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Die ran

Monatsfärrift für das gefnnte Franenleben | umferer. Beit

Her ausgegeben

Melene ECunge

Achter Jahrgang. 1900-1901

Berlin Verlag: W. Moeſer Buchhandlung Siauicreiber⸗ Straße 34. 35.

1901.

Inhalt des achten Jahrganges.

Abhunndlungen und Schilderungen.

Auerswald, X. von. Die Ausftellung des Vereins Berliner Künftlerinnen Bäumer, Gertrud. Moderne Yebensprogramme. I. Das dritte Reich

n II. Deutſcher Glaube Politik und Frauenbewegung Padagogiſche Zeit: und Strätieggen

Beßinertuy, M. Cin Gymnaſium für Bauernmädden in Nufland .

Boyrich, Karl. Aus der Berliner Koftümfchneideri . . oo.

Bruunemann, Anna. George Sand und ihre Bedeutung für Die Kravenbeivegung

Pi P Die Frau im Spiegel der modernen franzöſiſchen Yitteratur

Ghriftaller, Helene. Ein Kapitel zur Kindererziehung

Conrad, Elfe. Hauswirtſchaftliche Unterweiſung armer Mädchen in Deuiſchland

Ebner-Eſchenbach, Marie von. Gouvernantenbrieie .

Edart, Ilſe. Der Mönd von Heiſterbach . oo. n Wlerlei Charakteriftiiches zum Fortſchritt der Zrauenbeiregung

Ernſt, Anna. Ausſchluß der Yehrerin aus der Voltsſchuloberllaſſe?

" " Zur Kriminalität der Geſchlechter Floriant, ©. de. Arauenirage in Indien. 1b Goetze, Anna. Die neue fünjtlerijhe Bewegung .

kt von Adele Pohl

Pi Pi} Architektur und Innendekoration Groening, A. Die Laeisz a Hausmanun, Dr. S. Die Beſtimmungen über das Univerſitätoſtudium der Frauen in Deutſchland, I Heilborn, Eruſt. Les vierges fortıs .

rreich- Ungarn und in ber Schweig . . 350,

eene Wilbraudt, Dr. Robert. Die Frauen und der Getreibegoll . . 2 2.2.2020. 40% n n Hausinduftriele Frauenarbet . . . ......... 453. 538 Wilmerödoerffer, A. Ruskin und die Fraueee. 2 Wolf, Fr. Bodenrefom. . . . nn BR6 m Staatlihe Wohnungafrforge in 1 Preußen ... nn. 487 Zimmer,‘ Profefior Dr. Das Tüchterheim „Comeniushaus” . . . .......... 416 Bingrnphieen und Iharakteriftiken.

Bäumer, Gertrud. Königin Victoria von England . . 2. 2 nn nn nn. 328 Bouffet, Alice. Mary Somerville. (Mit Portrait) . . 2 2 22m nn nn. 669 Ganth, Minna. Celbftbiographie. Überfegt von E. Etine. (Mit Portrait). . . . 383 Freudenberg, Ika. Marie Stritt. (Mit Portrait) . . 2 2222222. 419 Gottheiner, Elifabeth. Mary Aſtel3500 Landsberg, Alice. Profeſſor Carl Goldbed. . . 2 2. 2 2 2 2m. Zange, Helene. Auf vorgeihobenem Poſten. (Mit Portrait)... 2 2220.20. 680 n Kaiſerin Friedrich ẽcẽ. 765 Nacrup, Carl. Ellen Key. Überſetzt von Luiſe Weif338 Raſſow, Maria. Fredrika Bremer. (Mit Portrait). . . . . nn TA Stavenhagen, W., Hauptmann a. D. Cine Frau als Mittärfchuittllerin. 200 Vely, E. Lina Morgenſtern und die Berliner Volkoküchen. (Mit Portrait) . . . . 108

Romans, Moucellen und Skizjjen.

Auerswald, A. von. Einſamleitt13463. * n nm Brüblingsgefdichte . 1F

Brauer, Frieda. Drei Monate Kündigungsfrrſt26091 Canth, Marie. Blinde Klippen. Überſetzt von E. Stine . . V. 82. 1690 Chriſtaller, Helene. Stärker als der Td. 429; Dornau, C. von. Die Roggenmuhmmeee...753 Faltowst. Mitjka der Ausreißer. Überſetzt von M. Swerd43 Foley, Charles. Die Blumenſchlacht. Überſetzt von Wilhelm Thal. 2. urd Fromm, A. Um einen Kopf Blumentoll . . 2 2 222. 15 Henry: Moor, 8. Ein falomonijhes Urteil. . oo 2 on nn. BR Hoffmann, Mar. Hans, unjer Dolitiree ZRH Meinhardt, Adalbert. Stella's Kantelmur. . FE 334

Müller-Riga, Luiſe. Ein Hodzitstag . 777

VI

Nouhuys, W. G. van. Tagesanbruch. Überſetzt von R.Speyer Rex, Ina. Unter fremden Leuten .

Schanz, Frida. Lisbets Schuhe ..

Siewert, Eliſabeth. An der Kindheit Grenze .

Bely, E Der Eniiee . > > m on nn... 526. 600.

Biered, Erna. MWebermeifter Rotter . Winkler, Paula. Der Heine Andreas.

GBedirhte ır.

Ed, Miriam. Sprüde . Flosky, Margarete. Trauermarſch Fuchs⸗-Nordhoff, Felix von. Es iſt zu ſpät Janitſchek, Maria. Frieden

Krukenberg, Elsbeth. Gebenfblatt.

L. H. Verſöhnung.

Lobſien, Wilhelm Troſt.

Du biſt bei mir . Matthey, Maja. Lebenzbild Roland, Emil (Emmi Lewald). Gedichte . Schanz, Frida, An das Neue Jahr . Schettler, Paul. Weihnadt . .. Stern, Maurice von. Ankunft des Morgens

» Mondnacht am Zugerfee Thielert, Arthur. Das Buch der Weisheit .

Ermerbsthütigkbeit Der Fran.

Chemiferinnen in der Zuderinduftrie. Von Hildegard Jacobi.

„Geſellſchaftshilfe“, Die. Bon M. Beßmertny

Handel und Gewerbe, rauen im . ur

Heilgymnaftif und Maflage, Erſte haut sfmige ern in Kiel a Von Amalie Sunk . on

Koch⸗ und Hauswirtſchafts⸗ Lehrerin, Die en

Kunſt- und Hansweberei, Die neue Lehranftalt in Kiel ir Don Hildegard Jacobi

Milhwirtichaftliches Lehr-Inſtitut. Von Hildegard Jacobi .

Webeichule, In der höheren. Von Erich Stoboy .

Eeite 121

38 708 559 653 355 489

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—FrauenIchen und --Streben.

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510.

3. Bocier Budhdrunferei, Derlm &

2 National oder Anternational.

Und was es ſonſt noch charakterifierte: es war durch und durch fpontan. Spontan war auch der Siegesjubel von 1870/71, wenn auch die mehr realen Intereſſen und Erfolge ihm eine andere Färbung verliehen.

Diefen fpontanen Charakter Hat unjer Nationalgefühl, das ſich allmählich in „Patriotismus“ ummandelte, mehr und mehr verloren. Der Patriotismus wirb offiziell geaicht, in Schulen und Kafernen eingebrilt, feine Pflege durch Erlaſſe befohlen, und jo erhält er, wie alles bei äußerem Zwang, einen verdroffenen Charafter. Die Lehrer ftöhnen über die ihnen aufoktroyierten patriotichen Reben, und die Schul: jungen auf der legten Bank fpielen während des „Aktus“ Sechsundſechzig. Und wie jebr der Patriotismus die Fühlung mit dem Nationalgefühl verloren bat, das hat das Verſagen des deutjchen Volks bei der Goethefeier gezeigt.

Spontan trat dagegen der Internationaliamus hervor, und man hat eine Weile geglaubt, in ihm das Größere, Umfaflenvere, höhere Willensimpulfe Gebende jehen zu dürfen. Liebäugelten doch ſchon unfere Klajfifer mit dem „Kosmopoliten“.

Auch die deutiche Frauenbeivegung bat dieſe Entwidlung vom Nationalismus zum Internationalismus mitgemacht, und es verlohnt fich wohl, diefer Thatjache eine Heine Betrachtung Zu widmen. |

Luiſe Otto ſteht durchaus auf dem Boden des nationalen Empfindens der vierziger und fünfziger Sabre. Selbſt wenn ihr Blid über das Nationalheiligtum hinaus ſich auf ein „Eden.der Menfchbeit” Heftet, jo trägt dieſes Eden das charafte- tiftifche Gepräge deutichen Gemützlebend. Es ift der weibliche Ausdrud für den Kosmopolitismus unferer Klaffifer: das Neich der Menjchbeit ift die Vereinigung aller unter dem Zeichen des deutichen Idealismus.

Der moderne Internationalismus zeigt dieſes Gepräge nicht. Nur möglid) gemacht durch die Entwidlung der modernen Technif, trägt er auch ihre charafte: riftifchen Züge. Eiffelturm, Betroleum:Ring und Blipzug haben bei ihm Pate geftanden.

Das gilt nicht ganz von den internationalen Verbänden der Frauen. Mehr als die Männer haben fie ſich die Abneigung vor der Parteifchablone und die Ur— Iprünglichleit ihrer Natur bewahrt. Ein Grundzug der Frauennatur ift aber jener Idealismus, den wir fo gern für deutſches Pachtgut halten. Und jo beruben faft überall die internationalen Verbindungen der Frauen nicht auf Parteiintereffen, fondern fie verfolgen fittliche Endzivede. Zu dieſen fittlihen Endzweden gehört freilich in erfter Linie. auch die Einfegung der Frau in ihre Bürgerrechte, die umerläßliche Bor: bedingung zur Erfüllung ihrer Bürgerpflichten.

Sn diefem Zuge der internationalen Frauenbewegung liegt zugleich die Erklärung ihrer Anziehungskraft gerade für die deutjchen Frauen. Und ebenfo die Erklärung für die Thatjache, daß da3 in der Mitte des Jahrhunderts ſtark entiwidelte nationale Gefühl gerade der „Frauenrechtlerinnen“ mehr und mehr zu fehwinden und ein blaſſer Spnternationalismus an deifen Stelle zu treten fcheint.

Denn von all dem BVerftändnis, das die deutjchen Frauen bei fremden Nationen

für die treibende dee der Frauenbewegung: der Frau in der Kulturwelt ihre Stelle neben dem Mann anzumeifen, fanden, war in Deutichland nicht die Nede. Die Heute gemächlich die Früchte der Frauenbewegung einheimfen, kennen den Falten Hohn, mit dem man den erften Kämpferinnen für ihre Ideen begegnete, nur vom Hörenfagen. Er ift lange Zeit eine ſchwer laftende Wirklichkeit gemefen.

m .

HE m

National oder International. 3

Als vor kurzem der Allgemeine deutjche Frauenverein feinen Flottenaufruf erließ, tonnten die deutfchen Zeitungen bei aller Befriedigung über die Sache ſelbſt es fi nicht verfagen, darauf hinzumweifen, daß die Bewegung der nationalen Grundlagen bisher entbehrt babe. Won dem in diefer Behauptung liegenden Mangel an biftorijcher Kenntnid kann man angefichts der Thatjache, daß die deutfche Frauenbewegung für die deutfchen Zeitungen überhaupt eine terra incognita ift, füglich abſehen. Aber Hat ich wohl einer der Herren Zeitungsfchreiber die Frage vorgelegt, woher denn in die deutjche Frauenbewegung diefer Zug zum Internationalismus gefommen ift, der. eigentlid, dem deutſchen Volkscharakter und dem Frauencharakter fremd ift? Sind fie fih wohl jemals Ear darüber geworden, daß der deutjche Dann die rau, die ihre nationalen Pflichten erfüllen wollte, in den Internationalismus bineingedrängt hat? Denn zivei Momente entfremden rettungslo8 der eigenen Nation und laflen taftende Hände nach allen Seiten ausftreden: Rechtlofigkeit und ein Mangel an tiefgreifenden Beziehungen zum SKulturleben des eigenen Boll? in Vergangenheit und Gegenwart. Beides traf bei den deutjchen Frauen zu. Die Rechtlofigkeit zwar teilten fie jo ziemlich mit den Frauen aller andern Kulturböller, aber während bei allen anderen Nationen fchon der erjte Appell wenigiteng ein Verſtändnis fand und eine wenn auch nur jehritt- weile Gewährung der gerechten Forderungen der Frauen nach fi zog, find ihnen in Deutfchland bis in die jüngfte Vergangenheit binein auch die bejcheidenften Rechte verjagt geblieben. Am verhängnispollften iſt das für die Bildung der Frauen geworden. Mer die fonfreten Berhältniffe der Gegenwart richtig erfalfen und aus ihnen richtige Folgerungen ableiten will, muß den gejchärften Blid für hiſtoriſches Merden haben, den. nur ein vertieftes Studium verleiht. Und men man vor einem abftrakten Radikalismus ſchützen will, der die lofalen und nationalen Bedingtheiten verfennt und glaubt, organifche Entwidlungen in mechanisch Fonftruierte Kurven ziwingen zu können, den ftelle man mitten in die konkreten Verhältniſſe Binein ünd laſſe fie auf ihn und ihn auf fie wirken. Nur jo fann er praftiich erfahren, welche Früchte fein Boden zu tragen im. ftande ift und kommt nicht in die Gefahr, in der Mark Baumwolle bauen zu wollen. _

Erſt heute beginnt man langſam, die Frauen durch Erkenntnis und Praxis in die Kulturarbeit der Nation einzuführen. Die Folge muß eine ftärlere Betonung der nationalen Eigenart innerhalb der Frauenbewegung jein. Der nationalen Eigenart, nicht eines geichmadlofen Hurrah-Patriotismus. Und erft dadurch wird fie ihre volle Stärle gewinnen.

Denn fo wertvoll auch die "Anregungen fich erweiſen mögen, die aus den internationalen Beziehungen erwachſen und auf den internationalen Kongrefjen in die Weite getragen werden, fo find andererſeits doch mancherlei Bedenken auch nicht zu unter: drüden. Die beliebten Zehnminutenreden, die Überfiille des Materials, die Gewöhnung an ein Urteilen über nicht genügend beberrichte Verbältniffe, die durch die Zeit: fnappheit notiwendig werdende Beſchränkung auf Hauptpunfte, grelle Schlaglichter das alles führt notwendig zur Oberflächlichkeit und zum Phraſentum, wenn nicht eine tiefgründige Bildung und eine genaue Kenntnis der Bedingtbeiten der eigenen Volks— entwidlung die richtige Abjchägung und Verarbeitung des Gebörten ermöglicht.

Und jo erweift fih, was die deutichen Frauen zuerft faft inftinktiv unternommen baben: ihrem Gejchlecht vor allem eine gründliche Bildung und die Teilnahme an der gemeinnügigen Thätigfeit der Männer zu ermöglichen, auch in Bezug auf Diefe

1*

Les vierges fortes, 5

Und das Studium des Milieus und der Naffe, wie es das 19. Jahrhundert verjuchte was ift es andres als ein Studium der Individualifierungecentren und der Individualifierungsgruppen? Der Lehrling zu Sais hob den Schleier, ber das Bild der Wahrheit dedte, und er ſah fich ſelbſt. Diefelbe Neligion wird innerlich, und äußerlid eine andre in England als in Deutichland, als in Frankreich. Die gleichen Freiheitägedanfen werden zu andern politiichen Anfchauungen, fegen fi in andre Thaten um in jedem ber drei Länder. Die Freiheitsfrage der Frau, die Frauen— frage, ift in jedem Lande eine andre.

Ich fage niemand damit etwas Neued. Der oberflächlichle Zuſchauer weiß das. Schon der Grad deſſen, was die Frauen in den verfchiedenen Ländern erreicht haben, legt Zeugnis davon ab. Hier ijt der Boden günftiger, dort fteiniger; bier find bie Kämpferinnen beſſer geſchult für den Kampf, dort verfügen fie über reichere Mittel. Die Unterfhiede liegen auf der Hand, die Verfchiedenheiten find felbftverftändlich. Es ift aber auch nicht dies Hußerliche, was uns interefjiert, fondern ein Innerliches: die Enttwidlung des Freiheitsgedankens bei Frauen verſchiedner Nationalitäten, Raffen, Temperamente. Und in dieſer Hinficht war mir Marcel Prévoſt's neuer Roman nl.es vierges fortes“ (2 Bde., I. Frederique, II. Lea, Paris 1900, Alphonfe Lemerre) wichtig. Man mag daraus erfehen, zu welcher Individualität ſich in Frankreich die „meue Frau” auswachſen wird. Und ift e8 nicht vielleicht ſchon charakteriſtiſch, daß wir in Deutichland von einer „neuen Frau“ reden, und daß man in Frankreich von einer „vierge forte“ fpricht?

Pravoſt's Roman als ſolchen will ich nicht Toben und nicht tadeln. Er wird vielen gefallen; mir gefällt er nicht fonderlih. Nur als ein „document humain* fol er bier dienen. Freilich, mit Vorfiht und mit Kritif zu verwerten wie jedes Dokument.

Eine Anzahl von Frauen, ich muß präzis jein und fagen älteren Mädchen, tritt zufammen, eine Echule zu gründen. Eine von ihnen giebt das Kapital dazu, ein Terrain in einem Parifer Vorort wird gefichert, die notivendigen Baulichfeiten werden aufgeführt. Es wird eine Mädchenfchule fein, an der nur Frauen unterrichten. Die Schülerinnen werden zunächft unter den Unbemittelten und Verwaiften ausgefucht. Gelehrt werden nicht nur die gewöhnlichen Schulunterrichtöfächer, fondern alles, was die Mädchen fpäter befähigen kann, fich im Leben eine ſelbſtändige Stellung zu Schaffen, den Konkurrenzlampf aufzunchmen. Scitlerinnen und Lehrerinnen leben gemeinfam in den Schulräumlicjeiten wie eine große Familie.

Innerer Zwed der Schulgründung ift: junge Mädchen zu Perfönlichkeiten zu erziehen. Die Freundinnen, bie ſich zu diefem gemeinfamen Werk zufammengefunden haben, find Vorfämpferinnen der Frauenbewegung. Die meiften unter ihnen find zu diefem ihrem Herzensberuf im Ausland gefchult worden. An Stelle der bisher üblichen Erziehung der jungen Mädchen für den künftigen Mann foll eine Erziehung für die Menfchheit treten. Das Frauengewiſſen fol auf ſich felbft geftellt werden. Das falfche Schamgefühl, das auf der Lüge beruht, fol ausgerottet werden. Die jungen Mädchen ſollen lernen, fich felbft genug zu jein. Den Männern gleichen ſoll nicht das Ideal fein, fondern fie übertreffen. Der unverbeirateten Frau foll auf Grund folder Erziehung ein Menſchheitswirken ſich erfchließen.

Das alles fünnte, falls es cine hohe obrigkeitliche Genehmigung fände, in Deutſchland in derfelben Weife und mit dem gleichen Zwede vor ſich gehn. Doch

Les vierges fortes. " 7

ihrer Seele.“ Dieſe Mädchen ſehen in jeder ehelichen Gemeinſchaft einen Abfall vom Ideal, eine Erniedrigung ihres reinen Seins, zwei von ihnen, und die ſchlechteſten nicht, unterliegen der Liebe zum Manne. Freilich, einer reinen und ſchönen Liebe.

Und das ſcheint mir auch wenn Prevoft richtig gefehen hat das differengierende Merkmal für die Frauenbewegung auf franzöfifchem Boden. Deutfchen Frauenrechtlerinnen ift das Wort „Mutterfchaft“ nie unbequem geweſen, die Frau fteht ihnen nicht unter der Jungfrau, ihr Ideal ift Fein asketiſches. Aber es ift auß inneren Gründen nicht unwahrſcheinlich, daß Prevoft recht hat und daß bei einzelnen feiner Vertreterinnen ber Feminismus in Frankreich diefen eigenen Zug trägt. Die Sinnlichkeit fpielt jenfeits des Rheins eine andere Nole als bei uns; fie drängt ſich in Kitteratur, in Kunft, im Leben hervor, und c3 ift vielfach eine ungefunde Sinnlichkeit, zum Teil eine perverfe, zum Teil eine brutale, die ſich offenkundig giebt. Wie jede ausgeprägte Erſcheinung ruft fie den Gegenfag, ihr Widerfpiel hervor. Wie der finnliche Katholizismus dem Möndetum, fo mag in Frankreich die größere oder doch nadtere Sinnlichkeit zum Teil einem radifaleren oder doch finnenfeindficheren Feminismus Geburt gegeben haben. In dem Prevofischen Noman fagen diefe Zungfrauen: die Frau büßt in der Ehe ihre Freiheit ein, fie twird, jelbft wenn fie ihrem Mann vorher überlegen war, zur Sklavin des Mannes. Das ift nicht wahr und ift aud) nicht ihr Herzensmeinen: fie felbft empfinden jede eheliche Gemeinſchaft als eine Erniedrigung, beinahe als eine Schmach, die ihnen angethan werden könnte. Es ift etwas Perverjes in ihrer Unfinnlichfeit.

Und das ift recht eigentlich, und wie mir ſcheint bezeichnenderweife, das Thema dieſes Emanzipationsromang: der Kampf um die Liebe.

Die Mutter der beiden Heldinnen des Buches, Frederique und Lea, ift als junges Mädchen einem Verführer anheimgefallen. Sie ift dann von dem Water des jungen Mannes no; rechtzeitig an einen andern, an irgend einen andern, verheiratet worden. Freberique hat unter diejer entwürdigenden Ehe ſchon als Kind ge litten. Durch einen Zufall hat fie es dann mit anſehn müffen, wie dieſe beiden Gatten, ihre Mutter und der fremde Mann, die fich gegenfeitig verachteten, fich in nieberer Sinnlichkeit zufammenfanden. Lea ift ihre Stieffchwefter nur. Aber diefer Stiefſchweſter hat fie von Hein auf ihren Haß gegen alles, was die Menfchen Liebe nennen und das fi ihr immer nur von der häßlichften Seite gezeigt hatte, einzu: flößen geſucht. Das dunkle Empfinden der jungen Mädchen war dann unter den Einfluß von Romaine Pirnig zu einer Doftrin, zu einem feminiftiichen Glauben?: belenntnis geworden.

In England tritt Lea der Mann entgegen, der ihr das Schickſal verkörpern wird. Der unfchuldigen Eva ein unſchuldiger Adam. Er ift ein junger, norwegifcher Dealer, der immer nur mit feiner Schwefter, unter ihrem Einfluß gelebt hat. Zwiſchen ihmen beiden entfteht eine tiefe, rein jeelifche Freundichaft.

Sie verkehren zufammen wie zwei Kinder. Wie Kinder fehmiegen fie fi) auch zärtlich aneinander. Ihre Lippen finden ſich in einem erften Ruß. Und diefer Kuß erwedt in ihr das Gefühl der Scham, der Erniedrigung, des Abfall3 von ihrem Ideal. Sie flüchtet von ihm fort. Erſt dadurch wird auch er ſich feines finnlichen Empfinden bewußt.

Eine Zeit ift verflrichen, er ift nach Italien gereilt, eine andre, finnlichere Welt ift ihm dort aufgegangen. Er jucht Lea wieder auf und begehrt fie zum Weibe. Cie

Blinde Klippen.

Erzählung

von

Minna Canth. Autoriſierte ÜÜberjegung aus dem Finniſchen von E. Stine.

Naytrud verboten.

L p) Fin goß das

Waſſer über Hein Helmi, die auf dem Rüden in der Badewanne lag, ein Polfter aus Baft unter dem Kopf und eine Wolldede über dem Magen. Tie Kleine ſchrie vor Entzüden, ftrampelte die Dede ab und ſchlug mit den Händchen in das Waſſer, daß es weithin umberfprigte.

„Warte nur, warte nur, du Heiner Milds fang, du fprigft Mama ja ganz und gar an!” plauberte Alma. „Und verfühlft dich noch obendrein. Eei jegt hubſch ftil! Nun fommt das Heine Köpfchen an die Neihe und dann das Geſicht; mas fagft du dazu? Eiehft du, fo! Nein, nein, nur ja nicht böfe werben. Na, wer fommt da nun wieder? Schließ die Thür! Das Kind ift nadt!”

Es mar Maja Lifa, die den Kopf durch die Küchenthür ftedte.

„Frau, es kommen Fremde aus der Etabt. Sie find mit zwei Pferden in den Hof hinein- gefahren.“

„Herrn oder Damen?”

„Herren. Der Apotheler und der Bürger- meifter und biefer frembe Herr Magifter ift er wohl? Was foll man nun zum Abend: brot haben, wenn nichts, auch nit das mindefte zubaufe ift?”

„Du machſt ja immer etwas ausfindig, Maja Lifa.”

„Ja, das iſt leicht gefagt. Die Frau nimmt alles als Spielerei. Diesmal weiß ich aber wahrhaftig nicht, was ich ihnen vorfegen fol. Der Kudud auch, foll man ſich da nicht ärgern! Daß fie einem auch immer fo zur Unzeit kommen müfjen!“

„Es braucht ja Feiner großen Umftänbe. Wenn man nur etwas zu cfien hat! Sie wiſſen ja, daß man auf dem Lande nicht immer vorbereitet fein kann.“

„Wenn man nur Fifhe hätte! Aber auch die Fiſche find zu Mittag aufgegefien worden jedes Schwänzchen —“

„Wir geben bloß kaltes Fleiſch und faure Milch.“

„Einen Rat wüßte ich freilich!“

„Nun?“

„Wenn die Frau mich ein paar junge Hühner nehmen ließe.”

„Wieviele?“

„Nur drei. Da könnten wir wohl ein gutes Abendbrot vorſetzen.“

Alma fand, es ſei eigentlich ſchade, aber ſchließlich mußte fie einwilligen. Höchlich zu⸗ frieden ſchlenlerte Maja Liſa ihres Wegs, und Alma war wieder für eine Weile ungeſtört.

Sie hob Helmi aus dem Waſſer, trodnete fie forgfältig in dem Leintuch ab und zog ihr reine Wäſche an. Strahlend und zufrieden faß die Kleine nun auf der Mutter Schoß. Ein blendend weißes Spigenhäubchen umgab die runden Wangen, und aus dem Ärmel kam ein Heines, dides Händchen zum Vorfchein.

Alma füßte die weichen Wangen und das Kinn und den Hals und die Heine Hand.

„Mein ſüßer Schag! Mein Zuderpüppden, Mama ißt did) wirffid noch auf!“

Helmi lachte und fagte: „gää.” Und bei jeder Liebfofung der Mutter lachte fie und fagte „gää.”

„Gää, gää, gää!“ ahmte Alma nad. „Du Meine Plaudertaſche, kannſt du fonft

Blinde Klippen.

Während Mina die Kinder entkleibete, ordnete Alma ihre Toilette. Sie band cine nette, weiße Schürze um und legte einen weißen Spigenftreifen um ben Hals. Der

Sommerhut ftand ihr gut, dad mußte fie, wie .

fie fo vor dem Spiegel ftand und ihn auffeßte. Dann nahm fie ihr Arbeitstäfhchen und ging trällernd hinab. „Da tommt fie ja,” fagte John. .

„Wer von den Herrn hat mich vermißt?” .

fragte Alma.

„Unterzeichneter, Ihr ergebenfter Diener,” '

erwiberte Magifter Numark. „Sehr artig von Ihnen!”

Lagander.

„Ablehnung ohne entſprechende Gründe wird nicht anerkannt.“

„Deren habe ich mehr ald genug.”

„Zum Beifpiel?” J

„Zum Beifpiel, daß John es nicht billigen würde.“

„Nun, jegt wälzft du felbft ja die Schuld auf meine Achſeln,“ fagte John.

„Und zweitens, daß id) feine Luſt babe.”

„Sie intereffieren fih alfo gar nicht für die Befreiung des Weibes?“ fragte Numark.

Mein,” lächelte Alma. „Häme es auf mid) an, fo würde ih auch bie Freiheit des

: Mannes nod einſchränken.“ „Auch ic) vermißte Sie, wenn ich es auch I noch nicht äußerte,” erflärte Bürgenmeifter

Apotheker Leiftin lächelte nur; er hielt ſich !

für zu alt für dergleihen Komplimente.

„Wenn Sie müßten, tie oft wir ie vermiſſen,“ fuhr Lagander fort. „Und melde Vorwürfe mir Karel maden, daß bas gefelige Leben fo langweilig und troden geworben ift.”

„Armer John! Wie können Cie ihm bie | : wollten Eie fagen,” fügte Lagander hinzu.

Schuld zufgieben?”

„Ja, er hat Sie ja unferem Kreife enis riffen. ſich nirgends gezeigt.”

„Und iſt es auch ſein Fehler, daß ich alt ;

geworden bin?”

Sie alt?” rief Nymark aus, fie mit ent: züdten Bliden betrachtend.

„Bald dreißig Jahre.”

„Nah Balzac beginnt das Weib erſt da intereffant zu werben.”

„Balzac ift tot, und foviel ich weiß, haben |

die Männer in diefem Punkt feine Lehre nicht

anerkannt, Die Siehzehnjährige behauptet ſich

figreih auf dem Throne.” „Weil die Dreigigjährige ihn verſchmäht hat.“

„Aber wir haben ein Mittel ausgedacht, |

um Sie felbft gegen Ihren Willen der Gefell: ſchaft zurüdzugewwinnen,” fuhr Yagander jort.

„Ich bin neugierig, es zu hören.”

„Wir wählen Cie in die Direktion der Finnländifhen Geſellſchaft.“

„Dante ſehr. Aber diefe Ehre nehme ich nit an.”

Eeit Sie verheiratet find, haben Sie ,

„Was fagft du dazu, John?” Nymarf.

„Nichts,“ entgegnete John lächelnd und blies ruhig eine Rauchwolke aus dem Munde,

„Wabrhaftig,” fuhr Alma fort. „Der Sommer bier auf dem Lande ift fo beſonders angenehm, eben deswegen, weil John immer zu Saufe it. Hier haben wir feine Nereine, fein Vaterland, fein Finnentum und ... nichts, was ung ftört.”

„Und feine Freunde

ſcherzte

meines Mannes,

„So dumm bin jagen.”

„Sie find gar zu eiferfüchtig auf die Ver: eine und auf das Vaterland,” fagte Numark. „Was meint du dazu, John?”

„Ich höre es mit Überraſchung.“

„Er macht ſich natürlich nichts daraus, wenn ich auch eiſerſüchtig bin.“

Es lag etwas Pikiertes in ihrer Stimme, weshalb John fich becilte, das Geſpräch auf ein anderes Gebiet zu leiten.

„Dir wird fühl fein, Alma,” fagte er, „Soll id deinen Mantel holen?”

„Danke, ich nchme ihn felbit. ohnedies hinaufgehn.“

ALS fie nach einer Meile zurückkam, hatte man einftweilen angefangen, von Politit zu fprehen. Eie nahm ihre Handarbeit und feßte ſich ein wenig abſeits.

„Diefer Sprachenftreit muß einmal doch ein Ende nehmen,” fagte Apotheker Xeiftin,

ih nicht, das zu

Ich muß

,„die Finnen haben alle Rechte erhalten, die

fie verlangen fünnen; was follten fie noch mehr zu wünfchen haben?”

Der Tiſch mar auf der Veranda gebedt. Alma warf einen prüfenden Blid darüber hin und lächelte dann Maja Liſa zu, deren Augen in dem Spalt der Vorzimmerthür glänzten.

„Zei ruhig!" fagte Maja Lifa zu Dina, die fih hinter ihr auf die Zehenfpigen ftellte, um ebenfallö die Herren effen zu fehen, „fei : ruhig, damit fie nichts merken. Ein hübſcher Menſch, diefer junge Magifter, nicht wahr? Und fo artig gegen die Frau da läßt ſich nichts jagen. Aber das Eſſen ſcheint ihnen zu ſchmecken. Eiehft du, wieviel der Apotheker auf feinen Teller nimmt? Du lieber Gott, das Brot geht zu Ende. Schnell, ſchneide auf, ich hole den Korb.”

Mit roten Baden und in einer Verlegen- beit, daß ihr die Anie zitterten, beeilte ſich Maja Lifa, den Korb vom Tiſch zu nehmen. Sie war der Meinung, daß aller Augen ihren Bewegungen folgten allerdings ein großer Irrtum, denn die Herren bemerlten fie faum.

Sohn und Leiftin fegten ihren in der Laube begonnenen Disput fort, während Numark und Alma, die am andern Tifchende ſaßen, fih von andern Dingen unterhielten.

„Ihr Frauen feid gar nicht politiſch,“ fagte Numark.

„Eoliten wir es denn fein?“ frug Alma.

„Natürlih. Um Ihrer felbft willen, fehen Sie. Wer nicht verfteht, feinen Vorteil zu wahren, wird unbedingt ber verlierende Teil.”

„In welder Beziehung meinen Sie, daß wir verlieren könnten?” frug Alma.

„In dem, was den Grundftein und Kern Ihres Daſeins ausmaht. In Ihrer Liebe.”

„Wir find alfo in umferer Liebe der ver- lierende Teil?”

„Unleugbar. In der Liebe ift das Weib Sklavin und der Mann Herr, wiewohl es umgefehrt fein ſollte.“

Alma lachte.

„Und tvas ift die Urfahe? Erklären Eie doch!“

„Gern. Das Weib wird darum ber ver: | lierende Teil in der Liebe, weil fie den Mann den gemwinnenden werben läßt.”

„Daraus kann man nicht Hug werden.”

„Warten Sie, id werde mid) deutlicher | erflären. Zu Beginn, wenn der Mann die |

Gunft einer Frau zu erwerben trachtet, ba iſt feine Liebe feurig und ftark, nicht wahr?“

„Allerdings.“

„Bis die Frau fich ergiebt und fagt: ic bin bein.”

„Gewiß.“

„Nun hat der Mann geſiegt, und ſogleich verliert die Frau ihre Macht über ihn. Schen Sie, der Mann liebt Sport und Wettfpiele. Braucht er um bie Liebe eines Meibes nicht mehr zu ringen, fo weiß er fie nicht mehr zu ſchätzen. Das ift das ganze Geheimnis.“

„Es iſt gut, das zu wiſſen. Aber wie meinen Sie, fol nun die rau zuwege gehen, um das zu verhindern ?”

„Zie follte niemald einen Mann aus ganzer Seele lieben, niemals zu ihm jagen: id bin dein. Sie foll den Mann zwifchen Furcht und Hoffnung ſchweben laſſen. Sie ſoll bisweilen auch andern Männern ihre Gunſt bezeigen und ihnen geſtatten, ſie zu bewundern. Auf dieſe Art wird ſie den Mann anſpornen, ſich ihre Liebe zu erhalten.“

„Gott behüte, welche Lehre! Man merkt, daß Sie nicht verheiratet ſind, Magiſter Nymark.“

„Gott ſei Danlk.“

„Wieſo?“

„Ich hätte ganz ſicher bald genug von meiner Frau. Insbeſondere, wenn ſie von dieſer treuen, demütigen und aufopfernden Art wäre, wie es Frauen gewöhnlich find.”

„Sie find entfeglic leichtſinnig.“

„Es iſt beſſer, leichtfinnig als langweilig zu fein. Ich finde diefe ernſthaften Pflicht» menſchen furchtbar ermüdend. ch künnte es nicht einen einzigen Tag in ihrer Geſellſchaft aushalten.”

Wie müßte alfo Ihre Frau denn eigent- lich bejchaffen fein?” lächelte Alma.

„Das will ih Ihnen fagen. Erſtens unbeftreitbar ſchön. Zweitens müßte fie bie Gabe befigen, zu bezaubern, auch andere in fi) verliebt zu machen, nit nur mic.“

„Und einem der anderen vielleicht einen größeren Play in ihrem Herzen einräumen, als Ihnen?”

„Das würde fie nicht thun. Dafür würde ich ſchon Sorge tragen.”

Alma fhüttelte den Kopf.

„bift du glüdlich?“

Außerordentlich zufrieden mit dem Dafein, | menigften® gegentwärtig. Und du, meine Alma?“ :

„Grenzenlos glüdlih. So glüdlih, John, daß ich den Lauf der Zeit hemmen und biefen Augenblid in alle Ewigkeit fefthalten wollte.”

John lachte.

„Ob das nicht doch einförmig würde?”

„ui, John, wie kannſt du fo ſprechen?“

„Ih wollte wetten, daß du ſchon nad ein paar Stunden hungrig würbeft und gern wieder beim gingeft.”

Alma ertiderte nichts. Sie fah von ihm fort und fühlte fih verlegt. Nein, John verftand fie nicht.

„Nun, Alma?”

John verfuchte ihr in die Augen zu ſehen.

Alma wandte fih ihm zu und lächelte, aber ihr Blick war feucht.

„Und ſolch eine Stleinigleit kannſt du dir zu |

Herzen nehmen? Du bift wirklich kindiſch. Nun, laß es gut fein. daß ich dir die Thränen trodnen kann.”

Er ftredte den Arm aus und zog Alma an ſich.

„Ich nehme dich auf den Schoß wie ein lleines Täubchen, mein geliebtes, teures Weib!”

Er hob Almas Kopf empor und küßte fie.

Teure Weib!”

Ein warmer Blid traf Alma aus der Tiefe feiner Augen.

Alma ſchlang den Arm um feinen Hals.

„Ich liebe dich, John. Über alles. Mehr als alles andere im Himmel und auf Erben.”

„Ich weiß es, mein Liebling.”

Er drüdte Alma feft an ſich und füßte fie nochmals.

„Aber du mußt vernünftig fein. Nicht mehr eiferfüchtig weder auf Vaterland noch Finnentum.”

„Aber fie nehmen ja dein ganzes Herz in Beſih.“

„Gewiß nicht. Du herrſchſt unbeſchränkt darin.”

„a, aber nur diefe paar Wochen hier auf '

dem Lande. In der Stabt haft du kaum Zeit, auch nur an mich zu denfen.”

„Alma, Alma, was würdeſt du jagen, |

wenn id) nun beginne, an anderen Frauen Gefallen zu finden?”

Nein, komm hierher, | : beinen Augen an.

au

Alma zudte vor Schreden zufammen.

„Nun, nun, rege dich nicht auf. Natürlich wird das nie gefchehen. Ich wollte did) nur auf biefen Gedanken bringen, damit du künftige bin deine Eiferfuht auf das Vaterland auf: giebſt.“

„John, ich werde verſuchen, von nun an vernünftig zu fein. Sch muß ja,” ſetzte ſie mit einem Seufzer hinzu.

„Siehſt du, daran thuft du recht,” jagte John ſchmeichelnd.

Alma ſetzte ſich auf das Brett im Alter und lehnte ſich an ihres Mannes Knie. John glättete ihr Haar.

„Sag mir nun etwas, Alma, tvas ih dich

; oft fehon fragen wollte.”

„Nun, was ift es?“

„Erinnerft du did eines Abende es war im legten Winter als id nachhauſe tam und bu beim Klavier ſaßeſt und fpielteft 2”

„Kurz bevor Helmi zur Welt am?“

„Ja. Da hattet du geweint, ich fab es Aber ih erfuhr micht, weshalb, wieviel ich auch fragte.”

Alma lachte ein wenig verlegen.

„Geſtehe, warft du damals nur eiferfüchtig auf die Außenwelt?”

„Nein, es war etwas anderes.”

„Was alſo?“

Kindiſche Dinge. Garnichts.“

„Weißt du, es quälte mich lange. Ich Tonnte es mur ſchwer aus dem Kopf bringen.” „Und du fagteft nichts, lieber John?”

„Da du fo verſchloſſen warſt, wurde ich es auch. Aber nun fagft du es mir, nicht wahr?”

„Es war wirklich nichts. Etwas fo furcht⸗ bar Minbiihes. Ich kann nicht, John, ich ſchäme mich, davon zu fpreden.”

Aber John ftreichelte und füßte fein Meines Mäushen und fah ihr in die Augen. Und fo mußte fie es doch fagen.

„Es war nur, John, daß ich fürdhtete, fterben zu müſſen.“

„Wie immer vor einem Mochenbett. Und

" war das allest“

„Es kommt noch etwas dazu. Aber bu

Ladjft.“

„Ich lache nicht. Sch bin ganz ernft.”

Binde Klippen. 17

„Das Kiffen!”

Mina drehte ih um und flarrte fie an, ohne zu verſtehen. Alma zeigte auf das Kiſſen.

Aber fie begriff nicht. Sie kam auf Alma zu und faßte ihre ausgeftredte Hand.

Alma ſtieß einen Schredenaruf aus und 308 die Hand fort, lachte aber im nächſten Augenblid wieder.

„Du bift eine Närrin. Hier das Kiffen.” Sie legte ed auf Minas Arm. „Seht geb!”

Dina ging mit dem Kiffen auf dem Arm durch das Kinderzimmer in die Küche, und aud Alma begab ſich ins Kinderzimmer, um nad den älteren Kindern zu fehen. Sie liefen alle füß. Ella bielt die Hand unter der Wange und fah im dieſer Etellung fo lieblih aus, daß das Herz der Mutter vor Stolz und Freude ſchwoll. Lypli hatte bie Dede abgeworfen; da es ſehr warm war, lich Alma fie bei den Füßen liegen und hüllte das Kind nur in das Leintuch.

„Gottes Frieden!” flüfterte fie. Und es war wirklich, als hätte der in dem Raum geherrſcht.

Als fie ſich niederlegte, kamen ihr Nymarks Worte in den Sinn: „Furcht iſt Beweis von Schwäche.“ Was hatte er damit gemeint?

Wie fonderbar er fie den ganzen Abend angefehen ... .

Sport? Die Männer lieben Sport? ...

Dummpeiten!

U.

Die Sommerferien näherten fi ihrem Ende, und Rektor Karell und feine Familie hatten nur noch einige Tage des Yand- aufenthaltes vor fih. Die Wäſche mar ab: gethan und alles für die Überfiedelung vor: bereitet, die in drei Tagen ftattfinden follte.

Da das Wetter ſchön war, ließ Alma den Nachmittagskaffee in die Laube am Ufer tragen. Zie faß am Tiſche und zeichnete neue Taſchen⸗ tücher mit roten Buchſtaben. Lypli Metterte auf die Bank neben fie; die andern Stinder faßen im Grafe und fpielten mit Steinchen. Auch Helmi wurde herausgetragen; fie lag in einem feinen Wagen im Schatten eines Baumes, mit einem meißen Schleier zum Schutz gegen Fliegen und Müden. Bei jeder ihrer geringften Beivegungen war Mina zur

Stelle, um den Wagen in Bewegung zu fegen, während fie gleichzeitig die andern Kinder zur Ruhe ermahnte. Und dann fchlief Helmi wieder ein. Einftweilen ordnete Mina den Kaffeetiſch.

„Ich darf wohl die Kaffeekanne nicht früher berunterbringen, bis der Herr Rektor kommt?“ fragte fie.

„Nein, laß fie am Herd ftehen, damit der Kaffee nicht kalt wird.”

Alma Hielt die Nadel in eifriger Beivegung und bob die Augen nicht von der Arbeit. Sie warb mißgeftimmt, fobald fie an die bevor: ftehende Überfieblung und an das Etadtleben date. Gar ſchnell war der Sommer ver: gangen; man wußte faum, daß er begonnen, fo war er auch fehon vorüber. Aber noch mehr quälte es fie, daß John nicht dasfelbe Bedauern empfand wie fie. a, es fehien Alma, als freue er ſich fogar auf die Abreife. Er fühlte fi eben auf die Dauer von dem einförmigen und ruhigen Familienleben nicht befriedigt, er fehnte fih nad Abwechſelung, Beſchäftigung.

Davon würde er nun im nächſten Winter vollauf haben. Ja, ſoviel er ſich nur wünſchen mochte. John war zum Landtagsabgeordneten gewählt worden. Alma war hierüber ganz betümmert und wagte es Taum, an das Früh: jahr zu denfen, wo fie allein bleiben follte, für fo lange, lange Zeit von ihrem Manne getrennt.

Sie hatte geweint, als fie es erjuhr, und noch mehr getveint, als fie fab, mit welchem Eifer John alle Vorbereitungen zu feinem Amte traf. Nicht ein Wort des Bebauernd über die Trennung vom Haufe. Nicht ein einziges!

Alma war tief verlegt. Mehrere Tage war fie falt und einfilbig geweſen. Aber Sohn hatte ſich nicht daran gelehrt. Und nun war fie infolge deſſen bei ſchlechter Laune die ſich von Zeit zu Zeit in Heinen Stichelreden Luft machte. Nicht einmal dies hatte Wirtung. John zog fi) bloß auf fein Zimmer zurüd, ſchrieb, las, dachte und ſchwieg. Seine Gedanken waren anderwärts. Alma fühlte ſich verlaffen, unglüdlic.

Sie hatte verfucht, ihre bittern Gefühle zu unterbrüden, fie machte fih um die Rinder zu

2

Binde Klippen. 21)

Das Blut ftieg ihr zu Kopfe; fie preßte bie Lippen feft zufammen und nähte noch eifriger.

Nah einer Weile kam John vom Ufer herauf, immer noch Lypli auf dem Arm tragend.

„Bitte ſchön, Mama, dem Kind die naſſen Strumpfchen auszuzichen und ihm trodene zu geben,” fagte er ſchon in einiger Entfernung. „Ziehft du, Mama, Lypli ift ins Waſſer ge ftiegen und naß geworden.“

„Sie Tann zu Mina hinaufgehn.”

„Mina ift nicht da, fie war eben mit Helmis Wagen im Walde.”

„Dann ift Maja Liſa da.“

John ſchwieg eine Weile, dann ftellte er Lypli auf den Boden.

„Lauf, mein Kindchen, und bitte Maja Liſa, dir zu helfen.”

John zündete eine Zigarre an und ſetzte ſich auf das Schaulelbrett.

„Alma! Warum?”

Keine Antwort.

„Warum bift du fo ſchlechter Laune?”

Noch feine Antwort.

„Alma —“

Er wollte fie an ſich zichen.

„Ad, laß mid."

Alma ſchob feine Hand fort, obne bie Arbeit finken zu lafien.

„Wie? Bin id dir läftig?”

„dJa.“

John ſah ſie mit einem langen Blick an, aber ſie ſchlug die Augen nicht auf.

„Wahrhaftig?“

Nicht ein Laut.

Da ſtand John auf und ging. Alma merkte es an feiner Art, ſich umzuwenden und an feinem Gang, daß er böfe ſei. Zie erichraf, denn fo etwas war noch nie gefeheben.

Es dunfelte ihr vor den Augen, ihr Herz hörte auf zu fchlagen. Hände und Füße wurden fall. Was hatte fie gethan?

Sie blidte auf und ſah, wie John mit einem beftigeren Rud als gewöhnlich die Flurthür Hinter ſich zuzog.

„Sohn, John,“ flüfterte fie.

Aber Zohn hörte nit. Alma warf die Arbeit fort. Sie ging ein Stüd ſeitlich zwiſchen die Bäume, warf fi vornüber in das Gras und meinte bitterlid.

Das Verhältnis zwiſchen ihnen mar zer⸗ ftört, und nichts in der Welt konnte es wieder berftellen. John würde fortan noch kälter, noch unfreundlicher werden und fie? Sie hätte unter die Erbe verfinten mögen, wie fie da lag, das Gefiht im Grafe. Gleich in biefom Augenblid und für ewig!

Tenn feine frohe Stunde konnte fie mehr im Leben haben. Alles war verändert, und fo plöglid) war es geſchehen, wie mit einem einzigen Schlage. Die Vögel zwitfcherten mie früher in den Bäumen, und vom Ufer ber ſchollen die fröhlichen Stimmen der Kinder, aber fie Hangen in ihrem Ohr nit mehr wie ehedem.

Und John kam nicht, ſie zu ſuchen. Halb hoffte, halb fürchtete ſie es. Aber er kam nicht. Ihm war es gleichgiltig, ob das Verhältnis zwiſchen ihnen ein gutes oder ſchlechtes war.

Sie weinte, bis ſie ſo müde wurde, daß ſie nicht mehr zu denken, nicht einmal ſich zu grämen vermochte. Immer noch lag ſie in derſelben Stellung. Endlich, als ſie fühlte, tie der feuchte Boden fie durchkältete, ſtand fie auf. Die Gemütsbewegung hatte fie derart geſchwächt, daß fie fih ſchwanken fühlte und am ganzen Körper zitterte.

Sie fah fi) um. Die Eonne war ſchon im Untergehn; es wurde Abend. Sie ging zum Ufer, wuſch die Augen mit dem fühlen Waſſer und nahm die Kinder mit ſich hinauf.

Das Ejien ftand auf dem Tiſche. Sie hieß Arvi den Vater rufen.

„Papa ißt nicht,” verkündete Arvi, als er vom Zimmer des Vaters zurüdkam.

Alma machte fi, ohne ein Wort zu fagen, um die Kinder zu fchaffen, brachte fie zur Ruhe und Iegte fich felbit.

Aber fie fonnte nicht ſchlafen. Eine Stunde verftrih, und alles blieb ſtill um fie ber. Anfangs hörte man nod bie und da aus der Küche ein Klappern, doch bald ver- ftummte aud das. Helmi fchlief ruhig und feft im ihrer Miege neben dem Bett, das Händchen auf der Dede geballt. Ihre Augen waren geſchloſſen, die Züge fo vol Frieden. Der Mund verzog ſich zumeilen zu einem Lächeln; fiherlih träumte fie von etwas Freundlichem, die Kleine. Glüdliche Zeit!

27

20 Frauen vor dem Gewerbegericht.

Keine Sorge, kein Schmerz und feine Seelen: angft!

Die Thür zum Salon ftand offen. Aber ‚sohn hatte die feine auf der anderen Seite geſchloſſen. Wie lange wollte er aufbleiben? Wartete er, bis fie fchlafen würde? Ober hatte er die Abficht, garnicht zu kommen? Bielleiht wollte er fih auf das Sofa in feinem Bimmer- legen?

Alma Schloß die Augen nicht, fondern lag und fchaute in das Mondlicht, das durch die Ealonfenfter über den Boden fiel. Im Schlaf: zimmer waren die Garbinen herabgelajlen; aber im Salon war es hell. Und fo frieblidh fill und beimlih! Auch die Möbel, Stühle, Tiſch und Sofa fahen fo friedlich drein; fie fühlten nichts von den Schmerzen der Welt.

Jetzt aber jeht!

Die Thür zu Johns Zimmer öffnete fich, und er Fam dur den Ealon, die Kerze in der Hand. Almas Herz Flopfte heftig, aber fie ſchloß die Augen und lag unbeweglich, mie tot da. Sohn ftellte das Licht auf den Tiſch

neben dem Bett und ftand eine Meile ftill. Alma fühlte, daß er fie betrachtete. Dann wandte er fih ab und begann fih zu ent: Heiden. Sie öffnete ein wenig die Liber und betrachtete verftohlen fein Geſicht. Es mar Streng und ernit. Zitternd fchloß fie wiederum die Augen. |

Nun wandte fi) Sohn nicht mehr nad ihr bin, fondern legte fih und blies das Licht aus. Mie nahe war er ihr nun. Cie laufchte feinen Atemzügen und folgte jeder feiner geringften Bewegungen.

„Sohn!“ flüfterte fie für fih. „Verzeih mir, ih bin ja dein. Ich liebe dich ja von ganzer Seele. Berzeih’! Sei nicht böfe! Ich fann nicht leben, wenn du fo kalt und unverjöhnlich bift!”

Sie hob den Kopf vom Kiffen. Vielleicht wollte fie dasjelbe laut jagen; aber John war ſchon eingefchlafen. Schwer und gleichmäßig atmete er und wußte von feiner Dual.

Alma ſank auf ihr Bett zurüd.

(Fortſetzung folgt.)

Zranen vor Sem Gewerbegericht.

Rlire Salomon.

Nachdruck verboten.

*2

en Beſuchern des internationalen Frauenkongreſſes, der im Juni in Paris F 8

tagte, bot fich vielfacd, Gelegenheit zu beobachten, daß die franzöfiichen Frauen J trotz der mangelhaften Organiſation ihrer Frauenbewegung zu Stellungen, AÄmtern und Rechten zugelaffen werden, die den deutſchen Frauen trotz energiſchen Eintretend ihrer Vereine noch vorenthalten bleiben. Nachden erft vor kurzem eine Frau in den franzöliichen Arbeitgrat gewählt worden, bat diefe Behörde (Conseil superieur du Travail) ſich jest in einer Sigung unter dem Vorfig des Handels: minifter8 für die Wählbarkeit der Frauen in die Prud’hommes - Gerichte (die mit unjern Getverbegerichten verglichen werden Fünnen) erklärt.

Die Bedeutung jolcher Errungenfchaften und die Notwendigkeit ſolcher Forde— rungen wurde durch eine Begebenbeit der legten Monate auch den’ deutfchen Frauen gegenüber heil beleuchtet, und zivar durch die Lohnbewegung der Berliner Wäjcherinnen und Plätterinnen, die mit einer Verhandlung vor dem Berliner Gewerbegeridht endigte.

Für die Hausfrauen dürfte diefe Bewegung von feinem geringeren Intereſſe fein als die Dienftbotenbewegung. Handelte es fich doch hierbei nicht nur um Ber: hütung eines Streils, der mit der Wirtichaftsführung, mit Beſchaffung eines häus—

Frauen vor bem Gewerbegericht. 2i

lichen Bedarfsartikels zuſammenhängt und ſomit die Hausfrauen getroffen hätte, nicht nur um Fellfegung des Lohns für Leitungen, die jede Hausfrau zu ſchähen und zu bewerten verfteht. Denn die Bervegung der Wäfcherinnen und Plätterinnen, die in der Einigungsverhandlung vor dem Gewerbegeriht ihren Höhepunkt erreichte, hat für die Frauen noch eine andre Bedeutung; fie trifft fie auch als Anhängerinnen der Frauenbewegung. Sie bewies die Notwendigkeit und Berechtigung von frauen rechtlerifchen Forderungen; fie kann aber auch al ein Erfolg in der Geſchichte der Brauenbetyegung verzeichnet werden. Zum erften Mal gefchah es in Berlin (und foweit mir befannt geworben, aud in Deutfchland), daß eine außfchlichlich weibliche Drganifation das Einigungsamt des Gewerbegerichts angerufen hatte, zum erften Mal, daß an biefer Stelle eine Frau ald Sprecherin ihre Arbeitögenofien vertrat. Der ausgezeichneten Haltung der Vertreterinnen der Wälcherinnen und Plätterinnen if es zuzuſchreiben, daß die Verhandlungen mit einem Sciebsfpruch endigten, der den 2500 Arbeiterinnen der Wajch: und Plättanftalten Berlins eine erfreuliche Beſſerung ihrer Lage bringt. Die Vorgänge, die den Lohnftreitigfeiten zu Grunde lagen, find folgende. Seit Jahrzehnten befteht in Berlin die Sitte, daß Plätterinnen als Lohn die Hälfte des Preifes erhalten, den der Gefchäftsinhaber von den Kunden bezahlt befommt ; fo ftellte fich der Preis für dad Dutzend Oberhemden auf 75 Pfennige, das Dugend Paar Manfchetten 30 Pfennige, dad Dugend Kragen 20 Pfennige; für Damenblufen variierte der Preis zwiſchen 8 und 25 Pfennigen. Im allgemeinen erhielt die Plätterin die Hälfte des Preifes, den die Kundfchait zahlte, die andre Hälfte erhielt der Geſchaftsinhaber zur Dedung feiner Unfoften und als Unternehmergewinn. Wenn einzelne Arbeiterinnen bei diefen niedrigen Stüdpreifen einen auskömmlichen Wochen: verdienft erzielten, jo ift dabei zu berüdfichtigen, daß es ſich in diefen Fällen immer um. befonderd gewandte und geübte Arbeiterinnen handelt, die als Elite der weiblichen Arbeiter angefchen werden fönnen. Ebenfo wie Maurer, Maler und Schloſſer, die ihre Arbeit erlernt haben und über eine feſte Gejundheit verfügen müſſen, einen weit höheren Lohn erzielen, als die meiften andern männlichen Arbeiterfategorieen, fo muß fih aud der Lohn einer Plätterin höher ftellen, als bei andern Arbeiterinnen, da fie eine lange Lehrzeit durchzumachen hat, und da an ihre Gefundheit und Kraft fo große Anforderungen geftellt werben, daß felbft die befte Konftitution fi ſchnell verbraucht. Vielfah if in den Berliner Plättftuben, deren Angeftellte ja leider nod jeden geſetzlichen Schuges entbehren, eine wöchentliche Arbeitszeit von 92 Stunden die Regel; vom Sonnabend zum Sonntag wird faft allgemein durchgearbeitet. Die Arbeit3räume liegen ganz vorwiegend im Keller; feuchtheige Dämpfe erfüllen die Luft und fchäbigen bie Geſundheit der Arbeiterinnen.

Wenn angeficht3 diefer traurigen Verhältnijfe bis vor kurzem noch feine Organi— fation der Wäfcherinnen und Plätterinnen beftand, die für Reformen hätte eintreten tönnen, fo ift das wohl darauf zurüdzuführen, daß die Arbeiterinnen faft durchweg ifoliert in Rleinbetrieben, deren etwa 1500 in Berlin eriftieren, befchäftigt find. Ein äußerer Anlaß bat aber über diefe Hindernifje hintweg die Wäſcherinnen und Plätte: tinnen zu einer einheitlichen Aktion geführt. Die zunchmende Preisfteigerung, namentlich für Kohlen und Kos, veranlaßte die Inhaber der Walch: und Plätt: anftalten, die zwei große Organijationen befigen, vor einigen Monaten, einen neuen, bedeutend Höheren Tarif zu vereinbaren, der ſeit Pfingiten allgemein im Kunden: verkehr gilt und der überall von den Hausfrauen gezahlt worden ift, ohne daß von irgend einem Proteſt gegen die bedeutende Preiserhöhung (bei einzelnen Artikeln beträgt fie 100 Prozent) etwas verlautet wäre. Die Pätterinnen erwarteten eine entiprechende Erhöhung ihres Stüdlohns, ald der neue Tarif eingeführt wurde, um fo mehr, als auch in den Verfammlungen der Plättanftaltsbefiter die Erhöhung des Preiſes damit motiviert wurde, daß neben den hoben Nohlenpreifen „auch die Plätte rinnen höheren Lohn verlangen“. Die Anftaltsbefiger wollten aber allein Nugen aus der Preiserhöhung ziehen, gingen plöglihd von dem alten Brauch der Teilung ded Preifes ab und billigten den Arbeiterinnen nur ganz geringe Lohnerhöhungen zu.

Üoserne Lebensprogramme.

Gertrud Bäumer. Nabrud verboten. na had I dus driffe Reid.

E hunderts eine feltfame lange gewachien, eine philofophifche Sekte.

Nicht eine, deren Jünger fih nur im Hörfanl oder auf den Blättern der philofophiichen Zeitfchriften von Amts wegen zufammen finden, nein, eine richtige philoſophiſche Sekte, wie in den Tagen, da Sofrates auf den Straßen Athens Schüler fuchte, die feine Lehre ergriffen und ſich zufammenfcloffen, fie zu leben. Im Beethovenfaal der Philharmonie feierte die neue Gemeinfchaft ihr erſtes „Kulturfeſt“. Beethoven, Nietzſche, Ibſen, Stirner, Angelus Silefius, Eugen Dühring, Michelangelo, Goethe weihte fie zu ihren Propheten.

Sie wirbt Jünger, Erkenntnis: und Lebensgenofien, durch „Flugichriften zur Begründung einer neuen Weltanſchauung“). Darin fol das Evangelium vom „Reich der Erfüllung“ verbreitet werden, und das erfte Heft verkündet „Das höchſte Wiſſen“ und dad „Leben im Licht“.

Dieſes erfte Heft fol ein vorläufig Wort fein an die „Wenigen und an Alle“, d. 5. an die wenigen Freien, die dad höchſte Willen befigen und an alle die andern, die durch das höchfte Wiflen fich erlöfen und zu lichter Harmonie des Wollens, Dichtens und Denkens führen laflen wollen.

Die neue Selte behauptet und veripricht viel:

„Unfere Gemeinſchaft ift eine Ertenntnis und Lebensgemeinſchaft, geeinigt in der Weltanſchauung des realen Monismus, in der Anfchauung von der Bieleinpeit, Wandlung und Wiederverjüngung, von den fteten Neuwerdungen und Entwiclungen aller Dinge. Den Kern diefer Anſchauung bildet die Erfenntnid der Jdentität von Welt und Ich, die Vorſtellung vom Welt-Ich. AS Welt-Ad ift alles, was ba ift, jeber und jedes, ewig, ohne Anfang und Ende, unvergänglich, unzerftörbar. Und in immer neuen Wandlungen befteht alles, was da ift, von Emigteit zu Ewigkeit. "

Die neue Weltanfdauung überwindet ald Identitätslehre alle Gegenfäge und Widerſprüche, welche im Gebiet der alten Weltanfgauung Wiſſen, Wollen und Yeben burdjfegen. Und mit dieſen Gegenfägen überwindet fie bie eigentliche Triebtraft aller Yeiden und Kämpfe, allen Bangen und Zweifelns, aller Verzweiflung und allen Elends. Über alle Gegenſäte hinaus führt fie zu einer lichten Harmonie im Denten, (Fühlen und Leben des Einzelnen, für die Gemeinſchaft aber ermöglicht fie die Verwirklichung des höchften Rulturidents.”

Alfo darin liegt die Erlöfung: das Geſchehen erfaffen nicht als Aufwärts oder Abwärtd, als Fortſchritt oder Hemmung, ald Sieg oder Niederlage, als fittlich oder

y deinrich Hart. Julius Hart. Vom höchſten Wiſſen. Vom Leben im Licht. Das Reich der Erfülung. Flugſchriften Heft I. Leipzig 1900.

24 Moderne Lebendprogramme.

unfittlid oder unter irgend einem Geſichtspunkt, der Entgegengefehtes ausschließt ober verurteilt, jondern die Welt erfaſſen lediglich, ausſchließlich als Verwandlungserſcheinung, in der jede Moment gleich berechtigt, gleich bedeutend, gleich wertvoll ift, denn in jedem Tann das Welt-Ich angefchaut und erfaßt werden.

Je tiefer man in die Fülle und Feinheit eines Gejchehens in al feinen Beziehungen eindringt, um jo deutlicher offenbaren ſich alle Gegenfäte und Wider: Iprüche, die e8 zu umlagern fchienen, al& notwendige Ergänzungen.

Sp gilt e8 nicht mehr, fein Leben einfegen für die eine oder die andere Sache, fämpfen für dieſe oder jene Anficht, es giebt fein entweder oder; e3 gilt nur, Die Menfchen und Ereignifje in ihrer Allfeitigfeit verftehen, mit immer feineren Drganen ih in die Umwelt verſenken, auf ihre Eindrüde reagieren.

Mit immer feineren Organen an diefer Stelle öffnet die neue Weltanſchauung der Myftit Thür und Thor, anerkennt fie dag Schauen und Erleben von Dingen, die dem normalen Menjchen verfchloffen bleiben.

Das ift auch die Wurzel der neuen Moral und Ethik: „Lernet einander verfiehen!“ Für den Bürger des Reiches der Erfüllung erwachſen aus bdiefer Wurzel drei Haupt: gebote d. h. in der Sprache de neuen Neiches giebt es natürlich eigentlich Feine Gebote und Verbote, fie jagt vielmehr fo: „Wer zur Harmonie gelangen will, erleichtert fich den Weg, wenn er breierlei beachtet. Wenn er feine Kräfte nicht unnütz bergeubet, jondern jedes Arbeit3: und Schaffensziel nach den Geſetz des Eleinften Kraftmaßes zu erreichen jucht, wenn er jeden Genuß unter geringfter Beeinträchtigung andrer eritrebt, wenn er jedes Leid durch Betrachtung oder durch die Glut inbrünftiger Verſenkung aufzulöfen ringt.”

Mit jubelnder Siegedzuverficht fchauen die Stifter des Neiches der Erfüllung in die Zukunft, in den neuen Morgen, dem fie die Menjchheit entgegenführen; mit dem gütig-mitleidigen Lächeln unendlicher Überlegenheit zurüd auf die Geiftesfämpfe ver: gangener Zeiten und ihre Fläglichen Rejultate. Seltſam, daß man fich einft die Köpfe erhigen konnte über „das erichütternde Bedenken, ob man ficherer mit dem Papft zu Rom oder mit der Bibel den Weg in die Stadt der goldenen Gaſſen finde”.

Das Alte ijt alles abgethan, und ein herrliches Neues an feine Stelle geſetzt, ein Neue, um das die Sabrtaufende vergeblich gerungen, das, wie einft die Ver: kündigung des Chriſtus und des Buddha, die Erfüllung des Alten fein wird.

„Die alte Welt der Zerjplitterungen, Trennungen und Feindichaften bilden wir in eine ncue Melt großer, wunderbarer Harmonieen um, und ben Sch: Menfchen der Vergangenheit erhöhen wir zum Menſchen-Ich der Zukunft.”

„Wir treiben den Wahnfinn aus und geben der Welt die Geſundheit wieder,“

„Wer mit und iſt, eins im Willen und eins in der Kraft, wer die neue Weltanfchauung mit jeder Safer lebt, der weiß und empfindet nicht® mehr von all! dem Hader und all’ dem Zwieſpalt, von den Sorgen und der Unruße, von dem Ängften und Fürchten derer, die draußen ftchen. Deſſen Geiſt hat eine Gewalt, die alle Welten durchdringt und erobert, deſſen Seele hat die Stille, die Weihe, den Frieden, der über jedes Geſchick erhaben ift. Er ift ein allzeit Siegenber, ein allzeit Fröhlicher, ein allzeit Seliger.“

Die neue Weltanjchauung giebt fich in jeder Beziehung als Superlativ alles Gedachten und Erfannten.

Es ift Bier nicht der Ort, eine willenfchaftliche Kritif zu geben. Mag die Schul: pbilojophie den Hingeworfenen Handſchuh aufheben, wenn fie Luft dazu bat und bie unzünftige Lehre ernft nimmt, mag fie nachweifen, was in der neuen Weltanfchauung alt ift und wo Jie ihre geheimen oder offenfundigen Riffe hat.

Moderne Lebensprogramme. =

Damit wäre fie allerdings noch nicht entkräftet. Sie giebt ſich nicht nur als Welterklarung, fondern als Welterlöfung. Und fo fchlägt fie ihre Schlachten auf dem Felde des Lebens. Dort wird der Litterarhiftorifer, der Kulturhiftorifer fie zu fuchen haben, dort wird er fie wiederfinden ald die mehr oder weniger zur Theorie gelärte Lebenzflimmung derer, die fih am Anfang des neuen Jahrhunderts die „Modernen”, im prägnanten Sinne nannten, dort wird fie ihm die Geheimniffe und Ratſel ihrer Kunft deuten helfen.

Welt-Erlöfung der neue Glaube ift die Religion der modernen Kunft; fie wird den Siegesjubel der Befreiten des Lebens im Licht ausklingen, in ihren Geftalten werben wir die Erlöften des Reiches der Erfüllung fuchen dürfen?

Da ift kürzlich ein Buch erfchienen: „Das dritte Reich” von Johannes Schlaf !), das fich faft wie eine Probe auf dad Exempel ausnimmt.

Der Bürger des neuen Reiches ift der achtundzwanzigjährige Kandidat der Philoſophie Dr. Emanuel Liefegang, ber in Berlin im Rofenthaler Viertel von den Zinfen feines Vermögens lebt.

Er hat dad muß vorausgefchidt werden in feiner Jugend an Krampf: anfällen und fallender Sucht gelitten, und der Gebraud von Morphium und Bromtali iſt ihm geläufig.

Bir finden ihn eingangs wie Fauft über dad Johannesevangelium gebeugt; ihn beichäftigt die Idee von der Wiederkunft und dem taufendjährigen Reid. In einem efflatifch getragenen Gedankengang, deſſen Untergrundseinheit ihm in dem Erdamotiv aus dem Nibelungenring geheimnisvoll mittönt, entfaltet fich ihm die Offenbarung, daß jene Erfüllung der Zeiten da fei. Das menſchliche Denken ift auf feinem Wege durch die Welten, die es fih unterwarf, durh Stirner und Nietzſche zurüdgeführt zum Individuum, dem „A und D, dem legten unlösbaren Problem“. Die menschliche Individualität, die fich felbit begriffen und damit in eine neue Metaftafe des Seins eintritt, eine Neugeburt erlebt: Das ift ber Sinn der Wiederkunft.

Den erichöpfenden Ausdruck dieſes Gedankens findet er in dem Gedichte Alfred Mombertö „des feltfamften und eigenartigften aller Lyriker, die Deutſchland im legten "Jahrzehnt Hervorgebracht” was man nad) folgender Probe jedenfalls gern zu= geftehen wird —:

Gott ift vom Schöpferſtuhl gefallen Hinunter in bie Donnerhallen

Des Lebens und der viebe.

Er figt beim Facelſchein

Und trinkt feinen Wein

gwiſchen borftigen Geiellen,

Die von Weib und Meerflut überfhwellen. Und der Mond rollt über die Woltenberge Durch bie geſtirnte Meernacht,

Und die großen Werte

Sind vollendet und vollbradt."

Der Dr. phil. Emanuel Liefegang widmet fih von nun an ausichlieklid der Steigerung feiner Nervenfenfibilität, die ihm neue Dffenbarungen vermittelt; und überall drängt fih ihm die Veftätigung jener Erfahrung auf, daß die legte Ent:

") Berlin 1900. F. Fontane u. Co.

Moderne Lehensprogramme. 8

ein mehr aſthetiſches und nach jeder Richtung vorurteilsloſes, obiektived Empfinden, wie es der Menſch etwa der Tier: und Pflanzentvelt gegenüber hat, diefen Menfchen gegenüber, die der Jargen moderner Humanität die ‚Elenden‘, ‚Armften‘, ‚Enterbten‘, und tie immer zu nennen beliebt, ein Jargon, ben aud er einft gefannt und ben feine geöffneten Augen nun als cigenfte perfönliche Unfreiheit erfannten. Denn das Schicſal der Moſſe ift ftetd eherne und ewige Notwendigkeit.”

Diefes große, - weite, befreite, Finderäugige Gefühl einer neuen Naivetät, eined Ur: und Paradieszuftandes ermöglicht dem Dr. Liefegang dann aud den ftrupellofeften, intenfivften Genuß des Verkehrs mit der „Modellmarie”. Auch ber Anblid der fterbenden Proftituierten in dem entfeglichen Elend ihrer verrauchten, öden Dachkammer vermag feinen Gleihmut nicht zu erfehüttern.

„Es ging von ihr aus wie ber Troft einer Gelaſſenheit, die keinen Trübfinn auflommen ließ.

Tas echte Berliner Kind! Dunter, witzig, intelligent, prattiih, tapfer und gelafien, ohne Illuſionen und Romantif.

Und tie rein, wie wunderbar ſchuldlos fie eigentlich war, mußte er denten. Sie, die feine ſchwerblütigen Gebanten, teine Grübeleien und feine Reue kannte. Tie ihr Leben refolut und bewußt nach eigner Fagon Iebte. Und fo würde fie auch fterben, tapfer, ohne Furcht und Reue, mit dem DVewußtfein, daß dann alles aus und vorüber fei.

Rein, ſchuldlos, harmoniſch! Wie ein Tier ftirht! —“

In den „ſeeliſchen Aequinoktien,” deren Wonnen und Schauer ſich der Dr. phil. Liefegang durch abfolute Enthaltung von jeglicher pofitiven Arbeit, einen gelegentlichen Meinen Abſhnthrauſch und im Vertrauen auf die Elaflizität feiner Nerven je länger, je häufiger und ergiebiger zu verfchaffen weiß, gewinnt der Idealmenſch, das neue Ich feines realen Monismus immer beftimmtere Züge:

„unfruchtbar, patbologifch, anſcheinend zwecklos, paſſiv und refleftiv, aber mit unendlich volltommenen feelifgen Fühlern alle Rätſel des Dafeind ertaftend, alle feine weſentlichſten Schicſale erlebend oder mit ungeheurer Senfibilität miterlebend, ein überreifed Wefen, für dad es feine Rätfel mehr giebt, ein groker ftiller Schauender und Wiflender . . . Er, dieſer Überfeine, diefer Zarte, Reifſte und Vollendetſte, ganz ganz Seele, nadtefte Seele... Der neue, ftille Lacher, ber Heimliche, Bielfeitige, Viegſam Fromme!”

Den Aquinoftien folgen zuweilen unerträgliche Zuftände, da fühlt fi der Doktor „ſchlaff, müde, fad, unfagbar zerfajert”.

Aber das ift eben die meue, werdende Eeele, das find die neuen Nerven. Das find „Stimmen kranker Sehnſucht eines Senfitiven, die morgen die Sprache einer neuen Gefundheit fein werden“. Dr. Emanuel Liefegang meint, daß gerade die Menfchen mit einem „Rnid“, wie er ihn hat, das „Milieu für den dereinftigen Übermenfchen abgeben werben“.

Ein einziges Mal wil das Leben den Dr. Emanuel Lieſegang aus der bloßen Receptivität heraus zum Handeln zwingen. Es padt ihn in der Leidenfchaft für die Geliebte feines Freundes. Sein Nebenbuhler ift der ftarfnerwige Weltſtadtmann par excellence, pratifh wie ein Yankee und ohne alle kränklichen „ſpiritualiſtiſchen Sehn—⸗ füchte und Atavismen“. Bon einer einfchüchternden Sicherheit im Auftreten und „in feinen zahlreichen Beziehungen zu den Weibern ein Schwerendter, der fih auskannte“. Es illuſtriert die Art diefer Beziehungen gewiß, daß er ein worlibergehendes Mädchen „ein Prachtbieft” nennt. Wenn man dagegen den Tagebüchern Liefegangs Glauben ſchenken darf, fo ift fein Freund durch und durch „Gentleman“.

Liefegang fucht feine Abficht, fi in Olgas Beſitz zu fegen, in feine moniftifche Weltanſchauung einzugliedern durch eine Theorie, für die er Darwin, Niegiche und Stier zu Hilfe nimmt. Danach muß zur Heraufführung einer neuen Kultur einer

Die Stellung der Fran im Schulgeſangunterricht.

von

JIulie Müller-Tiebenwalde.

Nadbrud verboten.

uf_ dem großen Felde der Kunſt, das ſchon in vieler Beziehung ſich der weiblichen IM Eigenart ertragfäbig gezeigt bat, liegt ein Stüd Brachland, das ſich gerade N unter der Fürforge und Pflege der Frau in einen lieblihen Garten wandeln ließe, der Blumen und Früchte edler Art bringen würde zu Nug und Frommen aller; dies Brachland ift die weibliche Singftimme in den Kinder: und Schuljabren.

Es ift jüngft eine höchſt vwerdienftvole Abhandlung von Profeffor Paulfen in Kiel erfchienen, in welcher die Gefahren des jegigen Schul: und Chorgefangunterrichts beleuchtet werben. In einem kurzen Überblid twird darauf hingewieſen, wie gering das Material ift, dad an Studien und Unterfuchungen über die Stimmen der Kinder feither zufammengetragen wurde. Um fo danfenswerter find die Erhebungen über die Stimmbegrenzung im jugendlichen Alter, die, an 2601 Kieler jungen Männern, jungen Mädchen und Kindern vorgenommen, dem Fachlehrer eine reiche ftatiftifche Belehrung bieten. Die auffalende Unkenntnis über das MWefen der Singftimme in der Jugend it um fo befremdlicher, als längft fon bedeutende Gefangpädanogen bei den Klagen über den Verfall der Gejangkunit auf die mangelhafte Pflege der Stimme in den Kinderjahren als auf die Wurzel de3 allgemein fühlbaren Übel3 hingewieſen haben.

In der erwähnten Brofchüre von Profeffor Paulfen: „Die Singftimme im jugendlichen Alter und der Schulgefang” wird unter anderem bervorgehoben, daß bei dem feitherigen Unterricht zwifchen Knaben: und Mädcenftimmen nit genugfam unterfchieden wird, und hier möchte id) anknüpfen, um die Berechtigung der Forderung nachzuweiſen, daß der Gefangunterricht in den Mädchen: ſchulen der Gefanglehrerin zufomme, und nicht, wie jegt meiſt üblich, von Gefang: refp. Muſiklehrern erteilt werden fol. Betrachten wir zunächft einmal die Ducchfänittörefultate bei dem jetzt herrichenden Syftem, nach dem Wort „An ihren Früchten folt ihr fie erfennen“.

Wenn nach Entlaffung aus der Eule das junge Mädchen den Gefangunterricht privatim oder an einem Gefanginftitut auffucht, fo follte man annehmen, daß nach einem mindeftens fechjährigen Eingunterricht während der Schulzeit eine Vaſis der Tonbildung vorhanden fein müßte, auf der man tweiterbauen könnte, um ten aud in individuellen Grenzen fünftleriiche Leiftungen zu erzielen. Weit gefehlt! Die Stimmgrenzen find verfchoben, der Tonanfag ift unfrei, die Ausfprache, die vorn im Munde liegen fol, zeigt fih jo wenig entwidelt, daß um nur dies Eine zu erwähnen kaum ein Zungen: R richtig gebildet wird.

Für diefes Defizit des Organs fann die bisweilen recht weit gefürberte Kenntnis der mufifalifchen Elementarlehre in feiner Weife entfchädigen. Cie bezwedt im Treffen von Intervallen, im „Vomblattſingen“, im fogenannten „Mufikdittat” eine Bildung des Gehör, die ich die „mathematifche” nennen möchte, die aber nichts zu thun hat mit der Pflege jenes Sinne für Wohllaut und Klangſchönheit, der ein wefentlicher Faktor für eine geſunde Tunbildung ift. Sie ift es, welde das Organ fähig macht, mit der körperlichen Entwidlung fortzuſchreiten durch eine aufmerkjame Pflege im jugendlichen Alter und in den Schuljahren.

Im Gegenfag zu dieſer ‚Forderung eines normal und gutentwidelten Stimm: materials beim Verlajjen der Echule, bilden diejenigen jungen Mädchen einen großen Prozentjag, die das untere Etimmregifter, da8 man mit dem Namen „Bruſtſtimme“ bezeichnet, weit über die phyſiologiſch feftgeftellten Grenzen hinaufgetrieben haben. Dadurch

80 | Die Stellung der Frau im Schulgejangunterridit.

wird die Mittelftimme, das eigentliche Element des weiblichen Stinnmorgang, ſchwer geichädigt, und zahlreiche ftimmliche Fehler und ſchwer auszurottende Beeinträchtigungen in der Tongebung find die unaußbleibliche Folge diefer Verſchiebung der Negifter.

Woher entftehen diefe Mißftände?

Die Erfahrung lehrt, daß die meilten Kinder fich beim Singen mit Borliebe in den Tönen bewegen, welche ihnen beim Rufen und Schreien geläufig geworden find. Das Kind will fih hören, und wenn es in einer Schar von anderen Kindern fingt, dann will e8 fich erit recht hören, und firengt fein Stinmnihen an, um unbewußt jene Schwingungen der Stimmbänder hervorzurufen, die eine fräftigere Refonanz geben, und da? gefchiebt durch die Bruftftimme.. Der kindliche Stimmapparat ermöglicht dies Bemühen zunächſt ohne hörbare Schädigung des Organs. Die Verbindung der unteren und oberen Stimmgrenze gelingt auch in höher binaufgefchobenen Tönen vorläufig, ohne unangenehm durch einen Bruch aufzufallen. Bon Unkundigen wird das Starl- fingen der Kinder thörichterweife ſogar belobt und protegiert, aber dieſe metalliich klingenden Töne, die für die natürliche Lage der Mittelftimme fubftituiert werden, dienen Ipäter, wie ſchon erwähnt, zum Nachteil jener Tonreihe, die nicht nur das Fundament der Frauenſtimme ausmacht, jondern ihr auch, neben der reizuollen Kopfſtimme, das Ipezifiich Weibliche im Klangcharakter verleiht.

Wie ift nun dem Kinde bemerkbar zu machen, mo es die Stimmlage wechjeln fol? Einfach durch das Vormachen ſeitens der geſchulten Frauenftimme. Vermöge des ihm innewohnenden Nachahmungstriebes faßt ſelbſt ein Kind von 5—6 Jahren den Unterſchied in der Tongebung überraſchend ſchnell auf, wie ich es oft zu konſtatieren in der Lage war, von größeren Kindern ganz zu geſchweigen. Für das männliche Organ ift es eine phyfiologifche Unmöglichkeit, Mittelftimme in der Weiſe zu verdeut- lichen, wie es die Frauenſtimme kann, denn auch das ausgebildete männliche Falfet entſpricht keineswegs den weiblichen Gefangtönen in der gleichen Stimmlage. Und wie ganz anderd entwidelt fich bei der Frau das feine Herausbören der Regilter: unterjchiede, da fie an fich felber die Studien täglich zu machen in der Lage ilt, einerlei ob ihre Stimmgattung Alt, Mezzo-Sopran oder hoher Sopran fei.

Wird aber der Mittelftimme von früh auf eine jorgfältige Beachtung zuteil, dann gelingt auch mühelos die Verbindung mit den energifchen Brufttünen; eine Bereinigung des Starten mit dem Milden, die auch bier einen guten Klang giebt.

Und wie ift e8 nun mit der Spite jener oberen Tonreibe, die man als Mittel: ftimme nicht mehr anjprechen kann, miti der jogenannten „Kopfſtimme“, die der weib- lichen Stimme, namentlid in der Höhe, ihr bejonderes Kolorit verleibt, follte hier vielleicht die Geige des Lehrerd in ihren zarten Tönen ein entiprechendes Vorbild fein fünnen? O nein, denn der infirumentale Ton kann die Modifikation der Vokale nicht wiedergeben, deren das findliche Organ bei den höheren Tönen jeder Stimmlage ebenjo bedarf wie ter Kunftgefang der Erwachſenen, um die Tongebung zu veredeln und um dad Organ zu ſchonen. Auch Hier ift dad Vormachen durch die fünitlerifch geſchulte Frauenſtimme nicht annähernd durch ein anderes vokales oder inftrumentales Borbild zu erjegen.

Ich bin weit entfernt zu verkennen, was einfichtövolle Gefanglehrer bisher auch für Mädchenfchulen geleiftet haben. Manche unter ihnen, 3. B. Profeſſor Kraufe in feinen von Wärme für den Gegenitand erfüllten Ausführungen zur „Deutfchen Sing: Ichule” weifen auf die Gefahr des Zubochhinaufichraubend der Stimmgrenzen nad) drüdlich hin, und wollen den Unterjchied der Bruſtſtimme gegenüber der Mittelftimme den Schülerinnen verdeutlicht willen; allein, es ift mindeltens fraglich, vb dieſe theoretische Unterteilung imftande ift, die Schülerinnen jo zu belehren, daß fie bie falfchen, gejundheitwidrigen Töne meiden, und im Klaffenunterricht in diefer Hinficht erfolgreich zu wirken, wenn das lebendige Borbild und Mufter feblt.

Und noch eines Punktes möchte ih Erwähnung thun, der es wünſchenswert macht, den Gejangunterricht in den Mädchenjchulen in die Hand der Frau zu legen.

Es ijt befannt, daß zur Zeit der weiblichen Periode eine gewilfe Schonung der Singftinnme geboten ift. Die Erörterung über die phufiologifchen Gründe gehört nicht

u wm wi aus 8

hierher. An ſolchen Tagen einfach den Geſangſtunden fern zu bleiben, kann ber einzelnen Schülerin nicht verftattet werden, denn es würden hierdurch zu große Lüden im Unterricht entftehen; da junge Mädchen muß wenigſtens pafliv anı Unterricht teilnehmen. Für ein feinempfindendes Madchengemüt iſt aber die Entfchuldigung: „I kann beute nicht fingen“ dem Lehrer gegenüber höchft unangenehm, auch die Ausrede: „Ich bin heifer” wird häufig von einem Erröten begleitet, das mancher Schülerin fo peinlich if, daß fie ein andermal lieber die Gejangftunde verjäunmt. Einer Frau gegenüber jedoch, bie für diefe Fritifchen Tage das richtige Verftändnis hat, bedarf ed kaum einer Anbeutung.

Das junge Mädchen wird der Lehrerin jür die Erfparung einer offiziellen Ent: ſchuldigung und für jede zarte Rüdficht nur Dank wiffen, der fid) meiſt darin offenbart, daß die Gefangftunden pünktlich bejuht werden, wodurd das ſolidariſche Gefühl der Geſangklaſſe, das unter vielen Verfäumniffen leidet, nur gehoben werden kann.

Die Tätigkeit der Frau als Bildnerin der Geſangſtimme ift zunädft in Betracht gezogen worden, um bie in ihrer Eigenart wurzelnden Vorzüge zu zeigen, es erübrigt aber noch einer Kraft dabei zu gedenken, die zwar ironijierend dem weiblichen Geſchlecht als „Zungenfertigfeit“ zugeichrieben wird, die jedoch von jedem, der fid, mit dem Gefang beicäftigt, als „Sprechſtimme“ befonders ausgebildet und gepflegt werden follte.

Die Geſchichte von Demoſthenes, der, um ein guter Redner zu werden, fich zur Überwindung fprachlicher Schwierigfeiten Kiefelfleine auf die Zunge legte, und außer: dem an den Geftaden des Meeres Atemgymmaftit trieb, dieſe Überlieferung ift allen geläufig, aber die Nutzanwendung von einer Erziehung der Sprade wird in den Schulen nur in verfhwindenden Fällen zum Ausdrud gebracht.

