulala als Bierbaiuns Poesie mir nerklärlich soll die moderne Malerei ,zerlaufenen Eierkuchen, enannt haben! Alles erlogen!) und Wedekind beigelegt erden; das ist geradezu empörend; nie würde ich bei aller Geg- erschaft wider die Richtung solche Gemeinheiten in en Mund nehmen; angeführt wird ein Urteil von mir über 7edekinds ,Tantenmörder', ein Werk, das ich nie gesehen habe! •ann wird ein Hanns Ostwald von mir als ein ,erffeuliches Talent', s eine ,Oase in der Wüste jetziger geistiger Verflachung' gerühmt; rmutlich ein guter Freund von Herrn H., mir aber gänzlich n bekannt!! Endlich und das ist vielleicht das Abscheu- chste! - wird von mir ,ein sehr bedeutender Berliner Schrift- eller sehr abfällig kritisiert, weil ich in dessen letzten Werken lagiate meiner eigenen zu finden glaube!!' Diese ganz allgemein nd unbestimmt gegen alle »bedeutenden Berliner Schriftsteller' ischleuderte Verdächtigung und Verhetzung gegen mich ist doch nerhört! Das Lügengespinst, das Herrn H. in vertrau- tstem Verkehr mit mir hinstellen will, schließt mit dem itze: ,so verging der Abend!! (nicht eine Viertelstunde!) ite im Fluge und es war 9 Uhr (!!!) als ich mich von meinem benswürdigen Wirte verabschiedete.' Und so was muß man im sonder wirksame Abwehr über sich ergehen lassen! Diese [ummen Lügen halten Hunderte von Lesern für wahr! Bierbaum, i'edekind, ,sehr bedeutende Berliner', sollen mich für einen solchen copf halten! Ich bitte alle anständigen deutschen und öster- ichischen Zeitungen, wenigstens in Kürze meine Verwahrung gen solche empörende Lügen zu verbreiten.

Breslau, 22. Februar 1904. Felix Dahn.«

Siehe, Felix Dahn ist eine deutsche Eiche, die Ich der Blattläuse selbst erwehrt. Behauptet das Wtsche Volksblatt* nun noch, daß er ein »liebens- ürdiger Wirt« sei? Er gebraucht ja in dieser kurzen iaschrift mehr Ausrufungszeichen, als Herr Vergani in inem Jahrgang hinter Judennamen anbringt! Aber das 'ifläßliche Blatt hat den Fußtritt nicht ohneweiters ngenommen. Es rehabilitierte sich glänzend. Ein iTudenblatt« hatte sich aus Breslau den Inhalt der .hn'schen Erklärung telegraphieren lassen. Da hrieb das ,Deutsche Volksblatt*: »Nach der Stili- 3rung dieser Notiz (in der ,Zeit') konnte jeder- ann glauben, daß der ganze Artikel über ahn in unserem Blatte eine Erfindung sei, und wir ilbst hielten uns schon für das Opfer einer

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starken Mystifikation. In der abends eingetroffene: ,Schlesischen Zeitung* finden wir nun in dem Brief Felix Dahn's, daß ihn Hafner tatsächlich besucht und auch eine Empfehlungskarte von ihm erhiel Hafner hat uns die Karte vorgewiesen und dieser Beweisstücke verdankte er die Aufnahme des Artikel' Von dem wirklich erfolgten Besuche berichtet die ,Zeit' nichts . . Nein, das , Deutsche Volksblat hat unrecht gehabt, sich für das Opfer einer Myst fikation zu halten. Sein Mitarbeiter hat Felix Üah »tatsächlich besucht« ; die Hauptsache bleibt unbe stritten. Und es ist nur die Tücke der Judenblätte die einem christlichen Gegner den Triumph diese Konstatierung mißgönnen möchte. Aber gottseidan treffen ja die deutschen Journale in Wien ein un machen einen ordentlichen Strich durch die Rechnung der Besuch bei Felix Dahn ist wirklich erfolgt! . . Dabei konnte sich das , Deutsche Volksblatt* beruhige: Freilich nicht allzulange. Denn als der Skandal eir ungewöhnliche Publizität erlangte, gab es die B klärung ab, daß es gegen seinen Interviewer d; »Betrugsanzeige« erstattet habe. Das kann ein heiter« Prozeß werden. Wenn Herr Hafner, dem bloß d( Versuch mißlungen ist, orientalische Phantasie f^ antisemitische Zwecke auszubeuten, wirklich ein^ Betruges im kriminellen Sinne schuldig befundid werden sollte, dann wäre das , Deutsche Volksblat für jede Zeile wegen Ritualmordes strafbar, begang^ an der Vernuiift, dem Geschmack und dem Vertrau« christlichsozialer Leser.

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Wie war's also?

jNeues Wiener Tagblatt'

28. Februar: »Aus München wird uns tele- graphiert: Im Schauspielhause

,Zeit' 28. Februar: »Man telegraphiert uns München vom 27. d. M.: Bai

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hatte ,Der Meister' von Her- mann Bahr bei ausgezeichneter Darstellung einen starken Erfolg. Das ausverkaufte Haus zeigte sich vom Anfange lebhaft interes- siert. . . . Schon nach dem zweiten Akt steigerte sich der stürmische Beifall zu Rufen nach dem Autor, lan dessen Stelle die Darsteller oftmals erschienen.«

,Meister' fand bei seiner Erstauf- f jhrung im Schauspielhaus einen von Akt zu Akt wachsenden Widerspruch.«

ANTWORTEN DES HERAUSGEBERS.

Techniker. Die Kundgebung des Ingenieur- und Architekten - Vereins gegen einen von Herrn v. Koerber verübten Protektionsakt verdient auch noch nachträglich verzeichnet zu werden. Professor Viktor Loos schreibt darüber in der, Allgemeinen Ingenieur-Zeitung': »Der Ingenieur- und LArchitektenverein in Wien gilt dem Kundigen gewiß nicht als eine Ver- einigung von Malkontenten und Revolutionären, denn er zählt eine igroße Zahl von Hof-, Oberbau-, Bergräten, k. k. Professoren etc. zu ^seinen Mitgliedern. Dennoch hat sich dieser Verein gegen den Minister- präsidenten Dr. V. Koerber aufgelehnt und über den Antrag des diol. ing. Dr. Kapaun dem Minister sogar die ,tiefste Entrüstung' ausge- drückt und (Verwahrung' dagegen eingelegt, daß einem Oewerbeschüler die Autorisation als Bau- und Kulturingenieur erteilt wurde mit Nach- icht des Hochschul-Studiennachj/eises, mit Nachsicht der Praxis und der strengen praktischen Prüfung. Der unbeteiligte Leser der in den Zeitungen erschienenen Notizen über diese Resolution hat da gemeint, die Kundgebung sei bloß eine Konsequenz des bekannten Kampfes der Hochschultechniker gegen die Oewerbeschüler. Aber schon die unge- wöhnliche Schärfe ließ auf triftigere Motive rückschließen. Die Autori- ation als Bau- und Kulturingenieur wurde nämlich vom Ministerium des Innern auch Hochschultechnikern verweigert, weil sie bloß die Architekturabteilung einer technischen Hochschule absolviert hatten. Bei ierrn Zehra, dem mit so viel Nachsicht Autorisierten, liegt die Sache 'iel einfacher. Er hat zwar keine Architekturabteilung einer Technik ibsolviert, aber es steht ziemlich fest, daß er die politische Handels- ibteiiung des Parlaments, wo Stellen vom Hofrat abwärts verschachert Verden, mit gutem Erfolg besucht hat. Wer das politische Geschäft mit^ 4errn v. Koerber abgeschlossen hat, dessen Oewinn Herr Zehra genießt, vätt noch zu ermitteln. Vielleicht findet sich ein Parlamentarier, der nomentan keine Ounstbezeugung von der Regierung beansprucht und iarum den Minister interpellieren kann ! . . . Charakteristisch war in liesem Falle die Indolenz unserer Presse, die aus der Unkenntnis der lachlage entsprang. Keine einzige jener Zeitungen, die bei jedem

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schlechten politischen Anlaß bereit sind, Minister vorlaut abzukanzehi, hat diesen ganz unerhörten Fall entsprechend gewürdigt . . . Welches gigantische Qeschrei hätte dieselbe Presse erhohen, wenn es dem Herrn V. Koerber als Leiter des Justizministeriums etwa eingefallen wäre, .gnadenweise' einem Herrn Zehra die Ausübung der Advokatenpraxis ohne Nachweis der juridischen Hochschulstudien, ohne Nachweis der Konzipienten- und Gerichtspraxis und ohne Ablegung der strengen Advokatenprüfung zu verleihen! . . .<

Lakai. Die Anwesenheit des Schwedenkönigs in Wien hat wied( allerlei Verwirrung gestiftet. Eine Meinungsverschiedenheit herrschte z. B, darüber, ob der 75jährige Mann bei grimmiger Kälte und beginnen dem Schneefall im offenen oder geschlossenen Hofwagen vom Bahn hof in die Burg gefahren ist. Die ,Zeit' ist für die Abhärtung di Monarchen, wird aber leider vom .Extrablatt' dementiert, das sogar eine Abbildung des geschlossenen Wagens brachte. Solche Divergenzen sind in der Tat bedauerlich. Es ist klar, daß ein König, der in Wien an- kommt, nur entweder in einem offenen oder in einem geschlossenen Wagen von der Bahn in die Stadt fahren kann. Ein drittes gibt es nicht. Für künftige Fälle sollte doch wenigstens in so wichtigen Dingen Einigkeit erzielt werden, da sonst der Leser wirklich nicht mehr weiß, woran er sich halten soll. Noch schlimmer ist es freilich, wenn ein Blatt mit sich selbst in Zwiespalt ist. Im Abendblatt der , Zeit' vom 24. Februar kommt unser Kaiser »in der Oberstenuniforra seines schwedi- schen Regiments« auf den Perron, um den Gast zu begrüßen. Im, Morgenblatt der ,Zeit' vom 25. Februar heißt es in dem Bericht übe« das Theatre pare: >Da der Kaiser kein schwedisches Regimea^ innehat, erschien er in der österreichischen Marschallsuniform«. Also hat er eins oder hat er keins? . . . Bekanntlich genießt die Wiener Publizistik das Benefizium, zusehen zu dürfen, wenn bei Hof ein Gala- diner verzehrt wird. Am stolzesten von allen Wiener Blättern ist die kulturaktuelle, demokratische ,Zeit' auf diese Ehre Sie schreibt am 26 Februar wörtlich: >!m weiteren Verlaufe des Diners warf der König Oskar einen Blick auf die Galerie des Saales, von wo eine Anzahl schwarzbefrackter Herren die Zeitungsberichterstatter dem glanz- vollen Feste zusahen. Man bemerkte, wie die schwedische Majestät an den Kaiser eine Frage richtete; der Kaiser warf nun auch einen Blick nach oben und antwortete. König Oskar wußte nun, wer die schwar-j zen Gäste waren, und er neigte grüßend leicht das Haupt gegen di^ Vertreter der Presse, eine Höflichkeit, die sich noch keiner der in die-i sem Saale erschienenen Potentaten je hat zuschulden kommen lassen. Die Hofgesellschaft, gewohnt, bei solchen Festlichkeiten die höchsten Herrschaften nicht aus dem Auge zu lassen, wurde durch diese kleine Szene ebenfalls auf die Galerie aufmerksam gemacht, und so waren die Zeitungsleute wenigstens einen Augenblick lang Gegenstand eines Inter- esses, das ihnen sonst und nicht bloß bei solchen Anlässen - ver- sagt bleibt.« Was wohl die beiden Monarchen einander gesagt habet mögen? »Sehen Sie, das dort ist der Löwy!« »Nicht möglich, den hab ich mir ganz anders vorgestellt!«. Und die Hofgesellschaft sah zu, wi< die Publizistik zusah, wie die Hofgesellschaft aß. Bei der Verdauung und den folgenden Begebenheiten sah die Publizistik nicht mehr zu . .

Herausgeber und verantwortlicher Redakt;ur: Karl Kraus. rki.i..<k onn lahnHa Ar «ImtaI Wipn HI Hinter» TallatniasiraB« 3

r. 157 Erschionen am 19. März 1904 V. Jahr

ie Fackel

Herausgeber:

KARL KRAUS.

Erscheint drei- oder zweimal im Monat. Preis der einzelnen Nummer 24 h.

Nachdruck und gewerbsmäßiges Verleihen verboten; gerichtliche Verfolgung

törbeftäfft«!!.

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Nr. 157 WIEN, 19. MÄRZ 1904 V. JAHR

BIN UNHOLD. -

>Des Himmels Antlitz glüht, ja diese Feste, Dies Weltgebäu, mit trauerndem Gesicht, Als nahte sich der jüngste Tag, gedenkt Trübsinnig dieser Tat.. .<

Johann Peigl, Hofrat und Vizepräsident des Wiener Landesgerichts, hat als Vorsitzender einer Schwurgerichtsverhandlung am 10. März 1904 einen dreiundzwanzigj ährigen Buben, der in trunkenem Zu- stand eine Frau auf der Ringstraße attackiert und ihr 1 K 20 h zu entreißen versucht hatte, zu lebens- länglichem schweren Kerker verurteilt.

Das Datum wird aus der Geschichte der öster- reichischen Rechtspflege, der raärzgefallenen, nicht mehr verschwinden. Wenn wir die Reihe der Sünder im Talar passierten, die in nüchternem Zustand die leibhaftige Gerechtigkeit attackiert, ver- gewaltigt, geschändet haben, nur Einem konnten wir keinen Milderungsgrund zubilligen: Herrn Johann Peigl. Er ist der persönlichen Freiheit der Staatsbürger am gefährlichsten geworden, er, der einzige, der dem Wahnwitz jenes hundert- jährigen Gesetzes buchstäblich gerecht ward. Die grauenvollsten Strafgebote hat man, da ein delirantes Parlament die gesetzgeberische Arbeit hindert, auf alle Art zu dämpfen gesucht. Oft wird dies ja in verblüffender Weise durch einen Freispruch der Geschwornen bewirkt, der dem Freunde der Rechts-

Sicherheit einen nicht gelindern Schrecken einflößt, als das Wüten des Paragraphenrichters, und auch dem liberalsten Verteidiger des Unfugs »Volks- justiz« zu denken gibt. Aber hinter dem Berufsrichter steht jetzt eine von ihrer Modernität begeisterte Re- gierung und beschwört ihn in allwöchentlichen Erlässen und Festreden, nicht des unmenschlichen Gesetzes, nein, seines humanen Pühlens Strafmaße anzu- wenden. Ach, man könnte, wenn man diesen Johann Feigl des Ministers Wünsche in Tat umsetzen sieht, beinah sich zum Glauben bekehren, die alte List österreichischer Staatskunst sei auch hier am Werke und »Küsse auf den Lippen, Schwerter im Busen der Wahlspruch modernster Justizpohtik. Und Karl Moor, der Räuber, handelt ethischer als die Heuchler- welt, die ihn richten wird . . .

Hat Herr v. Koerber den Mut, das Urteil vom 10. März ungesühnt zu lassen? Wird man aus plötzlichem Respekt vor einem Staatsgrundgesetz, dem über die richterliche Unabhängigkeit und Unabsetzbar- keit, Herrn Johann Feigl seine Attacken auf Menschen- gefühl und Gerechtigkeit weiter verüben lassen ? Weg mit dem österreichischen »Justament not«! Weg mit dem törichten Beamtenhochmut, der sich entgegen aller bessern Einsicht nur deshalb sträubt, ein Übel zu beseitigen, weil seine Beseitigung auch in ein paar »Druckschriften« verlangt wurde ! Die Wiener Bevöl- kerung will Herrn Johann Feigl nicht, und wenn ihre Vertreter in Staat, Land und Gemeinde ihren Wünschen zu horchen verständen, dann würde jetzt in einer Sache, die tausendmal wichtiger ist als der ganze nationale Trödel, ein parlamentarisches Bom- bardement losgehen, dem die Justizverwaltung nicht lange trotzen dürfte. Nicht der Räuber von der Ring- straße, Herr Feigl war längst unschädlich zu machen. Für jenen ein, höchstens zwei Jahre Gefängnis, für diesen ein Zivilgericht damit wäre der Gerechtigkeit Genüge geschehen, der Wiener Menschheit ein Er-

starren des Blutes erspart geblieben. Wenn man bedenkt, ein wie wertvolles Gefühl der Rechts- sicherheit Millionen durch die Kaltstellung eines einzigen Hofrates wiedergegeben werden kann, dann muß man eigentlich staunen, daß eine auf populäre Wirkungen bedachte Regierung nicht öfter die Ge- legenheit nützt. Der Papst hat der Unzufriedenheit des kleinen Klerus einen Pürsterzbischof geopfert: kann der österreichische Ministerpräsident auch nur einen Augenblick schwanken, für bei weitem ernstere und viel schwerer verletzte Interessen einzutreten? Wir haben es satt, dem Spiel mit Menschen- leben und Menschenwürde länger zuzusehen. Und wenn wir ihm gemäß dem neuesten Erlaß zur Hebung des Ansehens der Justiz nicht mehr mit Opernguckern zusehen dürfen, so wollen wir es über- haupt nicht mehr sehen. Wir haben es satt, diesen Räuschen des Blutdurstes beizuwohnen, in die eine nüchterne Verhöhnung des Angeklagten nach der Schablone verfällt. Wir haben dies Walten einer Wiener Criminalistik satt, die ihren Namen nicht vom »crimen«, sondern vom Crirainal ableitet, und die sich in selbstgefälligem Stumpfsinn als die Wissenschaft vom »Einspirrn« definiert. Wir haben Herrn Holzinger's Ende nicht vergessen. Und wir er- tragen an dürftigen Epigonen nicht, was uns an der stilvollen Persönlichkeit eines großzügigen Sünders entsetzt, nie abgestoßen hat. Holzinger war mehr als ein österreichischer Kerkermeister; jedes seiner Urteile schien eine Schuld der Menschheit zu rächen. Eigene Rache befriedigt, eigener Bosheit fröhnt Herr Johann Peigl. Ihn erfüllt bloß die Spielerfreude seiner Machtvollkommenheit, das urkräftige Behagen an dem Mißverhältnis zwischen einem kleinen Menschen und einem großen Amt. Er ist ganz und gar Shakespeare's »winz'ger Richter«,der mit Jo vis Himmel donnern möchte »nichts als donnern«, ganz der »in kurze Majestät gekleidete Mensch«, der, sein gläsern Element ver-

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gessend, »wie zorn'ge Afifen spielt solchen Wahnsinn gaukelnd vor dem Himmel, daß Engel weinen, die, gelaunt wie wir, sich alle sterblich lachen würden*. Darum »weckt er die längst verjährten Strafgesetze, die gleich bestäubter Wehr im Winkel hingen«, darum höhnt er den Delinquenten, bevor sein Urteil die Gerechtigkeit höhnt . . . Ein norwegischer Strafrechts- gelehrter, der einmal in Wien einer Verhandlung unter dem Präsidium des Herrn Feigl beigewohnt hat, ver- sicherte, daß in seiner Heimat kein Staatsanwalt so viel nörgelnde Gehässigkeit gegen den Angeklagten aufbrächte wie hier der über den Parteien stehende Verhandlungsleiter. Und der Wiener Staatsanwalt hat ein Fall, der, soweit das Gedächtnis der ältesten Juristen reicht, nicht vorgekommen ist zum Schutze des letzten Opfers Peigl'scher Judikatur Berufung angemeldet. Ich weiß und bin in der Lage zu beweisen, wie Richter mit fünf Sinnen, wie hochgestellte Funktionäre über , die Tätigkeit Johann Peigl's denken. Ist es wirklich unumgänglich, mit verschränkten Armen auch vor der strafgerichtlichen Abteilung des österreichischen Chaos zu stehen? Könntet Ihr hier nicht Wandel wirken, wo die Reform des Ge- setzes beiweitem nicht so dringend ist wie die Per- sonenfrage ? . . .

Die Verurteilung des Dreiundzwanzigj ährigen bis zum Tode, die furchtbarer als die zum Tode ist, / wollte man selbst Herrn Peigl's bewährter Kerker- meisterschaft nicht glauben. Nur genaueste Lektüre des Verhandlungsberichtes bietet die Möglichkeit, dem Wahnwitz psychologisch beizukommen. Durch Jahrzehnte hatte Grausamkeit den Hohn abgelöst. Aber sie war doch immerhin gemildert durch den starken Verbrauch seiner Natur, den eine lange Ver- handlung Herrn Feigl erlaubte. Das fühlte er selbst: ein gut Teil der Strafe hat ein Angeklagter über- standen, der eine Verhandlung unter seinem Vorsitz über sich hatte ergehen lassen müssen ; wie eine Erlösung

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wirkte das Urteil. Wie würde es, so hätte man sich längst fragen können, wirken, wie würde es ausfallen, wenn Herrn Feigl einmal die Gelegenheit genommen wäre, mit dem Angeklagten wie die Katze mit der Maus zu spielen? Wenn ihm ein Desperado gegenüberstände, der in Lebensnot sein Selbstbewußtsein nicht verloren hat, den Richter nicht als sein Schfcksal betrachtet, nach seinem Mienenspiel nicht ängstlich forscht, sich nicht duckt, dem Spott nicht mit Erröten, dem Schimpf mit Trotz antwortet? Herr Johann Feigl hat seinen Meister gefunden. »Das mag Ihre Ansicht sein, Herr Präsident! Ich teile diese Ansicht nicht« ruft ihm der Bursche zu, der wegen eines Raubanfalls vor seinem Richtstuhl steht. Einmal, wieder, immer wieder. Herr Feigl stutzt. »Man kommt nach Ihrem Auftreten nahezu auf den Gedanken, daß Sie unverbesserlich sind . . . . Ihre ungehörige Verantwortung muß ich rügen«. Der Angeklagte verwahrt sich gegen »die spitzen Redensarten des Gerichtshofs«. Er kanzelt seinen Verteidiger herunter und hält selbst ein Plaidoyer, das als ein hochdeutsches Sammelsurium der bekanntesten Verteidigerphrasen, in dem auch zum Schluß der Hinweis auf die eigene psychische Minderwertigkeit nicht fehlt, ein parodistisches Meisterstück genannt werden muß. Mit Hohn war diesem Angeklagten nicht beizukommen, diesem nicht. Also blieb nichts übrig, als ein Urteil zu fällen, das weithin wirke als Exempel zur Ver- hütung künftiger Raubanfälle? Nein, zur Verhütung unbotmäßigen Betragens vor Gericht. War gestern in demselben Hause ein Mann, der einem andern eip Messer in den Bauch gerannt hatte, zu fünf Tagen Arrests verurteilt worden, hier mußte mit anderm Strafmaß gemessen werden. In diesem Dreiundzwanzigjährigen war ja noch Leben! Ein Kerl, stark genug, um zwei Jahre Gefängnis, die er redlich verdient hat, zu über- tauchen, noch nicht vöüig verkommen, der ßesserungs- fähigkeit dringend verdächtig, und möglicherweise

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imstande, sich mit seinem Witz noch ehrUch durch's Leben zu schlagen. Vor allem aber sympathischer als Herr Johann Feigl, der ja mit seiner Carriere ab- geschlossen hat und, wenn er aus dem Landesgericht herauskäme, nichts Rechtes mehr anzufangen wüßte . . . So ward denn Anton Kraft zu lebenslänglichem schweren Kerker verurteilt. »Er war allerdings auch«, bemerkt das »Deutsche Volksblatt* wörtlich, »während der Verhandlung ungemein keck und trat sogar dem Vorsitzenden Dn Feigl entgegen, wo er nur konnte« . . . Am 10. März 1904 wurde in Wien lebenslänglicher schwerer Kerker wegen frechen Benehmens im Gerichtssaal diktiert I . . .

Wird Herrn Johann Feigl nicht bang? Es soll irgendwo im Paragraphendickicht eine Möglichkeit verborgen sein, aus der sich die Verhängung der grauenvollsten Pein für den Trunkenheitsexzeß des Minderjährigen, der keinen Heller erbeutet hat, formell rechtfertigen läßt, ein Paragraph, den Herr Feigl bei einigem guten Willen »anwenden« konnte. Wenn Herr Feigl einst sein tatenreiches Leben endet, das etwa zehntausend Jahre, die andere im Kerker verbrachten, umfaßt hat, so mag sich ihm in schwer- ster Stunde, vor der Entscheidung einer höhern Instanz, seiner schwersten Sünde Beichtbekenntnis entringen: »Ich habe mein ganzes Leben hindurch das österreichische Strafgesetz angewendet . .

Per österreichische Staat ist ein Simandl in seinem Verhältnis zur Nordbahn. Das ist von den Privatbahnen die weitaus frechste. Auf jede Art läßt sie den wehrlosen Gichtkrüppel ihre Tücke fühlen. Von einer Kontrolle ihres Haushalts ist längst keine Rede mehr, aber wie um zum wirtschaftlichen

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Sohaden noch den Spott zu fügen, versagt sie neuesten« auch die natürlichsten Gefälligkeiten, zu denen eheliche Gemeinschaft verpflichtet. Die österreichi- schen Privatbahnen haben, wie man weiß, von alters- her ein System der Preikartenkorruption eingeführt, das den löbHchen Zweck hat, die publizistische und parlamentarische Aufsicht von etwa vorkommenden mörderischen Schlampereien abzulenken. Die Zu- weisung von Erste Klasse-Biltets an Journalisten, von Separatcoup^s an Abgeordnete hat sich als eine österreichische Selbstverständlichkeit eingebürgert, der füglich auch durch die Einführung der Pahrkarten- steuer kein Abbruch geschehen durfte. Dagegen haben die Privatbahnen in ihrer unerforschlichen Prechheit die Einführung dieser Steuer als Vorwand benützt, um den Staatsbeamten, die einen vernünftigen An- spruch auf Äihrpreiserraäßigung haben, den gewohn- ten Bezug der verbilligten Karten zu erschweren. Die Nordbahn war resoluter als die anderen. Sie hat den Staatsbeamten mit Ausnahme der poli- tischen Beamten die Ermäßigung einfach ent- zogen. Die Beamten politischer Ressorts können auf der Nordbahn so billig reisen wie früher. Damit ist Pflicht zur Gunst geworden, und die Nordbahn hat ihr Bestreben enthüllt, auch die Staatsbeamten an die Kette der Korruption zu legen. Nun könnte ja manch ein naiver Professor einer Provinzuniversität, in dessen Budget die Entziehung der Fahrpreiser- mäßigung eine beträchtliche Rolle spielt, das Be- dürfnis verspüren, Parlament und Presse gegen das Unrecht, das ihm und anderen Staatsbeamten widerfährt, anzurufen. Er fände verschlossene Türen. Wenn man sie öffnet, gelangt man in Separatcoup^s erster Klasse . . .

« «

Per bevorstehenden Spiritus- Ausstellung, die zu den guten Einfällen unserer an Eingebungen nicht allzu reichen Regierung gehört, kami der Agitations-

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eifer des Herrn Sektionschefs Exner nicht gerade förderlich sein. Der Mann spielt sich als ihren Spiritus familiaris auf. In Berlin, in den Gewerbevereinen von Wien und Brunn hält er Vorträ<>e, in der ,Neuen Freien Presse* veröflFentlicht er Feuilletons über die wirt- schaftliche Bedeutung der Spiritusverwertung. Der- gleichen trieft natürlich von Wissenschaft, es flimmert nur so von »Kraft, Licht und Wärme«, und die »Fach- männer« lauschen und lesen in atemloser Spannung. So wird uns wenigstens in spaltenlangen Reklame- berichten versichert. Wenn nur Herrn Exner nicht wieder etwas Menschliches passiert, wie damals, als er noch Hofrat und schon Gschaftlhuber war! Es war hier, wenn ich nicht irre, bereits einmal von jener Verwahrung die Rede, zu der sich wissenschaftliche Namensvettern des Herrn Professors Wilhelm Exner gedrängt fühlten. Ich bin heute in der Lage,^hren Wort- laut zu veröffentlichen. In dem Mittagblatt der .Wiener Allgemeinen Zeitung' vom 21. November 1885 las man die folgende Kundgebung, die damals Aufsehen erregte, aber Herrn Exner in seinem Fortkommen nicht geschadet hat:

In Nummer 8 der »Neuen Illustrierten Zeitung' vom 15. No- vember 1885 findet sich eine »Abhandlung« unter dem Titel: »Kraft und Leistung«. Da der Inhalt derselben gegen allbekannte Grund- begriffe der Mechanik gröblich verstößt, der Aufsatz aber mit dem Namen »Professor W. F. Exner« als Verfasser bezeichnet ist, finden sich die Unterzeichneten gleichen Namens, die sämtlich Professoren der Naturwissenschaften in Wien sind, um Verwechslungen vorzubeugen, genötigt, für ihre Person die Autorschaft obiger »Abhandlung« öffentlich abzulehnen.

Dr. K. F. Exner,

Professor der Physik und Mathematik am k. k. Staats-Gymnasium im

neunten Bezirke;

Dr. S. Exner,

Professor der Physiologie an der k. k. Universität;

Dr. F. E X n e r,

Professor der Physik an der k. k. Universität.

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Nun, in Brunn waren, wie mir ein Mitarbeiter verrät, die oratorischen Blüten schon recht bedenk- lich. »Die Anbaufläche für Kartoffeln ist unendlich größer als die vorhandenen und etwa noch zu entdeckenden Kohlen- und Petroleumgruben. Die Menschheit ist demnach in der Lage, in fast unbe- schränkter Quantität Spiritus zu produzieren, um das Bedürfnis an Energie zur Erzeugung von Wärme, Licht und Kraft zu befriedigen . . . (Minutenlanger, leb- hafter Beifall).« Wenn aber einmal die Anbaufläche der Erde zum Kartoffelbau benützt und aus allen diesen gigantischen Kartoffelmengen die fast unbeschränkte Quantität Spiritus produziert werden sollte, würde man sich wahrscheinlich gezwungen sehen, das Ge- treide aus den vorhandenen und etwa noch zu ent- deckenden Kohlen- und Petroleumgruben zu schöpfen. Müßige Statistiker haben überdies schon berechnet, in welcher Zeit die Anbauflächen der Erde für den Brotbedarf nicht mehr zureichen werden. Wenn nun Sektionschef Exner uns auch noch diese Flächen schmälert, so ist zu erkennen, daß die Menschheit umso schneller, allerdings festlich beleuchtet vom Spiritus, dem Hungerelend verfallen muß . . , Zur Beruhigung kann man aber annehmen, daß unsere Nachfolger vernünftig genug sein werden, statt Spiritus, Kartoffelpüree zu bereiten.

In dem Gewimmel schwärzlicher Schmöcke, das bei Premieren den Mittelgang unserer Theater versperrt, fiel mir schon lange eine Dame auf. Ich sah sofort, daß sie Rosenbaum heißt, aber ich erfuhr, daß sie sich »Kory Towska« nenne. Die liebe Presse, deren Prosa- humor schon wie eine Krätze des Geistes empfunden wird, belästigte - uns von Zeit zu Zeit mit »Epigrammen aus weiblicher Feder«, in denen sich eine erhebliche Wertlosigkeit des Gedankens mit einer auffallenden Trostlosigkeit der Form paarte. »Kory Towska< waren sie gezeichnet.

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Wer verbarg sich hinter diesem Pseudonym und hätte Orufld, sich zu verbergen? Wir hörten es immer wieder: eine »Frau von Geist«. Aber da sie auch die Frau von Rosenbaum ist, die Gattin des Burg- theaterlektors, so umstand sie der Schmöcke schwärzHches Gewimmel bei den Premieren, schützte sie die Phalanx jenör Kunstrichter, deren oberste kritische Raison lautet: »Man kann nicht wissen —!«... Eine Witzboldin! Ich kann mir an und für sich nichts Unerfreulicheres denken. Nichts, was der Vorstellung von weiblicher Anmut mehr zuwiderliefe. Wenn man hört, daß eine Frau die Passion hat, zu »geißeln«, so ist der Gedanke noch immer natürlicher, daß sie eine Sadistin ist. Aber eine Satirikerin? Brrr . . . Satirische Nadelstiche sind kdne weibliche Handarbeit. In welch ein Jammertal würde diese Welt verwandelt, wenn die Frauen anfingen, statt lyrisch »epigram- matisch« zu denken, wenn Herz sich nicht mehr auf Schmerz, sondern auf Scherz reimte und Liebes-Leid und Lust sich auf ihren Höhepunkten in einem Kalauer auslösten ! Otto Weininger hat die Blütezeit Kory Towska's nicht hi6hr erlebt. Er hätte zugegeben, daß sie 80% »M« enthalte, aber von dem Masculinum »Sternberg«. Ich könnte mir nicht einmal denken, daß eine Ballreporterin in der ewigen Umgebung ihrer männlichen Kollegen den Itzig-Witzig-Stil erlernt, der Kory Towska's Epigrammen eignet, oder den Knofel- und Pofelwitz, von dem ihr Lustspiel »Michael Kohlhaas« duftet, das neulich mit ver- heerender Wirkung über die Volkstheater-Besucher niedergegangen ist. Eine frechere Zumutung hat sich eine dem Cüquengebot will- fährige Direktion seit Jahren nicht geleistet, und keine schamlosere Fälschung eines Durchfalls die liberale Preßclique. Das Publikum war weniger »galant« als die Ladenschwengel der öffentlichen Meinung und rehabilitierte das Geschlecht, da es den weiblichen Witzbold anzischte. Ein seltsamer Theaterabend: Unter den Aus- brüchen der Empörung des Publikums wurden der Dame nach jedem Aktschluß mit Blumen gefüllte Papierkörbe auf die Bühne gereicht. Ein Literaturprofessor im Stücke heißt »Meibauer«, damit er in einer Prozeßsache »Meineidbauer« genannt werden könne, ein anderer hat eine Abhandlung »über den Einfluß von Goethe's , Faust' auf Shakespeare's , Hamlet'« geschrieben, ein weiblicher Michael Kohlhaas wird »Kohlhäsin« genannt, und ein Herr, der drei weinende Frauen vor sich sieht, fragt, ob er in eine »Wein- stube« geraten sei. In der befreundeten Presse wurde tagsdarauf

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von *Gedankenreichtum€, >sarkastischeni Geist«, >ironischer Heiter- keit des Dialogs«, >Charme und Leichtigkeit«, »geistiger Gewandt- heit<, »charakteristischen Details«, »geschickter Beobachtung« ge- sprochen. Und von einem »amüsanten Gerichtsakt« ward erzählt, »in welchem die spottlustige Verfasserin der Themis eine Nase drehte«. Es war sichtlich eine Nase, die der Verkürzung durch Herrn Professor Gersuny harrt. Herr Lothar aber, der den Duich- fall zugab, weil er aus eigener Erfahrung weiß, wie wenig ^s Vertuschen nützt, schrieb wörtlich: »Das Publjkjum des Deutscljen Volkstheaters war diesmal sehr hart. Ungewöhnlich hart. Es behandelte ein harmloses deutsches Lustspiel mit einer Strenge, die eine schlimmere Sache verdient hätte.« Und nachdem er einen »guten und lustigen Dialog«, »allerliebste, echte Lustspielszenen« und »eine Fülle hübscher Einfälle und lustiger Wendungen« kon- statiert und Kory Towska eine Frau von Geist genannt hat, tadelt er Hugo v. Hofmannsthal's »uferlose, verschwommene Poesie, der man auf der Bühne nicht folgen kann«. Ich hatte mir die Frau Towska immer als einen weiblichen Lothar vorgestellt; und nun sehe ich, wie sehr ich sie unterschätzte: Herr Lothar beneidet sie um ihren Humor. Oder trägt er selbst ein »deutsches« Lustspiel unter dem Herzen, dem er in der Burgtheaterkanzlei liebevolle Aufnahme sichern will? Herr Rosenbaum, der Lektor und Gatte, sah dem Unfug von einer Loge zu . . . In einer andern Ehe wäre »Michael Kohlhaas« ein Scheidungsgrund und somit eine Angelegen- heit des Familienlebens. Herr Rosenbaum wollte den artistischen Geschmack, von dem das Burgtheater geleitet wird, demonstrieren und gestattete die Aufführung des deutschen Lustspiels. Jetzt ist es zur öffentlichen Sache geworden und somit zum Scheidungsgrund vom Dramaturgenposten des Bargtheaters.