Und doch haben die ſprachphyſiologiſchen Forſchungen und die aus ihnen in Wechſelwirkung rejultierenden praktiihen Studienwerfe, wie wir ſolche Brüde, Heimholtz, Fr. Schmitt, Stodhaufen, Guftav Engel, Hev, Hermann, U. Kuyperd und anderen verdanken, und den Mechanismus des Sprechens derartig erflärt und dadurch die Unterweifung in diefem Lehrgegenftand fo erleichtert, daß unfere Mutterfprache in der That eine allgemeinere, forgfältigere Pflege und jomit beflere Würdigung ihrer Schönheit finden follte als bisher. Das wird erreicht werden, jobald die ſprachliche Erziehung nicht nur bei den Erwachſenen anhebt, die beruflich auf eine Stimmbildung angeiviefen find, fondern wenn die Ausbildung der Sprache methodiſch ſchon in der Säule durch fjyftematifhe Übungen gelehrt wird. Diefe Forderung hat Friedrich Schmitt bereit3 um die Mitte unſeres Zahrhundert3 aufgeftelt.

Mir find auf dem Gebiet des Schulweſens bislang nur die Karlsruher Beftrebungen des Profeffors Eduard Engel bekannt, die im Klaſſenunterricht der Volts- ſchule meift im Anſchluß an den Gefangunterriht eine methodifhe Schulung der Sprache zur Anwendung gebracht haben. Der Großherzoglich Badiſche Oberſchul⸗ rat bat, wie ich dem antegenden Vortrag von Tr. med. D. Schwidop entnehme, auf Grund der ausgezeichneten Nefultate, die diefe ſprachliche Stimmbildung gehabt hat, fih veranlaßt gejehen, eine größere Anzahl von Lehrern Kurſe in diefer Methode nehmen zu laffen.

Daß der Gefangunterricht in erfter Linie die Früchte diefer Schulung der Sprech ftimme einheimft, liegt auf der Hand. Machen doch, wie Hey richtig bemerkt, „die beftausgebilbeten Sprachwerkzeuge die menigiten Tonbildungsfehler”, aber auch der fremdfprachliche Unterricht empfängt durch eine derartige Gymnaftif der Stimme und durch die damit verbundene Verfchärfung des Gehörs weentliche Förderung, wie er: fahrene Neuphilologen beftätigen können. Den geübten Sprechwerkzeugen gelingen auch die von den unfern abweichenden Laute viel beffer und leichter (cf. Mund: „Die Ausbildung und Erhaltung der menſchlichen Stimme“).

In hygieniſcher Beziehung laſſen ſich die Vorteile einer rationellen, ſprachlichen und gejanglichen Stimmbildung für die Voltögefundheit gar nicht ermefien. Wer darüber nachzuleſen wünfdt, ben verweiſe ich auf das vortrefflihe Schriften von Dr. med. €. Barth: „Der gefundheitliche Wert des Singens“, umd auf einen

Hinna Sant. ——

Zelbfibiographie. Überfegt von €. Stine Naqhdrud verboten. zz

Die nachſtehenden Mitteilungen gab Minna Canth feiner Zeit dem norwegiſchen Autor Harald Hanfen zur Beröffentlihung in ber Zeitſchrift für Pitteratur und foziale Fragen „Samtiden". Bir alauben ein befonbere® Intereffe bafür bei ben Leſern des pincologiich fo überaus feinen unb inter: effanten Romans „Blinde Klippen”, befien Veröffentlichung wir in dieſer Nummer beginnen, voraus: fegen zu dürfen. D. Red.

ich wurde 1844 in ber Stadt Tommerford geboren, wo mein Vater Guftav

"= Wilhelm Johnſon dazumal eine Stelle ald Auffeher in der größten Baumwoll⸗ ſpinnerei unſeres Landes inne hatte. Ich war von früheſter Kindheit an meines Vaters Augapfel, und ich entſinne mich noch, wie er vor den biederen Arbeitern, die zu unſerem Umgangskreiſe gehörten, gern ein wenig mit meinen Talenten prahlte. Ich alt bei ihnen als Wunderkind, denn ich las mit fünf Jahren „wie ein Pfarrer”, Fang mit lauter Stimme Pfalmen und begleitete mich dabei auf dem Harmonium. Obwohl mein Vater zu jener Zeit in recht befchränften Verhältniffen lebte, that er fein Möglichftes, um mir die befte Schulbildung zu geben, die ein Mädchen in unferem Lande erlangen konnte. Da es in Tommerfors feine Madchenſchule von der guten, alten Art gab, folte ich nach Abo geſchigt werden; fpäter follte ih mich zur Qebrerin ausbilden. Es war dies die befte Zukunft, die mein Vater dem in feinen Augen fo außerordentlich begabten Rinde zu bieten wußte. Meine Mutter war minder zufrieden mit ihrer Tochter, die unaufpörlich über den Büchern Hodte und fi die Augen frank las, mit Näbzeug und Stridnadeln aber im Höchften Grade ungeſchickt hantierte und nicht die geringfte Beanlagung für häusliche Beichäftigungen beſaß.

Als ich acht Jahre alt war, fiedelten meine Eltern nach Kuopio über, wo mein Vater ein Gefhäft mit den Waren der oben erwähnten Fabrik eröffnete. Hier gab es eine dreiflaffige, ſchwediſche Mädchenfchule, und ich brauchte demnad nicht nad) Abo zu geben, um den zu jener Zeit für junge Mädchen als pafjend und hinlänglich erachteten Unterricht zu genießen.

Als Kind hatte ich ein eigentümliches Phantafie: und Gefühlsleben. Tief religiös, wie ich war, hatte ich oft Vifionen und Träume, in denen ich Vorwürfe erhielt, wenn ich etwas Unrechtes getban Troft, wenn ich betrübt war Rat und Anleitung, wenn ich mich in einer wichtigen Sache unfchlüffig fühlte. Ich wähnte mich in unmittelbarer Verbindung mit der Gottheit, und da der Religionslehrer gejagt hatte, daß der liebe Gott häufig die Kinder, die er am liebften habe, durch einen frühen Tod abrufe, fo hoffte ich, daß auch mir diefe Gnade zu teil werben würde. Ya, fo groß war meine Sehnſucht nach dem Tode, daß ich fogar mit dem Gedanken an Selbftmorb umging, während allerdings andrerſeits die Furcht vor der Sünde und ber Beftrafung mid) davon zurüdhielt. Die Jahre vergingen, und ich blieb am Leben. Anfänglich zweifelte ich am Gottes Liebe, da er e3 fiber ſich gewann, mich den mannig« fachen Verfuchungen de3 Lebens auszuſetzen. Allein der Gedanke, daß möglicherweile

3

Rinne Canth. 35

ihm „das Brot verbrennen wolle.” NIS das Jahr zu Ende ging, war mein Mann nicht mehr Redakteur der Zeitung, und ich mußte hübſch zur Nähmaſchine zurüdfehren.

Einige Jahre fpäter tagte es wieder. Eine neue Zeitung, größer als die frühere, murde gegründet, und mein Mann wurde einer ber Redakteure. Mit verboppeltem Eifer griff ich abermals zur Feder und fchrieb unter anderem Artikel über die Frauen: frage, die aber feinen Widerhall fanden; die Anregung war noch zu früh gefommen.

Um diefe Zeit befuchte das „Finniſche Theater“ unfere Heine Stadt und brachte einige bekannte Stüde zur Aufführung. Der Eindrud, den ich empfing, war tief und

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&

Klinna Ganth. Nach einer Zeichnung von Eero Järneielt.

wedte ein unwiderſtehliches Verlangen in mir, meine Kräfte auf dem dramatifchen Gebiete zu erproben. Naiv, wie id) war, griff ich ohne Bedenken das Werk an und fcrieb „Murtovarkans“ (Der Einbruchsdiebſtahl), ein Volksſtüch, in dem ein junges Mädchen durch die Intriguen eines elenden Zauberer fälfchlicherweife des Diebftahl3 befchuldigt wird. Die Wahrheit wird jedoch von einem Landftreicher entbedt, einem luftigen Gefellen, leichtfinnig und gutmütig, übrigens die befte Figur des Stüdes, keiehaitig der Wirklichkeit entnommen, denn gerade fo fand id) ihn eines Tages auf dem Marktplage zu Ihväskylä. 3*

36 Minna Santh.

ALS ich ungefähr bis zur Mitte des Stüdes gelangt war, ftarb mein Mann an einer Gebirnentzündung. Sch war nach dreizehnjähriger Ehe verwitiwet, mit fieben Kindern, von denen das jüngite fait ſieben Monate nach meines Mannes Tode zur Melt fam. Mein Vater war einige Jahre vorher geftorben meine Mutter lebte noch, doch in ganz dürftigen Verhältniffen. Sch Hatte niemand, auf den ich mich verlaffen fonnte und war überdies franl. Die Zukunft lag finfter vor mir; ich wußte nicht, wie meine große Familie ernähren. Mein Bater Hatte Konkurs gemacht. Dennoch befchloß ich, nach Kuopio zu ziehen und ein Ladengefchäft, wie er es betrieben, zu eröffnen. Ach beendete „Murtovarkans“, fandte e8 dem „Finnifchen Theater“ und glaubte nunmehr für immer von jedweder litterarifchen Beichäftigung abſtehen zu müſſen.

Nach der Geburt des Kindes ſchwanden meine lebten Kräfte. Der Lebenskampf wurde mir zu jchwer, und ri war nahe daran, zu unterliegen. Der Wahnfinn näherte ſich drohend. Eine entſetzliche Seelenangft erfaßte mich, jo daß ich mehrere Nächte das Dienftmädchen und die älteiten Kinder bitten mußte, mich zu bewachen, denn eine unfaßbare Macht wollte mich gewaltſam zwingen, das jüngjte Kind zu töten. Indeſſen fämpfte die alte Natur in mir mit allen Kräften und fiegte allmählich. Doch Hinterließ die Krankheit eine jahrelange ſchmerzhafte Nervenſchwäche.

Währenddeſſen hatte die finnische Litteraturgefellichaft mir für „Murtovarkans“ einen Preis zuerkannt. Das Stüd wurde 1882 zum erftenmal in SHelfingfors auf: geführt uud ging unter vielem Beifall fieben Abende bintereinander in Scene. Es wurde Später in jeder Saifon aufgeführt, und man ermunterte mich zu einer Fort: jegung meiner Thätigfeit. Sch hatte unterdejlen meinen Laden in Ordnung gebracht und fand, daß er mir noch Zeit zu anderer Arbeit übrig ließ. Ach fchrieb zunächſt „Roinilantalossa“ (Im Roinala-Hof), ein idylliſches Sommerftüd mit Wiefen und brüllenden Kühen, Liebe, Verwidlungen und einer Hochzeit zum Schluffe. Das Stüd wurde 1883 gegeben und von Publifum und Kritik jehr freundlich aufgenommen. In diefen beiden Stüden fand fich durchaus feine Tendenz, und jelbit das jchärfite Urteil Hatte in diefer Hinficht nicht? auszufegen. Und dennoch gab es einige ehren— werte Frauen, die fich über den unerhörten Leichtfinn entjegten, daß eine Mutter, eine Witwe mit fieben Kindern, unter jo ernften Lebensverhältniffen ſich Binfegen konnte, um Theaterftüde zu fchreiben. Überdies hatten einige der wachjamften Geiftlichen bereit im „Murtovarkans“ bedenkliche Anzeichen von unfittlichen und chriftentums: feindlichen Tendenzen gewittert, worüber fie fih denn auch in einigen Provinz» blättern ergoffen.

Zu jener Zeit las ich Georg Brandes’ „Hauptitrömungen”, ſowie Arbeiten von Taine, Herbert Spencer, Stuart Mil und Budle. Und endlich fühlte ich mich befreit von den Dogmen und Vorurteilen, die jo lange meine Seele gefangen gehalten und mein Gewiſſen mit allem möglichen Satandzeug belaftet hatten. Aufs neue erfaßte mich der Neformeifer, und ich» fchrieb „Työmichen vaimo“ (Das Weib des Arbeiter), worin ich die Ungerechtigfeit der Gelee gegen die ‘Frauen, Die unvernünftigen religiöfen Begriffe, die Trunfjucht und Leichtfertigfeit der Männer, die Dunmbeit, Außerlichkeit und Engherzigkeit der Frauen, kurz, alles Schlechte und Verfehrte, das ich in der Welt wußte, und zu jener Zeit vermochte ich beinahe nicht3 Gutes darin zu entdeden zum Gegenftand meiner Angriffe machte. Es ilt bittere Satire in dem Stüd, aber e8 hat weder eine tiefere Piychologie, noch ift es fünftlerifch reif. Nichtsdeſtoweniger rief es bei feiner Aufführung 1885 einen mächtigen Eindrud hervor und wurde von einigen Kritifern in die Wolfen gehoben, während andere die Schalen ihres Zorned darüber ausgoſſen. Man jchonte mich nicht; es hagelte Beichuldigungen und Schimpfworte. Ich wurde als Atbeiftin hingeſtellt, die Eltern verboten ihren Kindern, mein Haus zu bejuchen, ich verlor eine ganze Menge meiner Freunde, und es erforderte überhaupt einen gewillen moralifchen Mut, fich zu der Belanntichaft mit mir zu befennen. Natürlich gefchah dies alles nicht nur auf Grund des letzten Stüdes. Ich Hatte Artikel in demjelben Geift gefchrieben, naturaliftische Novellen, und überdies die Jugend verführt, indem ich ihr aus Brandes’ Hauptftrömungen vorlad. Es gab überhaupt dazumal keine ärgere Perfon im Lande

Rinna Canth. ar

als die Unterzeichnete. Fromme Menichen erdichteten und verbreiteten die unfinnigften Geſchichten in dem Glauben, hiermit ein Gott mohlgefäliges Werk zu verrichten; man bedauerte meine armen Kinder, die fol ein Ungeheuer zur Mutter hatten u. ſ. w. Und felbftverftändlich übte all dies feine Rüdwirtung auf mid.

Der Seelenzuftand, aus dem „Das Weib des Arbeiters“ hervorgegangen, war ein Gefühl von Lebenzluft, Kraft und Mut, Hinter dem fich vielleicht dennoch eine kranthafte Überreizung des Nervenfyfiems verbarg. Da trat ein Umfchlag ein. Die Überanftrengung des Gehirns, die vielen, heftigen Angriffe auf mich und der Verluft meiner Freunde riefen tiefe Niedergefchlagenheit bei mir hervor. Aufs neue befiel mich ein drüdendes Gemütdleiden, ein Gefühl von Lahmheit im Gehirn, das mic das Argſte fürchten ließ. Ich empfand eine unbefchreibliche Bitterfeit gegen mein Water: land und dachte ſtark an Auswanderung.

Aber der Gedanke an eine Million lebte unabläffig in mir fort. Ich wollte bis aufs legte für die Unterbrüdten und Burüdgefegten fämpfen. Und fo fchrieb ich „Kovan onnen lapsia“ (Die Kinder des Unglüds), eine Schilderung des Proletarierelends, die mit Verzweiflung, Verbrechen und Gefängnis fchließt. Dies Stüd wurde bloß ein einzigesmal 1888 aufgeführt. Im gleichen Jahre erſchien es auch im Drud. Die weiteren Aufführungen wurden verboten, ed wurde al tevolutionär und aufreizend betrachtet. Hierzu kam etwas für mid, Unerwartetes; es wurde auch von der Kritit vernichtet, nicht nur von der fonfervativen, fondern auch mit wenigen Ausnahmen von der freifinnigen.

Ich Hatte alfo auf betrübende Art meinen Abſchied vom Theater erhalten; meine ſchriftſielleriſche Thatigkeit ſchien in feiner Weile mehr einer Aufmunterung wert. Neuerdings fand ich Renan's Wort bekräftigt: „Sehr ftark und ſehr Hug muß der fein, den Pflicht, Ehrgeiz oder ein unfanftes Geſchick beruft, fid in die Angelegenheiten der armen Menfchheit zu mifchen.“

Ich hielt es nun für gut, eine Zeit lang auf meinen Lorbeeren auszuruhen zum großen Vorteil meines Heims und meiner Nerven. Im folgenden Jahre verlor ih durch ben Tod zwei meiner beften Freunde und eine heißgeliebte, erwachſene Tochter. Da fühlte ich mich wie zu den Pforten der Ewigkeit geführt, und mein Bid auf das Leben wurde freier und klarer. Hiebe und Stiche trafen mich nicht mehr, und ich fühlte mich auch nicht mehr berufen, ſolche auszuteilen. Ich fchied aus dem Kampfe und wurde zum Zufchauer. Dazu kamen die drüdenden politiichen Ver: bältniffe, die eine finftere Zukunft für unfer Volt befürchten ließen. Der legte Reſt von Bitterkeit verſchwand, die Arbeitsluft erwachte wieder, und ich fühlte nicht die geringfte Luft mehr, mein Vaterland zu verlaffen. Ich fchrieb zunächſt „Papin perhe“ (Die Paftorsfamilie), eine objektiv gehaltene Schilderung der Spaltung zwifchen ber alten und jungen Generation. Dies Stüd ift diefes Jahr (1891) ein halb dugendmal im „Finnifhen Theater” aufgeführt worden, außerdem in den Provinzen. Es wurde von der Kritif mit Wohlwollen aufgenommen.

Ih kann nicht mit Veftimmtheit jagen, wie oft meine erften Stüde aufgeführt wurden, aber in jedem Jahr ging diejes oder jenes in der Hauptftadt oder in den Provinzen in Scene, und auch auf Gejelichaftstheatern wurden fie oft gegeben. „Das Weib des Arbeiters” kam 1886 ein Halb dugendmal im „Nya teater“ in Stodholm zur Aufführung.

Eigentlich bin ich mit feiner meiner bisherigen Arbeiten zufrieden; doch Hoffe ich, noch etwas Beſſeres fchaffen zu können, da ic ja noch dreizehn Jahre vor mir habe bis zu meinem fechzigften Lebensjahr, ') das will fagen, bis zu dem Alter, in dem alle Schriftfteller „erſchlagen“ werden follten, wie es heißt.

') Dies Alter zu erreichen war ihr nicht einmal vergönnt.

Unter fremden Leuten.

Nein, glei aufnehmen, fo is in Ordnung.“ Dann tritt Leder, Pinfel und Möbelbürfte in Aktion. Ein Blid ringsum: „’t is jo wol allens in Eid."

„Herrjeh! Halb acht!“

Der Haarbeſen geht eilig über das Linoleum des Wartezimmers, das wollene Tuch noch eiliger hinterher. Die Wiener Stühle wirbeln und purzeln unter dem Staubtuch. Eo.

Abt Uhr!

Rrrrrrr.

„Alles in Ordnung?” Ein grämliches, altes Geſicht hält Umfhau; knöcherne Finger fahren prüfend über Tiſchflächen und Senfter: fimfe.

„Wo iſt die Waſſerflaſche? Na, ih

will man felbft Eie find aud im Lehen nicht fertig. So mas geht vor im Haufe eines Arztes.”

Er planfcht in der Küche herum.

Sie wiſcht ängftlih Hinter ihm ber. „Wenn Frau Rat kömmt ümmer mit die ewigen weißen Morgenröd’.“ . . .

Die erften Patienten fommen; unaufhörlich geht die Klingel. Gottlob, damit hat fie jetzt nichts zu thun, das Faltotum ift ja da, Schlag acht hat es anzutreten.

Erſt einen Schlud Kaffee. hohl in'n Leib.”

Mit fämtlihem Ruſtzeug betritt fie das Wohnzimmer ber Gnädigen, rutſcht wieder mit ihrem Schaufelchen den ganzen Teppih ab und vertieft fi dann mit Pinfel und Leber in die Unendlichkeit der Vaſen, Urnen, Staffeleien, Stehbilvchen, Bücher, Nippes, Kiffen und Kißchen.

Im Eßzimmer hört fie ein leifes Rauſchen. „Aha, fie i8 ſchon da, hätt auch noch länger liegen können; nachher bat man fein’ rechte Ruh’ mehr zu fein’ Arbeit.”

Da geht’3 ſchon los.

„Rieke, Sie haben bier ſchlecht gebedt. Es liegt alles ſchief. Sie wiſſen, wie mid das ſtört. Achten Sie beſſer darauf. Mein Zimmer iſt doch fertig?”

„Gleich, gnä' Frau.“

Jetzt der Salon.

„O je, die Tappen! Daß die Leut' nich auf ein’ Fleck bleiben können!“

„Mich is ſo

8

Wieder fliegt der Bohnerbefen auf und ab, auf und ab.

So große Zimmer find doch einzig ſchön, fagte geftern Frau v. S. Niele denkt genau das Gegenteil; ihr fließt der Schweiß vom Geſicht. Sie Iehnt fih einen Augenblid auf den Etiel zum Ausruhen. Aber die Uhr, bie Uhr! Es kann nicht weit von elf fein. Herrgott, fie muß ja in die Küche! Der Dfen heizt ſich ſchwer und „dur“ muß der Hammelbraten fein, fonft ißt der Herr Rat feinen Happen, und ſowas ift ihr zu unangenehm. Bloß fein ſchlechtes Efien ab⸗ liefern, das ift ihr gegen die Ehre. „Nein, nein, fein’ Schuldigfeit thun, daß einen feiner was nachſagen kann.“

Sie klopft, häutet ab, klopft wieder und wãſcht.

Der Ofen glüht die Hammelfeule rundet und bräunt ſich

Schnell wieder in den Salon weiter gelratzt, gewedelt, gewiſcht. Dazwiſchen die Treppe heruntergeſprungen und den Braten begoſſen. Wie er duftet und glänzt! Rieles Geſicht auch.

Nun noch die moderne Ofenecke mas da alles fteht und baumelt und liegt „dann hat woll allens was gekriegt.”

Flint geht Hand, Lappen und Wedel über die Herrlichleiten hin. Es ift hohe Zeit; jeden Augenblid kann Beſuch kommen.

Rrrrrrr. Da ift er ſchon.

„Gnäd'ge Frau zu Haufe?”

„J— a“ ... Rieke ftodt; is fie nu zu Haufe oder nidt . .. .

„Wollen Sie nit anfragen?”

Sie läuft, das Staubtuch noch in der Hand, ins Zimmer der Hausfrau und meldet den Beſuch.

Frau Nat fieht fie groß an. „Wie fehen Sie denn aus, ganz echauffiert, mit dem Tuch in der Hand und der unfaubern Schürze? Sie find in einem herrſchaftlichen Haufe; es ift Ihnen wohl unmöglich, ſich das zu merfen.”

Nieles Gefiht wird noch um mehrere Grade dunkler. Beſchämt verläßt fie das Zimmer, ftottert draußen verlegen an ihrem Auftrag herum und ſchleicht in ihre Küche.

Mährend fie das Kraut für bie Fleiſch— ı fuppe pußt, fommen ihr ärgerliche Gedanken.

Unter fremben Leuten.

bißchen prätelt’3 mehr. Die Klapp' muß wieder auf; wird ja wohl nichts paffieren.”

Eie fteigt die beiden Treppen wieder in die Höhe, etwas langſamer ſchon, feit fieben Stunden ift fie auf den Beinen es iſt reichlich ein Uhr.

Die legte Hand wird oben noch an das Schlafzimmer gelegt was es auch bier alles zu puſſeln, zu deden und zu bürften Hiebt! Befriedigt geht ihr Blick durch den Raum: Fadengrade liegen bie Spachtel über den beiden rotfeidenen Eteppbeden, genau in ber Mitte unten am Fußende leuchtet das handgroße „Schlafe wohl!” der Nachttaſche. Streng aufmarſchiert find Kummen, Kannen und Näpfchen auf beiden Wafchtoiletten. Die Spiegel blinfen, die Wandleuchter zu beiden Seiten erft recht. Das eine Licht „will“ immer nicht. Weiß der liebe Himmel, woran das liegt. Eie drüdt daran herum. „So, nu wird fie woll nichts finden; ich mein’, nu hat allens feinen Schid .. .. wenn nu man der Braten —!“

Eine wahre Angft padt fie. Cie fliegt die Treppen hinunter und fehnuppert in bie Küche hinein. Ein bißchen darf riecht's ſchon.

Die Klappe finkt; die Pfanne fliegt heraus. Weiß Gott! Er hat 'was weg... . und er war fo jhön... wenn 'n hätt! dabei bleiben fönnen . . .“

Diefe ſchwärzlichen Eden find ihr fürchter⸗ lich. Wehmütig fieht fie fie an. Sorgſam befüllt fie wieder das Stüd Fleiſch und ſchließt die Klappe ganz langfam. Die Arbeitsfreude ift von ihrem Geſichte mie fortgemifcht. Mechaniſch ſchiebt fie den Dedel vom über: kochenden Kartoffeltopf zurüd, beforgt die Euppe mit Durchſieben und Abwellen, zer drüdt eine Kartoffel prüfend auf der Kelle und gießt dann ab.

Nun noch die Sauce zurechtrühren, das Eingemachte auflegen, den Nachtiſch orbnen, deden, anrichten, die Herrfchaften rufen.

Fünf Minuten vor Zwei.

Pünktlid) betreten Nat und Nätin das Ehzimmer. Gott fei Dank! Heute braucht man nicht zu warten. Niefe hätte nicht gewußt, was unter den Umftänden aus ihrer Hammel⸗ teule geworben wäre.

! herunter.

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Langſam zieht die Gnädige den filbernen Ning von der Eerviette. Die hübfchen blauen Augen gehen mufternd über die Hleine Tafel, das weiße Näschen fehnuppert ihnen nad.

„So recht forgfältig kocht fie doch nicht. Ih habe es ihr ſchon fo oft gefagt, genau zweieinhalb Etunden muß er haben und unaufhörlich begofjen werden. Er hat wieder trodene Eden.”

Tem Rat geht heute „ein Fall“ durch den Kopf, er erwidert wenig und ißt darauf log, ohne recht zu wiſſen was. Die Gattin ver- ftimmt das. Man giebt fi ſoviel Mühe...

Unten zifcht der Theckeffel über. Schön. Rieke trichtert den Kaffee. „Sie werben wohl gleich Hingeln.”

Während fie nod an der Kanne herum— pußt, geichieht es fchon.

Schnell werden die Hände abgefpült, die Schürze wird gewechſelt, das fauber beftellte Kaffeebrett hinaufgetragen und mit Herzklopfen bingeftelt. Nun wird ſie's zu hören befommen das, was ihr felbft fo fatal ift und was fie doch nicht ändern fann, wenn ihre Arbeit auf fo verſchiedenen Stellen Liegt. "

Ter Nat ftredt ſich behaglich im Seſſel, die Gigarre dampft, die Kaffeetafje auch. Für lange iſt's nicht. Die Spredftunde!

Er fängt ein gemütliches Plaudern an, und die Gattin bat Mitleid mit ihm. Die Niefe kann unbehelligt abdeden und ver ſchwindet hochaufatmend mit dem legten Etüd Geſchirr hinter der Thür.

Am Küchentiſch verzehrt fie übellaunig ihren Anteil. „Ja, er hat zu viel. Iſt ftellen- meife ganz troden; aber was foll man machen.”

Wenn fie die Schelte nur erft weg hätte! Kriegen wird fie fie.

Die lebte Kartoffel will gar nicht recht Ihr ift fo eng im Halje.

Zange fann fie fi bei ihrem Kummer nicht aufhalten. Rings herum fteht das ge brauchte Geſchirr und wartet aufden Reinigungs⸗ prozeß.

„Ra, denn man zu; denn man flink ab— waſchen.“

Sie nimmt den Kleiderrock hoch und bindet eine fefte Schürze darüber, ftreift die Ärmel der Blufe auf und arbeitet wader darauf los.

Rrrrrrr.

Unter fremden Leuten.

Seufzend erhebt fie ſich von ihrem Kuchen⸗ ſtuhl und rüftet fih zum Weiterarbeiten.

Während fie abwäſcht, lommen ihr wieder allerhand Gebanten. Ob fie body nicht lieber kündigt? Als Frau Paſtor ihr damals das gute Zeugni® mitgab und biefe Etelle ver- ſchaffte, warnte fie eindringlich: „Nur nicht fo oft wechſeln, Riefe! Dabei kommt nichts heraus, vermacht ift überall etwas.“ Aber man könnte doch verfuchen. Eie fagen immer alle, da find feine Kinder. ..... Ja, was würde das maden? Kleine Kinder find fo nett, fie möchte wohl, daß ſolch' Dingeldyen oder auch mehr davon um fie herum pappelten. Bei Paſtors waren foviel liche Kinder; fein cin ziges tar ihr im Wege geweſen. Und Garten= arbeit auch und doch war fie fertig ge⸗ worden und hatte abends noch im Geſangbuch Iefen fönnen. Hier fielen ihr immer bums die Augen zu, wenn fie das legte Stüd an die Ceite gebracht hatte. Es kam mohl vom vielen Laufen. Und daß fein Menid cin Wort mit ihr fprah! Dies Un: heimliche immer fo für ſich allein. Und einen Tag wie den andern, gar feinen Eonn- tag dazwiſchen. Denn was ift das für ein Sonntag hier! Feine Kleider haben fie jeden Tag an, Braten efjen fie mitten in der Woche, von Kirchengehen hört und ficht man nichts, wo fol da ein richtiger Sonntag berfommen! Gar feinen Anfang haben ſolche Wochen und gar fein Ende, immer eine nach der andern, eine nad) der andern um ſechs auf, um zehn zu Bett wird auch elf und zwölf, und alle vierzehn Tage ein Ausgehtag. Na, das wäre genug, das viele Auslaufen foftet bloß Zeug, wenn's nur nit gar fo ftill im Haufe wäre! Manchmal denft man, man gehört gar nicht mit dazu und thut doch aud feine Schuldigkeit. God und niedrig muß e3 ja geben in der Welt, aber dies ift doc fo fehnurrig, fo, als wär’ man gar fein Menſch. Doch man licher kündigen anderswo zufehen.

Am Sonntag wird fie zur Tante gehen mie alle Mädchen vom Lande hat aud fie ihre Tante in der Etabt, ber Vetter beim Militär fehlt ihr freilich noch und berat- ſchlagen.

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find gepußt, das Silber ruht ficher oben im Buffet.

Nun noch Kartoffeln ſchälen, morgens hält das fo lange auf, und es ſchadet auch nicht, wenn fie ein bißchen auswäflern; und dann fih noch 'n Eti) nähen „man reißt ab, wenn 'n nich zu rechter Zeit nachſieht.“ Nãchſte Woche ift Waſchwoche, dann geht's im Trapp, und an fo etwas ift nicht zu denfen.

Sie fit vor ihrer Meinen Lampe, einen wollenen Strumpf auf den Arm gezogen, die EStopfnabel in der Hand. Es iſt totenftill um fie. Sie zieht den blauen Wollfaden durch, nimmt bie Mafhen auf und zieht mieder durch und wieder. Immer lang- famer werben bie Bewegungen. Oft ſchwebt der Faden ein Weilchen in der Luft, und die Nadel ſtochert unficher in dent Gewebe herum. Endlich fucht fi} der beftrumpfte Arm einen Halt auf dem Tiſche und der blanlgeſcheitelte Kopf folgt ihm, als müſſe es fo fein.

Die lange Nadel macht fi das fofort zu Nuge. Sie entwifcht der fchlaffen Rechten, rutſcht am hängenden Faden herunter und gleißt hãmiſch aus der engen Dielenrige herauf: „So, nu ſuch'!“

Ein leifes Stöhnen durchzieht den niedrigen, falten Raum. Das junge, weiche Geſicht bettet fi immer fefter auf den runden Arm, die abgefpannten Züge glätten fih; Rieke ſchläft. Bunt durdeinander wirft der Traum die Bilder, die die Einfame beſchäftigten, bis ihr die Augen zufielen.

Das lange Dorf. Da, gleih um die Ede beim Krämer, liegt's. Wic freundlih der neue Hausanftrih ſich macht. Mutter ſteht am Schweinskoben und fann gar nicht genug abwehren, immer find die beiden Schnauzen wieder da. Es ift ein Schnüffeln und rungen, man muß laden. Mutter thut's auch; fo recht gut und lieb, über das ganze Gefiht.

Dicht bei der Dunggrube fpielen die beiden Zwillinge: Kuhlſäg. Sie werben doc nicht hineinfallen? Na, die großen Göhren! Mutter würde fie ſchön ... . Die fadelt nicht.

Das Pfarrhaus. Gleich an der Thür die Stube vom Herm Paſtor immer riecht'3 da nah der Pfeife Lüften hilft. Den

Der legte Telker ftcht im Bort, die Mefjer | Chorrod hat Frau Pajtorin längft aus dem

„Ru bin ich noch in bie Jahren... .”

„Haft noch lang Zeit. Was beim Heiraten ’rausfommt, bleibt dir no ümmer ... .“

„Bin vierundzwanzig . . .”

„Is 'was rechts... ."

„Un dien’ nu al rund 'acht Jahr... .”

„Un nu is es bir über?”

„Über nich. Die Arbeit ni, aber das Ganze. Die andern machen fi) davon ab, fo gut fie können. Kriegen fie ausgefcholten, haben fie 'was gegen an unb fordern ſich ihren Schein. Ich hab’ ümmer gedacht, es müßt doch'n Stell’ geben, wo ein’ fein’ Arbeit in Ruh’ und Freud’ thun könnt', un wo ein’ das auch ’n büfchen gedankt würd! Aber da is fo viel, fo viel. Vorlommen fann 'n nid allens, denn man ümmer auf'n Ruff. AM die neumodfhen Sachen kaum mang durchzufinden un belien thut einen fein Menſch. An folde Arbeit hat man fein’ Freud’. Ih bün vor's Gründliche.“

„Je, das wiſſen fie auch.“

„Was nützt das.”

Du gewöhnſt ihn’ ümmer zu viel an. Von glei an mußt bu ihn’ Beſcheid

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Nee, das laß man ’ne andere thun, ba hab’ ich fein Luft zu.”

„Ich hab’ mid) ümmer gewundert, daß bu nid bloß ad Köchin gehn willſt; ümmer as Einmäbchen. Kommerzienrat® würden dir nehmen, die ba i8, taugt nicht viel. Abends i8 man denn bod mit ein’ zufammen un lann 'n Wort reden.”

„Je, das is auch fo. Haut man nich mit ihr in ein’ Kerb’, is nich getroffen, denn fo is't Kalf in 't Og flahn.”

„Sciden muß ſich ein jeder.”

„So mein’ id nid. Du büft doch auch mang fremde Leut' geivefen as Mädchen. Did) i8 das woll mehr vergeflen, fonft müßt du wiſſen, daß fi das nich ümmer gut vers trägt. Ich geh’ grab durch vor Heimlich- feiten bün ich ni.”

„Denn geh’ wieder nach'n Land.”

„Nee, nu nich mehr.”

Sie fteht auf und brüdt den bunten Sonntagshut auf ihr blankes, glattes Haar. Langſam ſchiebt fie die lange Nadel durd den feftgeflochtenen Zopf.

„Denn fag’ ihm man, er follt' man bie

fagen.”

Ning’ beftellen.. . . .”

en

Äbend in Foscana.

In Siena war's. Die Abendfchatten ſanken. Orangendüfte wogten um den Dom,

Und alle meine fchweifenden Gedanken Befchwichtigte des Marmorbronnens Strom.

Ich ſtreckte taftend meine beiden Hände Tief in des Sonte Gaha's kalte Flut Die Slut, die von Toscanas Berggelände Berablam in die Stadt voll Sommerglut.

Und aus dem Abendfchatten der Paläjte So war mir fchritt hervor ein langer Zug, Ein lebensfroher aus der Zeit der Sefte,

Da Sienas Jugendfraft die Guelfen fchlug.

Da um das Blondhaar fühner Ghibellinen Der £orbeer fich, der frifchgepflüdte, wand, Und Ruhmesfonnen jenen Sels befchienen, Auf deffen Scheitel Sienas Wölfin ftand.

Don ftolzen Männern fam ein ftummer Reigen, Tyrannenfürften, eingefchient_in Stahl,

Und Papfigeftalten, die die Stirnen neigen Dor jenem Größ'ren an des Doms Portal.

Rerlobung und Frauung.

Bon Belene Köhnk. WVB BRD

T- germanifchen Leben wurde der Ehe, als der wichtigften menschlichen Inftitution zur Begründung und Erhaltung des Staates, die größte Bedeutung beigelegt. Das beweifen die Alteften Rechtsüberlieferungen und Weistümer ſowohl, ald auch der Umftand, daß die Germanen erft im reiferen Alter zur Ehe fchritten, wie Cäfar und Tacitu berichten. Bor dem zwanzigſten Jahre mit einem Weibe zu leben, galt für eine Schande; auch den Mädchen wurde Zeit zur vollen Entwicklung gelaflen. Die Sitte des fpäten Heiratens, die übrigens auch von NAriftotcles empfohlen wird, fcheint erft gegen das Ende des 13. Jahrhunderts abgelommen zu fein. Der Dichter der Dierrichsflucht erzählt, daß zu feines Helden Dietwert Zeit weder Mann noch Weib früher als mit dreißig Jahren Heiraten durften. Leider fei dies nicht mehr allgemeiner Brauch, und die Folgen zeigten fih an der Welt. Ganz ähnlich klagt faſt drei Jahr: hunderte fpäter Sobannes Murner in feinem Gedicht „eelih Stads nütz und beſchwerden.“

Daneben fehlt es natürlich nicht an Zeugniſſen für frühe Heiraten. ‘So wurde die heilige Elifabetb dem Landgrafen Ludwig von Thüringen befanntlic) ſchon mit dem vierten Jahre verlobt, und im „armen Heinrich“ Heiratet der kranke Nitter ein zwölfiähriges Mädchen. Andere Beifpiele aus Gefchichte und Dichtung laffen fich leicht finden. Ob in den alten Gewohnheitsrechten ein heiratsfähiges Alter feftgeicht war, fcheint mir weder aus dem Sacjenipiegel, nody andern Stammes- und Sonder: rechten mit Deutlichleit berborzugehen. Erft mit dem Einfluß des römifchen Rechts wurde faft allgemein da8 12. oder das 14. Lebensjahr angenommen.

Die urfprüngliche Form der germanifchen Chefchliegung war der Brautlauf, der, im Mundlauf zu milderer Form entwidelt, fich das ganze Mittelalter hindurch erhielt und in Perlobunge- und Hochzeitägebräuchen, vor allem in der rechtlichen Stellung der Frau, noch heute nachflingt. Unter Mundkauf verftand man ben Vertrag des Käuferd mit dem bisherigen Gewalthaber, Vater oder Bormund, gegen eine beftimmte Summe dad Kaufobjekt, die Jungfrau, in feine Gewalt zu geben. Um die Höhe des Preifes wurde in früherer Zeit gehandelt, wie das in verjchiedenen Volfsliedern erhalten if. So beißt es in einem fchlefifchen Liede: „Sind drei draußen, Frau Mutter!“ Frag’, was fie woll'n, meine Tochter.‘ „Einer will mich haben, Frau Mutter.” „Frag' wieviel Thaler, meine Tochter.‘ „Dreihundert Thaler, Frau Mutter.” ‚Das ift zu wenig, meine Tochter.‘ Der Freier geht bis auf 500 Thaler, und die Mutter ftimmt zu. Später begegnen wir bei den verſchiedenen bdeutfchen Stämmen überal feften Anfägen. Bei den falifchen Franken find es 62'/,, bei den Nipuariern 50, bei ben Nlemannen 40 Solidi. Ganz beſonders hoch aber ftanden die Jung: frauen bei den Sachſen und riefen im Preife. Hier wurde feine Frau unter 300 Solidi erworben.

Urfprünglich erhielt der Vater, reſp. der Vormund den Kaufpreis, der in der deutfchen Rechtöfprache den Namen „Wittum“ führt. Als aber die dos oder Mitgift üblich geworden, wurde er mit diefer vereinigt und als Witwenverforgung der Frau audgefegt. In ältefter Zeit ift von einer Mitgift noch feine Rede. Der Brautlauf verlangte feine andere Gegenleiftung, als die der Übergabe der Braut. Auch das

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48 Verlobung und Trauung.

Waffengejchenf, das nach Tacitus die Braut dem Manne zubrachte und das von ihm jo jchön als Sinnbild der gleichberechtigten Genoſſenſchaft gedeutet wird, ift nicht als Mitgift, jondern vielmehr als Zeichen der Gewalt zu betrachten, in bie ber Bräutigam durch Übergabe der VBormundichaft trat, und kraft derer er über Leben und Tod der Frau entjcheiden konnte. Diefe altgermanifche Auffaffung Hat fich vielleicht am längften auf den norbdfriefifchen Inſeln erhalten. Dort herrſchte bis in dad 17. Jahrhundert der Hochzeitsbrauch, daß die Braut unter einem über der Thür befeftigten Schwert in das Haus des Mannes eingehen mußte. Es wurde Ächtſwird (Eheichwert) genannt, und nad friefifchem Recht konnte der Mann im Fall eines Ehebruchs jeine Frau mit diefem Schwerte töten.

Der Verlobungdvertrag wurde ſtets vor Zeugen geſchloſſen und hatte bindende Giltigkeit, Jobald die Zahlung erfolgt, Tpäter die arrah, das Handgeld, gegeben und der Weinfauf oder das Lobelbier getrunken mar. Sn ältefter Zeit Hatte die zu verlobende Jungfrau feinerlei Einſpruchsrecht, erſt die fortichreitende Kultur des Chriſtentums räumte ihr die Konjenserflärung ein. Damit ſank auch der Mundfauf zu einem Scheinfauf herab, d. 5. der frühere Kaufpreis wurde thatlächlich nicht mehr gezahlt, aber die Braut empfing nun von den Bräutigam ſelbſt das Handgeld, einen Solidug und einen Denarius, einen Goldpfennig und einen Silberpfennig. Dieje Sitte ift fpäter in die kirchliche Trauung übergegangen. In Frankreich, wo bie firchliche Trauung früher als in Deutjchland Volksſitte geworden war, hielten wohl die Kirchen eigene Geldftüde, die von jedem Bräutigam jeder Braut gegeben wurden und die nad ftattgehabtem Gebrauch an die Kirche zurüdfielen. Dasjelbe war mit Trauringen in einigen jchleswig-holfteinifchen Kirchen der Fall, beftimmt ift es mir aus der Gejchichte der Kirche des Gutes Pronftorf bekannt. Friedberg!) giebt die Abbildung einer folchen Münze, die auf der einen Seite die Aufichrift führt: Tournois Denier, entiprechend dem alten Solidus et Denarius auf ber anderen: Pour Epouser. Erft am Ende ded Mittelalters finden wir das Geldſtück duch den Ring erjegt. Er ift fein deutſches Symbol, jondern wie die Sitte, bie Braut bei der Verlobung und Übergabe mit Kranz und Schleier zu fchmüden, aus Stalien eingeführt, und zwar follen die Töchter der vornehmen Nürnberger Patrizier: familien zuerft den Ring wie auch Kranz und Schleier getragen haben. Zu Luthers Beit war beides ſchon eingebürgert, denn er bedient fich in feinem Eheſtandsbüchlein wiederholt des Wortes Schleier in ſymboliſchem Sinne. „Das Weib fol den Schleier auffegen wegen der böfen Lüfte und die Sünden ded Mannes tragen in aller Geduld und Frömmigkeit.” Und der Trauringe erwähnt er in feinem ZTrauritual.

Der Verlobung folgte die Übergabe der Braut, die traditio, wovon unfer heutiges Wort Trauung abgeleitet if. Trauen kommt von tradere, d. b. auf Treue übergeben, daher ift noch bis in das 15. Sahrhundert nicht von einem Trauen beider Ehegatten, fondern nur von einem Trauen der Braut die Rede. Sie wurde dem Manne getraut, d. b. übergeben, und erhielt allein das Handgeld, den Ring. Diele Sitte bat ſich bis heute in England erhalten, und aus meiner fpeziellen Heimat, Ditmarfchen, weiß ich, daß Brautleute erft in neuefter Zeit Ringe austaufchen.

Die Übergabe oder Trauung gefchah durch den Vormund, d. 5. durch den Vater oder fonftigen Gewalthaber der Jungfrau. Diefer übertrug durch Hingabe der Sungfrau fein Mundium auf den Bräutigam, der eben dadurch von nun an ber Eheherr der rau wurde. Die Trauung ijt die Erfüllung der Verpflichtung, bie ber Vormund durch den Ehevertrag übernommen hatte. Der Befighingabe durch den Bormund entjprach die Beligergreifung jeiten® des Bräutigamd. Er trat, wie das noch Heute in Schweden vorfommen fol, der Braut auf den Fuß zum fichtbaren Beichen feiner Herrichaft über fie.

In älterer Zeit wie im früheren Mittelalter fiel die Eheſchließung jeher oft mit der Verlobung zuſammen. ch erinnere an Kaifer Heinrich® Heirat mit Mechthild. Jedenfalls follte zwijchen Verlobung und Trauung grundlos Fein längerer Zeitraum

ı) Friedberg, Das Recht der Chefchliehung in feiner geichichtlichen Entwidlung. Leipzig, 1865,

Berlobung und Trauung. 40

als zwei Jahre, nach frieſiſchem Brauch nicht mehr als zwölf Monate, nach ben erften Kirchenordnungen nur 6 Wochen verftreihen, wie denn Theubebert, der Entel Shlodwigs, den Unwillen fämtlicher Franken erregte, weil er im fechften Jahre feiner Verlobung noch mit der Vermaͤhlung zögerte.

Daß fi) an die Übergabe der Braut viele Symbole und Gebräuche fnüpften, ift felbftverftändlich. Ausführliche Beichreibungen finden wir in vielen Gedichten des Mittelalters, und über die Hochzeitsgebräuche der Marjen und Friefen werden wir in Neocorus Geſchichte Ditmarfchens unterrichtet. Ein Haupterfordernis war die Offent⸗ lichkeit der Eheſchliezung, die auch ſchon aus dem Grunde gefucht wurde, weil eine wenig befannte oder heimliche Ehe annulliert werden und jedenfalls den Kindern bie Groberechtigung abgefprochen werden konnte. In den Gedichten bed Mittelalter wird ſtets der „Ring“ erwähnt, in welchem die Ehe geichloffen wurde. Pipin machte dieſe Dffentlichfeit jogar zu einer gefeglichen Verordnung.

Beiebberg u. Som!) teilen eine ſchwäbiſche Verlobungsformel aus dem 12. und eine Kolniſche aus dem 14. Jahrhundert mit. Anfchaulicher ift der Eheritus in Heintih von Fribergs „Triftan“ und Wernhers „Meier Helmbrecht“ vorgeführt. Dort fehildert der Dichter, wie ein Biſchof zur Weihe unter die Tanzenden tritt, hier die Laienfopulation des Raubers Lammerſchling mit dem Bauernmädchen Gotelinde:

„Ein Greis erhob ſich aus der Mitte,

Der war befannt mit Braub und Eitte, Und war in Reden Hug und weile,

Er hieß fie ftehn in einem Kreife

Und fprad} zu Sämmerfhling: „Wenn Ahr Wollt Jungfrau Gotelinde hier

Zum Chetoeib, fo ſprechet: ja!" „Gerne,“ ſprach ber Knappe da.

Zum zweiten Wale fragt er fo:

Ich nehme,“ ſprach der Knappe frob. Zum dritten Mal fprach er das Wort: Rehmt Ihr fie gern?" Der Knapp’ fofort: Bei meiner Seele, meinem Yeib,

ch nehme gerne fie zum Weib!“

Da fprad zu Gotelinden er:

„Nun faget mir, ift Euer Begehr,

Zu nehmen Yämmerichling zum Wann?" „Ja, fo es Gott läßt gehen an!" „Nehmt Ihr ihm gern?“ ſprach wicher er. „Ja, Herr, gewiß; gebt ihn mir her!” Zum dritten: „Lämmerfchling wollt Ihr?“ „Gern Herre; doch num gebt ihm mir.” Da hat er Gotelind fürs veben

Tem Lämmerfhling zum Weib gegeben Und gab den Yämmerfchling fodann

Ter Gotelind zum Ehemann,

Sie fangen noch den vochzeitsgruß

Und er trat ihr auf den Zuß.”

Eine kirchliche Eheſchließung als Perfektiongmittel gab es bis in bad 13. und 14. Jahrhundert nicht. Wohl hatten ſchon die Kirchenväter auf die Heiligkeit der Ehe bingewiefen und die Geiftlichen des Mittelalter3 e3 nicht an Verordnungen und Ermahnungen fehlen laſſen. Allein Prof. Sohm fcheint hier im Gegenfag zu Friedberg richtig zu folgern, wenn er fagt, daß die Trauung erft durch eine weltliche Über: gangsform zur firchlichen werden konnte. Sie ward durch den Untergang der Geſchlechtsvormundſchafi herbeigeführt. Mit Eintritt der perſönlichen Selbjtändigfeit der Frau mußte, wie an Stelle der Verlobung dur den Vormund die Gelbft- verlobung, fo an Stelle der Trauung dur den Vormund die Selbfttrauung treten. Die Braut traut fich felbft dem Bräutigam, d. h. fie giebt ſich durch ihren eignen

1) Sohm: Daß Recht der Ehefchliehung aus dem Deutihen und Kanoniſchen Recht geſchichtlich entwidelt. Weimar 1875.

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Berlobung und Trauung. 51

Dekret forderte bie firchlihe Trauung mit dem Zuſatz, daß jede nicht Firchlich gefchloffene Che ungiltig, bezw. ala Konkubinat zu achten fei. Außerdem wurden die kirchlichen Aufgebote und die regelrechte Führung don Trauregiftern verordnet. Bis dahin ‚waren in Deutfchland Trauregifter überhaupt nicht und Tauf- und Sterbeliften nur zufälig und ganz unregelmäßig geführt worden, wogegen das Führen von Kirchen- büchern in Frankreich ſchon feit dem 14. Jahrhundert üblich gewefen fein fol.

Die Ehereform des Tribentinums wurde von der proteftantifchen Kirche nicht anerkannt, und die vielumfirittenen Begriffe der sponsalia de praesenti und de futuro blieben noch lange ein Stein des Anftoßes für die evangelifche Geiftlichkeit. Luther hielt die Che für eine weltliche Inftitution. „Zum andern,” beißt es in feinen Tiſchreden vom Eheftande !), „fo gehet die Ehe die Kirche nichts an, ift außer derſelben, ein zeitlich, weltlih Ding, darum gehöret fie vor bie Dbrigfeit-" Und er begnügte fih nicht damit, neben der firchlichen Seite der Ehe eine weltliche anzuerfennen, wie das ſchon im Mittelalter von den Scholaftifern geichehen war, fondern er verlangte vor allen Dingen, daß die Eingehung der Ehe den von ber Obrigkeit erlaffenen bürgerlichen Beſtimmungen unterliege, er wollte die Chegerichtöbarkeit dem Staate tiberlaffen und die Ehegefeggebung von der Dbrigfeit ausgeübt willen.

Andererfeitd aber nannte er die Ehe auch den fürnehmften geifllichen Stand, wie denn feine Auslaffungen über diefen Gegenftand ziemlich widerſpruchsvoli ericheinen und die Eheſachen ihm viel zu denken und zu fchaffen machten. „Diefe Händel ftehlen und heimlich die Zeit zu fludieren, zu lefen, zu predigen, zu fchreiben und zu beten,“ Magt er einmal in den Tifchreden. Daß er nur durch copula carnalis geſchloſſene Ehen für giltig erachtete, ift bekannt. Auch erflärte er DVerlöbniffe, feloft ohne Ein: willigung der Eltern, für volle Ehen, was zu vielen Verwirrungen Anlaß gab. Allerdingd waren Derlöbniffe nach deutfchrechtlihem Begriff immer bindend, aber dennoch löslich geivefen, wenn der Verlobte die erforderliche Buße für Verlöbnisbruch an den Mundwalt zahlte, während die Braut, fo lange fie nicht eigentlich Kontra⸗ hentin war, ſich nicht einfeitig zurüdziehen fonnte. Cie war dem Bräutigam Treue ſchuldig und wurde nah burgundifchem, longobardiſchem und weſtgotiſchem Recht im Fall gefchlechtlihen Umganges mit dritten gleih einer Ehebrecherin beftraft.?) Und nod Heinrich der Achte konnte beifpielsweife feine Ehen mit Anna Boleyn und Anua von Cleve für nichtig erflären, weil beide precontracts, d. 5. frühere Verlöbniſſe mit andern eingegangen waren.

Die bindende Macht des Verlöbniffes fcheint ſich bis in das 17. und 18. Jahr: hundert hinein erhalten zu Haben, und zwar nach der veränderten rechtlichen Stellung der Frau nicht einfeitig zu Gunften des Mannes. So fand ich (bei den Nach— forſchungen zu einer Gedichte der Staller in Eiderftedt) im Staatsarchiv zu Schleawig einen ganz intereffanten Fall aus dem Ende des 17. Jahrhunderts. Die als Dichterin und David-Joritin bekannte Nordfriefin Anna Owens verlobte fih, kaum ſechzehnjahrig, mit Harmen Hoyer, Staller oder Statthalter von Eiderftedt, der aber vor ihr einer andern die Ehe veriproden hatte. Nach feinem Verlöbnis mit Anna Dwens Hagte die Mutter der erften Braut bei dem Herzog von Gottorp, und Johann Adolf befahl Anna Owens, von der Heirat abzuftehen, bis die Sache geordnet fei. Dies geſchah auf gütlihem Wege, da die Verlaffene fih anderweitig tröftete. Die Mutter berichtete diefe Veränderung pflichtichuldigft an den Herzog: „Weil aber nun Harmen Hoyer fein Herz und fein Gemüte, welches ich zwar nicht gehoffet, von feiner lieben Tochter ganz und gar abgeivandt, ift meine Tochter hierdurch auch bewogen und bat ihr Herz wiederumb von ihm abgelehret und Gott dem Almächtigen beimgeftellet,“ worauf der Herzog den Konfens zur Ehefchließung des Stallerd mit Anna Dwens gab.)

Ich zitiere nach der Reclamausgabe von Friedrich von Schmibt. 2) Schröder, Lehrbuch der deutfchen Kechtsgeicichte. Leipzig 1889. ») Dimend-Aten. Staatsarchiv zu Schlestwig. 1

Verlobung und Trauung. 53

€. Quandt, dad die Danziger Reformationsbewegung ſchildert, ift dad meifte Gewicht auf das Lobelbier, d. h. das Verlöbnis des Predigerd mit einer Bürgerstochter, gelegt.

Eine wichtige Quelle für das Necht der Cheichließung find die Kirchenordnungen, von benen Friebberg eine ganze Reihe zufammengeftellt hat. ALS göttliches Gebot wird die firhlihe Trauung aud hier nirgends dargeftelt, und wenn auch viele Kirchenordnungen ihre Beftimmungen an die befannte Genefisftele anfnüpfen, an bie Zufammenfprehung und Benediktion Adams und Evad durch Gott felbft int Paradiefe, jo dient das höchftend dazu, um, juriftifch ausgedrüdt, einen göttlichen Präzedenzfall der Trauung anzuführen, und zur Ermahnung an die Nupturienten, ihre Ehe als von Gott jelbft geftiftet und daher unauflöglich zu betrachten. Diefe Ideen wurden in da8 17. Jahrhundert binübergenomnten und find für einen Teil desfelben als bie geltenden anzujehen, denn noch immer ftelten Rechtsgutachten und ehrengerichtliche Urteile die kirchliche Eheſchließung nicht als notwendige Bebingung einer rehtägiltigen, verpflichtenden Ehe auf. Erſt in der zweiten Hälfte des 17. und am Anfang des 18. Jahrhunderts iſt der kirchlichen Trauung der Charakter der abjoluten Notwendigkeit in Deutfchland durchweg beigelegt worden, den man fälfchlich feit der Reformation oder gar feit der Zeit der erſien chriftlichen Kirche angenommen hat.!)

Und nicht lange follte ſich die Kirche des fpät errungenen Rechte freuen. Die frangöfifche Revolution, die im Sturmwind neue Ideen unter die Völfer brachte, war aud für die Entwidiung der Eheichließung bedeutfam. Der Code civil gab Frankreich die Zivilehe, die feine der verfchiedenen Dpnaftien, die nacheinander das Land beherrfchten, abzufchaffen für gut befunden hat. Nicht einmal der der Kirche fo geneigte Karl X., wenngleich die Petitionen der Geiftlichkeit ihn unabläffig dazu aufforderten. Die Zivilehe war überhaupt Feine neue Einrichtung. Genau genommen forderte der Staat feine der Kirche überlaffenen Rechte zurüd, und bereit3 zur Zeit der NRationaliften waren Stimmen für eine ſolche Regelung der Ehedoftrin laut geworden. In England hatte Cromwell Ziviltrauung eingeführt, die aber nad) fieben- jährigem Beftehen von Karl II. aufgehoben wurde. Auch das Chepatent Joſephs II. vom Jahre 1783 war ein Zivileheprojeft, das auch feine Nachfolger beichäftigte, aber 1850 verworfen wurde. In den Niederlanden ift feit den Tagen der franzöfiichen Oberherrſchaft die Zivilehe obligatorifch geblieben, in Ztalien ift fie 1866 eingeführt, in Deutfchland 1875.) Einige europäifche Länder find vorangegangen, andere gefolgt, wenige zurüdgeblieben.

So haben mehr als dreihundert Jahre die Rulturvölfer Europas einen guten Teil ihrer gefeggeberiichen Thätigkeit auf die Regelung der Eheſchließung verwendet, und ſchwer nur hatte die firhliche Trauung den ftarren Sinn der Völker beziwungen. Aber fie hatte dabei um jo tiefere Wurzeln gefchlagen, und groß waren Schreden und Entfegen, al in den preußifchen Maigelegen vom Sabre 1873 die Zivilehe proflamiert wurde. Wie alles und jedes in Deutſchland rief das Für und Wider eine ganze Litteratur hervor, und die Prediger entwidelten von der Kanzel herab ihre Meinungen und Anfihten. Die hochgehenden Wogen haben fi verhältnismäßig fchnell gelegt, denn die Zivilehe bat bei unfren verwidelteren und ſchwierigeren Kultur: verhältniften fih als gut und nützlich erwieſen. Und fie war feine gewaltfame Neuerung, fondern die Folge der langſamen Entwidlung des ftaatlihen und kirchlichen Lebens, Fein Eingriff in die religidjen Bedürfniſſe und Nechte des Volkes, fondern eine humane Befreiung vom Herzens: und Gewiſſenszwange. Wer in echt chriftlichem Sinne die kirchliche Weihe wünfcht, kann und wird fie nach wie vor einholen; wen die einfachere Form der Ziviltrauung genügt, ber ift gefeglich und ſtaatlich geichügt.

) Auch die Führung des Namens des Mannes ſcheint erft Ende des ſiebzebnten und Anfang des achtzehnten Jahrhunderts in Deutſchland üblich geworben zu fein, wie es in Tänemart, Schweben und Rortvegen bis zum heutigen Tage nur Hecht, nicht Pflicht ift.

2) In Dänemark, Schweden und Norwegen gilt die bürgerlihe Trauung nur für gemiſchte Eben.

—E

Raqhdruc mit Quellenangabe erlaußt.

* Der Bund deutſcher Frauenvereine hält vom 2. Generalverſammlung in Treöben. der Delegierten find an den Vormittagen des 28., 29, 30. September, fowie bes 1. CHober. Sie dienen ber Erledigung ber Geſchäftsberichte des

Bundes und der Kommiifionen, ſowie der Beratung ;

und Beſchlußfaſſung über die geftellten Anträge. Diefe betreffen zum großen Teil Fragen ber

Irganifation und ber Geſchäftsordnung. Als auf | die Arbeit des Bundes bezüglich find folgende ;

Anträge bemertendmwert:

Anträge des Borftandes auf Einreichung einer Petition um Schutz gegen veneriſche Krankheiten «(mit Borlegung eined Entwurfes), auf Einreihung einer Petition, betrefiend ben internationalen Rädchenhandel.

Antrag des Dresdner Rehtsfhugvereins für Frauen, unterftügt von 12 Vereinen: „Der Bund wolle in eine umfaffende Agitation für eine moglichſt allgemeine Einführung von Che: verträgen bei Eheichließungen eintreten.”

Antrag desſelben Vereins, unterftügt von Vereinen: „Auf ein gemeinfames Vorgehen be: yügfi) des internationalen Mädeienhandeld in ber von Dr. Fuld im GCentralblatt Nr. 17, 1899, vor: geichlagenen Form."

Antrag der Hamburger Ortögruppe des Allgemeinen Deutfben Frauenvercins, unterftügt von 5 Vereinen, im felben Sinne: „Der Bund der Frauenvereine wolle befchlichen, folgende Petitionen an die Reichsregierung zu richten: Die verbündeten Regierungen werben gebeten, eine Konferenz zum Zwecke ber Bekämpfung des inter nationalen Viadchenhandels zu berufen.”

Antrag des Vereins Frauenwohl-Berlin: „Der Bundesvorftand möge beim Beginn ber Reichötagafeffion bed Winters 19U0-1401 wiederum eine Petition im Namen ber Bunbeövereine cin: reichen, betreffend die einheitliche Geftaltung des deutfeben Vereind: und Berjammlungsrerhtes und die diesbezůgliche (Gleichftellung ber Frauen mit ihren männlichen Voltsgenoſſen.“

Anden Nachmittagen finden folgende Rommilfions:

figungen fatt:

September bis zum 2. Oftober feine : Die Sigungen '

Freitag, den 28. September, von 3 bis:

6 Uhr. der Sittlichteit. Vicber: Böhm.

3 5i6 Y5 Uhr. Vorl: rau

a) Sigung der Kommiſſion für Hebung ,

b) Sigung der Kommiffien für

Mäßigteitöbeftrebungen. ',5 bis 6 Uhr. Xorf.: Fräulein Ottilie Hoffmann. Sonnabend, den 29. September, von

3 bis 6 Uhr. a) Cipung der Kommiffion für Erwerbötbätigleit der Frauen. 3 bis Y,5 Uhr. Vorſ.: Frau Eliſabeth Kaſelowsky. 1) Sigung der Kommiffion für Sandelsangeftellte. 1,5 bis 6 Uhr. Vorſ; Fräulein Ita Freudenberg.

Montag, den 1. Cftober, von 3 Bid 6 Uhr. a) Sigung der Kommiſſion für Rinderihut. 3 bis Y.5 Uhr. Vorſ.: Frau Helene von Forſter. b) SEibung der Kommiſſion für Arbeiterinnenſchutz. 5 bis # Ubr. Vorf rau Anna Simfon.

Dienstag. ben 2. Dftober, von 9 bis . 8) Sigung ber Kechtätommiifien. 9 bie

EU Frau Marie Stritt. vy Sitzung der Kommiſſion für Erziehungsweſen. Ni bis 12 Uhr. Vorſ.: Frau Henrietie Goldſchmidt.

Wit der Generalverſammlung find öffentliche Verfammlungen verbunden, in denen nachfolgende Vorträge gehalten werben:

Freitag, den 28. September, abends Allbr: 1. Vortrag von Frau Marie Stritt:Tresden: Aufgaben, Ziele und biöherige Entwidelung des Bundes deuticher Frauenvereine. 2. Vortrag von Fräulein Dr. jur. Rarie Rafhte-Berlin: Selbfthiffe.

Sonnabend, ben 29 September, abends 8 Uhr. 1. Xortrag von Fräulein Alice Salomon: Berlin: Üffentliher und privater Arbeiterinnen: Vortrag von Fräulein Ita Freudenberg Vüngen: Tie Frau als Arbeitgeberin. 3. Vortrag von rau Hanna Bieber Böhm Berlin: Der fitt: lie Schuß der Arbeiterin durd das Gefeh.

Montag, ben 1. Dftober, abends 8 Uhr. 1. ortrag von Fräulein Gertrud Yäumer:Berlin: Frauenbildung und Zeitforderungen. Vortrag von Fräulein Natalie von Milde:Weimar: Gegen: wart und Zukunft der Familie.

Wie man fieht, ift ein umfangreiches Programm für die Verſammlung vorgefehen. Die befriedigende Erledigung wird abhängen von ber Art, wie die Arbeit angefaßt wird. Wir möchten da auf einen Artitel binweifen, den die derzeitige gefchäftsführende Vorſihende ded Bundes, rau Marie Stritt: Dresden, in Nummer IL des Gentralblatts des Bundes deutſcher Frauenvereine veröffentlicht hat unter bem Titel „Rabital und gemäßigt.” Im ihren fehr treffenden Ausführungen weift fie darauf hin, daß der in biefen beiden Schlagworten nieder:

Frauenleben und «Streben.

reiten. Cs muß bemerkt werden, bak auch bie: jenigen Berichte, die einer Fernhaltung der Haus: frau von ber Fabrikarbeit nicht abgeneigt find, die Verwirtlichung der tiefeinfchneidenden Maßregel von Vorbedingungen abhängig machen wollen, deren Erfüllung zum Zeil niemald zu erreichen fein wird. Weniger bebentlih in der Rücwirkung auf bie wirtſchaftliche und foziale Yage der Arbeiterfamilien wäre bie gefepliche Verkürzung der Arbeitözeiten für die Hauöfrauen, um ihnen für die Beſorgung ibres Hausweſens mehr Zeit zu gewähren. Tie Berichte der Gewerbeauffihtäbeamten laſſen daher diefer Anregung zumeift eine wohlwoliende Be: urteilung zu teil werden, heben aber auch hervor, daß bie jFrauen, von Ausnahmen vieleicht ab geſehen, zweifellos dadurch eine Einbuße erleiden würden. Denn nicht nur, daß ihr Werdienft ſich verringern würde, fie könnten aud Gefahr laufen, aus ihren Stellungen gebrängt zu werben; denn im Intereſſe des einheitlichen Betriebes in den Fabriten würden die ledigen Arbeiterinnen, für welche die Normalarbeitäjeit gilt, vor den im Wefeh begünftigten Frauen bevorzugt werden. für unfere Fabritarbeiterverhältnifje ift ferner bezeich nend, dab in mehreren Berichten von einer eingefchräntten riwerbömöglichleit verheirateter Arbeiterinnen eine Vermehrung des Kontubinats befürchtet wird. Viele Ehen, die ven vornberein mit Rechnung auf die Mitarbeit und den Berbienft der Ehefrau gefchloffen werben, würden unterbleiben, wenn ber Berbeirateten ein Erwerb abgeichnitten wirb, ber ber Unverheirateten offen fteht.

Die Gutachten beweifen, ein tie ſchwer zu Töfendeö Problem die Arbeiterinnenfchuß:(Yefeggebung in jeder Beziehung barftellt. Um fo mehr iſt es zu wünſchen daß feine xöfung ohne Deranzichung aller Beteiligten, vor allem eben der Frauen jelbft, verfucht wird.

* Der 8. Bundestag deutſcher Gaftwirte, der kürzlich in Heidelberg ftattfand, hat eine Petition in Sachen des Arbeiterinnenfhuges beſchloſſen. Tas Rätſel, wie die Fyabritarbeiterin zu dem freundlichen Intereffe der Gaftwirte kommt, Löft fi leicht. Man erwartet, durch eine Befhräntung der weiblichen Arbeit in Fabriten mehr Kräfte für den Haudhalt frei zu befommen. So beſchloß ber Bundestag mit dem Deutſchen Gaftwirteverband und dem Bund der Landwirte, dem Reichstag eine Petition einzureichen, wonach Mädchen unter 17 querſt war fogar vorgeichlagen unter 18) Jahren in Fabrikbetrieben nicht befchäftigt werben dürfen.

* Der Arbeitöuachweis für Frauen, ind-

befondere für weibliche Dieuſtboten, ift der Titel |

eined in mancher Sinficht bemerkenswerten Artitels von Hermann Frey-Wiesbaden in Wr. 48 ber „Sozialen Braris”. Der Arbeitenachmweis in Wiesbaden, den der Referent organifiert bat und leitet, arbeitet mit einer befonderen frauen: tommiffion, der die Auffiht über die Abteilung für Frauen übertragen ift. Ter Referent ficht in diefer Einrichtung, die feitben nur nod) in München

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eingeführt ift, eine weſentliche Urſache dafür, daß der Wiesbadener Arbeitsnachweis für Frauen im Verhältnis zur Einwohnerzahl mit feinen Refultaten an der Spitze aller andern im beutichen Reiche fteht.

* Frauen in den Schulauffichtsbehörden Englands. Im Jahre 1895 enthielt der Bericht ber englifhen Rohal Commiſſion für das höhere uUnterrichisweſen ben Paflus: „Wir find der An fit, daß auch Frauen in die Auffichtsbehörben für den höheren Unterricht wählbar jein müßten, da die Erfahrung Ichrt, daß die Antereflen der Mädchen bisher nicht felten ungenügende Berüd- fihtigung erfahren haben. Wenn aber nicht be: fondere Vorkehrungen dafür getroffen werden, ift es immerbin fraglich, ob eine hinreichende Anzahl von rauen in dies Amt gewählt werben bürften, während wir es doch für durdaus erſtrebensweri halten, daß eine beftimmte Anzahl der Mitglieder biefer Körperfpaften Frauen wären" Thatfächlich find denn auch jeitbem nur verhältnismäßig wenige Frauen dafür gewählt worden, namentlich wo es fib um das technifche Unterrichtsweſen handelte. So bat fi denn neuerdingd in London ein Executive Committee gebildet, das biefem Übel: ftande abbelfen und die für dringend nötig erfannte Beteiligung der frauen an biefer wichtigen Auf- gabe wirklich herbeiführen will. Das neugegründete Komitee verjuht in erfter Yinie, die zur Erreichung feines Zweckes nötigen Geldmittel flüſſig au machen.

* Der Congres International de la Con- dition et des Droits des Femmes tagte vom bi® 8. September im Palais des Congres in Paris. Tie Gröffnungsrede eine Programın: rede für die Nictung der franzöfifden ‚frauen: beivenung, deren Wünfche dieſer Kongreß zum Ausdrud bringen folte bielt die Leiterin Maria Rognon. Der (efichtspuntt, unter dem fie die

; Frauenfrage betrachtet, ift fogialiftifch: (erechte

Xerteilung bes Gewinns aus (Grund und Boden und \nduftrie, ein gerechter Entgelt für bie per: ſonliche Arbeit und Zerbütung der Arbeitslofigteit ift die Aufgabe, an der Männer und rauen mit volltommen gleichen Rechten und Pflihten zu arbeiten baben. Aus dielem Grunde fordert fie das politiihe Stimmredt für die rauen, eine

| beffere privatrecptliche Stellung, gleiche Biltunge.

gelegenbeiten mit ben Männern. \mmer wird betont, daß bie Frau unter volllommen gleiche Arbeitsbebingungen zu ftellen jei wie ber Mann. Dementiprecbend fiel auch troß heftiger Debatte die Rejolution aus, die die Verſammlung im Anfhluß an den zweiten Vortrag von Marie Bonnevial, „Öleihheit der Entlohnung”, faßte. Die Rednerin forderte Ernennung von Fabrik. inipettorinnen zur Veauffihtigung der Frauen und Rinberarbeit durch ein ‚srauenfomitee, Ver. türzung der Arbeitözeit, uneingefchränttes Koalitionv- recht für weibliche und männliche Arbeiter, Gleich: beit der Entlohnung bei gleicher Yeiltung, und bie

Der Berein „Ftauenwohl“ Jena bat vor kurzem einen Bericht über die von ihm begründete „Sauöpflege“ veröffentlicht. Sie ift nad dem Muſter der in Frankfurt, Berlin und Gotha bereits beftehenben Beranftaltungen begründet worden und verfolgt den gleichen Zweck wie diefe, nämlich die Entfendung einer Aushülfe in ſolche Haus bhaltungen, in denen die Hausfrau verhindert i ihren Pflichten nachzulommen. Die Hauspilege wird Armen unentgeltlich geleiftet, von beſſer Geſtellten wird ein Meiner Beitrag erhoben. Es wurden im Wefchäftsjahr 1898/1899 87 Pflegen geleiftet, die qufammen 317 ganze, 87 halbe Nflegetage und 7 Nächte umfaßten. Ter Gemeinderat der Stadt Jena unterftügt dad Unternehmen durch einen jährlichen Zufhuß von 300 Marl. Der Borftand der Abteilung „Daußpflege“ beftcht aus folgenden Damen: Fran A. Neugeboren, Fräulein. Adermann, Frau Dr. Türk, Fräulein Snel und Frau Zmweg.

Der Berein „Fraueuwohl“, Adnigsberg i. Pr., (Porfigende: Frau Pauline Bohn) veröffentlichte feinen zehnten Jahreöbericht. Vefriedigung auf die Ehrung hinweifen, die dem Xerein durb die Verwaltung der Stadt anläklich der 20. Generalverfammlung des Allgemeinen Deutfchen Frauenvereind zu teil wurde. Ein

Er konnte darin mit ,

am Schluß bes Frauentages gehaltener Vortrag '

ven Fräulein Nice Salomon aus Berlin gab Peranlaffung zur Erweiterung des biöherigen Arbeitsgebietes des Vereins durch die Gründung fogiafer Hilfsgruppen. Cbenfo find infolge der (eneralverfammlung bie Befugnifie der aifen- pflegerinnen erweitert worden. Cs wurde cine Kommiifton vom Vorſtand eingefept zur Zorbe: reitung einer Kod: und Haushaltungöſchule für Frauen und Mädchen aller Stände. Tie vom Königsberger Yehrerinnenverein und vom Verein Frauenwohl begründeten Ghmnafialturfe wurden von 7 Bollichülerinnen und 7 Teilfchülerinnen befucht. Die Handelsfchranftalt und bie haus: wirtſchaftliche Fortbildungsſchule erfreuten ſich eines regen Beſuchs. Beſonders wichtig erſcheint die Thätigleit der Nechtöfepugfonmifften. Es wurde 172 Perfonen in 177 Rechtsangelegenheiten Nat erteilt,

Die ſchweizeriſche Pflegerinnenſchule mit Branenfpital

in Zurich hat ihren dritten Bericht herausgegeben. Danach ift die Vorbereitung zu der großen vom Verein geplanten Organifation im beiten (ange. Exemplare des Berichte, der ſchon über die zu: fünftigen Ginritungen in mancherlei Beziehung orientiert, werden durch die Vorſitzende, Zr. Dr. ned. A. Heer, Untere Zäune 17, Zürich 1, verfandt.

ui

Bücherſchau.

„generbiumen“, Roman von Adolf Wil: brandt. (Stuttgart, 1900. Verlag der I. ©. Cottaſchen Buchh. Nachf.) In der langen Reibe der Wilbrandtſchen Romane nimmt „Feuerblumen“ eine hervorragende Stellung ei Leiſtungen iſt's auf diefem Gebiet. „ieuerblumen“, dad find nad) Wilbrandt® Aamengebung die Menſchen, die in holdem Genießen und unthätigem Zuſchauen ihr Leben hinbringen Untraut ben einen, fchönfter Schmud im Wenfchpeitägarten den andern. Und wieder eriveift fi) Wilbrandtö neuer Roman als Erzichungsroman. Die Erzichung einer

eine feiner beften ,

folchen „geuerblume” gilt es, oder um das Bild ,

zu wahren, ihre Veredelung zu reichem, thätigen, bilfeträftigem Wenfhentum. Und diefe Erziehung gelehicht durch eine Frau. Wie in all feinen

Romanen hat Wilbrandt aud in „seuerblumen“ ,

fein Menfcpheitsibeal geftaltet, diesmal in der Per:

; im reicher Bildung in Chriftgläubigteit und

frommen ®ertrauen in die göttliche yügung auch Ein junger Mann wird durch diele Frau erzogen; Xiebe eint die beiden, die feeliih zueinander ge: bören und ſich doch nicht angehören dürfen; Yeiden: ſchaftsirren bleiben feinerfeit® nicht aus. Tann aber, nach ihrem Tode, findet er die Wege, die fie ihm Icbend vworgezeichnet hatte. Er findet feinen Frieden. An eine Sdhlle fpinnt er ſich ein, und ein Sonderlingsleben ift's, das er führt; aber zu: gleich cin Yeben des ftarten Wirken® im engen Areife und der Vethätigung des Adcals, das jic ihm lebte. Man findet den ganzen Wilbrandt in feinem neuen Roman. Ban mag es tadeln, daß feine neue Arbeit allzufchr die wohlbefannten Züge trägt, allgufehr in oft von ikım felbft befahrenen Geleiien fich bewegt. Aber wer ihm lieb hat, der wird fih freuen, ihn fo wieder:

fönfichkeit jener Frau; ein Ideal in Thatlraft und ! zufinden.

Die vierte Generafverfammlung bed Bundes beutfcher Frauenvereine. 6

Konferenzen üblichen Formalitäten auf ein Mindeftmaß befchränft. Die unumgänglichen Formalitäten aber wurden raſch und ohne viele gutgemeinte, jedoch überflüffige Worte erledigt. Auch die feltenen und ftet3 ſehr furzen Debatten zur Geſchäftsordnung befundeten, wie Mar die Genoffinnen ſich der Notwendigkeit bewußt find, Zeit für die Tagedorbnung zu getvinnen, aber auch, welche Gewandtheit und Disziplin fie für die Verhandlungen mitbrachten.”

Von Fräulein Augspurg fonnte ungefähr das Gegenteil gefagt werden. Sadli Hatte fie nicht? von befonderer Bedeutung beizubringen; in bezug auf rein Formales aber, das von ihr mit ungeheurer Wichtigkeit behandelt wurde, Gefchäftsordnung, Neubildungen innerhalb der Drganifation des Bundes, die erft in Hamburg eingehend revidiert worden war und in bezug auf ihre Leiftungsfähigfeit in der kurzen Gefchäftöperiode noch faum erprobt fein konnte, erwies fie fih als Dauerrebnerin. Geſchaftsordnungsmäßig mar dagegen nichts zu machen. Wenn jemand die Unverzagtheit befigt, zu jeder Frage, er mag viel davon verftehen oder wenig, zu ſprechen und die feftgefegten „zweimal zu jedem Gegenftand“ dahin aus: zunügen, daß möglihft zu einem halben Dugend Amendements, dann wieder zur Geſchaftsordnung, zur Richtigftellung und zu einer perfönlichen Bemerkung das Wort ergriffen wird, fo kann eine Gefcäftsordnung feine Handhabe dagegen bieten. Denn jede Geſchaftsordnung ift unter der Vorausfegung gemacht, daß man es mit Leuten zu thun hat, bie eine gemeinfame Arbeit wirklich wünſchen. Daß fie im Dienfte von Parteiintereffen zur Obftruftion gemißbraucht werden kann, zeigt die Praxis der Parlamente oft genug. Und der Parlamentarismus, wie er ſich räufpert und wie er fpudt, ftachelte den Ehrgeiz der „Partei“ zu fast kindlichen Leiftungen auf. Denn kindlich muß man es nennen, wenn in einer Frauenverfammlung, die ernfter Arbeit beftimmt ift, eine Anzahl von Teilnehmerinnen fich in aller Morgenfrühe die linken Pläge zu fihern fucht, wenn mit Dho! und Hört, hört! die Debatten begleitet werben, wenn alle formalen Angelegenheiten mit dem tödlichften Ernft und einer ſtlaviſchen Nach- ahmung parlamentarifcher Bräuche vollzogen werden, bie einen modernen Ariftophanes zu neuen Efflefiazufen begeiftern könnten. Denn es trat nicht nur der den Griechen allerdingd noch nicht bekannte Parlamentsfoler charakteriftiiih hervor fo harakterifliih, daß eine anweſende feinfinnige Vertreterin der Frauenbewegung die Hußerung that: Wenn das fo weiter geht, fo bekommen wir aud) in der Frauen: bewegung den ganz fommunen Parlamentarismus von heute, bei dem es einfach heißt: „Dichäuter vor!” fondern aud die fachliche Aufjaffung erinnerte an dad Rezept der Efklefiazufenweisheit:

Nun fäume nicht länger und mad’ Did) ans Werk und erörtre die neuen Ideen.

Wenn nur eilig es geht, dad erfreut fie zumeift und gewinnt Dir den Beifall der Menge. und:

PERF von Regierungdmagimen erjcheint uns

Nur die eine: „Das Neufte, das Beſte“ probat; alles Alte verachten wir gründlich.

Und diefe Regierungsmagime ließ die Stellung der „Neuen“ und der „Alten“ im Lichte der finnigen Unterfcheidung „von Vereinen, die den Bund fügen und folchen, die von ihm geftügt werden” erfcheinen, ein Vergleich, der, wenn nichts weiteres, fo doch die naive Zufriedenheit mit ſich ſelbſt befundete.

Parlamentarifche Formen find nötig und nüglih, mie ein gutes Statut und eine gute Geihäftsordnung nötig und nützlich find. Aber daf bei einem fehlechten

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Die vierte Generalverfammlung bed Bundes beutfcher Frauenvereine. *

werfen zu laſſen, wie der Bund durch den Antrag Liſchnewska, ein Beweis dafür, daß man in jenem Lager das Wertverhältnis von Arbeit und Nefolutionen anders abichägt.

Die einzige ganz entfprechende Antwort auf die Erwägungen im fozialiftiichen Lager hätte wohl in einem ruhigen vermehrten Entgegenfonmen von Vertreterinnen der Frauenbewegung, in ber fozialen That, gelegen. Diefe Empfindung teilten viele der Delegierten. Und daß man gerade diefen Weg zu beichreiten gewillt if, das bewies die Annahme des Gegenantragd Lange: Freudenberg, der biefen Weg betont und damit weit über das afademifche „wünfchenswert” hinausgeht. „Die vierte Generalverfammlung des Bundes beutfcher Frauenvereine erfennt bie Wichtigfeit einer Verfländigung zwifchen den Vertreterinnen der Frauenbewegung und der Arbeiterinnenbewegung an und empfiehlt, die Möglichkeit einer Verfländigung auf gemeinfamen Arbeitögebieten von Fall zu Fall in Betracht zu ziehen und zu fuchen.“ 1)

Aber mit diefer Faſſung war der „Linken“ keineswegs gedient. In endlofen Debatten verteidigte fie ihren Antrag und beftand vor allem auf der Bezeichnung „ſozialiſtiſch“, obwohl wieder und wieder betont wurde, daß der Bund feine politifche Körperfchaft fei noch fein dürfe und daher eine parteipolitifche Bezeichnung in feinen Refolutionen weder anwenden fünne noch dürfe. Und es mar ein Höhepunkt der Diskuffion, ald zwei anweſende fozialiftifche Arbeiterinnen durch den Mund von Frau Profeſſor Krukenberg erflären ließen, daß ihnen an der Aufnahme des Wortes „ſozialiſtiſch“ in die Nefolution nicht? liege, fondern nur an der thatfächlichen An: näberung, eine Erflärung, die die „Linke“ nicht Hinderte, nach einem furzen Moment des Verblüfftfeins, plus catholique que le pape, bennod auf ber Aufnahme des Wortes „ſozialiſtiſch“ zu beſtehen. Es darf wohl ald ein gutes Zeichen für die richtige Beurteilung der Sachlage durch die Majorität der Delegierten angefehen werden, daß fie fih aus ber politifch:neutralen Stellung, die der Bund innezuhalten verpflichtet ift, nicht herausbrängen ließen. Sie haben damit die Stellung gerecht: fertigt, die der Bund von Anfang an eingenommen bat: die Arbeiterinnen find ihm von jeher von Herzen willkommen geweſen, gleichgiltig, zu welcher politifchen Fraktion fie fich rechneten, zu den Sozialdemokratinnen als ſolchen aber konnte er fein Ver: haltnis haben. Er hat damit feinerfeits genau denfelben Standpunkt innegehalten, wie die fozialiftiihen Führerinnen ihrerſeits von jeher und noch jegt in Mainz. Nach der Haren Zufammenfaffung der Verhandlungen von Henriette Fürth in den „Dokumenten der Frauen“ wurde betont, daß „von einem Zufammengehen mit der bürgerlichen Frauenbewegung als folder nicht die Rede fein“ könne.

Es ift bedauerlih genug, daß auch diegmal die unzählige Male widerlegte Be: hauptung wiederholt wurde, der Bund habe die Arbeiterinnen zurüdgemwiefen. Sollte feiner Zeit wirklich eine mißverfländfiche Außerung gefallen fein, fo mußten die immer wieder gegebenen und auch diesmal wiederholten Erflärungen des Vorftandes genügen, um jede faljche Auslegung zu befeitigen. Unter gebildeten Menfchen pflegt die beftimmte Berfiherung, daß eine Sache, eine Meinung fo oder fo fei, zu genügen. Jedenfalls wird man in Zufunft nach der auch diesmal gegebenen bündigen Erklärung dad Recht haben, bei nochmaliger Wiederholung jener Unwahrheit von böswilliger Verleumdung zu fprechen.

* * *

1) Die endgiltige Faffung ſtrich nicht ganz glüdfid, wie mir feinen will bie Ber: treterinnen, fügte dem Wort Frauenbewegung „bürgerlichen“ hinzu und verftärtte auf Beranlaffung der Antragftellerinnen ſelbſt den Iepten Paffus durch den Ausbru: „nad; Kräften zu fudhen.“

Te en 71

„Alſo 1900 iſt kein Schaltjahr. Paßt ja recht auf: es giebt keinen 29. Februar! Ihr werdet's wohl alle erleben, es iſt wenigſtens anzunehmen, ihr ſeid noch jung. Du, rechne flink einmal aus, wie alt biſt du dann?“

„Zwanzig Jahr!“ antwortete der Knirps, der ſeine vier bis fünf Jahre in der erſten Klaſſe abzuſitzen hatte.

„Schönes Alter! Schönes Alter, 20 Jahre! Und du? 22 Jahre? Na, das ift auch noch ganz ſchön; aber freilich 20 Jahre iſt's nicht mehr. Und du, Kind, wie alt wirft du 1900 fein?“

„24 Jahre!“ lautete die gepreßte Antwort.

„24 Zahre! Hm, hm! Das ift ja das ift ſchon ganz etwas andres ganz jung ift das nicht mehr”

Die Tonabftufungen, das Hernieberfteigen von faft überſchwänglichem Entzüden zu bebauerndem Mißbehagen fagten mehr als die abgeriffenen Worte.

Ein Mädel, das über feine 14 Jahre hinaus in der Schule geblieben war, weil es etwas Tüchtige lernen und werden wollte, verftedte ſich fchnell: es fchämte fich, im Jahre 1900 26 oder 27 Jahre zu zählen, fo alt, jo unweiblich alt zu fein.