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Otto Welninger's »Geschlecht und Charakter«.

Von Karl Bleibtren. 1

Der jugendliche Philosoph hat bekanntlich nach ' Erscheinen seines ungewöhnlichen Werkes Selbstmord ver- übt. Er wählte den Tod, weil er das von ihm so tödlich gehaßte Antimoralische in sich selber Übermächtig fühlte und angeblich nicht zum Verbrecher werden wollte. Für jeden auf nüchterne Exaktheit des »Normalen« Einge- schworenen verrät dies natürlich krankhaften Gehirnzustand und wäre ein neuer Beweis, wie nahe das Pathologische I oft dem Genialischen liegt. Wer jedoch tieferen theosophisch- okkulten Einsichten zuneigt, wird in dieser scheinbar ö phantastischen Überzeugung des jungen Denkers gerade | eine geniale Erkenntnis bewundern, die freilich seine I eigene Theorie einer angeblichen Willensfreiheit gründlich widerlegt. Wenn ein so mächtiger Wille und Intellekt wie derjenige Weininger's sich gegenüber dem inneren Dämon ohnmächtig fühlte, so hat der Determinismus hier wieder einmal sein Spiel gewonnen. Wenn verschiedene Theosophen noch mit Willensfreiheit operieren, so zeigt dies ihre schwere denkerische Verworrenheit oder ein naives Mißverstehen der transcendentalen Freiheit (des j trän scen dentalen Ego), die mit der völligen empirischen Unfreiheit alles WoUens und Handelns im irdischen Körperleben gar nichts gemein hat. Doch wir wollen uns'f hier nicht in solch okkulte Gebiete verlieren und nur' andeuten, daß der Selbstmord auch vom theosophisch- buddhistischen Sehwinkel aus als eine Torheit getadeltf werden muß. Der Selbstmörder vernichtet willkürlich den! Schein, ohne das ihn quälende individuelle Sein antasten t zu können, das unverändert fortbesteht. Er lehnt sich! gegen sein Karma auf, weil es ihm eine unbequeme Phase t der Wiedergeburt bereitet, obschon dies nur streng-* gerechte Folge seiner eigenen früheren Präexistenzen. \ Damit erreicht er gar nichts, als erneutes Durchlaufen der 1 gleichen Phase in späterer Wiedergeburt. Es ist dem ^ Individuum nicht gegeben, das Netz der Kausalität zu.j sprengen. Solche Ungeduld beleidigt die ewige Logik. Des- j

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halb bedarf das wahre Genie nicht so stürmischer Unsterblichkeitsprobe, weil es sein Jenseits immer bei sich hat und sein Unsterbliches zu jeder Stunde fühlt. Immerhin darf ein solches Motiv ethischer Verzweif- lung nicht mit jener gemeinen materiellen Verzweif- lung verwechselt werden, welche fast alle Selbstmorde veranlaßt, mit der feigschwächlichen Wut über persönliche mißliche Lebensumstände und rein egoistisch empfundene Leiden. Der Buddhismus gestattet nur die Selbstver- nichtung als Opfertod aus ideellen Motiven z. B. zui Rettung Anderer, aber die »Herren des Karma«, um theosophisch zu reden , dürften auch dem eigentümlichen Entschluß des genialen Jünglings, lieber den Tod als das Versinken ins Böse zu wählen, mildernde Umstände zu- billigen. Auch mag dabei unheilbarer Lebensekel mit- gewirkt haben. Philosophische Gewißheit der Unsterblichkeit jeder Seelenmonade kann dazu verführen, lieber sofort das unbekannte Land jenseits der Bewußtseinsschwelle aufzu- suchen, als sich länger in unsrer Niedrigkeit und Klein- lichkeit herumzuschlagen. Indem wir also tief beklagen, daß so seltene Frühreife, die eine Fortspinnung von Kant und Giordano erwarten ließ, sich uns so früh entziehen mußte, erachten wii- dies Müssen als symbolisch, gleich- sam als höhnische Absage an unser Zeitalter: Alles, was großgeartet, trachte von ihm wegzukommen ! Otto Weininger ein Name, der bleiben soll mußte sich erschießen, um dem Modernen aus dem Wege zu gehen. Andere, stärker als er, haben freilich die Kraft, es zu ertragen.

Nun wohl, er wollte nicht, und gehört jetzt der Ewigkeit an, in deren Vorstellung er webte. Uns bleibt nur die Pflicht, seine geistige Hinterlassenschaft zu prüfen. Auf der höheren Daseinsebene, die er so brünstig suchte, aus einem Leben ins andere hinüberstürzend, empfing ihn der Daseinsbegriff in seiner jetzigen Existenz jenseits irdischer Bewußtseinsschwelle gewiß mit gleicher Strenge. Wahrscheinlich fügte aber sein unerträglich scheinendes Leid, das zur Fahnenflucht vor dem irdischen Lebens-

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kämpfe trieb, ihrp neue Krgft hinzu, wie sie eben duich jedes große Leid innerlich zuwächst, um so den Mut { zum ewigen Leben zu erhöhen. Wenn er behauptet: »Der Mensch ist allein im All in ewiger Einsamkeit. Nicht die Sinnlosigkeit einer Welt von ungefähr ist ihm Pflicht, sondern seine Pflicht ist ihm der Sinn des Alls«, so täuscht er sich wohl über diesen Sinn und das Problem der Einsamkeit. Unendlichkeit ist nicht Einsamkeit, und aus der Ich-Einsamkeit in die All-Gemeinsamkeit aufzu- gehen scheint gerade der Sinn der Allordnung. Obsehon er sich über den positiven Unsinn des Positivismus so hoch erhob, hätte esoterischer Buddhismus ihn wohl der Lösung nähergebracht.

Festgefügtes System wird man in »Geschlecht und Charakter« füglich weniger finden, als den Ausdruck allge- meiner heroischer Weltanschauung und bedeutender Per- sönlichkeit. Beim gedruckten Nachlaß, das Hauptwerk ergänzend, wird man die Empfindung nicht los, daß jonglierendes Franzosentum des Geistes, wie der Pole Nietzsche es für deutsch ausgab, auch Weininger ansteckte. Seine Parerga und Paralipomena enthalten oft recht gequälte und erkünstelte Einfälle, einen aphoristisch irrlichtein den Orgiasmus schrullenhaft manirierter Begriffs- sprünge. Der höchst geistvolle Aufsatz über Ibsen's »Peer Gynt«, reich an eigenwüchsigen Gedankenbildern, ähnelt den bekannten Kommentaren über Faust IL Teil, wo jeder die Sphinx reden läßt, wie ihm der Schnabel ge- wachsen, und hineingebeimnißt, was ihm beliebt. Auch das Hauptwerk leidet an systemloser Mischung streng fachlicher Philosophie mit sozusagen feuilletonistischer Vor- tragsweise. Die besten und tiefsten Kapitel des gewaltigen Buches haben mit dem angeschlagenen Thema fast nichts zu schaffen, und jeder nicht fachphilosophisch gebildete Leser wird sie vermutlich überschlagen. Wir meinen z. B. den glanzvollen Abschnitt »Logik, Ethik und das Ich«, worin er mit einem mir unmittelbar verwandten Ideen- gange die Ethik aus der Logik ableitet. Den Erfolg des aufsehenerregenden Werkes machte natürlich nur der

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grundlegende sexuale Inhalt aus, der freilich in «inigeii Hauptpunkten unanfechtbar bleibt, dessen matilose Über- treibung jedoch des Autors Jugendlichkeit verrät.

Sobald ein Mann grimmig gegen die Frauen zetert, weiß der Psychologe, daß er einen Erotiker und halben Masochisten vor sieh hat. Nur wen das Sexuale ganz beheiTScht, über den hat das Weib Gewalt, nur er wird aus mitleidiger Verachtung der »Weiber« gleich wüsten Haß gegen das Weib-an-sich schöpfen. Derlei erinnert immer an den Briten, der angesichts eines rothaarigen Kellners dekretierte: alle Deutschen sind rothaarig. Daß Weininger sich gegen den albertien und verlogenen Kultus des Ewigweiblichen wendet, bleibt sein Verdienst, und hier dürfte er mannigfach klärend gewirkt haben. Aber gerade daß er wenngleich nicht neu, weil schon von Plato sattsam angedeutet zahllose Zwischenstufen zwischen Ganz -Mann und Ganz -Weib nachweist, hebt zahllose Frauen aus seinem Verdammungsurteil heraus, das doch nur dem Ganz-Weibe gelten könnte. Auch entgingen ihm zwei Eätselfragen. Erstens: daß im Tierreich keinerlei geistige und sittliche Differenzierung zwischen Männchen und Weibchen waltet oder vielmehr eher eine zu Gunsten des Weibchens, wie denn der soziale Altruismus des Ameisen- und Bienenstaats auf dem Ewigweibliclien beruht. Zweitens: da des Menschen Urerscheinung hermaphroditisch angelegt, wovon bei beiden Geschlechtern noch Kudimente vor- handen, und da ferner der Embryo anfangs keine Geschlechts- differenzierung vermuten läßt , woher dann plötzliches Hervorgehen zweier angeblich heterogener Wesen aus dem gleichen weiblichen Gebärteil ? Scheint nicht diese Dif- ferenz erst durchs Dasein selber sich herauszubilden, je tiefer das Weib in seinen Sexualberuf einsinkt und je höher der Mann als Geisteskärapfer davon abrückt? Wohl hat Weininger Recht: »Was für seichte Psychologen die Materialisten und Empiristen sind , kann man abermals hieraus entnehmen, daß gerade aus ihren Kreisen die Männer gekommen sind, welche für die ursprünglich ange- borene psychologische Gleichheit zwischen Mann und

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Weib eintreten.« Die Ungleichheit als solche besteht, wie sie eben aus des Weibes Sexualität notwendig folgert. Aber orakelt Weininger nicht selbst das tiefe Wort der Menschenkunde: »Der Fluch, den wir auf dem Weibe lastend ahnten, ist der böse Wille des Mannes«, »daß das Weib da ist, heißt also nichts, als daß vom Manne die Geschlechtlichkeit bejaht wurde«? Erbringt ferner Juden- tum und Femininum in unmittelbare Verbindung, beide als Verkuppler der Menschheit ans Philiströse, Antiideale. Wir pflichten ihm bei, daß Judentum weniger Eassenfrage als Geistesrichtung, daher verjudete Arier jüdischer seien als Juden, die sich innerlich vom Jüdischen lossagten. »Es ist die welthistorische Bedeutung des Judentums, den Arier zum Bewußtsein seines Selbst ;■ zu bringen«, daß er sich hüte »vor dem Judentum als {\ Möglichkeit in ihm selber«. i

Des jungen Denkers Edelsinn verlangt trotz seiner Ablehnung des Ewigweiblichen gleiche Rechte für Mann und Frau, da das Problem der Sklaverei unsittlich sei. Ganz recht, es schädigt so die Ethik des Mannes mit, und Hebung der Männerwelt kann nur durch Erlösung des Weibes vom Bann ausschließlicher Sexualität erfolgen. Vergißt Weininger nicht den seltsamen Fingerzeig der Natur, daß jedes Talent der Söhne von ihrer Mütter Intellektu- alität sich übertrug? Er mißt das Weib immer nur an den höchsten Möglichkeiten des Mannes. Für die angeb- liche Undenkbarkeit eines weiblichen Genies hat unser feminines Jahrhundert schon dies Problem gelöst: im Lebenswerk der Helena Petrowna Blavatzky, eines Mahatma (Übermenschen) in weiblicher Hülle.

Gewiß, das Durchschnittsweib ist oft ein kläglich kleinliches Geschöpf, mitunter eine nichtsnutzige Schmeiß- fliege. Doch steht der Durchschnittsmann wirklich so viel höher, um Weininger's wahnsinniges Diktum zu rechtfertigen: Der tiefststehende Mann sei mehr wert als die höchst- stehende Frau? Die plumpe Galanterie »Das Ewigweibliche zieht uns hinan« ward wohl nur von einfältigen Gänsen ie ernstgenommen. Doch der Legende von ätherischer

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Sittlichkeit der Frau steht gar manche abföllige Legende über ihre angebliche Geistlosigkeit gegenüber. Hiezu rech- nen wir das gang und gäbe Axiom, die Frau sei unfähig zur Objektivität. Nun haben zwar J. St. Mill und Herbert Spencer, was Weininger zu zitieren vergißt, sich in ihrer Frauen rechtlerei bis zu dem Ausruf gelegentlich verstiegen, die Frau denke sogar objektiver als der Mann. Aber selbst in dieser Hyperbel, die wir ablehnen, steckt ein Körnchen Wahrheit. ÜUvSere eigene Beobachtung drängt uns zu der Ansicht, daß die Frauen tatsächlich eigentümliche Objek- tivität besitzen, nur anders als der Mann. Beim Über- wiegen der sensitiven über die intellektuale Sphäre versteht die Frau sozusagen mit dem Gemüte, statt mit dem Ver- stände. Oft urteilt sie weit verständnisvoller über Abson- derliches als der Durchschnittsphilister, oft gilt nur für sie das populäre Wort: Das Herz auf dem rechten Fleck. Objektives Interesse für fernliegende Dinge trifft man unter Umständen eher bei Frauen als bei Männern. Um ein beliebiges Beispiel zu wählen: Würde je ein Mann ein Buch über weibliche Handarbeiten lesen? Nein, wohl aber lesen Frauen mit lebhaftem Vergnügen Bücher über mili- tärische Vorgänge, die doch von ihrem Empfindungskreis ausgeschlossen sein sollten. Und endlich: wenn eine Frau geistreich erörterte, alle Männer seien Kanaillen und Dummköpfe, so würde sie verhöhnt, verleumdet, verfolgt werden. Dein Buch aber, o lieber Spirit Weininger, lesen kluge Frauen mit Beifall, beklagen die ungerechte Ver- bitterung, schütteln den Kopf über verrückte Ausfälle, doch verkennen nicht vielfache Wahrheiten und edles Streben. Die berühmte Subjektivität der Frau kehrt sich also nur dann heraus, wenn ihre persönlichste Selbstsucht erregt wird. Und wer wüßte nicht, wie in solchem Falle wir Männer zu handeln und zu denken pflegen kolossal objektiv, nicht wahr? . . .

Zuletzt stellt der junge Denker die sittliche Forde- rung absoluter Keuschheit auf, als metaphysischer Unsterb- lichkeitsgläubiger allerdings logischer als Tolstoi, der keine entschiedene Stellung zum »Jenseits« nimmt. Ohne

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solchen Glaulyen, der völlige Vergeistigung und Eotkör- perung des Menschen in Aussicht stellt und hiefflr giößt- m^gliche ünbeflecktheit mit Materiellem voraussetzt, tväre Selbstkasteiung umso sinnloser, als Keuschheit an und für sich noch gar keine sittliche und geistige Erhöhung ge- währleistet. Hier entsteht ein Dilemm'a wie bei jeder Askese. Geschieht es nämlich in Hoffnung jenseitiger Ver- geltung, so hört wahre Ethik dabei auf, und gelingt es wegen ohnehin geringer sexueller Neigung, so hat das Opfer wenig Wert; trifft aber das Umgekehrte zu, dann verschlingt der verzweifelte Kampf gegen allmächtigen Naturtrieb alle Seelenkräfte, die zu nützlicherer Geistes- arbeit verwendet werden soUten. Um es deutlich zu sagen : Ob Dante die Beatrice platonisch anbetet und nebenbei mit einem Eheweib Kinder zeugt, erscheint sehr un- wichtig, wenn er nur die Divina Comedia schreibt. Und ob Gottlieb Schulze in geschlechtlicher Ehe oder gar lüderlich lebt, ist für seine sittliche Beschaffenheit lange nicht so wichtig, wenn er nur sonst gerecht und mitleidig mit seinen Nebenmenschen verkehrt. Erzwungene Keusch- heit, zu der ja unzählige alte Jungfern genötigt, bessert keineswegs das verbitterte Gemüt. Wir sehen es an so manclien Eremiten der Thebaide, die ihres Fleisches An- fechtung widefi'standen , um zelotische Hoffart und Ge- hässigkeit zu hellem Wahnwitz auszubilden. Die Askese bändigt den Leib, reinigt aber nicht die Seele.

Auch wäre Verzicht auf Fortpflanzung unzulässig gerade in Tolstoi's Sinne. Denn da er allen Wert in gott- selig Diesseits verlegt, so würde Aussterben der Mensch- heit die Möglichkeit vernichten, etwas Ethisches im Uni- versum darzustellen. Wenn kein Lebender mehr Christi Gebote befolgen kann, so wären sie ja umsonst gegeben, und dies Selbstaussterben der Menschheit gliche einer Furcht, das Kreuz der Ethik fürdei- auf sich zu nehmen. Ferner würden nur Edelste und Beste die Kraft aufbringen, dem Keuschheitsgebote nachzuleben ; die sich lustig. fortpflanzende Masse verlöi-e also die Möglichkeit, sich durchs Beispiel einer höheren Rasse zu evolutionieren.

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Man kann daher nicht unahin, den Verzicht auf Sexualität als unsittlich im höheren Sinne zu verwerfen, insofern solcher »Heiliger« aus Pflichttreue gegen sich selber die Pflicht gegen die Menschheit vernachlässigt. Keuschheit hat wahren Weit nur beim Yoga - Adepten, der sie als Mittel zum Zwecke höherer Machtfülle der Seelenkräfte benützt, wie ja sogar der körperliche Athlet sich aus Kämpferstolz zur Enthaltsamkeit zwingt. Immerhin mag man Aufhören der Portpflanzung als letztes Endziel im Auge behalten. Denn es wäre möglich, daß der Dua- lismus geschlechtlicher Differenzierung dereinst wieder in jene geschlechtslose Einheit sich auflöst, welche laut Geheimlehre den halbgottartigen spirituellen Urmenschen zu eigen gewesen sei. Mit solchem Hinübergleiten in höhere Sphären des Menschentums wirds aber noch gute Weile haben für Jahrtausende, und unser Bestreben kann einzig sein, den Naturtrieb einzudämmen, ihn als lästige tierische Funktion wie Ernährung und Ausschei- dung peinlich zu empfinden, statt ihn priapisch zu ver- göttern wie unser lieber guter Zeitgeist der Zucht- und ünzuchtwahl.*)

Weininger's Ruhm trotz jugendlicher Überspannung des Bogens beruht also darauf, daß er das Weib als Pflegerin des Naturtriebs und das Judentum als Hohen- priester alles Sexualen und Anti-Transcendentalen entlarvt und vor diesen Verbündeten, die sich das 19. Jahrhundert unterwarfen, die Zukunft warnt. Hier sehen wir also in

•) Das eben ist mit das Verdienst Otto Weininger's, daß er das >Bedürfnis«, von allem ethischen Ballast befreit, in gleichem, wenn nicht höherem Maß der Frauennatur als der des Mannes zubilligt. Man lese die großartige Deutung der Phänomene »Mutterschaft« und »Prostitution«. An der Hand solcher Argumente werden der Misogyn und der Troubadour, Leugner einer Frauenseele und Bekenner eines Frauenlächelns, Strind- berg und Altenberg einig. Nur die brutale Männermoral unserer Tage ich meine die Moral jener höchststehenden Männer, die tief unter der tiefststehenden Frau stehen kommt zu kurz, jene Weltanschauung, die der Frau die Pflicht der Sittlichkeit und dem Mann das Recht der Geilheit zuteilt und deren deutsches Virginitätsideal ich schon einmal mit dem Wunsche, zu devirginiereii, in erklärenden Zusammenhang gebracht habe. Anm. d. Herausgebers.

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Weininger, dem Juden, den echten deutschen Idealismus, von welchem unzählige Urgermanen abgefallen, wieder sein Haupt erheben. Die große Contrerevolution wider die Verneinung idealer Instintrte wirbt sogar in den eigenen Schlachtreihen naturwissenschaftlicher Kraftstoffelei täglich | neue Anhänger. Wenn die Theosophie siegreich ihr Banner über die Erde schwingt, dann wird man gerührt auch! dieses jugendlichen Märtyrers gedenken, der ähnlich wie sein auch von ihm argverkannter und verlästerter Stammesgenosse Heine ein besserer Deutscher war, als das bier saufende, tarockspielen de Bärenhäuterpack der Heil6-S chreier. Friede undj Ehre seinem Andenken!

ANTWORTEN DES HERAUSGEBERS.

Europäer. Sie lesen seit etlichen Tagen in den Wiener Blättern große Artikel unter der Aufschrift: »Demonstrationen an der Universität< und vermuten, daß es sich um die Demonstrierung wissenschaftlicher Entdeckungen, etwa um die Vorführung neuer physi- kalischer oder physiologischer Versuche handelt. Das ist ein Irrtum s

Österreicher. Bei dem Aufruhr in den Studentenkreisen von Pra^ und Wien, beim Anblick des Herrn Malik wird nichts Heiliges in mir' entzündet, und ich muß nach wie vor, wenn ich von >nationalen Be- schwerden« höre, an Bauchgrimmen denken. Ein Bismarck hätte die Frage des Rechts auf »Bummeln« bereits entschieden. Die Vertrottelung schreitet rapid fort.

Irrenwärter. Aus einem Linzer Bericht der ,Ostdeutschen Rund-^ schau': »Der bekannte tschechische Violinvirtuos Jan Kübel ik, defö ebenso wie seine beiden Stammesbrüder Ondricek und Kocian schoBS einigemale in Linz konzertierte, beabsichtigt nun wieder, und zwar ani^ 15. d. M. in unserer Stadt ein Konzert zu geben. - - Selbst das Blut der Ruhigsten muß da in Wallung kommen. Die Erregung darüber nimmt hier aber auch täglich zu. Daher begaben sich heute der Sekretär der Deutschen Volkspartei, 'Herr Hans Schlögl, und der Vertrauensmann der Frei-Alldeutschen, Ingenieur Herr Rudolf Urbanitzky, zu dem Veranstalter des Konzertes, um ihn über die Stimmung der Bevölkerung aufzuklären und ihm nahezulegen, daß es nicht allein im nationalen, sondern gewiß auch in seinem und Kubelik's Interesse gelegen sei, von dem Konzerte diesmal Abstand zu nehmen. Der Herr Veranstalter verhielt sich vollständig ablehnend und meinte, es werde genügen, wenn er die Behörde auf das Mitgeteilte aufmerksam mache., Uns kann's recht sein. Wenn man aber meint, auf wohlgemeinte, Vorstellungen nicht hören zu brauchen und den Linzern alleSi

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bieten zu können, kann doch vielleicht alle Rechnung ohne den Wirt, und das ist in diesem Falle wohl die gesamte national fühlende Bewohnerschaft der Stadt, gemacht werden. Wer nicht hören will, muß fühlen!« Am 15. März Konzert Kubelik. Tosende Pfuirufe, tätliche Bedrohung der Besucher, Angriff auf den Wagen des Statthalterei- Vizepräsidenten, Verwundung eines Statthaltereirates, Steinwürfe in den Konzertsaal, Katzenmusik mit Steinwürfen vor der Wohnung des Künstlers, nächtliche Flucht Kubelik's unter polizeilicher Begleitung, Erklärung von deutsch-nationaler Seite, »daß die Demonstration gegen den tschechischen ^ -iger Jan Kubelik sich nicht gegen die Person des Künstlers chtet habe.«... Waffengewalt? Nein, Irrenpflege!

Fregattenkapitän. Man kann dem japanisch-russischen Krieg ; anche interessante Seite abgewinnen: warum nicht auch eine Inseraten- s(ite? In der ,Zeit' vom 2. März war das Folgende zu lesen: >(Der Krieg und die Skodawerke.) ,Plzenske Listy' berichten: Zahlreiche der Schiffe, die dermalen im Kampf gegen Japan stehen, sind in Pilsen von den Skodawerken ausgerüstet. Der Kreuzer ,Pereswjet', der als Admiral- schiff des Kontreadmirals Fürsten Uchtomskij vor Port-Arthur im Treffen stand, der Kreuzer ,Osljalja', der als Kommandeurschiff mit den Panzer- fregatten ,Dimitri Donskoi' und ,Aurora' auf dem Wege nach Ostasien ist, sind in Pilsen ausgerüstet. Aber auch auf japanischer Seite ist Pilsner Arbeit zu finden. Der Panzer des Panzerschiffes , Mikado' ist aus den Werkstätten der Skodawerke hervorgegangen. Die Panzer- und Ma- schineneinrichtung der von Japan angekauften Kriegsschiffe ,Nischin' und ,Kasuga' (ursprünglich für Argentinien gebaut) ist in Pilsen gearbeitet. Ebenso dürften jetzt die Japaner gegen Rußland jene Geschütze benützen, die sie im Kriege mit China erobert haben, und welche durch- weg Arbeiten der Skodawerke sind. Noch bei Lebzeiten des Gründers der Skodawerke, Emil Ritter v. S k o d a, kam ein Professor der Kriegs- schule in Tokio nach Pilsen, um die Skodawerke zu besichtigen. Als ihm Ritter von Skoda die Type jener Geschütze zeigte, welche die Skoda werke an China lieferten, sagte der japanische Offizier lächelnd: ,Ich kenne diese Geschütze. Hoffentlich haben Sie bereits von China das Geld für die Kanonen denn die Geschütze selbst haben wir den Chinesen abgenommen!'« Die ,Zeit' ist ein autikorruptionistisches Blatt und hat diese Texteinschaltung gewiß gratis besorgt.

Satiriker. >Die jüdischen Schwindler und Gauner fürchten die Antisemiten, welche die Korruption bekämpfen, weit mehr als jene, die Ritualmorde entdecken«. Wo stand dieses Wahrwort, dessen Gedanke hier oft abgewandelt wurde, zu lesen? In der .Deutschen Zeitung' (13. März), dem > christlichsozialen Organ«. Herr F. F. Masaidek hat es ausgesprochen. Herr Masaidek vertritt die Satire der antisemitischen Presse. Er gehört zu den eifrigsten, wenn auch nicht geistig regsamsten Lesern der , Fackel'. Peinlich ist mir, daß er manchen Wendungen der , Fackel' zuerst die Pointe abbrechen zu müssen glaubt, bevor er sie veröffentlicht. An der Mitteilung, daß Österreich in seinem Settlement in China eine k. k. Lottokollektur errichtet hat (siehe Nr. 155), ist freilich nichts zu verderben. Aber es kommen Fälle vor, wo man die Ehrlichkeit

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dieses Satirikers bedauert und eine wörtliche Benützung der yFackel' wünschen würde. Ich glaube übrigens wirkh'ch nicht, daß Herr Masaidek ganz humorlos ist; unter fünfhundert >OIosJ.en«, die er liefert, sind doch immerhin fünf, in denen eine Art verschlafener Satire sich regt und die ihm gewiß einen Platz über der lebhaften Talentlosigkeit libe- raler Sonntagshumoristen anweisen. Aber geradezu hinreißend wirkt er, wo er unbestreitbare Wahrheiten mit aphoristischer Kürze vorbringt. In den Tagen, da die Affaire des Abgeordneten Wolf viel Geräusch machte, schrieb Masaidek den Satz hin: »Die Familie Tschan scheint eine saubere Familie zu sein<. Weiter nichts. Unter den Gedankensplittern der letzten Sonntage wären bemerkenswert: >Wenn man liest, mit welchem Jubel der Abg. Voelkl bei seinem Erscheinen im Parlament empfangen wurde, fragt man sich unwillkürlich: ,Was hat denn dieser Mann für sein Vaterland geleistet?'« Oder: >Das Genie verfällt leicht dem Wahnsinn, weil es das Unmögliche anstrebt. < Gleich daneben der Aphorismus : »Wenn es der Regierung mit der Einführung der Kronenwährung ernst wäre, so hätte sie schon längst die Guldenstücke einziehen müssen.« Ach ja!

Detektiv. Das ordinäre Diebsblatt des Lippowitz wird jetzt viel- fach überwacht. Das in Hannover erscheinende Fachorgan, ,D e r Zei- tungs-Verlag' (Eigentum des Vereines deutscher Zeitungsverleger) ,| bringt in der Nummer vom 3. März unter der Aufschrift »Gegen /! den systematischen Diebstahl beim , Wiener Journal'« ^ eine Zusammenstellung der neulich im .Berliner Tageblatt' und in i der , Fackel' veröffentlichten Diebsanzeigen. Dazu auch eine der Wiener ,ReichspOst', die den folgenden Wortlaut hat: >Die Schere des ,Neuen Wiener Journals' wütet in letzter Zeit Wieder derart, daß selbst das Ausland sich immer mehr davon beunruhigt fühlt . . . Gestern schrieben vc^ir in der , Reichspost' eine Notiz: .Johann Orth, der Refor- mator der japanischen Marine' und begannen sie also: .Richtig, wir hatten ohnehin unseren Kopf darauf gewettet, daß auch bei diesem Kriege der unglückliche Johann Orth . . . wieder auftauchen wird! usw ' Heute morgen finden wir im , Neuen Wiener Journal' unter derselben Überschrift dieselbe Notiz wortwörtlich mit dem Anfang: .Richtig, wir hatten ohnehin unseren Kopf darauf gewettet . . .' Daß die Herren vom .Wienfer Journal' unseren Kopf verwetten konnten, dazu gehört doch viel Geschicklichkeit; oder wollten die Herren nur bekennen, daß sie selbst über Kopf nicht verfügen?« Das Schandblatt hat übrigens eine neue Methode eingeführt. Wenn es schon einmal gezwungen ist, eine Quelle zu nennen, so rächt es sich an dem Bestohlenen und be- schiinpft ihn. Neulich wurde eine der feinsten Skizzen Peter Altenberg's gekfabbst und zugleich der Dichter in bodenlos gemeiner Weise ange- griffen. Es wäre kihdisch. einen Peter Altenberg, der für die verständnis- volle Achtung allier Künstlermenschen Europas nihig den Hohn aller Flächköpfe Wiens in Kauf nehmen kann, gegen die Beschmutzung durch eitle schäbige Reporterseele in Schutz zu näimen. Drollig ist nur die

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neue Methode des Diebes, unter dem Vorwande der Glossierung sein Blatt mit fremdem Lesestoff zu füllen. Ich wette hundert gegen eins, dalj das ,Neue Wiener Journal' auch diesmal nicht beleidigen, sondern einfach stehlen wollte.

Literat. Es ist die höchste Zeit, daß Herr Herzl nach Palästina gellt. Hier schreibt er schon zu dumme Feuilletons. Neulich das lüeschwätz über Japan, dessen Kultur Herrn Herzl aus einer Auf- führung der »Geisha« nicht einmal des >Mikado« - bekannt ist. lUnd jetzt übet die Vorstellung von Hofmannsthal's >Tod des Tizian« im > Hagenbund«. Man kann Hofmannsthal für einen Dichter oder für emen Eklektiker von feinstem Kunstgeschmack halten. Jedenfalls steht er als kultivierter Mitteleuropäer turmhoch über dem Niveau eines menschen, der es zuwegebringt, die Würde eines Messias mit der eines Sonntagshumoristen zu vereinigen. Trotzdem ist es notwendig, gegen die Impertinenz, mit der das Feuilleton vom 11. März schloß, ein eigenes W^örtchen zu sagen. Aus prinzipiellen Gründen. Herrn Herzl schwillt bämlich der Kamm, und er glaubt als Literaturvormund nur jene Jünglinge fördern zu dürfen, die klug genug waren, sich eine zionistische Welt- inschauung beizubiegen und palästinensische Heimatkunst zu pflegen. Herr Herzl >empfiehlt«, ohne Furcht, ausgelacht zu werden, »jun^e Dichter, die ungefähr das können, was der junge Hof mannsthal konnte«. Stefan Zweig, Sil Vara, Hans Müller, >um nur einige zu nennen, lie mir in den Wurf gekommen sind«. Das ist zu dumin, um ernst jemeint zu sein. Herr Zweig ist ein Formtalentchen, Herr Sil Vara, Jeenn die Kaffeehausskizze, die neulich einmal die ,Neue Freie Presse' im Sonntag brachte, den Gipfel seines Schaffens bedeutet, ein dürftiger Reporter. Es ist eine Frechheit, die man auch einem Judenkönig nicht ruhig hingehen lassen kann, diese armen Teufel mit Hugo von riofmannsthal in einem Athem zu nennen. Die >großen Dichter«, schwätzt rlerr Herzl weiter, brauche man nicht zu entdecken. »Der Erfolg zu hren Lebzeiten bringt sie vielmehr in Verlegenheit. Was um des iimmelswillen sollen sie mit dem Beifall der Menge machen, der sie iich fremd fühlen? Da nehmen sie falsche Posen an, wie man es )ei Ibsen sehen konnte*. Wenn Herr Herzl einst den Thron von erusalem besetzt finden sollte, so wird er dort noch immer als Hofnarr interkommen.