Stets, wenn ich höre, daß in einer Anzahl von Städten und in einer Anzahl von Volkeſchulen die Lehrerinnen prinzipiell von der Oberftufe ausgeſchloſſen werden, daß fie hin und wieder wohl Fachunterricht in der erſten Klaſſe erhalten, nicht aber zur Alaffenlehrerin heraufrüden dürfen, fält mir jener Tag und jenes feltfame Eramen ein. Es hat fymptomatifche Bedeutung, und die Symptome, die es zeigt, leben von Urſachen und erzeugen Wirkungen. Wären die Symptome unfruchtbar, Zudungen, deren Schwingungen das Subjeft umfpielen, ohne zum Objekt hindurchdringen zu tönnen, fie ließen ſich mit einem Achjelzuden abthun oder es genügte, ihre Erſcheinungs⸗ form wiederzugeben und unter die Iuftigen Geſchichten zu reihen. Aber fie pflanzen ſich fort und fuchen eine Begegnung, und nun fpringt das Dritte hervor, die Wirkung, die rüdficht8los und pfeilgrade ihren fihern Weg verfolgt.

Diefe Wirkungen find das Erfte, Seite, Greifbare der Dreiheit, das jedem in die Augen fpringt, der die Heine Welt einer Madchenvollksſchule zu beobachten Gelegenheit bat. Beobachten ift zu viel gefagt für die einfache Wahrnehmung einer Thatfache, die wie Fett auf der Oberfläche ſchwimmt, wohin man auch ſchauen mag, und bie fich leicht abichöpfen läßt, felbft von den ungeübteften Händen. Die erfle Klafje ver- wandelt die Mädchen. Die Verwandlung vollzieht ſich nicht mit einem Rud, aber doch verältnismäßig fchnell; es gehen Zeichen voran, Heine Kämpfe, ein paar Zag- baftigkeiten und Unficherheiten, aber dann giebt’3 fein Hindernis mehr für die frifche, fröpliche Fahrt auf der neuen Bahn. Der Standpunkt der zweiten Klaſſe ift über: mwunden und der Ballaft fortgeivorfen, mit dem fie das Lebensſchifflein befchwerte. Die Mädchen beginnen fi zu fühlen, ſich jelber als etwas Reizvolles, Fertiges, fie fchreiten fed und felbftbewußt einher, ſtets durch ein Zuviel an Würde oder Lebendig- feit, an rüdfichtölofer Läffigkeit oder huldvoller Liebenswürbigkeit charakterifiert, das auf den Wahn Hindeutet, jederzeit ein Höchft intereffantes Beobachtungsobjekt zu fein.

Der Ordnungsſinn drüdt ein Auge, oft beide Augen zu. Unter den Banken liegt der Papierfchnee zerriffener Blätter und wird durch dad Zimmer getragen; des Frühftüdspapierd und der Frühſtücksreſte entledigt man ſich nad) Belieben, wie e3 dem freien Menſchen geziemt. Die eigene Perfon verliert fcheinbar nicht? bei diefem Ordnungsſchlummer, denn die Eitelkeit nimmt fid ihrer an und fucht durch Schleifen:

Ausfchluß ber Lehrerin aus der Volksſchuloberklafſe. 73

aufgerichtet in diefer ausſichtsloſen Enge fteht und in goldnen Zeichen lehrt: „Dein Leib ift nicht nur mehr als die Speife, er ift mehr als der Geift. Nur was fi mit den Händen begreifen läßt, gehört dem Leben, bringt Glüd, bringt Genuß. Mad deine Sinne nicht zu Thoren der Erkenntnis, es ift ein thörichtes Beginnen, das bie Zeit ftiehlt und die Kraft; fie follen Diener des Genufles fein; genießen heißt leben!”

Aber daß die Gefahr da ift, daf fie etliche in ihre Wildnis gelodt hat, daß fie immer droßt und lauert, weil fie cbenfo gut inneren wie äußeren Urfprungsquellen entfließt, fchließt ihre fiegreiche Bekämpfung nicht aus. ES brauchte nicht jo zu fein, wie es ift. Diefelben Alteröftufen in einer tieferen Klaffe befigen die Hare Erkenntnis oder fügen fih der Erkenntnis des Lehrenden, daß das Leben eine Wanderfchaft ift, für die ein zerbrechlicher Steden nicht ausreicht, daß man fih Waffen zu jchmieden bat in der Jugend, weil diefe Waffen unentbehrlich find für das Leben, und daß die Natur uns diefe Waffen nicht fertig in die Hand drüdt.

Das Hinzutretende, Bonsaußen-Rommende ift das Entfcheidende. Immer und überall giebt die Begegnung den Ausfchlag. ie zertritt die Funken, oder fie entfacht fie zur hellen Flamme; fie verbindet Wunden, oder fie reißt die Wunden auf. Der befte, der trefflichfte, der mit den erhabeniten Grundfägen gefättigte Unterricht, form: vollendet, methodifch exalt, von Begeifterung getragen und Überzeugung durchdrungen, entbehrt des erziehlichen Einfluffes ohne die richtige Begegnung, die Springwurzel, die erft erfchließt.

Die Begegnung des Lehrers iſt das Sumptom, das uns in feine Seele ſchauen läßt, das wahrhaft Vorbildliche und darum Bildende. Nach allen Erfahrungen muß die Begegnung des Lehrerd und Schülers eine andere fein als die des Lehrers und der Schülerin, und wiederum eine andere die Begegnung der Lehrerin und der Schülerin. Aus der Begegnung, dem Erſchließungsprozeß, läßt fid) der Wandel der Schülerinnen ber Oberklaſſe erklären.

Jener Reviſor ift ein Beifpiel für folche Begegnung. Als er dem Klaffenzimmer den Rüden kehrte, mußten bie Mädchen nicht nur, daß der 24. Februar der eigentliche Schalttag ift, ihre eigene Perfon war ihnen bis zu einem gewiffen Grade erjchloffen, in die richtige Beleuchtung gerüdt worden, in ihrer Bedeutung für die Welt und fomit für fie felber. Sie hatten gelernt, von einem Dann, der ihnen Autorität fein mußte: „Dein Wert ift die Jugend, drum erliſcht er mit der Jugend. Deine Jugend ift ein Aaußeres Prangen. Das ift dein hödjfle®, dein fchönftes, dein Loftbarftes Gut, aber es vergeht fchnell, es erwartet nicht einmal deines Körpers Blüte, feine Reife, es achtet deinen Geift als nicht® und Hört nichts von dem Stlingen deiner Seele. Iſt dieſes Prangen vorbei, dann bift du tief zu beflagen! Die Gefundheit des Leibe und der Seele, deine Kraft, die Arbeitd: und Schaffenskraft, deine Liebe, die dich zu Thaten treibt, deine Freude an der Natur, dein Wiſſensdrang, der dich zu Büchern zwingt, deine Religion, die did) mit Gott verbindet, was find fie denn? Was vermögen fie zu deinem wahren Glüd? Zie find ein trüber Neft, deine Sonne ift untergegangen.” Das batte die Begegnung erjchloffen.

Ihre Bewegungslinie liegt parallel mit der, auf welcher eine Mehrzahl der Lehrer die ehrlichen, unabhängigen Grüße für ihre Mädchen pflüdt. Diefe Grüße, leicht hingeworfene Worte, müflen als ernfter, bedeutungsvoller, behaltenswerter und nachfolgeheifchender genommen werden als der Unterricht felbft mit feinem vielfach lebensfremden Stoff; denn fie gelten dem Mädchen, dem Weibe, ihm fpeziell und feiner

Ausfhluß ber Lehrerin aus der Volksſchuloberklafſe. 75

des Nageld Kopf träfe. Wie viel fchlimmer, wenn man einer Klafle, einer Gattung zuführen fol, was fie nicht braucht, was fie nicht fallen, nicht feſthalten ann. Hier öffnet fich eigentlich nur ein Ausweg, der, zu jagen: „Dazu gebe ich mich nicht ber, es ift Spiegelfechterei!" Selbftverftändlic) wird diefer Ausweg nicht gewählt, es hieße, fih in das eigene Fleiſch ſchneiden.

Die Danaidenarbeit wird übernommen; fie beginnt. Die mißtrauijchen Augen erfpähen die Siebnaturen zuerft und ſchützen ſich flugs durch die Scheuflappen des eingewurzelten Vorurteils, der granitfeften Tradition, um bie andersartigen aus dem Gefichtökreis zu bannen. Der Unterricht finft. Lauheit, Gereiztbeit, Gleichgiltigkeit laſſen ihn verfumpfen. Die Mädchen, denen wie Schwacjlöpfen begegnet wird, ver: lieren den Glauben an ihre Lernfähigfeit, ihr Selbfivertrauen verfpurloft, fie ſchauen nun wirklich darein wie die Schwachköpfe. Kein Wunder! Sole Stunden find Verbummungsgymnaftil. Und doch aud nicht! Denn während das Flämmchen des einen tiefgefchraubten Dochtes, dem das Ol in [nunenhafter Karglichkeit zugeführt wird, nicht leben und nicht fterben kann, zünden fi die Hugen Kinder eigenmächtig ihre Lamplein an in Hirn und Herz, Gedanfen und Phantafie. Was fie da ſehen, teilen fie den Kameraden als gute Nachbarn mit; fie erleben viel, beiprechen viel, beſchreiben viel Papier.

Der Unterricht gleicht den Halligen, an denen das Meer reißt. Wer bezweifelt, daß fie untergehen müffen? Niemand! Aber e3 giebt auch niemand, der da behaupten würde, daß auf dem jeften Lande todgeweihte Inſeln ihres Schidjals harten. Diefe Unterricteftunden find fünftlihe Halligen; dem Zauberlehrling glei rief man bie Fluten. Sie erhalten ihre Namen, willfürlihe Namen, wie fie diefen Willkürsfluten gesiemen, durch die man die eigene Ehre rettet und mehrt! Mangel an Konzentration, Zerftreutbeit, Schwatzhaftigkeit, Oberflachlichkeit und dergleichen mehr am ſpezifiſch weiblichen Eigenfchaften.

In der That, fie alle werden gerufen oder wach gerufen und immer wacher, fie ſchwellen zum tedften, toflften Übermut; jegt wagen fie fih aud an die forgfältig ein- gehegten Schonungen, der Verftöße werden immer mehr, und werben fie abgeichlagen, fo laſſen die Angreifer, bildlich gefprochen, Plakate zurüd, denen nicht unähnlich, die Joachim I. an feiner Kammerthür gefunden baben fol.

* * *

Quellenwanderungen find meift nicht ganz ungefährlich, aber fie haben ihren Wert. Die Wandlung fo vieler Mädchen fo mander Oberklaſſe mußte einmal bis zu einigen ihrer Quellen verfolgt werden. Alle konnten nicht aufgebedt werden, es find ihrer zu viele. Auch ſollte e8 eine Wanderung obne Fadeln fein, die man für gar zu dunkle Gebiete nötig hätte. Hier leuchtete trog allem die Eonne, die Sonne „treuer“, wenn auch enggefaßter, eigengefaßter, lediglich fubjektiver Pflihterfülung. Die Sommerwärme, die Frühlingshele geben diefer Sonne ab, fie Hat etwas Grämliches, Winterliches, faſt etwas Gegnerifches.

Mädchen aber brauchen zu ihrer Erziehung ficher fo viel Wärme und Licht wie die Traube, die zu edlen Weine beftimmt ift; daher

Doch hören wir einen Mann, ehe wir übereilte Schlüffe ziehen.

Am 3. Oktober dieſes Jahres erklärte laut Zeitungsbericht Lehrer Hing in ber 9. Provinzialverfammlung des Verbandes katholiſcher Lehrer Weftpreußens, „die

Das Fahrzeug der Zukunft. Kl

weil nicht nur feine Knochen, fondern aud manche andere Hohlräume feines Körpers mit Luft gefühlt find, die fein Gewicht bedeutend erleichtert. Kommt hinzu, daß die Bruſtmuskeln beim Vogel viel ftärker im Verhältnis find al3 beim Menfchen. Die befannten Verſuche Lilienthal mit feinem fledermausflügeläßnlichen, von Spitze zu ES pige 7 Meter meflenden Apparat haben nur bewichen, daß es möglich iſt, beim Anlauf gegen mäßigen Wind mit einem folchen über die Arme gejchobenen Apparat ſich eine Strede weit Lilienthal erreichte einige hundert Meter in der Schwebe zu halten. Als er ſich im Auguft 1896 mit einem neuen, etwas größeren Apparat einer zu ftarken Luftſtiömung anvertraute, verlor 'er die Herrſchaft über feine Flügel und ftürzte von dem 30 Meter hohen Hügel, den er eigens für feine Schwebeverfuche errichtet hatte, ſo unglüdlich ab, daß er den Verlegungen bald darauf erlag.

Die Nachfolger Lilienthals haben ſich im wefentlichen mit Heinen Modelapparaten begnügt, aber Wife in den Vereinigten Staaten und Baden-Powell in England haben doch auch des öfteren ſchon fich felbft ihren Apparaten anvertraut, die in diefen Fall nicht Flügel nad Art der Vögel oder Fledermäufe, fondern Drachen waren, und ver: mochten fi damit bis zu einer gewiſſen, freilich noch ſehr befcheidenen Höhe empor: heben zu laſſen. Die Form des Drachens, namentlich die des malayiſchen, der bei gleicher Höhe breiter ift als das bei uns beliebte Spielzeug und ald Gerüft ein Kreuz mit fligbogenartig gebogener Duerftange hat, bietet jedenfalld die Möglichkeit, eine Flugmaſchine, fofern fie erft einmal genügend hoch gekommen ift, dauernd in der Schwebe zu erhalten, indem gewölbte und in beſtimmtem Winkel geneigte große Flächen als Tragflächen wirken. Denn beim Schwebeflug, auch der Vögel, kommt es, wie Langley nachgemwiefen, darauf an, daß zwiſchen der horizontalen Geſchwindigkeit des Windes und der des fliegenden Körpers ein genügender Unterfchied vorhanden ift. Haben fi beide Geſchwindigkeiten ausgeglichen, fo braucht die Tragfläche nur in eine andere Lage gebracht zu werden, um den nötigen Unterſchied wieder herbeizuführen. Lilienthal Hatte dad bei feinen Verfuchen wohl verwertet, indem er bei plöglichen Windftögen den Schwerpunkt feines Körpers zu verlegen fuchte. Wirklich gefichert wird aber die Tragfähigkeit einer ſolchen gewölbten Fläche erft durch einen beftimmten Grad von Geichwindigfeit, mit der fie vorwärts bewegt wird. Ye größer dieſe Geſchwindigkeit, deflo ficherer Hält ſich die Tragfläde in den Lüften. Die Drachen fliegen deshalb fo hoch in die Luft, die vom Blue Hill-Obfervatorium erreichen durchinittlich eine Höhe von 2400 Metern, ein am 28. Auguft v. 38. auf: gelaffener ftieg fogar bi® 3600 Meter weil ihnen vom Erdboden aus eine bedeutende Vorwärtöbewegung gegeben wird, die alebald den Auftrieb zur Folge hat. Und diefe Vorwärtsbemegung, die der fpielende Knabe dadurch erzielt, daß er mit feinem an der Leine gehaltenen Drachen eine tüchtige Strede läuft, müßte bei Dradenfliegern, die Laften tragen jollen, durch Majcdinenantrieb erzeugt werden. Die Tragflähe müßte einen Motor befommen, der cin jehr geringes Gewicht bei fehr großer Leiftungsfähigfeit aufweiſt. Daran hapert's aber gerade, wenn man aud in den legten zehn Jahren ungeahnte Fortſchritte auf diefem Gebiete gemacht hat. Galt früher ein Gewicht von 25 Kilo bei Dampfmafchinen, von 40 Kilo bei Benzin und Petroleummotoren ald das Minimalgewicht zur Erzielung einer Pferdes kraft, fo hat neuerdings Hargrave in Auftralien eine Dampfmaſchine von nur fünf Kilo pro Pferdekraft konftruiert, und Langley in Amerika hat eine Eleine, allerdings nur eine Pierdefraft erzeugende Mafchine zufammengejegt, die mit Kefjel ſogar nur 7 englifche

Das Fahrzeug der Zukunft. Li)

Die „Feuerluft“ erfegte kaum ein Vierteljahr nach Montgolfierd Erperiment der Phyſiler Charles durch den noch viel leichteren Waflerftoff, mit dem als dem leichteften aller bekannten Gafe noch heute die Luftballons gefüllt werden, und fchon im November des Erfindungsjahres unternahmen zwei beherzte Männer, Pilätre de Rozier und der Marquis d’Arlandes, den erften Flug in die Wolfen. Zwei Jahre fpäter, am 7. Zanuar 1785, volführte Blanchard feine berühmte Luftfahrt über den Kanal von Dover nad) Calais; 1794 fand die erfte Anwendung eines Feffelballons für mili- tariſche Zwede in der Schlacht bei Fleurus ftatt, und 1803 unternahmen Robertfon und Lhoeſt von Hamburg aus den erften Luftflug zu wifienfchaftlichen Zweden. Bei einer ſolchen Fahrt, die ihn 7000 Meter hoch trug, fonnte der berühmte Gay-Luſſac feftitelen, daß die Luft in biefen hohen Negionen diefelbe relative Zufammenfegung bat, wie in den tiefften Schichten. Die höchſte Höhe erreichte im Ballon der engliſche Meteorologe James Glaiſher, der von 1861 biß 1866 zufammen mit Corwell nicht weniger als 30 Luftfahrten unternommen hat. Ungefähr dieſelbe Höhe erreichte Dr. Berfon mit dem deutichen Ballon „Phönir“, mit dem er bereit, meift in Gemein: ſchaft mit Hauptmann Groß, einige 50 Fahrten volführt hat.

Solche Hochfahrten machten mit dem Element, das einmal das unferer Verkehrs: wege zu werden berufen fein mag, gründlich vertraut. Man ftellte feit, dab man ſich bis zu einer Höhe von 3000 Meteyn noch unter allen Umftänden leidlich wohl fühlen tann, meift noch bis 5000 Meter. Empfindliche Perfonen beginnen zwiſchen 3000 und 4000 Meter zu leiden, darüber hinaus macht ſich der Einfluß der Kälte, die Dr. Berfon bei 7000 Meter auf 30° gemefjen hat (Negiftrierbalons haben fogar bei 14000 Meter Höhe bis 80° Kälte verzeichnet), und der verdünnten Luft auch für ſtarke Nerven unangenehm bemerkbar, der Atem geht ſchnell und heftig, das Herz pocht ftürmiich, die Kräfte laffen bis zur völligen Ohnmacht nach, fein Glied gehorcht Ichlieglih mehr dem Willen. In Höhen von 7000 Metern und darüber hiljt auch die künſtliche Einatmung von Sauerftoff nicht mehr, die ſich ſonſt als ficherfted Gegenmittel gegen einen Zuftand erwiefen hat, der völlig identiſch ijt mit der gefürchteten Berg: krankheit, jener merkwürdigen Erſcheinung, die den Hochtouriſten befällt, ſelbſt den gelbten Bergfteiger, und die ſchon ein Paraceljus bejchrieberi hat. Die „Soroche“ nennen fie die Chilenen in den Gordilleren. Merkwürdigerweiſe tritt fie in den Alpen an gewiſſen Abhängen, wie dem Montblanc, die auch von den Bergführern befonders gefürchtet find, ftärfer auf als an andern, und dort ſchon in Höhen wenig über 3000 Meter, während im Himalajagebirge noch in einer Höhe von 4500—4900 Meter Ortſchaften dauernd bewohnt find. Auch in den Cordilleren. Entipricht doch die Lage der Stadt Potofi in Bolivia der Höhe des Jungfraugipfel® (4170 Meter), und die peruanifche Gordillereneifenbahn pafiiert gleih den großartigen Kunftftraßen der alten Inkas Höhen von 4760 Meter. ebenfalls liegen alle diefe höchſten Wohn: und Arbeitzftätten noch unterhalb 5000 Meter, der Grenze, über die hinaus der Sauer: ftoffmangel empfindlich bemerkbar wird. Wir werden alfo, follte der Luftballon wirklich das Fahrzeug der Zufunft werden, dafür zu forgen haben, daß er jtet3 unterhalb diefer gefährlichen Grenze bleibt. Andree kam auf den Gedanken, den Ballon in einer ganz beftimmten Fonftanten Höhe über der Erde zu erhalten durch ein herab: hängendes und mit feinem möglichft rauhen Ende auf der Erde fchleifendes Schleppfeil. Will der Ballon Höher fleigen, als er foll, fo wird er, abgejehen davon, daß das rauhe Seil fein Steigen ohnehin jchon durch den Reibungsmwiderftand zu hemmen

Das Fahrzeug der Zukunft. 8

lichen Stärke bei möglichfter Leichtigkeit fein, um gegen jede Luftftrömung anzufämpfen, dann thäte man, wie ſchon Renard 1890 erklärte, beffer, zum dynamifchen Flug über: zugehn. Denn am Ende bedeutet die rein dynamiſche Luftſchiffahrt doch erft die volle Löfung des Problems, das ſchon der Phantafie des alten Homer vorgeſchwebt bat, als er die Geſchichte von Daidalos erzählte, deſſen Sohn Ikaros ſich die funft- reichen Flügel leider an der Sonne verbrannte, aljo daß er ind Meer abflürzte und elend ertrant. Als Übergangsftadium mag die Flugmafchine einftweilen noch in Verbindung mit dem Lufballon bleiben, um jene teilmeife zu entlaften; Drachenfläche und Segel werden dann immer größer werden und ber Ballon in dem Maße Heiner, bis er ganz überflüffig geworden fein, und der Daidalos der Zukunft allein auf feinem Drachenſchiff frei durch die Lüfte ſchweben wird.

Daß aber auch Sohn Ikaros nicht fehle in diefem Zufunftsbilde, dafür hat ein Phantaft unferer Tage geforgt. Kerr Hermann Ganswindt in Schöneberg bei Berlin, der bald ernft, bald nur mehr humoriſtiſch zu nehmende oflpreußifche Erfinder, bat dem beutfchen und dem ruſſiſchen Kaifer ein Buch unterbreitet, in dem er den beiden Monarchen die Löfung der fozialen Frage verfpricht durch nichts Geringeres als die Anfieblung der überflüffigen Menfchheit auf Mars und Venus. Nichts leichter für Herrn Gandwindt ald die Reife durch den Weltenraum zu den Nachbargeftirnen. Er nimmt eine beſonders fonftruierte Dynamitpatrone und fchießt damit einen großen Stahlbod, an dem eine cylindriſche Stahlgondel mit zwei Reifenden Weltreifenden im tühnften Sinne des Wortes! befeftigt ift, in die Höhe. Iſt die lebendige Kraft des Blocs erichöpft, erfolgt automatifch eine neue Erplofion, welche die durch die erfie Exploſion erlangte Fahrgefchwindigfeit verdoppelt. So geht es fort, bis man in circa 23 Stunden auf dem Mars oder der Venus ift. Und ein Lemberger Profeffor zechnet dem fühnen Erfinder allen Ernſies in der „Zeit“ nad, daß nur 421 Kilogramm Nitroglycerin auf einen Schlag verbrannt zu werben braudten, um die Ganswindtſche Rakete mit ihrem menſchlichen Inhalt bis an die Grenze der Atmoſphäre zu ſchleudern, wo fie dann zunächft wie ein Trabant, ein fünftlicher Liliputmond um die Erde freifen würde; in dem widerfiandslofen Mittel außerhalb der Atmofphäre wäre es dann ein Leichte, beliebig in den Anziehungsbereich eines andern Geſtirns oder auch zurüd in den der Erde zu gelangen und an jeder erwünfchten Stelle zu landen. Leider haben weder Herr Ganswindt noch der Profeffor daran gedacht, daß ein Geihüg, das dem nötigen Gasbrude bei der Exrplofion einer ſolchen Sprengftoffmenge zu mwiderftehen vermöchte, unmöglich berzuftellen ift, und fo wird es wohl fein Bewenden dabei haben müffen, daß wir und mit dem dynamischen Flug in Wolfenhöhe begnügen und auf den „dynamitiſchen“ über die Erdatmofphäre hinaus verzichten. Hätten wir jenen nur erft verwirklicht.

Blinde Klippen. . 88

„Schade nur, daß niemand es verfteht,“ fagte Nymark lächelnd.

„Bann haben die Menſchen eine größere, höhere Wahrheit fogleich verftanden? Es find bald zweitaufend Jahre vergangen feit Aufs tauchen des Chriftentums; haben fie bis zum heutigen Tage gelernt, es fo recht zu ver ftehen?”

Auf diefe Frage kann ich nicht antworten. Was ich wünfchte, wäre zu wiſſen, mas Ibſen im Grunde wi. Bisher hat der Liberalismus ihm gepaßt, nun verwirft er auch dieſen.“

Weil er fieht, wohin bie Freiheit führt, wenn nicht eine geiftige Veränderung mit dem Menſchen vor ſich geht. Ibſen ift eben darum der mächtigfte Geift unſerer Zeit, weil er ihre Mängel, Verirrungen und Bebürfniffe tiefer und klarer ald irgend ein anderer erfaßt. Und im Grunde genommen verwirft er nicht die Freiheit, fondern er befämpft nur Zügellofigkeit und Leichtſinn.“

„Und dann geht er hin und fnetet bie Eittenlehre in die Kunſt ein. Nein, Gott behüte uns, es ift befier, jedes Ding hübſch zu feparieren. Laßt die Kunft Kunſt bleiben, die Wiflenihaft Wiſſenſchaft und die Ethik Ethil.“

„Ich bin anderer Anſicht. Ich glaube, daß nur der Menſch harmoniſch und geſund werden kann, der das Reſultat der Entwidlung nicht nur von ber einen, ſondern auch von der weiten und britten Geite fi einzuverleiben verfteht. Und Lönnen fie in berfelben Seele Platz finden, marum dann nicht auch in dem: felden Wert? Darin liegt die große Be: deutung der Dichtlunft unferer Zeit; denn ob mit größerer ober geringerer Klarheit, immer ftrebt fie doch nad) diefem Biel.”

„Ohne Erfolg; denn die Kunft gebt feinen Bund ein, am menigften mit der Religion.”

„Warum nit?”

„Weil fie dann ihre Lebensbebingungen einbüßte: Freiheit und Natürlichkeit.”

„Irrtum! Nicht der religiöfe Geift, bie Dogmen fefjeln die Freiheit und Natur. Er dagegen veredelt und reinigt, erhebt und abelt beide.”

„Und errichtet Grenzpfähle.”

„Nur wo fie nötig find,” fagte John lächelnd. „Und eigentlich find es feine Grenz:

pfähle, fondern Warnungszeichen vor blinden Klippen und anderen gefährlichen Stellen.“

„Blinden Klippen ?”

„Worüber bebattiert ihr?” fragte Alma im Eintreten.

„Wir find hoch über den Mollen, Frau Karel. Cie kommen zu rechter Zeit, uns zu erinnern, daß es viel Schönered und Herr licheres bier auf Erden giebt, ald da droben.”

„Erinnere ih Sie daran?”

„Man fühlt es in Ihrer Nähe.”

„Angenehm zu hören. Und unfer Bürger: meifter? Iſt er auch droben in den Wollen verſchwunden ?“

„Gott behüte! Nein, der ſitzt dort auf der Veranda. Lagander! In deinem Häuschen brennt's!

Der Buürgermeiſter zeigte ſich, mit dem Taſchentuch die Stirn trodnend, in der Thür.

„Schon? Ya, e8 ift wirklich gehörig warm.”

„Kommen Eie und fühlen Sie fi mit einer Tafje heißen Kaffees.”

Zagander lachte und folgte der Einladung.

„Buerft mit heißem Kaffee und dann mit Reifenmwerfen ?”

„Ganz richtig.”

„Frau Karel,” fagte Nymark, „da wir eben von Litteratur Sprachen, mörhte ich gern hören, was Sie über Zola denfen.”

„Garnichts. Ich habe nichts von ihm gelefen und kenne ihn alfo nicht.”

Nicht? Iſt's möglich? Ober ift das fo zu verftehen, daß Eie ihn aud nicht kennen wollen?”

„Darauf fann id erft antworten, wenn ich erfahren habe, wie er iſt.“

„Erlauben Eie, daß ich Ihnen einige feiner Arbeiten bringe?“

„Gern. Aber ift er fo, mie man fagt, fo kann es leicht fein, daß ich nicht über ein paar Seiten hinausfomme.”

„Sie werden nit umhin fönnen, feine Bücher zu lefen, wenn fie einmal auf Ihrem Tiſche liegen. Man muß fie bewundern, denn fie find Natur von Anfang bis zu Ende. Und die Natur wird gezeigt in ihrer ganzen Häßlichfeit, in allen ihren Erſcheinungsformen, die ohne Ausnahme dargeftellt find als gleich berechtigt, gleich frei, gleih bedeutungsvoll. Nichts wird verftedt, nichts verheimlicht.”

6*

Blinde Klippen.

Nähe die rofige Reinheit ihrer Haut und bie weiche Rundung der Formen bewundern fonnte. Und es fiel ipm bisweilen ſchwer, die Ge: danken hinlänglich zufammenzuhalten, um an dem Gefpräd ber übrigen teilzunehmen.

John und Lagander fprahen von den Landtagswahlen. In den meiften Städten hatten die Schwwebifchgefinnten gefiegt, obwohl die Etimmenffala begrenzt worden. Lagander donnerte gegen die Echmebifchgefinnten und nannte fie „Tellerleder”. John fuchte ihn zu beruhigen.

„Es ift unfer eigener Fehler,“ fagte er. „Bir Nationalgefinnten haben nicht genug Energie und Kraft. Die Schwediſchgeſinnten halten zufammen, das ift natürlih. Aber fie hätten nicht fiegen fönnen, wenn wir wachſam geweſen wären.”

„Wer fann mit ihnen fonkurrieren? Cie haben das Kapital auf ihrer Eeite, und fie halten alle höheren Amter. Da fann man fich leicht blähen.“

„Aber die Kraft iſt ja doch auf unſerer Seite, denn wir haben das ganze Volk hinter und.”

„Das Volt iſt noch nicht dazu erwacht, feine Rechte zu verteidigen.”

„Es wird zu rechter Zeit erwachen. Rom wurde nicht an einem Tage erbaut.”

„Jawohl, alles braucht feine Zeit. Frau Karel, das erinnert mich an unfer Gefpräd vom letztenmale.“

„Wiſſen Eic, daß ich oft daran gedacht babe und befonvers in dieſen legten Tagen?” fagte Alma lächelnd.

„Wirhlich?“

Er blickte Alma forſchend in die Augen und begriff, daß fie beide auf dasſelbe hin—

zielten, nämlich auf ihr Ichtes Gefpräd von

der Liebe zwiſchen Mann und Weib.

„Räumen ie vielleiht ſchon ein, daß ih ein wenig recht hatte?“

„Noch nicht.”

„Rom wurde nicht an einem Tage erbaut, und alte, eingewurzelte Gewohnheiten find nicht auf einmal auszurotten,” fagte Nymark lächelnd.

„Aha,“ rief Zagander aus, „ich weiß ſchon, wovon Sie reden.”

Alma errötete leiht. Cie hätte unter

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feinen Umftänden das Gefpräh vor ihrem Manne wiederholen mögen.

Nymark bemerkte ed und fam ihr ritterlich zu Hilfe.

„Nun natürlid) davon, daß Frau Karel unter feiner Bedingung am Geſellſchaftsleben Anteil nehmen will.”

Ihre Augen begegneten ſich wieder, und die Blide beftätigten einen Heinen, heim— lichen Bund.

„Karel, ſteh' uns bei,” fagte Lagander, „und fage deiner Frau, daß fie wirklich in diefer Sache ihre Anſicht ändern muß.”

„Es lebe die Freiheit!” fagte Karel.

„Bravo!“ rief Nymart, „an dieſes Wort halte ih mid. Von deiner Ecite ift alſo fein Hindernis zu fürdten, fobald deine Frau einwilligt 2”

„Natürlich nicht.”

„Und du nimmft es auch nicht übel, wenn id ales mir Mögliche thue, um ihre Zu: ftimmung zu gewinnen?“

„Gott bewahre!” fagte Karell lächelnd. „Ich gebe dir volle Freiheit.”

„Hören Sie, Frau Karel?”

„Ich höre.“

Alma beugte ſich über ihren Teller. John fümmert fi nicht darum, dachte fie; er würde es ſich faum zu Herzen nchmen, wenn id) mich in einen anderen verliebte.

Nymark beivunderte ihr feines Nadenhaar, das ſich in Löckchen auf den weißen Hals ringelte.

„Was meinen Sie, Frau Karel! Wird es mir gelingen?”

„Dan kann ja den Verſuch machen.”

„Sie lächeln. Das giebt mir Hoffnung. D, Sie haben nicht das Herz, nein zu fagen.”

„Aber warum? Ich frage es noch einmal. Ih werde zu feines Menſchen Vergnügen beitragen.”

„Darüber lafjen Sie andere entſcheiden,“ fagte Lagander.

Cie ftanden vom Tifde auf. Nymark und Alma traten auf die Veranda hinaus.

„Sie werden zu feines Menfhen Freude beitragen, meinen Sie?” fragte Nymark leife, ſich zu Alma hinabneigend, die fih auf feinen Arm ftügte. „Sagen Sie lieber, daß Eie an feinem Menſchen Freude haben. Eie, die Sie fih um feinen fümmern.”

Blinde Klippen.

lich Böfes darin? Auf Gegenliebe hatte er ja von allem Anfang an nicht hoffen dürfen. Jedenfalls würden feine Gefühle ſich innerhalb der gebührenden Grenzen halten müffen, denn Alma befaß ja einen mädtigen Schuß in ihrer Xiebe zu John...

Und nichts hinderte fie, freundlich gegen Numark zu fein oder mit ihm zu verlehren. Er war angenehmer und Iuftiger ald andere Herten, allerdings etwas leichtfinnig, aber was lag daran! Im gefelfchaftlichen Leben ſchadet das ja nichts ...

Außerdem hatte er beſonders eine gute Seite: er war dankbar für jeden kleinſten Beweis ihrer Gunft. Wie überglüdlich würde er fi mit nod fo wenig Gegenliebe fühlen! Ganz anders ald John! .. .

Mina kam und bat fie, hereinzufommen. Helmi meinte und tar nicht zu befchwichtigen.

„Ich meine, fie fchliefe vielleicht beſſer bei !

der Frau ein,” fagte fie. Alma ging ‘hinein, öffnete die oberjten Knöpfe ihres Kleides und legte ſich aufs Bett.

„Wollen Sie fich nicht gleich ſchlafen legen?“

fragte Mina, „es ift ja ſchon fpät.”

„Noch nicht. Bringe Helmi her!”

Kaum lag Helmi an der Mutter Bruft, fo hörte fie auf zu weinen. Nachdem fie ihren

Hunger geſtillt, lag fie ganz zufrieben da, fah |

zur Mutter auf und lächelte. Aber die Mutter lächelte nicht Antwort, wandte ihr nicht ein= mal den Blid zu.

Helmi fah eifrig zur Mutter auf und fügte „gää“, um ihre Aufmerkſamkeit zu weden.

„Schlafe nur fon,” fagte Alma etwas ungebulbig und gab ihr wieder bie Bruft.

ALS Helmi eingefehlafen war, erhob Alma ſich vorſichtig, ſchloß das Kleid und ging auf die Veranda hinaus. Es war ftill und dunkel. Zwiſchen den herabgelafienen Gardinen von Johns Fenfter glänzte Lichtſchein.

Sie faß auf derfelben Stelle, wo fie am Tage gefefien, während Nymark ihr das Garn gehalten. Sie lehnte ſich gegen bie Rüdlehne, legte die gefreuzten Hände in den Schoß und ftredte die Füße aus.

So tief war fie in Träume verfunfen, daß fie nicht fah, wie das Licht aus Johns Fenſter verſchwand, und nichts hörte, bis er neben ihr ftand und fagte:

„Zigeft du immer nod ba?”

Alma zudte zufammen und warf einen ſcheuen Bid auf ihn. John lächelte. Eelbft das legte, bittere Gefühl vom geftrigen Tage verſchwand, wenn er überhaupt noch ein foldes gehegt.

Alma war ſo entzückend in ihrer halb⸗ liegenden Stellung. In der Abenddämmerung erſchien ihr Geſicht bläſſer als gewöhnlich, aber zugleich auch rührend ſchön.

„Komm, Liebchen!“ flüſterte John und nahm ihre Hand.

Gehorfam folgte fie ihm hinein.

Und obgleich fie nichts ſprachen und feine Auseinanderfegung zuftande fam, fand doch an jenem Abend eine vollftändige Verföhnung zwiſchen ihnen ftatt.

V.

Hiernach war Alma einige Tage ruhiger geſtimmt. Die Überſiedelung gab ihr auch vollauf zu thun, und dann war wieder die Wohnung in der Stadt in Ordnung zu bringen. Es war feine Zeit, an amberes zu denken, wenn man bis zur Ermüdung arbeiten mußte.

John hatte wie ale Männer ein Grauen | vor tiefen großen, häuslichen Eäuberungen. So oft fie in Ausficht ftanden, ergriff er jederzeit die Flucht; fo aud) nun. Alma fah es diesmal mit Vergnügen.

„Geh nur,” fagte fie, „dann können wir bier alles ordentlich abmachen.“

John warnte fie nur noch, feine Papiere anzurühren und ging.

Der Salonboten war noch nicht geſcheuert. ! Dahin trug nun Alma alle Topfgewächſe, überfprigte fie mit Waſſer, wiſchte bie Blumen töpfe rein, ſchnitt die trodenen Blätter ab und glättete die Erde obenauf.

Eie hatte nur ein rotlarriertes Morgenkleid an, und das Haar war unter der Bewegung berabgeglitten.

Ta fam gerabe fo recht zur Unzeit Nymark.

Es verbroß Alma ein wenig, aber fie ud ihn doch ein, in das Zimmer ihres Mannes zu treten, das ſchon aufgeräumt war.

Um feinen Preis, er wolle nicht ftören.

„Aber darf ich Ihnen denn nicht bier zus fehen? Zie pafjen jo gut unter die Blumen, | Eie, die Sie ſelbſt zu ihnen gehören.“

Blinde Klippen

fo gelingt es uns ſchließlich, ihn zu ver⸗

jagen.“

„Topp! Wir wollen einen Bund ſchließen. Und wir wählen Cie zum Chef. Wann fol der Kampf beginnen?”

„Heute Abend.”

„Und auf welche Art?“

„Bir wollen auf das Feuerwehrfeſt gehen. Ih fam eben, um Sie an Ihr Verſprechen zu erinnern.”

„Ab, Sie haben alfo daran gedacht?”

„Ich habe es feinen Augenblid vergefien.”

Diefe Worte wurden von einem Blid begleitet, der Alma erröten machte. Aber fie fagte: „Natürlich bleibe ich bei dem, mas ih einmal beſchloſſen.“

Ihrer fpäteren Entſchließungen erinnerte fie fih ſchon gar nicht mehr.

„Wirtlih? Und ih dachte ſchon, Sie hätten es bereut.”

Alma lachte ein wenig verlegen. Aber fie wurde ihrer Antwort enthoben, denn in biefem Augenblid trat John ein.

„Gebft du heute Abend auf das euer: wehrfeſt, John?“ fragte Alma.

„Ich Tann nicht,” fagte er, fi in den Lehnſtuhl neben fie fegend; „ich babe Sitzung der Gemeinberäte.”

„Wäre es fo gefährlid, wenn du einmal da ausbliebft?”

„Es liegen heute wichtige Fragen vor. Und um die Wahrheit zu fagen, ich habe aud) feine Zuft zu dem ganzen Feſt.“

„Das ift es eben.”

Alma ſah Nymark melancholiſch an.

„Kommen Sie doch wenigſtens,“ ſagte er.

„Ja, du kannſt ja gehen, wenn du Luſt Haft.“

„IH brauche auch wirklih einige Zer- ftreuung. Kein Menſch hält das in Ewigkeit aus, nur kochen und Kinder warten.”

Alma fah vor fi nieder und zupfte nervös an einer Ede ber Tiſchdede, die ihr in die Hand geraten war.

„Es hindert did ja niemand, in dieſer Hinficht deinem eignen Willen zu folgen,“ entgegnete John ernſt.

Er ftand auf und ging in fein Zimmer, ehe Alma etwas erwidern konnte.

„Es hindert dich niemand!“ Alma lämpfte

8”

mit den Thränen. „Das weiß ich mohl. Aber doc wird es übel aufgenommen.”

Wer nimmt es übel auf? Sie felbft.”

„Nein, nicht ich, fondern John und alle Leute.”

„Das ift nicht richtig, Frau Karel. Und thäten fie es felbft, was brauchen Eie fih darum zu kümmern?”

Unaufgaltfam drangen die Thränen aus Almas Augen. Ein wenig verlegen brüdte fie ihr Taſchentuch gegen ihr Geſicht.

„Wie kindiſch ich bin!”

„9a, wahrhaftig. Wann werden Eie fih von dieſen altmodifchen Anfhauungen foweit befreien, daß Sie es wagen, die friſche, freie Zuft zu atmen?”

„Dann würde ich vermutlic) die Beteiligung am Gemeinderat und Landtag anftreben, wie andere energifche Frauen unferer Zeit.”

„Mein, Gott behüte, lajjen Eie das ben Alten und Häßlichen. Ihnen bietet das Leben ein ſchöneres Glüd.”

Nymark nahm feinen Hut.

„Darf ic Cie heute Abend abholen, da John nicht mitgeht?”

„Wenn Sie fo gut fein wollen?”

„Mit größtem Vergnügen. Alfo auf Wiederfehen heute Abend, Frau Karel.”

„Auf Wiederſehen!“

Sie reichten einander die Hand, und bie Thür ſchloß fih Hinter Nymarl.

„Er ift freundlich und angenehm,” dachte Alma, als fie allein war, „es ift fein Wunder, wenn man fi in feiner Gefellfhaft mohl fühle.“

Abends, als Alma Toilette für das Feſt madıte, fam Arvi mit Karte und Geographies buch zu ihr.

„Ich finde nicht? auf diefer Karte, Mama. Und wir haben foviel zu lernen. Alle Gebirge in Mitteleuropa.”

„Ad, geh zu Papa, er wirb es bir zeigen.”

„Papa ift nicht zu Haufe.”

„Berfuhe, dich ſelbſt Mama hat keine Zeit.“

„Aber ich kann es nicht.”

Arvi wurde eigenfinnig und begann zu weinen.

„Biſt du unartig gegen Mama? Nun helfe ich dir ſchon gar nicht. Und du ſchämſt

zurechtzufinden.

Blinde Klippen. 9

„Ihre Gefundheit erlaubt es nicht.”

„Aber es ift fo luſtig. Ich kann noch nicht aufhören.”

Cie war ſchon wieder auf den Füßen.

Sie tanzten ein paar Schrüte, als Alma ſich plötzlich ſchwer auf den Arm ihres Herm ftügte.

„Mir ſchwindelt,“ kam es von ihren Lippen.

Nymark eilte herbei und trug fie zu einem Sofa im Nebenzimmer. Halb ohn» mãchtig tie fie war, wußte Alma doch, mer fih um fie bemühte. Mit einem Gefühl der Dankbarleit überließ fie fih Nymarks Fürs forge. Es war ihr ganz fo, als habe fie einen neuen Freund und Rameraben gefunden.

„Es geht ſchon vorüber,” fagte fie leife, obwohl fie noch nicht die Kraft befaß, die Augenlider zu heben.

„Warum find Eie mir nicht gefolgt?” warf Nymark ihr vor.

„Schelten Eie mid nicht; ich bin ſchon wieder gefund.”

„Aber Cie dürfen feinen Schritt mehr tanzen.”

„Ich muß wohl gehorchen.“

Nun vermochte Alma fon, ſich aufzu— richten; fie ftügte fih gegen die Lehne des Sofas. .

„Wie blaß Sie nod find!”

„Es kommt ganz ficher daher, daß ich fo lange nicht getanzt habe,” fagte Alma lädyelnd. „Früher hielt ich es ohne Unterbrehung bis zum Morgen aus.”

Nymark holte ihr Wein, und nachdem fie ein paar Glas getrunfen, fühlte fie fi) wieder vollkommen hergeftellt.

Sie hatte Luft, weiterzutangen, aber Nymark ließ es nicht zu.

„Wenn Sie frank werben, läßt John Eie ein andermal nicht gehen,” fagte er.

Und fo blieben fie für den Reſt des Abends dort figen. Sie foupierten unter heiteren Ge: fpräden und Lachen.

Belannte Damen fpragen Alma an. Cie that ihr Beſtes, um fi ihnen dankbar zu erweiſen, aber im Herzen wünſchte fie, fie mödten bald gehen und Nymark und fie allein laſſen. Es mar ja fo gemütlich zu zweit. Sie fpraden frei und ungezwungen

über verfdiedene Dinge, die fie in anderer Beifein faum berührt hätten, obwohl es weder Geheimniffe, noch fonderlich gefährliche Themen waren.

Am nãchſten Morgen war Alma fo müde, daß fie um zehn Uhr, als John zum Frühe ftüd heim fam, faum aufzuftehen vermochte.

„Helmi bat nachts nad) bir gemeint,“ fagte John.

„Laß fie meinen,” erwiderte Alma. Sie lag ausgeftredt auf dem Eofa in ihrem Zimmer und machte gar feine Miene, zu Tiſch zu fommen. „Ich muß fie entwöhnen, fie raubt mir alle Kräfte. Eie ift fo groß und ſtark und will nichts anderes nehmen, fo lange fie an der Bruft ift.”

„Arme Helmi, Hörft du, welches Urteil Mama über di ſpricht?“ fagte Mina, die im Kinderzimmer Almas Worte gehört hatte.

„Bir wollen fie fragen, ob das wahr iſt.“

„Hole fie nicht ber, ich hatte fie ja erft eben jetzt,“ fagte Alma ungebuldig, „laß mich doch wenigſtens einen Augenblid in Frieden, wenn bu fiehft, mie ſchwach und kraftlos ich heute bin.”

Mina mwandte fih um, aber Helmi, die mit Händen und Füßen gefochten und fröh— liche Lalllaute auögeftoßen hatte, als fie die Mutter erblidte, begann zu meinen. Mina ſchloß die Thür und trug Helmi zum Fenſter. Sie fummte und lopfte an die Scheibe.

„Schau, ſchau, Pferdchen fpringt, nein, wie ſchön!“

Helmi fah das Wunder und vergaß ihre Thränen.

„Ich bin heute Mittag zu Lagander ge laden,” fagte John aus dem Epeifezimmer heraus, „es fommen noch zwei andere Land: tagsabgeordnete.“

„Bleibſt du den ganzen Tag?“ fragte Alma, um etwas zu ſagen.

„Bis Abend. Ich gehe von der Schule bin, um drei Uhr,“ fagte John, zu ihr tretend. „Wie fteht'3 mit dir? Bift du krank?“

Er feßte fih an den Rand des Sofas und betrachtete fie.

„Nein, nur etwas matt.”

„Vielleicht haft du geftern zu viel getanzt?’ meinte Sohn.

Alma erwiderte nichts. John ftand auf.

Blinde Klippen.

„Wieder Schmeicheleien. Nein, gehen Eie noch nit, da Sie nun einmal ohne Mittag- efien geblicben find. Wir wollen fehen, mas Maja Lifa und vorzufegen hat.”

Es war nicht fo übel. Bouillon und Kohlrollen mit gebratenem Fleiſch und Reis. Und wollten fie fih nur ein paar Augen-

blidchen gebulden, fo würde fie auch für einen !

Nachtiſch forgen.

Nomark ging alfo noch nicht, fondern blieb bis fieben Uhr. Nicht einmal da wwollte Alma ihn gehen laffen, denn fie vermutete, daß John nit vor dem fpäten Abend nah Haufe tommen türde. Und im Verlauf diefes Tages waren fie einander näher gelommen, als während ber ganzen Zeit ihrer bisherigen Belanntſchaft. Cie verftanden einander fo gut. Alma war entgüdt. So hatte fie denn endlich gefunden, was fie fo lange unbewußt

entbehrt, einen fröhlichen, friſchen Kameraden, :

der gern mit ihr beifammen mar und in defjen Gegenwart fie fi fo wohl fühlte, daß fein andere? Vergnügen fi damit vergleichen lich. Er mar juft der Gegenfag zu dem ernſten und ruhigen John. Und es ſchien Alma, als ob fie, obwohl John ihr fehr teuer war, dennod in ihrem Herzen Nymark noch lieber hätte. Ihr Gewiſſen beruhigte fie damit, daß ja aud John fi ihr nicht fo ungeteilt hin- gebe. Er vergaß nie um ihretwillen irgend eine geſellſchaftliche Verabredung, wenn cr fonft Luft hatte, zu gehen; das aber hatte Nymark eben erft gethan.

„Bleiben ie doch,“ bat fie, als Nymark Abſchied nehmen wollte.

„Nein, Frau Karel, num muß ich gehen. Aber wir fehen uns bald wieder.”

„Recht bald!” fagte Alma, ihre Hand in die Nymarls legend.

Nymark ſah fie mit einem fo zärtlichen Blid an, daß ihr das Blut in die Wangen ftieg.

„Adieu denn!” fagte fie und zog ſchnell die Hand zurüd,

Als Nymark gegangen war, ftredte fie ſich mieber auf dem Sofa aus, drüdte das Antlig gegen das Kiffen und fhloß die Augen. Sie fühlte fich weder müde noch ſchläfrig, dachte an nichts und fümmerte fih um nicht. Aber ihr Herz ſchlug, ihr Geſicht glühte, und ein füßes Gefühl jülte ihren Bufen.

\ jüngeren, norbifchen Autor.

28

„Mama,“ flüftertee Arvi leiſe neben ihr, „bift du wach, Mama?“

Alma fuhr auf.

„Arvi, haft du deine Auigabe gelernt?“

„Ja, Mama, willſt du mid) überhören?“

Alma nahm dad Bud. Es mar Ge: ſchichte, und Arvi fagte feine Aufgabe ber, fließend wie Waſſer. Alma vermochte gar nit mitzulommen, obwohl fie ſich Mühe gab; fie war fo zerftreut. Aber es war aud nicht nötig. Arvi ftodte nicht ein einziges Mal und hielt nicht inne, ehe er fertig war.

Alma lobte ihn, gab ihm Sußigleiten und ließ ihn gehen.

VL Eines Tages fand John auf Almas Tiſch

Strindbergs „Eheſtandsgeſchichten“.

„Iſt Nymark hier geweſen?“ fragte er.

„Er war vormittags hier, während du im Lyceum warſt,“ erwiderte Alma.

In nächſter Zeit tauchten bei Alma immer wieder neue Bücher auf, bald von Zola oder Guy de Maupaſſant, bald von irgend einem Einmal erſchien ſogar unter ihnen Arne Garborgs „Aus der Mãnnerwelt“.

„Es ſind gute Bücher, wenn man ſie nur richtig zu leſen verſteht,“ ſagte John.

„Wie fol man fie denn lefen?“

„So, daß man die Folgen des Böfen ſieht. Wenn Arne Garborg feine Helden in Aus der Männerwelt” von ſich jelbft jagen läßt, fie feien große Schweine, fünnten es aber nicht mehr ändern, fo ſollte das mehr wirfen, als die beften Moralpredigten.”

„Nymark nimmt fie nicht von diefer Seite.“

„Nymark! Der ift eben einer jener ober: flächlichen und leihtfinnigen Menſchen, die nicht die Kraft haben, in den Kern einer Cache einzubringen.“

„Das ift nicht wahr. Nymark ift im Gegenteil ein ſcharfer Denter.”

„So ſcheint es dir, Almachen, weil du ſelbſt dein Köpfchen nicht mit allzuviel Ge— danlen beſchwerſt.“

John glättete lächelnd Almas Haar. Aber beleidigt ſtieß fie feine Hand zurüd.

„IH bin natürlih dumm. Ich verfiche nichts. Nicht wahr, das meinft du doch?“

Blinde Klippen. os

dabei, ſah aber von Zeit zu Zeit von der Arbeit auf und horchte.

„Weint Helmi, oder was giebt es?“ fragte John lächelnd.

„Nein, mir war's nur ba läutet jemand!” fügte fie hinzu und warf bie Arbeit beifeite.

„Wenn es nur fein Beſuch ift. Das lãme mir recht ungelegen.”

Alma ging Öffnen und kam nad einer Weile, gefolgt von Nymark, zurüd.

John rungelte ein wenig die Augenbrauen.

„Du fheinft beihäftigt zu fein, John,“ ſagte Nymart.

„Um die Wahrheit zu fagen, ja, etwas. Aber fee dich jedenfalls.”

„Ich werde nicht lange bleiben. Ich fomme nur in einer Heinen Angelegenheit.”

Alma nähte eifrig und fah nicht einmal flüchtig auf.

„And die wäre?”

„Ich möchte deine Frau verleiten, an einer Vergnügungsfahrt teilzunehmen.”

„Mit dem Dampfboot nad Imatra?“

„Du weißt alfo ſchon davon?”

Nymark ſah Alma an.

„Alma hat nichts gefagt. Ich hörte nur, daß diefer Ausflug geplant fei.”

„Es wird eine Iuftige Erkurfion. angenehme Geſellſchaft. Auch Militärmufit geht mit. Frau Karel würde fi gewiß recht erfriicht und geftärkt fühlen, wenn fie wieder beimtäme.”

„Was meinft du, Alma?”

nJa—a... vielleicht... . auch Helmis wegen... . Aber das hängt von bir ab.”

„Durchaus nicht. Thu ganz und gar, mas du willſt.“

„Sehen Cie, Frau Karel! John giebt Ihnen volle Freiheit. Sie kommen aljo?”

„Die Reife wird vielleicht ein paar Wochen dauern.

Alma blidte auf und fah ihren Mann ſcheu an.

„Am jo länger dauert das Vergnügen,” fagte John.

„Boltommen richtig, um fo länger dauert das Vergnügen. Und nun gehe id, um nicht zu flören. Morgen Abend um fieben Uhr geht das Schiff, Frau Karel.”

Und-

Er nahm Abſchied, und Alma begleitete ihn in das Vorzimmer, um hinter ihm zuzu⸗ fperren.

„Alles ift gut gegangen,” fagte Nymark halblaut. „John machte ja gar keine Ein- wendungen.“

„Nein, wie merkwürdig! Und ich dachte, er würde ſich auf das beftimmtefte widerſetzen.“ „Bergefien Sie nicht: um fieben Uhr!”

Nymark faßte nochmals ihre Hand.

Ich werde nicht vergefien.”

John ſchrieb, ala Alma zurücklam und ſich auf ihren früheren Plag am Tiſche nieder: ließ. Cine Zeit, lang feßte jeder ſchweigend feine Arbeit fort.

Dann aber legte John die Feder weg, ftügte den Kopf auf die Hand und blidte Alma ernft an.

„Eprach Nymark ſchon vormittags mit dir davon?” fragte er.

„Ja,“ ertwiderte Alma etwas unficher.

„Und du mußteft, daß er wiederkommen würde, um mich zu überreden?”

Almas Ohren wurden rot, aber fie fagte nichts, fondern nähte eifrigft weiter.

nWußteft du es, Alma?”

„Ja,“ kam e8 endlich leiſe von ihren Lippen.

„Es wäre befjer geweſen,“ fagte er ein wenig fpäter mit beflommener Stimme, „wenn du offen und aufrichtig mit mir darüber ge: fprochen hätteft.”

Alma wußte nicht? zu eriwidern, aber ber Boden brannte ihr unter den Füßen, und fie ſuchte eifrig nad einem Anlaß, ſich zurüd: zuziehen.

„Ach richtig, Arvis Leltionen —“

Sie ſtand auf und legte die Arbeit zu fammen. John ließ fie gehen.

ALS fie von dem Ausflug heimlam, war fie heiterer und lebhafter denn je. Sie ſcherzte und fang, fpielte mit den Kindern und ftellte die Möbel im neuer Gruppierung auf. Auf alle Art verfuchte fie John zufriebenzuftellen

| und erwies ihm bie und da Meine Dienfte.

John bemerkte, daß fie wie verjüngt mar. Nachts aber erwachte er davon, daß Alma

| fi im Bett herumivarf, und lauſchte er, fo

fand er fie wachend. „Kannft du nicht ſchlafen?“ fragte er. „Nein. Aber ich bin auch nicht ſchläfrig.

Blinde Klippen. 9

Sprache kommen. Während er fo an bie allgemeinen Angelegenheiten badhte, vergaß er feine privaten Sorgen.

„Der Getreidezoll,“ ſchrieb er unter anderem, „soürbe unbeftreitbar den Bemittelten, ind: befondere den vermögenden Gutöbefigern, Richtern und Geiftlihen zum Vorteil dienen. Für die zahlreiche arme Bevölkerung dagegen, die fein Aderland befigt und auf deren Rechte und Vorteile der Landtag bedacht fein fol, wuürde er eine Laſt bedeuten. Das fnappe Brot bes Arbeiters, des Tagelöhners würbe dadurch noch knapper werben. Trachten mir baber, ihre Laft nicht noch mehr zu erfchtveren, denn fie ift ohnedies nur zu drückend.“

„Vor allem heißt es in unferem fozialen Leben die Gerechtigkeit walten zu laffen. Das ift die erfte Bedingung für unfere gefunde, nationale Entwidlung. Und es ift zugleich das einzige Mittel, die gefährlichen Unruhen zu vermeiden, die heutzutage in den großen Aulturländern die Fundamente der Geſellſchaft unterminieren.”

Wir follen freben, die Lage unferer minder gut geftellten Landsleute zu heben und zu beffern, insbefondere ihr Beftes im Auge zu haben ...“

„John, ſieh ber; ich bin fertig.”

Alma ſtand in der Thür, lächelnd und ftrahlend in einem filber: und goldglänzenden Tulllleide.

„Run, was ſagſt du? blendet?“

„Schön bift du. fagte John.

Aber die Etimme war ohne Klang, denn es fuhr ihm dur den Sinn, wieviel dieſe nur für das Vergnügen eines einzigen Abends beftimmte Toilette geloftet haben mochte. Wieder befam die frühere Unruhe Gewalt über ihn. AU die verwidelten Gefchäftsangelegen- heiten legten fi wie eine Laft auf feine Schultern.

„Und du, du ſchreibſt nur immer. wirft du genug davon haben?”

„Wenn id nicht mehr fann.”

„Es dürfte Zeit fein, zu gehen,” fagte Alma, indem fie fi bemühte, die letzten Knöpfe ihrer Handſchuhe zu fhließen. „Hilf mir, John, fie find fo eng.”

Biſt du nicht ge=

Außerordentlich ſchön!“

Wann

John that, wie gebeten, und begleitete ſie dann ind Vorzimmer.

„Gehſt du zu Fuß?” fragte en.

Mein, ich fahre. Der Wagen wartet im Hofe.”

„Wie? Du nimmt nur einen dünnen Negenmantel? Bei diefer Kälte? Wo bentit du hin?“

„Ach, der Weg ift ja fo kurz, daß ich mich faum bis dahin abkühle.”

„Aber du fönnteft body ebenfo gut einen märmeren Mantel nehmen.“

„Der mein Koftüm ganz zerfnittern würde. Dante ſchön. Und nun adieu, John.”

Sie wollte ihm zuerft bloß bie behand⸗ ſchuhte Hand reihen, aber dann, ald wenn eine plögliche Sinnesänderung mit ihr vor= gegangen wäre, fchlang fie beide Arme um Johns Hals und fühte ihn.

„Adieu!“

„Adieu! Erkälte did nicht!“

Alma lief ſchnell die Treppen hinab, und John kehrte in fein Zimmer zurüd.

Das unklare, halb reuige Gefühl, das fi fo plöglih im Vorzimmer Almas bemächtigt hatte, ſchwand bald im mwirbelnden Vergnügen des Maslenballes. Die „Nacht folgte dem Tage” wie ein chatten, und hinter ber Maske wurden Worte geflüftert wie niemals zuvor.

Sie tanzten zufammen, und nad) dem Tanze tranfen fie Champagner. Alma war wie im Rauſch. Cie wagte faum an das zu denten, mas Nymarf ihr zugeflüftert; und doch dachte fie daran und erftidte die. vorwurfsvolle Stimme in ihrer Bruft damit, daß das alles ja nur QTändelei fei. Und Nymark brauchte ja gar nicht zu wiſſen, daß fie etwas gehört, wenn auch in Wirklichkeit Fein Wort ihr ver- Ioren gegangen war. D, fie verftand recht wohl diefe abgebrochenen Säge, diefe erftidten Seufzer, dies Zittern der Stimme alles. Die Glut ihrer Wangen hätte es wohl ver: raten, aber die Wangen dedte die Masfe...

Und wieder tanzten fie, und wieder tranfen fie Champagner. Die Mufit rauſchte. Rings um fie her war Freude.

Alma mwünfchte, diefe Nacht möchte nie ein Ende nehmen. Längs der Wand aber faß eine Gruppe Damen, die abwechſelnd mit:

Blinde Klippen.

begriff, daß Verachtung und Verurteilung in ihnen lag. Ihr war zu Mute, als fei fie von der Gemeinfhaft ber Menſchen auss geſchloſſen.

Und ſie konnte nicht bei John Schutz ſuchen, noch mit ihm von ihrem Schmerz ſprechen. So vollftändig fremb erfdien er ihr, wie er fo in feinem Beit lag, daß fie nicht einmal in feine Nähe fommen, nicht ihr eigenes Bett aufjuchen mochte. Es Mar unmöglid. Die Lampe brannte noch. Sie löfchte fie, nahm einen Shawl um und legte fi wieder auf das Sofa im Salon.

Dort lag fie die ganze Nacht wach. Gegen Morgen verfant fic in einen betäubungss äbnlihen Schlummer, aus dem fie plöglid wieder emporfuhr. Wieder begann das Herz beftig zu fehlagen, und der Schmerz in ber Bruft befiel fie mit ermeuter Gewalt. Aber erft nach langer Zeit konnte fie fih klar machen, weshalb fie fo erregt fei.

„Warum Tiegft du bier?” fragte John, ala er eintrat.

Alma erwiderte nichts.

„Biſt du kant?”

„Rein.“

„Deine Stirn ift ganz feucht. dir zu warm im Schlafjimmer?”

War es

Eie legte den Kopf auf das Kiffen und wünfchte, John möge in fein Zimmer geben. Er fam ihr fo fremd vor, fo völlig fremd. Und die Hand, die er auf ihre Stirn brüdte, war fo ungewöhnlih fall. Ein Schauder durchfuhr fie.

„Sie heizen zu fpät des Abende. Daher fommt e8. Aber lege dich doch jet in bein Bett. Es ift doch jedenfalls beſſer.“

Alma that, wie er gefagt hatte. Sie ſchloß die Thüren und kroch unter die Dede, wie um fi vor den Augen ber ganzen Welt u verbergen. Und nun enblih brach fie in Thränen aus und weinte fo heitig, daß ihr ganzer Körper zitterte. Kiffen und Betttud) durdnäßten ihre Thränen, und das Haar fiel in langen Zoden herab und flebte an ber feuchten Etirn.

Sie meinte fo lange, bis die Augen feine Thränen mehr gaben. Ihr Körper hörte auf zu zuden, und die Pulſe klopften nicht mehr.

Eie lag ftill wie eine Tote; kaum merfbar tam ihr Atem.

Aber allmählih begann ihr unter ber Dede heiß zu werden. Sie warf fie zur Hälfte von fi, ftrih das Haar aus dem Gefiht und ſah fih um. Eie blidte auf das Zimmer, auf die Tiihlampe und auf die Möbel. Alles war fo wie geftern und vor— geftern und all die Tage vorher. Eie allein ar verändert, war eine ganz andere geworden.

Die Dinge umber waren biefelben und doch nicht diefelben. Ihr war, als fähen fie düfterer und kälter aus. Cie betrachteten fie tie eine fremde Perfon, die fie gleichfam von ſich abwiefen. Es war etwas in ihnen, was fie an die Blide von geftern erinnerte.

Mina brachte ihr ein Billet.

„Von Magifter Numark,” fagte fie. „Der Bote wartet auf Antwort.”

Alma riß das Billet auf.

„Sie find geftern fo unerwartet ver— ſchwunden,“ ſchrieb er. „Frau Leiftin fagte, Cie feien allein nad Haufe gegangen, und machte mir einige Andeutungen, die mid abnen lafien, daß Sie einen befonderen Grund zu Ihrem rafchen Auſbruch hatten. Ich möchte Cie fo gern fpreden! Kommen Cie, Frau Karel, Heute vormittag zu einer Schlittſchuh⸗ partie. Das Wetter ift ſchön und klar und das Eis wie ein Spiegel. Wenn Eie erlauben, To hole ih Sie um elf Uhr mit den Schlitt- ſchuhen ab.”

Alma fhrieb nur zwei Worte,

„Kommen Sie!”

Sie ftand raſch auf, kleidete fih an und babete das Geficht in kaltem Waſſer.

Sie hatte wieder Hoffnung gefaßt. Nymark würde fie tröften, fie gegen die Verleumdungen der köfen Menſchen fügen. Nymark würde fie nicht verachten und verurteilen, fondern ihr Freundfhaft und Teilnahme erweifen. Um feinetwillen hatte fie dies leiden müſſen, und darum würde er ihr helfen, fie fügen, nicht fie verftoßen, wie alle anderen fie verftießen.

Als Nymark Fam, ging ihm Alma mit audgeftredten Händen entgegen und brad in Thränen aus.

„Bas fehlt Ihnen? Frau Karell, was ift gefchehen? Nein, fagen Sie nihts! Ich errate alles.”

7*

Blinde Klippen.

„Sollen wir den ganzen Tag hier bleiben? In Vihtalanta torp belommen wir Epeifen und Kaffee. Auf Yagbausflügen habe ich oftmals da gegefien.”

Alma dachte an die Ihren, und ein Heiner Zweifel hielt fie zurüd. Aber es war fo frei hier, fo friſch, daß fie ſich noch nicht ent» ſchließen konnte, heimzukehren.

„Gut denn!” fagte fie. „Wir wollen bis zum Abend hier bleiben.”

Sie waren hungrig, und Alma fühlte ſich ermübet, als fie zur Hütte famen. Nymark ſprach mit den Hausleuten. Sie befamen ein fepariertes Zimmer, zu dem eine Thür aus dem Flur führte. Ein weißes Tuch wurde über den Tiſch gebreitet, und die junge, derbe Haustochter trug die Speifen auf. Ungeheure Butterbrote, Fiſch und Fleiſch. Butter ſoviel, daß es ganz ſicher für zehn Perfonen gereicht hätte. Schließlich heiße Kartoffeln und Mil.

Die großen, diden Brotftüde erregten Almas Heiterkeit. Sie fagte, fie könne fie nicht efien. Da zog Nymart fein ſcharfes Taſchenmeſſer heraus und ſchnitt ihr das Brot und Fleifh in bünne Scheiben. Ter Lade mar fo ſcharf gefalzen, daß der Mund davon brannte. Cie lachten beide darüber, aßen und plauberten.

Nachdem fie Kaffee getrunken, gingen fie zu ben anderen in bie Stube. Da gab es einen ganzen Haufen Heiner Kinder, mit denen Alma ſogleich Bekanntschaft zu fehließen ver: ſuchte. Nymark begann ein Geſpräch mit der

Xirtin, die am Herde hantierte. Und während |

Alma mit den Kindern fpielte, hörte fie eben, wie die Wirtin das Geſpräch unterbrach und zu Nymark fagte:

„ber was für eine ſchöne rau der Herr Magifter hat. Meiner Seel’, wunderſchön. Wir meinten gerade, daß es wohl in der ganzen Stadt fo mas Echönes nimmermehr gebe.”

„Sie ift nicht meine Frau,” erwiderte Nomark mit leifer Etimme.

Alma war bis zu den Haaren hinauf errötet und hatte ſich herabgebeugt, um den Kindern etwas zu fagen. Dennoch folgte fie aufmerffam dem Geſpräch.

„Richt? Na, dann ift fie Ihre Braut. Ja, das hätt’ man ſich aud denken können.”

„Wieſo?“ fragte Nymark lachend.

101

„Man hat fchon fo feine Zeichen.”

„Sieh mal an! Darf man fragen, welche Zeichen?”

„Muß ich's wirklich jagen?”

„Natürlich.“

„Das merkt man ſchon an ben Bliden. Ein verheirateter Mann fehaut feine ‚Frau fo verliebt nicht an.”

„Und doch irren Sie fih. Sie ift nicht einmal meine Braut.”

„Richt?“ Die Wirtin blidte zweifelnd erft auf Alma, dann auf Nymark.

„Sm,“ ſchmunzelte fie, „ift ſie's nod nicht, fo wird ſie's bald.”

Nymark lachte und trat zu Alma, dic noch immer mit den Kindern fpielte. Sie war rot und vermich forgfältig, aufzubliden.

Nymark betrachtete fie und brebte feinen Schnurrbart. Er begrif, daß Alma alles gehört hatte, und beobachtete fie noch ſchärfer.

Alma fühlte feinen Blid und beugte fi errötend noch tiefer hinab. Da ihr nichts einfiel, was fie den Kindern fagen fonnte, fo ftrid) fie nur mit der einen Hand über den | Kopf eines weißlocligen Jungen, während fie die andere in die Eeite ftüßte.

Und als Nymark fi neben fie auf die Bank ſetzte und die Namen der Kinder wiſſen mollte, da rüdte Alma fort und wandte ſich zu dem Alten, der Nege Inüpfend beim Tiihe faß. Sie zeigte ihm, wie die Damen Knoten machen, wenn fie Tiſchtücher Mnüpfen. Allein dem Alten ſchien das recht umſtändlich und Schwierig, und, als ſchämte er ſich feiner groben Plumpheit, z0g er ſich in [heuer Beinunderung ein menig zurüd. Lächelnd fah er dann zu, wie flint die feinen, mweißen Finger fi in feinem grauen Net beivegten.

AU diefe Zeit ſchwebte Alma etwas Undeutliches, Yormlofes vor. Die Worte der Wirtin Hangen ihr beftändig in den Ohren. Ihre Nerven bebten, die Wangen brannten, und ber Bufen hob fi) gewaltfam. Cie ver: | mieb e3, Nymark anzubliden, folgte ihm aber um fo eifriger mit ganzer Seele.

€3 war über fünf Uhr Zeit, an den Heimweg zu denken. Alma ftand auf und reichte den Wirtsleuten die Hand zum Abſchied.

In der Thür blich fie noch ftehen und ſah ı fih um. Die Etube war warm und gemütlich,

Lina Worgenftern und die Berliner Boltöküchen. 108

unverſchloſſen. Die Hängelampe brannte, die Bor ihr ftand John, body und emft. Rode und Mäntel hingen an der Wand, fie | Almas erlöſchender Blick fuchte den Boden. bemerkte nichts Ungewöhnlices oder Neues. N Weißt du fchon, daß Arvi krank iſt?“ Sie hing ihren Mantel auf, legte Hut | fragte John. „Er kam vormittags mitten in und Muff auf den Tiſch, trat in den Salon, | der Stunde ‚von der Schule heim und liegt blieb aber wie feftgenagelt jenfeits der Schwelle in ftarlem Fieber. Der Arzt fürdtet, daß er

ftehen. ı die Blattern befommt.” (Schluß folgt.) Een ina Forgenſtern und die Berliner Folksküchen. von

€. Dely.

Nagprud verboten.

m nebelfeuchten und grauen Reſidenzſtädtchen Oldenburg fragte vor beinah vier

Jahrzehnten ein hellaugiges Schulmädchen den Lehrer bei der Erklärung von Schillers Glode und dem Vers: „Arbeit ift des Bürgers Zierde“ „Warum nicht auch der Bürgern?”

Bon oben herab kam die Antwort: „So etwas giebt es nicht!” War es doch bie Zeit, in der ſich die Frauenarbeit noch ausfchließlih im Haufe abipielte und, wenn fie ins Öffentliche Leben hinaus wirkte, als blauftrümpflich mit dem Anflug der Lacherlich⸗ teit behaftet war, in der man Lehrerinnen als „gelehrte Frauenzimmer“ brandmartte.

Wie anders ift dad jet. Wenn wir auch noch nicht vollgiltige Bürgerinnen find, fo find wir doch auf dem beften Wege dazu: wir empfinden die Pflicht der Arbeit über das Bereich des Haufe hinaus. Jene Meine Fragerin aus den friefiihen Kiften: lande ift felber eine Ruferin und Führerin geworden in dem Kampfe, den aufzunehmen die deutſche Frau endlich reif wurde um ihre Menſchenrechte. Schon hat mande Frau geigı was der Bürgerin Arbeit vermag, und damit find auf allen Gebieten die Vorbedingungen zu voller Entwidlung geichaffen. Freilich vergeffen gar zu leicht die meuzuftrömenden Jüngeren, wie viel fie der Arbeit der Vorläuferinnen verdanfen. Sie klettern auf die Schultern der Daflehenden und rufen hinaus: „Wie groß find wir! Wir fehen jegt weit in die Lande!”

Darum ift es Pflicht, auf die unter und hinzuweiſen, die vornan im Kampfe ftanden und ftehen und den erften Anprall aushielten. Heute ift die Fürforge für das leibliche Wohl des arbeitenden Volkes, für die Beköſtigung der Hunderttaufende, die ala alleinftehende Menſchen, als Angehörige von Familien, deren Glieder zerftreut durch verfchiedene Arbeit fich nicht zu gemeinfamen Mahlzeiten zufammenfinden fünnen oder folder, deren geringer Verdienſt vollwertige Ernährung im Einzelnen nit zuläßt, in Berlin, wie in vielen Provinzitädten in großartiger Weife entwidelt.

Das alles, worauf man heute als jelbfiverftändlich bückt, ift mit in erfter Linie zurüdzuführen auf die Anregung und Thatfraft einer Frau, Lina Morgenftern. Der Name biefer ganz von thätiger Nächftenliebe erfüllten, regiamen Frau ift jelbftverftändlich aud mit al den andern Errungenfchaften auf dem Gebiet der Frauenbewegung verknüpft. Aber ihr unbeftrittenes Schlacht: und Siegesfeld ift das eingreifender, thätiger Hilfe für das Volt ihr ift der Segen der Volkskücheneinrichtung zu danken. Sie hat in praftifcher Arbeit beiviefen, was eine Frau vermag, fie hat Hunderten von Mit: ſchweſtern Wege und Ziele gezeigt, fie dienfibar gemacht für die Arbeit zum Wohle anderer und fie zum Nachdenken gebracht über die Lage der Armen und Elenden in der menfchlichen Gefellfchaft. Wenn man die Ecine, lebhafte, bewegliche Frau mit den gutblidenden Augen und dem freudigen Enthuſiasmus fiebt, fo hat man den Eindrud,

Der Verein Deutſcher Lehrerinnen in Frankreich. 107

Mittel werben aufgebracht durch die Jahresbeittäge der Mitglieder, durch Gaben von Gönnern und Freunden des Dereind und durch regelmäßige Beihilfen mehrerer deutſchen Städte, insbeſondere der Reichshaupiſtadt Berlin.

Der Verein bietet den dauernd oder vorübergehend in Paris ſich aufhaltenden deutſchen Lehrerinnen einen nationalen und beruflichen Mittelpuntt, er giebt ihnen Rat und Auskunft in allen ihren Angelegenheiten und fucht fie nach allen Richtungen bin in ihren Zweden zu fürdern. Die Bereinsräume ftehen den Mitgliedern täglich zum Aufenthalt offen, eine Bibliothek ſowie Tageszeitungen find zu ihrer Verfügung. Jedes Mitglied kann gegen einen geringen Preis an dem täglichen Dittagetiie) teile nehmen. Sonntag nachmittags vereinigt ſich hier eine zahlreiche Schar Lehrerinnen zu geielligem Zufammenfein. Im Winter werden allmonatlidy litterarijche oder andere Vorträge gebalten in deutfcher oder franzöſiſcher Sprache.

Die Stellenvermittlung des Vereins, mit der die Damen v. Harbou und Pflüder betraut find, verforgt jährlich über 100 Mitglieder mit Stellen, Tagesbeſchäftigungen oder Stunden. !)

Sehr erfreulich ift e8, daß in den Iegten Jahren der jährliche Zuzug deutfcher Lehrerinnen nad Parid vorwiegend aus folchen befteht, die ausichließlich den Zived haben, ſich in der franzöfifchen Sprache zu vervolllommnen. Infolgedeffen haben die franzöfifchen Unterrichtöfurfe, die bald nach der Gründung des Vereins eingerichtet wurden, ſich mit der Zeit bedeutend erweitert. Sie werden jährlih von 60 bie 70 Schitlerinnen befucht und ftehen unter der Leitung der Vorfigenden, Fräulein Schliemann. Es wird dabei befonders darauf Bedacht genommen, die Teilnehmerinnen zur praktiſchen Ausübung des Sprachunterrichtd tüchtig zu machen und großer Wert auf die Aneignung einer richtigen Ausſprache gelegt. Das Eindringen in die befonderen Eigentümlich— keiten der franzöfiichen Sprade, das Verftändnis für die richtige Bedeutung ber Wörter, die Feinheiten des Ausdruds und der Wendungen wird den Schülerinnen vermittelt duch die Übungen im fchriftlihen und mündlichen Überfegen vom Deutſchen ins Franzöfifche, die von M. Bellon, agrege de l’Universite, professeur au Lycee Condorset, geleitet werden. Zur Befeſtigung der für eine Sprachlehrerin fo notwendigen grammatifalifchen Kenntniſſe dient der Kurfus der „Lecture expliquee“ von Mile. Jeautet. Diefer Unterricht, der in die Einzelheiten der Grammatıf und logiſchen Analyfe eingeht, kommt auch beſonders den Lehrerinnen zu ftatten, die Ipäter in franzöfifhen Familien den Kindern bei ihren Schularbeiten beiftehen follen. Der Unterricht in der franzöfifchen Litteratur ift auf zwei Kurſe verteilt und unfaßt einerſeits die Klaſſiker des 17. und 18. Jahrhunderts, andrerjeit3 die Schriftfteller des 19. Jahrhundert? bis auf umfere Zeit. Er giebt den Schülerinnen einen gedrängten Überbiid über das ganze Gebiet der franzöfifchen Litteratur der legten drei Jahr: hunderte, ſoweit der furze Zeitraum eined Schuljahr dazu ausreicht. Im übrigen werden fie angewieſen, ihre litterarifchen Kenntniſſe fpäter durch eigne Studien zu vervollftändigen und zu vertiefen. An dem Unterricht der Profefioren knüpfen fich Schriftliche und mündliche Übungen der Schülerinnen.

Die Kurfe beginnen Mitte Oftober und dauern bis Mitte Juli. Sie zerfallen demnach in drei Abichnitte von je drei Monaten. In folhen Fächern, wo eine größere Schülerinnenzahl die Fortfchritte der einzelnen beeinträchtigen würde, werben Parallel:Abteilungen eingerichtet von je 8 bis 10 Schülerinnen. Auf Wunſch können die Kurfiftinnen fich einer Prüfung unterwerfen und im Fall tes Beſtehens ein Be:

Indeſſen ift die Zahl der in Paris Verdienſt ſuchenden deutſchen Lehrerinnen ftets größer als die Nachfrage nach deutſchen Vehrkräften. Es fei daber erwähnt, daß feine Yehrerin darauf rechnen barf, hier in kurzer Zeit einen außreidenden Erwerb zu finden. Sie barf nie ohne Nittel tommen, da fie oft mehrere Donate auf eine Stelle warten und folglich aus eigner Taſche Ichen muß. Cs ift nußlos, von Deutſchland aus eine Stelle nachzuſuchen, da man hier ftets verlangt, daß bie Bewerberin ſich perfünlich vorftelle. Anerbietungen durch Agentinnen oder Zeitungen find mit größter Norficht aufzunehmen. Zur veſedung von beijeren Stellen find nur ſolche Erzicherinnen verwendbar, die jhen etwas Erfahrung in ihrem Fache und eine geweiffe Nenntni® der franzöflien Sprache befigen. Ganz junge, ungeübte vehrerinnen müjfen ſich meiftend mit au pair-Stellen begnügen. Im allgemeinen werben bier mehr deutfche Kinderfräulein (hier gouvernantes genannt) als eigentliche geprüfte Erzieherinnen verlangt.

Der Berein Deutfcher Lehrerinnen in Frankreich. 108

Der Verein Deuticher Lehrerinnen in Frankreich ift eine nationale Berufs: genofienichaft, und es werden als ordentliche Mitglieder nur deutiche Lehrerinnen auf: genommen. Das bedingt fchon feine Eigenichaft als Zweigverein des Allgemeinen Deutichen Lehrerinnenvereind. Als folder fteht er in naher Fühlung und beftändigem Wechſelverleht mit den Lehrerinnenkceifen diejed über ganz Deutichland verzweigten Bundes und nimmt kraftig teil an deſſen Reformbeftrebungen auf dem Gebiet der Erziehung und des Unterrichts. Auch Mitglieder anderer deutfcher Lehrerinnenvereine ichliegen ſich hier unferer Genoffenfhaft an, um unter deren Schug und Beihilfe ihre Zivede zu verfolgen. Manche bisher feinem Verein angehörende Lehrerin ift durch den Anſchluß an unfern Verein bei der Rückkehr in die Heimat dem großen Mutter: verein zugeführt worden.

Es bleibt und noch zu erwähnen, daß der hieſige deutſche Lehrerinnenverein dreimal im Jahre dad „Parifer Vereinsblatt” herausgiebt, dad zunächſt für feine Mitglieder beftimmt ift. Es dient vornehmlich dazu, dieſen die Bekanntmachungen des Vorftandes zu vermitteln und die Abwejenden mit dem Vereinsleben in Verbindung zu erhalten. Es bringt Mitteilungen aus der Lehrerinnen und Frauenbewegung im Vaterlande und ift allen fozialen und püdagogifchen Fragen der Gegenwart offen. Auch Nichtmitglieder können es beziehen für den Preis von 1 Mark jährlid.

Dur feine ausgedehnte Etellenvermittlung fteht der Verein mit zahlreichen gebildeten franzöfifchen Familien in Verbindung. Die meiften Dlitglieder leben in frangöfiicher Umgebung. Die franzöfiihen Lehrer der Vereinskurſe walten mit Hingebung ihres Amtes und Öffnen ihr Haus gaftlich den Schülerinnen. Die einzelnen Mitglieder ftehen mit franzöſiſchen Hausgenoffinnen oder Lehrerinnen, mit denen fie Stunden aus: tauschen, in freundlichem Verkehr. Auch den höheren Unterrichtöbehörden ift unjer Verein befannt, und fie wenden feinen Beftrebungen eine wohlwollende Beachtung zu. Auf Empfehlung der Vorfigenden des Vereins wird einzelnen Mitgliedern vom Direktor der Pariſer Akademie die Erlaubnis erteilt, an den biefigen ftaatlichen Lehranftalten für Mädchen zu Hofpitieren. Bei diefer Gelegenheit möchte ich mod) eine Erläuterung zu ber in einem Artifel von A. Neumann im Juliheft diefer Zeitichrift ala münfchens: wert bingeftellten Aufnahme deutſcher Lehrerinnen als repetitrices in den Ecoles normales d’institutrices (Bildungsanftalten für Volkefhullehrerinnen) geben. Schon vor einigen Jahren ließ das franzöfijche Unterrichtöminifterium an die englifhen und deutfchen Lehrerinnen die Aufforderung ergehen, fi) zu ſolchen Stellen zu melden. Die Sache wurde als ein Verſuch angefehen. Es liefen zahlreiche Anmeldungen ein. Do ſchon nach Verlauf des erften Jahres ftellte fi) heraus, daB das Zuſammen- wirken franzöfiicher und deuticher Lehrerinnen an diefen Anftalten zu Unzuträglicpkeiten führte, und die Zulaſſung deuticher Lehrerinnen wurde wieder aufgehoben, während die der englifchen beibehalten ward. Auf wirkliche Anftellung an ftaatlihen Mädchen: ſchulen dürfen Deutfche wie andere Fremde hier überhaupt nicht rechnen. Bei der Einführung der neuen Schuleinrichtungen für Mädchen find in einzelnen Fällen Aus— länderinnen angeftellt, weil noch feine genügende Anzahl in den Sprachen außgebildeter Franzöfinnen vorhanden war, jet, wo der Bedarf an Sprachlehrerinnen reichlich durch Einheimifche gededt werden kann, werden überhaupt feine Fremde mehr zu den Staatöprüfungen zugelaffen, deren Ablegung zum Anſpruch auf ſtaatliche Anftelung berechtigt, es jei denn, daß fie ſich naturalifieren ließen.

Wenige Monate nach der Gründung des Allgemeinen deutſchen Lehrerinnen: Vereind ind Leben gerufen, wird der Verein Deutſcher Lehrerinnen in Frankreich im November dieſes Jahres auf ein zehnjähriges Veſtehen zurüdbliden. Die glüdliche und vielfeitige Entwidlung, die er in diefen wenigen Jahren erfahren, die ftete Mehrung feiner Mitgliederzahl legt das befte Zeugnis davon ab, daß feine Einrichtungen den DVedürfniffen und Ziveden der deutichen Lehrerinnen in Frankreich entiprechen. Die bisherigen Erfolge des Vereins laffen vorausjchen, daß feine Einrichtungen in Zukunft nach mander Seite hin eine wünjchenswerte Erweiterung erfahren werden, und wir fprechen zum Schluß den Wunſch aus, daß unfer Yeuttiges Werk im Auslande auch über die Fachkreife hinaus mehr und mehr Beachtung finde und neue Freunde gewinne.

mo

Moderne Lebendprogramme. m

„Deutſcher Glaube” ift ein modernes Lebensprogramm in dem Sinne, daß alte Worte, alte, ja fait abgeleierte und entivertete Parolen, aus dem Reichtum, der Kraft, den Werten der Zeit heraus neuen Inhalt, neue Farben erhalten.