Habitus. Ich war nie ein Odi Ion -Fanatiker. Sie aber jetzt, da ;ie leidend ist, herunterzureißen und zu Gunsten des Fräuleins Petri loch dazu, das ist nur mein Freund Schütz imstande. Fräulein Petri st eine routinierte Normalsalon dame. Herrn Schütz bedeutet sie das Jm und Auf deutscher Schauspielkunst. Trotz den Hohenfels, Dor^, Conrad- Ramlo und Sorma, trotz den Mitterwurzer, Sandrock, Eysoldt md Lehmann. Aber ahnt man denn, was Fräulein Petri als Nora zu- vege gebracht hat ? » Im Volkstheater versöhnte ihre die egoistische Härte >Jora's erklärende Darstellung die Gegner des Dichters«. Das ist nehr, als man selbst von Herrn Schütz erwartet hätte. . . . Was in Vien nicht Alles Kritiken schreiben kann ! Da ist ein Herr in der , Reichs-

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wehr', der in einer begeisterten Rezension des Schmarrens >Michael Kohl- haas* wörtlich schreibt: »Ungemein drollig und humorvoll spielte das Ehepaar Kramer - Glöckner zwei grundverschiedene Rollen; s i e mit frappierender Naturtreue eine Berliner Vorstadttype, e r einen liebenswürdigen Charmeur«. Wie seltsam ! Sie sind vciheiratet und spielen doch verschiedene Rollen : er eine männliche und sie eine weibliche ! Man sollt's nicht glauben !

Sammler. Die »barbarische Orgie« siehe Nr. 1 55 hat ein prächtiges Seitenstück erhalten. In der 9. Sitzung der ungarischen Delegation läßt die ,Neue Freie Presse' (24. Februar) den Grafen Apponyi wie folgt sprechen: »Dem Kriegsminister sei es gelungen, in der ungarischen und in der österreichischen Delegation Befriedigung zu erwecken, wobei ihm die Erfindung des Ministerpräsidenten zu Hilfe gekommen sei, daß es in der deutschen Sprache keinen Unterschied zwischen Nation und Nationalität gebe. Dem Redner falle hiebei eine Szene aus , Faust' ein, in welcher Gretchen den Faust fragt, was eigentlich Religion sei. Faust erwidert ihr mit einer etwas hochtrabenden Darlegung des Pantheismus, worauf Orete antwortet: ,Nun, so etwas hat mir ja auch der Herr Pastor gesagt.' (Heiterkeit.)* ... Ja, solche Probe der »Kunst des Übersetzers« verdient schon Heiterkeit. Daß die Übersetzung aus dem Französischen oft schwierig ist, begreift man. Aber wer zwingt die ,Neue Freie Presse', den »Faust« aus dem Ungarischen zu übersetzen? Die Stellen: »Nun sag', wie hast du's mit der Religion?« und »Ungefähr sagt das der Pfarrer auch, nur mit ein bischen andern Worten« waren ja schneller zu ermitteln. Die ,Neue Freie Presse' kennt gewiß ihren Goethe. Aber i h r Goethe ist eben nicht unser Goethe, und wenn sie »Faust «zitiert, so können wir nur bedauernd versichern: Ungefähr sagt das Goethe auch, nur mit ein bischen andern Worten . . . Viel treffsicherer geht die ,Neue Freie Presse' zu Werke, wenn sie ihr schlechtes Deutsch direkt bezieht und nicht erst übersetzen muß. Von dem ehemaligen englischen Botschafter Lord Loftus, der neulich starb, versichert sie am i O.März, er habe »ein Alter von weit über 8 6 Jahren erreicht«. Und einen andern Botschafter läßt sie am 13. März andere seltsame Dinge treiben. Von ihm heißt es in dem Berichte über die III. Mode- Ausstellung: »Auch der französische Botschafter fand Gefallen an den schönen Dingen, besonders als die Hofdame der Erzherzogin ein ungarisches gesticktes Hemd anprobierte und zeigte« . . .

Arzt. Herr Berthold Frischauer hat neulich den berühmten Chirurgen Doyen interviewt und interessante Mitteilungen über eine neue Krebsheilmethode erhalten. Dieses Interview hat wohl stattgefunden. Wenigstens ist es zweifellos, daß Herr Frischauer interviewt hat und daß ihm Auskünfte erteilt wurden. Nur ein kleines Detail scheint nicht zu stimmen: Die Identität des Interviewten. Herr Frischauer beschreibt nämlich den Dr. Doyen wie folgt: »Ein schwarzer Vollbart umrahmt das energische Gesicht, aus dessen starken Zügen Wohlwollen gepaart mit großer Energie hervorleuchtet, während die schwarzen Augen von Intelligenz nicht ohne einen Anflug menschen durchblickender Malice strahlen.« Herr Frischauer scheint das Opfer eine Personenverwechslung geworden zu sein. Doyen ist nämlich blond.

Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus. Druck von lahoda & Sieeel. Wien. III. Hintere ZoUamtastraBr .')

fr. 158 Erschienen am 30. März 1904 V. Jahr

Die Fackel

Herausgeber:

KARL KRAUS.

Erscheint drei- oder zweimal im Monat. Preis der einzelnen Nummer 24 h.

Nachdruck and gewerbsmäßiges Verleihen verboten; gerichtliche Verfolgung

^halten.

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Verlag .DIE FACKEL«, IV. Schwindcasse 3.

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mit seiner größten Skala und seiner geteilten Abdämpfung für Baß und Diskant ermöglicht allein die schwierigsten Kompositionen von Liszt, Beethoven etc. originalgetreu zu spielen. Den Vortrag künstlerisch bis in die kleinsten Feinheiten auszugestalten bleibt ganz der indi- viduellen Auffassung des Spielenden überlassen.

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Die Fackel

Nr. 158 WIEN, 30. MÄRZ 1904 V. JAHR

DER FALL EALBBCE.

>Über denjenigen nach seinem Tode % nichts als Gutes zu sagen, der während

seines Lebens fast nur Übles über sich ver- nahm, ist eine eben so heilige Pflicht, als es zu einer traurigen Nötigung wird, von demjenigen, der mit angestrengtester Sorge sich dessen versicherte, daß während seines Lebens nur Gutes über ihn gesagt würde, den falschen Schein abzuziehen, welcher jetzt die Nachlebenden nachteilig beirren müßte. « Richard Wagner, »Entwürfe, Gedanken, Fragmente«.

Wer ist denn eigentlich dieser Max Kalbeck? Was will er? Wess vermißt er sich? Verdrossen durch die allgemeine Nichtbeachtung, deren sich seine Brahms- Biographie erfreut, wütet er in jüngster Zeit mit erneuter Vehemenz gegen alle Meister der Tonkunst, die bei Schaffung ihrer Werke sich von ihrem Genius und nicht von den ästhetischen Rezepten der Kritikergilde bestimmen heßen. Daß Wagner, Liszt, Brückner und Hugo Wolf sich seine Ungnade zugezogen haben, wissen wir längst. Er ist unver- söhnlich. Warum aber diese Sucht, den alten Hader immer wieder vom Zaun zu brechen und auf Gräber zu spucken, in denen die Meister friedevoll mit dem Rücken gegen die Herren Hanslick und Kalbeck ruhen? Der Musikrichter des ,Neuen Wiener Tag- blatt' hat am 9. März einen Akt der Verzweiflung verübt. Er sah Hugo Wolfs Lieder durch die Welt

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ziehen und konnte sie nicht aufhalten. Er sah, da Hugo Wolf lebte. Und so glaubte er, ihn schmähen' zu dürfen, wie man einen Lebenden schmäht. Er schrieb ein Feuilleton, um wenigstens die persönliche "Bhre eines leiblich Gestorbenen zu beschmutzen, dessen Werk zu beschmutzen ihm nicht gelungen war. in den Jahren 1884--87 war Hugo Wolf Musik- kritiker des »Wiener Salonblatt', Kollege jenes Max Schlesinger, dessen Genie als Ballreporter von den Kennern viel früher- gewürdigt ' wurde als das Genie des Liederkomponisten Hugo Wolf. Es gibt spezi- fische Wiener Ereignisse und Wiener Tatsachen.! 'Nicht für Wolf, für dieses im Pressdienst heillos ver- ^saute Wien war's beschämend, daß ein Musikheros sein Leben von den Groschen eines den gemeinsamen Angelegenheiten der Aristokratie und des Balletts dienenden Schmutzblättchens fristen mußte. Aber bei uns könnte ja auch Beethoven Klavierspieler beim Brädy sein. Schämen wir uns, wenn wir die Kritiken H,ugo Wolfs lesen, mit deren Wiederabdruck heute das ,Salonblatt' protzt 1 Ist es nicht, als ob ein Kinderschänder von Vaterstolz gebläht wäre, weil das Kind nachträglich zum berühmten Mann erwachsen ist? Daß diese Kritiken Ausbrüche stürmischen Künstler- temperaments, edeln Künstlerzorns über die rings sprossende Unfähigkeit und ungebändigten Hasses gegen Cliquenanmaßung sind, fühlen und bewundern wir viel- leicht urasomehr, da wir ihnen an dem anrüchigen Ort wieder begegnen, an den der Einsame verbannt war. Herr Max Kalbeck fühlt und bewundert es nicht. Und er hält sich nicht für so klein, daß er sich für verpflichtet hielte, vor eines Großen Grab den Mund zu halten. Ich" bin anderer Meinung, und ich kann den Entschluß des Hugo Wolf- Vereins nur billigen, die Geschwister ' des toten Meisters zur gerichtlichen Klage gegen .diesen Kälbeck zu bestimmen, der sich erdreistet hat, '^H^ugo Wolfs kritische Weise »gehässig, verleura- dwisch und bübisch«, seine Angriffe gegen Brahms

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^.^.brutal und, yerlpgeu« «umnennen. Denn, wejjn eines , in dieser, von Pressdünkel verwirrten Welt klar ist, so ist es; die- Tatsache, daß die Angriffe eines Hugo Wolf dem Urteil der .MusiJ^geschichte, die ; eines Max Kalbeck der Judikatur des Landesgerichts unterstehen.

Nicht bloß das Andenken Hugo Wolfs von dem Schimpf zu befreien, sondern ihn auf Herrn Kalbeck's Tätigkeit: zurückzuwerfen, muß jetzt das Streben aller fühlenden. Zeitgenossen sein, welche die Erscheinung eines Achilles verehrungswürdiger dünkt als die eines Thersites, und so bin ich jenen Musikern dank- bar, die meinem im engern Fachgebiet unsichern Gedächtnis mit einigen schätzbaren musikhistorischen Daten, aus der reichen Fülle des von Herrn , Kalbeck seit zwanzig Jahren Gebotenen zuhilfe kamen.

Gehässig, verleumderisch, bübisch, brutal nnd verlogen. Den Wahrheitsbeweis für, diese Worte, soll nicht Herr Kalbeck, seine Ankläger sollen ihn er- bringen dürfen. Ich empfehle ihnen, Seite 90 . des erst im Jahre 1903 in zweiter Auflage erschienenen Buches »Richard Wagner im Spiegel der .Kritik cyon Wilhelm Tappert nachzulesen: »Einen recht un- würdigen Ton schlägt Max Kalbeck mit Vorliebe an, wenn er über Wagner zu schreiben hat. Zwar hält er den .Bayreuther Meister für ein -großes musikalisches Talent, doch ohne eigentliche Originalität der Erfindung, mit bescheidener poetischer Begabung. Wörtlich charakterisiert er ihn so;, Er ist kein großer Künstler, sondern ein > Vereinsmeier, Reklame- held, Ränkeschmied, Skandalmacher und Sektierer. (18.82) Die. ganze Handlung des Parsifal ist ihm barer Unsinn 1 Gurneraanz nennt er , den ersten Chargierten des tugendhaften Ritterkorps', Kundry eine , barmherzige Schwester, die von Lachkrämpfen , gepeinigt wird und ; epileptische Zufälle hat*. Am- .tortas .laboriert, nach .Kalbeck, an einem bösen Leber- ,leiden. Eine ausgesucht geschmacklose: Stelle

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hat nachstehenden Wortlaut: Alles schmiegt sich (im 3. Akte) voll heiliger Ergriffenheit an die frisch gewasche- nen Füße Parsifals.« Daß ein Herr Kalbeck Wagner's poetische Begabung bescheiden findet, gehört ja zu den vielen Erscheinungen, über die das vorige Jahr- hundert zu lachen vergessen hat. Es merkte nicht einmal, daß der Mann wirklich unbescheidener ist als Richard Wagner, dem es doch nie eingefallen wäre, über die Gedichte eines Herrn Max Kalbeck so dumme Witze zu machen. Immerhin, neben Hugo Wolfs Gehässigkeit und Büberei hebt sich des Kritikers Kalbeck wohlwollender und männlicher Ton vorteilhaft ab. Durch mehr als zwanzig Jahre. Auch, als 1901 Emil Sauer zum Leiter der Ciavier- Meisterschule in Wien ernannt wurde. Daß ein hoch- strebender Künstler und Meister seines Fachs dauernd an Wien gefesselt werden sollte, ging der altgedienten Mittelmäßigkeit so gut wider den Strich wie Herrn Max Kalbeck, ihrem kritischen Sachwalter. Aber wie hilft sich die Bosheit, da sie dem fest gegründeten Ruf eines Künstlers nicht mehr schaden kann? Zum Glück hat Sauer kurz zuvor ein stilistisch nicht ganz einwandfreies Buch geschrieben, betitelt »Meine Welt, Bilder aus dem Geheimfache meiner Kunst und meines Lebens«. Diese Gelegenheit benützt Kalbeck sofort, um -- in dem Feuilleton des jNeuen Wiener Tagblatt* vom 5. Dezember 1901 die Person des Mannes dem Wiener Lachbedürfnis preis- zugeben, und zwar in dem Augenblick, da er sein neues Amt antritt. Er übersieht absichthch die guten Seiten des Buches, frozzelt Sauer wegen der Meisterschule, spricht schielend von seinen »Erlebnissen an Fürsten- höfen«, ist böse, weil er zu wenigaus dem »Geheimfach« zu hören bekommt, verhöhnt die Schilderung des glück- lichen Familienlebens des Künstlers und schont dif Gattin nicht, die nie in die Öffentlichkeit getreten ist Eine Stelle lautet: »Sauer schreibt von seiner Ge- mahlin: jAuch wird sie mir nie auf die verschiedenen

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Zweige der Kunst folgen, auf welchen ich mich heimisch fühle; aber sie hält unter dem Baumstamm treulich Wacht'. Bravo, Frau Alice 1 Bravissimo 1 Geben Sie nur um Himmelswillen Acht, verehrteste Frau Sauer, geborene Elb, daß sich Ihr waghalsiger Gemahl nicht zu hoch versteigt, und daß er sich auf keinen Ast setzt, der dem Gewichte seiner Persönlichkeit nicht gewachsen ist ! Sonst hilft die treulichste Wacht am Stamme nichts, und der auf verschiedenen Zweigen der Kunst herumkletternde ,Bamkraxler' bricht am Ende Hals und Beine! , Solche Frau', fügt Emil Sauer bekräftigend hinzu, ,hat weder Zeit für Emanzipations- bestrebungen, noch Sinn für Putz, Toiletten und hohle Vergnügungen; auch malt, singt und dichtet sie nicht. Das einzige und schönste Gedicht, welches sie mir zu Füßen legte, ist eine reiche, muntere Kinderschaar.' Gleich eine Schaar? Wieviel sind das? Auch das verschweigt des Sängers Höflichkeit. Wenn das , einzige, schönste Gedicht' nicht nur ein unglück- liches poetisches Gleichnis des von der Last seiner Erinnerungen aufs Haupt gedrückten Gatten ist, so gehört der Fall in der Familie Sauer unter die Rubrik der merkwürdigen Naturerscheinungen, und 'Frau Alice hat ihrem Mann mindestens Vierlinge zu Füßen gelegt.« Man sieht, wie fern dem Herrn Max Kalbeck bübische Schreibweise 'liegt. Auch die verleumderische, gemeine und ver- logene. Denn im März 1 903 kommt Richard Strauss nach Wien, um mit seinem Orchester ein Konzert zu geben. Ursprünglich hatte er Beethoven's Eroica aufs Programm gesetzt, kommt aber von diesem Plane ab und legt seine Beweggründe hiefür in einem Briefe dar, der im ,Neuen Wiener Abendblatt' vom 4. März 1903 veröffentlicht ist. Jederman kann aus diesem I Briefe ersehen, daß Strauss keine billigen Dirigenten- erfolge durch Vorführung eines bewährten Meister- werkes erzielen will, daß es ihm vielmehr darum zu ' tun ist, neuen, nie gehörten Werken zur Anerkennung

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zu -verhelfen, und daß» es »wenig Bierechti^ng hat, den 'Wienern Sachen vorzuspielen, die sie von ihren Philharmonikern aüjährlrch doch besser zu hören bekommen als von seinem jungen Orchester«. Gewiß ein ehrliches Beginnen. Doch unser Kritiker konstruiert flugs daraus, in dem Feuilleton vom 7. März 1908, eine Anklage des Inhalts, daß Strauss moderne Werke, namentlich sein » Heldenleben c, der Eroiea vorziehe. Strauss verwahrt sich gegen- diesen ungerechtfertigten Vorwurf in einem zweiten Briefe (abgedruckt im ,Neuen Wiener Tagblatt* vom 15. März 1903): »Während ich doch nur aus rein künstlerischen Gründen mich entschlossen hatte, gerade in Wien nicht Beethoven's Eroiea mit meinem jungen Orchester zu spielen, hat der Inhalt meines Briefe*^ dank absichtlicher Mißdeutung mir den' Vorwurf mangelnden Respekts : vor einem unserer- herrlichsten Meisterwerke zugezogen. Ich möchte da» Prädikat eines ,Kkssikerverächters*, womit man einen' wahrhaft Großen schon Zeit seines Lebens sekiert hat,' nicht gerne auf mir sitzen lassen. Gerade diesen Vor- wurf nicht«. Sicherlich ist die Eroiea bei diesem Künstler besser aufgehoben als bei Herrn Kalbeck, der trotz seiner Schreiblust den Vorwurf der »absicht- lichen Mißdeutung« bis heute ruhig auf sich sitzen ließ. Aber er hatte ja anderes zu tun, an anderen Künstlern seinen Schnabel zu wetzen. Im Dezem- ber 1903 leitet Arthur Ni k i s c h ein Konzert der Wiene* Philharmoniker, ein Mann von immensem Können und' Wissen, ein unbeding:t ernst zu nehmender : Künstler.' Er huldigt aber dem musikalischen Portschritt, folg- lich entgeht er nicht dem Schicksal, von Herrn Kai--'' beck angerempelt zu werden, obwohl er neben den^' Werken größerer Meister auch Brahms mit gleicher^ Liebe und Sorgfalt zur Aufführung bringt. Da aber* diesem bedeutenden Musiker sachlich nicht beizukora*- men ist und, wäre es selbst möglich, Herrn Kaiheck das ' dafür nötige Fachwissen mangelt, so macht er*"

sich im ^Feuilleton vomi22. Dezember 1903 'über den i gutgemachten Prack'iund die tadellosen Manchetten Nikisch's ' weidlich lustig. * Was soll nun der arme .'Nikisoh tun? Konmat. er ein näöhstesmal mit« einem .•schlecht sitzenden Frack nach Wien, so fällt die kri- c tische Schneidereeele wieder über ihn her. Das künst- lerische Interesse dieses irausikalischen Afterkritikers '. beginnt ' bei' den Frackschößen des Künstlers . . .

Doch ließe sich die Anwendbarkeit jener schlim- :men' Worte auf Herrn »Kalbeck's Gesinnung besser '. erhärten als gerade mit dem Angriff auf- Hugo Wolfs iMenschenehre? So bübisch, gehässig und brutal kann adieser bei Lebzeiten nicht gewesen sein wie einer, der ihm solchen Schimpf in die Grube ! nach- cuft. iWeruhier den Erdschollen der Liebe die Kot- ballen des Hasses vorzieht, muß darauf gefaßt sein, daß sieiihm so wehrhaft sind die Toten ins eigene liebe Antlitz zuTückfliegen. Ich beneide Herrn Kalbeck um seine Geschmacksrichtung nicht und möchte nicht in seiner Haut stecken. Um der Tat willen, nicht um i der Strafe vs^illen, die seiner harrt. Man wehre falscher Pietät und' 'enthülle schonungslos erschlichenen Nach- ! rühm I Ist; aber Hugo Wolf, der durch Not und Wahn- sinn in den Tod. ging, eine Cliquengröße? Und- soll i est erlaubt sein, der stürmischen Anerkennung, in der die Reue der Nachlebenden zum Ausdruck kommt, in den Arm zu fallen ? Der Erhöhung des Künstlers durch . Erniedrigung des Menschen entgegenzuarbei- iten? Plötzlich und mutwillig den kleinlichsten Tratsch i-aufasutischen? Bloß aus dem Grunde, weil der Meister, da er «einen Unmut in kritischen Explosionen austobte, sich einmal so unsanft an einem Eck in Herrn Kalb-

eck's Namen gestoßen haben soll, daß er dessen Entfer- nung wünschte? Der edle Kalbeek revanchiert sich, in- dem er nicht die Beleidigung seiner Majestät zugibt, son- dern auf einen Klatsch zurückgreift, der Hugo Wolfs Elegeljahre kompromittieren soll. Er berichtet aus eiaem

Gespräche mit Hans Richter^der lö-oder 16 jährigeWolf

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habe sich zu diesem g^eäußert, »er könne bei dem Esel Hellmesberger (Josef Hellmesberger sen. ist gemeint) nichts lernen«. Man kann die Richtigkeit dieser Er- zählung kaura in Zweifel ziehen, da ja der berühmte Dirigent Hans Richter dem Tondichter den Satz in den Mund legt. Immerhin muß man das phäno- menale Gedächtnis dieses Mannes bewundern, der nach 28 Jahren sich noch an den Wortlaut einer Unterredung erinnert, die er damals mit einem ihm höchst gleichgiltigen 15jährigen Jungen geführt hat. Wolf war zwar nie unmittelbar Schüler Hellmesberger's, und derartige Aussprüche haben wohl auch schon andere Jungen dieses Alters über ihren Direktor oder gar ihren Lehrer getan; das wird niemand tragisch nehmen. Aber bezeichnend ist, daß der unreife Junge Wolf, der den schöpferischen Genius bereits in der Brust trug, verhältnismäßig lange nicht so hart über den Musiker Hellmesberger geurteilt hat wie der 32 jährige Nichts-Schöpfer Kalbeck 1882 und später über die gewaltige Kulturerscheinung eines Richard Wagner. Und noch bezeichnender ist, daß Herr Kalbeck die gedruckten, also authentischen Äußerungen des 25jährigen Mannes Hugo Wolf über Hellmesberger, die des Lobes voll sind, verschweigt. Sie sind in eben denselben ,Salonblatt'-Kritiken enthalten, die Herr Kal- beck ja so genau kennt. Herr Kalbeck ist zwar kein Meister des Stils; aber er zeigt sich ganz dort, wo er weise verschweigt. Einem Hugo Wolf hätte man solches Manöver als verlogen oder gar verleumderisch angemerkt. Nun, die Verschweigungs- taktik wäre besser am Platze gewesen, wo Herr Kalbeck den Ausspruch Hans Richter's über die »Pen- thesilea« vorbringt: »Sehen Sie, meine Herren, solche unmögliche Sachen komponiert ein Mensch, der jeden Sonntag einen Meister wie Brahms im , Salonblatt' ver- unglimpft!« Damals hatte Hans Richter sein ausge- zfichnetes Gedächtnis im Stiche gelassen ; sonst hätte er sich erinnern müssen, daß man seinerzeit auch den

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»Tristan« und andere Schöpfungen seines Meisters Wagner als »unmögliche Sachen« deklarierte. Tat- sächlich ist das genial-stürmische Jugendwerk Wolfs nach kaum 20 Jahren »möglich« geworden, »Penthe- silea« hat in diesem Winter nicht nur mehrere erfolg- reiche Aufführungen in Deutschland (besonders unter Weingartner) erlebt, sondern wurde am 15. März 1904 sogar in Wien mit einem Beifall aufgenommen, der zugleich wie der Demonstrations-Applaus eines Pub- likums klang, das nicht länger gewillt ist, sich seine ästhetischen Anschauungen von den Zeitungsleuten vorschreiben zu lassen. Einem Hans Richter übrigens ist ein einmaliger Irrtum leicht zu verzeihen; steht er doch als Mensch und Künstler so hoch, daß die taktlose Bloßstellung durch Herrn Kalbeck seinem wohlverdienten Ansehen nicht schaden wird.

Im Nachlasse Wolfs fand sich, mit dem Datum seines 35. Geburtstages (13. 'März 1895) versehen, eine Photographie Eduard Hanslick's nebst einigen Versen vor. Der Wolf- Biograph Decsey erzählt von dieser Widmung nicht etwa in seiner sachlich und vornehm gehaltenen Biographie, sondern nur in seinen Wolf-Miscellen, abgedruckt in Heuberger's »Musik- buch aus Österreich 1904«, wo derlei Anekdoten gewiß nicht deplaciert sind und spricht seine Ver- wunderung aus, daß Hanslick den Komponisten be- glückwünscht habe. Die Widmung war ein Scherz, den sich ein Bekannter Wolfs mit diesem erlaubt hatte, ein Scherz, den der Biograph in gutem und begreiflichem Glauben ernst nahm. Es trifft ihn also immerhin der Vorwurf, daß er eine zu hohe Meinung von dem Musikhofrat hatte. Denn wäre die Widmung tatsächlich von Hanslick's Hand, so hätte er wenigstens einmal in seinem Leben die Fähigkeit bewiesen, die musikalische Begabung eines Zeit- genossen zu erkennen. Sicherlich hat er sonst nichtigeren Geschöpfen als Hugo Wolf Photographien mit Wid- mungen verehrt. Aber Herr Kalbeck nimmt die

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Sache nicht so leicht. Er wittert ein großes Verbrechen, schlägt vor 1 Entrüstung Purzelbäume und eilt zum .Oberbonzen, um ihm die schmachvolle Zumutung mit- zuteilen. Dieser erklärt, er »kenne jene Verse gar nicht« und habe »Hugo Wolf weder sein Bild

geschenkt, nochihm jemals zum Geburtstage gratuliert«, . »a haben wir es 1 Der böse Anschlag ist enthüllt. Herr Kalbeck schließt: »Die Widmung ist demnach eine Fälschung«. Es ist am Tage, Hugo Woli hat, da er die Anerkennung Hanslick's bei Leb- zeiten nicht erringen konnte, die Unterschrift aut einem Bilde des großen Ruhmverhinderers fingiert, -uin wenigstens den Durchforschern seines Nachlasses zu imponieren... Die alberne Enthüllung sollten die Schützer des Wolf'schen Andenkens ignorieren und in die Beleidigungsklage nicht einbeziehen. Daß der Biograph die Widmung so ernst nehmen durfte wie Friedrich Eckstein, ^'ener Freund Wolfs, der sie aus dem Nachlaß überkommen hatte und Herrn Dr. Decsey übergab, ist klar. Herr Kalbeck freilich, der Gewissen- hafte, besteht darauf, der Schriftsteller, der »so etwas« veröffentlicht, sei »verpflichtet gewesen, den Sach| verhalt an der Quelle zu eruieren«. Herr Kalbeck scheiif wirklich der Meinung zu sein, daß einer, dem eine an- ständige Handlung des Hofrats HansUck berichtet wird vor allem an einen Aufsitzer zu denken hat. Aber muß man denn mit Widmungen berühniter Männer rigorose verfahren als eben Herr Hanslick, der sie und wäii selbst eine seines Freundes Kalbeck darunter munter zum Antiquar trägt? Gewiß, das Bild Hans- lick's, das sich in Wolfs Nachlaß fand, trag eine falsche Unterschrift. Aber ist's nicht schlimmer daß die Widmungen, die sich auf den von Herrr Hanslick verklopften Büchern finden, echt sind?... Jedenfalls ist der Spaßvogel, der Hugo Wolf genarrt hat literaturkundiger als die Wiener Musikkritik, diefl für seinen Streich den Meister selbst verantwort-' •iich machen- möchte. »Hanslick- kennt jene Verse ga:

nicht.« Herr Ktilb eck kennt sie natütlich, auch 'nicht. Er macht wohl selbst bessere. Und der dritte; im Bünde, Herr Korngold, verkündet am 17. März in der , Neuen Freien Presse': »Nun hätte ja gewiß eine solche Aufmerksamkeit eine ebenso ungewöhnliche wie schmeichelhafte Auszeichnuqg für den jungen Kom- ponisten bedeutet wären nur die Verse besser, die Handschrift auf der Photographie jene Hanslick's md die ganze Geschichte so wahr, wie sie falsch ist.« SS ist zwar nicht einzusehen, warum eine An- läherung Hanslick's an Wolf für diesen hätte ichmeichelhafter sein sollen als für jenen. Aber \sQ) Herr Hanslick auch gegen den Verdacht der \.ütorschaft jener Verse geschützt werden muß, ist las drolligste an der Sache. Schon einmal hat ein Sflitarbeiter der ,Neuen Freien Presse' über ein Ge- licht, das er auf einem Grabstein fand, gespottet. Der Spötter hieß Wittmann und der Dichter Schiller. Jnd nun heißt jener Korngold und dieser Goethe. . . Das letzte Histörchen des Herrn Kalbeck ist vohl das widerwärtigste und abgeschmackteste. Herr ü[albeck bekennt, er habe einmal, da er einen Angriff iVölf's auf Brahms las, diesen »empört gefragt, wer ienn eigentlich dieser Hugo Wolf sei«. Brahms iiabe entgegnet: »Ach Gott, das ist ja so ein dürf- läger, armseliger Kerl, ein verunglückter Musikant, der nichts lernen will. Er kam einmal

u mir, da war er nicht von der Türe wegzu- bringen: er küßte immerzu die Klinke ,aus Verehrung*...« Brahms habe hinzugefügt: »Ekel- laft!«. Ja wohl, Herr Kalbeck, ekelhaft! Könnte der

eser selbst glauben, daß Brahms so pöbelsinnig. über )in aufstrebendes Musikgenie gesprochen habe, so «rürde ihn die Mitteilung der häßlichen Rede als eine Beleidigung zweier Toten abstoßen und als die.

chäbige Ausnutzung der Gelegenheit, daß für diö Sfzählung bloß Herr Kalbeck, für das Erzählte

ein Zeuge mehr bürgen kann. Hat Brahms es ge-

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sagt, schlimm genug für ihn. Ist es wahr, so bleibt darum kein Fleck auf Wolfs Andenken haften, und der Vorwurf der Unaufrichtigkeit kann den nicht treffen, dessen heißes Temperament durch Entwick- lungen zu stürmen, aus Liebe in Haß zu stürzen geschaffen war. Anton Brückner hat einmal Hanslick's Hand geküßt. Die Schmach fällt auf eine im Mißbrauch gefürchtete Presstyrannis zurück, und die Verehrung würde heute nicht zaudern, könnte sie noch einmal vor die Wahl gestellt werden, ob jener Mund verstummen oder jene Hand verdorren solle . . .

Genug von dem widerwärtigen Getratsche I Was soll der ganze Hader, weil außer Brahms noch andere Tondichter, die andere Wege einschlagen, wirkten? Hätten die Meister, die oft Not und Hunger litten, wenigstens das Honorar bezogen, das heute ein Kal- beck mit ihrer Besudelung verdient I Aber sind sie, die Brückner und Wolf, die Wagner und Liszt, nicht auch allzu anspruchsvoll, allzu frech? Erst versucht man sie totzuschweigen, dann rezensiert man sie zu Tode, dann sterben sie wirklich, aber je mehr die Hanslick und Kalbeck losschlagen, umso lebendiger und größer stehen sie im Herzen des Volkes wieder auf. . . Wer ist denn eigentlich dieser Kalbeck, was will er, wess vermißt er sich ? Er hat einige dürftige lyrische Gedichte geschrieben und einige schon wieder verschollene Operettentexte geliefert, hat fremd- ländische Opern angeblich ins Deutsche übertragen Alois Obrist führt in seinen in Lessmann's Musik- zeitung (Berlin-Charlottenburg) über »schlechtes Opern- deutsch« veröffentlichten Aufsätzen unter den ab- schreckendsten Beispielen eine erkleckliche Anzahl aus Kalbeck's »Feder an , hat eine ehrfurchtlose »Bearbeitung« des Don Juan gewagt, hat wohl auch einigen Musikunterricht genossen und wurde, da er weder zum Dichter noch zum Musiker taugte, Zeitungs- kritiker für Literatur und Musik. Als solcher trat er

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in die Reihe der Wiener Beckmesser, die sich von jenem Wagner's bloß dadurch unterscheiden, daß sie oft nicht einmal die Tabulatur kennen, pflanzte die Anschauungen seines Förderers Hanslick fort, hängte sich, um nicht die Überfuhr zur Unsterblichkeit zu versäumen, an die Prackschöße Johannes Brahms' und schien gewillt, alles, was neben diesem in Tönen zu empfinden wagte, einer Rache, einer Laune, einem Spaß zu opfern. Denn in diese Wiener Grund- stimmung, die ein großes Kunstwerk bedenkenlos für einen kleinen Witz hingibt, hat sich der Breslauer Philister vortrefflich eingelebt. Das findet man so hat er's gelernt amüsant, das liest man mit Behagen, das wird bei allen Jours nachgeplappert, und das ernährt seinen Mann. Lebten wir in dem von Wagner erträumten Staat, Pakta wie jenes Hugo Wolf-Feuilleton würden nicht als Ehrenbeleidigung, sondern als Religionsstörung behandelt werden. Oder sollen wir uns heute lieber nach Wagner's Bekenntnis richten, er sei »von Anfang herein unsren Musikzeitungsschreibern mit einer Verachtung be- gegnet, wie sie stärker nie in der Welt bezeigt worden sein dürfte«? »Wenn das deutsche Publikum«, lehrt er in demselben Kapitel, »es liebt, die Abtritts- schlotten seiner Gemeinheit sich auf die offene Straße, bis in seine Unterhaltungsräume hineinziehen zu lassen, wie es dies mit der Pflege seiner Zeitungs- presse tut, so muß man ihm das lassen, kann aber bei dem Gestanke nichts mehr mit ihm zu tun haben«.