Modern ift das Fräftige, ariftofratifche Perfönlichfeitsgefühl, das feine Ideale nit in blaffen Begriffen und Maßſtäben, fondern in ber Weſensbeſtimmtheit des ſchaffenden Menſchen fucht, und dem adelig und gemein, frei und knechtiſch, tapfer und feige, Ariftofrat und Philifter mehr bedeuten als pofitiv und liberal und alle philoſophiſchen und religiöfen Meinungen.

Modern ift auch das feine Verftändnis für das Organifche, für Wege und Weſen Hiftorifher Entwidlung, für die innere Einheit geiftiger Bewegungen, auch wo fie difparate Erſcheinungen zeitigen, für die Möglichkeiten, die in der Kontinuität geichichtlichen Werden liegen. Nicht auf einfamer Höhe wird die Fahne „Deuticher Glaube” aufgepflanzt, eine kräftige Hand, ein rüftiger, jugendfroher, unverzagter Mut trägt fie hinunter in die Wirklichkeiten des Lebens, zu entſchiedenem Kampf mit dem böfen Feind, wo immer er fi finden läßt, zu ehrlihem Ringen aber auch mit feinen Göttern.

Deutſcher Glaube wird nur errungen in Freiheit. Und das ift e8, mas den Chriſtgott in fo vieler Augen discreditiert, was einen Geruch wie nach Heinen Leuten um ihn ausgebreitet, daß man ihn in YBuchftaben feflelte. Man Hat e3 mit ihm gemacht wie der Mann mit dem Geift in der Flaſche.

„Ich fehe dich lieber ba drinnen“, ſprach er, ftedte bie Flaſche ein und verwahrte fie fiher. An den Sonntagen nahm er fie hervor, zeigte fie feinen Kindern und Nachbarn und erzählte ihnen, daß ein Geiſt da drinnen fei, und wie er außfehe und was für eine mächtige Stimme er habe.

Du lachſt? Sie laden alle, wenn fie die Märe hören und weiter erzählen, fie follten weinen. Es wäre Hüger, er ließe ben Geift heraus und machte ihn fi bienftbar. Was hat er vom Gaffen! Ihr Habt euren Gott auf Flafchen gezogen. Aber ich lobe mir den, ber ihn herauskommen läßt und wagt es auf Gnade und Ungnabe mit ihm.

Der Ehriftgott ift ein gefeffelter Gott auch in der Bruft jedes einzelnen; ftatt ihn mit allen Mächten, die von außen und von innen lebenbeftimmend eingreifen wollen, ftolz und ſtark ringen zu lafien, pflegt man Kranfentugenden: „ein geruhiges, ſtilles Leben, möglichft große Enthaltfamfeit, Gehorfam, Sanftmütigkeit, Ergebenheit. Es ift religiöfe Mode geworben, das Grundverhältnis des Menfchen zu Gott als das eined Patienten zu feinem Arzt aufzufaffen. Aber der Gefunde läßt ſich lieber prügeln al3 bemitleiden und befeelforgen im Sinne der geifligen Krankenpflege.” Weichlih und fchlaff ift auch dad Ebdelfte geworden. Das Wort Liebe ift fo an- gefült mit Sentimentalität, daß es einem bei feinem Gebrauch zu Mute wird, als falle man Gallert an. Daran liegt es, daß Chriftentum und deutſches Vollstum noch unverföhnt nebeneinander flehen.

Dies beides fteht ſich gegenüber: ein gefunbes, lebensfreudiges und arbeitäfuftiged, Tampfed- mutiges Bolt und die Krankenpflegerweisheit der Kirche, die ihre Mdepten mit Inbrunft und Eifer an die Sterbebetten weift, als an bie rechte Schule, um zu lernen tie man die Lebenden behandelt.

Dem bdeutfchen Glauben erſcheint, wenn er ein Bild fucht für das, was er als göttliche Kraft empfindet, Gott als „Führer, Herzog, König, Feldherr und Meifter*, Führer in das volle freie Gegenwartsleben hinein, um ſich fämpfend zu verbinden mit allem, was dort ald Macht und als Wert gilt. Nichts ift fchlimmer, gotttwidriger als „die Feigheit, die fich verftedt und müde die Hände abwehrend ausftredt: es ift gut, es ift gut; ihr habt recht, haltet nur Frieden und Ruhe. Nur feinen Streit,

Moderne Lebensprogramme. 118

über bein Weib als fechftes, du follft deinen Vorteil holen, wo bu ihn findeft als fiebentes, du bift zum Richter gefegt über ale Mitmenfchen als achtes, Rüdjichts: loſigkeit als neuntes und Mißtrauen und Prozefiieren als zehntes Gebot.“

Jedes einzelne ein entjchiedened Nein auf das, was der Pfarrer zu fagen hat.

" Aber auf dem Dorf ift Götterdämmerung. Der alte Volksgott, der dem Bauern das Zehngebot des Machtgewinnd um jeden Preis diktierte, unterwirft fi) langfam dem Gott der Liebe. Langfam Jahrhunderte arbeiteten daran. Davon erzählen die Geifter, die in der Sturmnacht durch das Dorf zichen und fragend durch die Scheiben hineinſehen:

„Schulze, was macft du, Gemeindeſchulze? Fürchteſt du dich Unrecht zu rügen, wo Unrecht ift? Schulze, wie hängt dein Mantel im Wind? Schulze, geht's vorwärts im Torf? aufwärts im Dorf? Schulze, wie bauft du die Gemeinde über unfern Fundamente? Biſt du voran oder hintſt du hinten nach, ängftlid auf die Stimmung achtend? Pfarrer, mas machſt du? bift du ein Frembling im Dorf? übel gezwungen, weil du noch feine befiere Stelle haſt? Führſt du den heimlichen Kleinkrieg ums Geld? Biſt du Feuer oder Feuerrauch? Pfarrer, gieb acht, wie ſprichſt du von deiner Gemeinde, find's dumme Bauern, Rich, um dad man ſich nicht fümmert, außer um es zu übertölpeln?“

Auf dem Dorf ift Götterdämmerung.

Hier und da einer, der fchon den Kampf aufgenommen, der junge Tagelöhner Benedikt Heider, der dem Trunke mwiderfteht, an dem feine Väter bid hinauf zu dem, der noch Hofbefiger war, zu Grunde gegangen, der Schulze, der dem Pfarrer nach einer fröhlichen und doch ernften Plauderei die Hand reicht und fagt: „ich ſeh's noch kommen, wir machen zufammen noch etwas Bahnbrechendes für unfer Dorf.”

Ein önigliches Gefchlecht fol heranwachien im Dorf, Menfchen, die Mitichöpfer Gottes find und über die Erde, das Irdiſche herrſchen. Solches Herrchen aber bedeutet Selbftzucht. Auch hier ein entſchiedenes, durchgreifendes Entweder oder.

Ich Habe Menſchen kennen gelernt, junge kräftige Menſchen, an denen der Lebendige Gott feine elle Freube hätte Haben können, wenn fie verjtanden hätten, königlich gefinnt zu fein, aber fie waren Vieh. Nicht fie regierten ſich und hielten das Tieriiche in ſich in ſtolzer Zucht, fondern das Viehiſche in ihnen war König über fie und fie mudften nicht, wenn es feine brennende Geißel über fie ſchwang! O Schande! Schande! Schweigt alle! Es ift zu gemein und häßlich.

Und dann fol die Schöpfung ſchon fertig jein? Tie Schöpfung der Könige der Erde, bie über alled Bieh herrſchen follen, und über alles Gewurm, das auf Erden kriecht, wenn fo das ekelſte Gewürm und bändigen und über und wegkriechen kann, über uns Ebenbilder Gottes, Könige in feinem Namen?

Er foll nur ſchweigen, der da, der dad Geficht jur Frahe verzieht, als fühlte er ſich weit über: legen unb müßte befler, wie es der Welt vauf iſt. Ich weiß es auch und bejonders, wie fein und feineögleichen Lauf ift, obwohl da fei Gott vor! nicht fo prattifch wie er.

Aber das weiß ich fogar beſſer als cr, was Liebe wirklich iſt. Sie hat nichts mit dem Schmutz zu thun, fie ift etwas Heiliges auch noch in ihrem Irdiſchſten, und wer fie nicht heilig zu balten weiß, dem wird von daher das ganze Leben ſich einihmugen.

In dem Bemühen, die Eigenart von Arthur Bonus im Kern zu fallen, wurde mir eine Geftalt der modernen Malerei lebendig der Säemann von Hans Thoma.

Wie er über die heimiſche Scholle fehreitet, jede Linie der prachtvollen Geftalt marlige Kraft, edel ohne eine Spur von Weichheit, jede Bewegung ein Ausdruck unbeirrbarer Zutunftfreudigfeit, einer Hoffnung aus Glauben und der eigenen Mannes: kraft, jo ſcheint er eine Verkörperung jenes „deutſchen Glaubens“, der in den Schriften von Arthur Bonus lebt.

115

Um einen Kopf Blumenkohl.

R. Fromm.

Ragvrud verboten.

In der Küche waltete das alte Mütterchen, !

ganz erhigt von ihrer Thätigkeit und von freudiger Aufregung. Cie bereitete eine be— fondere Überrafgung für ihren Mann, denn es mar heute ihr Hochzeitstag!

Cie hatten ihn ſchon mandes liebe Jahr begangen, ohne jede Feſtlichleit; denn erftens ftanden fie allein, und zweitens waren fie arm.

Cie hatten heute wie jedes Mal zuvor ſich

am Morgen einen Kuß gegeben und hatten gefagt: „Gott, laß uns beieinander bis zu unferem Ende!” Sonft war die Feier des Tages damit beendigt geweſen. Aber heute ſollte es etiwas Befonderes geben, und das gute, runzlige Geficht der Frau Lehnert lachte in jedem Fältchen in der Vorfreude.

Sie ging hinein, um den Tiſch zu decken. Ihr Mann ſaß am Fenſter, über einen Heinen, tannenen Tiſch gebüdt, der mit Papptafeln,

buntem Papier, Kleiftertöpfen und dergleichen

bebedt war. Der ehemalige Buchbinder trieb fein Gewerbe nod, fo gut ober vielmehr fo ſchlecht wie feine halbblinden Augen und feine gitternden Hände ihm geftatteten.

„Sieh einmal, Hannden,” fagte er ver gnügt, „ift das nicht etwas Feines?” Gr wies mit harmlofem Stolz auf ein Schächtelchen, deſſen fchiefe Wände und fonftige Schäden er nicht ſehen fonnte. „Das nimmft du in den Laden mit, wenn du morgen ausgehſt, nicht wahr?”

„Gewiß!“ ftimmte dad Mütterchen lebhaft

bei. Es war der einzige Betrug, den fie ſich

in ihrem Leben zu Schulden kommen ließ: |

daß fie feine verunglüdten Erzeugniſſe forttrug und dann vorgab, fie hätte fie verkauft. wußte, der Gedanke, daß er noch etivas ver⸗ dienen könne, war die einzige Freude, die

Eie |

ihrem Mann geblieben war. Und bei dem fümmerlihen Leben, das fie führten, wollte fie ihm die nicht rauben.

Sie hatte nun die Suppe aufgetragen. Aber fo fehr fie fih bemühte, unbefangen zu feinen, er mußte doch an ihrer Zerftreutheit merken, daß etwas Außerorbentlihes in der Luft Tag.

„Du bift ja fo erregt, Hannchen,“ fagte er gutgelaunt. „Haft du mir etwas zu beichten® Iſt das Fleiih hart oder hat es die Kate gefreſſen ?”

„Rein, nein,” lachte das Mütterchen, feelenfroh, da er foweit entfernt war, die Wahrheit auch nur zu abnen. Gie ging

| pinaus, fam wieder und ftellte mit ernfter,

gleihgiltig fein follender Miene das Fleiſch und die Kartoffeln auf den Tiſch, daneben eine verbedte Schüffel.

„Was ift das?“ fragte der alte Lehnert, bob auf einen lächelnden Wink der Frau den Dedel auf und büdte ſich tief über das Gericht. „Blumene nein, e3 ift doch nicht möglid). Mahrhaftig, Blumenkohl! Blumenkohl, noch dazu im Winter! Wie geht das zu, Hannden ?”

„Nun, Alter,” fagte fie mit vergnügtem Laden, „wie ich geftern bei dem Krämer vorbeiging und die ſchönen Köpfe im Fenſter

liegen fah, dachte ich bei Mir: morgen ift unfer

Hochzeitstag; da fönnte ich ihm einmal fein Zeibgeriht geben. Wir haben ja, Gottlob, in diefem Winter etwas an ber Heizung erfpart, das Gelb reicht, bis die Unterftügung aus dem Verein kommt —“

„Und daraufhin ſchwelgen wir heute,“ lachte der Alte. „Ei, ei, wie, wenn eine der Vorſtandsdamen dich bei dem Einkauf geſehen

8

Troſt.

Die junge Frau nickte. „Ich bin nicht der Anſicht der anderen Damen,“ ſagte ſie; „aber ich dachte, es wäre beſſer, wenn ich Sie warnte und Sie bitte, in Zulkunft vorſichtiger zu ſein.“

„Um einen Kopf Blumenkohl!“ ſtammelte das Mütterchen faſſungslos.

„Ja, es thut mir ſehr leid; aber ich habe nicht durchdringen können. Und ba ich fürchte, ie könnten in Verlegenheit fein, habe ich Ihnen etwas aus eignen Mitten es iſt fehr wenig, aber doch beſſer —“ Eie verlor fih in verlegenem Stammeln, während fie ein Heines, zufammengemwidelte® Papier auf den Tiſch legte.

Die beiden Alten fenkten ihre weißen Köpfe tief vor Scham. Es mar das erfte wirkliche Almofen, das fie befamen. Das Mütterchen fuhr ſich mit der runzligen, arbeits: harten Hand über die Augen und verſuchte etwas zu ftammeln, aber fie brachte fein Wort heraus. Da erhob fi} der alte Mann; und die blöden Augen feit auf das Geficht der Dame geheftet, fagte er:

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„Gnädige Frau, wir banken Ihnen für die gute Gefinnung, mit der Sie uns Ihr Gehen? machen. Wir haben nad ber Meinung der wohlihätigen Damen ein Unrecht begangen, und wir müflen bie Strafe dafür hinnehmen. Die Strafe ift wohl gerecht, aber die Lehre, die Cie damit geben, ift nicht gut. Mas wir aus Unbedacht öffentlich gethan haben, das werden bie andern armen Leute heimlih thun; fie werben nicht nur ver—⸗ ſchwenden wie wir, fie werben auch heucheln, und die Damen werden ſchlechten Dank für all ihre Mühe und Barmherzigkeit haben. Das fagen Eie den andern Damen, gnädige Frau, und feien Sie felber beftens bedanlt, weil Sie es fo gut mit und meinen.”

Frau Etieler fagte leife „Guten Abend” und ging eilig die Treppe hinunter. Der Mann hatte jo unrecht nicht, und fie hätte gern die Beftelung ausgerichtet. Aber fie fürdptete fich vor den älteren Vorſtandsdamen; und fchlieglih: wäre es nicht beſſer für alle Teile geivefen, wenn bie Alte ihren Blumen- Tohl heimlich, gefauft hätte?

per -

Sn alle zur Ruh gegangen, Ich fig im Stäbchen allein.

Da tritt mit leifen Schritten Meine Mutter zu mir herein.

Ganz leife tajten die alten, Sitternden Hände mich an, Und ihre Fippe tröftet, Wie fie nur tröften fann.

- &rof. -

*

DIL leiſe von mir fehmeicheln Das Leid, das wild mich quält, Indem fie mir meiner Kindheit Goldene Märchen erzählt.

Da thun fich alle Thore

Dor meinen Augen auf...

So fill. Längft hielt die Mutter Mit Schmeicheln und Reden auf.

£eif'ilt fie fortgegangen,

Sie ließ mich nicht allein,

Mein Heimweh und meine Jugend, Die mögen wohl bei mir fein.

Milhelm Tobfien.

Frauenvereine.

nötige Material en gros ben ganzen Winter hindurch beziehen kann und mit dem richtigen Kennerblid das erforderlihe Tuantum wird feftftellen können. In jedem Haufe, wo eine größere Feſtlichkeit ftatt: gefunden, wird belanntlid oft noch tagelang von den beaux restes gejhmaujt. Das ift im Grunde eine Verſchwendung! Denn es liegt durchaus nicht in

den Abfichten der dausfrau, die ganze Familie mit '

119

' teuren Mayonnaifen, Poularden, Cremes u. bgl. m. noch hinterdrein zu regalieren. Man macht aber eben aus ber Not eine Tugend.

Schon biefer ötonomifche Punkt allein dürfte ausſchlaggebend für Hinzuziehung einer Kraft fein,

' deren Honorar faum in Betracht kommen Tann,

wenn fih eine Gejelfchaft durch fic beffer, vorteil:

hafter und ruhiger arrangieren läßt.

67.55

Frauenvereine.

Die Kraukenpflegeſtation des Berliner Fraueuvereius, Bülowſtraße 14, I., bat vom 1. Ottoder 1899 bis 30. September 1900 KL Kranke aufgenommen und zwar 18 unverheiratete, 63 verheiratete Frauen und Witwen. Son diefen haben 72 aus Krantentaffen, denen

fie angehörten, einen Juſchuß zu ben often ihrer ;

Zerpflegung befommen, während 8 ganz aus den Mitteln des Bereins erbalten worden find. Die Zahl der Pflegetage betrug 1256 -- davon entfallen 132 auf die volljtändig vom Verein unter: haltenen Kranken —, die der ausgeführten Cpera: tionen inägefamt ## (48 Meinere und 23 große), darunter 5 Total-Erftirpationen, 4 Yaparotomicen, 14 Colporchaphieen und Zorfaloperationen. An Neurafthenie und Anämie find 5, an Unterleibs: entzündung 10 Patientinnen behandelt worden.

Seit dem Beitehen der Anftalt haben dort im aangen 834 Franke Frauen Verpflegung und ärztliche Behandlung gefunden.

Bei der Aufnahme in die Pflegeftation werden in erfter Reihe die Hausarmen fowohl unferer ereindmitglieder, als die umferer Freunde berüd: fihtigt, welche die Anftalt durch Beiträge unter: ftügen. Bon biefen Kranken komnien zunächft jolde in Betracht, die feiner Krantentafje angehören, folglih am bebürftigften find. Die Entſcheidung über die Aufnahme fteht Sri. Dr. Tiburtius zu, an welche bie Kranken zur Konfultation zu ver: weiſen find und zwar entiveber morgens von 8 bio 9 Uhr in ber Pflegeitation, Bülowftraße 14, I, bei Frl. A. Rnopp, oder vormittags von 1U—I2 Uhr und nachmittags von 2—4 Uhr in der Wohnung von Frl. Dr. Tiburtius, Büloroftcape 14, IT. Um Mißbräuchen vorzubeugen, müflen die Aufzunch: menden bei ber Konfultation eine Empfehlungsfarte

derjenigen Perfönlichteit mitbringen, von ber fie |

geigiet werben. Auögefchloffen find Arante mit anftedenden oder unheilbaren Leiden.

‚In der feit dem 1. Oftober 1897 mit dem Berliner Frauenverein in Verbindung ftehenden Bolitlinit für Frauen, Alte Schönhauferitrape 23:24,

find vom 1. Dftober 1899 bis zum 30. September !

1900 748 neue Patientinnen bebandelt worden. Die Zahl der Konfultationen belief fi im lebten Kechnungsjahr auf 3070. Zeit Eröffnung ber Poli:

finit (am 18. Jumi 1877) Haben dort im ganzen 24308 |

trante Frauen ärztliden Rat und Beiftand gefuct.

Die politfiniichen Sprehftunden finden regel: mäßig Dienstags und Freitagd, nachmittags von Y5 Ugr an in ber Alten Schönhauferftraße 23/24

| Sof pt., ftatt. Behandelnde Arztinnen find Frau ı Dr. med. Bloeg, fowie bie DDrs. med. Frl.

Vluhm und Agnes Hader. NIS Beifteuer zu den , Unterpaltungötoften ift pro Perfon und Konfultation

ein Betrag von 10 Pf. zu entrichten. Gänzlich Un: bemittelte erhalten freie Arzenei, müffen ſich deswegen aber an eine der behandelnden Ärztinnen wenden.

Der Ev. Diakonieverein bietet beruflofen ‚rauen gebilbeter Stände ben tommenden Winter hindurch vom Tftober an in Berlin: Zehlendorf vier theoretifde Rurſe von je vier Wocen Tauer, in welden fie in die mannig: faltigen Aufgaben weiblicher Yiebesthätigeit ein: geführt werben unter Befichtigung der entipredenden Anftalten in Berlin und Umgegend. Der Unterricht, und foweit Raum ift, die Wohnung ift unentgeltlich; Belöjtigung wird zum Selbittoftenpreife angeboten. Irgendwelche Verpflichtungen entftehen durch bie Teilnahme an den Surfen nicht, denn ber Ev. ! Tiatonieverein bezweckt lediglich, beruflofen rauen, foweit fie es wünfgen, durd Erziehung, Berufe: bildung und dur genoffenfhaftlibe An: und Zicherftelung für ihr Leben Inhalt, Unterhalt und Nüdhalt zu gewähren und durd ihre Verwendung in der Wohltaprtöpflege diefe zu fördern. Wir nlauben mit diefem Pinweife mander unferer i Yeferinnen zu dienen und verweilen fie wegen alles Näheren an den Begründer und veiter bed Vereins, Brofeffor D. Dr. Zimmer in Berlin: Zehlendorf. Derſeibe Verein errichtet ein neues Mädchen: beim in Gummersbach, Rheinprovinz rn biefem Heim finden junge Mädchen von 14 Jahren an Aufnahme, die ſich durch Arbeit in eimer Woll: ſpinnerei ihren Unterhalt verdienen, und die bie Genoffenicait in jeder Beziehung ſchützt, denen fie 3%. 8. tur Vertrag und gerictli feftgelegte Sicherftelung die Bürgfhaft dafür gewährt, daß | fie ihre Arbeit nicht verlieren, daß der Arbeitölopn nicht berabgefept wird, und daß fie nach 6 Jahren Arbeitöjeit mindeftend 1000 Mart rein erfpart baben fönnen. In den Abenditunden erbalten fie | Unterricht in allen Zweigen der Hauswirtſchaft, fo daf fie in einigen Jahren alles das gelernt haben, was fie ale daubſrauen unb Rutter gebrauchen.

| =. | Die Mädden- und Frauengruppen für foziale ! Hilfsarbeit zu Berlin

| (Vorfigende: Frl. Alice Salomon, Berlin W., | Schillſtr. 10) i j

veröffentlichen foeben ihren Arbeiteplan für das kommende Gefchäftsjahr. Belanntlic ift es Auf:

Ragprud mit Quellenangabe erlaubt.

* Über die im den Fabriken Preußens befchäftigten Arbeiterinnen entnehmen wir dem im Yaufe bes Regierungsgewverberäte noch folgende intereffante Zahlen:

Es find im ganzen 423 764 weibliche Perionen in den abriten sc. beicäftigt geweſen gegen 397 234 im Jahre 18utz und 378553 im Jahre 1897, fo daß gegenüber bem voraufgegangenen Jahre eine Yunabme um 26480 Arbeiterinnen oder 6,7 d. ©. erfolgt ift, während von 1897 au 1898 nur eine Zunahme um 18781 oder 5,0 0. 9. ftattgefunden hatte.

Von der Geſamtzahl entfallen auf bie weib:

lichen Perfonen unter 14 Jahren 525 (1AAR don) !

(+ 119 v. 9), auf die von 14—16 Jahren 46831 (43186) (+ 8,4 v. ©), auf die von 16—21 Jahren 148331 (139 777) (+ 6,1 v.9.) und auf die über 21 Jahre alten 228.077 (213 B52) (+ 6,6.0..9). Eine große Anzahl von Fabriten bat, vermutlich weil fie männliche Arbeitsträft nicht erfangen tonnte, auf bie Frauenarbeit zurüd: gegriffen. Die Zahl der Fabriken, die weibliche erwachſene Arbeiter befchäftigten, betrug 22 285 gegen 18.698 im Jahre I89R, iſt alfo um 3387 oder 17,9 v. H. geitiegen. Die Zahl der jugend: lichen Arbeiterinnen verteilt fih auf die einzelnen Induftriegruppen wie folgt: Von den unter 14 Jahren alten weiblichen Perfonen find 27N, alfo mehr als bie Hälfte aller, und von den 14 his 16 Jahre alten 18133 (1898 16.590), alfo nahezu 40 v. H. aller, in ber Textilinduſtrie befchäftiat. Dann folgt die Induftrie der Nahrungs und Genußmittel mit 6591 jugendlichen Arbeiterinnen gegen 6807 im voraufgegangenen Jahre, jo daß bier alfo eine Abnahme ftattgefunden bat. den über 16 Jahre alten Arbeiterinnen wurden 147 758 (1898 146539) in ber Tegtilinduftrie, 55874 (53.676) in der Induſtrie der Nahrungs. und Genußmittel und 49H61 (38475) in Velleidbungs: und Reinigungsinduftrie beſchäftigt; tehtere Induftrie hat aljo eine fehr torte Zunahme der Frauenarbeit erfahren. Während von den 27 Auffichtöbezirten 6 eine Abnahme der weiblichen Arbeiterinnen von 14—16 Jahren hatten, hat bie Zahl der über 16 Jahre alten Arbeiterinnen nur in einem Bezirte, nämlich in Merfeburg (um 250) abgenommen. der Arbeiterinnen bat in der Stadt Berlin und Charlottenburg ftattaefunden. Hier waren 23 296 (1898 18310) Arbeiterinnen von 16—21 Jahren

September erfchienenen Bericht der !

Von ;

der ;

Die bei weitem jtärfite Jumabnıe '

| der geforderten Scminarbilbung, fi

und 33008 (25843) Arbeiterinnen von über 21 Jahren, zuſammen alle 56244 (44153) Arbeiterinnen beicäftigt Es ergiebt Died eine Zunahme von 12 141 Arbeiterinnen oder 27,5 v. ©. Mehr als die Hälfte der Zunahme der erwachſenen weiblichen Arbeiter im ganzen Staate (genau 53,80. 9.) entfällt alfo auf Verlin und Charlotten: burg. Nimmt man bie jugendlichen Arbeiterinnen binau, fo beſtand das Arkeiterinnenheer biefer beiden Städte im Jahre 1899 aus #1 603 Köpfen gegen 48576 im Jahre 1898 und 45 305 im Jahre 1897.

* Die neue Prüfungsorbuung für Ober: lehrerinnen erfährt im 1. Oftoberheft der „Lehre rin“ eine eingehende, vorzüglich orientierende Beſprechung durch Fräulein Gertrud Bäumer, auf bie wir bie Lehrerinnen im unſerm Yefer- treis um jo mehr aufmerffam machen, als der Artitel zugleich eine Witerlegung der in einem früheren Heft desjelben Blattes von Fräulein Vor- wert gegebenen Befprechung ber Cberlchrerinnen. ſache von dem von ihr feit langem und neuerbings nun auch von ber Regierung eingenommenen Ztanbpuntte aus enthält. In dieſer Veſprechung wird fpeziell die Arbeit des Allgemeinen Deutſchen Lehrerinnenvereins in der Oberlehrerinnenbewegung dadurch in ein ſalſches Licht gerüdt, daß ſein Schlußprototoll · mit anderen Xorfclägen zur vöfung der Frage als „Forticrittlihe Partei” aufanmengefaßt und in dieſer Zuſammenfaſſung ungenau charakterifiert wird. Die Beſprechung der Frage durd Fräulein Bäumer vertritt ben Standpunkt des Schlußprotofells, das an Stelle jährigen Amts: thätigfeit und Abfofvierung der berichrerinnen: kurfe eine real gymnaſiale Vorbildung mit an. geſchloſſenem Univerfitätöftubium und Beiud) einer vor allen bie praftiiche Ausbildung vermittelnden Sherfchrerinnen-Bildungsanttalt fordert.

Die Gymnafialturfe für Zrauen in Berlin entlichen im Oftober wieder fünf Abiturientinnen, bie fümtlich mit gutem Erfolg vor der Agl. Prüfungs- tommiifton des Luiſenahmnaſiums au Berlin das Eramen beitanden. Es waren Frl. Charlotte

Srauenleben und Streben.

Tnüpfungepunfte für bie Agitation und Organiſation. Deranftaltung ven Aufnahmen über die Yohn Arbeitd: und Yebensbedingungen einzelner Arbeite. tinnentategorieen u. |. w.

Beim Punkt Wöchnerinnenfchuß einigte man fich nad) längerer Tiefuffion weitergebender Borihlä babin, baf der viermöcentlihe Schuß vor der (de: burt und der fehswöchentlidde Schuß nach der Geburt obne Ausnahme auch für die ‚Frauen verficherter Arbeiter, bie nicht Berufdarbeiterinnen find, ver- langt und die von den Kaſſen zu leiftenbe Unter: ftügung für dieſe Zeit auf den vollen Betrag des ortsüblichen Tagelodaes erhöht werden felle.

Schließlich wurde noch die Frage der Stellung nabme zu ber bürgerlichen ‚Frauenbewegung in Kürze behandelt. Dan fand feine Veranlaſſung an dem prinzipiellen, von dem Gothaer Parteitag feitgelegten Standpunkt zu rütteln. Demnad ann von einem Zufanımengehen mit ber bürgerlichen Frauenbewe gung ale folder nicht die Rede fein. Dagegen -- und cs ſcheim ©. Fürth, dafı das ein Vorzang von geradezu fumptomatifcher Bedeutung ift joll es nidpt länger verpönt fein, daß die eine oder andere Geneffin in geeigneten Fällen mit bürgerlichen Frauenrechtlerinnen zufammenarbeitet. Es ſoll dem Tafte der Einzelnen überlaflen bleiben, hier die Grenze zu finden. 18 folde Jale wären nad 9. Fürths Deinung Beftrebungen anzufehen, denen | es um bie Hebung ber Lebenslage einzelner Ar: beiterinnenfategorieen zu thun ift, und jogialpolitiiche oder foziafetbiiche Beſtrebungen verwandter Art. (stelfnerinnen, Dienftboten u. a. nt.)

Damit war die Tagesordnung ber Konferenz erfepöpft. Nhr Berlauf, die Sachkunde, Sachligteit | und Gewandtbeit, mit der die Verhandlungen ge: leitet und geführt wurden, fo bemertt Henriette Furth zum Schluß ihres Berichted, ftellen der zu funitöfreudigen Kraft und Lebensfriſche der prole: tarifchen Frauenbewegung ein ſchönes Zeugnis aus.

* Über die Zulafinug der Frauen zum | Stubinm der Medizin ſprach ſich in feiner Er: offnungsvorleſung der Gynätkologe ber Wiener Uni: verfität, Dr. Shanta, aus. Er fteht der Zulaſſung der frauen zu höheren Studien überhaupt wol wollend gegenüber, wenn er aud die beiondere Befühigung der Frau zur Medizin nicht anerkennt.

* Die Univerfität Chriftiania hat Aräulein Chriftine Bonnevie zum Konfervator an dem zootomiſchen Muſeum ernannt. Ihre Wahl durd das atademiſche Kollegium erfolgte einitinmig.

* in ben Bereinigten Staaten von Nord: , amerifa, die das „ſchulpflichtige Alter vom 5. bis zum 18. Yebensjahre auödehnen, giebt es 21500000 Schufpflichtige. Viele, namentlich , Anaben, treten allerdings weit vor dem 18. Jahre in das gewerbliche Leben; immerhin giebt es 15 000 000 Perſonen beiderlei Geſchlechts, die die ı öffentlichen und Privatichulen befuchen. Dieſer ftattlihen Schülerzahl fteht eine Rörperihaft von ı 409 198 Lehrern gegenüber, von denen über zwei Drittel rauen find. Je mehr man nach dem -

| „Letters on Eıu

vorherrſcht.

123

Weften kommt, deſto mehr fteigt das Berhältnis der Lehrerinnen zu den Lehrern; es beträgt in weiten Diftritten 10 zu 1. Das Durchſchnitto⸗ gehalt eines Lehrers beträgt monatlich 46'/, Dollars, das einer Lehrerin 88%, Dollars (= 205 refp. 155 Mark). Tas ift allerdings ein Unterfchied, ber es den rechenkundigen Ameritanern mag rentabel erfcheinen lajien, fo viel mehr Lehrerinnen al3 Lehrer zu befchäftigen canzuftellen Tann man in Amerifa kaum fagen, ba in ber weitaus größten Mehrzahl der Staaten die Lehrer ſowohl wie die Lehrerinnen nur auf Kündigung angenommen werden). Indeſſen genießen auch abgefehen davon die xehrerinnen in Amerika wegen ihrer Streb: famkeit und ihres feinen, verjtänbnißvollen Ein: gehens auf Lie modernen päbagogiihen Be- ftrebungen eine unbeftrittene Anerkennung, und felbft im Unterrichte der Rnaben bio zu ben böchften Altereftufen baben fi bie Frauen durch. aus bewährt.

* Catherine Macanlay Graham (1731 bis 1791) über Goeducation. Gelegentlich des

12. Frauentongreſſes in Paris, der Ichhafte Tebatten

über das Thema der Coeducation gebracht hat, iſt es intereffant, das Urteil einer Frau zu ver-

| nehmen, die ſchon im Jahre 1790 dieje wichtige

Erziehungsfrage erörtert. Es ift Catherine Macaulah Graham (1731 1791, eine zu ihrer Zeit ſeht gefchägte engliſche Geichichtsſchreiberin (History of England 1763), die ſich in ihren tion“ folgendermaßen äußert:

„Ein weitered Vorurteil giebt cd, das das Güd der Frau noch tiefer untergraben fünnte, ein Vorurteil, da® die Grenzen des Orients nic hätte überichreiten dürfen, jener Staaten der Stlaverei, wo die frau von jeher unterbrüdt war, in ber beftimmten Annahme, daß bie geiftigen Mräfte der rau thatjächlich minderwertig ieien.

* Das Vorurteil, dad ich meine, ift der erniedrigende

Unterfhieb, ber bezüglich der flege der Verftanbes: träfte jeit mehreren Jahrhunderten in gany Europa In der erften Zeit ber Nenaiffance ließen unfere Porfahren alle ihre Kinder gleicher: weife die Sorteile einer laifiihen Erzichung

* genießen; aber da ſchulmeiſterliche Steifheit der

Fehler jener geit war, fo mag ein weiblicher Student feine ſehr angenehme Perjönlichteit geweien jein. Wahre Pbilofophie war damals jelten in Verbindung mit Gelchrlamteit zu treffen, auch bei dem männlichen Geichlechte nicht. Tod) jeder, der nicht von Vorurteilen verblendet ift, muß erfennen, daß feine Kultur eine jo reihe Ernte veripricht ale die Kultur des (Heifted, und daß cin Kopf, erhellt von dem Yichte deo Wiſſens, jeder Aufgabe der Vernunft, die fi ihm barbietet, gewachſen fein wird.

Die ſozialen Pflichten werden von den rauen in dem wichtigen Amte der Tochter, der Ehefrau und der Mutter infolge ihrer Unwiſſenheit und

; Cberflächfichteit mur Schlecht erfüllt, unb in dem

häuslichen Verlehr wilden Ehemann und Ehefrau

Weihnacht.

Bon Paul Scıeftler.

Bun dämmerf der Friede nieder Wie leife flokender Schnee,

Mnd Weihnadtskerzen und -Kieder Flackern frohlockend zur Böh’.

Id weiß von alternden Berzen, Die irrten fo friedlos weit Und fanden bei Weihnadhfskerzen Beim in die Iugendgeit...

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Einfamteit.

„Mein ftrenger Genius. Das moderne Weib mit dem nüchtern tiefen Blid als Be- feelerin der Kunſt.“ Und er küßte fie.

Eie ging in die Wohnzimmer zurüd. Auf der breiten, grün umfponnenen Veranda war ein Theetifch zurechtgeftellt, Gebäd, Zigaretten und überall behagliche Sitze. Das Mädchen hatte das kochende Waſſer gebradht, und darunter tanzte die Spiritusflamme. Lifa orbnete noch ein paar tieflila Anemonen in einem Glaſe und vertiefte fih dann in ein neu erſchienenes Bud, bis das erfte Klingel» zeichen ertönte. Das Mädchen melbete:

„Herr Doltor Schwartz.“

Liſa erhob fi mit frohem Lächeln, den Eintretenden zu begrüßen.

„Ernſt iſt nod nicht fertig,” fagte fie in zutraulihem Plauberton, „er bat natürlich wieder bei feiner Arbeit jeve Zeit vergefien.”

„Laſſen Sie ihn ſich nicht überanftrengen,” fagte Doltor Schwartz. „Er war von jeher ein zarter Burfhe und fieht jeht immer erfchredend elend aus.”

„Ja, was ſoll ich dazu thun?“ fragte Lifa. „Es macht mir felbjt folde Freude, wenn er etwas ſchafft, was nachher wieder fo ganz groß und fo ganz gut ift. Oder barf ih Ihnen, dem ftrengen Krititer, fo etwas nicht Tagen?“

Er lächelte auf fie herab wie auf ein Kind, aber mit innigem Wohlgefallen.

„Sie wiſſen, es giebt feinen, der das lieber bört und beftätigt.”

„Ja, und wenn Sie nur einigermaßen mit ihm zufrieden find, dann ift er es ganz mit fih. Ich bin oft eiferfüchtig, melden Wert er auf Ihr Urteil Iegt.” .

„Und dod hatte ich zuerft Grund, auf Sie eiferfüchtig zu fein, Frau Lifa,” rief Doktor Schwark lebhaft. „Wenn ein Freund heiratet, ein Freund in dem Einne, wie Ernſt es mir ift, dann ift das faft wie ein völliger Verluft, fein beftes Gefühl geht einem ba verloren. der Zweite. Das verzeiht man nur, wenn

die Wahl eine vortrefflihe mar, und bier |

babe ich allerdings verzeihen müſſen.“ Eie ſah ihn ernfthaft an. „Ich wünſchte, es wäre feine Schmeichelei, was Sie da ſagen,“ erwiderte fie in ge—

Man bleibt im günſtigſten Falle

131

tämpftem Ton. „Ich möchte ihm gern viel fein, ganz und völlig fein Kamerad und Freund in feinen Werken, und überall ihm dahin folgen können, wo er hingeht.“

„Das ift das Schwere,“ fagte Doktor Schwartz, vor ſich binnidend. „Denn ſchließlich hat doch jeder Wege, die nur er allein gehen kann, die er geben muß, fo uns begreiflih «8 uns ſcheint. Es kann ihn eben niemand begleiten.”

„Und was meinen Sie, was man in folhem Fall am beften thut?“ fragte die junge Frau und richtete ihr llares Auge nach- denklich auf ibn.

„Man läßt ihn gehen,” fagte er mit einem halb ironifhen Lächeln, als fei ihm das Ge: fpräd ſchon zu ernſt.

„Ras find mir doch für jammerbolle, zu: fammengeflidte Geſchöpfe,“ rief Liſa. „Das merkt man nie mebr, ald wenn man fi licht und nun fo berb zu zweien iſt veritehen Eie, wie id es meine?”

Er nidte kurz. „O gewiß. Man möchte das Befte, das Einzige, das einem zu eigen ift, fein: Selbſt, vernichten, zerftören, fort: werfen, um dem andern nur um einen Ge— danken, ein Gefühl näher fommen zu bürfen. Nun, es ift felten fo ſchlimm.“

„Und wenn es fo fchlimm ift?”

„Dann ift es doc immer Liebe. Und darin ift Troft. Die bleibt doch das Einzige, mas uns erzieht, adelt, Menjchenfeelen ver: ftehen lehrt und unjern Egoismus, unfere Selbjtbefangenheit überwindet.” \

„Und doch ift nichts egoiftiiher als bie Liebe,” fagte Lifa mit nachdenklichem Kopf: ſchütteln.

„Ach, ſagen Sie das nicht,“ rief Doltor Schwartz lebhaft. „Ja, wenn Sie Egoismus mit Ichſucht überſetzen, dann iſt allerdings alles Ichſucht. Man vergißt nur, daß das unſer edelſtes Gefühl iſt. Dies fortwährende innere Kämpfen und Ringen um uns ſelbſt erhält uns lebendig und kräftig. Aber ſagen Sie für Egoismus Selbſtbefangenheit, da haben Sie alles Schwere, Tote, Unfruchtbare. Da haben Sie die Engen, Kleinen und die Böfen, Dunklen, alles, was Sie wollen. Nun, und da bleibt der große, einzige Erlöſer die Liebe; iſt das nicht wahr?”

9

132 Einſamkeit.

„Wahr, wie immer,“ ſagte Ernſt, der bei dieſen Worten auf den Balkon getreten war. „Denn du biſt unfehlbar, wenn du die Begriffe aufjagſt und aus ihrem verborgenſten Wort- winkel aufftöberft. Aber grük dich Gott, Gerhard, wir ſehen uns viel zu jelten. Wenn du feinen Kneifer auf bätteft, wärft du mir der liebſte Menſch auf diejer Erbe.”

Sie ſchüttelten fih die Hände. Das . Mädchen meldete neue Gäſte an. Zuerſt erſchien ein Tleiner, fchlanfer, bleicher Jüng— ling, den man faft für einen Knaben hätte halten können. Nur der ungemeine Ernit in feinem Auge gab ihm etwas Altes, und dies Auge richtete fich mit einem kurzen, fieberhaft erregten Forſchen auf den jungen Hausherrn. Der begrüßte ihn mit einem gewiſſen Wohl: wollen. oo

„Liebe Lila,” ſagte er. „Hier ſiehſt du Herrn Strom, einen neuen Gaft, nicht nur in unferm Haufe, fondern auch auf dem Parnaß, aber ich vente, er wird bier wie bort bald vertraut und befannt fein.”

Ein flüchtiges Rot.zog über die Stirn dieſes jeltfamen Zwitterdings von Knabe, Süngling und Mann. Er verbeugte ſich in grotesk verfchrobener Art und fchien ein wenig außer Faſſung zu geraten, als Liſa ihm bie chlanfe, weiße Hand ganz ungeziwungen ent= gegenftredte. Ernſt war mit Gerhard zur Ceite getreten.

„It das der rechtwinklige Menſch, der und den Einn der Erde künden will?” fragte er mit faſt höhniſchem ES chmer;.

„Ich fage dir, der Burfche ift nicht lang: weilig,“ ermwiderte Gerhard. „Er bat einen zähen, ftrengen Kopf, der mit ernftem Eigen finn die Dinge jo aufzufafien zwingt, mie er fie jeben mil.“

„And iſt jo troftarm in feinen Arbeiten, daß ih mich aufhängen würde an feiner Stelle,” murmelte Ernſt mit finfterer Stirn.

Die erhellte fih aber, als er einer Dame anſichtig wurde, die etwas zügernd und lang: ſam in die Thür trat. Hier blieb fie ftehen und ſah fih mit einem fragenden Lächeln um. Emft eilte ihr mit ausgeftredter Hand entgegen.

„Komme ih jo früh?” fragte fie mit weicher Stimme und ſah ibn lächelnd an.

„Ss fpät!” ſagte er halb ſcherzend, halb ernfthaft. „Immer zu fpät. Es giebt eigent: lich gar feinen Augenblid, der nicht ſchon auf Sie geivartet hätte.”

Eie bob die Augenbrauen etwas Iäffig und ging dann mit fchneller, anmutiger Be: wegung auf Lila zu.

„Guten Abend, Dichtersgattin,” ſagte fie dabei.

Lila lachte munter.

„Es ift gut, daß Sie gefommen find,” ſagte fie herzlich. „Schweigenb ober fpredhend wirken Sie dur Ihr bloßes Dafein belebend auf ung alle.”

„Ein großes Talent,“ ſagte Strom, ber daneben Stand.

Irma bob ihr Auge und fah ihn prüfend und langfam an.

„Herr Strom,” ftellte Lifa feierlich vor.

„Sie find auch Schriftiteller?” ſagte Lila mit mildem Intereſſe. „Was fchreiben Sie, wenn man fragen barf?”

„Das Neben,” fagte er, feinen ernjten Blid mit troßigem Selbftbewußtfein auf ſie richtend.

Lila hatte nicht länger Zeit, der Unter: baltung, die ſich fo interejlant anließ, zuzu⸗ bören. Es kamen neue Gäſte, die begrüßt werden mußten. Da mar ein berühmter Maler mit feiner Gattin, ein junger Bildhauer und andre FZunjtbefliine Sünglinge und äfthetifche Damen, Die ganze Veranda war gefüllt, von allen Seiten tönten moderne Cchlagmworte, mit mehr ober minder Nachdruck gefproden. Liſa verforgte ihre Säfte mit Thee und Erfrifchungen, überall bereit, zuzu= hören, mitzufprechen, ſich vol Tebendigen Eiferd anregen zu laffen.

Etrom hatte eine Gelegenheit wahr: genommen, fi an Ernft3 Seite zu begeben.

„Iſt es unbefcheiden,“ fragte er befangen, „bier und heute Abend nah einem Urteil über meine Arbeit zu fragen?”

„O gewiß nicht,“ ſagte Ernjt mit einem faft unmerklichen Seufzer. „Es ift eine ſehr tüchtige Arbeit, die in neue Gedankenwege zwingt, berb in der Charakteriſtik, oft fchroff, die Technik noch raub, rückſichtslos, jedoch das fchabet nichts. Es giebt ein anderes Aber.”

Er ſchwieg einen Augenblid.

Einſamkeit. 133

„Darf ich Sie darum bitten,“ ſagte Strom, der den Mund nachdenklich zuſammengepreßt bielt.

„Es befteht nicht in etwas Außerem,” fagte Emft langſam, gleihfam Worte fuchend. „E3 ift der Geift, der über dem Ganzen liegt, der it ein Geift des Todes. Wie mollen Sie daraus lebendige Werke ſchaffen? Wenn Eie alle Lebensformen verneinen, wenn Sie alles mit nüchternem Mipfallen betrachten, wollen Sie damit ein Leben füllen, wollen Sie damit ein Werk befeelen? Loben Sie die Eonne, Herr, und den Morgen. Und wenn Sie die Worte ftammeln, jollen Eie mir lieber fein, als dies alte, reife Werk.”

Strom war blaß geworden und hatte eine bodhmütige Falte auf der Etirn.

„sch hätte mich folder Worte von Ihnen nicht verjeben, Herr Stein,” fagte er mit Faſſung. „Denn Sie, zu dem id) fam, find ſelbſt der rückſichtsloſeſte Xebensfünder, der in jedem Merk bewies, wie ehern die Natur ihr mechanifches Uhrwerk, das wir Menfchen Geift und Charakter nennen, ablaufen läßt.”

Ernft ſah ihn mit Lebhaftigfeit an.

„Ja,“ erwiberte er. „Und doch fage ich damit etwas anderes, ale Cie glauben. Stellen Eie diefe fraftlofen Menfchen in andere Verhältniffe, auf gefunden, natürlichen Boden, umd es wird Ihnen gehen tie farblojen Keller: blumen, die in Eonne und Lit Tommen. Sie werden ihre Wurzeln tiefer fenfen und ihr Zeben ganz anders ausbrüden und geſtalten.“

Um Stroms lippenlofen Mund fpielte ein etwas Tpöttiiches Lächeln.

„Ich muß geftehen, daß mir biejer tiefere Sinn Ihrer Werke noch nit aufgegangen war,“ entgegnete er. „Aber wie ſie waren, waren fie Leben und Kunſt und einfache, er: Ichütternde Wahrheit. Sch möchte fie mir nicht durch irgend eine Zuthat entftellen.”

Ernſt war flüchtig errötet.

„Sie befommen vielleiht durch Spätere Merle eine Ergänzung, die dann erjt meine Lebensanſchauung ausdrücken wird,” fagie er. „Aber was fprechen wir von mir? Sie wollen meinen Nat, und ich gebe Ihnen den ehrlich nah meinem beften Ermeſſen. Suchen Sie gefunde Verhältniffe auf, gehen Eie auf Reifen, fliehen Sie diefe dunftigen, glühenden

Etraßen mit dem verfommenen Menfchen, die Sie darin treffen.”

Etrom batte feine etwas geredt.

„Ich danke Shnen,” fagte er. „Sch glaube aber nicht, daß dies ein Rat ift, den ich be- folgen werde.“

Inſpektor Baumann wurde gemeldet. Ernit eilte ihm entgegen.

„Sieb, Lila,” rief er. „Ein alter Freund meines Vaters, ich habe noch auf feinen Knieen geritten und ihm bundertmal meine Rümmerniffe geklagt. Lieber Herr Baumann, meine Frau.”

Liſa fab nicht ohne Wohlgefallen in das berb gerötete Gefiht des großen, ältlichen Mannes. Ihr zierlides Händchen verſchwand völlig in feiner marmen Riefenfauft, und feine runden Augen fahen drollig eritaunt und prüfend an ihr herunter.

„Sch freue mich, Sie kennen zu lernen,” fagte fie in faft warmem Ton. „Sie müffen mir erzählen, wie Ernft als Kind war.”

Der Inſpektor warf einen mitleidigen Blid auf den fchlanfen, blaffen Hausherrn.

„Ad, liebe Frau Etein,” fagte er ge- mütlih. „Das war ein derber, Heiner Burfche mit diden, ‚roten Waden. Den ganzen Tag faß er draußen, die Taſchen voll Üpfel, bie Augen munter und blanf. Bis der jelige Herr ftarb und das Gut verfauft wurde. Da war er blaß und verftört, daß ſich mir das Herz umbdrehte. Er faß in meinem Zimmer und hat, klein mie er war, ſtramm mit fid gefämpft, um nicht zu weinen. Aber wie er geben follte, ift eg über ihn gelommen, da hat er in meinen Armen gelegen und gemeint wie ein Kind.“

Der Inſpektor räufperte fi) vor Rührung. Liſa ſah nachdenklich in fein breites, gut- mütiges Geſicht, da recht menig zu all den andern paßte. Ernſt aber legte die Hand auf feinen Arm:

„Davon erzählen Eie fpäter,“ rief er. „Exit fommen ie mit, denn zwilchen ung beiden giebt es noch etwas zu beſprechen.“

Er lächelte feiner rau zu und 309 den Inſpektor mit fih in fein Arbeitszimmer und ſchloß die Thür.

„Kun?“ fragte er dann. „Sft alles er: ledigt? Unterfchrieben, fertig, daß id) mid)

ſchmächtige Geftalt

134

auf den Meg maden fann, wann ich will, in ‚mein Eigentum zu gelangen?“

Der Infpeltor holte bebächtig ein paar Papiere aus feiner Brufttafche hervor und breitete fie auf dem Tifh aus.

„Hier ift der Kauffontrafi,” fagte er dabei, „bier der Plan von dem Wohnhaufe, bier —“

Ernſt ſchob mit einer rafchen Hand: beivegung die Papiere zufammen.

„Es ift gut,” fagte er. „Sch danke Ihnen, lieber Baumann. Und was das Gefchäftliche anbetrifft, Sie wiſſen, ich will dort Ruhe und Zeit finden, feine neue Arbeit. Das lege ich alles in Ihre Hand, und Sie müſſen ſchon fo freundlid fein und die Verantwortung übernehmen. Und nun thun Sie mir den Gefallen und fagen Sie meiner Frau nit? davon. ch mill fie überrafchen.”

Der Inſpektor verfprach das ſchmunzelnd. Es mar allerdings eine Überrafhung, auf einmal die Herrin eines behaglichen Landſitzes zu werden.

Draußen war unterbes bie Unterhaltung lebhaft im Gange.

„Da kommt Bergen,” fagte Doktor Schwartz und rungelte die Stirn.

Irma fah mit einem furzen Lächeln in fein verfinftertes Gefiht und nidte dann dem Anlömmling, einem derben, jungen Mann, freundli zu. Der fchüttelte ihr mie einem guten Kameraden die Hand und fah ihr, ohne auf die andern zu achten, mit feinen runden Augen, die unter buſchigen Brauen bervor: bligten, forjchend ins Geficht.

„Haben Eie heute gearbeitet?” fragte er.

„Deinen Eie, ein Talent verpflichte?” lagte fie mit leichtem Epott. „Mir ift es ein Schmud, ein Spielzeug.”

Seine derbe Fauſt preßte fich feit um bie Stuhllehne. „Wie oft habe ih Cie gebeten, mir nicht in derjelben Art zu antworten, wie den andern!” rief er heftig.

„Und warum nicht?” fragte fie mit er: ftauntem Lächeln.

„Es ift das Wenigfte, was Sie für mid) thun fünnen, wenn Sie nur einen Gran Achtung vor mir haben,” fagte er troßig.

Doktor Schwartz ſah ſich gelangweilt um. Er entdedte Ernſt, der ſoeben wieder eintrat, und ging ihm entgegen.

Einfamteit.

„Diefer Bergen ift mir ein entfetlicher Menſch,“ fagte er mifvergnügt. „Ein derb anfpruchsvoller Bauer durch und durch.“

„Iſt Bergen da?” frug Ernft mit Intereſſe. „Diefe Antipathie Tann ich nicht begreifen. Er ift der Tüchtigfte von uns allen. Und du grade bift doch fonft folh ein AU: begreifer.“ |

„a, irgendivo findet jeder feine Grenze,” brummte Doktor Schwartz.

Ernſt ging, dem neuen Gaſt die Hand zu ſchütteln. Der ſtand über Irma geneigt, auf die er mit Eifer einſprach.

„Welch eine Zauberin ſie iſt!“ dachte Ernſt. „Alle fühlen ſich zu ihr gezogen und bleiben ihr treu durch das ganze Leben, in allem Schaffen, in allen dankbaren, beiten Gedanken.“

Sie empfand ſeinen Blick, und ihre Augen, die ihn erwiderten, vergrößerten und ver: dunkelten ſich ſeltſam, daß ſie ihm wie ein abgrundtiefes, ſchwarzes Fragen entgegen⸗ ſahen. Auch ſein Blick wurde dadurch ernſter. In einer gewiſſen Befangenheit, die er ſich nicht zu deuten vermochte, zwang er ſich zu einem Lächeln, das aber erſtarb, da ſie es nicht erwiderte. Er war der Erſte, der ſein Auge abkehrte, und als er wieder zu ihr hin— lab, ſaß fie von ihm fortgewandt und fah mit abweſendem Blick zu den andern hinüber.

Und der Abend erreichte fein Ende. Schon war die Dämmerung eingebrochen, und Lifa hatte für Lampen geforgt. Es kam allmählich ein etwas fühlerer Hauch geweht, der es ahnen ließ, daB da draußen irgendwo Wälder ftehen mochten, die aus der Erbe köſtliche Kraft und Würze hoben und fie in ver: Ichiwenderifcher Liebe ber wehenden Luft mit- teilten. Ernſt war völlig hingenommen. Die Stimmen um ihn herum fehmwirrten wie ganz weſenlos an feinem Ohr vorüber, und eine Ichredliche, bleierne Mattigfeit lag auf feinen Gliedern. Mit halbgefchloßnen Augen ſaß er teilnahmlos da.

Irma war die Erfte, die aufbrach.

„Sie arbeiten zu viel,” fagte fie noch mit einem letzten Blid in fein gefpanntes, mühes Geſicht.

Bergen folgte ihr auf dem Fuß.

„Ich habe noch zu thun,“ ſagte er kurz.

Und allmählih gingen auch die Lchten, darunter Baumann, dem Ernſt nachrief: „Alfo auf morgen!” Dann dehnte er die fchlanten, ſchlaffen Glieder, feufzte, trat an die Brüftung und ſah in den Himmel.

„War e3 nicht wieder reizend nett?“ rief Liſa und ſchob die Teller zufammen. „Künſtler find doch die einzigen Menfchen, mit denen es ſich leben läßt. Kaum einer unter ihnen, ber nicht geiftvoll und anregend wäre.“

„Wie laut die Stadt noch iſt,“ fagte Exnft, der binauslaufchte. „Nicht ein Moment Raſt. Dasfelbe gebämpfte Tönen durch bie ganze Naht. Weißt du, Life, wonach ih mid manchmal namenlos fehne? Nach einer ganz tiefen, tiefen Einſamkeit und Stille, nad dunklen, faufenden Wäldern, in benen unfer Haus ſtehen müßte, oder es dürfte auch zwiſchen Feldern fein, auf denen man arbeiten ſieht. Und da mir beide, du und id, allein, von allem, allem fern, auf gefundem, ewigem Boden wurzelnd und lebend. Nicht aus biefen verzerrten Häßlichleiten unfere Rahrung faugent, fondern aus aller Einfahheit und Kraft, die die Natur giebt.”

„Nennft du Irma eine verzerrte Häßlich- feit?” fragte Lifa, die ſachte an feine Eeite getreten war. Er zog fie an fi und um— faßte ihre Hand mit feiner ſchlanken, fühlen.

„Ich weiß dir nicht einen Menfchen von allen diefen zu nennen, der natürlih wäre. Eie find alle wie Pflanzen, die in Stubenluft bei elektriſchem Licht großgezogen find. Du und id, wir aud, Liſa! Cinmal hinaus aus dem allem, grabe wachen und Eigenperfönlich- Teit werben ich benfe, dir müßte auch das Herz danad brennen.”

„Ja, was willſt du denn?” fragte fie mit halbem Lachen, weil fie nicht gleich feiner Stimmung zu folgen vermochte. „Sollen wir auswandern?”

Vielleicht,“ gab er ernfthaft zu. „Über Meere und Berge hinaus. Vieleicht genügt es aber au, nur wenig Meilen zu gehen und an irgend einem Ort eine Mauer um fih zu bauen, die feiner überfteigt, um grellen Tageslärm zu und zu bringen.”

„Als ob man da grade wüchſe und nicht erft recht einfeitig würde,“ fagte Lifa. „Grade bier behält man das wundervolle Verftändnis

“a

Einfamteit.

185

für alles und alles, die Duldung, das Darüber: ftehen.”

Er feufzte etwas ungebulbig.

„Das Unperfönlihe, wie mein guter Schwartz es hat. Und doch geben uns nur die ganz Perfönlichen etwas, nie dieſe Alles- begreifer, die nur unfer Gefühl verivirren, bie fein grabes ‚ja‘ oder ‚nein‘ mehr fennen, fondern nur ein ‚möglicherweife‘, ‚freilich dann‘ und wie die Worte alle beißen. Diefe Vielſeitigleit ſchätze ich beim Himmel nicht, die iſt vom Gotte der Perſönlichkeit verlaſſen.“

Liſa gab keine Antwort, aber ſie dachte anders. Sie dachte an die große, ernſte Milde des modernen Menſchen, der nie mehr einen Stein aufhob gegen andre, weil er alle Möglichkeiten in ſich fühlte und für jedes Böſe ein Gut und für jedes Gut ein Böſe fand.

„Gebt du mit?” fragte er auf einmal tie aus tiefen Gedanten.

„In die Einſamkeit?“ fagte Lifa.

„Bu zweien,“ nidte er und prüfte ihr Geſicht mit feinen Bliden.

„Gewiß,“ fagte fie einfach, „fotweit ich kann.“

Er lächelte fie zärtlih an. Dann fagte er:

„Wir wollen einen Genieftreih machen, mas meinft du? Ausrüden, fortfliegen, ohne etwas zu fagen. Ich Tann hier faum mehr atmen, leben.”

„D du Nemwenbündel,“ rief fie etwas ver— zagt. „Mo denkſt du wohl, daß du die Rube findeft?"

„Da, wo ich zu Haufe bin,” fagte er mit großem Ernft. „Ich habe das Gut meines Vaters gekauft, Lifa.”

ie ſchwieg ganz ftill, denn es durchfuhr fie mit plöglihem Schred eine atembeklemmende Angft. Ihr Zuhaufe war die große Stadt, die da unten raufchte und lärmte. Er empfand es und ftügte den müden Kopf auf.

„Iſt es Dir nicht recht?" fragte er fehr leife.

Sie fuhr mit der Heinen, zarten Hand über feine Haare.

„Lieber Junge,” flüfterte fie. „Eo lange du es aushältſt, halte ich es wohl aud noch aus.“

Das war aber nicht die Antwort, die er erwartet hatte. Er ſchloß die Augen und träumte von einer tiefen Stille, in die er laut⸗ und regungslos verfant, den ftummen, ges

Einſamleit.

137

ſprach lebhaft, beivegte die Arme; ganz ſchlanke fuchten, die fatten Farben und Streifen gegen

und jein erfchien er neben dem robuften Lands mann. Dann brebte cr fih um und fam zurüdgelaufen; er hielt ein paar Roſen in der Hand, bie jtedte er ihr durch das Fenſter zu.

„Komm nur heraus, Liſa, in den Garten. Du ahnſt ja nicht, wie wunderſchön das iſt.“

„Ich komme,” rief fie und nidte ihm lachend zu, aber im Herzen hatte fie ein ganz wehes Gefühl, ala wäre fie bier verloren und einfam und felbft Ernft ihr fern und entfrembet.

Das ift Diana,” rief er ihr entgegen unb wies auf den Hund, „und ba die Tauben, ſieh nur, ſieh nur, wie fie bligen und freifen und bligen.”

Er drängte weiter. „Ich weiß einen Weg, der dur den Garten aufs Feld führt, den mollen wir gehen. Sahſt du ſchon jemals ſchönere Rofen?”

Sie ging ftill neben ihm her und jah nur mit heimlihem Staunen auf fein leuchtendes, trunfenes Auge, das von einem Gegenftand zum andern glitt, als juche es alles auf ein mal in fih zu faugen und könne vor Haft und Wonne faum ein Einzelnes fajien, nur das Ganze als Seligkeit ahnen und empfinden. Aber auch er wurde ftiller und ging lang⸗ famer, bewußter. Da tönte neben ihnen bas langgezogene, ſchmelzende „Tü, tü“ einer Nachtigall, eine andre antivortete mit klang⸗ voller, weicher Klage. Ernſt mar jtchen ge: blieben.

„Hörft du?“ fragte er halblaut. „Wie ſchön, wie wunderſchön ift meine Heimat.”

Sie faßte nad feiner Hand und hob ihr Gefiht zu ihm empor.

„Du gehft jest allein, von mir fort, jühlft du das?” fragte fie mit flüfternden Lippen.

Er fagte: „Ah, Lifa, Feine Nerven, nicht heute und nicht hier!” ,

„Ib kann nit mit,” rief fie erregt.

„Denke auch an mid! Du darfjt mich nicht :

ganz allein laſſen.“

Er ſah fhredlih müde aus, ala er jegt | bilflos zu ihr niederfah und feine Antwort

fand. Sie hob feine Hand empor und brüdte ihre Augen darauf.

„Es ift doch wahr,“ dachte fie.

Er ſtrich mit leichter Hand über ihr Haar, während feine Blide das tiefe Abendleuchten

Untergang.

„Das find alles unwahre Empfindungen,” dachte er, „überreizte, krankhafte Gefühle. Tas drängt nad) Thränenftrömen und Aus— ſprachen, die jeden Nerv zittern machen um nicht? und um nichts. Wir wiſſen doch beide, daß wir und lieben.”

Dabei zog er fie aber enger an fih und fragte leiſe:

„Biſt du traurig? Glaubft du wirklich nicht, du fönnteft dich hier glüdlih fühlen? Brauchſt du noch all die andern Menſchen zum Leben, kannſt du dir nicht an einem genügen laffen?”

„Doch, doch!“ rief fie leidenschaftlich. „Aber der eine ift ein Träumer und gebt manchmal fo weit von mir fort, fo fchredlich weit.“

Das traf ihn. Er hatte immer gefühlt, daß fie neben ihm herfämpfte, aber er hatte ihr nie hilfreich die Hände zugeftredt, hatte ihren Anteil nur als Sclbftverftändlices ge: nommen,

„Aber hier doch nicht,” rief er eifrig. „Hier find wir doch aufeinander angewieſen.“

Die ein fhmelzendes, wehvolles Schluchzen tönte der Ruf der Nachtigall, tonlos, ſchmerz⸗ voll, dann wieder in plötzlichem Wechſel ein jauchzendes Schlagen. Der Sinn war nun auch für die andern Laute geweckt, für bad Kofen, Trillern, Flüftern, das von allen Zweigen tönte. Auf dem grünen Rafen lief eilig bie Amfel, blieb ſtehen, blidte mit klugen Augen, pidte in das Moos und lief weiter. Ein träger, fetter Fink büpfte auf dem Wege zutraulid frech zu ihnen ber. Ernft hatte den Arm von Lifa gelafien und fah mit ver haltenem Atem, wie ber Heine Geſell in

ſchrägen Sprüngen ihnen näher fam. Nun

warb dem aber die Eadje doch bedenklich, er fah mit geneigtem Köpfchen auf bie blanken Stiefel der beiden, jungen Menfchentinder, dann breitete er feine Schwingen aus und flog auf den nächſten Baum. Ta plufterte er fih auf und trillerte, als hätte er eine Heldenthat begangen.

Nun lachten beide und fingen an zu laufen, weil es fpät wurde und Herr Baus mann um act Uhr zum Abendeſſen eingeladen

138

war. Das heißt, eigentlih war er der Gaſt⸗ geber, da er alles angeordnet und beftellt hatte. Eie kamen aud richtig ein menig zu ſpät. Er ftand ſchon im ſchwarzen Rod und vol ehrbarer Würde im Eßzimmer. Natürlich gab es junge Hühner.

Herr Baumann erfundigte fi) nach den Wünſchen der gnädigen Frau für den Garten, ob fie Änderungen zu treffen dächte; bavon veritand fie nichts, fie fand ihm nett genug, wie er war. Ob fie nad) dem Abendbrot den Gemüfegarten anfehen wollte? Danfe, nein, für heute war fie viel zu müde. Er fiel ihr auf die Nerven. Sie dachte ſich dieſen tüchtigen, aber in Eigenart und Eigenfinn berfchrobenen Menfchen als täglichen Genoffen und ſchauderte. Solchen Naturen gegenüber bat man das Empfinden, als fei jeder Menſch ein Berbrehen am andern. Ad, dagegen Irma bier haben oder Doktor Schwar; felbft Etrom ‘mit dem gepreßten Mund fchien ihr eine wünſchenswerte Gefellfhaf.

Ernſt wäre nad dem Eſſen noch gern hinausgelaufen, aber er mochte Liſa nicht allein laſſen. So ſaßen fie denn im Wohn: zimmer, die Thüren zur breiten Veranda meit geöffnet. Ein NRauſchen und Wehen fam herein und fchiwere, ſüße Blütendüfte. Sonft war die Stille jo tief, daß fie zufammenfuhr, ale plöglich ein Hund anfchlug.

„a, bier wirft bu gut arbeiten können,“ fagte fie plöglic) aus ihrem Gedanfengang heraus.

Er nidte nur. Läſſig wiegte er ſich in - einem Cchaufelftuhl und rauchte eine Zigarette.

„AU das Rauſchen,“ fagte er, „bas fommt von unfern Wäldern. Hörft du, mie e8 Spricht und denkt? Ach, dies Zuhaufe, dies herrliche Zuhaufefein.”

* * *

Ernit erwachte am nächſten Morgen ſehr früh, Liſa fchlief noch tief und fell. Er fah hinaus. Die Eonne war im Aufgehen, leuchtend gelb; der Horizont, foweit er ihn überbliden fonnte, am Rande von einer braunen, raucartigen Wolkenwand bezogen;

Einſamkeit.

In der Wohnſtube räumten die Mädchen auf, die Verandathüren waren weit geöffnet, er ging aber über den Flur durch den Vorplatz auf den Hof hinaus. Er hörte aus den Ställen das Stampfen der Pferde, Mägde gingen mit blanken Eimern zum Melken; vor der Wagenremiſe ſtand der Stallburſche und wuſch die Räder eines Wagens.

Ernſt blieb ſtehen und ſog die herbe, kühle Morgenluft ein. Mit lautem Zwitſchern fuhren die Schwalben an ihm vorbei, nah an der Erde, in weichem Bogenflug die Luft burchftoßend. Auch die Tauben ſchwärmten ſchon, in gemeßnen Kreifen ftiegen fie immer höher in die Luft, man hörte das eintönige Schlagen ihrer Flügel. Ein junger Knecht ichritt an ihm vorbei und rüdte an feiner Mütze. Ernſt blidte ihn an, und eine flüchtige Erinnerung ftieg in ihm auf.

„Lorenz,“ rief er ihm halb zögernd nad).

Der drehte fih um und fam, ein ver: legenes Lachen im Geſicht, zurüd.

„Bit du’3 wirklich?“ rief Ernft und ftredte ihm die Hand Hin, bie ber mit einiger Be: ftürzung ergriff, um fie fogleich wieder fahren zu laſſen. „Befinnft du dich auf mid? Wieviel Apfel haben wir zufammen gemauft?”

Er wurde wirklich ganz Mei dem ftämmigen Burfchen gegenüber. Er fühlte ſich gar nicht als Hausherr.

„Jawoll, gnäd'ger Herr,“ ſagte der und rieb ſich ſein Bein. Dabei fuhren ſeine Augen durch die Luft, an den gütigen Blicken ſeines jungen Gegenübers vorbei. Er war ein richtiger Tölpel.

„Was machſt du denn jetzt? Wie geht's dir?“ fragte Ernſt und ſah mit Freude in ſein braunes, hübſches Geſicht. „Lebt deine Mutter noch?“

„Nee, gnäd'ger Herr, die iſt all dod.“

Er ließ ſeine Augen raſch einmal über ihn hinlaufen, als ſei er erſtaunt über dies Intereſſe.

„Und du? Was machſt du hier?“

„Ich bin hier auf 'm Hof, beim Vieh.“

Ernſt nickte. Die Unterhaltung war etwas

! eintönig. Warum konnte er nicht mit ihm

die Amfel flötete von dem großen Ahornbaum, ı auf und ab fehlendern und alte Erinnerungen

in den Heden jchrieen die Spatzen. fih leife an und verließ das Zimmer.

Er zog wachrufen?

|

Mas trennte fie? Beide junge Männer in gleichem Alter mit gemeinschaftlich

Einfamteit.

verlebter Kindheit. Er ſah ihn noch einmal ! weiter,

an und faßte wieder feine riefige Fauit.

„Na, für beute laß es gut fein, alter Burſche.“

Er ging weiter. Der ſtand wohl noch und ſah ihm nach, wußte nicht recht, was er aus dieſem Wiederſehen machen ſollte. Damals war er ſo munter, ſpitzbübiſch und redegewandt geweſen, wie Ernſt ſelber. Nun ſchien es, als fände in den breiten Schädel nichts ein, noch aus. Einfach eine andre Welt, die kaum ein Herüberwirken bulbete.

Nachdenklich ſchritt Ernft die Allee hinauf.

Der Himmel war jegt mit Wolfen bezogen, '

die fih durch⸗ und voreinander ſchoben.

Die |

Luft war dadurch etwas ſchwerer, aber ber ! ‚nicht. Dann wieder ging der Weg aufwärts, : tiefer zwiſchen die grauen Stämme.

ganze Frühlingsduft füßer und intenfiver. Der Waldrand lodte in blauer Ferne. Man

ging faum eine halbe Stunde, dann ftand man zwiſchen Buchenftämmen, konnte die Wege |

gehen, die man als Junge mit Vogelſchlingen

und Teſching beſchlichen hatte, fih in das

Moos lagern, wo man in Schillers Räubern | : Blättern, fprang von den Äſten ab, tropfte ! auf die Erde ein prachtooller, buftender

gelefen hatte, mit geballten Fäuſten und glühenden Baden over aud) bitterlich ſchluchzend. Liſa würde faum vor neun Uhr wach fein, dann war er lange zurüd. Bei dem bebedten Wetter ging es ſich noch beſſer ald bei heißem Sonnenſchein.

So ſchritt er kurz entſchloſſen zu. Der

Weg war troden tie nad langer Wärme,

«8 mar aud wenig Tau gefallen. Das Getreide ringsum ftand hoch in ten Halmen. Die Lerhen fangen. Er fuchte fie fo lange body in den Wollen, bis feine Augen förmlich) geblendet waren. Endlich entdedte er ſolch

einen kleinen, zitternden Punlt, von dem all ;

der Wohllaut auf ihn ftrömte. Am Rain blühte Mohn, wild, üppig, nicht nur ſolch ein paar blafje Stengel wie auf den Feldern um Berlin. Und bort ftand ein Übftbaum in

Blüte, und Bier rann ein Bad mit Vergiß⸗

meinnicht am Rand. Endlich erreichte er die erften, ſchwarzen Tannen. Dit verwachſen, daß feiner einen

Pfad hindurch finden mochte, ftanden fie und |

hüteten den Eingang. Bald miſchten ſich Zaubbäume darunter, und ſchließlich ſchritt er zwiſchen breiten, glatten Buchenjtämmen hin. Nur die Vögel fangen. Gr ging immer

188

ohne auf einzelnes zu fchauen, ohne auf einzelnes zu laujchen, nur von ges waltigem, ftrengem Zauber umfponnen. Der Wald atmete, ein gebämpftes, faſt fernes Saufen zog an den Wipfeln durch bie Luft. Die Vögel fprangen an den Äſten hin. Ein

fräftiger Blattgeruch von ber feuchten Erbe

fühlte den fügen rühlingsbuft. Hin und wieder blidte der Himmel durd die Kronen, er mar nun mit einem fait ſchweren Grau bezogen, die Sonne fand feinen Durdblid mehr. An einer feuchten Lichtung, über bie der Pfad führte, wuchſen Binfen. Seine Füße fehritten über ſchwarzen, weich nad: gebenten Grund. Libellen fuhren durch die glanzloje Luft, ihre hellen Flügel funtelten

Nun begann ein großes Naufchen in ben Blättern, ohne daß ein Wind die Zmeige rührte. Ernft ſchaute empor, ein kühler Tropfen ſchlug in fein Gefiht, einer, mehrere. Es tlopfte und trommelte auf ben blanfen, jungen

Frühjahrsregen. Die Vögel rafchelten im Laub und ſuchten Schuß, dazwiſchen erflangen doch wieder, nur leifer, verftohlener, ihre füßen Stimmen. Aber auch Krähen ſchrieen, flogen mit ſchweren, geräufchvollen Flügelſchlägen dur die Bäume. Ernft ging weiter und weiter. Er hatte einen leichten, eleganten Sommeranzug und dünne Stiefel an, die für das Berliner Pflafter gemacht waren. Cs war ihm aber zu ungewohnt und Töjtlih, in diejem einfamen Wetter hinzutvandern, achtlos ſich aufzugeben, all die unruhigen Gedanken raften zu laſſen, nur fühlend, mitten in ber Natur zu fein. Der Guß wurde ftärfer. Der Weg, das Moos glänzten feucht, an den Gräfern und Blumen hingen zitternde Tropfen, immer fräftiger, voller ward der Geruch, der von den Blättern, aus dem Boden ftieg. Endlich dachte er doch am den Heimweg, ging mit rafchen, belebten Schritten zurüd. Das Schlimmfte aber blieb ihm noch zu über: ftehen, als er den Waldrand erreicht hatte. Bisher waren ibm die Bäume noch ein ge= wiſſer Schuß geweſen, nun aber fam das lange Stüd Wegs über freies Feld. or

140 Einfamteit.

Übermut lachend, gab er die Hoffnung auf, mit einem einzigen trodenen Faden nad) Haufe zu fommen. Er nahm den Hut ab, bon dem das Waſſer in Etrömen rann und fämpfte ſich auf dem platten, lehmigen Boden vorwärts. Noch immer brängten neue, dunfle Wolkenwände ſchwer und langfam nad).

Als er den Hof erreichte, war der völlig verödet, fein Menſch war zu ſehen. Ihm war es recht, denn er kam fich Doch etwas zmeifel- baft in feinem Aufzug vor. Er ging durch die Hinterthür in das Haus, um erft in erneuter Geftalt vor Lifa zu erfcheinen. Nun war es doch Später geworben, als er gebadıt hatte, und ſie hatte den erjten Morgen allein verbradt. Vom Echlafzimmerfenfter aus fah er fie auf der glasgebedten Veranda fißen. Sie faß, friſch und lieblih, in einen bequemen Stuhl gelehnt und lag. Der Tiih mar zum zweiten Frühſtück gededt, ein Glas mit Rofen Itand darauf. Es war ein traulider Anblid, der ihm das Herz warm madte. Nachdem er fich umgezogen hatte, eilte er hinaus und fniete vor ihr nieder, ihre beiden Hände küſſend.

„Ich babe mic verſpätet,“ ſagte er. „Per: gieb mir.”

„Der Himmel bat hid) ja geſtraft,“ er- widerte fie lachend. „Biſt du pubelnaß ge: worden, Armer?”

„Es war köſtlich,“ rief er, „morgen ftehen wir um fünf Uhr auf und jpazieren wie Märchenkinder in das Feenreich hinein.”

„Rate, was ich für dich habe,” ſagte Lifa und legte mit geheimnisvollem Lächeln die Hand auf den Til.

Cr fann vergeblih nad. Triumphierend erhob fie einen dicken Brief.

„Bon Direktor Hanfen,” rief fie. „Er will dein neues Stüd annehmen und, wenn er es zur Zeit befommt, im Winter auf: führen.”

Ernft zudte die Achſeln. „Borläufig rühr’ ich feine Feder an und mag gar nicht daran denen, wieviel an dem Dinge noch zu machen ift.“

Sie ſah ihn etwas erftaunt an. „Du

willft dir doch dieſe Chance nicht entgehen laſſen?“ fragte fie in ungläubigem Ton.

„Du willſt doch nicht, daß ich um irgend eines bummen Vorteil willen Unwahres und Geſchraubtes zufammenfchmiere, zu dem mir die Luſt fehlt?” rief er mit flammenben Augen.

„Zu diefem Stüd fehlt dir die Luft? Das dich fo begeiftert bat, dich bie Nächte über wach bielt? Und auf einmal aus, langweilig? Das glaube ich dir nicht.“

„Mich dünkt, das paßt gar nicht hierher,” lagte er. „Hier wollte ih etwas andres ichreiben, das beiler und wahrer wäre.”

Liſa's Lippen zitterten. „Paßt du aud bierher, Ernft?” fragte fte dringlich.

Ein Schatten glitt über fein Geſicht. Er trat von ihr fort und ſah hinaus auf ben naffen Nafen, in den eintönigen Himmel. Konnte er ihr fagen, daß er fih bier, wo er erit feit gejtern war, heimifch fühlte, ganz glücklich, ganz ftil, ganz für immer zufrieden gegeben; nur gewillt, Wahres, Grades, Tiefes zu fchaffen aus dem, quellenden Schak feines innern. Reihtums? Er wollte nicht mehr die ſatiriſche Geißel Schwingen oder pathologifche Eintagserfcheinungen ihre buiteriichen Krämpfe auf der Bühne austoben laffen. Gefunde Leidenschaften und blutwolles Leben, blutvolles Leben vor allem. Liſa dachte darin fo anders. Hatte fie das, mas mohl eigentlih nur ein Sichjelberuntreufein geweſen, für feine wahre Natur gehalten, das geliebt, darin ihn ge- funden? Dann rächte fih alfo jede Untreue. Dann ftellte man damit einen Schulbidein aus, den man nicht einlöfen fonnte. Dann giebt e3 nur eins, immer wahr fein, bis zur Härte wahr fein, fonft fommt man leicht dahin, ſich felbjt den Etrid zu drehen.

Das Mädchen fam mit einem Tablett mit Setzeiern. Er wandte fih raſch un und griff nach dem Brief.

„ir wollen einmal ſehen, vielleicht macht es ſich,“ fagte er zu Life.

Und das wieder nur, weil fie die Augen gejenft hielt, und er ſah, wie eine Thräne zwiſchen den Wimpern zitterte.

(Fortfegung folgt.)

ER

11

Über Kindesmord und Kindesmörderinnen.

Bon Gefängnisdirektor Rüſtow (Wronke). Radtrud verboten. .

8 mag vielleicht im erften Nugenblid fonderbar ericheinen, einen ſolchen Stoff in einer Zeitfhrift zu beſprechen, die ihren Leſerkreis vorzugsweife in der Frauenwelt Hat. Und doch, glaube ich, läßt es fich rechtfertigen, weil einmal

der Kindesmord, wie ihn das Deutiche Strafrecht auffaßt, das einzige Verbrechen ift, das nur von einer Perfon weiblichen Gefchlecht3 begangen werden kann, weil ferner jrade dieſes, leider ſehr häufige Verbrechen in mannigfacher Bezichung zur Frauen: age überhaupt fteht und weil ſchließlich vorzugsweiſe weibliche Fürforgethätigkeit berufen ift, diejem Übel vorbeugend entgegenzumirfen.

Welches Interefie übrigens dem Gegenftand jo lange und überall, wo es ein wirkliches Strafrecht gegeben hat, ſowohl von juriftiicher, wie Arztlicher Seite geſchenkt worden ift, gebt auch aus der jehr umfangreichen Litteratur ') hervor, die ſich feit nunmehr über einem Jahrhundert darüber angefammelt hat.

Giebt es doch laum ein zweites Verbrechen, das zu dem verichiedenen Zeiten und bei den verjchiedenen Völkern eine jo grundverfchiedene Beurteilung erfahren hat, wie grade ber Kindesmord oder die Kindeötötung, von der Auffaffung als Verwandien⸗ mord, alfo der fchlimmften Art des gemeinen Mordes, beginnend bis zu der Sonder ftelung, die dem Kindesmorde heute bei jaft allen Völkern unter den Verbrechen gegen das Leben eingeräumt worden ift und die vielleicht nur noch mit dem Privilegium verglichen werden fan, dad bie Tötung im Ziveilampfe genießt.

chen wir ab von der noch heute bei Naturvölfern beftehenden Unfitte der Kindestötung, fo liegt der Zeitpunlt ihrer Duldung bei den Kulturvölfern jeden: falls ſehr weit zurüd. Die Zuläffigleit der Tötung Früppelbafter oder befonders ſchwachlicher Kinder, wie fie unter Nomulus gejeglich beftanden haben joll, darf wohl als der lette Reſt einer Duldung des Kindesmordes bei den Römern angejehen werden. Jedenfalls hat der Kindesmord im römifchen Recht die Sonderftellung, die ihm die modernen Rechte einräumen, nicht gehabt, ijt vielmehr ebenfo, wie gemeiner, beziehungs⸗ weile Verwandtenmord geahndet worden.

Dasjelbe gilt vom altgermanifchen Recht. Zwar hatte der Vater vermöge der fogenannten Mundſchaft ein ähnliches Recht über Leben und Tod des neugeborenen Kindes, wie ed in ber römijchen patria potestas beftand; eine Tötung des Kindes durch die Mutter wurde aber auch nad) altdeutichem Rechte lediglich als Veriwandten: mord betrachtet und zwar ohne Nüdjicht darauf, ob e3 fih um ein eheliches oder uneheliches handelte. In legterem Umftande wurde jugar, und darin liegt der fchroffite Gegenfa zu unferer beutigen Auffaſſung, ein Strafichärfungsgrund geſehen. Diejen Standpunft, der fid) ja allerdings auf beſonders ftrenge Sittengefege ftügt, nahm dann aud das kanoniſche Recht ein, bei dem übrigens injofern eine gewiſſe Ähnlichkeit mit

1) Xitteratur: Dr. Aarl Grolmann: Grundjäge der Ariminalwijienihaft. Dr. J. C. A. Mitter: meber (Feuerbadh): Lehrbuch; des peinlidhen Rechtes. &. P. Gans: Yon dem Verbrechen des Rinbes: morbed. Dr. jur. Carl Gloßmann: Die Kindestötung. Dr. jur. Jul. Wehrli: Der Kindesmord. Dr. Hans Pörfler: Ter Geifteägujtand der Gebärenden. Dr. X. v. Nrafft:Ebing: Grundzüge ber Ariminal:Pfochologie. Dr. Moris Freper: Die Dhnmacht bei der Geburt. Dr. €. Bleuler: Der geborene Verbrecher.

Über Kindeömord und Kindesmörderinnen. 148

dem Gedanken, die Schande abzufchaffen, als die es ehemals galt, fih mit Frauenzimmern zu verheiraten, die Mutter waren, ohne verehelicht zu Fin: ich weiß nicht, ob mir dies nicht gelingen wird”. So ber große König! Schade, daß nicht auch die Anficht Voltaire bekannt ift, als Vertreter des Landes, das fi, wenn ic) nicht irre, allein noch bis jegt der milderen Beurteilung des Kindesmordes feitend der anderen Bölfer nicht angeſchloſſen hat.

Eine weitere gelindere Auffafiung bat dann der Kindesmord in dem Strafr geſetzbuch für das deutjche Neich erfahren. Der bezügliche Paragraph lautet:

„Eine Mutter, welche ihr unebeliches Kind in oder gleich nach der Geburt vorjäglich tötet, wird mit Zuchthaus nicht unter drei Jahren beftrajt. Sind mildernde Umftände vorhanden, fo tritt Gefängnisftrafe nicht unter zwei ‚Jahren ein.”

Dazu fagt Liszt in feiner Darftellung des deutſchen Strafrechts: „Der Iegislative Grund für bie mildere Beurteilung der Kindestötung liegt einerfeit3 in der Gtärfe der bie unehelich Gebärende zur Tütung treibenden Motive, andererjeit3 in der durch den Gebärakt hervorgerufenen Verminderung der Zurechnungsfähigteit.”

Es ift alfo zweierlei, dad auf den Begriff de3 Sindesmordes von Einfluß geweſen ift, einmal die Beweggründe und dann der Fürperliche und feelifche Zuftand der Mutter, während und unmittelbar nach der Geburt.

Betrachten wir nun dieſe Gründe etwas näher und zwar zunächft die möglichen Beweggründe der Mutter. Deren können cd im iwejentlichen wiederum zwei jein: bie Rüdfiht auf die Wahrung der Ehre und die bedrängte Lage.

Von dem erſten jagt Feuerbach in feinem Lehrbuch des peinlichen Nechts:

„Die Furt vor dem Werlufl der Geſchlechtsehre, dieje gewöhnliche, an fich edle und gerade in befferen Gemütern vorzüglid gewaltige Triebfeder zur Vegehung des Kindesmordes ift der Hauptgrund, der dieſes Verbrechen gegen den gemeinen Der: wandtenmord auf eine geringere Etufe der Strafbarteit herabjegt!" Das klingt ja im erften Augenblick fehr ſchön und einleuchtend, bat aber doch ernite Bedenken gegen ſich und wird deshalb auch keineswegs allgemein anerkannt. Wollte man jeden fcheinbar edlen Beweggrund als ftrafmildernd annehmen, jo würde das Necht ſehr bald auf fchiefe Bahnen geraten. Der Zwed fann und darf dies Mittel nicht heiligen!

Wie erklärt es fih nun aber, daß felbft ein Feuerbach dem Beweggrunde der Rettung der Gefchlechtächte eine jo große Bedeutung zuerkannt hat? Ich möchte es als eine gewiſſermaßen natürliche Rüdwirkung betrachten; man fiel aus einem Extrem ind andere. Hatte man früher den unfittlichen Lebenswandel der Mutter, die Ber: heimlichung von Scmwangerfhaft und Geburt als ſchwere Strafihärfungsgründe betrachtet, fo follte num auf einmal mit dem edlen Motiv, wenn nicht alles, jo doch vieles entjchuldigt werben. In beiden Fälen ging man entihieden zu weit; denn, that ein Mädchen nichts, um ihren Zuftand zu verheimlichen, war fie in der ſchweren Stunde nicht allein und auf ſich felbit angewieien, jo hatte die Tötung de3 Kindes mit Nüdficht auf die Erhaltung der Ehre feinen Zinn mehr! Empfindet aber andrer: ſeits ein Mädchen jo jchwere Gewiſſensbiſſe über den Verluft ihrer Ehre, daß fie vor feinem Mittel zurüdichredt, der Schande zu entgehen, jo liegt jedenfalls Selbftmord ſeht viel näher, als Kindesmord und iſt ficherlich ſowohl eher zu begreifen, wie zu entfchuldigen. Im übrigen ift e3 aber, beſonders in den Streifen, aus denen bie Mehrzahl der Kindesmörderinnen hervorgeht und auch früher hervorging, mit den Ehr— begriffen gar nicht jo weit her. Gab es doch im guten deutfchen Neiche (und giebt es vielleicht noch) Gegenden, in denen an eine Heirat überhaupt nicht gedacht wurde, fo lange nicht ein Sind oder wenigſtens Ausficht auf ein ſolches vorhanden war. Das Moment der Schande kam erſt dann in Betracht, wenn zu dem Kinde der Vater fehlte. Nun erft traf dag Mädchen die allgemeine Verachtung, und wenn fie jchließlic) zum Verbrechen gelangte oder getrieben wurde, jo war es etwa nicht Schamgefühl im Sinne ftrenger Sittlichleit, was ſie dahin brachte, fondern vielmehr die Angit vor einer Schande, die ganz erheblich durdy ein anderes Moment bedingt wurde, durch die ſich aus ihrem Zuftande ergebende Not und Bedrängnis. So und nicht anders iſt's aber noch Heutigen Tages. Das können gerade wir Gefüngnizbeamten beobachten,

144 Über Kindesmord und Kindesmörderinnen.

wenn wir in den Briefen an die Gefangenen leſen, wie jo häufig Heirat und Kind: taufe in recht bedenklich kurzen Zeiträumen vor oder nacheinander gefeiert werden, ohne daß darin etwas bejonder3 Ungehörige® gefunden würde. Je mehr alfo der Berveggrund der Wahrung der Ehre an Anerkennung verlor, je mehr man fich von der Unhaltbarkeit der Grolmann:Feuerbadh’fchen Lehre überzeugte, deſto mehr fand allmählich der andere mögliche Beweggrund Berüdjichtigung, nämlich der: der bedrängten Lage der Mutter.

Vergegenmwärligen wir ung einmal, mie e3 einer folchen Bedauernswerten geht. Bon ihren Arbeitsgenoſſinnen mit Tpigen, Tränfenden Redensarten verfolgt, von den jungen Burfchen gemieden oder vielleicht erft recht mit unfauberen Anträgen beläftigt, muß fie täglich von Eltern und Verwandten Vorwürfe hören, ja es wird ihr vielleicht gedroht, daß fie dad Elternhaus verlaffen müßte. Zumeilen mag dabei auch Not und Armut mitjprechen, die durch einen etwaigen Familienzuwachs natürlich nicht verringert werden würden, jedenfalld wird der rmften das Elternhaus zu einer Stätte der Dual, und das umjomehr, je näher die ſchwere Stunde heranrüdt und fich ihre Arbeits: fähigkeit naturgemäß vermindert.

Iſt fie in einem Dienft, namentlich in einem jogenannten befjeren, jo wird ihr wohlmweizlich rechtzeitig gekündigt, und in vielen Fällen fragt die Herrichaft nicht danach, was nun aus ihr werden joll, obgleich man ſich wohl jagen könnte, dap ein Mädchen in ſolchem Zuftande doch jelbjtverftändlich feinen andern Dienſt mehr findet.

Zieht dann auch der Verführer feine Hand von ihr ab, verläßt fie der Bräutigann, jo erreicht die Verziveiflung, nun aller Eriftenzmittel beraubt, für zwei ſorgen zu müfjen, die troftloje Gewißheit, jede Ausſicht auf ein gutes Fortlommen, jei e8 durch Dienit oder Heirat verloren zu haben, ihren Höhepunkt, und der Schritt zum fcheinbar allein noch übrigen Ausweg, d. h. zum Verbrechen, wird bedenklich fur. Und doch darf auch in der Würdigung ſolcher Gründe, die ſchließlich ale mehr oder weniger auf dasſelbe, die materielle Not, hinauslaufen, nicht zu weit gegangen iverden; denn eine folche Notlage Tann nicht nur ebenfo gut bei einer ehelichen Mutter eintreten, jondern fie thut es thatfächlih in unzähligen Fällen.

Kann ſchon in jeder Arbeiterfamilie mit reichem Kinderjegen jeder neue Zuwachs eine Duelle ſchwerer Sorge werden, wieviel mehr muß das da der Fall fein, mo ber Ernäbrer vielleicht durch Krankheit und Siechtum in feiner Erwerbsfähigkeit Gefchränft ift oder wo fchließlich nach feinem Tode die Witwe nicht nur allein die Verforgung der Familie übernehmen muß, jondern durch die Ausficht auf eine weitere Vermehrung der Kinderzahl vor noch größere Sorgen geftellt if. Hätte nicht eine jolche Mutter weit mehr Veranlaffung zur verzweifelten That, als dag Mädchen, das doch ſchließlich nur - für zwei zu forgen hat?

Es würde alſo geradezu ungerecht fein, wollte man der unehelichen Mutter einen Entjchuldigungsgrund Sugefteben, ber der ehelichen verſagt if. Schließlich aber könnte die Notlage mit demjelben Recht bei fo und fo viel andren Ber: brecben vom einfachen Diebftahl bis zum Raubmord ala Enifchuldigungsgrund heran: gezogen werden. | Hat daher eine einfeitige und übertriebene Würdigung auch dieſes rundes „der bedrängten Lage der Mutter” ihre ſehr erniten Bedenken, fo verdient er doch weit: gehendſte Berüdjichtigung in Beziehung zu dem förperlichen und namentlich ſeeliſchen Zuſtande der Gebärenden.

Dieſes Moment der geminderten Zurechnungsfähigfeit konnte fih natürlich erft mit den Fortfchritten der medizinischen Wiſſenſchaft jo weit entwideln, daß ed jebt und zivar mit vollem Recht im Vordergrunde der Beurteilung des Kindesmordes ſteht bezw. auf die Yaflung des 8 217 unferes Strafgefegbuches von weſentlichem Einfluß ift, von der Krafft-Ehring jagt:

„Diele humane Würdigung des puerperalen Zuftandes entiprang der Er— fenntnig, daß bier gewaltige körperliche Vorgänge, beftige Affefte und pſychiſche Aha bis zur tranfitorischen Trübung und Aufhebung de3 Selbſtbewußtſeins im

piele find.”

Über Kindesmord und Kindedmörderinnen. 145

Nun könnte man ja den oben erhobenen Einwand, daß ſolche Zuftände doch bei jeder Geburt, aljo auch bei ber ehelichen, eintreten können, auch bier machen. Zweifellos iſt das in gewiſſem Sinne richtig.

Angfi: und Erregungszuſtande fönnen vor jeder Geburt und Ohnmacht: und Erihöpfungszuftände bei und nach jeder eintreten. Gie werden aber bei ber unebelichen, heimlichen Geburt begünftigt durch die oben erörterten Verhältniſſe während der Zeit der Entwidlung des Kindes. Zu der Angft vor dem Geburtsakte felbft tritt noch die Furcht vor der Schande. Die Sorge um die Zufunft, an ſich fchon geeignet Gemütsdepreffionen hervorzurufen, wird, wo ohnehin Neigung dazu vorhanden ift, diefelben noch verfchlimmern, mangelnde Pflege in der Zeit vor der Geburt die bereits aufs höchfte in Anſpruch genommenen Körperfräfte ſchwachen und dadurch dem Eintreten von Erihöpfungszuftänden geradezu vorarbeiten, die wiederum, gefteigert durch das Gefühl der Hilflofigkeit bei dem Geburtsakte felbit, wohl geeignet find, auch Ohnmachten herbeizuführen.

Alles das, was aljo bei ber ehelichen Geburt mildernd wirkt: liebevolle Pflege, freundlicher, tröftender Zuſpruch, fachgemäßer Beiſtand und nicht zum weniaften bie frohe Hoffnung auf dad zu erwartende Sindchen fehlt bei der unehelichen, heimlichen Geburt, und deshalb ift e3 ſicher nicht zu verwundern, wenn die Störungen, die bei einem den ganzen Organismus der Frau derart in Mitleidenichaft ziebenden Vorgang überhaupt eintreten fönnen, bier leichter zu Äußerungen der Verzweiflung, ja zur völligen Verwirrung der Einne führen.

Aber auch Hier muß, wie fchon bei den vorangeführten Gründen, vor einfeitiger Würdigung, befonder3 aber vor jeder Verallgemeinerung gewarnt werden. Daß die geſchilderten Störungen eintreten können, wird von allen ärztlichen Autoritäten an: erfannt, daß fie bei jeder Geburt eintreten müflen, aber ebenſo beſtimmt verneint.

Wenn daher au auf dad Moment der verminderten Zurechnungsfühigfeit das Hauptgewicht gelegt werben muß, jo ift dasjelbe doch mit außerſter Vorjicht zu prüfen, weil gerade hierfür in den meiften Füllen (aljo unbedingt bei allen heimlichen Geburten) ein fachlicher Beweis nicht zu erbringen ift, vielmehr nur eine rein perjünliche Behauptung der Angellagten vorliegen kann. Ganz beſonders aber gilt dies von den zuweilen behaupteten Ohnmachten und dem angeblich durch diefelben veranlaßten Ableben der Kinder. Zu beweiſen find fie natürlich nur in ben ſehr feltenen Fällen, in denen etwa die Vetreffende noch in der Ohnmacht gefunden wird.

Würde man aljo folhen Behauptungen allzuviel Glauben beimefjen, fo müßte ſehr Häufig auf Freifprehung erkannt werden, wenn nit aus der Verheimlichung der Geburt der Thatbeftand der vorjäglichen oder fahrläffigen Tötung infofern gefolgert werden könnte, als durch die ſelbſtverſchuldete Hilfslofigkeit der Mutter der Tod des Kindes veranlaft worden if. Nach unjerem Strafrecht erſcheint das jedenfalls zuläffig, wenngleich dazfelbe eine unmittelbar darauf hinausgehende Beſtimmung nicht enthält.

* * *

Es ift fehr zu bedauern, daß e3 gerade über den Kindesmord eine eingehende Statiftit_ nicht giebt; eine ſolche wäre ſowohl für Juriften, wie für Arzte, ja ſelbſt für die Laien, die doch als Geſchworene über dieſes Verbrechen urteilen müjlen, gewiß von großem Wert, der natürlich den Beobachtungen und Grfahrungen in einer einzelnen Anftalt nicht beigemefien werden kann. Immerhin dürften aber doch die bier gefammelten Zahlen, beſonders über die Häufigkeit der verfchiedenen Arten von Entfhuldigungsgründen, von Intereſſe fein.

Von den bis jest, aljo in einem Zeitraum von 6 Jahren, hier in Haft geweſenen 258 erwachſenen (d. h. über 18 Jahre alten) weiblihen Perſonen waren 90, d. i. etwa '/, wegen Kindesmordes und verwandter Verbrechen beftraft. Unter denfelben befanden I 3 Ehefrauen, eine verlaffene Frau und 6 Witwen, die tiber wiegende Mehrzahl (90 Prozent) waren Mädchen.

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146 . Über Kindesmorb und Kindbesmörberinnen.

Bon denjelben entjchuldigte fich, bei der Einlieferung nach den Beweggründen bezw. Urjachen ihrer Verbrechen befragt, etwa der vierte Teil mit Scham über ihre Schande, vier (dad find etwa 5 Prozent) mit Obnmacht bei der Geburt und die Hälfte mit bedrängter Lage. Bei den lehteren handelte es fich nur in fehr wenigen Fällen um wirkliche materielle Not, meift war es Angſt vor den Bortwürfen der Eltern, Verwandten und Herrichaften, Verbot des Elternhaufes, drohende Dienftentlaffung, was fie in legter Linie zu dem Verbrechen veranlaßt hatte. Alle ftammten aus der Provinz Poſen, wenigſtens die Hälfte ftand im Dienftverhältnig, die Mehrzahl gehörte der Zandbevälferung an.

Hervorheben muß ich noch, daß wir es Bier, im Gefängnis, nur mit ſolchen Fällen zu thun Haben, in denen mildernde Umftände zugebilligt worden find, wobei wiederum vorzugsweiſe die Annahme verminderter Zurechnungsfähigfeit den Ausſchlag gegeben bat. Wir können aljo diefen Milderungsgrund, weil er in faft allen Fällen mehr oder weniger berüdjichtigt worden ift, bei der Betrachtung’der anderen Beweg⸗ gründe ausſcheiden. Unter den legteren fällt nun vor allem die große Zahl der Entjchuldigungen mit bebrängter Lage auf, und in der That ſpricht diefe Zahl im Verein mit der hohen Gejamtziffer des Verbrechens in unferer Provinz überhaupt eine nur zu beredte Sprache. Sie weift uns bin auf traurige wirtjchaftliche Verhältniſſe, auf wenig günftige Beziehungen zwifchen Dienftboten und Herrfchaften, aber aud auf Gefühlöroheit und zügellofen Verkehr der Gefchlechter untereinander. Nicht zum wenigſten ift daran zweifellos die unglüdjelige Sachſengängerei jchuld, die leider mit jedem Sahre größere Ausdehnung annimmt.

Prüfen wir die in etwa 25 Prozent der Säle vorgefchügte Scham über ben Berluft der Ehre auf ihren Wert, jo Fünnen wir ihn ſchon nach dem eben Gefagten nicht befonder® hoch bemeffen. Auch aus dem fchon oben erwähnten Umftand, daß man in den Streifen, denen die Mehrzahl der Kindesmörderinnen entitammt, gegen etwas frühe Geburten nicht eben empfindlich ift, kann auf ein feiner entwideltes Sittlichleitägefühl nicht gejchloffen werden. Ein folches wäre aber doch die unerläßliche Bedingung für das Vorhandenſein eines Schamgefühls, das in feiner Bethätigung felbft vor jchweren Verbrechen nicht zurüdichredt. In Wirklichkeit find aber auch die oben erwähnten Angaben der Gefangenen bei ihrer Aufnahme in den meiften Fällen gar nicht ernft zu nehmen. Sie glauben auf die an fie gejtellte Frage etivad antworten zu müſſen und find ſchlau genug, fich die Entjchuldigung auszufuchen, die, wenn fie wahr wäre, auf die Beamten den günftigften Eindrud machen müßte. Trotz alledem befigen aber doch die Kindesmörderinnen unter den Gefangenen noch das meilte Ehrgefühl. Sie bieten dementjprechend die größte Hoffnung auf Bellerung und ericheinen deshalb in allererjter Linie der Fürſorge würdig, Eigentümlicher Weile begegnen wir aber gerade bei ihrer Unterbringung nach der Entlaffung, befonders von weiblicher Seite einer Scheu und einem Vorurteil, die neben dem begreiflichen Abjcheu wor der Berührung mit einer fittlich Gefallenen nur durch Unkenntnis der Verhältniffe erklärt werden fünnen. Beiden entgegenzumirfen war daber einer der Hauptgründe zur Niederjchrift diefer Zeilen. Wenn der Abſcheu vor dem Unfittlichen jeine Trägerin gewiß nur ehrt, jo darf dieſes Gefühl doch nie in Phariläertum ausarten, und nimmermebr darf e3 heißen: „Herr, ich danke dir, daß ich nicht bin wie jene”, fondern vielmehr „daß du mich vor dem Elend, vor der Verjuchung bewahrt haft, denen meine unglüdliche Mitfchweiter zum Opfer gefallen ift.“

Sehr richtig jagt da Dr. Bleuler in feiner Beſprechung des Lombrojo'fchen Werkes über den geborenen Verbrecher: „der Schande zu entgehen, ift für ein gut fituierte Mädchen, das immer unter dem Schuge der Familie bleibt, Feine befondere Leiftung, während eine einzeln ftehende Arbeiterin, die mit der Not zu kämpfen Bat, wenigſtens in ſtädtiſchen Verhältnifien einer übermittelmäßigen Charafterftärke bedarf, um nicht zu fallen.” Sit diefer Ausſpruch an der betreffenden Stelle auch auf eine andere Kategorie von Gefallenen zu beziehen, jo läßt er fich doch ebenſo gut auf die ländlichen Verhältniffe anwenden, aus denen in der Mehrzahl die Unglüdlichen hervorgehen, mit denen wir und eben bejchäftigt haben. Da liegt nun die Frage

Über Kindesmord und Rindesmörderinnen. 147

nahe, weöhalb denn gerade auf dem Lande der Kindesmord am häufigften vorkommt. gen falfch wäre es, daraus auf größere Unfittlichfeit der Landbevölferung zu fchließen. Der Grund dürfte vielmehr darin liegen, daß dad weniger von der Kultur berührte Lanbmädchen fich des roheren Mittels bedient, während in der Stadt mehr, wenn ich fo jagen darf, feinere Mittel zur Anwendung fommen. Man wartet da nicht fo lange, wie dad dumme Bauernmädchen, fondern geht zu einer Mugen Frau, die dann für Geld und gute Worte das feimende Leben vernichtet. Oder aber, ed bietet fih in den Städten befiere Gelegenheit zu heimlichen Geburten, und es giebt ebenda fo viele Frauen, die für ein Billiged die jogenannte Pflege folcher heimlich geborenen Kinder übernehmen. Und wenn dann das arme Würmchen, felbfiverftändlich nie durch Verfchulden der edlen Pflegerin zum Engel wird, jo bat doch die Mutter feinen Mori jangen!? Eind aber diefe gewiſſenloſen Mädchen, die ihr Kind bewußt einer Engelmacperin übergeben, bewußt deshalb, weil fie ſich fehr wohl jagen können, daß für ein jo erbarmliches Sündengeld fein Kind ernährt werden dann, nicht viel ſchlimmer al3 die wirklichen Kindesmörberinnen?

Deshalb möchte ich an alle mit mir empfindenden Frauen und Mädchen die Herzliche Bitte richten: werfen Sie nicht den erften Stein auf jene Unglüdlichen! Als ich vor Jahren von meiner Probedienflleiftung für den Strafanftaltdienft zurüdkehrte, fragte mich eine Dame, ob ich denn vor ber Berührung mit dem Auswurf der Menichheit fein Grauen empfunden hätte. Gewiß mußte ich diefe Frage bejahen, aber ich konnte gleichzeitig verfihern, daß Schließlich doch herzliches Mitleid, aufrichtiges Mitgefühl mit jenen Unglüdlichen die Oberhand gewonnen hätten, beſonders wenn ſich mir oft genug die Frage aufbrängte: Was wäre wohl aus dir getvorden, wenn bu in gleicher Umgebung, unter foldhen Vorbildern und in dem Elend aufgewachien wäreft, wie jene? Und fo, meine ih, könnte auch jede Frau denken, ohne ſich eiwas an ihrer Selbſtachtung zu vergeben.

Es bliebe nun noch zu erörtern, wie dem beiprochenen Verbrechen am wirfjamften vorgebeugt werben kann? Da möchte ich vor allem auf den oben citierten Ausſpruch Friebrichd des Großen verweilen! Was der große König dereinft gejagt hat, ift auch beute noch richtig, und wenn auch feine Herrichaft mehr verpflichtet ift, über derartige Wahrnehmungen an ihren Dienitboten dem Gericht Anzeige zu machen, fo ift es doch eine heilige Pflicht der Dienftherrichaft, ihrem Gefinde beizuftehen, den Mädchen die Wege zur zeäitgeitigen Aufnahme in eine Entbindungsanftalt zu eben und fich, wenn alles überftanden, um Wohl und Wehe von Mutter und Kind meiter zu befümmern. In den Städten finden aber gewiß die Damen der frauenvereine Gelegenheit, ihre Fürforge ganz beſonders ſolchen Unglüdlichen zuzumenden. Wie fehr gerade in derartigem Falle rechtzeitiger Troft und Zufpruch von Nöten ift, habe ich erft türzlich aus den Alten einer Kindesmörderin erfehen, deren Ausfage vor Gericht, als beſonders bezeichnend, ich hier wörtlich anführe: „Ich Hatte ſchon einige Wochen vorher den Vorjag, das erwartete Kind zu töten, und zwar deöhalb, weil mein Vater darüber ſchimpfte, daß ich mich hätte verführen laſſen und meil ich Beſorgnis hegte, daß ich in Ermangelung einer Mutter weder Obdach noch Nahrung haben würde. Die Mutter (die kurz vorher geftorben war) hat mir keine Vorwürfe gemacht; wenn fie gelebt Hätte, würde ich es nicht gethan haben.”

Der Dienfiherr, der al3 Zeuge vernommen wurde, verficherte dann noch dem Gericht, daß er fie trotz des Kinded im Dienft behalten haben würde.

Weshalb Hat er ihr das nicht vorher, d. h. zur rechten Zeit gejagt?

Mir fallt bei folchen Gelegenheiten immer wieder der alte, gute Spruch ein:

Zur rechten Zeit, am rechten rt, Vermag gar viel ein gutes Wort. Und mancher hat es ſchon bereut, Der es zu ſagen ſich geſcheut!

Gen

19*

Hauswirtſchaftliche Unterweifung armer Mädchen in Deutichland. 148

Jedenfalls Tann das Dienen kaum als die befte und barf noch weniger als bie einzige Vorfchule für den Arbeiterhaushalt angefehen werben.

Zu diefer Erkenntnis kam man hauptfächlic erft in den fechziger Jahren, als einige wohlmeinende Großinbuftrielle und andere Gebildete ſich für diefen Zweig der Fürorge für arme Mädchen zu intereffieren begannen. Die ſchon 1797 in Labeck und 1826 in Königsberg gegründeten Haushaltungsfchulen find hier nicht zu rechnen, weil fie die Mädchen zum Dienen, nicht zur Führung ded eigenen Haushaltes vor: bereiten. Es bildeten ſich Vereine zur Errichtung hauswirtſchaftlicher Kurſe für arme Mädchen, und dad Intereſſe dafür wurde immer allgemeiner, beſonders angeregt auch durch bie Initiative deuticher Fürftinnen, der Kaiferin Augufta, der Großherzogin von Baden, die ihre in Schweben gemachten Beobachtungen noch fpeziel verivertete, und der Großherzogin von Sachſen⸗Weimar.

Was auf dem Gebiet der hauswirtſchaftlichen Unterweiſung armer Mädchen geleiftet ift, läßt ſich in verfchiedene Gruppen zerlegen, ich folge darin dem Buche von Kalle und Kamp):

1. Unterweifung im elterlichen Haufe, in fremden Häufern und in ber

BWaifenpflege. 2. n in Schule und fhulmäßigen Vorkehrungen. 3. während der Vollsichulgeit in fogenannten Nebenfchulen. 4. n nad der Volksſchulzeit in Tagesiulen. 5. n in Stundenhaushaltungsfchulen. 6. in Fabrikſchulen. T. n in Anftalten mit anderem Hauptzived.

In Waifenhäufern und ähnlichen Erziefungsanftalten ift hauswirtſchaftliche Unter: weifung fehr allgemein. Die 1821 gegründete Clijabethenanftalt in Niederramftabt bei Darmftadt hat von Anfang an bauswirtichaftliche Anleitung in ihr Programm aufgenommen, ebenfo das 1835 in Coburg errichtete Auguftaftift, die 1867 eröffnete Jazdzewskiſche Waifenanftalt in Zduny, das Waiſenhaus und Gurſelaſche Stift in Frankfurt a. D. und andere mehr.

Den erften Verfuch, den hauswirtſchaftlichen Unterricht in die Volksſchule hinein: zuziehen, unternahm Frau Pfarrer M. Michel in Rappoltsweiler im Elſaß. Sie begann im Jahre 1872 in den Handarbeitsunterricht, den fie den Volksſchülerinnen erteilte, einige theoretifche Hinmweife in Bezug auf Hausarbeit, Küche, Krankenküche und Pflege einzufügen und den Handarbeitsunterricht mehr den Bedürfniffen einer Arbeiter: frau anzupafien.

Bekannt find die zu Oſtern 1889 in Kaſſel eingeführten Haushaltungskurſe. Durch Wegfall von zwei Zeichen: und zwei Handarbeiteftunden konnte dem Haus: baltungsunterricht in der oberften Klaſſe ber Volksihule ein Vormittag eingeräumt werden. Dabei wird jo verfahren, daß, während die eine Hälfte der Schülerinnen kocht, die andere mit Nähen und Pugen befehäftigt wird. Nach der Verficherung der Beteiligten hat ſich das ausgezeichnet bewährt.

In ähnlicher Weife wurde der hauswirtſchaftliche Unterricht in die Chemniger Vollsſchule eingefügt, ebenfo in Altona, Neumünfter in Holftein, Hameln a. d. Weſer, Marienburg u.f. wm. Etwas weicht Zwidau ab, wo man einen befonderen Nachmittag für den Kochunterricht angejegt bat.

Um den Lehrplan der Echule nicht zu kürzen, wurde ferner der Verfuch gemacht, Haushaltungsnebenſchulen einzurichten, die mit der Volksſchule in feinem direkten Zufammenhang ftehen, daher auch nicht obligatorifch find. Auch bier ift der Beſuch unentgeltlih. Schon im Jahre 1839 twurde in Darmſtadt eine derartige Kochſchule gegründet, die mit der dortigen Mäbchenarbeitäanftalt in Verbindung ftand. Alle

%) Die Hauswirtſchaſtliche Unterweiſung armer Mäbdchen in Deutſchland und im Ausland von Frig Kae und Dr. Otto Kamp. N. Z. Wiesbaden 3. F. Bergmann.

Hauswirtſchaftliche Unterweiſung armer Mädchen in Deutfchland. 181

Auch in Arbeiterinnenhofpizen und -heimen wirb jegt nicht felten Haushaltungs⸗ unterricht erteilt in den Abendftunden ſowohl wie an den Sonntagen. Hierfür ift vor allem wieder Munchen⸗-Gladbach zu nennen, das Arbeiterinnenhofpiz in Aachen, das Marienheim in Cöln ꝛc.

Unter ben Fabrikſchulen, deren es auch eine fehr ftattliche Zahl giebt, ermähne ich die am 1. April 1890 auf dem ftaatlichen Bergwerk Königshütte in Oberfchlefien ein gerichtete Ganztags-Rochichule für unverheiratete Arbeiterinnen im durchſchnittlichen Alter von 20—22 Jahren. Nur Töchter von dortigen Bergleuten dürfen an dem einmonatlichen Kurſus teilnehmen, denen während diefer Zeit der übliche Tagelohn und freie Belöftigung gewährt wird. In ähnlicher Weiſe verfährt die Haushaltungs- anftalt der Firma 30. Bülfing und Sohn in Lennep, in der feit Januar 1890 dreimonatliche Kurfe ſoichen Arbeiterinnen erteilt werden, die zugleich Töchter dortiger Arbeiter find. Die Mädchen werden für jenen Unterricht beurlaubt und fiedeln für die Zeit ganz in die betreffende Lehranftalt über. Auch bier trägt der Arbeitgeber die ganzen Unterhaltungskoften. Die Schülerinnen müſſen das 18. Jahr überfchritten haben, und die vor der Ehe Stehenden werden bevorzugt. Eine ähnliche Anftalt errichtete die Kafleler Waggonfabrit Wegmann u. Cie. und andere.

Manche Fabritanten begnügen fih damit, ihren Arbeiterinnen die Teilnahme an Haushaltungskurfen dadurch zu erleichtern, daß fie den Mädchen die Ichte Arbeits: flunde an den betreffenden Tagen freigeben, ohne etwas vom Tagelohn abzuziehen. Das allein ift ſchon ein bedeutfames Mittel zur Förderung jener Beftrebungen. Natürlich fehlt die Kruppſche Stahlfabrit in Efien nicht in der Reihe derer, die in diefer Hinficht für ihre Arbeiterinnen forgen. Ihre Haushaltungsfchule zeichnet fich dadurch aus, daß fie die Mädchen auch in allen Gartenarbeiten unterteilt und außer: dem mit einer MWäfcherei in Verbindung fteht. Der Andrang zu der Schule ift auch bier ein großer.

Um nun nad) diefem allgemeinen Überblid auch in die intereffanteren Interna der Haushaltungsfchule einen Einblid zu geben, möchte id) von der Haushaltungsſchule in Jena, bie ich Gelegenheit hatte aus eigener Anfhauung kennen zu lernen, näheres berichten.

Sie wurde auf Anregung und mit Unterflügung der Großherzogin von Sachſen⸗ Weimar im Jahre 1891 von dem bortigen Frauenverein ind Leben gerufen.

Frau Dr. Fiſcher-des Arts übernahm mit außerorbentlichem Verftändnis für die Bebürfnifje eined Arbeiterhaushalts, mit praktiſchem Blid und großer Sachkenntnis die Einrichtung und oberfte Leitung diefer Kurfe, die unabhängig find von der Schule, doch unter Aufficht. der Schulbehörbe ftchen. Den Lehrplan und fpeziell für diefen Zweck zufammengeftellte Kochrezepte veröffentlichte fie, nachdem fie ihre Erfahrungen damit

jemacht hatte, in ihrem Werk „Anleitung zum Erteilen des Unterrichts in der Haus— Paltın 8 kunde.”

ie Oberfchulbehörbe des Großherzogtums erklärte ſich bereit, den Schülerinnen der erften Klaſſe ber Volksfchule wöchentlid, einen Vormittag für diefen Haushaltungs: unterricht frei zu geben. Das erfte Schuljahr wurde in viermonatliche Kurſe geteilt, an denen je acht Mädchen teilnahmen, doch hat ſich diefer Zeitraum, troß recht guter Erfolge, ais zu kurz erwieſen, weshalb man zu einjährigen Kurſen überging. Sind in der eriten Klaſſe nicht 24 Schülerinnen, jo wird die Zahl durch Kinder aus der zweiten Klaſſe ergänzt.

Später ftellte der Schulvorftand zwei große Räume für Küche und Wafchraum unentgeltlich zur Verfügung, bewilligte Mittel zur Einrichtung der größeren Räume und zur Anſchaffung von vier Kochherden und gewährte ferner freie Lieferung des Waſſers und des Feuerungsmateriald; die übrigen Ausgaben beftreitet der Frauenverein.

Der Arbeitsraum ift mit allem Notivendigen auögeftattet, ohne Hilfsmittel zu geben, die fich in der Arbeiterküche nicht finden önnen. Je ſechs Mädchen haben einen Herd und einen daneben flehenden Stüchentifch, auf dem alle Arbeit verrichtet wird. An der Seite des Tiſches und in dem unterhalb der Tiichplatte angebrachten Fach find alle Geräte angehängt oder aufgeftellt, die zu dieſer Herdgruppe gehören.

Hauswirtſchaftliche Unterweifung armer Mädchen in Deutfchland. 158

Es werden ihnen einige hygieniſche Vorfchriften gegeben in betreff des Lüften® der Zimmer und Betten, des Neinigens der Fußböden und dergleichen. Auch auf ordent: liches Betragen ber Kinder wird geachtet, fie dürfen 3. B. bei Tiſch nicht die Arme aufflügen. Im ganzen hertſcht aber in dieſer Haushaltungsfchule ein wohlthuend freier Ton. Die Mädchen werden nur ermahnt, wenn fie ſich ungehörig benehmen, oder ihre Schuldigkeit verfäumen. Sie arbeiten flink und eifrig, man fieht, fie find mit Intereffe dabei. Schr reizend ift ihr frifcher, mehrftimmiger Gefang beim Plätten, Rartoffelihälen, Geſchirrwaſchen, der bei den mufifaliichen Thüringer Kindern wirklid) erfreulich klingt.

Während des theoretiichen Unterricht3 überwacht die Hilfslehrerin die Speifen, doch wird er unterbrochen, wenn das Eſſen ein beionderes Eingreifen verlangt. Während der Haushaltungsarbeit müffen die Kinder felbft ihre Töpfe beobachten.

Iſt der Vortrag beendet, jo wirb der Küchenzettel des Tages in Hejte biftiert, die die Kinder während des Schuljahres nicht mit nach Haufe nehmen dürfen. Es wird bei dem Schreiben der Rezepte auch auf richtige Orthographie geachtet. Faſt jeder Küchenzettel mißt der Perfon !/, Pfund Fleiſch, zu 13 Pig. berechnet, zu, natürlich die billigften Teile der Tiere, wie Bauch- oder Bruſiſtück, Kammſtück, Kaldaunen und dergleichen. Zuweilen treten Eier oder Sped an die Stelle des Fleifches. Die Kuh— butter wird durch Fett oder Dargarinebutter bejter Qualität erjegt. Fiſche, Gemüſe, Pilze, Obſt den Jahreszeiten angepaßt findet ſich in ausreichender Quantität in jenen

" Küchenzetteln für ein Mittageſſen für 20 Pfg., ias befonders wertvoll erjcheint, weil unfere ärmeren Volkskreiſe viel zu wenig am den Konſum von Gemüfe, Obſt und der gleichen gewöhnt find. In Bezug auf den Küchenzettel hat es die Leiterin verftanden, trog der beichränkten Mittel eine große Mannigfaltigfeit zu erzielen. Um '/, ober 11 Uhr ift das Diktat beendet, und das Mitiageſſen wird fertig zubereitet. Dann wird der Tifch gededt, d. 5. alles Notwendige darauf zurecht gelegt und nad dem aifcgebet das Efjen verzehrt. Daß es gut ſchmeckt, davon habe ich mic) felbft

erzeugt.

Eicher ift es von großer Bedeutung, daß die Kinder die zubereiteten Speifen felbft effen, weil dadurch das Intereſſe am Unterricht ein viel Ichhafteres üt.

Nah Tiſch wird alles abgewaichen, das Geſchirr ſowohl wie die Tiſche, Fuß— böden zc., in 1—1'/, Stunden muß jedes Stück wieder fauber an feinem Plag ftchen oder hängen und ber ganze Raum rein und gepugt fein, fo daß die Schule um Y/1 Uhr gefchloffen werden kann.

Am Schluß jedes Schuljahres findet eine Prüfung der Schülerinnen ftatt, zu der ihre Eltern und die Freunde der Haushaltungsſchule geladen werden.

Die geiftige und_die äußere Entiwidlung der Kinder in diefem einen Jahr, ganz abgefehen von den pofitiven Kenntniffen, ift ungemein erfreulich, ihr Beobachtungsſinn, ihr Blick für Sauberkeit und Ordnung, ihre Gejchidlichfeit und VBebendigfeit werben durch dieſen Unterricht in auffallender Weife gehoben, ber beite Beweis, daß ber hier befchrittene Weg der tichtige iſt. Jedenfalls wird in der Zenenjer Haushaltungsſchule fo viel geleiftet wie nur irgend bei dem jugendlichen Alter der Schülerinnen zu erivarten ft, und e3 ift damit ein vortrefflicher Grund gelegt, auf dem die Kinder allein weiter bauen fönnen. Treten fie gleich nad) Verlafien dieſes Unterrichts in Lobnarbeit ein, jo hofft man ihren Hauswirtfchaftlichen Sinn jo weit gewedt zu haben, daß fie fich dann noch, falls an ihrem Wohnort ſolche vorhanden find, an Fortbildungsfurfen beteiligen, in denen fie ſich weiter in hauswirtfchaftliher Beſchäftigung üben fünnen.

Wicderholt ift Frau Dr. Fiſcher in Dankfagungen junger Ehemänner und ver: witweter Väter der Beweis geliefert, daf die Ausbildung der Schülerinnen eine den thatſachlichen Bedürfniſſen entiprechende ift.

a Eax

Paul Hehſes Erinnerungen, 156

bereichert fühlen, aber man wird etwas von dem heiteren Lebensgleichmut ahnen, der an den Abgründen ahnungelos mit Kränzen leichten Fußes dahin fchreitet und mit dem Löwen fpielt, wie das Kind der Goethifhen Novelle.

* * *

Berliner Kindertage, Berliner und Vonner Studienzeit, italieniſche Lehr- und Wanderjahre, Münchner Leben find die Reihen des Buches. Mit dem fünfunddreißigſten Jahre ſchließt ed. Es wird, das ift auch charakteriftifch, nicht weiter ald bis zu dem Punkt geführt, der dem Siebzigiährigen abfolute Diftanzhaltung garantiert.

Mit Ahnenkultus beginnt ed, und die Portrait3 dieſer Vorfahren im altmodiſchen Rahmen, umweht vom Kulturparfum der Vergangenheit, haben ſeltſam aparten Reiz.

Von der mütterlichen Linie gilt dad vor allem, denn in ber väterlichen feheint bis auf Theodor Heyſe, den Onkel Catull, den fauzigen Eonderling, den wir in Stalien noch kennen Iernen werden, das bürgerlich Gerade, Stille, Unbeirrte den Grundton angegeben zu haben.

Aber die Geftalten der mütterlichen Welt find phantaftiich, originell wie aus Novellen E. Th. A. Hoffmanns und Arnims. Diefe Frauen aus dem Geſchlecht des „Hofiuden“ Salomon: die Großmutter, wie ein üppiged Bild des achtzehnten Jahr: hunderts, mit dichtem Haar, „ſtark ausgeſprochen orientalifchen Zügen“, kohlſchwarzen Augen und blendend weißer Büfte, die Tante Regine, die als alte Frau im halb: dunklen Zimmer figt, in großer Toilette, mit weißen Glaceehandſchuhen „wie ein gepugtes Gögenbildchen” und ſich von ihrer diden, blatternarbigen, fteiermärkifchen Zofe den Thee bereiten läßt. Dazu der „gute Onfel Louis“, im langen, blauen Rod mit Schößen bis tief über die Nankingbeinkleider, Gamaſchen, grauen Eylinder, das Kinn in eine handbreite ſchwarze oder buntleinene Kravatte getaucht. Dann die Tante Marianne, bie eine der Beautes des Wiener Kongrefies war, Könige und Fürften zu ihren Füßen gefehen, romantiſche Herzenserlebnifje gehabt hatte, fich erft mit einem portugiefifchen Herzog verlobte, der ftarb, bevor er fie zur Herzogin gemacht, jpäter nad Rahel Tod Barnhagen zum Bräutigam nahm, ohne daß er ihr Mann wurde, und die nun als alte Frau noch den Schimmer glänzenden, großen Erlebens um ſich breitete. Endlich Heyſes Mutter jelbft, eine Coufine der Mutter Felix Mendelsjohn: Bartholdys, wigig, geiftreich, temperamentvoll.

Zu dieſem lebhaft leidenſchaftlichen Blut das ſchwerflüſſige, ernfte Weſen des Vaters, der gegen bie andern milde, gegen ſich unerbittlidy fireng war. Er iſt der Haus: lehrer Felix Mendelsſohns und habilitiert ſich als Philologe vor feiner Heirat. Sein Lebelang ein Märtyrer ber Pietätspflicht, der aus dem freiwillig übernommenen Zwang, die großen Pläne feines Vaters, die Wörterbücher auszubauen, nie recht zu einer freudig aus eigenem übernommenen Aufgabe fid) erheben konnte.

Aus folder Gegenfagmifhung entftand Paul Heyſes „Weftöitlihe Natur“, wie er fie felbft glüdlich nennt, und in diefem Falle ergiebt ſich wirklich das fonft häufig nur fonftruierte Zuſammenwirken der geiftig-finnlichen mütterlichen Frohnatur mit dem ernften Lebensführen des Vaters ganz ungezwwungen.

Berliner Stimmungen beginnen den Reigen. Der maleriſche Winfel am Weiden- damm, der fpäter in den „Rindern der Welt“ zum Neft des Zaunkönigs die Ecenerie gab, eröffnet feine Wunder, wie fie die Heißhungrige Phantafie des Knaben fah: den Stapelplag der Holzfähne mit den hoch aufgefchichteten Holzhaufen, die wie eine

Paul Heyſes Erinnerungen. 157

Stimmungs: und pfychologiſche Ausbeute geben die Blätter aus Jtalien eigentlich wenig, fie haben eher anefdotifch-genrehaften Inhalt, und ihr Intereſſenwert beftcht darin, daß fie eine Fülle intereffanter Menfchen in ihrem täglichen Leben uns vorführen.

Bodlins Geftalt fteigt auf und mit ihr die Erinnerung römiſcher Schlendertage, der Tafelrunde des Tugendbundes in einer Winfelfneipe, des Ausflugs nach dem Thal der Egeria, wo die beraufchte Luft hochwogt und es nad Heinſe-Ardinghelloſchem Vorbild „inmer tiefer ins Leben hineinging,” „bis zu jenem Tanz ums Feuer nad) abgeworfenen Kleidern.”

Bödlin Iebte damals, noch völlig unbekannt, in tieffter Armut aber ſtets auf: echtem Stolz, der ihm jede Konzeffion an ben Publikumsgeſchmack vermehrte. Den großen phantaftiihen Zug von fpäter zeigten feine Bilder noch nicht, auch feine menſchliche Staffage. Das Charakteriftifche der Arbeiten biefer Periode war das intime ſtille Naturgefühl, das wunderſame Gedächtnis, das feiner ängftlihen Studien bedurfte, um den ganzen Reichtum aller Formen und Farben in ſich zu bewahren.

Heyſe erzählt von einer unvollendeten zerfnüllten Leinewand, die in einem Winkel feines dürftigen Atelier in der Via della Purificatione herumlag, einer Landfchaft aus ben pontinifchen Sümpfen, ein „großartig einfaches Waldmotiv immergrüner Eichen,” an der Bödlin die Luft verloren hatte und die Heyſe eine mehr und mehr geichägte koſtliche Gabe wurde.

Ein Schatten der alten Nazarenerzeit, wandelt Dverbed noch durch die Gaſſen Roms. Paul Heyſe fieht ihn in feiner „hohen etwas vorgebeugten Geftalt, den finnend geſenkten Augen,” wie er neben ber Staffelei fteht und einer mutwillig ſchönen Dame, die ihn mit einer aſthetiſch aufgefaßten, einer verfchämten, entkleideten Heiligen gleichenden Eva nedt, mit leifem Erröten verlegen erwidert.

Auch an Driginalen fehlt e8 nicht.

Martin Wagner, den Bildhauer König Ludwigs, fehen wir in feiner genialen Verwahrlofung, in der Vila Malta, zu deren Kuftoden ihn der König gemacht und die er mit dämonifcher Schnelligkeit in eine Wüftenei verwandelte. Hier Fauert er zwiſchen feinen Katzen, für die er bei den Mahlzeiten Fleiſch und Knochenſtücke, Fifch- töpfe und Gemüfe in feinen tiefen hängenden Rocktaſchen, chaotiſch durcheinander: geichättelt, fammelt, feinen fünftlerifchen Entwürfen, die wirr auf Tifchen und Stühlen herumliegen unter Tellern mit Speifenteften, leeren Weinflafchen, Kleidungsitüden, alten Schuhen, mitten darin dann wieder ein wertvolles Gemälde der Külnifchen Schüle, alles mit einander friedlich bebedt von didem, grauem Staube.

Nicht weniger Sonberling, aber ein faubererer Geift war der Epifuräer und Lebenskünftler Theodor Heyfe, Paul Heyſes Vaterbruder, der Onkel Catull, der Civis Romanus. Sein Bild erfcheint und ald das intereffantefle de3 ganzen Buches. Ein Unabhangigkeitsmenſch von raffinierter Lebendeinteilung, ber fein Leben allein ſich felbft zu leben wünſcht, ein Leben geiftigen Genuffes, nur ſoweit mit Arbeit belaftet, als es zur wirtichaftlichen Erhaltung nötig ift.

Seine Brotarbeit find Ebitionen nad italienifhen Handichriften, feine reiche Muße gilt dem Umgang mit Catull und Goethe. Blumen und Tiere fehlen biefem forglich eingefponnenen Dafein nicht. Auf einer Luftigen Loggia, mit weiten Blick über die Nachbarhöfe, tanken fi immergrüne Pflanzen in der Sonne und tummeln ih das Hündchen Fido und der Kater Micetto, die die anderen feltfameren Haus: genoffen, den großen Geier und den Affen, fiberlebt hatten. Und in reizvoller Wirkung

yanı HEyIeB eruncrungen. 189

Heyfe kehrte als ein ber Schule „entlaufener“ romaniſcher Philologe, aber mit dem litterarifchen Spezimen in ber Tafche, aus Italien nach Deutſchland zurüd.

Und nicht aus dem wiffenfchaftlichen, fondern aus dem dichterifchen Beruf kam ihm nun die wirtfchaftliche Begründung feines Lebens. Durch Geibels Vermittelung erbielt er 1852 eine Berufung an den Hof des Königs Mar, in die Schar der Kavaliere des Geiftes, die der bayrifche Herrfcher zu „Sympofien” um fich verfammelte und denen er einen jährlichen Chrenfold ausſetzte.

Die Münchener Chronik, zu der Heyſes Lebensbild jegt wird, erhebt fi aus anefootifch-plauberhafter Sphäre zur fulturhiftorifchen Betrachtung einer intereffanten Epoche. Bor diefen Blättern aber fteht noch ein reizendes Genrebild.

Heyſes Polterabend im Kuglerichen Haufe, bei dem der Bräutigam durch die unwiderſtehlich komiſche Aufführung des „dankbaren Räuber”, des theatralifchen Verſuchs feines zwölften Jahres, überrafht wird. Der große Effekt dieſes Edelmuts- dramas ift nicht der große Ninaldini „Vorſcht“, den Wilhelm Lübke haarbuſchig, in Ichäbiger Räubertracht fpielte, fondern das arme, unfchuldige Kind der bedrohten Eltern, das im Kinderfleivchen am Boden kauerte und ſehr ernflhaft mit einem hölzernen Pferde fpielte und das Adolf Menzel darftellte.

Aus dieſer Gemütlichkeit geht es aber dann in die Hofluft. Auch der Privat: verkehr, der neben der offiziellen Gefelligfeit der Sympofienabende herrſcht, ift faſt ausſchließlich auf die Kolonie der Berufenen beichränft.

Von ihnen vertrat Dönniged bie Hiftorifchen Intereſſen des Königs, Geibel die poetifchen,. und Juſtus von Liebig war der „verantwortliche Minifter im Gebiet der exalten Wiffenichaften.” Dazu famen dann noch Riehl und der Graf Schad.

Ein verftehender Kreis ſchloß fih im Haus der Frau von Ledebour und nannte fih die „Ede“, da man zu der verehrten Wirtin nur um die Ede zu gehen hatte. Hier laſen die Dichter ihre neueſten Gedichte, Dramen und Novellen; Riehl brachte feine Hausmufif mit; fcherzhafte poetijche Preisaufgaben wurden geftellt, und bie alte Freundin, die fie al8 den „Edftein der Ede“ feierten, wußte „mit dem milden Blid ihrer Maren Augen in dem iwelfen bleichen Gejicht, das bünnes, filbernes Haar um: rahmte, felbft Geibels Ungeftüm zu zähmen, wenn er mit Fräulein Julie (der Adoptivtochter), wie einft in Berlin mit Luife Kugler, in einer feiner herriſchen Launen aneinander geriet.”

Derber als diefe frauenhafte, lampenverfchleierte Hauspoefieftimmung, war die Luft über der trankfeften Tafelrunde der „Krofodile”. Kerniger und fräftiger als in dem weiland „Tunnel über der Spree“ ging es in dem „heiligen Teich” zu, der ſich als irdiſchen Plag die gemütliche Trinkftube am Dultplag erwählt hatte, mit dem offenen Feuer, über dem der Wirt auf einem Roſt bie faftigen Fleiſchſtücke briet. Hier verbrachte das „Krokodil“ vier jehr nahrhafte, vergnügliche Winter.

Geibel, das „Urkrokodil“, ftimmte feine Leyer zum Preis des Wappentieres, das, in Thon modelliert, am Sodel die verſchiedenen Reptile, nach denen die Tafelgenojjen genannt waren, in hieroglyphiſchen Zügen eingegraben trug. Schad war das „Ehren krokodil“, das ſich aber nur felten bliden ließ.

Die ernften Ergebnifie diefer heiteren Srokobilität wurden in den zwei Münchner Dichterbüchern, das eine von Geibel, da3 andere von Heyſe herausgegeben, niedergelegt.

Hier hat ſich viel gegenfeitige Anregung, fruchtbare Reibung ergeben. Nicht fo probuftiv waren die königlichen Abende.

Paul Hebfed Erinnerungen. 161

das Außere Band einer Verpflichtung. Und Heyſe hat jegt in innerer und Außerer Freiheit, ein anerkannter, erfolgreicher Autor, die Muße, den eigenen Arbeiten zu leben.

Wahrend die Mitkrokodile ich zerftreuen, bleibt er durch liebe Bande (feine zweite Frau ift Münchnerin) noch ftärker an die ſympathiſche Stadt gefeflelt. Und nun, an bes Lebens Mitte angelangt, in Sicherheit geborgen, entläßt er uns mit einem Ausblid.

Der Tod ſchritt mandes Mal noch um fein Haus. Cine Kataftrophe voll Rarrenden Eumenidenfchauers ift der Kampf um den Tod, den Heyſes Schwager Hans Kugler, von unheilbarem Leiden gequält, immer und immer wieder fterbenägierig beginnt, bis er fein Ziel erreicht. Schwere Verlufte lieber Kinder treffen fein Glüd. Aber fein Herz fcheint gefeit. So verläuft ihm fein Leben, tie er felbft ald Fazit zieht, ohne ftürmifche Wechielfälle. Immer mehr wird er der Zufchauer, nicht nur bei den „großen, weltummälzenden Ereigniſſen“. Er bleibt in der Stadt, bie ihm eine zweite Heimat geworden, ohne jedes Amt, nur feinen eigenen Arbeiten lebend; und in rubevoller Kontemplation fieht er „gute Freunde und Gleichgefinnte kommen und gehen und eine neue Zeit anbrechen, in der ein neues Geſchlecht mit neuen Anſchauungen und Bedürfnifien heranwachſt“.

Jede eigene ſtark aufmühlende Leidenfchaft mit ihrem Gefolge fchmerzlicher Konflikte, mit Herzblut bezahlter Abrechnung, leugnet er ab und erklärt Modell: und Erlebniswitterung bei feinen Arbeiten für zwecklos.

Die Leidenſchaft bringt Leiden, und werter als das Glüd ohne Ruhe ericheint ihm fein Ruheglück des Haufe. Und wenn feine Augen wohl auch oft vor ber Schönheit entflammten, wir glauben e3 ihm gern, daß er „in der Schule der Frauen lange geſeſſen, ohne allzu ſchweres Lehrgeld zu zahlen” und daß er vor zerrüttenden Herzensſtitrmen bewahrt geblieben.

Und wie die Liebe, fo hat ihm auch die Kunft feine Leiden gebracht. Wir merfen trog der dramatifchen Schmerzenskinder nichts von jenem quälerifchen Albdrüden empfindlicher fünftlerifcher Temperamente, die über ihre Echöpfungen nicht zur Ruhe tommen und fi) zerreiben.

Gerade das Gegenteil zeigt jene interefiante Eingeftändnis Heyſes, das eigentlich offenherziger ift, als er vielleicht fich felber klar gemacht:

Er fpricht von feiner glüdlihen Gabe, „feine novelliſtiſchen Erfindungen faft alle bis auf die Themata und wenige Details, bald nachdem fie gefchrieben find, wieder zu vergejien“. Und dann die bygienifch-behagliche Folgerung: „Ohne dieſe Fähigkeit wie überladen wäre mein Gehirn mit Bildern und Geſchichten, da die Zahl meiner Novellen in den langen Jahren fo ungeheuerlich angewachſen ift. Und da e3 mir widerſtrebt, eine meiner alten Bücher je wieder anzufehen, wird auch der dunkle Abgrund, in den meine eigene Produktion vor meiner Erinnerung verfinkt, immer bodenloſer.“

Man hat für den Tribut an Heyſe den Olymp bemüht und ihn den Liebling der Götter genannt. Und wirklich ſcheint wie leicht ward er bahingetragen dies Leben gelafjenen Erfüllungsgenuffes ſolcher Glüdlichpreifung wert, ftellte ſich nicht rechtzeitig ein Ewigleitswort deſſen ein, der Menſchliches und Göttliche am tiefiten verftand und ber dem Olymp am nächften war:

Alles geben die Götter, die unendlichen, Ihren Sieblingen ganz:

Alle Freuden, die unendlichen,

Auc Schmerzen, die unendlichen ganz.

rn u

Der Berliner Krippen: Berein. 163

jener Denkſchrift ftellt dem folcherart in glänzender Weife dokumentierten Wiener Erfolg mit tiefem Bedauern die ſoviel beicheideneren Verhältniffe des Berliner Krippen-Vereins gegenüber und geht den Gründen bierfür nad, die nach feiner Anficht „nicht im Mangel an Verftändnis oder gar in mungelndem Wohlthätigkeitsſinn der Berliner liege; leßterer fei fprichwörtlich geworden“. Er findet die Erklärung in einem derzeit noch vorhanden geweſenen Fehler in der Drganifation des Vereins, wodurch dieſe „nicht dem vollen Inhalt der Krippen-Idee entſprochen habe”.

Und bier begegnen ſich die Ausführungen der Denkſchrift mit meinen einleitenden Bemerkungen, die allerdings als maheliegend zu betrachten find. „Denn was liegt näher,“ fagt ber Herr Berichterftatter, „ald der Grundgedanke, daß bei Veftrebungen, die den Siffofen Kleinen bis zum dritten Lebensjahr zu gute kommen follen, vor allem Frauenderz und Frauenhand zu edler Werkthätigkeit berufen find, daß Krippenvereine vorwiegend Frauenvereine fein müſſen, daß das Frauenelement dabei hauptſächlich handelnd einzutreten hat?”

Und der feltfame Umftand, daß bis zur allerhöciten Genehmigung eines neuen Statut im Jahr 1888 nur Männer im Vorftand waren, wird auf eine Notlage zurüdgeführt, in der fi) der Verein 1878 befand. Es ift nötig, hier wieder auf die Chronik der Krippen zurüdzugreifen. Nachdem in Berlin erft acht Jahre fpäter als in Parid eine Krippengründung bewirkt wurde, die fi) eines kurzen Aufblübens erfreute, ging das mit Eifer begonnene Unternehmen twieder ein. Die Gründe find auch bier nicht weit zu fuchen, trogdem eine Dame Vorfigende des Stomiteed war Ihre Ercellenz Adelheid von Mühler. Der Mangel an Beteiligung weiter Nreife dürfte fih aus dem ungünftigen Zeitverhältnijfen erklären, aus der in breiten Schichten der Bevölterung herrſchenden Verftimmung, die fich gegen alles richtete, was aus dem teaktionären Lager kam, aus einem Unmut, der wohl Symptome, wie die Europa— mübdigfeit erzeugte, aber nicht folche, die eine Gefundung der Zuftände daheim an: zeigten. Und jo vergingen denn dreizehn Jahre, bis wieder eine Krippe in Berlin ind Leben trat, und zwar danf der Jreigebigfeit eines edeldenkenden Induſtriellen, des Fabrikbeſitzers Fonrobert, der dem nadhmaligen Begründer des Berliner Nrippens vereind, Herrn Dr. Albu, die Einrihtungd: und Erhaltungstoften für eine neue Krippe zur Verfügung ftellte. Leider folte diefe 1869 geſchaffene Anftalt nach mehreren Jahren fegensreichen Gedeihens ein twidriges Geſchick ereilen. Sie mußte infolge ichwerer Erkrankung des Herrn Fonrobert im Juni 1877, und nachdem Dr. Abus Xerjuch, durch den von ihm im Tftober desjelben Jahres gegründeten Verein die Weiterführung der Anftalt zu ermöglichen, wegen Mangels an Beteiligung mißglüdt war, am 30. Juni 1878 geichlojien werden. Daß aber trogdem diefe noch heute, Anklamerſtraße 39 befindliche Mutterkrippe des Berliner Hrippenvereind am 1. Februar 1879 wieder eröffnet werden konnte, it j. 3. einem Vermächtnis des ald Spender für mohlthätige Beitrebungen rübmlichit bekannten Jr. Otto Markwald zuzufcdreiben.

- Und zu gleicher Zeit war es die thatkräftige Hilfe einer marmherzigen Frau, der Gattin des Apothekerd und derzeitigen Befigerd des Haufe Anklameritrape 34, Herrn Sallbach, die mejentlich zum Fortbeftand und Gedeiben des Unternehmens beitrug. Frau Anna Sallbadb, die jeit nunmehr dreiundzwanzig Jahren unermübdlich ſowohl im innerlichen Betrieb, wie nad) außen bin für die Krippen Berlins wirft und felbft in jener Zeit der ſchweren Kriſis des Vereins den Mut nicht finfen ließ, hatte eine gleichgefinnte, bewährte Mitarbeiterin an der langjährigen Leiterin, Frau Roeber, zur Seite, und ohne offiziell im Vorſtand zu figurieren, find fchon die Namen biejer beiden, mit ungewöhnlicher Kraft begabten Frauen auf das engſte mit der Gedichte des „Berliner Krippenvereins“ verknüpft.

Um das erwähnte Markwald’iche Legat von 15 000 Mark erheben zu können, war nun vor allem die Erlangung von Korporationsrechten für den Verein geboten. Zur Erledigung der nötigen Formalitäten traten Männer zufammen, aus deren Kreis ſich der Vorſtand Eonftitwierte, wie ſchon erwähnt, aber ohne Sig und Stimme für Damen. In demſelben Jahr, 1880, wurde dem Werein noch die Summe von 3000 Mark durch Herrn Nomiralitätsrat Abegg aus dem Nachlaß des zu Wies—

11*

167

Londoner Spezialitäten.

Belene Tange. Nachdrud verboten. . on

I

Der Hundekirhhof. enn man durch Victoria Gate den Hude Park betritt, fieht man rechts von dem Wärterhäuschen eine einfache Holzthür. Der Wärter öffnet auf Ber:

langen gern; wir treten ein, und ftehen auf dem Hundelirchhof Londons. !)

Zwar der Ausdruck möchte irre führen. Hier liegen nicht Hunde fchlechtweg, Sondern die ariftofratijchften Hunde, die oberen Hunderte der Hunde von England.

Ganze Reihen der fauberften, gepflegteften, zum Teil mit ganz frifchen Blumen bebedten Gräberchen liegen vor und. Am Kopfende erheben fich die Heinen Marmor: tafeln, die meift unter genauer Bezeichnung des Tobestages, manchmal fogar des Geburtstages, dem Andenken ber geliebten Jade, Jimmies, Scrapers, Robies und Scamps gewidmet find. Einer „dear, gentle little Lily“ ift fogar eine foitbare, halb gebrochene Marmorfäule, von marmornen Lilien umfchlungen, geweiht.

Selbft wer mit einem warmen Herzen für treue Vierfüßler diefen Raum betritt, wer fich Schließlich auch noch zu einem Verſtändnis dafür aufichtvingen kann, daß man folgen lebenslangen ftummen Gefährten ein Andenken fihern möchte, wird doch vor mancher diefer Infchriften wie vor einer Blasphemie ftehen, wie erftarrt vor einer Herzendarmut, bie folhen Reichtum von Liebe an Hunde verfchiwendet. Nur ein paar feien Hier erwähnt. „My Towser", beißt «3 auf einem Marmor: „he was my faithful friend and constant Companion for 11 years, now I am lonely and heartbroken.“ Noch weiter gehen ein paar andere: „In loving memory of Tuby. He was my friend, faithful and true to me. Parted, but never forgotten. The sunshine of the house has gone,“ und: „She brought the sunshine into our lives, but she took it away with her.“

Viele diefer gebrochenen Herzen tröften ſich aber mit der Hoffnung auf ein Wieder: fehen. „Only guod night, dear little one‘, wünſcht die eine. „Au revoir, cheri, si Dieu le veut,‘ eine andere. Mehrfach finden wir die Infchrift: „Not one of them is forgotten before God.“ Einmal heißt e8: „My dear little cat Chinchilla“ aud Kagen, Affen und Papageien finden fich vereinzelt in dieſer erlauchten Geſellſchaft, „lovely, loving, and most dearly loved, poisoned July 31th. 1895. God restore thee to me, so prayeth thy ever loving mistress &A&vy.“ (Das brutale poisoned bringt eine andere loving mistress nicht übers Herz, es heißt da: „She suffered and those who loved her best, helped her to pass on.“) Mehrfach kehrt wieder:

There are men, good and wise, who say,

That dumb creatures, we cherished here below,

Shall give us kindly greeting when we pass the golden gate. Is it folly if we hope it may be so?

) Selbftverftändlich nicht eine ftäbtiihe Injtitution, fondern cin von der Partverwaltung ſanktioniertes Privatunternehmen beö fpefulativen Thorwärters.

Blinde

189

Slippen.

Erzählung

von

Minna Canth.

Autoriſierte Überfegung aus Nadbrud verboten. VII.

‚wi atmete ſchwer, und fein ganger |

Körper brannte. Er murmelte wunderliche Worte vor fih hin. Die Augen rollten in ihren rotgefprengten Höhlen.

Alma war auf einen Schemel zu feinen Füßen niebergefunfen und faß zufammen- gefallen da. Mina bot ihr Thee, aber fie ſchuttelte abweifend den Kopf.

Als John eintrat, neigte fie ihr Geſicht zu Awis Bett. John ftand eine Weile neben ihr, fah Arvi an und befühlte deſſen Stirn.

„Vielleicht wird er und noch gefund, wir bürfen wenigſtens die Hoffnung nicht aufgeben.”

Er blidte auf Alma.

„Du mußt fehr erſchrocen fein.”

Keine Antwort. Alma verhartte in ber=

felben Stellung, fo unbeweglich, daß fie faum |

atmete. John legte bie Hand auf ihre Schulter; ein Sittern durchlief ihren ganzen Körper, aber fie hob den Kopf nicht und änderte nicht die Stellung.

„Richt fo, Alma,” fagte er. „Verſuche, rubig zu werben.”

Er zögerte noch eine Weile, che er das | Zimmer verließ. Erſt, ald die Thür ſich

binter ihm ſchloß, erwachte Alma aus ihrer Erftarrung. Sie erhob ſich nicht, fondern ſank noch tiefer hinab, vom Schemel auf den Boden, fie fiel zufammen mie ein Bündel. Mit Hammerte fie den Bettfuß, prefte ihn, daß

ihre Finger Inadten und das Holz fnirfchte. |

Der Lörperlihe Schmerz, den fie empfand, wirkte faft wohlthuend und lindernd auf die Angft ber Seele.

beiden Händen um: :

dem Finnifchen von E. Stine. Eglut von Leite 109.)

Niemand war im Zimmer; das mußte fie, obwohl fie ſich über alles übrige nicht ganz im Haren war.

Arvi war in einen betäubungsäßnliden Schlaf gefunfen. Nun erwachte er und Hagte. Alma kroch auf den Knieen zu ihm hin.

„Mama,” fagte Arbi, „es thut mir weh im Kopf und im Hals.”

Er feufzte und ſah die Mutter an.

„Mama, fühle meine Stirn, wie fie brennt.”

Alma näherte ihr bleiches Gefiht dem feinen.

„Ich kann nicht, Arvi,“ kam es flüfternd von ihren Lippen. „Meine Hände find unrein. Aber fag’ es niemandem.”

Arvi ſchwieg eine Meile: dann fuhr er fort:

„Mama, idy fürchte mid. Die Wand fällt auf mid.”

„Sie fält nicht. fällt ein Mühlſtein.“

Woher?”

„Bon oben. es niemandem.‘

„Rein.“

Schritte näherten ſich. Alma zog ſich auf den Schemel zurüd. Der Arzt und Lohn traten ein.

„Wir werden morgen fehen,” fagte ber | Arzt, nachdem er Arvi unterſucht hatte.

I Dann wandte er fih an Alma.

„Aber wie fteht’3 mit Ihnen, Frau Karell ?“

John und er fahen einander an.

„Sie taugen heute nacht nicht zur Kranken— wärterin,“ fagte er, Almas Puls fühlend.

Alma hatte nur die einzige Hoffnung, daß fie bald gehen würden. Das thaten fie aud,

Aber auf beine Mutter

Vom Himmel. Aber ſag'

Blinde Klippen.

um den Hals. Wie fie fi) da zurechtfinden wird, da fie doch fagen, ih darf um feinen Preis zu ihr hinaufſchauen, ich fönnte bie Anftedung in den Kleidern mitbringen! Bloß darum! Ich glaub’ einmal nicht an ſolche Sachen. Kein Menfh wird krank, wenn's nicht Gottes Mille iſt. Aber natürlich muß ich gehorchen, was kann ich thun!”

Mina räumte im Zimmer auf, während fie, ohne Anttvort zu erwarten, weiter plauberte. Nun nahm fie mit ihrem Staubtud den nächſten Stuhl in Angriff.

„Sie hauen fo merkwürdig aus, Frau Karel. Wenn Sie nur nicht auch krank werben. Da wären wir ſchlimm daran.”

„Ich werde nicht krank.“

„Waren Sie geftern den ganzen Tag auf .

tem Eis? Ih dachte mir's gleich, als ich tie Schlittfchuhe nicht im Vorzimmer hängen fab, und hörte, wie Frau Xeiftin zum Herrn Rektor fagte —“

"Bas fagte fie?” fragte Alma haftig und |

fuhr zufammen.

„Daß Cie mit den Magifter auf dem Eis '

vorbeigelaufen find. Cie tar verwundert,

daß Sie noch nicht zurüdgelommen waren,

und wollte, der Reltor fole Eie fuchen.” „Bann war das?”

„So zwifchen ſechs und fieben weil es gerade ſechs flug, ald wir zu Leiftind gingen.” „Und was fagte der Rektor darauf?”

„Gar nichts fagte er. Aber unruhig muß er gewvefen fein, das glaub’ ich deshalb, weil er den ganzen Nachmittag nichts that, als im Speifezimmer aufs und abgehen.“

„Trage dies ſchmutzige Waſſer hinaus; cs H

riecht übel.”

Mina nahm den Eimer, die Scheuertücher unb ben Beſen und ging.

Die Hände im Schoße gefreuzt, betrachtete Alma den fchlafenden Arvi. Aber ihre Ger danken waren nicht fähig, fih mit ihm zu beſchäftigen; fie waren alle in ihrem Kopf zu Eis erſtarrt.

Der Arzt kam mit John, um nach Awi

zu ſehen, fühlte ihm den Puls und fragte

verſchiedenes betreffs feines Zuftande. Alma antwortete beutlih, wußte alles und ver mechfelte nichts. Treulich faß fie Tag und Naht an feinem Bett, gab ihm zur beftimmten

171

Zeit Medizin und frottierte den geſchwollenen Hals morgens und abends, wie es der Arzt verordnet hatte. Aber alles, was ſie that, geſchah ohne Bewußtſein, als befände es ſich außerhalb ihres Gedankenkreiſes. Es war eine andere Macht, die ihre Hände und Füße in Bewegung ſetzte. Sie ſelbſt erſchien ſich vernichtet ober von ihrem Körper getrennt. Darum fah fie Menſchen und Dinge um ſich ber wie in weiter Entfernung, und aud bie Stimmen Hangen in ihre Chren wie aus der Ferne. Sie fah alles an wie ein Panorama ober etwas vollftändig Fremde. Bisweilen meinte fie zu ſchlafen; dann fniff fie ſich in

| den Arm, um zu erwachen; aber obwohl fie

den Schmerz empfand, blich es beim Alten.

Arvis Zuftand verſchlimmerte fih Tag um Tag. Der Arzt gab feine Hoffnung mehr auf feine Wiederherſtellung.

Es war ber fünfte Abend nach feiner Er: krankung. John faß ftil und ernſt auf einem Stuhl beim Kopfpolfter, Alma wie zuvor auf einem niedrigen Schemel zu feinen Füßen. Ein fchauerlihes Schweigen war in dem Zimmer. Der Tod hielt feinen Einzug.

Arvis Hände und Füße waren ciöfalt.

Der Atem rafjelte im Halfe, der Körper zudte.

Die Augen hatte er unverwandt zur Dede gerichtet, ald erwarte er etwas von borther. John war bleih, und die Falte zwiſchen

: feinen Augenbrauen tourde immer tiefer. Er

fagte nichts, aber von Zeit zu Zeit zudte es in feinem Gefiht, und die Augen waren gerötet.

Alma ſah ihn an, während ſie ſich gegen die Bettlante lehnte. Lohnte es ſich, ſo darüber zu trauern, daß der Knabe von Sünde und Elend ſcheiden mußte? Beſſer wäre es, der Tod nähme auch die anderen Kinder, ehe ſie in Sünde und Schande verſänken. Noch waren fie rein und unjhuldig ... .

Wohl hatte Arvi jetzt große Schmerzen. Aber bald würde er Nuhe haben, ewige Ruhe im Schoß der Erde. Mißgönnte fein Vater ihm dies Glück? . . .

Ein letztes Raſſeln, dann verftummte alles. John verbarg das Antlig in den Händen. Alma ſaß unbeweglih tie eine Bildſäule. Warum erlojch nicht auch ihr Leben zu gleicher Zeit. .?

Blinde Rippen.

„Run, Grau Karel,” fagte der Arzt, als i er fab, daß Alma die Augen öffnete, „nun | dürfen Cie viele Tage nicht aus dem Bett heraus. Cie müflen zuerft al den Schlaf nachholen, den Sie in den Iehten Tagen ver: | fäumt haben. Durch Medizin, wenn es nicht ! anders gebt. Und durch Medizin wollen wir | auch verſuchen, Ihnen Epluft zu machen.“

Alma hörte zu. Cie fagte fein Wort, weder dafür, noch dagegen. Mochten fie mit ihr machen, was fie wollten. Tag um Tag lag fie zu Bett. Sprach nicht, klagte nicht und münfcpte nichts, aber antivortete doch, wenn man fie um etwas befragte. Zumeift lag fie unbeweglih. Hie und da zudte ihr Körper, ohne daß fie e8 wußte. Die Augen waren größer ala früher, der Blid müde und matt.

Endlich fragte der Arzt eines Tages, ob fie nicht Luft habe, aufzuftehen. Sie ver- neinte. Aber fie ftand dennoch auf, als der Arzt es fie hieß.

Von nun an faß fie gleich fill im Sofa. John war bei ihr, fo oft feine vielfachen Arbeiten es erlaubten.

Er ftellte ihr vor, daß fie ja noch brei Kinder Hätten, und mie friſch, munter und liebensmürbig die feien. Im ihnen müßten fie Troft finden. Derartige Sorgen und Schichſalsſchläge müfje der Menſch eben durch⸗ maden; das Leben verfehone feinen damit, und man dürfe ſich davon nicht nieberfhmettern laſſen. Es nüge ja doch nichts, und das Unglüd würde dadurch nur noch größer.

Alma erwiderte nichts, und aus ihrem geiftesabtvefenden Blick war ſchwer zu ent nehmen, ob fie gehört hatte oder nicht. Sie preßte nur die verſchlungenen Hände jeiter zuſammen, aber John merkte e3 nicht.

Indeſſen ſchien es deutlich, daß fie am liebften allein fei und die Gegenwart anderer fie gleihfam peinigte. Mina verfuchte daher aud die Kinder entfernt zu halten und führte fie nur bie und da herein, um bie Mutter zu begrüßen.

Sie faß immer auf berjelben Etelle, in einer Ede des Sofas. Sie ſchien e3 nicht zu merken, ja wandte nicht einmal den Kopf, wenn bie Rinder im Zimmer lärmten oder irgend ein Gefäß in der Küche mit ſtarkem Gellirr zerfhlagen wurde.

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Nur einmal ertönte eine Stimme im Salon, bei deren Klang fie zufammenzudte und aufs ſprang. Als John dann eintrat, ftand fie da, beide Hände auf den Tiſch geftügt, den Blick entfegt auf die Thür gerichtet.

Kommſt du nicht herein? Nymark ift da. Er fragt nad) dir.”

„Nah mir? Warum?”

Sie zitterte, und die Stimme ftodte in der Bruft. Aber alle Kräfte anfpannend, fuhr fie fort:

„Ich Tann nit muß mic) bald legen. Ih bin fo ſchwach.“

„Du zitterft ja. Haft du Schwindel? Laß mid) did zu Bett bringen.”

„Nein, nein, id fann es allein. Geh nur hinein, daß er nicht kommt.“

„Hierher? In dein Zimmer? Das thut er nicht.”

„Geh doch jedenfalls, John.”

John ging und ſchloß die Thür hinter ſich. Nun aber jaßte Alma eine neue Angit. Eie fürchtete, Nymark könnte es John fagen, alles erzählen... . Sie verfuchte ihrem Ge: ſpräch zu lauſchen, konnte aber nur undeutliche Worte unterfcheiden; fie zitterte heftig, ihre Gebanten verwirrten fi, und es dunkelte vor ihren Augen. Jeden Augenblid erwartete fie, daß Sohn ſich wieder in der Thür zeigen und mit Strenge Rechenfchaft von ihr fordern würde.

Sie wiederholte ſich, daß das ja unmöglich ſei. Nymark würde es nicht thun, wenigſtens nicht mit Abſicht. Es war ja Wahnſinn, das zu fürchten.

Und dennoch fürchtete ſie. Hätte ſich der dunfle Schlund der ewigen Verdammnis plötz⸗ lich vor ihr geöffnet, ihre Seele wäre nicht in ſolchem Grauen zurüdgebebt wie nun.

Ein ſchwacher Gedanke fuchte fi noch in ihrem Geifte Pla zu ſchaffen.

„Und felbft wenn er es erzählte?” Hang es in ihr; „ärger fann es nicht werden, als es jegt ift. Möge alles zugleih an ben Tag tommen! Dann bin ic von biefer Angit befreit. Es wäre befier gewefen, ich hätte felbft gleich alles erzählt. Mein ganzes Herz geöffnet.”

Aber fie hörte nicht auf dieſe Stimme. Und bald verftummte fie; die Angit hatte fie erftidt.

Blinde Mippen.

zurüd, fo hielt fie die Hand auf bas Herz gedrüdt und flüfterte: „Gott fei Dant, es mar nur der und ber!”

Ferner bemerkte die Näherin, dab fie niemald mit Trauer ober Bedauern von der bevorftehenden Abreife ihres Mannes ſprach und fi gar nicht zu Herzen zu nehmen ſchien, daß fie nun für den ganzen Vorfrühling allein bleiben ſollte N

„Wird es Ihnen nicht ſchwer werben, Frau Karell, fo lange von dem Herrn Rektor getrennt zu fein?” fragte fie einmal.

„Richt im mindejten,” erwiderte Alma. Wenn es auf mic) anläme, fo würde ih am liebften ganz allein twohnen, weit draußen im Wald, fo daß keiner mich finden könnte.“

„Aber da würden ja die Wölfe Eie freſſen.“

„Und wenn aud, meinethalben!”

„Möchten Sie denn gern ſterben?“

„Sehr gern.”

„Gott im Himmel, wahrhaftig? Beiſpiel jetzt gleich?”

„Gleich im Augenblick.“

„Und Sie hätten nicht die geringſte Furcht?”

„Wovor?“

„Nun, vor dem, was nach dem Tode kommt?“

Alma jah fie an. Sie erwiderte nichts, verſank aber in Gebanfen.

Dann reifte John ab. Während ber legten Tage hatte er Alma unabläffig forſchend betrachtet. Aber fie merkte es und zeigte ſich ſtets heiterer Stimmung. Auch vor dem Arzt verficherte fie, daß fie fih gefund fühle und feine Schmerzen habe.

Aber wenn fie allein war, Hang oft das Wort der Näherin in ihren Chren: „Nun, vor dem, was nad dem Tode kommt.“

Eines Nacht? hatte fie einen ſeltſamen Traum. Sie mar im Neid der Toten. Finſternis und Grauen umgaben fie von allen Seiten, und Seufzer und Klagen erfüllten die Luft. Je länger fie wanderte, deſto größer ſchien die Angft der Geifter. Die Jammerrufe wurden immer beutlicher, fie erholen von allen Richtungen, befonders aus dem euer ſchlund, dem fie ſich näherte.

Blaue Flammen, Schlangen und Ecelen, die fi darin manden.

Hölle der Ehebrecherinnen“ ftand mit Feuerſchrift darüber gefchrieben.

Zum

175

Sie ftürzte nieder, hörte das Weinen um ſich und ſchrie felbit. Schrie, fo daß fie erwachte. Schon wachend, fchrie fie noch eine Weile, ebe fie ſich Mar gemacht hatte, daß es nur ein Traum gewvefen.

Kalter Schweiß tropfte von ihrer Stirn, und dennoch fror fie. Es war bunfel und ſtill um fie her. Noch durchſchüttelte fie das Entfegen des Traums. Cie nahm die Dede um fih und ging in die Küche.

„Jeſus Chriftus, was fehlt der Frau?“

„Ich träumte fo häßlich, ih mag nicht allein fein. Willſt du nicht auf dem Sofa bei mir liegen, Maja Liſa?“

Ja.“

Maja Liſa nahm Polſter und Decke mit ſich. Alma zündete die Nachtlampe an und ſtellte ſie auf den Edtiſch am andern Ende des Zimmers.

„Was haben Sie geträumt?” fragte Maja Liſa, als fie auf dem Eofa lag.

„Ich kann es nicht ſagen.“

„Bar es ſo ſchauerlich? Sie haben gewiß vergeſſen, den Segen zu beten, ehe Sie zu Bett gingen. Wenn ich es je vergeſſe, ſo kann ich ſicherlich die Nacht nicht ſchlafen.“

„Ich habe es in der legten Zeit verſäumt.“

„Guter Gott! Beten Sie denn nie mehr?”

Nein.”

„Aber das iſt ſchlecht.“

„Bete du für mich, Maja Liſa.“

„Ja, das will ich thun.“

Beide waren eine Weile ſtill. Maja Liſas Atemzüge wurden ſchwer und gleichmäßig. Aber Almas Augen waren immer noch offen.

„Maja Lija, ſchläiſt du ſchon?“

„Was mwünfht die Frau?” klang eine ſchläfrige Stimme vom Sofa.

„Ich fürchte mich fo.”

„Ja, wenn die Frau fein Gebet fpricht. Tas kommt daher.”

„Ich wage es nicht. Gott haßt mich.”

„Gott habt niemand, jondern erbarmt ſich über alle und vergiebt die Zünden, wenn der Menſch bereut.”

„Ich habe bereut, fo entjeglih bereut, aber es hilft nichts.”

Maja Xifa konnte hierauf nichts fagen. Sie hatte beten wollen und die Hände fchon gefaltet auf die Bruft gelegt. Aber der Schlaf

Blinde Alippen.

„Kerrgott, wer?”

Alma anttwortete nicht; fie begann fich zu !

befinnen.

„Ich friere,” fagte fie ſchließlich.

„Iſt das ein Munder, meine liebe Frau, wo Eie ganz naß vom Schweiß find. Gehen Sie nur ſchnell ins Bett zurüd.”

„Nicht ind Bett. Ich will zu Arvis Grab. Wer fommt und hilft mir?”

„Aber tönnen Eie das au, Frau Karel?”

„I, ih kann; wenn ih nur erſt an: gefleidet bin.”

„Ich werde Zie ankleiden. nehmen Sie wohl eine von ung mit.

Und dann Wir

lafien Eie nicht allein fahren, nahdem Sie !

bei Nacht fo trank waren.” „Nun bin id ganz gejund. könnt mitlommen.”

Auf Minas Vorſchlag nahın man einen ' Alma jtieg ein, und Maja Yifa ,

Schlitten. ſetzte ſich auf den Kutſchbock neben den Kuticher. Ein Peitſchenknall, und fort ging's, daß ber Schnee unter den Kufen knirſchte. Eine alte Frau trat vom Wege beifeite und blidte ihnen nad).

Der ſcharfe Mind peitfchte Almas Geſicht. Er erfrifchte fie und befreite ihr Gemüt von dem Grauen der Nacht. Es war nur ein Traum geweſen, ein Phantafiebild ihres franten Hirns. Niemand glaubte mehr an die Hölle ober den Teufel; gab es nah dem Tode irgend ein Gericht, irgend cine Strafe, ſo mußten fie anders befchaffen jein. Keine Hölle, kein Feuer... . Nah dem Tote?

Woher mußte man, daß «3 überhaupt ein !

Leben danach gab? Vielleicht war alles damit zu Ende.

Auf der Straße waren viel Leute. An einigen fuhren fie vorbei, andern begegneten fie. Alle ſahen friſch und fräftig aus. Sogar die Heinen, zerfeßten Betteljungen, bie einen Schlitten binter fih berzogen und in ibre roten Hände bliefen. Und auch der Bauer, der cine Fuhre zur Stabt brachte und mit den Zügeln in der Hand neben dem Pferde einherging. Wie gern hätte Alına Leib und Leben mit ihnen taufchen mögen!

Das Pferd hielt bei der Friedhoipfo— Alma und Maja Lifa gingen hinein. Zi mußten zuerft ein Stüd geradeaus gehen und

Doch ihr -

177

! dann rechts einbiegen, um zu Arvis Grab zu fommen. Der Schnee war weich, Almas | Schuhe und Aleiderfaum wurden naß. Rings⸗ ı umber ſtand Grabkreuz neben Grabkreuz. Sie

blieb ſtehen, um bald dies, bald jenes zu be— trachten. Las den Namen, das Geburts- und Todesjahr und blieb noch eine Weile, als warte ſie auf irgend eine Aufklärung über das Leben, das zwiſchen dieſen beiden Jahres⸗ zahlen lag. Aber nichts verriet es. Stumm ſtanden die Kreuze mit ihren kurzen Inſchriften.

Und wie viele es waren! Unter jedem ruhte mindeſtens einer, unter einigen mehrere nebeneinander. Alle dieſe waren geboren worden, herangewachſen, hatten ſich geircut, hatten geſündigt, gelitten und waren geſtorben. Ja, geſündigt hatten ſie alle, die Erwachſenen mehr, die Kinder weniger. Aber war ein einziger von ihnen fo verbrecheriſch und fo tief gefunten wie fie? Nürde aud fie bier ruben fönnen, fo jtill und friedlich? . . . Würde ihr Grabmal es nicht den Überlebenden verkünden, wie twertlos und eitel ihr Leben geweſen und wie elend es geendet? Würde es nicht verfünden . . .

Sie flüchtete vor ihren eigenen Gedanken und trat haftig zu Arvig Grab, wo fie ji in den Schnee feßte.

„Thun Cie das nicht, liebe Frau, Sie erfälten fi,” fagte Maja Liſa.

Alma hörte nicht. Sie hatte weinen wollen. Ehedem gaben die Thränen ibr einen fo fühen Troft, mit ihnen floß alle Dual und Angit aus dem Herzen. Aber fie hatte feine Thränen mehr. Und aud die hätten ibr nicht geboljen. Keine Thränenfluten bätten das Geſchehene ungeihehen machen fönnen.

Die Kreuze nahmen ein drohendes Aus: ſehen an. Sie erfhienen ihr wie kalte, hart- herzige Feinde, die fie von allen Seiten an— griffe Die ſchwarzen Buchſtaben grinjten fie an; fie fagten ihr, fie babe bis zum letzten ; Augenblid ihren Mann belogen und betrogen, babe fih nod in der Abjchiedsftunde von ibm umarmen lafjen, in tem Glauben, daß fie ein treues, fittfames und chrbares Weib ſei. Und fie fagten ibr, ihre Zeit ſei ger fommen, und das Gericht rufe fir. Gottes Gnade habe ſich von ihr gewandt, der Tod i wolle ihr Gebein.

12

Du biſt bei mir.

Eie zogen bie Garbine vor, warfen einen

1 '

Blid auf Alma, die nun wirklich ſchlief, und

ſchlichen auf den Behenfpigen aus dem Zimmer.

Am neunten Tage danach ftand wieder eine Menſchenmenge um ein geöffnetes Grab. Der Priefter las den gewohnten Tert, warf Erde auf den Sarg und fprady noch ein Gebet. Als er geſchloſſen Hatte, drängten ſich auch die Fernerftehenden heran, um ben Earg zu fehen, der Almas Leib umſchloß. Eie warfen dabei teilnehmende Blide auf John, in deſſen Antlig und ganzer Haltung ſich tiefe Trauer, gepaart mit einer männlichen Selbftbeherrihung,

179

ausprägte. Maja Lifa und Mina ftanden nebeneinander auf der andern Seite bes Grabes. Sie hatten fo geweint, daß ihre Augen ge= ſchwollen waren, und fie meinten noch. Die Heine Lypli auf Maja Liſas Arm meinte auch, weil alle andern meinten, Papa und Ella und alle. Und fie meinte und mollte nicht aufhören, obwohl Tante Leiftin fie kußte und mit ihr ſprach. Nur Helmi meinte gar nicht, fondern ſchaute nur verwundert um fi, legte dann ihren Arm um Minas Hals und lehnte ihr Köpfchen an deren Wange. Und Mina drüdte fie feſt an fih und ſchluchzte noch ‚heftiger.