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Iil einem Wiener Vergnügungslokale' soll ein »Japanischer Kriegsmarsch« aufgeführt werden. Das regt die , Ostdeutsche Rundschau', die jetzt »Deutsches Tägblatt' heißt, gewaltig auf. »Wir Deutsche haben gar keinen Grrund, uns besonders für die Angelegen- heiten der Japaner zu begeistern, und am wenigsten ist es angebracht, gewisse Vergleiche zu ziehen. Die heldenhaft getragene blutige Not eines stammver- wandten Volkes ließ bei uns alle Herzen erzittern, und diese Teilnahme mußte sich Luft' machen, indem das Burenlied bejubelt wurde«. Die Begeisterung für Japan aber sollten wir den Juden überlassen... Die Grroßherzigkeit,' mit der ein antisemitisches Blatt das Verständnis für die Lebensäußerungen einer höheren Kultur den Juden überlassen will, ist ja rührend. Oder glaubt die »Ostdeutsche Rundschau', daß es der Menschenschlag der Herren Malik, Herzog und Franko Stein ist, der die höhere Kultur repräsentiert? Wir werden uns doch nicht, wenn wir die Wahl zwischen Russen und Japanern haben, für das teu- tonische Gesindel, das dem Künstler Kubelik in Linz die Fenster einschlug, entscheiden müssen? Wenn der »Japanische Kriegsmarsch« besser ist als die Buren- hymne, möge er immerhin gespielt werden ; man sieht die nationalen Begeisterungen des Spießers lieber in Gassenhauern als in Straßenprügeleien ihre Ableitung finden. Aber müssen wir denn unbedingt zwischen »Russen« und »Japanern« wählen? Drückt uns nicht schon diese MaulafFenfreude an einem Blutvergießen tief unter das Kulturniveau beider Streitteile? Wird die Entscheidung irgendwie beeinflußt, wenn jüdische Reporter Japan und Kerzelweiber RulSland ihrer un- wandelbaren Sympathien versichern? Der schmutzigste Kosak steht gewiß so hooh über einem Wiener Börsen- redakteur wie eine Geisha über einer christlichsozi- alen Wahlraegäre ... Es ist übrigens kein schlechter Einfall, die Burenbegeisterung, die wir glücklich über- standen haben, aus Gründen der »Stammes verwandt-

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Schaft« zu erklären. Die Verwandtschaft- des Buren- volkes mit dem Stamm der Herren Popölak,i Inderka, Molinek, Honsik, Haluschka, Miklautschitsch, Kudielka, Prochaska und Wiskozil ist > nicht ohneweiters ein- leuchtend. Das sind die Namen der besten Deutschen, 'SO wir haben, der Teilnehmerliste eines stramm- deutsohnationalen Festes entnommen, das vor Jahren in Iglau gefeiert wurde. Herr MaHk ist alldeütsclier Abgeordneter, Herr Sedlak Redakteur der , Ostdeutschen Rundschau', Herr Stepischnegg Schwiegervater des K. H. Wolf. In Nr. 17 der ,Fackel' waren die Herren Kokoschinegg, Kovatschitsch, Mravlag, Besgorschak und Podgorschegg als die politischen Wortführer der Deutschen in Südsteiermark bezeichnet, lauter Namen, die einen guten Klang haben, so weit die deutsche Zunge reichen muß, um sich auszukegeln. Wenn man daneben bedenkt, daß politisch einflußreiche Slovenen > Kaisersberger, Fischer, Mayer, Blachmann, Schuster, Rosenstein und Krämer heißen, daß der Deutsche, der einmal in Cilli angeschossen wurde, Pollanetz, der Slave, der auf ihn schoß, geradezu Jahn (Vater Jahn, schau obal) heißt, wenn in Marburg die Herren Glantschnigg und Woschnagg deutschnational und ihre Brüder Glancnik und Voinjak slovenischnational krakehlen, so mag man sich an den nachdenklichen Ausspruch des Tschechen Rieger erinnern: »Mir scheint, mir scheint, daß dem Cheruskerfürsten Her- mann meine Ahnen näher standen als die des Frei- herrn V. Chiumeckyl« Hierzulande wenigstens stimmt es: »Der Nationalismus«, so hat mir ein geist- voller Mann einmal gesagt, »ist eine Sache der Entschließung«.. . Wann werden die Regierenden dieser Affenkomödie, bei der die Fensterscheiben der Völker und höhere Kulturgüter flöten gehen, ein Ende machen?

Wie sehr der slavische Ansturm die deutschen National- güter und vor allem die deutsche Sprache schon> bedrängt^ geht

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aus einem Aufruf hervor, den mir ein Verein zur Oründung einer »Deutschen Volksschule in Witteschau« bei Hohenstadt in Mähren zusendet. Daß Witteschau slavisiert wird, ist »leider mit der Zeit zu befürchten, da wir gegenwärtig gezwungen sind, unsere Kinder in die slavische Schule zu senden, wo die Kleinen dem Terroris- mus slavischer Volksbildner noch ausgesetzt sind, nachdem die nächste deutsche Volksschule 17« Wegstunden von uns enifemt ist«. Der Einfluß der slavischen Volksbildner zeigt sich auch schon in dem Satze : »iVlit der frohen Zuversicht, daß unser Notschrei aus schwer bedrängter Lage nicht ungehört bei unseren Volksgenossen verhalle, wir doch stolz darauf sind, einem Kulturvolke ersten Ranges anzugehören, . . . gründeten wir den Verein . . ., welcher keinen andern Zweck verfolgt als wie die Errichtung einer deutschen Volksschule in Witteschau<. Da ist rasche Hilfe gebo- boten. Denn es handelt sich um die »Sicherung des deutschen Besitzes von Hohenstadt, da durch diese Schule der immer mäch- tiger werdende tschechische Ansturm von letzterer Stadt abgelenkt werden muß«. Die weite Entfernung einer deutschen Volksschule verleugnet sich auch in der Schreibweise der Erwachsenen von Witteschau nicht. »Wir wollen treu bleiben unserer trauten, süßen Muttersprache«. Aber man sieht, wie schwer es ist. Darum empfehle ich und viel ernster und nachdrücklicher als die deutschnationale Publizistik den Aufruf werktätiger Beachtung.

Diebsanzeiger.

Das ,Neue Wiener Journal' vom 27. März bringt unter der Rubrik »Pariser Leben. Von unserem Korrespondenten«, natürlich ohne Quellenangabe, die in ,le Journal' vom 23. März von Michel Provins veröffentlichte Novellette: »le troisieme sexe«. Das Plagiat dürfte, wie mir ein mit Pariser journalistischen Kreisen in Ver- bindung stehender Leser mitteilt, Anlaß zur Klage gegen das un- verschämte Diebsblatt geben. Unter der Bezeichnung »Les para- sites du journalisme« sei in Paris einmal das Lippowitzblatt als »le refuge des cambrioleurs de la presse« an den Pranger gestellt worden. Wahrlich, ein internationaler Dieb ! Die

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Erlassung eines Steckbriefs empfiehlt sich nicht, da ihn das ,Neus Wiener Journal' sicher ohne Quellenangabe nachdrucken würde.

In den Tbeaterrubriken kann man oft ganz gute Witze lesen. Zum Beispiel:

>Die Direktion des Deutschen Volkstheaters hat an Henrik Ibsen die Einlädung ergehen lassen, zur Erstaufführung von ,Wenn wir Toten erwachen' nach Wien zu kommen«.

Noch besser:

>Aus Anlaß von Ibsens 76. Geburtstag wird morgen im Deutschen Volkstheater den Theaterbesuchern nebst dem Theater- zettel von ,Wenn wir Toten erwachen' auch eine Ansichtskarte mit dem Bilde des Dichters überreicht werden. Die erste dieser Ansichtskarten wurde heute dem Dichter zugeschickt.«

Die Direktion des Deutschen Volkstheaters hat die Inten- tionen Ibsen's, die man sonst immer für so schwer verständlich ausgibt, sehr fein erfaßt. Ibsen soll hocherfreut gewesen sein und aus der fortwirkenden pessimistischen Stimmung, die seinen Epilog erfüllt und in der ihn diese Verklärung seines Lebensabends durch die Herren Weisse und Bukovics überraschte, gerufen haben: >Das hätte ich nicht erwartet!«

ANTWORTEN DES HeRAUSGBBBRS.

Kriminalist. Das Urteil über die Tat des Johann Feigl ist vom Oberlandesgericht augenblicklich gefällt worden. Die Justiz hat mit standgerichtlicher Promptheit gearbeitet. Leider ist die Differenz zwischen lebenslänglich und zwölf Jahren, zu der Herr Feigl verurteilt wurde, eine viel zu geringe, und zwölf Jahre für den Trunkenheitsexzeß, den ein minderjähriger Bursche auf der Ringstraße verübt hat, noch immer horrend. Wiewohl Herrn Feigl kein mildernder Umstand zugebilligt werden kann, wiewohl er weder minderjährig ist, noch in Volltrunken- heit gehandelt hat, wiewohl er sich der Folgen seiner Handlungs- weise — z. B. Erschütterung des Vertrauens in die Strafjustiz, dauernde Berufsstörung bei Anton Kraft usw. bewußt sein mußte, hat das iOberlandesgericht sich für bemüßigt gehalten, ihn mit mehr Rücksicht zu behandeln als den andern Angeklagten. Warum, Ihr Herren? Warum ;wird denn mit den »Jahrin« nur so herumgeschmissen? Es ist ja isehr selbstlos, wenn ein Berufungsgericht einen Teil des Entsetzens,

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das ein Urteil > erregt hat, auf sich nehmen will. Aber schließlich ist doidi die Gerechtigkeit auch etwas, worauf in der Judikatur Rücksicht genommen werden sollte, wenn ich auch gern einsehe, daß die Kollegialität vorangehen muß. Das Schicksal eines Angeklagten dürfte doch nicht so ganz apathisch zwischen den Höflichkeitsbezeugungea der Instanzen zerrieben werden ! »Sollte nicht selbst die Umwandlung des lebenslangen in zwölfjährigen Kerker durch das Oberlandesgeiicht der gewiß schwer ins Gewicht fallenden ' Absicht, die Richter der ersten Instanz nicht allzuschroff ins Unrecht zu setzen, entsprungen sein? Dann würde der Fehler, den diese begangen haben, zum Nachteile eines Unglücklichen fortgewirkt haben. Uns scheint, daß der Fall Kraft sich eher zu einer Annäherung an die unterste Grenze der drei Jahre schweren Kerkers empfohlen hätte.« So schreibt Dr. Edmund Benedikt in den ,Juristischen Blättern' vom 27. März. Wenn die Empörung fühlender Laien die Maßgebenden nicht aufgerüttelt hat, vielleicht macht sie die Tatsache stutzig, daß dem Fall Feigl gegenüber ein juristisches Fachblatt zum erstenmal aus seiner' wissenschaftlichen Reserve heraus- tritt. Dr. Benedikt schreibt : >Nach der letzten veröffentlichten Statistik wurde in ganz Österreich im Laufe des Jahres 1897 über 28 Personen lebens- länglicher Kerker verhängt, darunter über 21 infolge gnadenweiser Um- wandlung der gesetzlichen Todesstrafe. Wenn man die Seltenheit der Hinrichtungen bedenkt, deren Zahl im Jahre 1897 nicht mehr als 5 betrug, so daß die vielleicht ebenso fürchterliche Strafe des ewigen Kerkers bei den verworfensten Mördern an deren Stelle gesetzt wird, während in 41 von im ganzen 67 Fällen todeswürdig erkannter Mord- taten 8- bis 20jähriger Kerker als angemessene Sühne erkannt wurde, so muß die ungeheuere Aufregung, welche die Verurteilung da Kraft durch einen Wiener Schwurgerichtssenat hervorgerufen hat, selbst vom trockensten Zahlenmenschen geteilt werden.« Nach Benedikt's An- sicht hat Herr Feigl nicht einmal die Berufung auf den traungen Buch- staben des österreichischen Strafgesetzes für sich: >Die Überfallene hatte infolge des Schreckens einen Nervenchok Erlitten, der sie durdi mehr als zwanzig Tage arbeitsunfähig machte. Es ist bei diesem Tat- bestände zweifelhaft, ob überhaupt die Sanktion dei lebenslänglichen Kerkers zutrifft, ob nicht vielmehr xias Gesetz Iiri § 195 eine unmittelbare schwere Verwundung oder Verletzuag fordert, so daß der Eintritt eines Nervenchoks, dem sonst die Gericht« nicht allzu freundlich zu sein pflegen, außerhalb dieses Rahmens fällt.« »Aber sei dem wie immer«, fährt der Jurist fort, >di' Thatsache, daß die unmittelbar zugefügten Verletzungen ganz leichte Art waren, ist ein höchst wichtiger Milderungsumstand. Dazu korarr. die NichtvoUbringung des Raubes, dessen Begehung am hellen Tage s: sehr belebter Gegend, also unter möglichst ungefährlichen Umständen in subjektiver Hinsicht das jugendliche Alter, die Angetrunkenheit un die Not. Und dieses Verbrechen, das, verglichen mit den übrigei schweren Straftaten in der Monarchie, kaum in deren oberen Hälfte zu stehen kommeu dürfte, wurde mit der fürchterlichsten Strafe

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deren Schwere desto gr/5ßer Ist, einen, je jüngeren -Delinquenten sie trifft., Unter allen begnadigten Mördern des Jahres 1897 war nur Ein Minder- jähriger, dem Kerker auf Lebenszeit zuerkannt wurde, und dieser hatte ein achtjähriges Kind getötet, das er mißbrauchen wollte. In wie bei- spielloser Weise das Urteil des Wiener Schwurgerichts- hofes die seit so vielen Jahrzehnten in so vielen tausen- den von Fällen jiergestellte Verhältnismäßigkeit zwischen Strafe und Verbrechen gestört hat, sagt, jedem die Erfahrung und bestätigen die Zahlen. Wie immer man über Orund und Zweck der Strafe denken mag, wie sehr man davon überzeugt sein mag, daß eine absolute Gerechtigkeit schon wegen der Inkommensurabilität von Schuld und Strafe niemals erreicht werden kann, man muß daran festhalten, daß jene Proportion, die sich auf Grund der Gesetze durch die Übung der Spruchpraxis heraus- gebildet hat, nicht verletzt werden darf, wenn man nicht aus der Straf - Justiz eine willkürliche und sinnlose Straferei machen will.« In zutreffender Weise werden nun die Folgen der Feigl'schen Tat erörtert. Das Urteil habe nicht nur die heilsame Assoziation der Vorstellungen w)d Verbrechen und Strafübel, in der allein die Rechtfertigung der itrafe liege, erschüttert ; es »scheint noch eine weitere verwerfliche Wir- rang in der kurz darauf unter demselben Vorsitz erfolgten Frei- jp rechung von Funddieben durch die Geschwornen hervorgerufen 11 haben. Daß die Jury, wenn Ihr Verdikt In einer unerwartet harten iträfbemessung Geltung erhalten hat, durch Absolvierung inderer Angeklagter sich zu salvieren glaubt, ist eine edem Praktiker bekannte Sache. Aber es irren sich diejenigen, die sich n gutherziger Welse über solche Geschenke des Schicksals an Schuldige euen, denn In solchen Freisprüchen liegt eine tiefe Grausamkeit, weil ;e die Wurzel des Strafrechtes angreifen und Willkür an Stelle des rteils setzen.« . . . Am schärfsten trifft Herrn Feigl wohl das folgende: So traurig uns die Überschreitung des Strafmaßes berührt, so können ^rdoch nicht glauben, daß das Benehmen des Beschuldigten bei der cfhandlung dabei in Betracht gekommen sei. Leider ist ja die radition noch nicht bei allen Vorsitzenden verschwun- en, daß es richtig sei, zu dem Angeklagten in die Arena inabzusteigen und Ihn Im Ringkampf die geistige Über- gen heit fühlen zu lassen und jede Auflehnung des Dell n- uenten oder auch manchmal der Entlastungszeugen egen dieses oft grausame Spiel als Rebellion zu em- {flnden. Daß aber Richter eine solche Auflehnung den Verurteilten Spruche entgelten lassen sollten, können wir nicht glauben. Daß der Vorsitzende den minderjährigen Angeklagten, der soeben zu inslänglichem Kerker verurteilt worden war, zu einer Strafe, die [den härter dünkt als der Tod, sofort mit der Frage über- ilte, ob er berufen wolle, statt ihn ausdrücklich zu warnen, die Er- mg nicht früher abzugeben, bevor er sich nicht mit seinem Ver- Itfiger besprochen und sich die Sache genau überlegt habe, daß er