2

Du bi bei mir.

&ir in der Nacht,

Wenn kein Auge im müden Dorfe wacht, Saß ich den alten Wanderftab Und fchreite die dunkle Straße hinab.

Wie's um mich fingt!

Wie's aus allen Tiefen empor fich ringt

Und mit leifem Klang

Wandert die ftille Welt entlang!

Wehmütige Sehnfucht fleigt Aus dem Dunfel herauf und neigt

Sich leife raunend mir zu

And diefe Sehnfucht bift du.

In der Stille der Nacht, Auf weichen Sohlen, leife und facht,

Treulich mir zugefellt

Schreiteft du mit mir durchs fchlummernde Seld.

Wilhelm Tobfien.

A

12*

Frauenleben und · Streben.

Tieß fie unbeachtet. Unbegreiflich erſcheint e&, wie | Frl. Helene Lange bie hiſtoriſche Thatſache ab: leugnen tann, daß bei der Gründung des Bundes ein derartiger Audfchluß erfolgt if, denn warum | hätten ‚rau Pina Worgenftern, rau Cnaud: Kühne, Frau von Gigndi und ich damals ſofort mündlich dagegen proteftiert mit ber bringenben Warnung vor den Folgen eines folhen Fehlers? Barum, fo fragen wir, ift denn früher nie die ' Thatfache des Protefted dieier bier ‚zrauen von Yundeövoritand auf Grund eines ficherlih vor: banbenen Protokoll abgeleugnet worden? Tab Iri Helene Yange den mündlichen Proteft dieſer vier rauen mit einer Petition verwechſelt, welche im Jahre 18%5 von Frau Gerhard, rau von Gi und mir dem Reichötage eingereicht worden iſt, Anderung der eingelftaatlihen Bereinögefeße be: treffend, gehört allerdings zu jenen Ungeheuerlich | teiten, welche uns jo oft in Erftaunen fegen, wenn | wir mit ben Anhängern älterer Richtung verkehren. Jene beiden Sachen haben gar feinen Zufammen: | hang. Hiſtoriſche Thatfachen richtig zu ftellen ift Pflicht, die Hiftorifche Wahrheit Duldet keine Beugung, und Verwechslungen find zurüdzumeifen.“

Ten beiden legten Sägen ftimme ich unbedingt zu. Zwar rechne ich einen Gedächtnisirrtum, der in der Distuſſion begangen wird, wo einem keinerlei Tuellen zu Gebote ftehen, fo wenig zu ben „Ungeeuerfichteiten“, daß ich bie von Frau Cauer in Dresden begangene Verwechslung von Arau Gebauer mit Frau Gnaud:tühne in meinem Artitel in der Novembernummer ber „rau“ gar nicht einmal erwähnt habe. Ganz anders liegt bie . Sache nad den oben angeführten, mit dem Pathos ſittlicher Entrüftung gegen die „Anhänger älterer Richtung” (!) vorgebrachten gedrudten Beicul- digungen. (sehen wir alio an die „Rictigftellung der hiſtoriſchen Thatiachen“.

Tazu wird und nun vor allem eine Meine un: ſcheinbare Fußnote verhelfen, die ſich unter den oben erwähnten Auslaffungen von rau Cauer befindet und zu interejjant ift, als daß fie verbiente, nur Fußnote zu bleiben. Tas Schidial ſolcher Fußnoten ift befanntlich oft, überfeben zu werben. Ich möchte mich daher ihrer annehmen und fie hier zu genauerer Betrachtung in den Text einrüden, Diefe Fußnote lautet:

„grau Gebauer, die Vorfigende des Vereins von Sebeammen, hatte ihre Zuftimmung zu ber Yaltung ber vier genannten grauen bei der Gründung des Bundes nur durch Zwiſchenrufe bekundet, eine fpäter in den Tageöblättern veröffentlichte Erklärung behufs Rechtfertigung von Angriffen der liberalen Brefie wurde von ihr mitunterzeichnet, von Frau Gnaud:tühne dagegen nicht.”

Tiefe Heine Fußnote ift Beötwegen jo intereiiant, weil bie darin fo beiläufig erwähnte, „Ipäter“ ver: ' öffentlichte Erlärung gerade bie iſt, von de Stritt und ich in Dresden behaupteten, daß fie von Frau Cauer, Frau von Gigpei, Frau Yina Morgenftern und Frau Gebauer erlaſſen worden

181

fi. (Die nur momentane, und, wie rau Stritt fofort erlärte, von ihr veranlaßte Verwechslung der Namen Gerhard und (Hebauer ift aud von ihr

ſelbſt vor der ganzen Verſammlung ſogleich be:

richtigt worden, fo daß Frau Cauer jeder Vorwand fehlt, jene „ungeheuerliche" Verwechslung mit einer fpäter erſchienenen Petition auch jetzt noch ihren Leſern als Thatſache vorzuführen.)

Dieſe Ertlärung erſchien „ipäter” ja, das iſt buchſtäblich wahr, fie wurde nämlich genau einen Tag ſpäter abgefaßt, am 30. März 1894, als dem Tage, der dem Sipungstag unmittelbar folgte, und zwar nicht „behufs Rechtfertigung von Angriffen der liberalen Preſſe,“ (ich neftche zwar, daf mein Deutſch zum vollen Werftändniß dieſes Satzes nicht ausreicht), fondern als Beſchwichtigung des „Vorwärts auf eine ſpottiſche Notiz hin, die er am 30. März unter dem Titel: „Ein rauen: tongreß“ gebracht hatte. Ta nun bieie Erflärung ſelbſt, die am 31. März im „Vorwärts erichien, der unſcheinbaten Meinen Fußnote nicht beigefügt iſt, jo geitatte ich mir, fie bier zum Abbrud zu bringen. Sie dürfte doch zu manden überrafchenden Folgerungen führen. Sie lautet:

„Die unterzeichneten ‚grauen, welche von ihren Xereinen zur Konſtituierung bed Bundes beuticher

Frauenvereine delegiert worden find, erklären, daß der in Nr. 73 des „Vorwärts“ veröffentlichte

Bericht über jene Verfanmlung, überfehrieben „cin Frauenfongreß”, infolern nicht richtig ift, ald die in Anführungsitridsen angeführten Worte: „Dan

wolle die Sozialbemofratie u. 1. w..... fernhalten“, nur Worte der Vorfigenden waren und die Unter zeichneten aegen den Ausihluß der ſozialdemo. teatifen Arbeiterinnenvereine Einſpruch erboben haben. Frau Schulrat Cauer, Delegierte des Hilfävereins für weibliche Angeitellte. Frau Olga Gebauer, Delegierte des Berliner Hebanmenvereind. vilp vo. Gizndi, Delegierte der deutfchen Geſellchaft für ethiſche Kultur. yina Norgenitern, Delegierte des Vereins ber Volfstüchen und des Berliner Hausfrauenvereins.

Es fei hier zunäßt die Meine Unwahrheit be richtigt, daf nur bie Vorfigende, Auguite Schmidt, gegen die Aufnahme ſozialdemotratiſcher, d. h. über: haupt politiiher Vereine, geiprechen habe. Es trat eine Reihe von Rednerinnen dagegen auf, und ſchon der Umftand, daß nur vier rauen Proteft erheben, beweift, daß die Majorität der Verſammlung mit dem Ausſchluß jogenannter politiicher Vereine aus dem jungen Bund völlig einveritanden war.

Aus dieſer Erklärung ergeben fih nun nod nachftebende intereffante Kolgerungen:

1. Am 30. März 1894 wußte Frau Schulrat Cauer ichr wohl, daß nur von einem Ausſchluß der ſozial demofratifchen Arbeiterinnenvereine die Rede war.

Frauenleben und Streben.

moſaiſchen Glauben? find allein 53 Ruffinnen. Bon den Ausländerinnen find 66 aus Rußland, 31 aus Amerika, 4 aus Schottland, 3 aus Eng: land, je 2 aus Frankreich, Rumänien und Bul: garien, je l aus Befterreih, Schweden und aus der Schweiz. Bon den 371 Damen ftudieren 6 Theologie (1 Religionsphilofophie), Zura ftubieren 2, Medizin 27. Die übrigen 338 pflegen die ver: Ihiedenartigen Fächer der philofophilchen Fakultät. Bevorzugt werden von den Frauen Litteratur: geichichte, Spraden und Kunſtgeſchichte, eine nicht unerbebliche Zahl betreibt auch Naturwifienfchaften und Nationalökonomie. Die Zahl der ftudierenden Frauen ift gegen das vorige Winterbalbjahr zurüd: gegangen. Die Urſache liegt in ben verfchärften Beftimmungen für die Aufnahme der Auffinnen. Numeriſch bat fich dad Frauenſtudium an ber Ber: liner Univerfität folgendermaßen entwidelt. Seit dem Sonmerbalbjahr 1896 waren bier zugelaſſen: 40, 98, 116, 193, 169, 241, 186, 431, 301, und in dieſem Winter find es 371.

* Die Gymnaſialkurſe für Mädchen, deren Einrichtung die Abteilung Frankfurt des Vereins „Frauenbildung- Frauenſtudium“ übernommen bat, werden Dftern 1901 ihre unterfte (fünfte) Klaſſe eröffnen. Die Schul: und Lebrordnung der Gymnaſialkurſe, die auch alle näheren Bedingungen des Eintrittd und Beſuchs enthält, Liegt bereit? im Drud vor und ift von der Vorfigenden ber Abteilung Frankfurt des Vereins Frauenbildung: Frauenſtudium, Frl. Dr. Winterbalter, zu bezieben.

Der Pommerſche Brovinzial:Eehrerverband madte die Lehrerinnenfrage zum Gegenſtand ber Berbandlungen feiner diesjährigen Generalver: tammlung. Die Thejen, die in einem 2!/, jtündigen Vortrag zur Annahme empfohlen wurden, erllärten die Lehrerin für körperlich und feelifch weniger geeignet zum Lehrberuf, als der Mann es Sei, für weniger geeignet aud) wegen „gewiſſer Einfeitigfeiten und Leiden, für welche die Urſache in der gejell: Ihaftlihen Stellung des weiblichen Geſchlechts und in der Chelofigkeit zu juchen iſt,“ außerdem für entbebrlih, da der Einfluß des Weibes in den meiften Fällen fchon durch die Familienerziehung gebührend zur Geltung komme ꝛc. Sie jchaden, fo lautet Bunft 4 der 1. Thefe, oft der Schule und ben Lehrern dadurch, a) daß fie hierarchiſchen Ein: flüſſen leicht zugänglich find, b) daß fie die männ— lichen Lehrkräfte aus den beffer dotierten Stellen verdrängen(). Was für die Verwendung ber Lehrerinnen fchließlich zugeftanden wurde, entiprach etwa ben oben feitgeftellten Anfichten über ihre erzieblichen Fähigkeiten.

183

In der Debatte, in ber bie zweite Vorſitzende des Landesvereind preußiicher Bolt3fchullehrerinnen, Fräulein Liſchnewska, ald Hauptopponentin gegen den Referenten auftrat, zeigte ſich bemerkenswerter Weife, daß unter den auftretenden Rebnern bie Mehrzahl nicht mit dem Referenten übereinftinimte, wenn aud die Majorität der Berfammlung fi in den weſentlichen Punkten auf feine Seite ftellte. Mer fih wundert, daß ſolche Verhandlungen mit folhen Refultaten überhaupt noch möglich find, der ziehe in Betracht, daß man ed eben mit „Binterpommern” zu thun bat.

* Das zweite philologiihe Staatseramen beftand Frl. Dargarethe Heine in München mit der Note I. Sie erhält dadurch die Lehrbefähigung für alle Klafjen des humaniſtiſchen Gymnaſiums. Sp ift auch Bayern in der Zulaffung zum Eramen pro facultate docendi Preußen vorangegangen, und man fann nur wünjchen, daß das Bei piel wirft.

* Die Organifation der Boarzellanarbeite- rinnen in Öfterreich ift Gegenftand folgender intereflanter Notiz der „Sozialen Praxis“ (Nr. 6):

Die Union der Glas- und keramiſchen Arbeiter und Arbeiterinnen Dfterreich® war eine der erften Branchenorganifationen, melde die Wichtigkeit der Arbeiterinnenorganifation erfannt bat und mit vollem Ernft an die Organifierung der Arbeiterinnen ihrer Branche geichritten ift. Die Arbeiterinnenjektionen im Ssiergebirge find ein Beftanbteil der Union, und nunmehr ſoll aud die DOrganifierung der PVorzellanarbeiterinnen wieder in Angriff genommen werden. Es ift eine Thatfache, daß es nun bald feine Arbeit giebt in der Porzellaninduftrie, in der nicht Arbeiterinnen mit tbätig find. Bon Jahr zu Jahr fteigt die Zahl derjelben rapid, und ebenſo verringert fich die Zahl der männlichen Arbeiter. In der Malerei find Malerinnen, in der Druderei find Druderinnen, in der Dreberei find Dreberinnen in der Gießerei Gießerinnen, in der Packerei, Schleiferei, Sortiererei bauptfählih Mädchen be: Thäftigt. Die Union wird in nächſter Zeit ber Drganifation der Arbeiterinnen die vollite Auf: merkſamkeit zuwenden und ridıtete an alle Orts— gruppenleitungen das dringende Erſuchen, fie in diefer Arbeit zu unteritügen. Sie will trachten, den Beichluß des Ichten Gewerkſchaftskongreſſes durchzuführen und, wo es halbwegs möglich tft, Sektionen für die Arbeiterinnen zu errichten, um e8 ihnen zu ermöglichen, ihre Angelegenheiten im eigenen Kreife zu regeln. Im Siergebirge beftehen bereit3 16 Sektionen von Arbeiterinnen, ebenfo im Hatida-Steinfchönauer Verband.

* Marie von Ebner⸗Eſchenbach. Ter Rede des Brofefjord der deutichen Litteratur Dr. Minor bei Überreihung des Ehrendoktoratsdiploms an Marie von Ebner-Eſchenbach entnehmen wir noch fulgende Sätze:

„Sie werden e8 bier in diefem Diplome lejen, daß wir, wie alle Welt, in Ihnen nicht bloß die

Frauenvereine.

Während feines ganzen Lebens, ob in Deutſchland oder im Exil, bat mein Vater, wie ich wohl fagen tann, auf feine Weiſe immerbar, ob auch unbemußt, das geiltige Band geftärkt zwiſchen Deutſchland und England, dem Yande, bad er liebte, deſſen veitifhe und feziale Freiheit ihm Lebensluft war.

Er bat das nicht zum wenit ften gethan durch ſeine

herrlichen Überfegungen aus feiner englijhen £itteratur. Und von feinen vielen Über: tragungen ind Deutſche bürfte die erfte Stropl von Campbell® „England to Germany“ wohl bier am Blage fein:

„Meerüber ruft Britannia

Der Schwefter Deutfchland zu:

Wach’ auf, o Allemannia,

Brich beine Ketten du!

Beim Blut, das und zu Brüdern macht,

Allemannen, auf, ertracht!

Und dreimal geheilige fei

Unfrer Sergen eilig vand,

Wenn ung jujauczt, endlich frei,

Euer Yand euer Yanb!”

Mein Vater übericgte das Gedicht |. 3. wahr: ſcheinlich im Hinblid auf Deutſchlands politiſche Anechtung. Ich citiere ed mit dem gluhenden

geliebten ' i ganz fo äußerte, wie es auf die heute beregte Frage : paßt.

185

Zeit wieder aufleben möge.” Und nicht auf ihren Vater allein beruft ſich ‚rau Kroeker. Sie führt auch einen noch unveröffentlichten Brief, geichrieben 1854, von Johanna Kintel an, worin dieſe „tapfere beutiche rau, patriotifh und dennoch nicht blind für die Schwächen ihrer Landsleute, bie Mängel, wie die guten Eigenſchaften beuticher- und engliidperfeits Mar erfennend," fi) ſchon damais

Tie als „ergöglih und zugleich lehrreich“ mitgeteilte Briefſtelle handelt von dem in manden Flücptlingötreifen herrichenden Widertilfen, bie Lor- züge des Yandes, im dem fie lebten, anzuertennen

und „in Srieden mit ihrer Umgebung zu (eben.” " „Nöchten dieſe fhönen poſthumen Worte,“ jo ſchließt

Vateriand gehegt habe, wie ich glei

Wuniche, daß das Gefühl von Brüderlichfeit, das ; die fhöne Dicptung durajtrömt, in nicht zu ferner :

Frau Freiligratb-Kroeter, „wie Ryigeniens Ich bringe ſüßes Rauchwert in bie Flamme wirten, und möge der zwiſchen den beiden Nationen leider unlängft fo erweiterte Bruch fich almäblih und fer febließen. Und bieier Hoffnung,“ fegt fie binzu, „Lebe ich vertrauendvoll mit der ganzen Yiebe, bie ich von meiner Kindheit an für mein deutſches tig England fiebe, bie Zufluchtöftätte meines verbannt geweſenen Vaters und meine Heimat fürs Yeben.” Ticie aus beftem deutſchen Herzen Tommenden Wünſche werden gewiß in der beutichen Frauenwelt ein Ehe finden. Vertba Treumann:Koner.

m.

Ffrauenvereine.

Mufitfeltion des Allgemeinen Deutſchen Xererinnenvereins.

(Borfigende: Frl. Hentel: Frankfurt.)

Über die Entwidlung und die Ziele der Mufitfettion :

des Allgemeinen Deutſchen vehrerinnenvereins giebt Fel. Anna deffe in Nr. 19 des „Rlavierlehrer“ (Ned. Anna Mori, Berlin W., Pafjauerftr. 3) einen eingehenden Bericht, auf den wir alle, die ſich für die Sade der Mufitlehrerin interefjieren, auf. merffam machen möchten. ſich die große Aufgabe geftellt, die Forderung einer Staatöprüfung für die Mufitlehrerinnen ihrer Ver- wirklichung entgegenführen zu helfen und für bie Reform des Geiangunterrichts in den Mädchen ſchulen und die Anftellung von auögebilbeten (Sejang Icbrerinnen an denfelben zu arbeiten. Es ift fehr zu wünſchen, daß diefe Beftrebungen in weitere Kreiſe dringen.

„Bereins-Gentralftelle für Rechtsſchutz.“ Xeiterin: Dr. jur. Marie Raſchke. Die V. €. St. für Rechtsſchutz bewedt:

Die Nufitfettion hat .

Materials aller durch ben Rechtsſchutz auf gütlichen Wege vermittelten Schlichtungen von Recht: ftreitigleiten ſowie aller durch Vermittlung der einzelnen Rechtoſchutß Vereine und Kectsichus ftellen auf gerichtlichen Wege erlangten Nechte: enticheidungen (Anlegung eines Archivs).

5. Zie will allen Frauen Vereinen Nat und Hilfe bei Einrichtungen von Nebtöturien geben und ihnen geeignete Yehrfräite zuweiſen.

Ein jeder Wechtöichug: Verein und eine jede Rechtsſchutzſtelle iſt berechtigt, gegen Zahlung von jährlich 2 Mart jih der ®. C. Si ihug anyugliedern und gegen Ci 1 Mark fchriftlih Austunft in allen Redtäfragen zu verlangen.

Tie angeglicderten Vereine und Nechtöfhut: ftellen verpflichten fi:

a) für die Einrichtung von Rechtsſchuhzſtellen

in allen größeren und mittleren Städten Teutſch * lands Sorge tragen zu wollen,

b) ber Gentralftelle alle 3 ober 6 Vionate ihre

Erfabrungen auf dem (ebiete des Rehtöichuges

1. Die Verbindung aller derjenigen rauen: '

Vereine und Vereins Unternehmungen, welche dazu dienen, den frauen Rat und Hilie in Rechtsfragen und Rectöftreitigteiten zu gewähren.

2. Sie will Anregung geben zur Schopfung neuer Rechtsſchus · Vereine oder Rehtöichugitellen.

3. Sie will Auötunftöftelle in allen beſonderen Rechtsfragen und Rechtsfällen fein.

4. Sie will als Mittelpunkt dienen zur ſchriit lichen Niederlegung aller Erfahrungen auf dem Gebiete des Rechtsſchuhes, zur Sammlung des

den Verlauf ibrer Vermittlung bei Rechts. ſtreitigkeiten mitzuteilen,

e) für bie Verbreitung ber Nechtöfenntnis unter den grauen zu fergen, fewohl durd Einrichtung von Nedtöfurien als durch Sinweis auf bie „aehicheit für Fepufüre Rectökunde."

Tie v. €. für Nebteihug hat ihren Zig am Wohnerte der Leiterin derſelben

Tas Burcau der 8. €. >t. für diechtsſchut befindet fh Berlin SW, Nüniggrägerftraiie 88, Sof pt. Mint. Zpreditunden: täglid von 12—2 Ubr, am Mittwoch und Sonnabend auch von 3—9 Uhr abends.

>

Bücerfchau.

dies Buch. Farbenprächtige und allzufarbengrelle *

Bilder, daneben andere von zarterem Schmelz und biskreterem Timbre. Jeder Gedante, der den Hopf des Monologiften, der im Wittelpuntt des Yucca ftebt, durdyudt, wird in ein Gemälde umgejcht,

und das wirkt auf die Tauer mehr ald ermüdend. |

Und das Traumbild tritt gleich berechtigt gleich folgenſchwer neben bie Wirklichleitövifion. In bieler Folge der Bilder aber giebt fi) eigenartig eine ſeeliſche Entwicklung, bie im cigenartigem Gegenſatz zu dieſer ichfüchtigen Kunft fteht: eine Überwindung des Egoismus gilt «8, ein Yeben mit andren und für andre gewinnt lodende Kraft und ſcheint ſich in der Seele des Einſamen durchzufegen.

„Die Geſchichte der jungen Renate Fuchs.“ Roman von Jacob Waijfermann. (Berlin 1900, 2. Fiſcher, Verlag) „Ein Mann tann fallen, Frauen nicht,“ das ift dad Thema dieſes Roman: die Geſchichte der jungen Renate Fuchs ift die Gefchichte eined Näbchene, die in allem Niedergang des Lebens der Seele Neufchheit ſich bewahrt Und zwar tief innerlich bewahrt: wie eine Trauı wanblerin geht fie durch das Xeben, gewiſſe Saiten in ihrer Bruſt bleiben unberührt durch die Außenwelt, die fie umgiebt, durch bie Menichen, die fie mißkandeln. Es iſt gleihiam ein myſtiſch Dunſtkreis um ihre Perfönlichkeit, den meniges, und zwar das Homogene nur durchbricht. Renate Fuchs iſt die Toter eines reichen Fabritanten, einem Herzog ift fie verlobt. Aber in ihr it der Trang nad Selbftbeftimmung, fie giebt ben Herzog auf, um einem jungen Mann in freier Ehe zu folgen. Der kirchlichen Sanktion dieje® Bündniſſes wideritrebt fie felbft. Und ihre erite jelbftänbige Handlung ift der erfte ſchwere Mißgriff, den fie begeht. Neine innere Gemeinſchaft ift zwiichen ihr und diefem Mann, unb, als er verarmt, tritt vollends die feige Brutalität feiner Natur offen: tundig hervor. Sie verläßt ihn. Und nun der tiefe Mbftieg ihres Lebens; fie fommt in bentbar ſchiechteſte Gejelichaft, fie wird Gouvernante in einem dentbar fittlich tiefftchenden Haushalt, fie tritt in einem Variete der eleganten Lebewelt auf. Und von allevem bleibt ihre Scele unberührt. Es ift viel Romanhaftes in der Durchführung des Lebensfcpidfals diefer Frau, viel unreife Wiltür und viel häplih) Cuäfendes. Doch tritt in alledem eine Kraft zu tage, Stimmungen zu verdichten, audı dem ungejprodenen Wort Geltung zu verihafien, in dem Vielerfei der Stimmungen die Grundmelodie durdpffingen zu laiſen, bie nicht alltäglich if. rei: fi, neben der Hauptgeſtalt bietet der Noman nur Schemen.

Behler Herr als Knecht“. Roman von Fedor von Zobeltig (Berlin 1900, 7. Fontane & €o.). Zobeltig' neuer Roman ift ein ſpannendes Buch, dad man mit Vergnügen fchmöfert. Mit einem Galabiner beim alten Kaiſer Wilbelm fett es ein, und ber junge Kabet, ber ba aufivartend hinter dem Schah von Perfien fteht, wird jchlichlich ſelbſt auf einen Fürftentbron geführt. Seltſam und etwa® ronanbaft inupfen und fchlingen ſich die Fäden, aber wenn man nicht immer überzeugt ift, fo ift man doch immer gefefjelt. Anicaulidı und echt ift die Yeufnantägeit in einem märfiichen Neft gezeichnet, und man ift Zeuge, wie der junge Graf, der in den Mittelvunkt der Erzählung gerüdt

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ift, inmerli wird. Nachher auf dem SKerricher: thron Jlyriens bewährt er die gewonnene Kraft, das wäre am fich gewiß nicht übel; aber bevor der frübe Tod ibn auf fiegreihem Schlachtfeld ereitt, beglüdt ibm noch recht romanhaft eine Yiche, in deren Schilderung das Märden von dem Prinzeſchen im Schäferinnenkleidve den Grundton abgiebt. Zobeltig' Roman ift auf breitere Schichten berechnet und offenbar werden dem Geichmad des Bubliftums Konzeſſionen gemacht; de ift eine getwifie Echtheit und Treue in der Charakterzeichnung gewahrt, jo daß au ein anipruchövoller Yefer das Buch gern in die Sand nehmen mag.

„Gin frohes Farbenſpiel.“ Humoriſtiſche Plaubereien von Dito Ernft. (Perlag von x. Staadmann, Leipzig 1900.) Es ift ſchade, dak Dtto Ernft fein Buch mit dem Untertitel verfehen bat. Sp ein Untertitel erzeugt immer ein leijes Mißtrauen, cs erinnert etwas an die Anpreifung „großer Yacherfolg” auf Theaterzettein. Ind die Plaudereien rechtfertigen dies Mißtrauen durchaus nit. Duo Ernftß Sumor ijt frijcher, Bräftiger Burſchenhumor, dem man eine gelegentliche (se: fmadfofigteit nicht übel nimmt, ein Humor, ber alle guten Yeute in Stimmung bringt, wie ein Studentenlied, ohne gerade hoben äfthetiichen ober pinchologiichen An ſpruchen gerecht Ju werden. Und dann etwas Warmes, Heimatfrohes im ben Stiggen, viele Heine Züge verraten die Tiefe und b die dazu gehört, um die Poeſie ber vier Wände zu erjhöpfen. Um dieſer Kraft willen jei dem Berfafler die „vertvegene Plauderei” über die Frauen verzieben und bie thörichte Enquete; die Frauenbewegung ift ja zum Gfüd in der vage, dergleichen Ergüsie nicht mehr widerlegen zu müjen, fie fann nur an ihnen die Thatlache fonftatieren, daß es nod immer Yeute giebt, die mit ihren twirtlihen Zielen nicht decht Beicheid wifen.

„Die Zeitihrift für die neuteſtamentliche Biffenfhaft und die Kunde des Urhriftentums" bringt in dem erften Seft ihres eriten Jahrgangs eine intereilante Abhandlung von Prof. I. Abelf Barnad, „Probabilia über die Adrejie und den Verfafier des Hebräerbriefes.“ Diele Abhandlung iei hier aus dem (Srunde erwähnt, weil darin in außerordentlich fcharffinniger Weije bie Hopoiheſe durchgeführt it, daß der Hebraer brief eine Verfaiferin gehabt habe, bezw. daß eine Frau an der Abfailung itark beteiligt deweſen fei. Sarnad führt durch eine Neipe von Beweis: führungen den Hebräerbrief auf das in der Geichichte bed Paulus oft erwähnte Ehepaar Ayuila und Briscilla zurüd und ertlärt vie Thatfache, dah der Name des Autors verloren gegangen, aus der abfehmenden Saltung, die bie Kirche ſchon im erften Jabrbundert und bis zum dritten in fteigendem Dafe gegen die Ichrenden Frauen eingenommen bat.

„VBlumenmärden“. Bilder, Terte und Litho— graphien von Ernit Kreidolf. Pilot und Boehle, Münden. Cin Bub, fo reid an lichenswürbigen Eintällen, an feiner, bumervoller, friiher Belebung au’ der Weſen in Wald und Flur, daß es wie ein Eintauchen in ben Heichtum der Naturbeicelung des Vollsmärchen® erquidt und entzüdt. \ehes Blümchen und jeder Käfer erhält feinen befonderen Charakter, jedes Blatt, jede Nante, jeder Yalm wird zur Geſialtung dieſes Charatteriftiichen anmutig

194 Frauen: yabrilarbeit und Yrauenfrage.

zu können, fandten fie noch vor diejen amtlichen Veröffentlihungen eine Flut von Büchern und Brofchüren auf den Markt, die mit den befannten Argumenten die puß: jüchtige, pflichtvergeffene Fabrikarbeiterin für die häuslichen Pflichten des Weibes, für die Familientugenden zurüderobern wollten.

Diefe zahlreichen Neuerjcheinungen bedürfen feiner Widerlegung. feiner ein: gehenden Erörterung mehr. Sie haben in den jegt vollzählig vorliegenden Berichten der Gemwerbeinfpeftoren der deutichen Bundesftaaten die befte Würdigung gefunden; der Wortlaut der Inſpektionsberichte kann ftellenmweife geradezu als Antwort, als Entgegnung dienen. Nur diejenigen Veröffentlichungen zu der, Frage des Ausſchluſſes der Frau aus der Fabrik müſſen in diefen Blättern erwähnt werden, deren Verfaſſer die gute Gelegenheit, fich mit der Frauenbewegung auseinanderzujegen, nicht unbenugt vorübergeben ließen. Unter dieſen verjucht das namentlicdy die Brofchüre: „Frauen: Fabrilarbeit und Frauenfrage Eine prinzipielle Antwort auf die Frage der Ausfchließung der verheirateten Frauen aus der Fabrif”!) von Dr. Ludwig Pohle und „Die Frau als Induſtrie-Arbeiterin. Ein Beitrag zur Löfung der Arbeiter: frage” ?) von Fr. Collet. Beide Brojchüren Haben auch außer den etwas ſchwer⸗ fälligen und anſpruchsvollen Titeln viel Gemeinfames: beide find entichtedene Tendenz: jchriften gegen die Sozialdemokratie; beide erklären fich mit aller Entfchiedenheit für den Ausjchluß der Frau aus der Fabrik und kennzeichnen ihre Verfaffer ala Gegner einer „unbedingten Frauenemanzipation.” Der Verfaffer der erfigenannten Schrift unterfcheidet fi) aber menigftend von Fr. Collet dadurch vorteilbaft baß er den Verſuch unternimmt, Bemweismaterial für feine Anfichten zu erbringen, während dieſer fih im allgemeinen mit Aufftelung von Behauptungen begnügt. Eine Erörterung der Pohle'ſchen, weit umfangreicheren Schrift wird daher jegliches Eingehen auf die Collet'ſche Brojchüre überflüffig machen.

* * *

Pohle Mmüpft mit feinen Ausführungen an den internationalen Arbeiterfchug- fongreß in Zürich (1897) an, auf dem ein Antrag, für ein Verbot der Frauen: Fabrikarbeit einzutreten, zu den beftigiten Auseinanderfegungen führte. Die Vertreter zweier Weltanfchauungen in Bezug auf die gejellichaftliche Stellung der Frau ftanden fich dort gegenüber. Der Antrag fiel; 165 gegen 98 Stimmen chen ſich für die Freiheit der Frau auf dem Arbeitsmarkt aus. Pohle ſagt von dieſer Ab— ſtimmung, daß merkwürdigerweiſe außer den Sozialiſten auch die anweſenden Vertreter der nationalſozialen Partei (und manche andere! Anmerk. der Verf.) in dieſem Sinne ftimmten, „die eigentlich fchon aus dem Grunde für ein Verbot der eheweiblichen Fabrikarbeit Hätten eintreten müfjen, damit ihre Partei eine Arbeiterfchugforderung erhalte, durch die fie fi von der Sozialdemokratie ‚reinlich‘ ſcheidet.“

Der Berfaffer, der offenbar nicht geneigt ift, fich in einzelnen Fällen mit politifchen Parteien zu verftändigen, die ihm nicht genehm find, giebt mit dieſen Worten bereits einen Anhaltspunkt für feine Stellungnahme zur Frauenbewegung. Er kann keine Sympathie für Beftrebungen haben, die vielfach in Bezug auf die gefellichaftliche Stellung der Frau diefelben Forderungen wie die Sozialdemokratie aufftellen, und die ein Verbot der Fabrifarbeit verbeirateter Frauen befämpfen, weil dadurch die völlige wirtfchaftliche Unabhängigkeit der Yrau vom Manne verhindert würde.

Da Dr. Pohle verſucht, ein reichhaltiges Zahlenmaterial für feine Forderungen nugbar zu machen und die Durchführbarfeit des Verbot? der Frauenfabrilarbeit zu beweifen, fo türmen fich, troß feiner gegnerifchen Stellung zur Frauenbewegung, biejelben Schwierigkeiten vor ihm auf, die auch von den Frauen immer bei Erörterung der Frage betont worden find. Er giebt zu, daß ein ſolches Verbot nicht jede verheiratete Frau treffen dürfe, jondern nur die, welche „Mutterpflichten zu erfüllen bat, mas allerdings bei Ehefrauen der normale Fall jet.”

Y Verlag: Veit u. Comp. Leipzig 1900. 2) Berlag der Arbeiter:Verforgung. U. Trojchel. Berlin 1900.

Frauen: yabritarbeit und Frauenfrage. 195

Pohle erkennt alsdann die Notwendigkeit an „im Intereſſe derjenigen Ehefrauen eine Einſchränkung des Verbot? vorzunehmen, die durch die Erwerbsunfahigkeit ihres Gatten in die traurige Notlage verjegt find, durch ihre Arbeit die Koſten des Unterhalts der ganzen Familie allein aufbringen zu müjlen.” „Das Gleiche,“ fo fagt er, „gilt jelbftverftändlich auch für verwitwete Frauen, folange unfere Arbeiterverſicherung noch nicht durch eine hinlangliche Unterftügung gewährende Witwen: und Waifenverfiherung ergänzt ift. Die Pflicht, durch eigene Erwerbsarbeit für den Unterhalt der Ihrigen zu jorgen, behauptet bei den Frauen der beiden letztgenannten Kategorien ziveifellos den Vorrang vor der Pflicht, die feineren, mehr auf hygieiniſchem, intellektuellem und moralifhem Gebiete liegenden Aufgaben zu erfüllen, die einer Mutter gegen ihre Kinder obliegen. Erſt muß naturgemäß die Erhaltung des nadten Lebens gelichert fein, ehe an etwas anderes gedacht werden kann, mag dieſes andere und nod) fo fehr als das im Grunde Wichtigere und als da3 eigentliche Ziel der Entwidlung der Menſchheit erſcheinen. Den Witwen und den Frauen erwerbsunfähig gemordener Männer, fowie den geichiedenen Frauen find eventuell auch noch diejenigen Frauen nleichzuftellen, deren Männer nicht im ftande find, ausreichenden Unterhalt für ihre Familie zu beicaffen, die beiſpielsweiſe nicht den ortZüblichen Tagelohn verdienen.“

Nachdem Dr. Pohle felbft eine ſolche Einfchränkung des eventuellen, von ihm angeftrebten Verbots als notwendig anerkennt, drängt fi unwillkürlich die Frage auf: Wer bliebe für ein ſolches Verbot eigentlich übrig? Glaubt Dr. Pohle wirklich, daß die Frauen aus Vergnügungsfucht in die Fabrif gehen? Die von ihm angeführten Zahlen, nämlich von etiva 130 000 verheirateten Zabrifarbeiterinnen, von denen vielleicht 80 000—90 000 Mutterpflichten zu erfüllen hätten, fönnen deshalb durchaus nicht für irgendwelche derartige Echlüffe nugbar gemacht werden, weil fie einer Statiſtik ent- nommen find (ber gewerblichen Betriebszählung vom 14. VI. 1895), die nur nad dem Stand, nicht nad) den wirtfchaftlichen Verbältniffen fragt. Wenn alſo auch die verwitweten und gefchiedenen Frauen nicht in dieſe Zahlen mit eingerechnet find, fo bleibt doch die Frage offen, wie viele won diefen 130 000 reſp. 80 000 Frauen zur Fabrifarbeit dur die wolle oder teilmeife Erwerbäunfähigfeit ihrer Männer geswungen waren. Die Geiwerbeinipeltionsberichte geben darauf eine beachtend- werte Antivort:

In den Hamburgifchen Bericht Heißt e8: „Unter den fämtlihen 2220 in den Fabriken beihäftigten verheirateten Arbeiterinnen wurden nur 20 oder 0,9 Prozent ermittelt, die lediglich aus dem Grunde ihre Arbeitskraft in den Fabriken verwerteten, um bie 2ebenshaltung ihrer Familie beffer und reichlicher zu geftalten. Alle übrigen Frauen find zur Arbeit in der Fabrik gezwungen, weil fie durch die Ver: bältniffe zum weſentlichen, bisweilen zum Haupternährer, oft fogar zum einzigen Ernährer ber ganzen Familie geworden find.”

Der württembergiiche Bericht jagt: „Der Grund der Veichäftigung der Frau in der Fabrik ift in den allermeiften Fällen, kurz gefagt, die bittere Not des Augenblicks, und nur vereinzelt kommt die Abjicht, für die Zukunft zu forgen oder ſich zu befonderen Ausgaben einen Nebenverdienft zu fchaffen, in Frage.“

In den beffifchen Berichten wird übereinjtimmend hervorgehoben, daß ber Hauptgrund für die Fabrifarbeit der Frauen in dem geringen Verdienſt der Männer zu fügen ift. Bei 333 Männern, deren Frauen in Fabriken befchäftigt find, ſtellt ſich der burchfchnittliche Wochenverdienft auf nur 13,10 Mark. Ihre Frauen hatten zum Teil die gleiche oder fogar eine größere wöchentliche Einnahme. Auch die bavriichen Berichte ſprechen fich dahin aus, daß Veranlajjung zur Fabrifarbeit bei allen Frauen mehr oder minder die wirtfchaftliche Notwendigkeit fei, für fi oder die Familie den zum Lebensunterhalt erforderlichen Verdienſt zu beſchaffen. So berichtet der ober= bayerifche Aufſichtsbeamte:

„Bon den 1253 befragten Frauen bezeichneten 444 ungenügenden Verdienſt, 45 unbeftinmte Einnahme, 30 Krankheit, 29 Erwerbsunfähigleit des Mannes, 47 größere Ninderzahl, 95 die Erhaltung verdienftunfähiger Stinder, Eltern oder An: verwandten, 12 Zahlungsverpflichtungen, von der Arbeitslofigfeit des Mannes her:

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Frauen: Fabritarbeit und Frauenfrage. 197

oder auch im Handel Beſchaftigung fuchen, oder fie kann Aufmartungen übernehmen, als Kochfrau oder Pflegerin den x.” Ob fie bei Ausübung diefer leider noch ganz ungejcügten Gewerbe, bie fie teilmeife noch für mehr ala 11 Stunden täglich von Haufe fern halten, „die Mutterpflichten gegen ihre neugeborenen Kinder” befjer erfüllen dürften? Übrigens macht der Verfaſſer an anderer Stelle gar fein Hehl daraus, daß für ihn das Verbot der Fabrikarbeit nur ein „Anfang“ fein fol, „um dem Unweſen der regelmäßigen Eriwerböthätigfeit verheirateter Frauen außer dem Haufe energiſch zu Leibe zu gehen.” „Denn,“ fo fagt er in der Einleitung, „daß man mit einem Verbot der Frauen-Fabrifarbeit anfängt, bedingt ja nicht, daß man damit auch wieder aufhören und hierbei in alle Ewigkeit ftehen bleiben muß;“ und weiter: „die Ent: widlung wird nicht bei bem Verbot der eheweiblichen Arbeit nur auf dem Gebiete der Fabrifinduftrie Halt machen, fondern das Verbot wird nah und nah aud die anderen Teile des Wirtichaftslebens ergreifen.“

Wenn die Prognofe des Herrn Pohle fich verwirklichen müßte, dann dürfte es Aufgabe der Frauenbewegung werden, allen Ehefrauen, die nicht vom Mann erhalten ober auskommlich ernährt werden fünnen, zu empfehlen, ins Waffer zu gehen. Pohle

laubt allerdings, daß ed der Familienwirtfchaft geradezu einen pefuniären Gewinn Tingen wird, wenn die Frau durch das betreffende Verbot lediglich auf ihre Thaligleit beſchrankt wird; einen Gewinn, der den Verluſtpoſten des fortfallenden Verdienſtes ausgleicht. „Die Frau wird nunmehr ihre Kräfte ungeteilt dem Haushalt widmen; fie wird Heine Vorteile, bie fie ehemals nicht fo wahrnehmen konnte, genau ausnügen, und duch ihre erbaltende und ausbeſſernde Thätigkeit mande Ausgabe ganz erfparen.”

Die Ausführungen über die Durchführbarkeit eines Verbot? der Fabrikarbeit fchließt Pohle mit der Behauptung, daß der Gejeßgeber damit bie natürliche Entwidlung unterftlügen würde. Cr führt dazu Karl Bücher an:

„Denn das muß vor allem feftgehalten werden, durch die ganze Geichichte und namentlih durch die Gefchichte unjeres Volkes geht ein mächtiger Zug, der darauf Binführt, die rau mehr und mehr von der fehweren aufreibenden Mühfal des Erwerbs zu entlaften und dieſe auf die flärferen Schultern des Mannes zu laden, den Manne die ſchaffende, die werbende Arbeit der Güterzeugung, ber Frau die verwaltende und erhaltende Thätigkeit in der Hausmwirtfchaft, dem Manne den waglichen Kampf ums Dafein, der Frau die behagliche Geftaltung desſelben zuzuweiſen. (Mit 13 Dart Woceneinnahme! Anm. der Verf.) Diefen Zug der Entwidlung nad, Möglichkeit zu fördern, ift bie Aufgabe einer gefunden, Hiftorifh aufbauenden Sozialpolitil. AL Gehilfin des Mannes im Rahmen der Familie mag die Frau zum eigenen und allgemeinen Beften auch in der eigentlichen Erwerbswirtſchaft thätig fein, nimmermehr jedoch als Konkurrentin des Mannes außerhalb diejes Rahmens.” Dieſe Worte bedürfen keines Kommentars.

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Im zweiten Teil, in dem die Notwendigkeit der Ausfchließung der verheirateten Frau aus der Fabrik behandelt wird, fegt der Verfaffer ſich mit ber Sozialdemokratie und ber Seauenbervegung audeinander. Beide werden im fchönfter Harmonie mit einander abgemacht. Pohle erörtert die Frage, wie die Sozialdemokraten ihre ablehnende Haltung im Hinblid auf die ſchweren Nachteile aufrecht erhalten können, welche die eheweibliche Fabrikarbeit für das Familienleben und die Kindererziehung unleugbar hat. Ob ſie mit Blindheit gefhlagen find oder Scheuflappen vor den Augen tragen, jo daß fie dieſe Schäden nicht wahrnehmen! Cr macht ihnen daraus den Vorwurf, daß biejenigen, bie diefe Schäden anerkennen, trogdem die Forderung folgendermaßen ablehnen: „Es ift ein dringendes Kulturbebürfnis, der modernen Entwidlung der Frauenarbeit nicht ftrangulierende Feſſeln anzulegen. Ein allgemeines Verbot der Frauenarbeit wäre gleichbedeutend mit der Zurüdverfegung. der Frau in die alte abfolute mirtichaftliche Abhängigkeit vom Manne und nicht im Imereſſe der für die

An da Reue Jahr. 189

Pohles Ausführungen zu dem, was von ber Frauenbewegung für die Frau ber befigenden Klaffen gefordert wird, Aehen fo durchaus auf dem Niveau deſſen, was in biefen Blättern ſchon fo oft widerlegt ift, daß ein näheres Eingehen darauf überflüffig erſcheint.

Zum Schluß noch ein Wort über die Widmung des Buches, Auch in ber Litteratur giebt ed Moden; es fcheint jegt an ber Tagedorbnung zu fein, daß Bücher, die ns en das freie Menfchentum des Weibes wenden, die für eine Verkümmerung ihrer Menichenrechte, für Unterdrüdung ihres Ringens und Strebens eintreten, von den Verfaffern ihren Frauen zugeeignet werben. Auch Pohle ift dem Beiſpiel bedeutender Borgänger darin gefolgt. Den Frauenrechtlerinnen muß dad wie ein Hohn erfcheinen. Beim Lefen des Pohleſchen Buches werden fie ſich des Gedankens nicht erwehren können, ob Frauen, die foldhe Widmungen annehmen, oder denen fie bargebracht werben, fich auch noch mit dem häuslichen Rahmen für ihre Bethätigung Beideiben würden, wenn fie in ihrer Wirtfchaftsführung, in der Pflege des Hauſes und der Kinder auf ein Ausgabenbudget angewiefen wären, das nur zur Beftreitung der unentbehrlichen Lebensbebürfniffe hinreicht. Vielleicht würden auch fie in den Verhältniffen, die ihre Männer heut der verheirateten Fabrikarbeiterin zumuten und aufzwingen wollen, den Wunſch empfinden, durch ihre Arbeit die Lebendhaltung ihrer Familie zu verbeffern, ihren Kindern zu einer befleren, glüdlicheren Zukunft emporzubelfen. Denn das ift der gewaltigſte Drud, der namentlich von dem intelligenteren Teil der Arbeiterichaft heut ſchwer empfunden wird, bie Unficherheit ihres Loſes, bie geringe Möglichkeit, ihren Kindern zu einer beſſeren Lebenäftellung zu verhelfen, als die Eltern fie einnehmen. Das mag auch die Frau, die Mutter oft zur Erwerböarbeit treiben, denn ftärker noch als im Mann wurzelt in ber Frau, in der Mutter der Gedanke: „Nicht nur fort folft du dich pflanzen, fondern hinauf.”

BER Än das Arne Jahr.

Hauer Jahr! Gieb Eins: gieb frifhen Mut! Gieb uns Kraft der Chat und des Genuffes! Um uns fchwillt die dunkle, kalte Shut

Müden, glaubenslofen Ülberdruffes!

Neues Jahr, o mach uns fühn und jung! Gieb uns ftarfe Cuſt und ftarfen Glauben! Neues Jahr, o gieb uns neuen Schwung! Laß die Nebel uns das Ziel nicht rauben,

Daß der Blick das ferne Land gewahrt, Wo die großen, reinen Kichter blinfen! Wie der Sährmann vor der liberfahrt Slehen wir: „Herr, laß uns nicht verfinten!“

Frida Schanj. Alygaen

Eine Frau als Militärfcpriftftellerin. 201

Nach Skizzierung ihrer Außeren Lebensumſtände möchte ich einige Worte der Perſon und dem Lebenswerk dieſer Frau wibmen.

Ihr Bildnis, das das Titelblatt eined Manuffript3 der Pariſer Nationalbibliothel ' Ihmüdt, zeigt ein fchönes, feelenvolles Antlig. Weichheit des Gemuts war trog aller Tapferkeit und Energie der auch in den meiften Schriften hervortretende Zug biefer tüchtigen Frau und Mutter. Ihre Schriften atmen den Geift der Renaiſſance. Die meiflen find moraliſch⸗politiſchen und lehrhaften Inhalts, in Verſen oder in Profa. Einige möchte ich hervorheben. Zunächft ihr Erſtlingswerk: „Jeux à vendre ou Vente d’amours® 100 Balladen. „Le Chemin de longue estude“ ein umfangreiches Berl, in Proſa überfegt von Jehan Chaperon und zu Parid 1549 gebrudt, 1883 einer deutſchen Überfegung von Rifchel für würdig befunden. „Les Dits moraux,“ die Belehrungen der Mutter für ihren Sohn enthalten. „Le Livre des faicts et des bonnes moeurs du sage roi Charles V.“ ober bie „Ilistoire du roi Charles le Sage“, bie der Abbe Leboeuf mit Anmerkungen in feinen „Dissertations sur lhistoire de Paris“ im Auszuge herausgegeben dat. Vollſtändig find fie in Petitots nMemoires“ fowie in Michaubs und Poujoulat3 „Collections“ enthalten. Das 1405 vollendete Buch enthält namentlich in feinem zweiten Teile eine Menge kriegs⸗ wiffenfchaftlicher Angaben. Noch bedeutender und in einer für eine Frau jener Zeit geradezu einzig daftehenden Weife methodiſch ift das 1410 entftandene berühmte

Livre des faicts d’armes et de chevalerie“, eine Encpllopädie der Kriegswiſſen⸗ ſchaflen das beſte franzöſiſche Werk auf dieſem Gebiet aus dem 15. Jahrhundert. E ift fo bedeutend, daß Napoleon III. viele Steüen in feinen „Ftudes sur le passe et l’avenir de l’artillerie“ wiedergegeben hat. Das erft achtzig Jahre nach feiner Abfafjung 1488 zu Paris gedrudte Buch wurde ſchon ein Jahr darauf von W. Carton im Auftrage von Heinrich VILI. ind Englifche überfegt. Chriftine gehört zu denen, die gerechte Kriege nicht nur für erlaubt, jondern ald notwendige Regulatoren im Bölfer: leben anfehen. Sie fpricht das in der Vorrede des in vier Teile ſich gliedernden Werks aus. Obwohl ihre Ausführungen fi) nach damaliger Gewohnheit auf Frontin und namentlih auf Weges aufbauen, enthält ihr Werk doch zahlreiche durchaus ſelbſtandige Anfichten, namentlich aus dem Gebiete des Belagerungskrieges. Erſt viel fpäter war ed wieder eine Frau, die auf diefem fonft ausſchließlich und mit vollſtem Necht den Männern überlafienen Gebiete eine denkwürdige Arbeit gefchaffen, nämlich ihre Namensvetterin, die gelehrte Königin Chriftine von Schweden ( 1689) mit ihren „Reflexions sur la vie et les actions de Cesar“.

Chriſtines Leben ift von 3. Boivin le jeune in dem 2. Band feiner „Memoires de l’academie des inscriptions“ und vom ſchon genannten Abbe Leboeuf in ber Einleitung zu ihrer „Histoire de Charles V.“ geſchtieben worden, in neuerer Zeit (1883) von Nobineau. Die beften Erzeugniffe ihrer Kunft find in dem 2. und 3. Bande der „Collections des meilleurs ouvrages composes par des dames“, fowie in ber 1886—91 von Roy beforgten zweibändigen Ausgabe ihrer „Oeuvres poetiques“ enthalten. Auch hat 1838 Thonafiy einen „Essai sur les écrits politiques de Christine de Pisan“ verfaßt, auf die ich aufmerffam machen möchte.

Das Schöne und Eeltene an der Erfcheinung Chriftined de Piſan aber ift nach meiner männlichen Auffaffung, daß mir in dieſer bedeutenden Schriftftellerin feinen jelehrten Blauftrumpf vor uns haben, fondern eine alle Freuden und Leiden einer ran und Mutter voll und gejund empfindende, edle, anmutige und geiftvolle Vers treterin echter Weiblichkeit und eine wahre Förderin der Wiffenfhaft. Den Wettbewerb folder Frauen werden ſich die Männer zu allen Zeiten gern gefallen lafien.

BENAYSN?Z Re

Das Fahrzeug der Zubunft. 203

Scholle ber Zeit nach wirklich noch nicht gar lange ber, und was ihre Ausbildung anbetrifft, jo ift es bis vor kurzem damit vollends nicht weit hergeweſen und aud heute ficherlich noch lange nicht das legte Wort geſprochen. In Amerika macht man feit einigen Jahren Berfuche mit Riefenlofomotiven, die das Vielfache unferer gewöhn⸗ lichen Schnellyuglofomotiven leiften follen. Die Umwandlung des Dampfbetriebes in elektrifchen bei Kleinbahnen ift bereit mehrfach „angebahnt”; das Neg von Dampf: wie eleftriihen Bahnen wird von Jahr zu Jahr dichter; der Pferdebahnbetrieb der Städte wird allgemach abgeichafft und im eleftrifchen umgeftaltet. Das find die Fortichritte der nächften Zukunft für die Beförderung von Menfchen und Laften auf Schienen wegen.

Aber in Preußen allein giebt es ſchon vierzehumal mehr Ortſchaften als Bahn: flationen, zu mehr als 50000 preußifchen Gemeinden führt noch fein Schienenweg, und dasfelbe Verhältnis dürfte in den andern deutſchen Ländern fein. ft es denkbar, daß im Laufe der Zeiten alle dieje kleinen und Eeinften Menfcenfiedelungen an das große Schienenneg einmal angeſchloſſen werben? Denkbar wohl, aber höchſt unwahr⸗ ſcheinlich. Und auch nicht nötig. Denn fchon ift das mechaniſche Fahrzeug da, das in allen den Fällen die tierische Zugkraft abzulöfen beflimmt ift, in denen eine Schienen= anlage nicht praftiich, weil nicht rentabel genug ift, oder fonft das Bedürfnis vorliegt, den Verkehr nicht an fefte Schienenmwege zu binden. Das ift das Automobil, der Selöftfahrer, der berufen ſcheint, einmal alle Arten von Zugvieh in den wohlverdienten Ruheſtand zu verfegen, das ftolge Rappenpaar vor dem Coupe auf Gummi und den leichtfüßigen Traber wie den fchweren Omnibusfriefen, die Ochfen und Kühe der länd⸗ lichen Gefpanne Wet: und Sübbeutichlands wie die Ejel und Hunde ber großftädtiichen Straßenhänbler.

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Die Idee des Automobils iſt, wenn man bon dem alten Römerkaiſer Commodus (180—192 n. Chr.) abſieht, in deſſen Nachlaß fein Nachfolger in der Regierung, der Soldatenkaifer Pertinar, laut Bericht eines alten Gefchichtsfchreibers, mehrere kunſtvoll konſtruierte mechaniiche, ohne irgendwelche Zugtiere fortzubeiwegende und fogar mit automatifchem Wegemeffer verſehene Wagen gefunden haben foll, ein Vierteljahrtaufend alt. Eine Nürnberger Chronik aus dem Jahre 1649 berichtet von einem von Hand Hautſch konſtruierten Kunſtwagen, „welcher in einer Stund 2000 Schritt geht, man tan fill halten, wann man wil, und ift doch alle von uhrwerd gemacht“. Er blieb eine Spielerei wie der hundert Jahre fpäter von dem berühmten franzöfifchen Erfinder Baucanfon dem König Ludwig XV. vorgeführte Uhrfederwagen. Der König hatte ſich von der Brauchbarkeit der Erfindung bereit3 überzeugen laſſen und trotz des Bebentens, daB das gewöhnliche Volk fie für ein Werk der Zauberei halten könnte, für feinen Wagenpark ein ähnliches Gefährt beftellt, aber die Zweifel der zopfigen Alademiker an der Verwendbarkeit dieſes Vehilels im Straßenverkehr von Paris haben ihn dann feine Beftellung wieder vergeſſen lajien und damit den Wunderwagen über: haupt. Erſt die Erfindung der Dampfmafchine hat die Idee des mechanifchen Fort: beivegens von Perfonen und Laften wieder aufleben lajlen. Und, wie nicht allgemein befannt fein dürfte, nicht etwa erft in der Form des Schienenwagens, fondern gerade in der des fchienenlofen. Der erſte felbftfahrende Wagen mit Dampfbetrieb war die von dem Franzoſen Cugnot 1769 erbaute Dampflaroffe, die freilich noch mit einem

Das Fahrzeug der Zukunft. 205

Paris und St. Germain verkehrte die 15 Kilometer betragende Strede wurde in anderthalb Stunden zurüdgelegt und feitdem bat man dort fetig, wenn auch mit Außerft langfamem Vorfchreiten an der Vervolllommnung dieſes Vehikels gearbeitet, trog der Eiſenbahnen. Und fo ift Frankreich dasjenige Land geivorden, dem ber moderne Automobilismus feine wefentliche Entwidlung verdankt. Aber auch Bier haben erft die allerlegten Jahre diejenigen DVerbefferungen gebracht, die ihm fo mit einem Schlage die Bedeutung als Beförberungsmittel der Zukunft zumeifen.

Dabei hat den größten Anteil an diefer überrafchenden Entwidlung nicht etiva der Wunfch gehabt, einen wirklich brauchbaren Erfag der als überlebt empfundenen tierifchen Motoren zu erhalten, fondern der bloße Sport. Im Grunde der Zweirad: fport. Als in den achtziger Jahren der Sport bed Bicyelefahrens in Aufnahme Fam, ahnte man nicht, daß ſchon ein Jahrzehnt fpäter dieſes ein allgemein gebrauchtes Beförberungdmittel, das Zweirad in Millionen von Händen fein twürde. Ziemlich gleichzeitig mit der Ausbildung des neuen Fahrſports gewann das Automobil dabei die Bebeutung eines Unterflügungsmittels, als Schrittmachermaichine, ſodann aber trat das Automobilfahren auch als eine befondere Abart und Ergänzung des Fahrradrenn⸗ ports auf. Deshalb Hat der Selbftfahrer feine wichtigften Vervolllommnungsmittel, wie etwa die elaftifhen Gummireifen, vom Zweirad ber; und in feinem Entwidlungs- gang hat noch bis vor ganz furzem die Renntüchtigfeit eine größere Rolle gefpielt als die praltifche Brauchbarkeit. Der franzöjifche Selbſtfahrerklub mit feinen aljährlichen Wettfahrten hat befonderd viel zur Ausbildung des Automobild beigetragen. Nachdem Sich ahnliche Klubs in England, Deutſchland, Defterreich, der Schweiz und Schweden gebilbet hatten, wurde am 30. September 1897 der mitteleuropäiiche Motorwagen⸗ verein gegründet. Die Leiftungsfähigfeit der Motoren in bezug auf Geſchwindigkeit ift infolge der Thätigkeit diefer Sportvereine in wenigen Jahren derart geftiegen, daß, während noch die Rennfahrten von 1895 und 96 eine Durchſchnittsgeſchwindigkeit von nur 24 bis 25 Nilometern pro Stunde erzielten, die von 1899 auf der Rennſtrecke Paris⸗Bordeaux auf 48 Kilometer flieg, ja ber ſchnellſte Wagen eine Stunde lang fogar die Geſchwindigleit von 60 Kilometern behielt.

Aber auch ſchon an den Wettfahrten zwiſchen Paris und Vordeaur 1895 nahmen, freilich noch ziemlich nebenſachlich, Gefährte teil, die bereit feinen Sport: zweden mehr, fondern ausgeſprochen praktiſchen Verkehrszwecken dienen wollten. So der von Bollde 1880 erbaute Dampfonnibus „La Nouvelle“, der durchaus mit Ehren aus dem Wettlampf mit den jüngeren Sportmaſchinen hervorging. Und 1896 bereits fanden im Maasdepartement umfaffende Verfuche mit einem Dampfftraßenwagen nach dem Syſtem Scotte ftatt, der es einzig und allein auf Verkehrätüchtigfeit abgefehen hatte. Es war ein fürmlicher Feiner Zug, der fi da auf den verfchiedenften Straßen des Departements verfuchte, beftehend aus einem 4170 Kilogramm ſchweren Motor: wagen, der außer ber Mafchine noch Pla für 14 Perfonen hatte, und einem 1500 Kilogramm ſchweren Anhängeivagen für weitere 24 Perfonen. Der Zug fuhr auf den ebenen Straßen mit einer Geſchwindigkeit von 15—16 Kilometer in der Stunde, bei Steigungen nur mit einer ſolchen von 5—6 Kilometer, bei ftarfem Gefälle dafür mit 18—20 Kilometer. Der Durchſchnitt betrug bei 628 Kilometer durch: laufener Wegfirede 12 Kilometer pro Stunde. Selbft auf fchlecht unterhaltenen, ſtaubigen Landftraßen, fowie auf neuen, friſch beicotterten und noch nicht gewalzten erzielte er noch eine Durchfehnittögeichtwindigfeit von 11,4 Kilometer pro Stunde,

Das Fahrzeug der Zukunft. 207

Demnäcft folgt Öfterreih mit der Einrichtung offizieller Selbftfahrerberbindungen: zwiſchen Meran und Trafoi foll ein Geſellſchaftswagen mit 15—18 Sit: und Steh: plägen verfehren, und zwiſchen Meran und Landed ift fogar ein Eilverkehr durch Poſtſelbſtfahret geplant, die zugleich die Briefbeförderung übernehmen follen.

So werben fi vielleicht wieder die feit dem Aufkommen der Eijenbahnen ver: einfamten Landſtraßen und mit ihnen bie entlegenen Fleden und ihre idylliſchen Gaft- böfe beleben wie zu Zeiten der guten, alten Poftkutfche. Und wo bdereinft das Horn des Schwager melodifh ertönte, da wird, weniger melodiſch freilih, in Zukunft das Signalhorn des Selbſtfahrers erfchallen, und mit ber Romantik wird es in dem mit 12—20 Kilometer Geſchwindigkeit bahineilenden Motoromnibus zwar nicht fo viel fein wie im traumeriſch ſchunkelnden Poflwagen mit den bebächtig trabenden Gäulen, aber immerhin noch mehr als im faufenden Schnellzug. Vielleicht erobert diefe neuefte Technik und doch noch ein Stüdchen jener Reifepoefie zurüd, die und einmal aus Lenaus „Poſtillon“ wie ein lang verichollenes, fühes Märchen angeweht hat:

„2iebli war die Maiennacht, Silberwoltlein flogen "

Weniger idylliſch if das Bild, das man von einer vorjährigen Automobil: ausftelung in Amerifa haben konnte. Da wurden nämlich Motorwagen vorgeführt, die mit Marimgefhigen und anderen Schnelfeuerfanonen montiert und mit einmaliger Benzinfülung im ftande waren, eine Strede von 70 Kilometern in drei Stunden zurüds zulegen. Und daß auch die deutſche Heeredleitung bie Wichtigkeit des Motorprinzips für Kriegszwecke zu würdigen weiß, zeigten bie legten großen Manöver, bei denen BVerfuche mit Motorwagen für den Transport ber Belagerungsartillerie in umfangreichem und anfcheinend völlig befriedigendem Maße angeflellt wurden. In England ift neuerdings ein 18pferbiger Benzinfelbfifahrer mit zwei Marimgefchügen und leichter Banzerung für militärifche Operationen in den Kolonien fonftruiert worden.

* * *

Bas nun das bewegende Prinzip der Selbftfahrer, den Motor felbft betrifft, fo werden Benzin, Petroleum, Gas-, Dampf: und eleftrifche Motoren angewendet. Am Alteften find, wie wir gefehen haben, und älter als felbft die Eifenbahnen, die Dampfmotoren. Die Dampffelbfifahrer, namentlich die nach Scottefhem, Le Blancſchem und Serpolletfhem Spftem, kommen befonder3 für das Großfuhrwert und ben öffentlichen Perfonenverfehr in Betracht. Regelmäßigkeit im Betriebe, Wegfall aller unliebfamen und unberechenbaren Betriebsftörungen zeichnet fie aus, und daher eignen fie fih für die Beförderung im Dienft der Poſt und Eifenbahn in erfter Reihe. Die meiften regelmäßigen Selbfifahrerlinien in Frantreih haben Dampfmotoren nad Scotteſchem Syſtem. Schon feit Anfang 1897 ift ein folder Scotteſcher Wagen in der Umgebung von Paris, zwiſchen Courbevoie und Colombes in Betrieb geweſen und bat in ben erften beiden Betriebsmonaten nicht weniger als 32 715 Reifende befördert. Die Gadmotoren find noch zu wenig bei fehienenlofem Betriebe in Anwendung gelommen. Um fo erfolgreicher Hat man fie bei Schienenbetrieb einzuführen begonnen; fo at die Deffauer Straßenbahn Leuchtgasmotoren, die da8 Gas in fomprimiertem Zuſtand mit fih führen.

Hondoner Spezialitäten.

Helene Tange.

Nadbrud verboten. nn

u. Eine Kochſchule für Zungen. "

18 ich noch fo jung und unverftändig war, daß ich mit meinen Diner-Herren auf die Frauenfrage einging, vielleicht fogar in der ftilen Hoffnung, eine Belehrung zu vollbringen, erlebte ich einmal bei einem fonft fehr fanften und korrekten jungen Mann einen ganz unvorfcriftsmäßig heftigen Gefühlsausbrug. Während bie gewöhnliche Reaktion ber deutſchen Sünglinge von damals in einem gewiſſen Zuden der Mundwinkel beftand, das die höflicheren durch ein Streichen der Stelle, wo der Schnurrbart faß oder doch eriwartet werden konnte, zu maskieren fuchten, fuhr biefer junge Mann wahrhaft entfegt von feinem Stuhl in die Höhe mit dem Ausruf: „Da wäre es ja die höchſte Zeit, daß unfere Jungen kochen ernten!” Augenfcheinlich erichien ihm das Kochen als die niedrigfte aller menſchlichen Beichäftigungen; vb er wohl in dem Augenblid daran dachte, daf fo viele feiner Tiſchgenoſſen faft ihr halbes Leben diefer Beichäftigung widmeten?

Das Heine Erlebnis kam mir wieder in den Sinn, als ich neulich eine lange Pilgerfahtt nach dem Außerfien Eaftend von London unternahm, zu der Kleinen board- school, „wo die Jungen kochen lernen”. Zwar bis zur „Bank von England” kam ich ſchnell mit Hilfe der neuften Londoner Einrichtung de3 „two penny-tube“, in dem eine eleftrifche Bahn mit unheimlicher Schnelligkeit und durch jo faubere Wände dahin: fauft, daß der Kenner der alten rauchigen „Underground“ beim Anblid der bligenden Radeln zunäcft ungläubig ſtillſteht. Bis zu Blackwall, Buw-Creek, Orchard Street, hatte der Führer bes Cabs, ein in London feltener Fall, fich vielfach zurecht zu fragen. In einer der Heinen, engen Straßen des Eastend fperrte eine Vollsmenge und was für eine unter mehrfachen kritiichen Bemerkungen über das Cab, den Weg. Sie erwarteten die Londoner Eüd-Afrifa:Volunteers, die unter einer Bededung von über hundert Schugleuten heranfamen. Das legte Stüd Wegs an der Themfe entlang zwiſchen den hohen Mauern der Dods machten wir in Begleitung einer Schar vergnüglich brülender Jungen: „A Cab! a Cab!“ Ihr Koftüm war dad der Dods und der Bow-Creek-Gegend. Bon ber uriprünglichen Hautfarbe fah man wenig, no weniger von dem urfprünglichen Schnitt und der Farbe der Kleider, die zum größten Teil Gebrauchsfranzen zeigten.

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Londoner Spezialitäten. 2311

2 Pfund Hammelnaden . . 7 Bence

2 Pfund Kartoffeln . . . . 1 Penny Y, Pfund Zwiebeln. . . . Yu 1 Pint fochendes Waller . . 0 im Ganzen . . 81, Pence = ca. 70 Pfennig.

Über Plan und Entftefung des Ganzen erfuhren wir dann noch folgendes: Eine Dame des School-board, Mı3. Homan, die Gelegenheit gehabt hatte, viel von dem Elend bes Eaflend zu fehen, war zuerft auf den Gebanten gekommen, daß aud bie Knaben kochen lernen müßten. Diele von ihnen gehen zur See und finden beſonders auf Meineren Segelſchiffen Unterkunft, deren Küche fich häufig in jämmerlichem Zuftande befindet. Andere gehen in bie Kolonien, two fie meift genötigt find, ihre eigenen Kachenchefs zu fpielen. Aber auch den armen Familienmüttern der Umgegend, bie gewöhnlich durch Sädenähen zum Unterhalt der Ihrigen beitragen müffen, fommt es zu gute, wenn nicht nur die Töchter, fondern auch die Söhne die Küche beforgen können. Und zwar fchon ganz Heine Burfchen. Der Unterricht wird natürlich unentgeltlih vom 12. bis zum 14. Jahr einmal wöchentlich erteilt.

Der Anfang war nicht leicht. Man Hatte Schwierigleiten, Jungen für das Experiment zu bekommen, und über die ganze Idee wurde zuerft gelacht. Aber in England lacht man über ſolche Dinge weniger lange als in Deutfchland. Man. probiert, und wenn man überzeugt ift, bietet man gern Hilfreiche Hand. So kam es auch hier. Man führte dem zweifelnden Autoritäten einmal ein richtiges sea-cooking vor, und bie Folge war, daß ber jegt feit anderthalb Jahren beftehende Kochunterricht der Knaben zu einer dauernden Einrichtung gemacht und die Errichtung weiterer Koch— ſchulen in an der Themfe gelegenen Diftriften befchloffen twurde. Wie weit fi) dad Unternehmen noch ausdehnen wird, ift noch gar nicht abzufehen. Ein Gefuch des School-board bei dem Erziehungstepartement, den Kochunterricht der Knaben in den Lehrplan der Gemeindefchulen aufzunehmen, wurde freilich abfchlägig beichieden.

Es ift mir nicht befannt, ob es bei uns etwa in den großen Seeftäbten Koch- ſchulen für angehende Echiffstäche giebt. Eine Einrichtung wie diefe ficherlich nicht. Ob nicht gerade eine ſolche Kochſchule für Jungen für Küften: und Fabrikviftrikte jehr am Platz wäre?

Auch die übrige Schule wurde uns dann gezeigt. Sie mußte allen Bebürfnifjen der zwifchen den Docks eingefprengten Bevölkerung Nechnung tragen und bot daher ein etwas buntes Bild. Das Äußere der Kinder in der Krippe und den drei aufs feigenden Klaſſen verriet das hier nicht durch lange Blouſen verhülte Elend dieſes Eaſtend⸗Winkels, von dem doc die Volksſchulen felbft der verrufenften Viertel unſerer deutſchen Großftädte nicht einen entfernten Begriff geben. Aber die Kinder fchienen gut gezogen zu fein; nicht etiva nur, weil die Mädchen jo hübſch nirten, indem fie zugleich ihre Fingeripigen auf die Schultern Iegten, und die Knaben in Ermangelung einer Mütze kraftig an ihrem Vorderhaar zogen, jondern fie machten auch einen freundlichen und zufriedenen Eindrud und folgten ihren Lehrerinnen aufs Wort. Was mich beſonders frappierte, war, daß die Klaſſen von unten auf fchon zweiftimmig fangen. Bon fieben- oder achtjährigen Kindern wurde ein englifches Lied nach der Melodie von Brahms’ „Guten Abend, gute Nacht” vollitändig rein zweiſtimmig a capella vorgetragen, gewiß ein Zeugnis für eine ſehr mufifalifche Lehrerin. Mrs.

14r

213

Ans Ser Kulturgeſchichte des „Kindes“.

Ernf Beilborn. Rahbrud verboten. men

Hr

ein Vater fcheint mir,“ fo heißt es

im „Dfterdingen” des Novalis, „bei aller feiner fühlen und durchaus feſten Denkungsart, die ihn alle Verhältnifie wie ein Stüd Metall und eine künftliche Arbeit anfehen läßt, doch unwillkurlich und ohne es felbft zu willen, eine ſtille Ehrfurcht und Gottesfurcht vor allen uns begreiflichen und höheren Erfcheinungen zu haben, und daher das Aufblühen eines Kindes mit demütiger Selbftverleugnung zu betrachten.” Altdeutſches Empfinden

B dem Kinde gegenüber wollen dieſe Zeilen

apft. eineh feit ca. 1470 thätigen Ronagrammifen. fpiegeln. Ein Gaft aus Himmelshöhen

(Sand Bocfdi, Rinderleben. kommt das Kind zur Erden bernieber,

Aehala 00. Gugen Dina) im Glanz feiner bewußtfeinslofen Augen

iſt noch ein Schimmer früher erfchauter Herrlichkeiten. Die frommen Eltern ahnen und ehren das Überirdiſche in ihm.

Anders zeichnet fich dies altbeutfche Empfinden dem Romantiker, anders dem hiſtoriſchen Forſcher, doch foll damit keineswegs gefagt fein, daß legterer immer die tiefere Wahrheit auf feiner Seite haben müſſe. Ad! auch das vergilbtefte Do— tument fann lügen, und öfter als es ſich die glüdlich naive Schulweisheit träumen läßt, ergeben neunundneunzig Einzelfälle, die man mit Händen greifen Tann, ein falfches Bild vom Hundert. Es lügt fogar man darf ed in unferer Zeit der ſozial⸗ „wiſſenſchaftlichen“ Kinderkrankheit nur nicht öffentlich fagen es lügt vor allem bie Statiſtik. Aller Eulturgefchichtlichen Forſchung aber haftet der doppelte Fluch des zu: fähig Zufammengelefenen und des zufällig Erhaltenen an. Und doch hat auch das Kennenlernen einzelner Züge feinen eigenen Reiz. Ich Hab’ ihn in ber Darftellung des Kinderlebens in der deutſchen Vergangenheit von Hans Boeſch!), dem Direktor des Germanifchen Mufeumd zu Nürnberg, reich empfunden. Die Friedensſtimmung, die die Worte des Romantikers weden, man findet fie nicht felten in Boeſch's „Kinder- leben” wieber.

m

© DIÄg

%) Hans Boeſch: Kinderleben in der deutſchen Vergangenheit. Mit 149 Abbildungen und Bei: lagen nach den Driginafen aus dem 15.—18. Jahrhundert. (Monographien zur beutihen Kultur: geſchichte.) Verlegt bei Eugen Diederichs in Leipzig 1900.

Aus der Kulturgeihichte ded „Rinde“. 217

worden, nebft Bronzefigürchen, die ben prähiftoriichen Kleinen als Spielzeug dienten. Nürnberg wurde fehr früh der Spielmarenplag. Schon um 1400 ift ein Dockenmacher Dit in ber lieben, alten Stabt urkundlich bezeugt. Den Mädchen bie Puppen, den Buben bie Soldaten und das Stedenpferd, das gleichfalls ein urzaltdeutfches Tier zu fein fich rühmen darf. Kaifer Marimilian I., der „legte Ritter,“ fpielte bereit3 als Knabe mit turnierenden Reitersleuten. Nürnberger Patrizier und Fürften ließen für ihre Kinder ganz naturgetreue Puppenhäufer bauen, die mit jedem Hausrat bis ins Meinfte verſehen waren und mitunter arg koſtbares Spielzeug (der Preis überftieg zuweilen 1000 Gulden) darflellten. Daneben vollftändige Jagden und die lieben Archen Noäh. Sogar an Affen, die gar kunſtreich auf einem Pferde tanzten, Hat e8 nicht gefehlt, wie ein Ulmer Holzſchnitt aus den Jahren 1470—1480 bezeugt. Kreifel, Reifen und Stelzen find alt» ehrwürbige Gefellen. Friedrich der Große dann ſcheint das Verdienſt erworben zu haben, dem „altuellen” Spielzeug auf die Welt verholfen zu haben. Seinerzeit thaten's bie „Soldaten“ nicht mehr es mußten Zieten-Huſaren und Seidlitz-Küraſſiere fein. Und zur Zeit Napoleons gab es Ausfchneidebögen —, Napoleons eigene Hochzeit wurde von den Kindern „ausgeichnitten“.

Weifer Ben Aliba! Der Lurus auch ift immer ſchon dageweien. Aber trogdem ich die Kapuzinaden altdeuticher Schriftfteller gegen den Alamodeteufel und andere Hölifche Gefellen wohl gelefen, Ierne ich doch recht eigentlich erft von Hans Boeſch, wie verbreitet und wie ſtark der Lurus geweſen. Namentlich die Tauffeierlichfeiten fcheinen ſchon von früh am Gelegenheit zu weitgehender Verſchwendung geweſen zu fein. Es war ein foftfpieliges Vergnügen, zum Paten gebeten zu werden. Im Jahre 1631 wird aus der Grafichaft Wertheim berichtet, „daß fromme Herzen, fo zu Gevattern erbeten werden, anftatt daß fie fich deffen als eines chriftlichen Ehrenwerfes billig zu erfreuen Hätten, dagegen zum öfteren entjegen müſſen.“ In ber guten Stadt Nürnberg datieren die erften, ſcharfen Verordnungen gegen dies Taufunweſen ſchon aus dem 14. Jahrhundert ihre ftete Wiederkehr beweiſt, wie wenig fie gefruchtet haben. Im Anfang des 17. Jahrhunderts waren troß gegenteiliger Verfügungen die Kirchentaufen zu Gunften der Haustaufen fo abgelommen, daß es Aufichen erregte, als der erſte Prediger an St. Lorenzen 1698 fein Kind in der Kirche taufen ließ. Und Wimpfeling ſchrieb: „Ich kenne Bauern, die bei der Hochzeit von Söhnen ober Töchtern oder bei Kindtaufen foviel Aufwand machen, daß man dafür ein Haus und ein Adergütchen nebft einigen Heinen Weinbergen kaufen könnte.” Es bürfte wirklich ſchwer Halten, die „gute, alte Zeit“, die Zeit fchlichter Lebensführung und einfältiger Frömmigkeit, chronologifch zu beftimmen.

Auch mit der Strenge der Kinderzucht fcheint es nicht gar fo weit hergeweſen zu fein. Die vielen Mahnungen dazu fprechen dagegen. Man pflegt nicht das zu predigen, was man bat. Ein alter Vers aus dem 17. Jahrhundert, der die Pflichten der Kinder aufzählt, fchließt mit der Klage: „Aber adj! verkehrte Zeit, da bey ber jo großen Jugend, leider anzutreffen ift Heine, ja jchier feine Tugend!” Bekannt find Lutherd Mahnungen zu firenger Zucht. Der Gedanke, daß die Erbfünde in den Kleinen mächtig fei, fcheint ihn wor anderem dazu beftimmt zu haben. Dod) fand der ſchroffe Mann das fchöne Wort, daß der Apfel neben der Rute liegen müjje. Doch ift ein Brief des fchroffen Mannes an fein vierjähriges Söhnen Hans erhalten, der rührend von feinem weichen Gemüt und feiner Vaterzärtlichkeit Zeugnis ablegt. Draftifche Vorftellungen verfehrter Kinderzucht fehlten in der Reformationzzeit natürlich

Aus der ulturgeſchichte des „Rindes“. 219

Zu Heiratszweden oder teftamentarifch wurden ihnen Summen ausgeſetzt. Schroffe Bandlung ſolcher Zuftände brachte erft die Reformation. Nun wurde den armen Unehelichen ber Eintritt in die Innungen verfagt. Eine Augsburger Hebammens orbnung aus dem Jahre 1750 fehreibt den Hebammen vor, den Namen bed Vaters aus der Mutter herauszupreſſen, widrigenfalls fie nicht Hand anlegen dürften. Doc gab es im 14. Jahrhundert bereit3 Findelhäufer in Ulm, in Freiburg und Nürnberg. Diefem Beifpiel folgten dann andere Städte. In Tirol geftattete ein Dechant ben unehelichen Kindern nur altteftamentarifche Namen; ein andrer taufte fie alle „Daniel“, vielleicht in weifer Vorausficht, daß e3 ihnen an der Löwengrube nicht fehlen würde.

Die Findelinder zogen zu Zeiten durch die Straßen ber Stabt, Gaben fih zu erbitten. Nicht fo ganz fchlecht mögen fie dabei gefahren fein. Es war nod nicht die Zeit, in ber die foziale Weisheit betete: Lieber Staat, ich bitte dich, füttere mic) und meinen armen Bruder ſanftiglich. Selbft zu helfen galt höher. So ward 1484 eine Stiftung in Nürnberg errichtet, Fraft deren die Findlinge Unterricht im Lefen und Schreiben erhielten erft 1756 kam das Rechnen hinzu. Armenfchulen deren es in Danzig in jedem Kitchfpiel eine gab beftanden gleichfals durch öffentliche Mild- thätigkeit. Durch Singen bei den Beerbigungen auch erwarben fich die Kleinen Geld. Aus dem Jahre 1639 ift ein Kupfer erhalten: ein ftattliche® Haus auf ſtädtiſchem Plage ftellt e8 dar; auf der Straße ein langer Zug von Kindern. Unter dem Bilde aber ftehen die Worte: „Anno 1639 bat die berühmte Wohlthäterin Frau Elifabetha Kraußin unter andern gefliftet, daß man die Findeltinder jährlich in ihren Wohnhaufe auf St. Johanis Tage fpeilen, ihnen Geſottnes und Gebratned und jeden eine Bratwurft, ein Seidl Meth, Bier und Wein und einen Rofenfranz geben muß“. Das war zu Zeiten’ des breißigjährigen Krieges. Wie ein Gruß klingt das Lob werkthätiger Frauengüte aus biefer kriegverrohten Zeit.

Der berühmten Wohlthäterin aber zum Trog ſah man im Mittelalter bis fpät in bie Neuzeit Hinein, die Geburt von Knaben als etwas Erfreuliches, die von Mädchen als etwas erheblich weniger Erfreuliches an. In manchen Gemeinden erhielt die Wöchnerin eine Lieferung Holz und zwar, hatte fie einen Knaben zur Welt gebracht, doppelt ſoviel ala bei einem Mädchen. Der Aberglaube raunte: ein Mädchen als Erft: geborenes bedeutet fpäteren Zanf. Und Luftig fehreibt Abraham a Santa Clara: „Herr Zobocus! Mein lieber Herr Jodocus! neue Zeitung! neue Zeitung! Eypogtaufend! nur geſchwind den Mantel, um zum Gevattern bitten: Der Herr ift Heut mit einem hergigen, fchergigen, fchönen, ftarfen, gefunden, anmuthigen Zeibeserben erfreut worden; es erfreuet fich hierüber und gratulirt das gange Haus, ja die gange Nachbarichaft; nur geihtwind 30 Gulden auf bad Kindsmahl! He! Juchheh! Der Herr Jodocus hat einen Sohn überkommen ... Alfo ſchreyen und froloden die eitle Menſchen, wenn ein Knab zur Welt gebohren wird... wird aber ein Mägdlein gebohren, fo ift alle Freude verlohren, gleich wäre ſich nicht ſowohl über ihre Geburth zu erfreuen als über die Geburt eines Knäbleins.“

Für folchen unfreundlihen Empfang zu Beginn des Erdenwallens wurden bie Heinen Mädchen aber bald entihädigt: Metlinger empfahl, eine Tochter wärmer zu baben ala einen Sohn.

Einfamteit.

in die Wolfen und das Blättergewirr. Ohne ein Bud, nur träumend, vegetierend, bie Natur einfaugend.

Lifa lad während dem. Sie belam regel: mäßig bie neueften Bücherfendungen von ihrem Buchhändler. Sie intereffierte fih für die Fortſchritte von allen Kollegen Ernfts, die fie zum größten Teil perſönlich kannte. Und wenn fie etwas fehr Gutes las, hatte fie zu= erft feine reine Freude daran, fondern ein böfes, pridelndes Gefühl, das ihr den Atem benahm. Sie hatte das früher, ala Ernſt noch arbeitete, ihr davon erzählte und fertiges vorlas, nie gefannt. Jetzt ſprach er gar nicht mehr davon, als fei das mit einemmal ab» geſchnitten. Sein Schreibtiſch ftand unberührt, er faß nie daran. Die Briefe von Zeit⸗ ſchriften und Verlegen warf er achſelzucend zur Seite,

Sie hätte nur gewünſcht, daß er fein Drama beendete, dies Stüd, das doch wahre Kraft und Leidenfhaft in fih trug. Es war bie Tragödie einer reihen Künftlernatur, die an einem befabenten Weibe zu Grunde ging. Emft hatte ihr den Inhalt einmal in kurzen Zügen ffigziert, felbft von der Glut feiner Erfindung erfaßt. Nun follte es liegen bleiben und vergefjen werben, während andre Eeicht: linge Lorbeeren ernteten und durch angeftrengte Arbeit wirklich etwas erreichten. Daß man einen Menſchen nicht zu feinem Beften zwingen tonnte, daß er bartnädig mit verbundenen Augen den falfchen Weg zu Ende lief! Wäre Ernft in Berlin geweſen, fein Stüd wäre Tange beendet geivefen.

Ernft merkte, daß die kleine Hand, bie fo lange in ber feinen geruht, ihm entglitten mar, aber er merkte es halb wie im Traum. Er konnte ja immer noch ftehen bleiben und rufen, es war ja nicht möglid, daß bie Ent: fernung ganz trennend wurde. Und jet war er wirklich fehr in Anfprud genommen, ganz tiefinnerlih beſchäftigt. Tauſend wogende Träume gärten in ihm und rangen nad Geftaltung. Er arbeitete auf feinen Spazier: gängen mie fonft am Echreibtii und mar deshalb Fieber mit fih allein. Aber dieſe Arbeit war fruchtloſer. Er fühlte reichere Möglichkeiten in fi als je zuvor, aber fie zerronnen ihm alle, ehe er fie prägen konnte.

Und er ließ fie zerrinnen, teil neues nach⸗ drängte, ihn überftrömte. '

Es mar herrlih, jo mit rhythmifchen Schritten zu wandern, um fi den Frieden des Waldes, den Duft der Ferne, um ſich das immer lebendige Sein und Streben von taufend tinzigen Wefen. Auch mit den Land» leuten fam er bei diefen weiten Partieen ein wenig in Berührung, fehrte hier und da in ein Bauernhaus ein, fi) erquiden zu lafien. Er gewann einen Blid für ihre Welt, Ver- ſtändnis für ihre Art. Er fah viel Gutes, viel Schlimmes, aber es gab fi) alles natür: licher, harmlofer, greifbarer. Auch die Guts- befiger, bei denen fie pflichtſchuldige Beſuche gemadt hatten, waren einfah, offen. Ein bißchen lärmend, aber gar nicht ohne ſtarkes Innenleben, etwas ſchlichter vielleicht, weniger reflektiert, dafür urfprünglicher, erquidlicher als Großftabtmenfchen.

Übrigens famen fie nicht viel miteinander in Berührung. Ernſt brauchte und liebte eine ihm holde Einförmigfeit des Dafeind. Jeder Wechſel ftörte ihn, jeder Zwang war ihm läſtig. In Berlin kannten fie ihn gut, er hatte kommen und gehen dürfen, wie er mochte, und feiner hatte e8 ihm übel genommen. fa Hatte dann den lebendigen, immer feflelnden Mittelpunft für die Leute gebilbet, denen fie viel war, ba alles in ihrem empfänglichen Gemüt Anklang fand. Mit den Menſchen hier wußte fie nicht viel anzu= fangen. Es war nun einmal nicht ihre Art. Selbſt der ehrliche Baumann fiel ihr auf die Dauer auf die Nerven, und fie zog ſich zurüd, wenn er fam.

Und ihm jelbft boten fie auch nicht viel. Beim Himmel, er ſprach lieber mit Lorenz ober einem von ben andern Knechten, er ruhte lieber im Wald und fah auf das Spiel der Fliegen, Libellen und Echmetterlinge. Bor allem, er träumte lieber und kämpfte an ber großen Ummandlung, die fih, faft unabhängig von ihm, in ihm felbft vollzog, an feiner großen Heimkehr zu fi, zu feiner Gottheit. Das war ihm wichtig, das war ihm Leben, nur bad. Er fühlte jetzt erft, wie jung er war, wie unreif er Mannesworte geſprochen, die er nicht durchlebt; wie er lebendiges, unfaßbares, überftrömendes Sein in Schablonen

Einfamteit.

„Ich bin mit ihm groß geworben,” war ihre Antwort. „Mein Bruder, ber viel älter war als ich, kannte nichts Höhered. In allem und allem fam er auf ihn zurüd. Da lernte ich ihn denn lieben.”

Ernft nidte. „Der war ganz, voll, jet, Mar. Sie können fein beſſeres Map für alles Menſchliche haben als ihn.”

„Richt wahr?” rief fie eifrig. „Und fo viele, bie ihm nicht kennen, laſſen ihn grade als Menſchen nicht gelten. Was kann uns denn ein Dichter fein, wenn er nicht auch ein ganzer Menſch it?”

Sie waren, während fie fprachen, langſam ins Gehen geraten. Der Hund, von ber Hige müde gemacht, trottete läffig nebenher. Jetzt blieb Ernft ftehen. Died alles war ihm fo ganz Herzensſache.

„Woher wiſſen Cie das, Kind?” fragte er, ohne daran zu benfen, daß er fie faum fannte. „Wie feltiam, daß Sie das denken und ausſprechen, was ich jeßt lebe.“

Cie mußte wieder nicht recht, mas fie erwidern follte und ſah ihm nur freundlich und teilnehmend an.

„Mein großes Werk, das id in dieſer Stille ausarbeiten will,” fagte er mit ernftem

Lächeln, „bin ich felbft. Verftehen Sie das |

wohl?“

Sie nidte leicht und ſah nadbentlih aus. | „Das vornehmfte Geheimnis in Goethe,” |

fuhr er fort, „war, daß er feine Seile fchrieb, die er nicht erlebt hatte, im innerlichſten Zinn genommen. Aber wie zerfplittert find bie Gefühlen in dem zerrifjenen, modernen Leben. Ich will hier wieder ganz werben, mid) felbjt fühlen lernen. Schidjal Sie bedachte, als es Sie auf dem Lande groß werben ließ?”

„Woher wiſſen Cie denn, daß das ber Fall war?” fragte fie mit leifem Lächeln.

Er warf ihr einen prüfenden Blick zu.

„Sole Menſchen habe ih in der Stadt

nie getroffen,” fagte er fur. Es mar eine Hulbigung. „Sie haben recht,“ fagte fie nun.

bin glüdlih genug darüber. Mein Vater ift Dberförfter,” fette fie erläuternd hinzu. „Herr von Bartels?” fragte er überrafcht.

Ahnen Sie, wie reih das ,

„Ich lenne kaum etwas andres als den Wald und !

28

„Meine Frau und ich haben vor einigen Tagen unfern Antrittsbeſuch bei Ihnen gemacht.”

„Ih weiß,” fagte fie, „und wir wollten ihn in diefen Tagen erwidern.“

„Dann beißt es alfo auf Wieberfehen,” fagte er herzlich und ftredte ihr die Hand hin. „Ich freue mich, daß meine Frau Sie kennen lernen wird. Sie fühlt fi bier einfam und hat noch nicht recht einen Menfchen gefunden.”

„a, wir Landleute kommen Ctädtern immer etwas barbariſch vor,” fagte das junge Mädchen lachend und erwiderte fräftig feinen Händedrud. „Auf Wiederſehen, Herr Stein.”

Er ſah ihr nad. Sie ging gelaflen, die Glockenblumen in der Hand mwiegend. Yhre Träftige, wohlgewachſene Geftalt paßte in ven Wald. Lila war viel zierliher. Er hätte nod lange mit ihr reben mögen, ihr vieles fagen, „vielleicht, weil all dies, das ihm noch ein Neues, Angeftauntes war, in ihr fo ſelbſt⸗ verftändlic, natürlich gelebt, feinen Ausprud fand. Ein fhöner, graber Menſch, gut, einfach, wahr. Eine rechte Herzensfreude gegen bie Grofftabtmenihen, ein Weſen, das ſich behaupten konnte, felbft Irma gegenüber. Denn Irma war immerhin ein Schatz und eine Köſtlichleit, an die er gern dachte.

Er ſchlenderte langſam zurüd. Etwas trivial und deutlich war der Schluß nach dem poetiſchen Anfang geweſen. Und doch, es nahm dem Zauber nichts. Sie war feine

! mondfüchtige Waldpringeffin, die geheimnie-

volles Tunfel um fih brauchte. Plötzlich lachte er laut und unwillkürlich. Es mar eine feltfame Idee, fi einfam in den Wald zu fegen und dort mit lauter Stimme Goethe zu leſen. Er fam gerade an dem Platz vorbei. Da lag nod eine von den Glodenblumen.

; Die hob er auf und nahm fie mit.

Der Vormittag mar weit borgefchritten, ald er nad Haufe kam. Das Etüd vom Walde her über das Feld war wie ein Gang durd Glut. AN die weißen Wolfen blendeten ihn, daß feine Augen ſchmerzten. Er mar erſchöpft. Lifa faß mit breittandigem Stroh: but und in hellem, leihtem Sommertleit, das die Arme bis zum Ellbogen frei ließ, auf der Veranda und fernte Echoten aus. Er legte fi bequem in einen Stuhl und fah auf die zierlichen, bebenden Finger.

Einfamteit.

den Flur betrat, hörte er aus dem Wohn⸗ zimmer Stimmengeräufc fallen. Raſch trat er ein, unb das Erfte, was er erblidte, war fein Waldfräulein, die ihm lächelnd entgegen: blidte. Die ganze Überförftersfamilie war verfammelt. Die Eltern hatten fie bei ihrem Beſuch ſchon kennen gelernt; außer Freda, fo hieß ſeine junge Freundin, war noch eine andre Tochter anweſend, die weniger Eigen: art, weniger Perfönlichkeit hatte, wie es Ernft fchien.

„Das ift lieb von Ihnen,” fagte er ver gnugt und drüdte Fredas Hand. Dann fügte er vorwurjsvoll hinzu: „Aber draußen hält der Wagen.”

„Oh,“ rief Liſa munter. einen Eieg erfohten. Die Herrihaften find fo liebenswürbig und bleiben zum Kaffee.”

„Wer fol auch fold einer lieben Ein- labung wiederſtehen,“ meinte Frau von Bartels lãchelnd.

Ernſt eilte hinaus, um den Kutſcher aus⸗ ſpannen zu laſſen. Als er wiederkehrte, nahm er ſeinen Platz neben Freda. Die ſah ſich mit bewundernden Augen im Zimmer um, das durch Liſas Bemühungen ſoviel beſondere und intime Schönheiten aufwies.

„Ich babe ſchon

„Daran haben Sie keinen Anteil,” jagte '

fie lãchelnd. „Dem allen merkt man Frauen: band an.”

„In biefem Fall haben Sie recht,” ant: wortete Ernft, „und doch hätten Sie fih

gründlich irren können. Sie follten nur unſere

Berliner Künftler ſehen, mit welcher Feinbeit und Berechnung die jebes Fältchen legen, jede Vaſe abtönen, jeve Blume biegen. Sie würden

niemalö glauben, daß plumpe Männerhänte

das vermögen.”

Sie fab auf feine ſchlanke, überzarte Hand und lächelte ein wenig.

„Ich liebe viel Licht und viel Blumen,“ Tagte fie.

„Das fieht man Jhnen an,” erwiberte er einfach.

Die Unterhaltung blieb munter und ans geregt. Herr une Frau von Bartels maren früber viel gereift, hatten viel geſeben und viel verftanden. Ibre Töchter waren mit den Erzählungen, Bildern und Erinnerungen an all vie Schönheiten groß geworden. Zie

225

fühlten fid) vertraut mit taufend Dingen, bie fie nie gefehen und bie nun wirklich fennen zu lernen fie auch feinen fonberlihen Drang fpürten. Es diente ihnen nur dazu, in ihrer Einfamteit ſich einen Begriff von Größe zu ſchaffen, der ihre jungen Seelen weitete.

Lifa wurde ganz warm bei all den Dingen, die zur Sprache kamen, fie hatte lange feine ſolche Gelegenheit gehabt, ſich gehörig auszu⸗ plaudern. Ihr Geift fprühte und bligte, ihr Verſtändnis mar ſchnell und überraſchend. Freda, die gar nichts Geiſtreiches hatte, nur eine ruhige, natürlihe Klugheit, ſah ganz ehrfürchtig zu ihr auf.

„Sie müfjen fih doch hier recht einfam fühlen,” fagte fie. „Wer fo viel Intereſſen Hat.“

Liſa war einen Augenblid überraſcht, dies

ı einfache Berftändnis, das Ernſt fo völlig zu

fehlen fchien, bei dem fremden Mädchen zu finden.

„Ich helſe mir, fo gut ih kann,“ erwiderte fie, „lefe viel, fchreibe viel Briefe und hoffe auf den Winter.”

Ten gebenfen Sie alfo wieder in Berlin zuzubringen?“

„Ja,“ ſagte Life.

Ernſt, der gerade mit Herrn von Bartels über Jagd ſprach, hatte doch mit halbem Chr bingebört.

„Es wird noch ſchreckliche Kämpfe geben,” fagte er lächeln. „Ich will nämlid Bier: bleiben.“

Einen Augenblid kreuzten ſich beider Blide wie Alingen, und Ernjt wurde jtugig über bie barte Kälte in Lifas Augen. Ein fröjtelndes Gerühl ihlih ihm am Herzen empor und machte ihn veritimmt. Cr ſaß ſchweigſam, abweſend, unfähig, fid in das leichte Geplauder einzumifchen.

Nachdem ter Kaffee gerrunfen war, ſchlug Liſa einen Gang durch den Garten vor. Herr von Bartels, ter ein lebhaites Intereſſe für Landwirrihait hatte, bat aber eifrig um einen Rundgang turb ten Hof, und ta auch die Tamen Verſtändnis für erde und Ztälle keiaßen und Freude daran hatten, wandte man ine Schritte ven Zirrihaitsgebäuden zu.

Schon von meitem trang lautes, ſchimpfen⸗ tes Schreien an ihr Ihr. Ernſt jtieg eine

15

Einfamteit.

entlaffe ih natürlih. Schiden Sie ihn aber zu mir. Ich will fehen, was fih für ibn thun läßt. daran. er herzlicher fort, „will ich bier nicht mehr als Schmaroger figen. nehmen Sie mid in Ihre Schulung, damit ih doch etwas aus und ein weiß. Das erbitte ih als Freundſchaftsdienſt von Ihnen.”

Der Inſpeltor ſchnitt im ftillen über dieſe neue Mühe eine gewaltige Grimaſſe. Es regiert ſich immer befjer, wenn bie Zügel in einer Hand liegen. Aber was fonnte er thun?

Als Ernſt Lifa feinen Plan auseinander: fette, ftieß er auf fein Entgegenfommen. Cie bielt ihren blonden Kopf geſenlt und trommelte mit den fhmalen Fingern an der Etuhllehne auf und nieder. Als er mit feinem Vorſchlag tam, daß auch fie an ben wirtſchaftlichen Sorgen teilnehmen, den Gemüfegarten, bie Milchtammer als ihr Gebiet betrachten follte, fab fie nur mit ſchnellem, ſpöttiſchem Lächeln auf. Dann füttelte fie den Kopf und fagte:

nGieb dir feine Mühe. Ich bin nicht der Menſch, für den du mich hältft. Die Zeit, die ich bier zugebracht habe, ift mir eine tief- verhaßte geivejen. gemerkt haft. Ich habe nur in dem Gebanten

Wir haben alle unfern Teil Schuld | Und dann, lieber Baumann,“ fuhr '

Von morgen an, |

Ich weiß nicht, ob du es | ziehen magft ober nicht.

gelebt, daß aud wieder einmal meine Zeit ; lommen würde, daß du mich in Verhältniſſe

zurüdführft, von denen du meißt, daß fie mir Lebensbedingung find. Du bift der Stärfere.

Ich habe es jaft für deine Pflicht gehalten. ,

Es fcheint, daß ich mich geirrt habe.”

Fragend blidte fie ihn an. Ihr hübſches, zierliches Geſicht hatte in feinem Ernft einen wunderlichen Ausbrud, ber ihm ganz fremb berührte. Er fühlte, daß fie hier in einer Lebensfrage aneinandergerieten.

„Wir müflen uns verftändigen, Liſa,“ fagte er ernft und ruhig. „Für mich ift das Zurüdgehen nad Berlin der Tod. Magſt du es nicht verfuchen, bir die Mühe zu geben,

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du immer lefen und leſen? Du weißt nicht, mie verzweifelt mich das oft macht.”

Ihre Augen fahen feft und gelafien zu ihm hin.

na, wenn zwei Wege jo auseinander führen,” fagte fie mit herber Stimme; „dann giebt es wohl nur noch eins: Scheidung.”

Er lächelte faft.

„Ih wußte all die Thorheit im voraus,” fagte er mil. „Glaubft du wirklich, daß das genügt, zwei Menfchen auseinander zu reißen, die ſich lieb haben?”

„Die ſich lieb haben,” wiederholte Lifa.

Sie ftand auf und ging an das Fenfter, wandte ihm den Rüden zu, um nicht feine

; ftillen Augen auf ſich gerichtet zu fühlen.

Hatte fie ihn noch lieb? Konnte man fo viel Bitterleit, Empörung gegen bie ſichere Berfönlichkeit eines Menfchen fühlen, den man liebte? Fügt man fih da nicht gern? Ceit Tagen und Wochen fchrie alles in ihr, wie unter den Fußtritten eines Gehaßten, weil fie ihre Wunſche, ihre Perfönlichkeit ihm opfern follte, weil er died Opfer wie etwas Selbſt⸗ verftänbliches erwartete, forberie.

Sie wandte fi um. „Im Grunde bleibt es doch dasſelbe,“ fagte fie mit rauher Stimme. „Ich fol nachgeben, nachgeben, nachgeben; binleben, wie es eben geht, und auf beine Gnade warten, ob bu mich in dein Leben Ich bin es dir ja gar nicht einmal wert, daß du mit mir rebeft.“

Eie fhüttelte haftig den Kopf, die Stimme verfagte ihr, fie eilte zur Thür hinaus, che er daran benten konnte, fie zurüdzuhalten.

Müde blidte er nah draußen in all bie warme Sommerfeir. In früheren Jahren waren fie um biefe Zeit in irgend einem Babeort geweſen. Das mar immer fold ein eiliged Durchtoſten, fold ein haftiges Sichzu⸗ eigenmachen geivefen, dahinter hatten in feiner Phantafie immer die glühenden Straßen von Berlin gebroht. Einen ähnlichen Frieden wie diefen hatte er nie geſpürt. Und ben follte er nun opfern, um Launen zu bejriebigen? Ahnte Lija gar nicht, wie raffiniert graufam

mir zu Siebe did bier einzuleben, durch fie mar? Aber in diefem Fall wollte er nicht

Thätigleit ein Intereſſe an diefem Leben zu finden? Empfindeft du denn gar nicht das unmittelbare Sein um bid herum?

nachgeben, er konnte und durfte es nicht. Er nahm feinen Hut und ging hinaus,

Mußt ! um ein wenig ins Gleichgewicht zu kommen.

15*

228

In vielem hatte fie ja recht. Der Wechſel war für fie, die von Kind auf an ein gejelliges Leben gewöhnt war, ein zu jäber geweſen. Sie entbehrte zu ſehr diefe Anregung von außen. Sie brauchte Menfchen, und er brauchte feine. Sta, feine Natur verlangte nad) einer Einfanteit, die einfach Feine Störung vertrug, ſelbſt nicht von den liebften Menſchen, die doch immer ein Außen, ein Fremdes bleiben. Oder war es möglich, daß eine Ceele in Schweigen und Berftehen neben einem ſchritt, mit einem duldete, immer zur Seite, wenn man fein Auge hinwandte, mit urfprünglicher, Findlicher Meisheit einen fühlend und erratend?

Da war er wieder bei ſich jelbft angelangt, und er wollte doch an Lila denken und ihr helfen. Wenn zmei nicht weiter willen, ruft man den dritten zu Hilfe, und er fannte einen, ber ein guter Freund und Helfer war: Schwartz. Warum batte er an ihn nicht fehon früher gedacht, ihn gebeten zu fommen? Cr ging noch einmal zurüd und fehrieb ihm in Eile ein paar herzliche Worte. Ihm mwürbe er ja jet und bier auch nicht viel fein, aber es gab ihm ein gutes, ftille8 Gefühl, daß er Liſa eine Freude machen konnte.

Dann endlich ging er wieder hinaus, um mit erleichtertem Herzen den berrlichen Abend zu genießen. Er war mit all feinen Gebanfen fo in Berlin geweſen, daß ihm nun die Schönheit und Stille der fanft welligen Land— Schaft wie ein ganz Neues entgegendrängte. Der Himmel war unendlih Kar, die Sonne ftand als ftrahlende, fegnende, unnahbare Gottheit in ungetrübter Reinheit an der lichten Bläue. Jeder Naturglaube ward bier verftänblih.. Um biefer kleinen Erbe willen ftiegen all die ewigen Geſtirne am Himmel auf und nieder und dienten ihren Bewohnern zu Troft und Leuchte.

Auf den fanften Erhöhungen Jah er Menſchen fchreiten, Frauen aus dem Dorf, Haufierer mit ihren Bündeln, aber fie erfchienen in dem langfamen, gelajjenen Borwärtömallen, wie er fie fo von meiten ſah, edel, dem Boden angehörig, ihr Reich durchichreitend. Auch ihre Stimmen flangen melodiſch durch die reine Abendluft. Hie und da fuhr ein Haſe auf und jagte pfeilgefchwind einen Aderftreifen hinauf.

Einfamteit.

Emft ging dem Walde zu. Er wollte zu den Oberförſters. Liſa Hatte gemeint, er müſſe fich bei ihnen noch einmal entfchuldigen. ALS er fich nach ziemlich Tangfamem Schlendern ihrem Haufe näherte, tünte ihm Klavierfpiel entgegen. Fenſter und Thüren waren nad dem Garten geöffnet, eine dunkle, leiden- Ihaftlid traurige Mufif ftrömte dur die weiche LZufi. In dem bämmerigen Zimmer ſah er nur ein paar belle Geftalten, die fich faum beivegten. Er war aber bemerkt worden, und Freda fam ihm entgegen. Sie begrüßte ihn heiter und ging neben ihm in das Zimmer zurüd. Frau von Bartels nidte ihm aus ihrem Stuhl lächelnd zu, winkte ihm aber, nit durh Begrüßung den Zauber vieler Muſik zu ftören. Es waren noch ein paar fremde Damen anweſend, die Epielende war Fredas Schwelter.

Ernft lehnte fich gegen das Fenſter und batte ein trauliches Gefühl, wie er fo ein- gefügt ward, wie irgend ein Zangbefannter und Zugehörige. Freda, im bellen, lichten Kleid, mar lautlos an das Klavier zurüd- getreten. Draußen ging der Gärtner mit einer riefigen Gießkanne und tränfte bie durftigen Blumenbeete, der Hauch von biefer feuchten Friſche wehte ind immer.

„Hier werden die aufrichtigen, graben, unbefümmerten Menfchen,” dachte Ernit ſehn⸗ füchtig.

Als das Spiel beendet war, begrüßte er die Damen und blieb ein Weilchen zu harm⸗ [ofem Geplauder. Man wollte ihn zum Abenb da behalten, aber er mochte Liſas wegen nicht bleiben. Er verjpradh, bald mit ihr wieder—⸗ zufommen. , Dann ging er nad Haufe. 3 war faſt dunkel, die Sterne leucdhteten fchon, am Waldesrand hufchten die Fledermäuſe lautlos dur die graue Dämmerluft. Lila hatte ſchon gegeilen, als er fam. Er ging mit etwas zaghaften Empfinden zu ihr und ſah fie an.

„sh habe Schwartz eingeladen,” fagte er und jtredte ihr feine Hand hin.

Sie ſah auf und verfuchte zu lächeln. Ihre Augenlider waren gerötet.

„Das ift lieb von dir,” fagte fie, Teile

nidend. * *

Einfamteit.

Doktor Ehmwark kam ſchon nad einigen :

Tagen und brachte in feiner ganzen Art und

Weile des Seins gleihfam halb Berlin mit ,

fi. Erſtens hatte er endlos zu berichten, und Liſa konnte nicht genug hören.

Der junge Bergen hatte Berlin verlafjen und war auf Reifen in Stalien und Gricchen- land. Schwartz mit feinem äſthetiſchen Gebahren lächelte eiwas vornehm bei dem Gedanken, wie der vierfchrötige, derbe Künftler feine ungefchidte Perfönlichleit an all dem Schönen vorbeifchieben würde, mit dem rüdfihtölofen Blick unter den bufchigen Brauen alles wertend und mejjend. Aber er konnte ihm, num wo er fern tar, eine betoundernbe Anerfennung body nicht verfagen. Irma war, nah feinen Erzählungen zu fliegen, noch ein wenig gleichgiltiger und

noch ein wenig liebliher geworben, auf ihre h hatte ein Gefühl, als lebte er viel intenfiver

eigne Art an dem Lebensrätfel herumgrübelnd und in inbifcher Beſchaulichleit auf jedes Wirken nah außen in die trügerifche Welt der Dinge verzichtend.

Aber Strom war der große Mann, ja, er war ber Held bes Tages, ein Mittelpunkt jebeö Kreiſes, in dem er mit feiner fonzentrierten, ſeltſam gefpannten Perfönlichkeit erſchien. Durch gefhidte Zeitungsrellame war es ſchon der ganzen Welt kund gethan, daß er an einem höchſt naturaliſtiſchen Drama arbeitete, das vorausſichtlich in einem ber erften Theater zur Aufführung gelangen würde. Und da er, wie Schwark fih ausbrüdte, den ganzen Tag mit zufammengebiffenen Zähnen und gerungelter Stine ſchrieb, erfchienen außerdem in allen modernen Beitfchriften feine feltfam einfeitigen und barum frappierenten Arbeiten. Schwark, der ein gewiſſes Intereſſe für ihn nicht ableugnen fonnte, fah ihn oft, befonders da Strom jegt auch zu Irmas Kreis gehörte, der er eine nahezu wunderliche Huldigung entgegenbrachte.

Liſa ſah während biefer Erzählungen mit nachdenklichen Augen auf Ernft, der halb amüftert, halb gleichgiltig dem Redeſtrom des Freundes lauſchte. Gin dunkles Empfinden hatte ihr immer gejagt, daß in Strom etwas ſtedte, die Steigerung einer gewiſſen Ver— anlagung, tie fie auch Ernſt hatte. Daneben nur ein rüdfichtslofes Zichbefchränfen und

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ein Wiſſen, wie man ſich hinaufarbeitet. Und das fehlte Emft. Müde und gleichgiltig hatte er den Rampfplat verlafien.

Ernſt feinerfeits fonnte nicht ohne einen gewiffen Spott auf Gerharb fehen, wenn der in feinem mobifchen Anzug mit dem enblojen Rod, einen Kneifer auf ber Nafe, in ber Gartenthür ftand, über irgend etwas bocierend, mit den bleihen Händen bie Luft durchfahrend und ſich mandmal den Kneifer zurecht rüdend, um den prädtigen Sonnenuntergang fein glänzendes Pfauenrab ausbreiten zu fehen. Er fühlte fih bewußt und gern von Gerharb und von Lifa geſchieden. AN die ſanften Gefühle, die ihm durchſtrömten, wenn ein linder Duft vom Garten hereinwehte oder eine bleiche, duftige Wolfe fih müde am Himmel auflöfte und zerrann, waren ihm viel mehr, als das geiftvolle Geplauder der beiden. Er als fie, als müßten fie faum, mas Leben fei.

„Heute kommt Freda,“ fagte er eines Tages. „Paß auf, Gerhard, wie fie bir gefällt. Cie ift eine Natur vol kindlicher Weisheit und innerer Heiligkeit des Lebens.”

„Wogegen ich die perfonifizierte Unweis— heit bin,” fagte Liſa nicht ohne Schärfe. „Der ungebulbige Menſch, der das Gegebene nicht binnimmt.”

Schwarg war in dieſer Zeit ſchon öfter Zeuge ſolcher Heinen Seitenbiebe geweſen und hatte im ftillen feine Gedanken darüber. Er ſah oft mit nachbenflihen Augen auf bie beiden Menfchen, die ſich in biefem unmittel⸗ baren Zufammenfein fo fremd geworben waren, daß er manchmal erf—hraf. Und Ernft ging in tiefer Ruhe dahin, ohne viel danach zu fragen, während in Lifa alles zitterte und hinter ſcheinbarer Ruhe einem Entſchluß entgegenbrängte.

Ernft nahm jeßt feinen breiten Strohhut, nidte ihnen zu und ging, um Freda auf balbem Wege zu treffen. In feinem einfachen Zeinenanzug und mit den hadenlofen Schuhen, auf denen er weich bahinging, pahte er freilich beſſer in die Natur ala Schwartz.

Liſa fab ihm nad und wandte fi dann an den nachdenklichen Freund.

Denken Cie noch an die letzte Unter=

ia,

Einfamteit. 231

Eonne ſchimmernd und glänzend, war ibm biefes Bild des gefättigten Reichtums innig and Herz gegangen. Cr batte cin Gefühl gehabt, als finge auch für ibn bie Erntezeit an, ald neigten fib tie Halme ſchwer und demütig unter ihrer Frucht.

Beim Eſſen waren alle ziemlich ſchweigſam. Nach Tiſch frug Schwarg ihn, ob cr ein paar Augenblide für ihm übrig babe. Nein, er hatte fie nicht, er mußte jet allein und un: geftört fein.

Er war wieber Dichter, er lonnte ſchaffen. Nun ſaß er ſchon feit Stunden und ſchrieb. Bon dem geöffneten Fenfter fah er in Baum fronen und in ben Himmel. Bolten wuchſen daran empor. Luft wiegten jih die Schwalben.

Durch bie

irgend eine Meifterarbeit vor, in deren Ent: deden er immer groß war. Und ibm jtrömte aus allem eine Fülle von Stimmung, cin

Reichtum an Worten, unter feinen Händen ; wuchs wie felbftändig eine Dichtung, von ber !

er fih jagen mußte, fie fei gut.

Als er das legte Wort gefchrichen hatte, faß er noch eine Weile ftill da und fah hin— aus. Eein Herz ging ruhig, ſtark und voll, feine Gebanfen jegneten ftumm alles Sein, feine Seele neigte fih in überftrömenver

Dankbarkeit und Liebe vor einer großen |

Gewalt, die aus und in ihm webte.

Endlich fammelte er die lofen Blätter und '

ging zu den beiden unten. Sein Geſicht leuchtete. Er las ihnen vor, was er gefchrieben hatte. Es fam mie aus einer andern Welt. Es war mie eine Ruhe barin und Frieden und das ftarfe Fühlen eines in ſich gefeſtigten Menſchen.

Und Liſa fing an ihn zu begreifen, mit einem ganz eben, zerreißenden Schmerz in der Bruft zu verſtehen, daß er gehen durite,

wo er ging, daß er das Recht hatte, fie .

zurüdzulafien, daß er größer war als fie. Die Thränen brannten in ihren Augen, aber fie kämpfte fie nieder. Sie wollte ihn mit ihrem perfönlihen Sein nicht mehr bebelligen. Eie wollte ſtill und leicht das Band löfen, das fie wie Kinder gefnüpit hatten, ohne eins das andere zu fennen.

Das war eine ı unenbliche, ernfibafte Freude, Die ihm bewegte. |

Große, weiße |

Gebämpite ; Stimmen Hangen. Unten lag Schwartz Liſa

As cr geendet hatte, ſah er mit fragenden Biden auf, aber er ſah Gerbarb an. Er wußte einen Menſchen, auf deſſen Urteil er ein größeres Gewicht legte. Gerhard ftredte ihm bie Hand hin.

„Du bift gewachſen, reif geworben, Ernſt,“ fagte er. „Man bat das Gefühl, als möchte man dir ganz perfönli banten, daß du fo etwas fehreiben durfteſt.“

„Ja,“ ſagte Yifa mit ſchwachem Lächeln.

„Es ift etwas Ganzes darin.”

Emft ſah mit leuchtenden Augen auf die beiden. Er war fo froh, fo bewegt, daß er eine Sehnſucht empfand, allein zu fein.

„Entſchuldigt mich,” fügte er berzlic. „Run muß ich mich ein bischen fammeln und träumen.”

Er ging dur den ftillen Abend, ber Sonnenglanz war rötlich. Die Arbeiter famen gruppenweiſe nah Haufe, ihre Senfen auf den Rüden. Hie und ba ertönte Geſang aus ihrer Mitte, ungefchulte, ſchwermütige Weiſen. Aus den Dorjhäufern ftieg der Rauch. Und in feierlicher Große wölbte fih der Himmel. Ernft ging dur die Wiefen, wo das iriſch gemähte Gras lag und füßen, berauſchenden Duft ausftrömte. Er warf fih da hinein und fab empor in bie weite, unendliche Yuit, in Die großen, ewigen fernen, in denen tünende Welten freiften, deren Kräfte niederwirkten bis zu ihm. Überall ftrömte in gewaltigen Yebens: hören das Sein, das feltjame, köſtliche Sein, deſſen furchtbare Thatfächlichkeit wir fo leicht im Leben bes Tages vergeijen, um nur in einzelnen Momenten mit Jubel und Grauen zu empfinden, daß wir ewig und unendlich find. Dann halten wir uns mit angſwoller Liebe an das Nächte und Nahe, die Kraft unferer Erde, die um uns wirft und unjerer Yiebe mit taujend Gebilben entgegendrängt. Emit fühlte fih im jtummer Dankbarkeit als ihr Rind, das nur an ihrem Herzen Nube und Krast finden fonnte.

In einiger Entiemung tauchte Gerbard

auf, der ſich ihm näherte, ihn zu fuchen ſchien.

Am liebjten hätte er fih vor ihm verborgen, aber Gerhard ſchwenlkte jein zierliches Stödchen zum Zeichen, daß er ihn entbedt hätte Mit feinem etwas ftelgenden Gang kam er über ten unebnen Boden. So war die Dankes-

Einfamteit.

glüdliher Zufall, da fie im allgemeinen fchr '

gefellig lebten. Sie faßen beim Nachmittags: laffee im Garten. Als er fragte, ob er etwas

Neues von ſich vorlefen dürfe, war der Jubel | Aber jchon |

groß. Und fo begann er. während des Leſens empfand er ein unbeftimm= hares Gefühl des Unbehagens, fo daß es ihm wahre Mühe foftete, bis zu Ende zu gelangen.

Er legte am Schluß zögernd die Blätter |

zuſammen und fah dann mit einem leicht Fragenden Blid in Fredas Geficht.

„Aber jehr nett!” rief Frau von Bartels. '

„Eine reizende, Heine Gefchichte.”

„Ja,“ fagte Freda, „an einzelnen Etellen fo ſtimmungsvoll.“

Er zog die Brauen ein Mein wenig zu: fammen und fah einen Augenblid recht feit in das geheimnisvolle Braun ihrer Augen.

Sie errötete etwas und ftredte die Hand nad |

den Blättern aus, „Ich habe es noch nicht ganz verſtanden,“ ſagte fie leicht entfehuldigend. „Meinen Sic, daß

man fo etwas gleich völlig begreifen Tann?“ |

Er gab ihr das Manuffript.

„Ich münfchte wohl, daß Sie Freude daran fänben,” fagte er dabei, und dann fing er an, bon anberm zu reben. nad) der lauen Aufnahme gequält, noch weitere Urteile über das Werk zu hören, das ihm felbft fo lieb war.

Als er nach Haufe ging, dachte er darüber nad, wie felten unmittelbares Verjtändnis für Nunftiverfe zu finden fei, wie das ein wenig jernftehende Publikum die Künſtlers fo gar nicht zu begreifen vermöchte, wie erft die Kenner der Menge den Star ſtechen müßten und wie dann das Urteil fo feltfam, fo verblüffend, fo mißtrauiſch machend übereinftimmenb würde. Cr hatte von ben

Barteld mehr erwartet, auf Grund feiner :

Sympathie für diefe guten, frifchen Menfchen; aber mit welchem Neht? Warum follten grade fie in einem unmittelbaren Verhältnis zur Wahrheit und Echönheit fteben?

Nah einigen Tagen aber fam Freda in einem leichten Ponywagen anlkutſchiert. Zie brachte die [Novelle zurüd und erzählte mit geröteten Wangen, wie deren Araft und Stimmung fie almählih immer mehr gefaßt hätte, wie fie hinter all der Einfachheit der

Es hätte ihn |

Abfichten des B

233

Worte nach und.nach den vollen Reichtum einer | reifen Natur hätte auf fie wirken fühlen. | Selbft Schwartz wunderte ſich über ihr gutes, verftändiged Urteil, und Ernſt mar völlig verföhnt. Cie gerieten den Abend in eins jener ſeſſelnden Gefprädhe, die aus ungeahnten Tiefen die beften Gebanten Ioden, und Fredas ! Augen ftaunten über al das Neue, das fie börte.

* .

Im Cpätfommer war Emit allein in | Steinau. Er wußte, daß cr auch den Winter über allein bleiben würde und dann wohl viele Jahre, eins nad) dem andern. Liſa war | gegangen. Nicht im Sturm nad erbitterten ! Worten fie wollte eine Freundin befuchen, ! die in Helgoland wohnte, im Herbſt nach | Berlin zurüdfehren und bableiben und ihn erwarten, bis er hinkäme. Sie wußten beide, | daß das nur Worte waren, aber fie ſprachen ı diefe Morte mit Lächeln und plauberten heiter über ihre Pläne, wenn fie zufammen waren. Tas Wiffen, was daraus folgen würde, lag | nur im Grunde ihrer Seele. N Er brachte fie zur Bahn. Eie fuhren | denſelben Weg, wie an jenem erften Abend, der jchon alles, mas folgte, im Heim geborgen i hatte. Gr balf ihr in das Coupe, er winkte ihr zu, als der Zug fid langjam in Bewegung ſetzte und ſchwenkte grüßend ben Hut. Sie ſaß dann, als fie durch das Land fuhr, mit jtarrem, wie verfteintem Geſicht. Sie dachte nicht daran, was die Leute fagen würden, fie dachte nur, daß es fo bitterlih ſchwer wäre, ! zu thun, was zu laſſen unmöglid war. Er fuhr indes nach Haufe und dachte an ' feine neue Arbeit. In all biefer letzten Zeit batte er ein Wachſen und Schwellen feines Talentes gefpürt, ein Beziehen jeder innern Negung auf fein Schaffen, das ihm fehr glüdlib machte. Die Pferde liefen ſchnell und froh. Der Inſpektor begegnete ihm und gab irgend einen Bericht über bie Herbftarbeiten. Dann fuhr er dur das Dorf, bog in bie Allee ein und fam zu Haufe an. ' Er ging durch die Zimmer, fie waren weit und leer. Die Sonne kam bereingeglitten und ſpielte auf ſchweren, müben Sonnenblumen, i die in einer großen Vaſe jtanden. Auf dem

Einfamfeit.

Wangen waren gerötet von ber frifchen Herbft: luft, ihre ſchlanke, kräftige Geftalt ſah vor- trefflich aus zu Pferbe.

Meine Frau ift noch nicht zurüdgefommen, fagte er und ſchaute mit lächelnder Bewunderung in ihr ſchönes Geſicht.

„Und Sie haufen hier wie ein Einfiebler und zeigen ſich feinem Menfchen?“ fragte fie erftaunt.

Dabei fah fie ipn an und fand ihn blaffer, vergeiftigter, ein innerliches Leuchten in dem ruhigen Auge. Er trat näher und Hopfte dem Pferde den Hals.

„Ich arbeite und leſe viel,” erwiderte er.

„Das fieht man Ihnen an,” fagte fie nidend. „Es ift aber nicht recht, feine Freunde fo zu vernadpläffigen.”

Nein,” antwortete er veuig. „Und id) lomme noch in biefen Tagen.”

„Was fange id num damit an?” fragte fie und ſah auf ihre Ebereſchen.

Er lächelte ſtill und ftredte feine Hand danach aus. Sie reichte es ihm mit einem ruhigen, freundlichen Gruß ber Augen und ritt wieder davon.

Bon da an war er fehr oft bei den Ober- förfterd. Und fein Auge gemöhnte fih an Fredas Geficht, das es ihm lieber ward, als irgend eins auf der Welt, er gemöhnte ſich an ihre Stimme, daß er, wenn fie ſprach, es durch jedes Stimmengewirr hindurch vernahm, er gewöhnte ſich an ihr ruhiges, ehrliches Weſen, daß er dachte, den wahren Frieden könne er nur finden, wo ſie ſei. Das entſtand ſo unmerklich, daß er meinte, es ſei immer ſo geweſen und es empfand, als ſeien ihre Naturen für einander beſtimmt von Urbeginn an.

Und der Winter kam mit Stürmen und Schneetreiben, mit Rohreif und klaren, froſtigen Tagen. Die Sonne ging über endloſe Schnee: felber auf, wanderte ihren einförmigen Weg fo raſch mie möglich und verfanf twieber, in leuchtender Glut den Echnee färben. Ernſt Tief auf den gefrorenen Eeen Schlittſchuh und

freute fih an all der ftummen Größe der , i bunte Fähnden. Niefige Gas: und Wafler:

Winterlandſchaft. Er laufchte in feinem ein famen Arbeitszimmer dem Braufen, Erfterben und Wicberauffeufzen des Windes und ſchwieg und wagte nicht an dem Neichtum zu rühren, den feine Seele hütete: der Liebe zu Freda.

1

| Gefühlen ſah er

285

Als Liſa auch nicht zu Weihnachten zurüds kehrte und Ernft nicht zu ihr fuhr, ſprach man allgemein darüber und fam zu ber Anficht, daß fie in Scheidung lebten. Ernſt aber ſchrieb an fie und fragte fie, was fie in der Zeit, in ber fie getrennt gelebt hätten, beſchloſſen hätte. Sie fehrieb zurüd: Scheidung. Er las den kurzen, ernften Brief vielmals, aber er fand feine verfühnende Antwort darauf, bie irgend wie aus aufrichtigem Herzen gelommen wäre. Er empfand es einfach, daß dies ein Ende war. Da begann er, die nötigen Schritte einzuleiten.

Seine Arbeit, ein Noman, wuchs mittler⸗ weile feinem Ende entgegen. Er fammelte ſich ganz in diefem Schaffen und beſchloß, bis zu feiner Fertigftellung und ber enbgiltigen Scheidung feinen Menſchen mehr zu fehen, nur für fi zu leben. Er ſchrieb an Frau von Bartels und bat fie, ihn zu entfchuldigen. Er wollte auch Freda in biefer Zeit fern bleiben. Was danach kommen follte oder fönnte, machte er fi felbft nicht flar, es bewegte nur feine Gedanken, als erwartete ihn dann ein großes Glüd.

Mittlertveile erhielt er ausführliche Briefe von Schwartz, der fi ihm, wie die Trennung von Lifa vor ſich gegangen war, wieder innig in ber alten Art ihrer Jugendfreundſchaft ger nähert hatte. Nur war ber Klang jegt ein wenig anders, der Mann fprad zum Manne, nicht mehr tie früher zum Jüngling.

Gegen Ende Mai war Emft auf dem Wege nad Berlin, um perfönlid bei dem Scheidungstermin anweſend zu fein. Ein volles Jahr war er fern gewefen, das ihm ungeahnte Wandlungen, tiefgreifende Ent: toidlungen gebraht. Mit wunderlichen auf die mohlbefannten Gegenden, durd die der Zug rüttelnd und wiegend fuhr. Die bürftigen, dünnen Kiefern des Grunewalds flogen an ihm vorbei, die ftruppigen Kohlgärtchen, in denen Bretterbuben ftanden, begannen, Kinder ftredten ihre Arme nah dem Zug aus und ſchwenkten johlend

türme ftanden wie Koloſſe auf brachem Feld, auf einem Stückchen Wiefe war eine Ziege angebunden und ftieß mit ihren Hörnern ungeduldig in das Gras. Und nun wuchſen

Einfamteit.

fi, ohne ein Wort zu fagen, auf jie zueilte, ihre Hand ergriff und fie an bie Lippen drückte. Dabei betrachtete er fie mit liebreichen Bliden unb rief enblid:

ih Sie entbehren müflen!”

„And wirklich entbehrt?” fragte fie mit ihrer gebämpften Stimme.

„Namenlos,“ fagte er und fühlte jegt, als wäre es fo geweſen.

Sie lächelte etwas traurig zu ihm empor und fagte dann:

„So laſſen Sie es fo fein, tie früher und berichten Eie. Man hat mir fo manches ge- fagt, aber id) muß es von Ihnen felbit hören. Wir find ja beide um ein ganzes Jahr weiler geworben.”

f&büttelte den Kopf. „Ich ftede zu fehr in mir drin, fann immer nur eins begreifen, eins fehen, eins fühlen. Und die Welt ijt fo viel: fältig.“

Aber er fing doch an zu erzählen, dies und das, und wie ihm Liſa jo jern geworden

und ein andrer Menſch fo nah, fo innig nah, daß er ihn immer alö gegenwärtig fühle. Und wie er zu einem neuen Anfchauen und Bes trachten des Lebens gelommen, zu einem neuen Werten ber Dinge. freie, einfache Hinſchreiten fo ftarf und ruhig gemacht, daß er nur immer ein ſchauerndes „Ja“ zu allem Leben fagen könne, zu allem Iren, zu jedem Schmerz. Und wie Fredas vornehme, heilige Seele ihn nun völlig zum graden, wahren, freudigen Menſchen machen würde.

„Wir werben do alle unglüdlich,” fagte f

fie leiſe und feüttelte den Kopf. „Der im feinem Erreichen und der in feinem Entbebren. Und wiſſen Cie, daß ich die Leidenden nicht bemitleide? Ich babe auch fein Bebauern gefühlt, daß Sie beide auseinander gingen. Ich finde nur, es hätte Ihnen mehr nehmen und geben follen,” und fie ſah ihn mit düſtern, fremden, leibflagenden Augen an. „Wie fünnen Eie nur, ein Menſch, der fühlt und erkennt, an Glück glauben?”

„Ich glaube an Glüd,” jagte er, und fein geiftwolles Geficht mit den ausgearbeiteten Zügen neigte ſich ihr zu, feine Augen leuch—

: Irma. Sie guter, treuer Freund, wie lange habe |

Und wie ihm dies große, ;

\

237

teten in einem warm flutenden Licht, als fühe er Freda in ihrem kraftvollen Frichen.

„Die Liebe vor allem ift Schmerz,” fagte „Von Anfang an ein Fürdten und Verzehren, ein endlos endlofes Sehnen, das nie völlig Genügen findet. Und doch,“ fagte fie und fah ihn mit einem trüben Lächeln an,

„wünſche id auch Ihnen, daß Sie das jo

fühlen lernten, und würde enttäuſcht fein, wenn Sie anders bächten.”

Er jah fie unruhig an.

„Ich fürdte, Ihre Anfchauung vom Leben ift krank. Sie find mübe und fchlaff. Ahnen fehlt Freudigfeit und Widerſtandskraft.“

„Ein Glüd tenne ih auch,“ gab fie zur Antwort. „Das Glüd der Schmerzen. Und

ich glaube faft,“ fuhr fie fort und betrachtete „Ich werde wohl nie weile,” fagte er und

ihn mit einem warmen, fanften Blid, „ich liebe die am meiften, bie mir bie meiften Schmerzen zugefügt haben.”

Sie waren auf und ab gegangen durch die Säle, und er begleitete fie dann noch bis nad Haufe. Sie gingen durch bie breiten, lauten Straßen. Neben ihnen ſchrie und tämpfte das Leben, mie ein grimmiges Tier. Ihr Auge ſah nur Leid, wohin e3 blidte. Er aber ſchaute darüber hinweg, bielt fein Herz feft und ſprach zu fi:

„Einigen ift es gegeben, glüclich zu fein. Ich will zu ihnen gehören, den Mutigen, die es wagen, das Glüd zu halten, dieje Kraft tes Seins.”

Dann nahm er Abſchied von Irma.

„Wir fehen uns wohl nod einmal in dieſem Leben?” fragte fie mit ſchwachem Lächeln.

„SH bringe Ihnen Freda,“ fagte er, und feine Augen glänzten.

Und fe nahte denn endlich der Scheibungs- tag, an dem er auch Lija wicderjah. Cie war ganz ruhig und feſt, aber er hatte ein Gefühl, als ob fie litte, und ein unrubiger und be: fümmerter Schmerz ſchnürte fein Herz zu— fammen. Es war furdtbar, wie das Yeben die Dinge ineinander fügte und daß alles fommen durfte und mußte, wie es fam. iederjehen nach der langen Trennung, ihirembfühlen und doch Vertrautiein dur taufend und taufend kleine Tinge, riß an jvinem Herzen und jeinen Nerven. Er fühlte ſoviel Weiches und Gutes für fie, und

Einſamleit.

Garten beſchäftigte ihn, fo daß er oft ſtunden⸗ lang mit dem Gärtner ſprach, Pläne zeichnete und Anteifungen gab.

Und dann fam der Tag, an bem er ſich Tagte, daß es nun nicht zu überhaftet wäre, wenn er zu Barteld ginge. Er mollte mit der Mutter fprechen, ihr von ber Scheidung erzählen, fie fragen, ob ihm das in ihren Augen Abbruch thäte, und wenn nicht, ob er um das ftarke, liebliche Mädchen merben dürfe.

Es mar fo heiß, daß er fi) den Wagen anfpannen ließ, auch deshalb, weil feine Ungebuld zu groß tar, biefen langen Weg in banger Erwartung zu Fuß zurüdzulegen. Die ſchönen Pferde ftampften ungebulbig und mirbelten mit ihrem tängelnden und anmutigen Lauf diden Staub von dem Landivege auf. Dunkle Wolfen ſchoben fih gegen Weſten durcheinander. Der Kutſcher ſchnalzte mit der Zunge und fnallte mit der Peitiche.

„Das kann ein Wetter geben, gnäb’ger Herr," fagte er mit Kennermiene.

Dann fam die Fahrt. dur den kühlen Bald. Als fie in die Nähe der Oberförfterei kamen, ließ Emft halten, ftieg aus und ſchickte den Wagen zurüd. In diefer Kühle kam ihm feine Spannkraft wieder. Mit belebten Schritten eilte er vorwärts und erreichte bald den Garten. Das erfte, was ihn überrafchte, mar, auf dem großen Rafenplag die ganze Geſellſchaft mit Lawn Tennis befchäftigt zu finden. Das war eine Neuerung gegen das vorige Jahr. Ein zweiter raſcher Blick be lehrte ihn, daß Fremde anmwefend waren. Das ftörte natürlich feinen Vorſatz, und er zögerte faft, ob er näher treten follte. Eein Auge ſuchte Fredas. Cie war mitten im Spiel; ein paar Damen, die er von früher her fannte, fahen zu. Ihre biegfame Geftalt nahm ſich anmutig genug aus in den bligfchnell wechſeln⸗ den Stellungen. Ihr Gegner war ein ſchlanker, brünetter Herr, ber meifterhaft fpielte und deſſen ganze Geftalt wie aus Stahl gegofien mar. Er ſchien der Überlegene zu fein. Freda lachte und warf das Racket hin. Da fprang er mit einem leichten Satz über das Ne, eilte auf fie zu, faßte ihre Hände und fagte ihr etwas mit einem zärtlich gebieteriſchen, gewinnenden Lächeln auf den Lippen.

239

Ernſt fah, daß Fredas Schweſter ſich ihm näherte. Er zwang ſich ein geiſterhaftes Lächeln ab.

„Ich war recht lange nicht hier,“ ſagte er, indem er ſie förmlich begrüßte.

„Mir ſcheint, Sie waren viel zu lange nicht hier,“ ſagte das junge Mädchen mit freundlichem Ernſt.

Er ſah auf den Tennisplatz hinüber und ſagte mit tonloſer Stimme:

„Das find recht große Änderungen bier.“

Und dann noch einmal, gleichfam ſich einen Nud gebend, mit lauterer Stimme, die aber doch heiſer und erftidt ſich vorrang:

„Das find recht große Änderungen hier.”

Dabei fah er auf, dem jungen Mädchen ins Geficht, und als das ein weiches Mitleid ! auszubrüden ſchien, wurde er auf einmal ganz ernft und bleich wie der Tod und fagte in einer Art, die ihr an da Herz ging: „Ich möchte die Ihrigen begrüßen, gnädiges Fräulein.”

„Freda!“ rief fie mit einer faſt weinenden Stimme. „Freda!“

Die wandte fih um, das ſchöne, flille, glüdglängende Geficht ihm zu. Sie fagte ein paar Worte zu dem jungen Mann, banı näherten ſich beide. "

„Guten Tag, Herr Stein,” rief Freda und ftredte ihre Hand mit gutem, glüdlihem Lachen aus. „Darf ih Ihnen meinen Bräutigam, Herrn von Franf, vorftellen?“

Ernſt verneigte fich leicht und höflich.

Nehmen Sie meinen herzlichſten Glüd: wunſch, gnäbiges Fräulein,” fagte er mit etwas eintöniger Stimme.

Tann fragte er nach Frau von Bartels. Sie gingen alle zum Haus zurüd, Ernſt immer in ber ftilfen, monotonen Art leichte Fragen ftellend oder auch erwidernd, dabei ganz blaß und mit einem faft unbeweglichen Ausdruck der Erftarrung im Geſicht.

Die es am tiefften fühlte, war Fredas Schweſter, weil fie ihn im Augenblick fafjungs- Iofen Wehes gefehen. Sie wünſchte, daß die andern es nicht merken follten, Fteda nicht, die fo glüdli war, Frank nicht, die Mutter nit, um Ernſts willen, weil fie eine Scham für dies grenzenlos tiefe Empfinden hegte, weil fie begriff, wie jeder Nerv in ihm fi I fpannte in ber fortgefegten, ftillen Arbeit, feine

Profeſſor Carl Goldbed.

„Weiß Irma um deine Liebe?“ fragte Ernft.

„Ja. Sie fagte mir, daß fie einen andern Tiebe, aud gang und für immer, und aud hoffnungslos.“

Ernſt ſchwieg und ſah nicht, wie des Freundes Blid auf ihm ruhte.

„Es giebt eine Liebe, die auch das Vor-

übergehen vergiebt,“ fagte der mit nachbenf= |

lihem Niden.

„Heute zum erftenmal frage ich mich,” fagte Ernft nad einer Paufe aus tiefem Sinnen. „Hätte es nicht anders fommen tönnen mit Liſa und mir? ft es nicht un= verzeihlih, daß wir uns fo trennten?”

A

i „Nein, Ernſt,“ rief Gerhard und legte | feine Hand auf die ſchlanke, bebende des jungen

Freundes. „Alles mußte diefen Weg nehmen.

Wie follten wir das Leben tragen, wenn uns

immer bie Frage bliebe, hätte es anders ! fommen fünnen? Still, ftill das Geſchehene auf fih nehmen, als etwas Notwendiges und darım Kraft und Fügung darin finden. Mit ruhigem, getroftem Blick vor und zurüd jehen und dies alles als ein Außen empfinden. Das ift nicht leicht, aber verſuche es nur.”

Nun war doch noch eine Wolke aufge zogen, und ein leichter Regen fiel, in ber Abendfonne fprühend. Die beiden Freunde jaßen zufammen und fahen ſchweigend hinaus.

ee

PRrofeffor Carl Golobeck.

Rlice Tandsbern.

Nadprud verboten.

Jor wenigen Wochen hat man auf dem Zwöolf-Apoſtelkirchhof in Schöneberg einen Mann zur legten Ruhe beftattet, der vielen Hunderten von Berliner Frauen

ze und Mädchen ein felten treuer Lehrer und Freund geweſen, einen Mann, der ein wahrhaft Berufener war für die ernfte und fchiwierige Aufgabe des Lehrers. Profeſſor Carl Goldbed, der langjährige Direktor der Berliner Charlottenfchule, ift am 24. September d. I. nach längerem, ſchweren Leiden geftorben, nachdem er Anfang des Jahres jeine Lehrthätigkeit und feine amtlichen Verpflichtungen niedergelegt hatte. Er bat fein ganzes Leben mit voller Hingabe feinen Schülerinnen gewidmet, und wenn ihm heut in diefen Zeilen eine von ihnen im Namen der vielen einige Worte treuen Gedentens und Erinnernd über das Grab hinaus nachruft, jo möge dad als ein Heiner Tribut der Dankbarkeit und Verehrung hingenommen werben.

Carl Goldbet war ein Lehrer und bei ihm ift der Lehrer vom Menfchen nicht zu trennen wie man unter Taufenden faum einen tiederfindet. Hier war nichts von Schablone, von Pedanterie. ine originelle, geiftvolle Natur, gab er fi eben felbft, er fette jeine ganze Perfünlichfeit ein, Intelleft und Gemüt der jungen Schülerinnen zu feſſeln. Voll ungewöhnlicher politiver Kenntnifje er war unter anderem ein feltener Kenner der franzöfiichen und italienischen Sprade und Litteratur wirkte er in jeinem Unterricht doch hauptſächlich durch feine ſprühend lebhafte Vortrags: meife. Er beſaß die Gabe, durch Erzählen von Anekdoten aus Gedichte und Leben den oft trodnen Stoff des Schulmeifterd anregend und intereffant zu machen. Durch fteten Hinweis auf das fcheinbar Unbedeutende, auf die „Kleinigkeiten des Dafeins“, in denen fich für das fundige Auge das Leben oft am köſtlichſten jpiegelt, wollte er feine Schülerinnen „Andacht zum Kleinen“ lehren, wie er ihnen Begeifterung für das Erhabene und Große einzuflößen verftand, Verehrung für die freien, großen Geifter aller Nationen. Zu felbjtändiger Arbeit und innerer Fortbildung fuchte er feine Schülerinnen anzuleiten; in jungen Jahren ſchon follten jie lernen, ihre Zeit aus: zunügen, von feinem Tage follte es auch bei ihnen heißen: „diem perdidi!“

„Du bajt fein Auge für diefe Dinge, weil du feine Liebe dafür haft, und Auge und Liebe gehören immer zufammen“. Dieſe jchönen Worte Theodor Fontanes

16

Leiden und Rechte des Kindes.

Adele Schreiber.

Raqhdruc verboten.

Mede Gefeggebung entipringt der Notwendigkeit, den Schwachen vor der Vernichtung durch den Starken zu bewahren, ihre Aufgabe ift e8, regulierend auf den Dafeins: tampf im Menjchheitähaushalt zu wirken. Je vorgeichrittener ein Staat, umſomehr läßt er ſich die Eorge für feine ſchwachen Glieder angelegen fein; jo jehen wir bei reifen Staatengebilden, neben den urfprünglichen Formen der Legislation, eine neue Ergänzungsgejeggebung ſich aufbauen, die den Schuß der twirtichaftlich Benachteiligten gegenüber dem mächtigen Drud des neuen Produktionsmechanismus bezwedt.

Diefed Syſtem, zufanmengefaßt unter dem Namen: jozialpolitifche Gefeggebung, murzelt in feinen erften Anfängen teilweife in der Privatwohlipätigfeit. Einrichtungen, die urfprüngli dem mitleidsvollen Eingreifen von Einzelperfonen oder Vereinen übers faflen waren, find ald Pflicht der Gejellihaft anerkannt und in ftaatliche Inftitutionen umgewandelt worden; jo in verichiedenen Staaten die Kranken-, Jnvaliden- und Alterdverforgung, Wöchnerinnenunterftügung, die Erziedung von Taubftummen, Blinden, Waifen und Findeltindern, die ÜUberwachung der Haltekinder ꝛc.

Zahlreih find noch die Gebiete, die in Deutichland einer völlig unzureichenden Privatforge überlaffen blieben; eins derfelben ift der Echug von Kindern gegen Miß— handlung und Ausbeutung.

Es ift eine ſchwer verftändliche foziale Erſcheinung, daß der natürlichen Pflicht der Eltern, die beften Beſchützer ihrer Rinder zu fein, jo Häufig zuwidergehandelt wird und e3 des Auftretens Fremder gegen die Schädigung durch die eigenen Eltern bedarf. Diefe Erfcheinung läßt jih nur auf angeborme graujame und gewalttgätige Inſtinkte zurüdführen, die fih an dem bilflojen Kind, ohne Furt vor Vergeltung, bethätigen.

Kindermißhandlungen find bei Natur: und Kulturvölkern verbreitet, fie waren ein Übel der alten Zeiten, wie fie eines der Gegenwart find, aber der Kampf dagegen ift eine Errungenſchaft der legten Jahrzehnte. Mit ihm baben wir aud) erſt begonnen, genauere Kenntniffe über Häufigkeit und Weſen des Übels zu erlangen.

Während ehedem die Beftrebungen für das Kinderwohl darauf beſchränkt waren, Waiſen und Findelfinder zu verforgen, entitand zu New-York im Jahre 1875 die erfte Geſellſchaft zum Schug der Kinder gegen Mißhandlung und Ausbeutung. In 25 jähriger Thatigkeit ift fie für 382 782 Kinder eingetreten, fie hat 47077 ſchuldige Perfonen zur Verurteilung geführt und 83 141 Kinder in geeigneter Weife untergebracht.

Nach dem Mufter der New-Yorker Geſellſchaft bildeten ji über 300 Vereine mit ähnlichen Zielen, von denen die 1884 durd Benjamin Waugh zu London gegründete „Society for the Prevention uf (ruelty to Children“ die hervor: tagendfte ift.

Im Jahre 1889 fchloffen ſich ihr die in den andern Städten Englands beftchenden Kinderfchugvereine an, und von da ab entjtand unter dem Namen „National Society“ eine Inftitution, die in ihrer Art als die bedeutendite der Welt bezeichnet werden darf.

Die Thatigkeit der englifchen Gejelichaft iſt ſchon des öfteren in diefen Blättern eingebend gewürdigt worden; in zehn Jahren hat fie 411947 Kinder beichügt, fie ift gegen 209032 Schuldige eingefchritten und bat 17537 Gerichtsverhandlungen eingeleitet.

Ihre Grundidee iſt, ſich nicht damit zu begnügen im engen, philanthroͤpiſchen Sinne Linderung zu bringen, jondern in erjter Linie dem Rinde eine gejeglich geihüßte und geficherte Stellung zu erfümpfen.

16“

Leiden und Rechte des Kindes. 245

Mißhandlungen in der Zunahme begriffen wären. Einen Beweis jedoch für die Wirkfamkeit rechtzeitigen Eingreifens bietet die ftete Abnahme der durch Mibhandlung herbeigeführten Todeẽ falle.

m Jahre 1893 auf 94 endeten von 37 642 Mißhandlungen 272 tödlich. Im Jahre 1898 auf 99 von 75 732 Mißhandlungen 199. Es kamen Ietal endende Fälle auf je 1000 Mißhandlungen

im Jahre 90-91 . . . . 5,60, "nn AR .. 0. 0. 5,99, nu RB... . 444, nn BA .... 720, nn 4-5... 0. 5,48, nm Bm... . 440, nm 9-97... .. 331, nn MB... . 300,

nn 8-9... . 361.

In dem Wirkungskreife der Gejelichaft find innerhalb neun Jahren 1763 Kinder an den unmittelbaren Folgen von Mißhandlungen geftorben, eine Zahl, die wohl mehr als alle Verteidigungsreden beweift, daß die Inſchutznahme von Kindern gegen Eltern ober deren Stellvertreter feiner Humanitätsbufelei entipringt, fondern bitterfte Not: wenbigfeit ift.

Die Graufamteit wendet ſich am beftigften gegen die Hilflofeften, die fiher am allerwenigften durch ihre Unarten oder Bosheiten Anlaß zu Gewaltthätigkeiten geben tönnen. Das Durchſchnittsalter beträgt 6'/, Jahre, 37 Prozent aller Opfer ftanden unter dem 10. Lebensjahre, 51 Prozent unter dem 7., 28 Prozent zählten 0—4 Jahre.

Von den Schützlingen des Jahres 1898—99 waren 70197 eheliche Kinder, 3685 uneheliche, 736 Stieffinder, 430 Haltelinder. Das Verhältnis der mißhandelten legitimen von 5,24 auf 100 Legitime fpricht nicht zu befonderen Ungunften der Illegitimitat, da die Unehelichleitäquote Englands in den Jahren 1887—91 3. B. 4,50 Prozent betrug.

Die großen finanziellen Laften der Gefellfhaft werden ausſchließlich durch Mitgliedsbeiträge, Spenden, Legate ꝛc. aufgebracht, die Ausgaben beliefen fih im Jahre 1898 auf 52773 £ alio 1055460 Mark! Die Thätigfeit der National Society erfiredt fih auf */, des Areald von Großbritannien.

In den Vereinigten Staaten giebt e8 noch eine Anzahl von Geſellſchaften mit denfelben Grundzügen; die bedeutendfte davon ift (nach der New: Yorker) die zu Boſton. Erwähnenswert ift ferner der in Montreal (Kanada) beſtehende Verein, der feinen Schuß nicht nur Kindern, fondern auch mißhandelten Frauen angedeihen läßt ').

Während die gefchilderten Geſellſchaften ihr Augenmerk darauf richten, Graufuns feiten audfindig zu machen und zu verhüten, dienen verfchiedene andere Vereine der Fürforge für verlaſſene, vermahrlofte und verfommene Kinder.

In London find ed die bekannten, von Barnardo begründeten Heime, die etiva 34 000 Kinder dem Untergang entriffen haben. Die Heime nehmen Straßenjungen, Vagabunden, jugendliche Verbrecher und heimatlofe Kinder auf, um fie zu nüglicher Arbeit heranzubilden. Vielfach werden dafelbft Knaben für die Landwirtichaft in den Kolonien erzogen. Die Barnardofche Gründung umfaßt heute 110 Anflalten, wovon 35 in London, 71 im übrigen England und 4 in Kanada.

In ähnlicher Weife wirkt in New-York die „Childrens Aid Society“, mit ber Heime, Gewerbeihulen und landwirtſchaftliche Schulen in Verbindung ftehen.

Der Schutz von Kindern gegen Mibhandlung ift in Franfreih noch wenig entwidelt. Die „Societe protectrice des enfants“ befaßt ſich mit Verminderung der Säuglingäfterblichkeit und Verhütung der Engelmacherei, nicht jedoch mit Überwahung

') Eine Anzafl der hier angeführten Daten verbanfe ih dem Werk: „Der Schu der Frauen und finder gegen Nippandfungen“ von Dr. Narl Walder (Leipzig, Roßbergice Kojbuchhandlung), auf da8 ich ganz befonber8 aufmertfam machen möchte,

Leiden und Rechte bed Kindes. ur

nahezu die Sehraft ein und wurde ohne jede Entſchädigung entlaffen. Zahlreiche ihrer Mitſchulerinnen ſah fie ihren Qualen erliegen, einmal fünf binnen vierzehn Tagen.

Marie Marehal brachte 12 Jahre in demfelben Inſtitut zu, fie verließ das Haus völlig entkräftet, ohne Entlohnung. Ihr Erihöpfungszuftand war derart, daß ihr Magen heute noch jede Aufnahme fefter Nahrung verweigert. In ihrer Rlafje farben innerhalb eines Jahres elf Zöglinge.

Eine Leidensgefährtin von ihr, Melanie Laurent, Waife, arbeitete 22 Jahre lang in der genannten Anftalt; fie lernte weder leſen noch fchreiben, wurde im Zuftand Bodgrabigfer Entkräftung, ſchwer herzleidend aus dem Haufe gefandt. Sie war drei Jahre ganz arbeitunfähig und ift dauernd nahezu invalide geblieben. An einem Tage ftarben drei ihrer Mitzöglinge. 5

Im Klofter zu Angerd wurden die Kinder ftrafiveife nacht? in die Leichenhalle eingeihloffen, ober bei Waffer und Brot in Zellen gefperrt, wenn es ihnen nicht gelang zwei Männerhemden an einem Tage fertigäuftellen. Diefelbe Methode beftand im Inflitut zu Mans. Dort wurde ihnen auch der Kopf und das Geficht mit naffen Tüchern umwickelt, bis fie zu_erftiden drohien; einmal wurde ein junges Mädchen, dad man fo züchtigte, auf der Stelle von einem Blutfturz befallen und ftarb drei Tage darauf. Die Zöglinge mußten aus den Gruben die Fakalien in Fäffer ſchöpfen und forttragen, eine Arbeit, die fie, bei ihren völlig entkräfteten Organismen, nur unter Übelteiten und Obnmachtsanfällen verrichten fonnten. AU dies wird übertroffen vom Schidjal eines adtjährigen Kindes, das, ſchwach und frank, fein Bett verunreinigte und dafür gezwungen wurde, Brot mit feinem eigenen Unrat zu eflen.

Siebenjährig farb an den Folgen ſchwerer Verlegungen ein Kind im Stlofter zu Annonay. Das Leben der dort internierten Ninder war fo fürchterlich, daB die armen Kleinen fromme Gelübde ablegten, damit der Tod fie bald von ihren Leiden erlöfe.

Fanny Pangot (Waife) arbeitete von ihrem ſechsten bis zwölften Lebensjahr in einem Parifer Klofter von 5 Uhr morgens bis 9 Uhr abends; fie lernte weder leſen noch ſchreiben und wurde fchließlich mitten im Winter, nur mit Hemd und Perkalfleid bededt, fortgefandt.

In einem Klofter des Departement du Nord diente als Schlafraum ein feuchter, mit feheibenlofen Fenstern verfehener Saal. In der Nacht vom 7. zum 8. Dezember 1890 erfroren zehn Heinen Mädchen die Füße, einem berfelben mußten unverzüglich beide Füße amputiert werden.

Ins Ungemeffene ließe fich diefe Lifte fortjegen!

Von den genannten Anftalten wird außerdem ein ſchwunghafter Vettel betrieben, angeblich zu Gunften der armen Waifenfinder, die den Klöftern die Koften ihres elenden Unterhaltes zehnfach durch Arbeit einbringen. Das Vermögen ber Häufer wächſt zufehends, die frommen Schweitern bauen Kapellen und Kirchen, ftiften Meßgewänder, bereichern den Peteröpfennig und kaufen Ländereien von dem Geld, das bad Lebens mark der unglüdlichen Jugend darftellt. .

Leider befigt die Regierung feine Rechte zur Überwachung der aus Privat mitteln geichaffenen „Wohlfahrtseinrichtungen”; feit Jahren führt die Assistance Publique einen fruchtlofen Kampf um die Sanierung diefer Zuftände.

Im Jahre 1896 wurde eine Refolution eingebracht, die die nachitehenden Forderungen enthält:

1. Die von Privaten oder Affoziationen gegründeten Wohlfahrtseinrichtungen, die Kinder, Kranke, Sieche oder Greife aufnehmen, oder mit Arbeit befchäftigen, müffen ihre Eröffnung unter Darlegung ihrer Ziele und Schilderung ihrer Lokalitäten binnen acht Tagen zur Anzeige bringen.

2. Innerhalb längftens eines Monats erfolgt die Prüfung und die Lofalbefichtigung.

3. Die Überwachung bleibt in Permanenz. .

4. Die Leiter der Inftitutionen find verpflichtet, den Kegierungsdelegierten Auskunft über die moraliſche und finanzielle Lage der Anftalt zu erteilen, ihnen Einblid in die Hausordnung und Einfchreibeliften zu gewähren und ihnen die Haus: bewohner vorzuführen.

Die nene Lehranftalt für Annft- und Hansweberei in Kiel. Bon Hildegard Jacobi Naddrud verboten.

Der Berein zur Förderung der Kunft: und Hausweberei in Schledwig: Holftein bat eine neue Webeichule errichtet.

Diefelbe Hat ſich die Aufgabe geftellt, wie in andern Zändern, namentlich in Norwegen, Schweden, in England und Finland, auch bei uns alte Zweige des Haudgewerbefleißes zu neuem Leben zu eriveden, nachdem fie im Laufe bed legten Jahrhunderts durch die Maſchinen faft gänzlich verdrängt worden waren. Selbftverftändlih kann die Hand nicht eine erfolgreiche Konkurrenz mit der Maſchine magen, unb etwa biefelbe ganz zurüddrängen oder den handiwerfömäßigen Betrieb wieder auf- nehmen. Doch hat bie Handarbeit das unbeftrittene Übergetwicht auf dem Gebiete ber Kunſtweberei, indem fie Bünftleriiche Wirkungen berauszubringen vermag, welche der Mafchine verfagt bleiben. Tie noch jegt muftergiltigen Stüde aus alter geit

beweiſen genugfam, daß bie Numftiveberei in ihrer |

böchften Blüte Technifen außgebildet hat, bie auch

Heute von den Mafchinen noch nicht völlig wieder·

gegeben werben fünnen. Ebenſo fann nur Sand: arbeit ſolche Gewebe herftellen, die bejtimmt gegebenen Verhältniffen in Beziehung auf Form, Zeichnung, Farbe u. ſ. w. Rechnung tragen follen.

Die Kunftweberei ann fi den anderen bildenden |

Künften, wie Malerei, Bildhauerei, Schnigerei wohl zur Seite ftellen und den gebildeten Klaſſen deshalb auch eine vollbefriedigende Beſchäftigung bieten, im der fi} Aunftfinn, Geihmad, Phantafic und Geftaltungäfraft voll bethötigen können.

Die herrlichen, preisgekrönten Mebereien von Frl. Frieda Hanfen auf der Barijer Weltausftellung

Größe, |

!

erforderlichen Garne berjuftellen.

beioeifen uns am beften, welch vortreiffich tünftferifche |

Arbeiten bereit in biefem Face geleiftet werden. Und unfere Zeit bietet eine mannigfache Verwendung

derartiger Lurußarbeiten wie Gobelin: (die eigentliche '

Bildweberei), Anüpf:, Nobben: und Floſſaarbeiten, die auf den Hochwebſtühlen verfertigt werben.

u

Andrerfeit® will die neue Webefchule die Dauf, weberei am Flachwebſtuhle als Lohnende Haus:

induſtrie wieder unferer Yanbbevölterung zurüd: ; getoinnen.

Es giebt beſonders auf dem Lande vielſach brad liegende Kräfte, deshalb fol die Handfpinnerei ald Füllarbeit in fonft müßig zu: gebrachter Zeit dienen und weſentlich die Derftellung von dem eigenen Bedarf bienendem Stoffe im Auge behalten. Hier gilt es die Herftellung aller jener Stoffe, die für die Vetleidung, für ben Bedarf des Haushalies ald Vett:, Tifh: und Möbelzeug, Drell, Köper und ſonſtige Webercien gebraucht werden. Die auf dem Flachwebſtuhl bergeftellten Stoffe find von einer faſt unverwüftbaren Dauer. Und derartiger haltbarer Stoffe bedürfen Seeleute, Fiſcher, Jäger, die bei jeder Witterung im freien beichäftigten Arbeiter; ferner verlangen auch die verfchiedenen neuerdings fo üblichen Sportbeſchäfti— gungen, die immer größere Ausdehnung gewinnen, diefer Schug gewährenden Stoffe, die Wind und Wetter trogen Fönnen. Diefelben find in England in alten Geſellſchaftstreiſen fehr beliebt, und die fogenannten „home-spun:Zeuge“ werden mit grofer Vorliebe von dem weiblichen Geſchlechte getragen. Sole Zeuge aber laſſen ſich vorzugsweiſe durch den Handbetrich herſtellen.

Es iſt natürlich von hoher Bedeutung, daß die Landbevölterung die zum Weben erforderlichen Rohſtoffe felbft produzieren ann, alſo felbft den Flachs baut, Wolle gewinnt und das erforderliche Baummwollenmaterial aus inländifhen Fabriken befommen kann. Angeftellte Unterſuchungen haben dargethan, daß die einheimiſchen Schafraſſen eine Wolle liefern, die durch ihre beſondere Beſchaffenheit gerade vorzugsweiſe geeignet ift, daraus die hier Auch der bier gewonnene Flachs genügt volfftändig. Tas Spinnen der Wolle erfordert gewifie Vorbereitungsarbeiten; gegen einen fehr geringen Yohnfag übernehmen Fabriten das PVerfpinnen ber Wolle zu fertigem Garn.

Tas Perfpinnen der fo vorbereiteten Wolle macht dann feine weiteren Schwierigteiten und

Frauenleben

Aurfus teilnehmen, oder nad) Übereintommen mit der Vorſieherin zu beftimmten Zeiten bie Schufe befuchen IV. Die Koften des Webeunterrichtes.

Die Entrichtung an die Webeſchule befteht im !

Honorar für den Unterricht und in ber Miete für Webeftühle. Das Unterrihtöhonerar beträgt für den vollftändigen Jahredturfus 90 M., für zwei

Kurfe am Flachftuhl 60 M. und für einen Kurfus :

am Hochſtuhl 40 M. Der Unterricht im Zeichnen für Hochſtuhlweberei iſt befonderd zu bezahlen.

und ⸗Streben. 251 Die Biete ift vorläufig feftgelegt: für einen Flachftuhl auf wöchentlich 1 M., für einen Hoch ı ftuhl wöchentlich 0,60 M. Die Schule Liefert alle Materialien und Webegerätfchaften gegen einen den Selbfttoften entſprechenden Preiß. Auswärtigen Schülerinnen wird bereitwilligft N durch ben „Schleswig Holſteiniſchen Verein zur Förderung der Aunft: und Dausweberei“ Kiel, Preußenftr. 19, Frau (eheimrat Selig, Bor figende, bilfige Unterkunft verſchafft, ebenfo find | von dort Brofpette zu bediehen.

u

Tranenleben

Raberud mit Quellenangabe erlaubt.

* Zum Arbeiterinsenfhung find unter den ſozialpolitiſchen Anträgen im Reichstag von der fozialdemotratifhen Partei bie folgenden eingebradit: In Bezug auf die Gewerbegerichte wird u. a. gefordert, daß ben Arbeiterinnen das

attive und paffive Wahlrecht gewährt werben fell. '

Im Bezug auf dad Recht der Berfammlung und Bereinigung und bad Hecht der Noalition wird gefordert: $. 1. Die Reichdangebörigen ohne Unterfchied des Geſchlechts haben das Necht, fich zu verfammeln. 8. 2. Tie Reihsangehörigen ohne Unterfejied des Geſchlechts Haben das Recht, Vereine zu bilden. In Bezug auf die Gewerbeinſpektion: Weibliche Beamte und Beigeordnete find entſprechend der Zahl der in den Betrieben beichäftigten weiblichen Silfsperfonen anzuftellen bezw. zu mählen. Es ift gewiß bedauerlich, daß viele Forderungen, bie mit denen ber ‚Frauenbewegung übereinftimmen, nur von der ſozialdemotratiſchen Partei erhoben werben, und dic fogenannten liberalen Parteien, die naturgemäß bie größte Stüge für die Frauenbewegung jein müßten, nur in fehr feltenen Fällen ihr gegenüber ihre Yiberalität bethätigen.

* Auf der Weihnachtsmeſſe des Vereins der Künftlerinnen, Berlin, hat Geheimrat Mießner nachſtehende Gegenftände für den Kailer an getauft: Etagere ven Paula Bonte, einen Blot von Fr. d. Bibra, eine Vaſe von Hedwig v. d. Groeben, Bildchen von Marie v. Keudell, Bücheritänder von Sina Hraufe, Teller von Marie v. Tlier, zwei Briefmappen von Clara Lobedan, eine Etagere von S. L. Schlieder.

* Die Abteilung Berlin des Nereins „srauenbildung Frauenſtudium“ läßt Oftern 1901 einen privaten Gymnaſialzirtel für 12 jährige Mädchen mit 7 jährigem Aurfus in den

und -Streben.

{ Räumen der Veogeler ſchen Schule, Burggrafen ftraße 17 ins Leben treten. Die Leitung des

Ziriels wird Frau MWenfheider: Ziegler, | Dr. phil, übernehmen. * Die Agitation für die Reihratöwahlen,

die die öſtreichiſchen Frauen in Ausſicht ftellten, | Hat mit einer großen öffentlichen Frauenverſammlung am 23. November in Wien begonnen, in der einige für den Reichsrat aufgeftellte Kanditaten der frei: finnigen Parteien ihre Progranıme entwidelten. Der Umftand, daß die Frauen ihr Intereffe an der Politit ihres Landes zum Gegenftand einer öffentliden Temonftratien maden und in organifiertem Worgehen bethätigen, daß ferner bie Kandidaten der Parteien durch ihr Erſcheinen zeigen, daß fie Wert auf dieſes Intereſſe und diefe Arbeit legen, ift entfchieden in der Geſchichte der öftreichifchen Frauenbewegung ein erfreulicher Fortſchritt. Eine andere Frage ift es, ob bie Ausführung der Temonitration, die Rejolution, die gefaßt wurde, ein taftiich richtiger Schritt war. Man lich die betreffenden Partei-Nandibaten ibre Barteiprı entwideln und faßte den bereits in der Eri rede der Einberuferin, Fräulein Ficert,

an: gebeuteten Beſchluß, in der fünften Kurie für die

Zozialdemotraten, in ber Städtecurie für bie Soialpolititer einzutreten, ohne damit bie eigene „bofitiihe Criginalität" aufzugeben. Maßgebend für diefe Entſcheidung war die Thatſache, daß nur von diefer Zeite für die Frauenſache Unterftütung zu erwarten fei. Der veitartifel, in dem bie „Dotumente der Frauen“ die Verſammlung behandeln, weiſt darauf hin, daß entſchieden eine untlarheit darin liege, die Kandidaten zur Er örterung ihrer politiſchen Anſichten aufjufordern und nachher dieſe politiſchen Anfichten für die Refolution gar nicht in Betracht zu ziehen, ſondern

„Arbeiterhanshaltungdbüpget3 aus dem deut · {chen Buchdruckergewerbe.“ Bon Dr. W. Abels: dorf. (Tübingen. ©. Laupp, Druderei) Unter: ſuchungen über Haushaltungsbüdgets von Arbeiter: familien gehören zu den wichtigften Hilfsmitteln bei der Erſorſchung und Feftftellung der Xebensbebingungen

der Arbeitertlaffe. Die vorliegende Beine Schrift |

iſt beſonders deshalb intereſſant, weil fie nicht die Büdgetd von Arbeiterfamilien an einem Orte ver: öffentficht, fondern Xuffchluß über bie Einnahmen und Ausgaben einer der beftgeftelltejten Arbeiter. tategorieen in den verſchiedenen Teilen des Yandeö giebt, nämlih von Arbeitern bed Buchdruder: gewerbed in Münden, Stuttgart, Karlsruhe, Seidelberg, Schwetzingen, Meg, Berlin, Hamburg, Leipzig, Bromberg. Die zahlreichen forgfältig gearbeiteten Tabellen zeigen, daß jelbft bei dem für Arbeiterfamilien verhältnismäßig hohen Ein: tommen (dad Durchſchnittsverdienſt der befragten Arbeiter ftellt fih auf 16,77 Mart jährlih) nur bei fparfamfter Wirtſchaftsführung ein Durchtommen möglid ift. &o haben die meiften aus 4 Berfonen beftehenden Familien ein monatlihes Nonte von

ungefähr 60 Mark für Lebensmittel, d. b. von |

50 ®f. pro Perjon und Tag. Die Ausgaben für Wohnung betragen faft überall Y/,—'/; des Gefamteinfommeng der Familie;

bemerlensowert ift dabei, daß ein Berliner Druder . genau den doppelten Betrag für feine Wohnung |

audgiebt tie ein Setzer in Meß, trogbem die Zahl der bewohnbaren Räume die gleiche ült.

| Wortes der Empfehlung mebr.

Die Heine Brofgüre Tann den Frauenvereinen! die | ſich mit der Arbeiterfrage beicäftigen wellen, zum !

Studium warm empfohlen werden; fie enthält ein reichhaltiges Thatſachenmaterial in fnapper Form und überfichtlicher Darftellung. Sie ift auch geeignet,

die Anregung zur Führung von Haushaltungsbühgets :

zu geben, und es bürfte deshalb für bie Mitglieder von Frauenvereinen, die Fühlung mit Arbeiter: familien haben, angebracht fein, die Heine Schrift zu verteilen und an der Hand derfelben auf bie Führung eines Ginnahmen: und Ausgabenfontos hinzuwirken.

Die erziehlihe Witkung einer gewiſſenhaften Buchführung würde fib in befferer Verteilung ber Ausgaben auf das ganze Jahr ſchon nah kurzer Zeit bemerkbar madjen; dadurch würde in vielen Fällen der Hleine Krebit, der den Preis der Waren erhöht, entbehrlich. Wie wenig in Arbeitertreifen auf ſolche kleinen Hilfsmittel einer geordneten Wirtfhaftsführung Wert gelegt wird, betweift der Umftand, dab Leine der Arbeiterfamilien, deren Büdgets in der Arbeit mitgeteilt werben, vor ber

i bes

253

Aufforderung des Berfaflers über Einnahmen und Ausgaben Bub führte. Je weniger Verftänbnis aber bie Arbeiterfrauen, die nur allzu oft ſchon mit Arbeit überlaftet find, für derartige Aufgaben haben, defto notwendiger ift es, fie mit dem Wert derſelben befannt zu machen.

„Geſchichte der Bädagogif umd des gelehrten Unterrichts‘ im Abrijje dargeftellt von Dr. Erwin Raufd. Leipzig, 1900. A. Deicertihe Verlags: handlung Nacht. (reis broſch 2,4 Bart, elen. geb. 2,80 Dart.) Tas Yuch, beitimmt Studierenden höheren Lehramts das Wictigfte aus der Gefchichte der Pädagogik zu bieten, zeichnet ſich vor manden andern ähnlichen durch Burze, Marc Faflung, durch präzife und überfichtlihe Darſtellung der Richtungen und Spfteme vorteilhaft aus. Es

| beruht mebenbei auf einem gründlichen Stubium

der neueften vitteratur auf diefem Gebiet und. tft jebent zu empfehlen, der zu eingehenderen Stubiunt feine Zeit und Neigung bat und doch über die Hauptfragen orientiert fein möchte.

„Heinrich Seidels erzähfende Schriften.“ «Eriheinen vollftändig in 53 Lieferungen zu 40 Bf., alle 14 Tage einctieferung. Stuttgart. 3. ©. Cottaſche

9.) Die eben en ben

. Band der „Beimatgeihic : Shluß. Wer fie tennt, für den bedarf do feines Wer fie in ber neuen Ausgabe zum eritenmal_ lieft, den wird ber eigentümlidhe Zauber Seibelicher Pocfie, der Zauber liebenswürdiger, friſcher und reiner, ge: nügiamer Aleinmalerei auch in ihnen wieder ge: fangen nehmen, und jo werden dieſe neuen xieferungen dem Unternehmen bed Verlags die alten Zreunde erhalten und neuc gewinnen.

„Ingenieur Horftmann.“ Roman von Wil heim Hegeler. (Berlin 1900. 3. Fontane u. Co.) Hegelers neuer Roman ift cin fehr ſpannendes Bud, und die Charaktere find mit ſcharfen Pinien getenngeichnet damit find aber auch die Vorzuge des Romans erſchöpft. Heillos oft geht bie an fih {harfe Charatteriftit in Karitatur über, pinbe: logifce Motivierungen fehlen gerade da, wo fie am wenigften fehlen dürften, und fänftiglich gleitet die Sandlung aus dem Gebiet des Wahrfchein- lichen in das des Senſationellen üben Rein litierariſch beurteilt macht Hegeler in feinem neuen Roman einen etwas „Iteden gebliebenen“ Eindrud.

Volitit und Frauenbewegung. 259

Punkt zu dem entfcheidenden gemacht: Die bürgerliche Frauenbewegung beichließt, in der fünften Kurie für die Sozialdemokraten, in der Städtelurie für die Sozialpolitifer zu arbeiten, in erfter Linie, weil fie fi dadurch den größten Erfolg für fich ſelbſt ver- ſpricht. Diefe Refolution if, ſoviel mir befannt if, von allen folgenden Wahl- verfammlungen bekräftigt.