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dann die in verbissenem Trotz hervorgestoßene Erklärung, auf die Be- rufung zu verzichten, als eine unwiderrufliche statuierte, ist ein Vorgang, den man nicht begreifen kann. Die Rechtsmittel- belehrung hat den Zweck, den Inkulpaten auf die ihm zustehenden Rechte aufmerksam zu machen und ihm Zeit und auch womöglich die Sammlung zur Überlegung zu gewähren, nicht aber ihn in derSchlinge der unvermittelt hervorgestoßenen Erkl ärung zu fangen.« »Wer in solcher Weise«, schließt Benedikt, »an dem Verhält- nis zwischen Strafe und Tat rüttelt, zerbricht einen der stärksten Pfeiler unserer ohnehin unvollkommenen Ge- rechtigkeit und lädt eine schwere Schuld aufsich.< Wie Shakespeare Richter richtet, habe ich neulich hier zitiert. Die Verse waren aus >Maß für Maß«. Aber neben dem schlechten Richter Angelo tritt in diesem Stück auch eineharmlosere Justizperson auf: »El bogen, ein einfältiger Gerichtsdiener«. Es stimmt also alles. Und der Clownscherz ist wirklich so heiter zu nehmen wie bei Shakespeare. Die Berechtigung des allgemeinen Entsetzens über das Feigl'sche Urteil ist jetzt definitiv erwiesen: Herr Dr. Friedrich Elbogen billigt es. In der ,Wage' diese Revue aller menschlichen Langweile lebt noch immer hat er seinen Kohl angebaut. Er rechtfertigt die lebenslängliche Strafe Feigl hat sie, wie nachträglich bekannt wurde, über den Irr- sinn des österreichischen Strafgesetzes hinaus mit einem jährlichen Fast- tage »verschärft« aus einem »höheren, soziologischen Gesichtspunkt«, Diese verfluchten Gesichtspunkte auf dem schönen Antlitz der Frau Justitia! Und vollends Herr Feigl als Soziolog! Anton Kraft ist ein »geborener Verbrecher.« Seine etwaige Besserung müsse »im Gefängnisse abgewartet: werden«. Das ist natürlich, ganz abgesehen von der psycho- logischen Verläßlichkeit der Gefangenaufseher, ein Unsinn. Den »gebomen Verbrecher« kann ich am Kaffeehaustisch agnoszieren ; gestraft werden kann er nur nach dem Maß der kriminellen Tat, die er begangen hat. Da müßte man, wenn man auf Numero Sicher gehen wollte, vorsichtshalber die ganze Menschheit einsperren. Und wie sollte man sich in einem Milieu, in welchem verbrecherische Triebe keiner Verlockung erliegen können, von einer »Besserung« überzeugen? Die Reklamesucht eines Advokaten ist auch eine Gefahr, gegen die »sich die Gesellschaft schützen muß«. Ginge es deshalb an, ihn zeitlebens an einem finstern Ort abzu- schließen? Es ist lustig, aber nicht appetitlich, einen Advokaten, der als Verteidiger des Delinquenten nicht genug Unschuldsphrasen hätte häufen können, um des bißchens Aufsehen willen sein Handwerk so flink verleugnen zu sehen. Schmocks Privileg war es bisher, nach rechts und nach links zu schreiben. Rechts- und Linksanwalt zu sein, ist aber auch lohnend.

Advokat. Das ,Barreau' hat zu der Publikation der .Frankfurter Zeitung' über Wiener Advokatenrechnungen und besonders zum Fall Harpner - siehe Nr. 156 der .Fackel' -■ so dummes Zeug geschwätzt, daß man die »Standesinteressen der Anwälte Österreichs«, deren »Organ< zu sein es vorgibt, nicht mit den Verstandesinteressen, die ja von einem

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edleren Organ vertreten werden, verwechseln darf. Die »Frankfurter Zeitung' reagiert am 22. März wie folgt darauf : >Es war in diesem Feuilleton dargelegt worden, daß die Kostenrechnung des gegnerischen Advokaten, zu deren Zahlung eine Partei verurteilt wird, fast immer vom Gericht auf 50 bis 10 Prozent der geforderten Summe herabgesetzt wird. Es war ferner gesagt, daß die Advokaten im Bewußtsein dieser Abstriche übermäßige Liquidationen aufstellen. Endlich war ohne Nennung von Namen ein besonders krasser Fall erzählt worden, bei dem ein Anwalt zwölftausend Kronen forderte und zwölfhundert als angemessenes Honorar zugesprochen erhielt. Bezüglich dieser drei Punkte richtet das ,Barreau' an uns eine ,Aufklärung' und erwartet von unserer Loyalität, daß wir sie den Lesern zugänglich machen würden. Wir haben die merk- würdige Aufklärung sorgfältig mehrmals durchgelesen und aus ihren langen Erörterungen entnommen, daß sie eine Bestätigung aller in dem von uns publizierten Artikel dargelegten Zustände darstellt. Man höre ihren Inhalt, der im Auszuge folgendes enthält : ,Der Advokat ist berechtigt, sich eine bestimmte Belohnung zu bedingen. Hat er das vorher versäumt, dann ist er auf das Wohlwollen des Richters an- gewiesen, der seine Befugnis der Kostenbestimmung oft auf Praktikanten überträgt, die keine Ahnung von dem Wert der advokatorischen Leistung haben und die Rechnung möglichst herabsetzen. Das hat die Folge, daß die Advokaturskanzleien die einzelnen Posten höher bewerten, in der Erwartung, die nach den Abstrichen bleibende Summe werde dann den Betrag erreichen, den der Anwalt wirklich haben wollte. Die Advokaten haben öfter schon selbst anerkannt, daß die Tarifsatz»" für kleine Rechtsgeschäfte zu hoch sind.' In diesen Ausführunger. ..erden klipp und klar die beiden ersten Punkte zugegeben : die enorme Herab- setzung der Kosten durch das Gericht und das bewußte übermäßige Liquidierungssystem. Bezüglich des dritten Punktes, der ohne Namen erzählten Affäre, teilt das ,Barreau' das betreffende Urteil mit und be- weist dadurch, daß ihm selbst die Sache und die Namen gut bekannt sind. Die , Aufklärung' fügt nur hinzu, daß der Advokat nicht 12.000, sondern nur 10.000 Kronen verlangt hätte, daß ihm persönlich jedes Interesse an diesem Honorar fehlte, da seine eigene Partei ihn bezahlt hatte, und daß ein Prozeßgegner nicht verurteilt wird, den Anwalt des Siegers zu honorieren, sondern dem Sieger selbst alle durch die Prozeß- führung verursachten, zur Rechtsverfolgung notwendigen Kosten zu ersetzen. - Das ist ein Spiel mit Worten, wie es forensischer Dialektik entspricht. Denn in der Praxis bekommt fast immer der Advokat die- jenige Summe, zu der das Gericht den Gegner verurteilt. Aber auch hier gibt die , Aufklärung' das Tatsächliche zu, daß nämlich von der Liquidation ungefähr zwölf Prozent gerichtlich als berechtigt anerkannt wurden. Wir konstatieren also, daß das Organ für die Standesinteressen der Anwälte Österreichs durch seine eigenen Angaben die Richtigkeit der in unserem Feuilleton dargelegten Fakten bekräftigt. Wenn es trotz- dem diesen Artikel ein .Pamphlet' nennt, so wird man an das seltsame Oebahren von Leuten erinnert, die den Spiegel schmähen, weil er das

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wirkliche Aussehen der Dinge wiederzugeben wagt.« - Im .Barreau' war übrigens der Bescheid über die Kostenbestimmung des Landesgerichtes in meinem Prozeß mitgeteilt. Entstellt. Nicht 1400, sondern bloß 1200 Kronen hat das Gericht Herrn Dr. Harpner für Verhandlung und Vorarbeit zugesprochen.

Sklavenhalter. »Kürzlich wurde die Arzten^attin Frau H. vom Bezirksgerichte Neubau wegen Ehrenbeleidigung zu einer Geldstrafe von 40 Kronen verurteilt, weil sie ihr Dienstmädchen Anna F. .aller gemeinste Person' genannt hatte. Als Zeugen wurden die Stiefkinder der von dem Dienstmädchen geklagten Frau veraommen, welche die inkriminierten Worte bestätigten. Frau H. berief gegen das Urteil. Ein landesgerichtlicher Appellsenat hob, gestern das Urteil auf und fällte einen Freispruch. In der Begründung heißt es, daß die Frau die aus dem Jahre 1809 stammende, noch zu Recht bestehende Dienstbotenordnung nicht überschritten habe, nach welcher eine be- rechtigte Kritik des Hausgesindes erlaubt ist.« Demselben Appellsenat verdanken wir auch den Freispruch des Herrn Gfromer. Er tagt unter dem Vorsitz des Herrn Landesgerichtsrates Adamu. Muh. . .!

Monarchist. Zum Pressleiter der Modeausstellung sagte der Kaiser: »Die Wiener Presse hat sich viel mit der Modeau&stellung be- schäftigt«. Wie viel, läßt sich in österreichischer Wähiung freilich erst -SO recht nach dem Rundgang des Kaisers berechnen. Hier der beiläu- fige Tarif der , Neuen Freien Presse' :

Firma

Kaiser wort

Kronen

Orendi

»Das ist ja entzückend« und »Übrigens ist mir Ihre Firma ja. schon längst bekannt«.

300.—

Zwieback

»Ich kenne Ihr Haus sehr genau, es ist

eine alte renommierte Firma.« Der Monarch

äußert seine Befriedigung darüber, daß Herr

Zwieback eine Weltreise antreten will.

200.—

Pohl

»Diese Hüte sind wirklich sehr schön«.

30.—

Pollak

». . . wobei er sich über einen lichten Über- zieher besonders lobend aussprach«.

40.—

Schacher! Stern & Co.

». . . erkundigte sich über den Export von

Damenblusen und war erfreut, zu hören,

daß dieser Artikel einen großen Aufschwung

genommen habe«.

»Das sind sehr schöne Sachen«.

90.— 50.—

Paprika- Schlesinger

». . . bemerkte, daß die Firma sehr viel- seitig sei«.

50.- i

etc.

etc.

etc. ^

Wann \ Kaiserworten.

endlich wird dieser schändlichen Ausschlachtung von diesem merkantilen Mißbrauchter Höflichkeit deS'Mooar-

I

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eben gesteuert werden ? Die .Neue Freie Presse' soll bei der letzten Gelegenheit gegen 2400 Kronen in die Debatte gezogen haben.

Kahlkopf. Von dem VerschleiBer eines Haarwuchsmittels erhalte ich in gedrucktem Zirkular das folgende Angebot: »Löbliche Redaktion! Erlaube mir mit diesem anzufragen, für welchen Preis Sie mir die nebenstehende Empfehlung in Ihrem geschätzten Blatte ver- öffentlichen möchten. Wollen gefälligst die Preise für einmalige Ein- schaltung und bei Wiederholungen, wöchentlich, monatlich,"viertel-, halb- und ganzjährig angeben. Bitte auch die Zahlungsbedingungen anzugeben. Diese Empfehlung wünsche ich im redaktionellen Teile zwischen die Zeitungsartikeln (freilich ohne Umrahmung), weil es nicht wie ein Inserat, sondern nur wie eine Empfehlung aussieht. Ersuche dieses gleich in die folgende Nummer einzureihen. Bitte auch um die Mitteilung, welchen Preis Sie mir bestimmen^ wenn ich diese Empfehlung gleichzeitig im redaktionellen, sowie auch im Inseratenteile eingeschaltet wünsche und zwar auf der ersten Seite, so daß es in jeder Nummer zweimal angeführt ist. Erbitte mir die denk- barst niedrigsten Preise, denn ich bin entschlossen, ganzjährig zu inserieren. Hoffe, daß mir die Preise, sowie Bedingungen günstig gestellt' werden, worauf ich dann Ihr steter Kunde bleibe, denn mein Geschäft ist gut eingeführt, erfreut sich allgemeinen Wohlwollens und hat eine große Zukunft zu erwarten. Belegnummern erwünsche ich mir nach Erscheinen jeder Nummer. Nach Übersehen verteile ich diese in die umliegenden Gasthäuser und gebe sie auch Jedem, der sich fürs Lesen interessiert, und damit mache ich Ihnen nicht nur Reklame, sondern auch Ihrem Blatte große Bekanntschaft. Auf baldige und günstige Rückäußerung wartend, zeichne ich hochachtungsvoll . . .< Der Mann hat sich offenbar durch die Betrachtung über den kosmetischen Schwindel in Nr. 156 der , Fackel' zu diesem ehrbaren Antrag ermutigt gefühlt.

Literat. In der »Literarischen Praxis' veröffentlichte kürzlich der österreichische Schriftsteller Roda Roda die folgende Verwahrung: >Ihre sehr gesch, Nr. vom 1. d. M. enthält einen Artikel ,Österreichische Schriftstellermisere', den ich ausdrücklich widerlegen will, wiewohl jedem halbwegs Kundigen das Nichtzutreffende in des Herrn Autors Aus- führungen ohnehin in die Augen sticht. Zunächst ist' es wohl augen- scheinlich unrichtig, daß ,die Norddeutschen auf die süddeutsche und da namentlich auf die Wiener Literatur mit scheelem Blicke sähen'. Namen wie Artur Schnitzler, Hofmannsthal, Peter Altenberg, Paul Busson, (Wiener), Hugo Salus imd Gustav Meyrink (Prager) widerlegen die ungeheuerliche« -Behaup^ng durch ibten guten Klang, der auch in Norddeutschland allenthalben . Sympathien auslöst. Diese und andere Österreicher werden dafür sorgen, daß der ,österreichische Sangesfrühling' (wie der Herr Verfasser befürchtet) ,nicht doch noch erstickt werde'. Von einem Vorurteil der Kritik gegen Österreicher zu reden, ist angesichts der Er- folge der eben genannten Autoren nichts als widersinnig. Es ist auch nicht wahr, daß wir in Österreich keine gute Verlagsanstalt haben. Ich ■erinnere an' die Österreichische ' Verlagsasstalt, den Wiener VerlAg^ <lic

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Verleger Konegen, Braumüller, Seidel & Sohn, Holder, Gerold, Mohr, Rosner, Stern usw., von denen jeder wenigstens einen Zweig der schönen Literatur pflegt. Es ist nicht wahr, daß wir in Österreich keine billigen Druckeieien haben. Unsere großen Verlage lassen ihre Bücher in Öster- reich drucken. Wir haben auch was der Herr Autor nicht bestritten hat in Wien eine Anstalt für Zinkätzung und verwandte graphische Künste, die den Weltmarkt beherrscht und an der Herstellung der meisten englischen Prachtwerke mitbeteiligt ist. Auf die übrigen (nach meiner Ansicht ebenfalls vollkommen irrigen) Ausführungen des Ver- fassers einzugehen, habe ich kein Interesse.« Alles richtig. Auch daß unsere Verlage ihre Bücher in Österreich drucken lassen. Nur eines ist kurios: unsere Dichter lassen ihre Bücher nicht in unseren Verlagen erscheinen. Die sechs genannten Autoren haben fast ihre sämtlichen Bücher in Deutschland verlegen lassen.

Leser. Aus dem Bericht über einen Doppelselbstmord: >Da3 Entstehen der Beziehungen zwischen der Frau und dem halbwüchsigen Burschen ist psychologisch merkwürdig. Fiala kam als Freund der Fa- milie oft ins Haus. Die Frau fand Gefallen an dem Burschen. Wann es zur Aussprache gekommen, ist deshalb nicht zu be- stimmen, weil er und sie es sorgfältig geheimzuhalten verstanden, daß sie nicht bloß die Freundschaft, sondern auch die Liebe aneinander fesselte«. Welch' unberechtigte Geheimniskrämerei vor der Presse! »Höchst sonderbar und seltsam, ii^ der Tat!«

BÜCHEREINLAUF.

Suse Theodor, Pygmalion. Lieder aus dem Rosenhag. Sym- phonien in Rosen und Marmor. Leipzig. S. Hirzel.

Charmatz Richard, Der demokratisch-nationale Bundesstaat Österreich. Betrachtungen. Frankfurt a. M. Neuer Frankfurter Verlag. G. m. b. H.

Herbatschek Dr. Heinrich, Ausgedinge oder Bauernversiche- rung? Wirtschaftspolitische Studie. Wien. Im Selbstverlage, IX* Schulz-Strassnitzkigasse 5.

Kurz Leopold, Die Zerbrochenen. Novellen. Leipzig-Wien. Fritz| Sachs.

MITTEILUNG DER REDAKTION. Unverlangte Manuskripte werden nur zurück-» gesendet, wenn frankiertes und adressiertes Kuvert beilag.

MITTEILUNG DES VERLAGES.

Am 1. April sind fünf Jahre seit dem Erscheinen der ersten Nummer der «Fackel' vergangen. Mit dem nächsten Heft wird der sechste Jahrgang der ,Fackel' eröffnet.

Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus. Druck von jahoda & Siesel. Wien. ill. Hintere ZoUamtutniBe 3

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