Der Außenftehende Tann ſich des Zweifels nicht enthalten, ob die Verquidung diefer beiden Ziele: Frauenrechte und politifcher Einfluß eine glückliche und durchführ⸗ bare if. Wie vereinigt die bürgerliche Frau, die nicht Sozialdemofratin ift und deshalb von der fozialdemokratifchen Politit das Wohl ihres Landes nicht erwartet, ihre Arbeit für die Kandidaten diefer Partei mit ihrem politiſchen Gewiffen? Und andrerfeitd der Klerikalismus ift die ungeheure nationale Gefahr in Oſterreich; daß fie als ſolche empfunden wird, zeigt die Schärfe, mit der in den „Dokumenten ber Frauen“ felbft der Kampf gegen die Chriſtlich-Sozialen geführt wird fie ift eine nicht eben gewählte, aber jedenfalls gebotene Nutzanwendung ber Wahrheit, daß auf einen groben Klotz ein grober Keil gehört ob es angeſichts einer ſolchen nationalen Gefahr richtig ift, feine Arbeit an Bedingungen zu Inüpfen und durch Bedingungen zu befchränten? Frauen mit ftarfen politifchen Überzeugungen werden da am leiftungsfähigften fein, wo fie ganz für diefe Überzeugungen arbeiten dürfen, und es ift unter allen Umftänden ein bedenklicher Weg zu Gunften der Frauenrechte auf die Gefeggebung einzuwirken, wenn man feine Arbeit an ben Meiftbietenden verkauft und babei feine „politifche Driginalität” wahren will.

Der Konflit, in dem die Öfterreichifche bürgerliche Frauenbewegung fi in ihrer jungen politiihen Arbeit begeben mußte, ift ein notwendiges Stadium der Frauen: bewegung aller Länder, beſonders derer, die feine feminiftifche Partei in ihrem Parlament haben. In England ſchwebt die Frage: Women’s Suffrage a test question? heute noch. Aber man hat fie dort ganz anders, gabe entgegengefegt, behandelt.

Es ift ein harakteriftifcher Zug der englifchen Frauenbewegung, daß fie von dem Augenblid an, da Anna Jamefon mit ihrem berühmten Brief an Lord Ruſſell den Heinen beftehenden Anfängen eine ganz beftimmte Richtung wied, die Gemeinſamkeit der Intereffen und der Arbeit von Mann und Frau vor allem betont, ja die Anerkennung diefer Gemeinfamteit als ihr Ziel aufftelt. Der Ausdrud „Frauenrechte” iſt von Anfang an verpönt und wird von ben Führerinnen felbft immer wieder abgelehnt. In der duch John Stuart Mil geichaffenen Frauenftimmrechtsbewegung fpielen politifche Überzeugungen noch gar keine Role. Bon dem Moment aber, da die Frauen in den achtziger Jahren an der großen nationalen Politik teilzunehmen beginnen, gründen ſich Parteiorganifationen: Die große Women's Primnrose-League und die Women’s Liberal Association, von ber ſich fpäter, durch die Irland Politik Gladftone’3 veranlaßt, die Unionist Association abzweigte. Diefe Parteiorganifationen beftehen volllommen geſondert neben den Stimmrechtävereinen, fie haben mit der Frauen: bewegung als folder nichts zu thun. Für die Primrose-League gilt das bis heute, fie ift ein Zweig des fonfervativen Verbandes der Männer und bat feinerlei Sonder: ziel. In der Women’s Liberal Association liegt die Frage etwas anders. Gie wurde gegründet zur Vertretung und Verbreitung liberaler Grundfäge. Damit ift die Bugehörigfeit zu dem Bunde auf eine ziemlich breite Baſis geftelt, denn der Begriff „liberal“ läßt neben feinem Hauptinhalt: Home Rule, allgemeines Stimmrecht, Reform des House of Lords noch Raum genug für meitere Forderungen. Eine folde

17°

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260 Politik und Frauenbewegung.

Forderung konnte und follte nach Anficht vieler Mitglieder de Bundes daB Frauenftimmrecht fein. Es fchien in der Konfequenz einer der Hauptforderungen des Liberalismus: allgemeines Stimmrecht, zu liegen und konnte um jo eher von ber liberalen Frauenliga als ein Punkt ihres Liberalen Programms aufgenommen werden, als man fich nicht verpflichtet hatte, nur das zu vertreten, wofür fich bie liberalen Männer bereit? als Bartei erklärt batten. So ftellte man ſchon bei der Gründung der Liga neben den erften, Förderung liberaler Prinzipien, einen zweiten Hauptpunkt in das Statut: gerechte Gefeßgebung für Frauen und Kinder und Wahrung ihrer Intereſſen. Bon Anfang an aber und durch alle Jahresverfammlungen der nächſten Zeit hindurch wird um diefen Punkt geftritten. Es fcheidet fich die fogenannte „fort jchrittliche” von der „Antiftimmrechtöpartei”. Dan darf fi dieſe Gegenfäte aber nicht zu fcharf denken. Sie find weniger fachlicher als taktifcher Art. Perjönlich vertritt jedes einzelne Mitglied der Untiftimmrechtöpartei durchaus die Forderung des Frauenftimmrechts, nur als Partei, aus taktifchen Gründen, um die Gefchloffenheit der politiichen Aktion des Bundes nirgends zu gefährden, lehnt man es ab, das Frauen⸗ ftimmrecht zu einem Programmpunkt der Women’s Liberal Association zu machen. Andrerfeitd will die „Fortichrittliche Partei” das Frauenſtimmrecht nur als einen Punkt neben den ſchon genannten anderen aufgenommen wiſſen, ohne aber eine „test question“ daraus zu machen, d. 5. die Zuftimmung zu diefem Punkte zur Bedingung für die Zugehörigkeit zum Bunde zu machen oder fie im einzelnen Falle ala entjcheidend dafür anzujehen, ob man für einen liberalen Kandidaten arbeiten wolle.

Mehr als ein Jahrzehnt ift über diefer „Suffrage Controversy'‘ in ber Women’s Liberal Association dabingegangen, ein Jahrzehnt Fraftwoller, uneigennügiger Arbeit für Home-Rule, Welsh disestablishment, und General Suffrage. Die Women’s Liberal Association ift eine Macht geworden in der Zeit. Sie zählt 448 Zweigvereine und 57488 Mitglieder. Sie fonnte nun das Frauenftimmrect zu einem Punkte ihres Programms erheben, wohl verftanden, zu einem Punkte neben den andern, der als einzelner ebenfo wenig Gegenftand einer test question werben fonnte, als eine andere einzelne liberale Reform. Seitdem hat aber die nationale liberale Federation der Männer zweimal eine Refolution zu Gunften des Frauenjtimm- recht? gefaßt. Nun erft wird die Frage, ob jeßt nicht der Zeitpunkt gefommen jei, Women’s Suffrage zur test question zu machen, zur Diskuffion geftellt. Auf den legten Jahres: verfammlungen 1899 und 1900 wurde eine Refolution eingebracht, „daß nach Anficht der Generalverfammlung bei Wahlen fein Parlaments-Kandidat irgendwelche Unter: ftügung von feiten der Frauen erfahren follte, wenn er nicht als Freund bed rauen: ftimmrechtes befannt fei.” Die Refolution wurde aber abgelehnt, und eine andere an- genommen, die verlangt: „daß feine einzelne Frage im Programm der Women's Liberal Federation zur „test question“ dafür gemacht werden folle, ob ein liberaler Kandidat die offizielle Unterftügung der Federation erhalten folle oder nicht.” Die Begründung diefes Antrags ift fo charafteriftiih für die Auffaffung des Ver: bältniffe® von Politif und Frauenrechten bei den liberalen Frauen, daß ein paar Säße daraus bier im Wortlaut ftehen mögen:

„Diele von uns haben ein ſtarkes Sntereffe für irgend eine bejondere Reform, aber unfere Hingebung für den Liberalismus follte fo ftarf fein, daß wir und weigern, einen Kurd einzufchlagen, der den Erfolg unferer liberalen Kandidaten ſchwächen würde. Al treue Anhänger unferer liberalen Prinzipien müflen wir uns gegen alles

Politik und Frauenbewegung. 2861

verwahren, was dazu führen könnte unfere Sache zu ſchwächen, und ich frage die hier verfammelten Frauen, ob es je eine Zeit in unferer politifchen Gefchichte gegeben hat, wo es nötiger war, daß mir bad ganze Gewicht unſeres Einfluffes in die Wagichale werfen zu Gunften der Männer, die wir wahre und eifrige Liberale nennen können, ſelbſt wenn fie nicht in jedem Punkte mit uns übereinflimmen. Laffen Sie unferen Liberalismus fo ftark fein, daß wir unfern eigenen befonderen Wunfch beifeite fegen im Intereſſe der allgemeinen Einigkeit der liberalen Partei, denn aus unferer Uneinigeit würde unfere Unfähigkeit folgen, zufammenzuarbeiten, fie würde und als einen Bund liberaler Frauen ſchwächen, und ſchwächen würde fie unfere Sache und die Förderung liberaler Prinzipien.”

Auch in den Reihen der eigentlichen Frauenflimmrechtövereine wird diefe Taktik durchaus gebilligt. Mir ift wiederholt die Anficht entgegengetreten, daß erft, wenn einmal zu irgend einer Zeit feine Reformfrage von nationaler Bedeutung durch ben Ausfall der Wahlen nach der einen oder anderen Seite zu beeinfluffen fein würde, daß dann erft bie Frauen die Erfüllung ihrer eigenen Forderung zur Bedingung ihrer Bahlarbeit machen dürften, dab dann erſt Woman Suffrage eine test question werden dürfe. Dann aber wird das ganze Gewicht ihrer durch Jahrzehnte gereiften politifchen Thätigkeit, ihres in Jahrzehnte Langer jelbftlofer Mitarbeit bewieſenen politifchen Ernſtes dieſem Mittel den Erfolg fichern.

Man fcheint in Oſterreich mit dem beginnen zu wollen, womit man in England aufgören will. Ich glaube, daß die Erfolge der englifchen Frauenbewegung auf politifchem Gebiet ein ſtarker Beweis dafür find, daß ihr Weg der richtige war. Aber vieleicht gehört die Erziehung einer Jahrhunderte alten parlamentarifchen Verfaſſung dazu, um die Frauen eines Volles für diefen Weg fähig zu machen.

Es wird nicht lange mehr dauern, dann wird die deutſche Frauenbewegung in das Entwidlungsftadium treten, dem fie jegt in Öfterreich zufehen darf. Wie wird fie darin beftehen? Wir haben ja fo viel Muße, die Sache theoretiich kennen zu lernen, wird man bie Früchte unferer Muße nachher in unferer Arbeit erkennen? Ich bin nicht fier, ob bie beutfche Frauenbewegung bie ruhige Zurücdhaltung der engliſchen Stimmrechtsbewegung in ihrer politifchen Arbeit durchweg innehalten wird. Es giebt gerade da, wo mit „politiſchen“ Intereſſen etwas Dftentation getrieben wird, jetzt ſchon allerlei Symptome, die den Zweifel daran rechtfertigen.

Das ftärkfte ift die geringe Veranfchlagung der „gemeinnügigen Arbeit” gegen= über der Agitation. Ihr liegt diefelbe Einfeitigfeit zu Grunde, wie ber als unreif verpönten test Politik in England, dasfelbe rüdficht3lofe Beſtehen auf feinem Schein, was auch darüber ungelhan und ungefchehen bleiben möge; fie ruht wie bie test: Politik der politischen Frauenvereine auf der begrenzteren Bafis der „Fraueninterefjen”, während auch die Fortichritte der Frauenbewegung nur auf ber breiten Grundlage der „Volksintereſſen“ zu erreichen fein werden.

nn

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Ans der Berliner Koſtümſchneiderei.

Von

Karl Boyridt.

ILL IL ELLI NIS

Nachdruck mit Duellenangabe geitattet. Zu und Blüten; zwar nicht draußen in ber Natur, aber im bellerleuchteten * Ballfaal der Haute:volee und Finanz. Die Empireform und Pelzverbrämung find e8, die, neben reichlihem Gold: und Perlmutterflitter, das Feld der Beutigen Winters, beffer gejagt Ballmode beberrfchen.

In der Fülle elektrifchen Bogen: und Glühlichts ſchweben fie, die Glüdlichen, dahin, eingehüllt in eine Woge von Tül und Chiffon, Duft und Glan. Was fünftlerifches Können nur vermag, ift bier gegeben, um das Gute mit dem Schönen, das Praktiſche mit dem Zierenden zu verbinden, um jo, in der Harmonie der Farben, in ben Schwingungen des Körper? und jeinen Linien, ein Bild von unendlichen Liebreiz zu jchaffen.

Wer arbeitet aber auch nicht alles an diefen feenbaften Werfen! In allem Anfang die Mutter Erde und ihre Befteller,; ber Schaf: und Seidenraupen- Züchter, der Deutfche, der Chinefe und fo fort. Und dann weiter der Spinner und Weber zur Herftellung des Stoffes; der Künftler im Entwerfen der Modelle; Schneider und Schneiderin in der Verarbeitung des Stoffes zu dem, was die Leute macht; felbft der Maler fehlt nicht, und auch der Metall-Arbeiter bietet in Schnallen und Gürtel: ſchlöſſern jein Beſtes. Ein herrlicher Anblid, diefe großen Schlöffer und Schnallen aus Stahl und anderen orhdierten Metallen im Lichte funkeln und bligen zu fehen! Und doch bildet dies alles nur erft die eine Hälfte der Koftümfchneiderei, die, wie der fachliche Ausdrud lautet „franzöfifche Branche”. Neben dem Franzofen der Engländer; neben Spigen, Tül, Chiffon und Bändchen ber gediegene engliiche Stoff; neben duftigen Balltoiletten die einfache aber gediegene Arbeit der Konfeltion der Straßen: bekleidung, furz neben der franzöfifchen die englifche Branche.

Hierzu ein paar Worte! Als um das Jahr 1880 die englifhe Mode bei uns Eingang fand, das beißt, jene Kleidung, die eng den Körper umſpannt und in ihrer Art und Verarbeitung der Herrenkleidung nahe fommt, die ohne jeden Fylitter, nur durch Sig und gediegene Arbeit, die Vornehmheit der Trägerin befundet, eröffneten fh bier in Berlin die erften Atelier, um den Wünfchen nach diejer Kleidung gerecht zu werden. Hatte biöher das weibliche Element den Belleidungsmarft für dad eigene Geſchlecht behauptet, jo hörte dies nunmehr auf. Die englifche Branche machte ftärfere Hände und exaktere Ausbildung notwendig und beſchränkte die weibliche Arbeitskraft auf Haus-, Ball-, Hochzeitstoiletten u. |. w., während bie feine Konfeltion GStraßenbelleidung an die männlichen Arbeiter überging.

E3 dürfte intereflant fein, einmal einen Blid in das Leben und Treiben diefer „Arbeiter-Künſtler“, wie fie fich nennen, zu werfen, um im Anfchluß daran den Ent: widlung®gang der engliichen Branche zu ſchildern. Wie ſtets bei neu auftauchenden Moden oder Erwerbszweigen, fehlten, ala Mitte der achtziger Jahre die englifche Mode immer mebr der Herrichaft zuftrebte, die hierfür qualifizierten Arbeiter, und jo fam es denn, daß die Geichäfte, um ihre Kundſchaft zufrieden zu ftellen, fich Arbeiter aus aller Herren Länder verjchreiben ließen und ihre Werkitätten zu einem Sammelpunlt der verfchiedeniten Sprachen machten. England, bejonderd aber da® Land der „ſchwarz⸗

Aus der Berliner Koftümfchneiberei. 268

gelben Grenzpfahle“, ſchickte feine Söhne, die fih wiederum alle für „echte Wiener“ ausgaben, nach Deutichland. . Wien, wo die englifche Mode etwas früher Fuß gefaßt hatte, war gewiflermaßen der Lehrmeifter in der Biefigen, ja ich darf wohl jagen deuiſchen Koſtumſchneiderei“, und noch jet ift die Wiener Herkunft bei Gefellen und Meiftern ein gutes Aushangeſchild. Neben diefen „echten Wienern“ und all ben anderen Nationen, find «8 dann noch Hauptfäclih die Böhmen, die ein großes Kontingent zur Arbeiterfchaft der Koſtümbranche ftellen und bie, ihren Weg über Bredlau, Dresden, Frankfurt a. M. nehmend, nad Berlin kommen, um bier, nad Srlernung der deutſchen Sprache, von den „goldenen“ Früchten ihrer künſtleriſchen Bethätigung zu leben. Aber auch die Zahl der deutſchen Arbeiter ift, beſonders innerhalb der legten fieben bis acht Jahre, bedeutend gewachien und fteht, was bie Qualität ihrer Leiſtung betrifft, Hinter den Angehörigen feiner anderen Nation zurüd.

Wie alle Erwerbäzweige, die ihren Mann ernähren, breitete ſich auch die Koflüm- branche immer mehr aus; zu dem Handwerker - Künftler kam der Kaufmann, aus befcheidenen Atelier3 wurden große, mit allem Komfort der Zeit außgeftattete „Modeſalons“, und während, zum Teil durch eine eigenartige Verſchmelzung der englifhen und franzöfifchen Schneiderei, die Anfprüche an dad Können der Gehilfen und Meifter beftändig ftiegen, machte fi in den Lohn: und Arbeitöverhältnifien ein beftändiger Rudgang bemerkbar, der allerdings durch ein Überangebot von Arbeits- träften weſentlich erleichtert wurde. Man hatte Kapital in dad Unternehmen geftedt und wollte nun nicht nur verzinfen, fondern auch und möglichſt ſchnell amortifieren, von dem Gewinn und der möglichft glänzend in Rechnung geftelten Arbeitskraft der Unternehmer ganz zu ſchweigen.

&o kam es, daß die Löhne, die fi anfänglich auf 40—45 Mark pro Woche beliefen (die Höhe derſelben ift, angeſichts ber Außerft langen Zeit der Arbeitzlofigkeit und der an den Koftümfchneider berantretenden Anſprüche die Koftümfchneider werden vom Berliner Magiftrat als Kunſthandwerker eingeſchätzt keineswegs bedeutend) ftatt mit der Zeit, die Miete und Lebensmittel im Preife bedeutend erhöhte, zu fteigen, beftändig ſanken. Die Arbeitszeit wurde ausgedehnt, die für den Arbeiter fat unmögliche Stüdarbeit eingeführt, und das alles, obwohl die Anfertigungspreife das Facongeld mit der Zeit abfolut mitgingen und fih am Steigen wader beteiligten.

Da kam mit dem Jahr 1896 das gewaltige Drama in ber Lagerfonfeltion, das den Koftümfchneidern den Weg der Selbfthilfe wies. In der Erkenntnis, daß es fo wie biöher nicht weiter gehen könne, verlangten fie von der Unternehmerfchaft den neunftündigen Arbeitötag, den fie durch einmũtiges Zufammenhalten denn auch erhielten. In den nun folgenden Jahren war es befonder die feiner Vereinbarung oder richtiger, der freien Vereinbarung zwiſchen „PBrinzipalen und Gehilfen” unterliegende Lohn: zahlung, die fortwährend Stoff zu Konflikten lieferte. Diefen durch Aushängen eines Tarif, wie er in anderen Berufen ſchon vorhanden, zu befeitigen, wurde im vorigen Jahre befchloffen. Da dieſes Verlangen von der Arbeiterjchaft geftellt wurde, ftieß es, obwohl die im Tarif feftgelegten Löhne 40 Mark im Höcftfall keineswegs über bie bereit3 bezahlten binausgingen, auf den heftigfien Widerftand der Unternehmer. Als diefe den Tarif und feine Ausbängung fchließlich doch anerkannten, kam es zur Ein- führung der Hausinduſtrie- und Heimarbeit mit al den Gefahren für bie Kundſchaft und mit all dem Elend und der Not für die Arbeiter, die dieſe mit fi) bringt.

Zur Charakterifierung diefer Art Produktion ein paar Worte aus den Reichstags: verhandlungen des Jahres 1896 zur Zeit des großen Konfeltiondarbeiterausftandes. Damals füßcte der Interpellant der nationalliberalen Partei Freiherr Heyl zu Hernsheim aus: „Die Arbeiterinnen lehnen fih auf, und wie ich glaube mit einem gemwiflen Recht, gegen die Ausbeutung diefer „sweater“, welche in ganz Europa als ein Krebs⸗ heben „merkannt find am Leben und an ber Thätigkeit diefer hausinduſtriellen

tbeiter”.

Und wie der Interpellant, fo die Redner aller übrigen Parteien. Selbft die Antwort der Regierung verhält fih durchaus zuſtimmend. Vom Staatsſekretar des

264 Aus der Berliner Koftümfchneiderei.

Innern Freiheren von Bötticher wird die Beleitigung der heregten Zufände, die er als eine der „Ichlimmften Wunden” unferes toirtichafttichen Lebens bezeichnet, allen Baterlandäfreunden zur dringenden Pflicht gemacht.

Aber auch der Kundfchaft ermächft durch Verlegung ber Arbeit aus den Werf- ftätten der Gejchäfte in die Hausinduftrie und Heimarbeit eine immenfe Gefahr, und zwar liegt diefelbe in der Übertragung von Krankheiten durch in ber Hausinduftrie bergeitellte Kleidungsftüde. Auch Hierüber bietet die Debatte reichliches Material').

Sp führte unter anderem der Abgeordnete Filcher aus: „Denn, meine Herren, diefe Sweaterſtuben find ja nicht bloß Wohn:, Schlaf: und Arbeitsftuben zugleich, fie aA zugleich auch noch Krankenaſyle, man kann fagen, fie find die Brutftätten typhöſer

pidemieen.“

Auch andere Autoritäten äußern ſich ebenſo. So ſagt der Kaſſenarzt und Kreis⸗ phyſikus Dr. Knopf in Weimar: „Auf Ihre Anfrage, betreffend die Übertragung von Krankheiten durch Kleider, möchte ich erwidern, daß folche viel häufiger geſchieht, als gewöhnlich angenommen wird. Insbeſondere möchte ich nicht bezweifeln, daß eine MWeiterverbreitung von anftedenden Krankheiten, 3. B. Diphtherie, Scharlach, Schwind⸗ ſucht, Mafern u. ſ. mw. leicht aus den Stuben folcher Schneider, deren Räume zugleich als Arbeitz:, Wohn:, Krankenzimmer und Kochraum dienen müflen, ftattfindet.”

Und ein anderer Arzt jchreibt in Ddiefer Beziehung, wie die Brofchüre des Fl. Oda Olberg citiert: „ch erachte die Übertragung von Krankheiten durch Stoffe, die mit erkrankten Perſonen in längeren Kontaft gefommen find, für möglich bei folgenden Krankheiten: Diphtherie, Rofe, Scharlah, Mafern und allen afuten Exanthemen, bei Phthiſis, und zwar hier, weil jede hygieniſche Vorfchrift außer acht gelafien zu werden pflegt, und auch bei Syphilis im Stadium der Eiterung, falls diefer Eiter die Stoffe berührt.“

Alles dies würde auch in der Koftümbranche die Frucht fein, wenn die Hauß- induftrie noch weiter zur Einführung gelangen würde. Daß dies in ber Abficht der Unternehmer liegt, wurde mir von einem Arbeiter, der mit, dem Vorſitzenden des Arbeitgebervereind über diefe Frage verhandelte, verbürgt. Schon jegt bat die Haus: induftrie bedeutend zugenommen; Gejchäfte, die bis vor furzem 25 und mehr Arbeiter beichäftigten, haben deren jett noch 6—7, während alle andere Arbeit in der Haus: induftrie angefertigt wird. Und wer bat ein Intereſſe an ber Einführung der Haus: induftrie und Heimarbeit? Eine kleine Gruppe von Unternehmern, während bie Gefundheit der Kundjchaft und die Wohlfahrt einer großen Arbeiterichaft dringend bie Befeitigung der Hausinduftrie fordert.

Und darum muß im Intereſſe einer Kundjchaft, die für ihre Garderobe Preife bezablt, welche die Anfertigung bderjelben in eigenen und gejunden Räumen geftatten, im Intereſſe eines intelligenten Arbeiterftandes, im Intereſſe und zur Wohlfahrt aller Beteiligten die Parole aller Kundſchaft: Herftellung der Garderobe in den eigenen Werkftätten der Gejchäfte fein.

Denn: „Sch möchte mir zu bemerken geitatten, daß der Kampf gegen das sweating-Cpftem in ganz Europa aufgenommen ift, daß man in allen Kulturftaaten es al3 eine ernite Aufgabe aufgefaßt Hat, das sweating-Syſtem vollftändig aus: zurotten.” (Freiherr von Heyl zu Hernsheim im Reichätage.)

Doch weder der Streik der Konfeltiongarbeiterinnen im Sabre 96 noch all bie Ihönen Reden des Interpellanten und Negierungdvertreter® haben auch nur das Geringfte genügt. Eine Verordnung des Bundesrats vom Sommer 97, die für die weiblichen Arbeiter die tägliche Arbeitszeit auf 11 Stunden feitießte, bat die Arbeit nur noch mehr in dad Heim der Arbeiter und Arbeiterinnen verlegt, wo man aus der 11 bequem eine 14, ja 18jtündige Arbeitszeit machen kann.

) Es Sei bier auch an die bekannte heftige Erkrankung eines engliſchen Lord-Mayors durch ein in der Sausinduftrie bergeitellte® Uniformſtück erinnert. Wie erwieſen, tft mit demfelben ein an Scharlady erkranktes Kind zugededt worden.

Lebensbild. 265

Und wie in der Konfektion, fo in der Koftüm-Brande! Helfen kann Hier allein eine fih immer mehr außbreitende Erkenntnis von der Schäblichkeit der Haus: und Heimarbeit, die, weit davon entfernt, die Familie zu erhalten, die Familie untergräbt; die v das Nolmenbigfte zur Führung eines Heims, eben dad Heim, nimmt, die aus der ſchon fo Meinen Wohnung des Arbeiters eine vom Arbeiter für den Unternehmer zu bezahlende Werkftatt macht und der Familie die Ruhe und den Frieden taubt.

Bor mir liegt das Januarheft der „Frau“ vom vorigen Jahr, wo Dr. W. Bode: Weimar in einem trefflichen Artifel „Sozialpolitifche Kauferinnen-Vereine“ betitelt, den Weg zeigt, der im Intereſſe von Konfumenten und Produzenten gegangen werden muß, um den Mißftänden, wie fie ſich jegt mieder in der Roftüm-Branche jo unliebfam bemerkbar machen, entgegen zu treten.

Es dürfte die Zeit fein, daß auch bei uns das kaufende Publikum in einer Konfumenten:Liga vereint darauf achtet, daß an den von ihnen getragenen und Konfumierten Waren nicht dad Blut armer Arbeiter und Arbeiterinnen haftet.

Dazu wird das näcfte Frühjahr Gelegenheit bieten. Die Arbeiter und Arbeiterinnen der Koftüm-Branche erbitten zum erftenmal die thatkräftige Hilfe aller Konfumentinnen ihrer Brande im Kampf gegen die Hausindufltie und Heimarbeit. Es wird Sade aller Konfumentinnen fein, darauf zu achten, daß die von ihnen beftellte Garderobe in den eigenen Werkftätten der Gefchäfte angefertigt wird. Zur Erreichung dieſes Ziels beabfichtigen die Arbeiter, die Geſchafte, die zum Teil oder durchweg Hausinbuftrie führen, der Kundſchaft zu gei meter Zeit befannt zu geben. Hoffen wir, daß durch das vereinte Bemühen der Konfumenten und Produzenten die Hausinduftrie in der Koſtumbranche vollftändig befeitigt werde.

Er &ebensbilt.

& haben auch Not zu koſten befommen Als tägliches Brot.

Mit fchwellenden Segeln fam fie gefchwommen Beim früheften Rot.

Sie hatte den Zwei'n den Mut nicht genommen, Sie paden fich feft

Die Hände, wenn fie vom hunger beflommen Die Sicherheit läßt.

Sie find fo durchs Leben leidlich gefommen. Es nahte der Tod

Und hat nur das Eine mit fich genommen Da fam erft die Not.

Maja Watihey. ae 2 = Se

Ein Hochzeitätag.

„Weißt du, worüber ich eben nachdachte ?" fragte fie nad einer Paufe. „Wie es dem Menſchen ergehen mürbe, der fih fo los machte vom Troß und bahinftürmte vol Mut und Feuer!”

Er lädelte halb gutmütig, halb traurig.

„Rein liebes Kind, das kommt im ganzen zu felten vor, als daß es lohnte, darüber nachzudenken. Wahrſcheinlich würde ſolch ein Wildling auch manchmal Heimweh haben nach dem Troß. Das iſt nun ſchon einmal ſo.“

Sie ſah ihn bittend an.

„Und doc,” begann fie langfam und mit überredendem Ausbrud, „könnte ein folder Augenblid vollerfaßten Lebens nicht ein langes, ödes Durchſchnittsdaſein auftwiegen?”

„Nein,“ ſagte er entſchieden. „Das iſt nimmermehr Wirklichkeit, das iſt deine ge: fährliche Poefie. Vollerfaßtes Leben ſieht anders aus.“

Darauf ſchwieg fie und fenkte den Kopf noch tiefer. Im Weitergehen beobachtete er fie ab und an mit forfhenden Augen, in denen fi} eine Beforgnis fpiegelte, die viele Jahre gefchiviegen hatte.

Allmahlich begann es unmerllich zu dunfeln. Über den Himmel floffen die fanften Farben der Frühlingsdämmerung, lichte blaue und grüne Töne, ineinander verſchmelzend. Das Paar näherte fi jegt ber inneren Alıftabt, und die Frau ſah wieder auf. Ihr Blid bing an ben altväterlichen Giebeln und Efien, die ſchwarz und wunberlid in ben abenbhellen Himmel aufragten.

Unter diefen Giebeln und Efjen mar fie groß getvorden, in früh geäußertem, viel- gerügtem Widerſpruch gegen die Drbnung und den Brauch, die fie hüteten. In Auflehnung gegen das allgemeine Einverftänbnis in Dingen eines zügellofen Egoismus und einer heuch⸗ lerifhen Moral. Im Sehnen und Taften nad) einem Andern, Neuen, Namenlofen, das, wenn es auch nicht unmögliche Vollfommenheit mit fi führte, doch von der troftlofen Uns ſchönheit und Brutalität des menſchlichen Drängens und Treiben erlöfte. Jetzt mußte fie, daß der gewaltige Grundlaut der Natur {don in jenen Tagen in ihr erklungen war, als fie in Beobachtung und Erfaffung alles Lebens und feiner Probleme quälende

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Empfindungen einer ungeheuren Leere und zehrende Wehmut ihr Herz zerreißen fühlte. Damals wies fie freilich jede derartige An- fpielung mit Entrüftung zurüd. Denn gerade das Hohnlächeln und die mitleidige Überlegen: beit, die man für das „überfpannte, junge Mädchen” hatte, fteigerten ihren Widerftand und ihre Abfage an das Gewöhnliche, ja, an das Natürlihe. So gedachte fie fih von ihrer natürlichen Beftimmung aus freiem Ent: ſchluß zu emanzipieren. Sie entbedte ohnehin zuviel Komik in dem bewußten und unbewußten Drängen der Gefährtinnen ringsum zu bem einen Biel, dem Manne, und wollte über diefer natürlichen Treibjagd ftehen. Vergeblich riet ihre Sippe zur Erhörung eines ber ftatt- lichen Freier, die Mut genug hatten, um fie zu werben, unb zerbrach ſich den Kopf darüber, wie ber weibliche Sproß ber ehrbaren Familie zu dem unholden Funken aus bämonifcher Heimat gelommen fei. Yanatifer unter ben Giebeln fahen fie bereit? im Irrenhauſe, während wohlwollenbere Kenner noch immer bie Che als geeignetes Inftitut für fie empfahlen. Und eines Tages fchienen biefe legteren zu triumphieren. Cie ging wirklich jubelnd den Richtweg alles Weiblichen. Aber nur, weil fie einen gleichgefinnten Menſchen gefunden Hatte, defien Erfdeinung über- mältigenb auf fie gewirkt hatte. Sein offen bare Zufunftshelventum, die Weite feines Horizontes, fein ſcharfer und ſicherer Blid, der zerfegenb in Irrtümer und Schädlich- feiten drang, feine überfhäumende Kampf: bereitſchaft hatten fie mächtig zu ihm gezogen. Begeiftert fah fie zu ihm auf.

Fortan erfchütterte fie auch Fein Einfluß mehr aus unbefannter Sphäre. Die geliebte, ſchützende Geftalt an ihrer Seite leitete alle rätfelvollen Stimmungen ab. Aber ad, eins blieb aus. Gerade aus dem Sturm auf bie alten Giebel und Eſſen wurde nichts. Die ftrahlende Hochburg, die an ihre Etelle rüden follte, wurbe nicht gebaut. In der Ehe begann ihr Held über das große Thema einfilbig zu werben, bis zum Widerfpruch, bis zu völligen Verftummen. Und fie litt beinahe phyſiſch darunter, fih dem ihr nächſten, geliebten Menfhen in dieſem Drange nicht mehr er= ließen zu können. Cie faßte es nicht, daß

268 Ein Hochzeitätag.

diefer ſtille Mann, der jebt ganz und nur in feiner ſchlichten, bürgerliden Stellung und Arbeit um das Brot zu leben jchien, ver feine rau mit fanfter, aber fefter Hand in die Alltäglichkeit niederzwang, ihr Mann fei. Manchmal beobachtete und umlaufchte fie ihn mit Hingebung, um auf den eigentlichen Kern feiner neuerlichen Überzeugung zu kommen. Aber dann erfchredte er fie immer durch ein abwehrendes, ernüchterndes Wort, und fie trodnete heimliche Thränen.

Er blieb plöglich ftehen und drückte ihren Arm leife an fih. „Denkſt du auch daran?” fragte er herzlich.

Eine ſchmale Seitenftraße, aus ver es etwas ftidig roch, that ſich vor ihnen auf. Verwitterte Häufer ftanden umflort von ber Dämmerung mit dumpfer Botfchaft der Ver: gangenbeit.

„Sa, ich denfe daran,” ermiberte fie ein- tönig. „Heute vor zwölf Jahren, da zogen wir bier ein. Wir waren eben getraut. Unb das Haus war ſchon damals fanitätswibrig.“ Sie machte fih von feinem Arm los und ftand da, allein und nachdenklich. Zerſtreut lächelnd, faft ironifch ließ fie ihre Augen an befagtem Haufe entlang wandern.

Er lächelte auch, aber ein fchönes, marmes Lächeln.

„Es ift unrecht, daß wir den Tag beinahe unerwähnt haben verftreichen laſſen,“ fagte er. „Bir begründeten an ihm unfer Glüd.”

„Unfer Glück?“ erwiderte fie fragend. Sie fah ihn dabei rafch und durchdringend an.

„Iſt es möglich?“ ſagte er balblaut. „Du zweifelſt an unſerem Glück?“

„O nein,“ erwiderte ſie, und ihre Stimme klang heller als gewöhnlich. „Aber ich finde, daß wir mit jenem Tage unfrei geworden ſind.“

„Unfrei ſind wir immer, ob verheiratet oder nicht,“ kam es ihm von den Lippen.

Sie war ſehr froh, endlich einmal von ihm wieder ein lang vermißtes Wort zu hören. „Gewiß; immer unfrei,“ ſagte ſie eifrig. „Aber nach der Verbindung mit einem anderen Weſen doch noch unfreier.“

„Und das, was wir durch die Verbindung gewinnen, willſt du gar nicht gelten laſſen?“ fragte er, ſofort einlenkend. „Ich meine, gerade wir beide haben keinen Grund zu

ſolcher Undankbarkeit.“ Da fie etwas hinter ihm herging, zog er ſie wieder an ſich heran.

„Weshalb verſtehſt du mich nicht?“ erwiderte ſie dagegen unmulig. „Wir gehören natürlich zu den glücklichſten Eheleuten auf Erden. Aber es iſt nicht das Glück, das wir erſtrebten, damals vor der Ehe.“

Da war es, da hatte ſie es rund heraus geſagt. Er ging ſchweigend neben ihr weiter und ſah häufiger noch in ernſtem Sinnen auf ihre zarte Geſtalt nieder.

Es hatte eine Zeit gegeben, da ihres Weſens Gründe ihm durchſichtig erſchienen waren. Später mußte er ſich eingeſtehen, daß er geirrt habe. Aber um ſo gründlicher

gab er ſich darauf dem Studium ihrer reiz⸗

vollen Pſyche hin, und ſo herb und dunkel ſie oft reagiert hatte, jetzt meinte er in ihr beinahe ebenſo gut leſen zu können wie in ſeiner eigenen. Und nun ſchien ſie willens zu ſein, laut und entſchieden über all das zu ſprechen, was er jahrelang umgangen hatte. Mit einem kleinen Seufzer ſagte er ſich, daß es eine bittere Aufgabe ſein werde, dieſe dramatiſch bewegte Seele aufzuhalten und dabei eigene, überwundene Weltſchmerzen zu wecken. Und wie würde es weiter gehen? Würde ſie gleich ihm ſich fügen und ergeben? Sorge erwuchs ihm aus Sorge.

Sie hatten nun die Stadt durchquert und gingen eine andere dämmewolle Straße hin⸗ unter, die ſich auf den Fluß öffnete. Mit mattem Spiegel ruhte unten das Waſſer und ſandte einen feinen Silberglanz in die Straße. Ein großes, fremdes Schiff ankerte da. Seine hohen Maſten ſpannten ſich geſpenſtiſch gegen den Abendhimmel.

Einen Augenblick hoffte er, daß dieſer Anblick ſie zerſtreuen werde. Wenn ſie ſonſt durch dieſe dunkelnde Straße gegangen waren, das glänzende Waſſer und den weiten Horizont vor Augen, hatte ſie ſich immer über den großen Ausblick gefreut und die fremden Schiffe angelacht wie ein Kind. Heute hob ſie kaum den Kopf, und eilend ſtrebte fie vor: wärt3, der Brüde zu.

Hier gerieten die beiden in einen gewaltigen Menichenitrom. Denn um diefe Zeit warf bie große Fabrikſtadt einen Teil ihrer Bürger aus, zumeilt das arbeitende Element. Hin

Ein Hochzeitstag.

und wieder tauchten aus dem Gebränge auch verivegene Mienen, wilde Augen auf, in ber matten Beleuchtung doppelt bänglih zu ſchauen. Unwillkurlich fah fi er nad ihr um. Unter folden Umftänden drängte fie ſich immer wie ein ängftlicher Bogel an ihn. Under erſchrak, als er fremde Gefichter um ſich ſah und fie dann meit voraus gewahrte. Er war irgendwie ein Stüd zurüdgeblieben, und fie batte nicht auf ihn und feinen Schuß gewartet. Und als er fie eingeholt hatte und ſich ihr gejellte, nahm fie feinen Arm nit, und eine Heine Bewegung fagte ihm, daß fie allein gehen wolle.

Jenſeits befanden fie fih bald in faſt länbliher Umgebung und Ruhe. Fern und grollend verflangen die Geräuſche der Stabt. Über den Zäunen wehte im Abendwind ganz junges Laub, und am Horizonte ftand eine dichte Wipfelreife. Von hier und von bort tam ein füßer Geruch, fo herb und fo friſch dabei, wie ihn nur neuentſproſſenes Blattwerk entfendet. Was fühlte da die Frau im Boden unter ihren Füßen quellen und fi melben? Ein Schauer überflog fie. Sie meinte, der Mutterarbeit der Natur gelauſcht zu haben, und fie empfand die laftende Schwere ihres eigenften Zuſammenhanges mit dem ungeheuren mütterlihen Urſchoß.

Aber fie gab fi damit nicht zufrieden. Sie ließ ih von dem verräterifchen Traum: fpiel der Natur nicht einlullen. Der große Entſchluß, der feit Jahren langſam in ihr geleimt hatte, ward plötzlich reif und feft.

Mit haftiger Frage wandte fie fi dem Mann zu, der ftumm an ihrer Seite fchritt. Weshalb ſchweigſt du? Haft du Feine Antwort auf das, was id dir fagtet Iſt es nicht endlich an der Zeit, uns auszuſprechen?“

„Du willſt ja das nicht hören, was allein ih dir erwibern kann,“ fagte er mit einem trüben Lächeln. „Du verlangft zuviel. Laß dir genügen an unferm Teil Erbenfeligteit. Wir genießen fie thatfählid. Millionen ift fie nicht beſchieden.“

Wieder zeigten fih Unmut und Ungebuld in ihrem Blid, aber fie beſann ſich. In ihren Worten freilich zitterte die große, ſeeliſche Erregung nad. „So muß id dir fagen, daß du bein wahres Empfinden vergeblid vor mir

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verbirgft in beiner Herzenägüte und Bartheit. Denn ich bin deſſen gewiß, daß bu meißt, was ich unter Glüd verſtehe. Nicht Spieß⸗ bürgerzufriedenheit. Ich weiß, daß du haberft wie ih mit der ungeheuerliden Macht, bie unverftänblid um ung raunt, die und zufammen= getrieben, uns betrogen hat. Was hat fie uns verheißen und was gegeben?”

Er umterbrady fie. „Du denkt an unfer Tränfelndes Kind?“ fragte er vorfichtig.

Sein Ablenten und abſichtliches Miß— verftehen reizten fie.

„Ich denke an beibe,” war ihre herbe Antwort. „Ich fehe fie beide, auch unfer ftarfes, begabtes Kind, kränkeln an der alten Kultur, in bie fie hineinwachſen. Unb id ſehe, daß du ihnen dabei Vorſchub leiſteſt, unferer Überzeugung entgegen. Du zeigft ihnen bie Ideale der Menge. Meine Kinder lernen Befig und Anfehen ſchätzen. Ich denfe an unfer beiber ftumpfe, paffive Exiftenz unter Zuftänden, an beren Gefundung wir einft mit ganzer Kraft arbeiten wollten. Ja damals! Und nun, nun tappen wir ſchweigend durch al die Lüge und Verkehrtheit und Unmöglid- feit und ziehen ala Gipfel des Leides unfere Geſchöpfe, unfere armen Kinder mit hinein. Und daß du es fo haben willſt! Daß du mid dazu zwingſt und die Kinder nad; dem alten Mufter erziehft! Aber ich weiß aud, daß bein Kampf ums Brot di foweit ges bracht hat. Willft du mir alfo nod länger Erdenſeligleit vortäufchen? Unſer egoiftiiches, Heine Glüd betonen? Ad, laß doch dies Verftedfpiel, laß uns uns finden wie damals, in freien Gedanken!”

„Du weißt, gegen wen bu fämpfft, mein armes, unfluges Kind,” fagte er fanft.

Nun nahm fie ihren legten Anlauf. „Ja,“ rief fie, „ich Tämpfe gegen die Selbſtknechtung der Menfchheit vor ihren alten Gößenbilbern. Ih kämpfe für die neue Kultur, die in ber Luft liegt, die geboren werden will. Und mir, wir haben fie ſchon fo lange, Harer wohl noch als andere vor uns, gejehen. Weißt du es benn gar nicht mehr? Damals, als wir nod frei und mutig waren. Gerade bu machteſt dich ja zum Streiche fertig. Doc dann, ad dann kamen eben die Brotforgen, die Kinderforgen, du mußteft an den Arbeits:

Ein Hochzeitätag.

Ein ftehender Schmerz durchzudte fie. Nun gab es feinen Zweifel mehr, ihr Gatte mar feine auserwählte Edelnatur. Cr dachte nit daran, den gewaltigen Kampf auf- zunehmen, in ben fie ihm fanbte, an deſſen Berechtigung und Erfolg fie feinen Augenblid gegweifelt hatte. Damit brach die Welt ihrer Träume, in der er bisher als Held aufgeragt hatte, zufammen.

Ihr Schweigen beunruhigte ihn. Mit einem Anflug von Erregung verfuchte er ihr eingehender Harzulegen, wie leicht es ji von neuen Grundlagen des Seins und ber Ge- ſellſchaft reden laſſe, wie undenkbar jedoch ihre Verwirklichung fei, wenn man bie menſch⸗ lie Natur in Betracht ziehe.

„Dann,“ fagte fie endlich falt, „bleibt mir nur noch meine Ahnung bon der Erlöfung des Menſchen durch das Weib, das feinen Dämon nieberringt. Wenn mein Ahnen von der Selbfterlöfung ber ſittlich gereiften Menſch⸗ heit nichtig ift. Wenn meine Sehnſucht nad ſchöner und gefunder Wirllichkeit für jedes Gefhöpf im Leid des Daſeins untergehn fol, ohne je Stilung zu finden!”

„Aber mein liebes Kind, wer hat denn von ſolchem Untergang geſprochen,“ rief er. „Deine Sehnfucht, deine Ahnungen, ſoweit fie nit mörderiſch find, will ih bir um feinen Preis beeinträchtigen. Sie reden ja aud in meiner Bruft gebieterifh, fie gehören feit Jahrtaufenden zum beften geiftigen Befig der Menſchheit. Nur verlange nicht gleich, fie zu verwirklichen, Ideale an die Straße zu ftellen, für die die Erde nicht reif ift. Noch lange nicht. Raum ganz leife verheißende Zeichen bemerkt der, der ſcharf hinausſpäht und horcht. Eines freilich habe ich foeben am eignen Leibe verfpürt,” lachte er dann heiter auf. „Hat meine vielgeliebte Frau mir nicht heute freitoillig, ebeliten Motiven folgend, meine Freiheit zurüd: geben wollen? ft die veritable Überfrau damit nicht geprägt?”

Ihre Eeele zog fich ſchaudernd zurüd. Mit ſolchem Scherz konnte er fließen, nad: dem fie ihres Weſens ftärkiten Drang ihm geoffenbart Hatte. Das mar alles! Und immer biefer troftlofe Hinweis auf die Uns mwirklicleit der höchſten und reinften Impulſe des Menſchen! Eeit Yabrtaufenden nur

erı

geiftiger, nur toter Befig, nie eine Möglichkeit denkbar, ihn in wirklich pulfierendes Leben in Haus und Eirafe umpufegen. Berzweiflung wollte fie überfommen. Wenn ihr Gatte, diefer Mann mit dem tiefen Gemüt und bem groß angelegten Charakter, ſich zu den Trieb: menſchen und bem Mittelmaß ſchlug dann lebten die Evelnaturen wohl nur fchattenhaft und blutlos in ihren ſehnſüchtigen Träumen. Uber der Glaube an fie und dabei immer zugleih an ihren Mann gehörte ja zu ihren Lebensbedingungen!

Unter laftendem Schweigen gingen fie weiter. Er empfand ihren ftummen Schmerz und ihre Empörung, aber ſchließlich befiel ihn ein gelinder Ärger. Sollte ihr Cheglüd nun wirklich leiden? War nicht eigentlih ſchon etwas Pathologiſches in ihren Afpirationen? Er betradhtete fie ängftlich, aber er empfand nur mit ungewöhnlicher Stärke ihren hoben, geiftigen Reiz, eine fehr große, ſtrenge Schön- heit, bie fich freilich ihm zu entziehen fuchte. Sie blieb eben unter allen Umftänden bie Poeſie feines Daſeins. Und nun warf er fi vor, daß er fie auf feinen Wegen zu feiner nur zu getreuen Gehilfin gemacht hatte. Mußte fie bei ihrem glühenden Intereſſe nicht unenbli viel mehr und viel tiefer fehen ala andere Frauen, als viele Männer? War es ein Wunder, daß fie ſich in ftolger Ohnmacht binausfehnte und binausredte über die Erde? Und war e8 nicht andererſeits fein ftilles Ent⸗ züden, daß ihr Herz von armer Liebe und Selbftvergeffenheit überquoll für alles, was fonft von verftändigen Leuten nicht eben ge: liebt und zart behandelt wird! Würde er dieſe Heine, leichte, gefegnete Hand je miſſen fönnen?

Daraufhin dachte er nur noch daran, ihren Konflikt zu befeitigen, und da fam ihm ein Gedanke.

„Übrigens, mein Kind,” fagte er plötzlich in ganz berändertem Tone, „till ich wenigſtens nicht hinter dir zurüdfftehen. Sch begreife voll⸗ ftändig, daß du mit einem fo gewöhnlichen Gefellen, der ih wohl bin, nicht weiterleben tannft. Deshalb gebe ich dir meinerfeitö deine Freiheit zurüd. Vielleicht findeft du draußen die Größe, die mir abgeht.”

Sie hatte aufgehorht, war zufammen- gefahren und fah ihn jegt mißtrauiſch von der

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Seite an. „Solde Scherze laß’ doch,” fagte fie ſchroff.

„Bewahre,” ermwiberte er. „Es ift mir mit meinem Borfchlag ganz ebenfo ernit wie dir mit dem deinen. Es wäre ja graufam bon mir, dich meiter an meine Perfon zu feſſeln, nachdem id) deine Erwartungen fo ge⸗ täufcht babe. Wie follte beine auf Helden und Großes gerichtete Natur weiter mit mir ausfommen! Ob du draußen das finden wirft, was du fuchit, bezweifle ich zwar. Für das, was bein großes, warmes Frauenberz plant, ift in der wirklichen Welt fein Platz. Sn ihr behaupten ſich höchſtens die land⸗ läufigen MWeltbeglüder und Träger neuer Kultur, und auch die mit Mühe und Not. Und denen würdeſt du auch wahrſcheinlich anheimfallen. Freilich graut mir bei dem Gedanken, dich, mein fenfttives Kind, in folchen Händen zu willen, und was bei beinem Sceiden aus mir wird, brauche ich dir nicht zu fagen. Trotzdem dein flummes Mar- tyrium neben mir fönnte ih erft recht nicht ertragen. Deshalb geh’!“

No einmal fah fie ihn zmeifelnd an. Er war fehr ernft, ein entfchloßner Zug machte fein Gefiht faft hart. Und fie fpürte jebt unwillkürlich weiter in feinem Antlitz und ſah darin wie immer die reichlihen Spuren eines tieffinnenden, feinen Geiftes. Zahlloſe Äuße⸗ rungen besjelben wurden ihr lebendig, damit aber auch der ganze intime Reiz, die elementare Stärke ihres Zuſammenhanges. Und mehr noch erfpähte fie. Stärker ging der Wind durch die ſchwankenden, jungen Fichtenzweige, fühl ftrih er um ihre Schultern. Sie fah nun alles, wie ed war, matt, filberbläulich, fühl. Eie ſelbſt war wieder flein und zart und furdtfam geworden. Und fein klingendes „Geh'“ Täutete fort.

Zu gleicher Zeit verließen fie das MWälbchen und kehrten zu einer Fleinen Straße bes erreichten Borort3 ab. Einige allerbefcheibenfte Landhäuſer bargen fich hier hinter alten, hoben Bäumen. Ganz hinten auch ihr kleines, weißes Haus. Diefes Haus umſpannte bie Frau jetzt in ihrem bangen Sinnen. Sie fah im Sommer Roſen wehen und im Herbſt den Mein. Sie fpürte die reine, friſche Atmofphäre des kleinen, weißen, roſenlachenden Hauſes,

Ein Hochzeitstag.

den Schimmer von Schönheit, der in ihm allüberallher leuchtete. Sie fühlte ihr Daſein getragen und erleichtert durch die rührende Liebe und zarteſte Aufmerkſamkeit eines guten Menſchen. Sie meinte den Engelsgruß mahnend zu hören. Wie ſchmerzlich tief mußte da die Stimmung ſein, die ſie ihr Glück nicht ruhig hinnehmen und genießen ließ, die ſie in ſtetem, leiſem Auflehnen da⸗ gegen hielt und einen leidenſchaftlichen Kampf gegen Urgeſetze in ihr ſchürte. Dennoch, was da in ihr brannte, es mußte echt ſein, Feuer von dem Feuer, das reinigend über die alte Erde hinfahren ſollte. Wenn ſie nur mit ihm, der mit wachenden Augen und erſchreckender Entſchloſſenheit ſie an ſich zwang, obgleich er ſie mit ſeinen Worten von ſich wies, fertig werden könnte! Wenigſtens ein Kämpfer mußte aus ihm geſchaffen werden, wenn denn kein Held.

Und nun verſuchte ſie ihn zu fangen.

„Alſo wirklich, du willſt mich deinerſeits freigeben?“ ſagte ſie. „Aber wenn das dein Ernſt iſt, wenn du das kannſt, ſo wie wir miteinander ſtehen, dann biſt du doch keiner aus der Menge. Und ich habe ſonſt noch tauſendfach Beweiſe dafür, daß du auf Höhen ſtehſt, die ſo leicht kein anderer erreicht. Wie kannſt du da mit den unwürdigen Idolen der Welt paktieren? Unſere Kinder darauf ab⸗ richten? Wie kannſt du mir ſo grauſam ruhig unterſagen, nach der Verwirklichung meiner Ideale zu ſtreben?“

Sie ſah ihn beſchwörend an.

Er ſann nach, und wieder klang ſeine Stimme anders, als er zu ſprechen begann.

„Sieh, mein Kind, über die natürlichen Grundlagen alles Seins und Weſens find wir jebt wohl einig. Sie gefallen uns nicht, aber wir wurden nun einmal in die Welt der Habgier und Ehrgier geftellt und müſſen damit rechnen. So lange wir in bürgerlidher Gemeinfchaft bleiben, die und in ihre ſchweren Ketten fchließt. Und für diefe Melt müſſen wir unfere Kinder erziehen. Wir haben nicht das Recht, Einfiebler und Anachoreten aus ihnen zu machen, zumal ihre ftarken, welt⸗ freudigen Inbivibualitäten ſchon jetzt bemerkbar find. Der Gedanke ift bitter, Daß unfere Kinder und einft in Lebensnöten ihr Dafein

Ein Hodjgeitätag.

vortverfen könnten, wenn auch nur in Ge- danten, aber noch bitterer wäre es doch, wenn wir fie fampfunfähig machten, fie über bie Wirklichkeit im unklaren ließen. Ober ihnen gar etwas vortäufchten, was es nicht giebt, auf lange, lange Zeit hinaus nicht geben Tann. Unfere eigentlihen Anſchauungen und deren Bethätigung haben fie täglich vor Sinnen. Iſt der entſprechende Keim im fie gelegt, fo werben fie fi demgemäß entwideln. Vergiß nicht, daß wir felbft aus halb mittelalterlich gefinnten Kreifen heraus relativ freie Menſchen geworben find. Im übrigen, mein find, bringe ich der Wirklichkeit, wie fie nun einmal ift, taufend Opfer meiner Überzeugung, und id würde habern mit dem Lebenstrieb wie

du, mern eben unfer inniges Glüd nicht

unerfhütterlih wäre. Ya, ja, ih weiß,” wehrte er ihren haftigen Einwand ab, „id weiß, du willſt es nicht anerkennen, bein gar zu zartes Gewiſſen fträubt fih gegen ein Göttergefhent, das ber großen Überzahl ver- fagt if. Du verlangft unbedingt für jeden Mann und für jedes Weib auf Erden das- felbe. Aber fage, follen wir nun wirklich wegen biefer Unmöglichkeit unfer eigenes, ſchönes Glüd verftoßen? Es genießen, ift nicht einmal fo egoiftifch, wie du es hinftellft. Ja, fühlft du nicht felbft, wie auf unferm Glüd ſchon ein Hau deiner neuen Kultur liegt? Ich möchte fagen, daf wir in unferem Denken und Handeln einer gewiſſen Voll- kommenheit auf der Spur find, fo weit Menſchen das vermögen. Vielleicht arbeiten wir wirklich in aller Stille an unferm Heinen Teile neuen Überzeugungen, einer neuen Zeit entgegen. Und fo mollen wir unferen Hochzeitstag zum guten Ende doch preifen. Kein Wort mehr von Trennung, ed waren unmenſchliche Ent: ſchlüſſe. Wie folten wir ohne einander leben!”

Sie fand nicht glei eine Antwort. Sie konnte nichts, gar nicht? gegen feine ſchönen, tief innerlih wahren Worte einwenden, und doch berührten fie fie ein wenig mie eine glänzende Schlußwendung. Sie fühlte durch, mie er fie wie immer zu beſchwichtigen und binzuhalten ſuchte. Es follte beim alten bleiben,

bei den Haffenden Übeln, den furdtbaren |

Miplauten und all der Unfhönheit das

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war ber forgfam verhüllte Kern. Und fie beide, trotz aller „eigentlichen“ Überzeugungen, in ſolche Gefolgihaft fi fügen! Ah und ihre Rinder! Anachoreten gedachte auch fie niche aus ihnen zu maden, wohl aber ganze und gefunde Menfchen, die die Schön- heit des Dafeind und natürliche Schmerzen vol durchleben follten. Nicht diefe Freude und biefen Schmerz, die eine fiebernde Menſch⸗ heit fih zu Würgern berangezüchtet hat! Ob er wirklich an bie leife Pionierarbeit glaubte? Der war aud das nur eine Vertröftung?

So fann fie und ftieß ſich ſchmerzhaft überall in ihren Gebanfen, ja felbft in ber halb unterbrüdten Genugthuung über ihr eigenes, ehrliches Glüd, das fi nun freilich nicht wegleugnen ließ. Uber fie hätte es ſchelten mögen, fie zürnte dem Manne, ſich felbft, diefes ihres Glüdes wegen. Wie konnte, wie durfte fie glüdlich fein angeſichts folder Zweifel und Ängfte?

Aber dabei entfaltete das Glüdsbetoußtfein fh nun mit Macht in ihrer Seele, wie eine wunderbare Blume, aus deren geheimnis- vollem Kelche eine grenzenlofe Seligkeit ſich über ihr ganzes Wefen verbreitete. Muhſam erwehrte fie ſich ihrer.

Näher und näher Tamen fie ihrem Heim. Sie fahen fein Licht in den Fenftern, die dem Abendwind geöffnet waren. Nur die Dors hänge vegten fi) hell dahinter ob bie Kleinen ſchon fhliefen? Und dann hörten fie deren Stimmen und bie gute Großmutter liebevoll ſchelten.

Vor dem Lattenpförthen im Zaun blieben fie ftehen und lauſchten. Das eine Kind weinte, grämlid und unzufrieden, dad andere fang unbefümmert nad} eigner Melodie. Lang⸗ gehaltene Töne, viele dem Singen der Mutter abgelaufcht.

Noch immer hielt fie fih von ihm fern und wandte fi aud von dem Häuschen, um ihre Augen gleichfam ſuchend zum bunfler blauenden Himmel zu heben. Tief am Horizont mar ein fanft ftrahlender Abendfonnenftreif verblieben, in deſſen Gold die Wälder ftill ihre Spigen tauchten. Und nun mußte fie nicht mehr, was fie wollte: Frieden ober Kampf. Denn von ber fernen Stabt ber börte fie es tofen. Die heiße, mübe Erde

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Bismard intime. 275

Sprade, die kraftvoll gefaßten Bilder, das leidenſchaftliche Gefühl, die innere Künftlerfchaft im Fühlen und Erleben aller Eindrüde, das rüdt hier an erfle Stelle, und das Staatöniännifche, die Aufgaben des großen, Öffentlichen Berufs, von dem Bismarck mehr ald er der fchlichten Hausfrau eingeftand, erfaßt, dämonifch bejeflen war, wirft nur von weitem feinen Schatten herein.

Hiftorie wird man nach diefen Briefen, die von 1847 bis 1892 gehen und zum Hintergrund die großen Ereigniffe der neueren Gefchichte haben, nicht fchreiben können.

Bismard zeigt fich bier nicht als der geniale Schachfpieler, der auf der Karte von Europa feine Züge macht, fondern als der arbeitsüberhäufte Beamte, den Gott und der König auf feinen Platz geftellt Haben. Und auf dieſem Platz hat er aus⸗ zuharren, wenn er auch in der Unftäte feiner diplomatifchen Sendung, verſchlagen nach Frankfurt, Petersburg, Paris, monatelang getrennt von der Frau und den Kindern, jaßrelang im ungewiffen, wohin ihn das Schiefal führen wird, oft genug fehnfüchtig träumt: „Wann wird die Zeit kommen, anhaltend unter einem Dach zu leben; bie Ruheloſigkeit der Eriftenz ift unerträglich.”

Und dieſe Regungen find zweifellos edit. Sie hatten in ber Vielheit diefer Seele, neben mancdem Anderen, Widerfprechenden, der Herricherleidenschaft und dem Willen zu Reich, Macht und Herrlichkeit Raum. Sie entwideln fi in diefen Briefen freier, rüdhaltlofer, weil in ihnen die andere Bismardfeele, die Herrenfeele, ftiller if.

* * *

Am reichſten ſind die Briefe der frühen Zeit, die Briefe des Schönhauſener Deichhauptmanns und „eingefleiſchten Landwirts“ an die Braut in ſiebzig Meilen Entfernung. Beim alten Putikamer hat er in feierlicher Form geworben und fein Velenntnis jo abgelegt, wie es die etwas eng und ängftlich gläubige Familie verftehen tonnte. An die Braut aber jchreibt er ganz Percy Heißfporn: „Reiten mußt Du, und wenn ich mich felbft in ein Pferd verwandeln follte, um Dich zu tragen.”

Diefer pommerfche Gutsherr wirkt wie das Vorbild eines Liliencronfchen Junkers in feiner Mifhung. Jäger mit Stiefel und Sporn hinter den Hunden, von ftarken Erregungen trunfen, voll Gemitter: und Sturmflimmung, immer im Rhythmus: „es ſchlug mein Herz geſchwind zu Pferd“; macht? an der Elbe im Donnerlärm des Eid: gangs und ber gligernden Schollen, die ihm „ben Pappenheimer Marſch fpielen”, daß fein Herz in frifchem Leben aufjauchzt, und dann wieder am fnatternden Kaminfeuer, Byronverfe erzerpierend und Walter Scott Iefend, zur Seite der Hund, im Knäuel zuſammengerollt.

Und Liliencronſche und Fontaneſche Stimmungen ſind es, wenn er erzählt, wie er in Nacht und Nebel, die alte Turmuhr ſchlug gerade 11, in feinem alten Schön— haufen ankommt, wo alles ſchon fchläft. Hildebrandt beforgt die Pferde, und der Deihhauptmann ftedt fih an „der fchlafbefoffenen Kahle thraniger Lampe” feinen Wachsſtock an. Und Liliencronſch, wenn er von feinen Vätern ſpricht, die in „biefen jelben Zimmern gewohnt haben, geboren und geftorben find, wie die Bilder im Haufe und in ber Kirche fie zeigen, vom eifenklirrenden Nitter auf den Ianggelodten zwickel⸗ bärtigen Kavalier de3 breißigiährigen Krieges, dann die Träger ber riefenhaften Alongeperüden, bie mit talons rouges auf biefen Dielen einherftolzierten, der bezopfte Reiter, der in Friedrichs des Großen Schlachten blieb, bis zu dem ver- weichlichten Sproffen, der jegt einem ſchwarzhaarigen Mädchen zu Füßen liegt“.

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Bismard intime. am

dem König ift das fehr unlieb, wenn er erfahren hat, daß ich nicht wollte; er hält e für etwas fehr Großes, wenn einer Kammerherr wird.” Und mit ruhevollſter, philoſophiſcher Betrachtung ſpricht er 1852 von der „ganzen goldbeblechten Schügen= tönigöherrlichkeit, die vieleicht übermorgen vorbei if“.

Er giebt feiner Frau die weltlichen Ratſchläge, damit ihre Füße auf dem neuen, glatten Boden ficherer gehen. Ihm felbft aber ift fie gerade fo, wie fie ift, lieb: „Du bi meine Frau und nicht der Diplomaten ihre, und fie fönnen ebenfo gut Deutſch lernen, wie Du Franzöfiih. Nur wenn Du Muße baft, oder doch leſen willſt, fo nimm einen franzöftfchen Roman; haſt Du aber feine Luft, fo fieh dies als nicht geichrieben an, denn ich babe Dich geheiratet, um Dich in Gott und nad dem Bedürfnis meines Herzens zu lieben und um in der fremden Welt eine Stelle für mein Herz zu haben, die alle ihre dürren Winde nicht erfälten und an ber ich die Bärme des beimatlichen Kaminfeuers finde; nicht aber um eine Geſellſchaftsfrau für andere zu haben, und ich will Dein Kaminchen begen und pflegen und Holz zulegen und paden, und fehügen und ſchirmen gegen alles Böſe und Fremde, denn ed giebt nichts, was nächft Gottes Barmherzigkeit mir teurer, lieber und notwendiger ift als Deine Liebe und der heimatliche Herd, der überall auch in ber Fremde zwifchen uns fteht, wenn wir beieinander find“.

Was diefe Frau, die von ihrem Mann im hohen Alter nicht minder liebevolle Briefe befam, ald in ihrer Jugend, Bismard geweſen ift, das zählen die Briefe nicht diret in Form von Eigenfchaften oder Charakterinventaren auf. Indirekt geben fie es zu erfennen.

Er fchreibt einmal: „Allen, außer Dir, erfcheine ich falt“. Und diefes Wort führt auf den richtigen Weg. Diefe Frau mar ber einzige Menfch, der die Fähigkeit befaß, aus ihm alle jene Gefühle rein auszulöfen, die feinen oder nur einen ganz geringen Plag in dem Leben zu beanſpruchen hatten, das ihm das Schidfal zuerteilt und das er auf fi genommen. Bismard felber aber liebte jened andere Leben, jene Träume von ber elementaren Eriftenz in der Natur, auf der Scholle, ala Jäger und Landmann, und feine Sehnfuht „aus dem Winter des politifchen Lebens im Geifte nad dem bäußlichen Herde zu bliden, wie der Wanderer in böfer Nacht nach dem Licht der Herberge”.

In diefer Mifhung widerſpruchsvoller Gefühle, daß einer, der fih zum Herrſchen geboren fühlt, immer und immer wieder in die große Ruheſehnſucht fält, natürlich ohne fie zu erfüllen, erkennen wir das Geniale diefer Natur. Bei einem Staatsmann find wir diefe Mifchung nicht gewöhnt, ſogleich aber wird fie Har, wenn wir an den Künftler denken. Der Dilettant ſchmiedet munter, glüdlich und zufrieden feine Reime, die Großen aber haben alle an ihrem Werk gelitten, le malheur d’&tre poete. Sie empfanden ihre Aufgabe jchwer und ſchmerzlich:

Der Dämon nimmt Dein Herz, fliehlt Dir die Seele... Dünkt Euch) dies Schidfal jo beneidenswert,

Ertrüg es einer, der es wenden Könnte?

O Himmel! wenn ich könnte, ginge mir

Im Alter noch ein neues Leben auf,

Ein Leben voller Ruhe, voller Frieden.

Doc dies Verlangen kann ihnen nie befriedigt werben. Der wahre Künftler Kann nie ablaffen von dem, was ihm die größten Dualen und die größten Wonnen fchafft.

Bißmard intime. Lu]

Durch den Tiergarten geht er mit Fontaneaugen. Er figt auf ber Bank am Schwanenteih und fieht den Schwänen zu: Sie ſchwimmen bid, grau und blafiert zwiſchen den fchmugigen Enten flott umher, und die Alten legen fchläfrig den Kopf auf den Rüden. Der Ahorn ſteht dunkelrot, der Golbfifchteich ift faſt außgetrodnet. Linde und Faulbaum beftreuen die Steige mit gelbem rajchelnden Laube, und bie runden Kuppeln der Kaſtanien fpielen in allen Schattierungen des Herbfted.

Und Fontane Lönnte jene Iyrifche Abendftimmung aus der Großftabt feftgehalten haben: . „Mein Liebchen, ich fige hier in meiner Edftube zwei Treppen Hoch und betrachte den Himmel voll lauter Heiner abendroter Schäfchen, wie er die Taubenftraße entlang und über den Baumfpigen von Prinz Carls-Garten zu fehen ift, und die Friedrichftraße entlang if es ganz goldig und wolkenlos .. .“

In die Fontanefche Beſchaulichkeit zudt dann Liliencronfches Jägerblut.

Im Morgennebel einfam über die Herbſtwege ziwifchen den Bäumen, da ift ihm wie Kniephof, Waldjchnepfenjagd und Dohnenſtrich.

Und dann die Jagdlyrik vol Herzihlag, ftil und wild und leidenfchaftlih: um Mitternacht im Gebirge auf den Auerhahn, bis drei unaufhaltfam geftiegen, unter fallendem Regen, den ſchweren Mantel um, über fteile Wände auf Händen und Füßen; tieffted Dunkel im Tannendidicht, unten in purpurner Tiefe der Waldbach; tobmattes Umfinfen in triefendes Haidefraut, von Regen überftrömt.

Und dann ber Tag: ber Uhu macht der Droffel Platz, der Vögelchor fingt betäubend dem Sonnenaufgang zu, die Bergtauben im Baß dabei.

Und wie Liliencrons jubelt Bismarcks Herz in ber Soldatenpoefie: Eifenraffeln, Trompeterfignale, Attade der Kavallerie.

Dies Skizzenbuch hat viele Blätter und mannigfadhen Stoff. Es führt in ſtandinaviſche und ruffische Einöden, wo der Elch gejagt wird; es malt die ungarische Pußta mit Czards, wilden Pferden, drei Noffen vor dem Wagen, gelbbraunen Weibern mit brennenden, ſchwarzen Augen und Zigeunerweifen in Mol, in Tönen, die an ben Wind erinnern, wenn er im Schornftein lettiſche Lieder fingt oder an „Krankes Wolfs- geheul im der Herbſtnacht“. VBismard ftichelt mit zierlicher Kleinkunſt niederländifche Genrebilder: Rotterdam mit venctianifchen Kanälen, lindenbefegten, ſchmalen Wegen vor den Häufern, Glodenfpiel, phantaftiih geformten Giebeln, „jonderbar und räuchrig, fait ſpukhaft, mit Schornfteinen, al3 ob ein Mann auf dem Kopf ftände und bie Beine breit audeinanderfpreizte” und in biefem Rahmen Bismarcks Selbfiporträt in bolländifcher Manier: mit der langen Thonpfeife im Mund auf die in der Dämmerung abenteuerlich vertifchten Giebel und Schornfteine blidend. Und er mifcht die lodernden Farben füdlicher Paletten zu leuchtenden Aquarellen aus ber Baskenwelt Pierre Lotis: Pas de Roland, Schluchten mit reigenden Bergitrömen und feltfam gefrümmten ſchlangenartigen Feigenbäumen, Sonnenuntergang mit Pyrenäenglühen, Halb Spanien im Feuer jenfeit der See, tiefes Dunkelſchwarzblau über phantaftiichen Gebirgszaden.

* * *

Dieſer Stimmungsdichter hat aber auch Humor. Und wenn hier die Welten fo

mander Dichter als verwandt angerufen wurden, fo darf man einen nicht vergefien, Heine. Viele der Bismardchen Reifebriefe haben ganz den Heinefchen Ton, die Freude

Bißmard intime, 288

Soldat war und ſchließlich ein in fi) Gewandter, der auf das Leben zurüdblidt, wie auf ein verhalltes Gelächter:

An hellen Tagen liebt in Hof und Saal

Ich nicht das Bild des Schmerzes und der Dual;

Doch Dual und Schmerz ift auch ein irdiſch Teil,

Das mußte Chriſt und ſchuf am Kreuz das Heil.

Je länger ich betrachte, wirb die Laft

Mir abgenommen um bie Hälfte faſt;

Denn ftatt des einen leiden unfet zwei,

Mein borngefrönter Bruber fteht mir bei.

Aber nicht die einzige Form Bismardichen Glaubens ift das. Diefer Biel: * geftaltige ift auch in den religiöfen Stimmungen nicht ohne Wechfel.

Sehr irdiſch vernunftmäßige Erwägungen können dominieren. Dann proteftiert . er fehr energifch gegen die Puttkamerſche Gläubigfeit, die in Krankheitsfällen die Hoffnung auf Gottes Hilfe der Arztlichen Ronfultation vorzieht: „Gebet ift freilich beffer ala Pillen, aber vernachläffige doch nicht die Menfchenhilfe, die Gott bietet, und ſcheue in dieſem Face feine Koflen“.

Zu anderen Malen wieder behandelt er den primitiven Kinderglauben feiner Frau mit einer überlegenen Bonhommie und rät ihr gut zu, „Gott zeigt uns bie Zuchtrute wohl, die er für uns in Bereitfchaft hält“, aber er „Aedt fie wieder hinter den Spiegel”. .

Viel wefentlicher aber find die Stellen, wo Bismards Künftlertum wieder auch in der Religiofität zu Tage tritt. Wie alle Afthetifchen Menfchen befennt er eine Schönheits: neigung zum Katholizismus. Der proteftantifhe Gefang mit den falſchen Tönen und ber „recht bürgerlichen Berlinfchen” Ausſprache degoutiert ihn, und er fehreibt mit der= felden großartigen Offenheit, mit der er feine allerevangelifchften Stunden ber Andacht geichildert, in diefer Stimmung: „Es iſt mir lieber bei guter Kirchenmuſik, von Leuten, die es verftehn, gemacht, zu beten für mich und dazu eine Kirche zu haben, wie die Teinfirche inwendig war, und Morlachiſche Meffen, mit weißgefleideten Prieftern im Dampf von Kerzen und Weihraud, das iſt doch würdiger, nicht wahr, Angela?“ Und derfelbe Aſthet fhreibt das Baterunfer italienifch auf, weil dad „melobifcher” Klingt.

Der Glaube, bei dem Bismard ſchließlich landete, Hatte nicht von der gebeugten Stubenandacht des Puttlamerfchen Haufe und auch nicht? von jener vorübergehenden aſthetiſchen Neligiofität. Seine Gottevorftellung war nicht jo frei und weit wie bie Goetheſche. Sie hatte ein perfönlicheres Geficht. Aber etwas Pantheiftifches war duch, in ihr. Bismard fühlte das Ewige im Enblichen und nirgends tiefer als in der umzogenen Enge feiner häuslichen Welt, und fein Belenntnis lautet nun:

„Gott, Du und bie Kinder... Wehmut, Heimweh, Sehnfucht nad Wald, See, Wieſe, Dir und den Kindern, alles mit Sonnenuntergang und Beethovenfcher Symphonie vermifcht ...“

Nusfin und bie Frauen. 285

fih aber, weil die Zeit dort reif war, unter den außerwählten Vertretern des ftarfen Geflecht? Anwälte gefunden, die die Denkweife zu Gunften der höher ftrebenden Frauen beeinflußt haben. Iſi doch das Werk des englifchen Philofophen John Stuart Mil, „die Hörigkeit der Frau,“ das unübertrefflihe Tertbuch aller Frauenrechtler ges worden. Und mehr noch als die Forderungen’ des abfiraften Denkers haben bie Leben und Liebe atmenden Worte John Ruskins in vielen taufend Männer: und Frauenherzen die Überzeugung gewedt, daf die beften Früchte der Civilifation nur in gemeinfamem Streben errungen werden fünnen, daß die fchönere Zukunft nur aus dem friedlichen Zufammenwirken beider Geichlechter hervorblühen kann.

Er war ein gar gewaltiger Geift, diefer John Ruskin, der zugleich Afthetifer und Ethiker, Künftler und Kunſikritiker, Univerfitätsprofeflor, praftifcher Reformer und Wanderprediger geweſen. Eine feline Vereinigung von Güte und Größe fand fi in ihm; fein FM: erftredte fich auf faft alle Gebiete menfchlicher Tätigkeit, und feine geiftige Herrihaft umfaßte gleichmäßig Kunft und Leben. Dasfelbe Leben, das Philoſophen und Schwärmer oft jo armjelig finden, ihm erſchien e8 voll wunder barfter Möglichkeiten; er hatte den unendlichen Reichtum, die köſtlichen Schäge erkannt, die dem gehören, der das Schöne und dad Erhabne diefer Welt zu erfaffen gelernt; fein ganzes Streben ging dahin, die unerjchöpfliche Dafeindfreude, die er für fi entdedt, den andern mitzuteilen. Sein Geilt war kein jchaffender, fondern ein erkennender; die Natur, die ihm Schöpferfraft verfagt, hatte ihm dafür die Gabe ver- liefen, alles Seiende und Werdende, Natur und Menfchenmwerk in einem neuen Licht zu ſehen; fie batte ihm gleichzeitig einen nimmer taftenden Geift, ein heiß empfindendes Herz und ein unendlich fein organifiertes Gemiflen gegeben fo mußte er zum Erzieher allergrößten Maßftabed werden, und er, der zu Beginn des anbredhenden Jahrhunderts dahingegangen, hat in feinem Vaterland dem verflofienen Jahrhundert den Stempel feines Geifte® unverwiſchbar aufgedrüdt. Es geht eine mächtige Anz iehungstraft von feinem Weſen und feinen Worten aus, die jedem fühlbar wird, der jeine Schriften mit offenem Herzen aufnimmt, und er meiß alle, die in den Bannkreis feiner Ideen treten, unmwiderftehlich feſtzuhalten; weil er fich nicht nur der Gedanken zu bemächtigen, fondern auch die Gewiſſen aufzurütteln weiß; weil er über Thun und Denten Rechenſchaft verlangt.

Es foll hier weder auf jeine Funftkritifche noch auf feine fozialreformatorifche Thätig: feit näher eingegangen werden. Er hat auf beiden Gebieten in einer Weile anregend gewirkt, wie vielleicht noch nie vor ihm ein einzelner. Im Anfchluß an feine äfthetifche Thätigleit bat fih die Wandlung im engliſchen Kunftgeihmad vollzogen, die unter anderm zur Auferftehung bes Kunſthandwerks geführt bat. Seine genialen Beiträge zur fozialen Ethik aber, in denen er den Beweis erbrachte, daß Gerechtigkeit und Nächitenliebe erhaltend und der Eigennug zerfegend auf den Staatshaushalt und das Individuum wirken, haben nicht allein den Glauben an das danıald herrſchende Prinzip des laissez faire zerftören helfen; er bat vielmehr fo gut verftanden, auf uraltem, unerfchütterlihem Fundament das Neue aufzubauen, daß es ihm fogar ge: lungen ift, in den Herzen feiner im Materialismus erzogenen Zeitgenoffen die Flamme der Begeifterung für foziale Ideale zu entfachen.

Diefe flüchtige Andeutung über feine allgemeine Wirkſamkeit muß hier genügen, wo des weiteren nur feine Ideen über die Million der Frau befprochen werben follen. Die ruhige Selbftbeherrfhung und opfermutige Liebestraft der Frau, ihr klares Urteil, das nicht fo leicht durch blinde Leidenfchaft getrübt werden kann, gaben ihr in feinen Augen, in den Dingen des täglichen Lebens das geiftige Übergewicht, und er ſah ihre Beflimmung darin, Beraterin und Zührerin der Männer zu fein. Stellte er doch einft in einem öffentlichen Vortrag die kühne Behauptung auf, daß fein Mann auf Erden ein rechtmaͤßiges Leben geführt, der nicht durch Frauenliebe geläutert, durch Frauenmut geftärft und von Frauentakt geleitet worden wäre. Ob er in ber Lage war, fih in biefer wie in andern Fragen ein Urteil zu bilden und verftanden bat, feine Anſchauungsweiſe über die Frauen zu begründen, darüber mögen die folgenden flüchtigen Andeutungen oberflächlich Aufſchluß geben.

Ausfin und bie Frauen. . 287

feiner Männer und bringen fie zu Fal. Dagegen giebt e8 kaum ein Shakeſpeareſches Stüd, in dem nicht eine vollendete Frau zur Darftellung kame. „Feſt und ftark, in ernfter Soffnung, unfehlbar ſich ihres Ziels bewußt,“ find fie faft mafellos und bringen den Typus hochſten Heldentums zum Ausdrud. Auch wird die Kataſtrophe ſtets durch die Thorheit oder den Sehler eined Mannes herbeigeführt; wo bie Erlöfung kommt, erfolgt fie durch die isheit und die Tugend einer Frau. Es giebt nur ein Shaleſpeareſches Stüd, in dem einem ſchwachen Weibe eine wichtige Role zuerteilt wird, und hier wird ihre Schwäche zum Verhängnis; weil Ophelias Kraft im Fritifchen Moment verfagt, weil fie Hamlet feine Führerin fein fan, als er ihrer Leitung am dringendften bebarf, deshalb muß das Schidfal ihn und fie ereilen. Schließlich deutet Nusfin an biefer Stelle darauf hin, daß die drei weiblichen Böfetwichter Lady Macbeth, Regan und Goneril, die Shakeſpeare als Hauptcharaktere geſchildert, als fürchterliche Ausnahmen allen Naturgefegen ind Geficht ſchlagen und in dem gleichen Maße verderblich wirken, in dem fie ihre weibliche Beſtimmung, das Gute zu wollen, verraten haben.

„So lautet mit vollfter Klarheit Shakeſpeares Zeugenichaft über den Charakter der Frauen und über ihre Stellung im menſchlichen Leben,” fchreibt Nusfin. „Er ftelt fie dar als unfehlbar treue und weile Berater unbeftechlich, gerechte und reine Vorbilder —, ſieis ftark genug zu läutern, ſelbſt wenn fie nicht retten können.“ UndYer begnügt jich nicht mit Shalefpeares Zeugenfchaft. Unter den Geringeren der Großen feines eignen Vaterlandes, die in dieſem Punkte feiner Meinung waren, nennt er Walter Scott; dann führt er Dantes Beifpiel an, der feine unfterbliche Dichtung zum Preiſe der toten Geliebten geſchrieben, von der er feine Seele behütet glaubte. Er citiert das Lied eines —— Sängers des dreizehnten Jahrhunderts, der davon ſingt, wie er im gehorſamen Dienſte der geliebten Frau vom wilden Tier zum reinen Menſchen ward; er deutet darauf hin, va felbft in Griechenland, wo der unmittelbare Einfluß der Frauen ein fo befchränfter gewefen, dennoch in den Dichtungen die weib- lichen Charaktere, wie Andromache, Penelope, Gaffandra, Antigone, Iphigenia und Alceftis, den Typus ſchönſter Menichlichkeit verkörpern; daß die Hgypter, das weiſeſte Volt des Altertums, dem Geift der Weisheit weibliche Geftalt verliehen, und daß diefe Göttin der Weisheit von den Griechen übernommen wurde, die im gehorfamen Glauben an Athene die größten Geifteswerke fchufen, die die Welt bis auf ben heutigen Tag befigt.

Die alltägliche Meinung ift nun aber, daß die Frau nicht führen, ja, daß fie nicht einmal felbftändig denken fol, jagt Ruskin und frägt dann: „Täufchen fih num alle diefe Großen, oder täufchen wir und? Haben Shafejpeare und Aeſchylus, Dante und Homer nur Puppen für uns aufgepugt? Oder, ſchlimmer noch, haben fie und unnatürliche Vifionen vorgeführt, deren Verwirklichung, wenn fie überhaupt möglich wäre, Anarchie in jeden Haushalt und Verderben allen unfern Gefühlen brächte? Wenn ihr das felbft glauben könnt, jo müßt ihr dennoch die Zeugenichaft der That: jachen annehmen, die das menfchliche Herz ablegt.” Und er führt aus, daß es der natürliche Impuls jedes edlen Zünglings ift, dem Mädchen, das er liebt, blind zu gehorshen, daß da, wo treuer Glaube, reine Liebe im Herzen des Mannes fehlen, aunifche Leidenfchaft und finnliche Begierde hertſchen müfjen. Liegt doch in dem bes lüdenden Gehorfam, den der Jüngling ber reinen Geliebten feiner Jugend leiftet, Fine befte Kraft und zugleich die fiherfte Gewähr der Beftändigfeit in dem, was er Beftes erfirebt. Niemand, meint Ruskin, wird das in Frage ftellen; wie aber mit der weit verbreiteten Anficht, daß die Rollen in der Ehe vertaujcht werden müffen und die Frau Gehorſam leiſten fol? „Seht ihr nicht,” antwortet Ruskin, „wie unedel diefe Auffaffung ift und zugleich wie unvernünftig? Fühlt ihr nicht, daß die Schließung einer echten Ehe nur den Übergang bedeutet, der den worübergehenden Dienft zu einem unermüdlichen und die wandelbare Liebe zu einer unvergänglichen ftempelt?”

Jedoch nur die Führerpfliht nimmt Ruskin für die Frau in Anſpruch; das Beſtimmungsrecht fol und muß in der Hand des thatkräftigeren Mannes bleiben. Gerade darum aber ift e8 fo unendlich wichtig, daß die Frau zu führen wiſſe, und fie wird es dann nur willen, wenn Erziehung ihr die Welt großer Gedanken und

Sans, unſer Bohtor.

Max Hoffmann.

Nagbrud verboten.

En ungeheurer Lärm mar in der Rlaffe. Man erwartete zwar jeden Augenblid die Anz kunft des Profeſſors Hedemann; aber die meiften dieſer boffnungsvollen Dbertertianer hatten ihre Pläge verlafien und ftanden in Gruppen an ben enftern oder neben ben Tiſchen. Der Heine Hinze ſchlug in regel⸗ mäßigem Takt mit feinem Cäfar auf ben Tiſch, daß es jebesmal einen Knall wie ein Piſtolenſchuß gab, und ber dicke Beiersborff beluftigte fih damit, Papierrollen vermittelft einer Gummiſchnur gegen die hinten hängende Landkarte zu hießen. Die Eifrigeren hatten die Köpfe zufammengeftedt unb gingen noch ſchnell und unter Benugung einer Heinen ſchmutzigen Klatſche“ das heute zur Übers fegung herankommende Stüd durd, während der Primus im Bewußtfein guter häuslicher Präparation im Klaſſenbuch ruhig einige Linien zog. Außer ihm war noch ein Schüler da, der ſich nicht an dem lauten Gefpräch und dem Epettatel beteiligte, ein neu Angefommener, der erft geftern beim Direltor angemelbet war und heut zum erftenmal biefe Rlafje betreten hatte. Der Rod mit den langen Schößen, die Müte, die er ftatt des allgemein ge= tragenen Hutes aufgehabt hatte, und feine friſchen Wangen verrieten, daß er fein Groß: ftabtfind war, die Schüchternheit in feiner Haltung ließ durhbliden, daß er aus Heinen Verhältnifien ftammte. Sein übermäßig großer Kopf, den er wohl wegen feiner Schwere etwas nad) vorn geneigt hielt, Hatte ihm von Seiten des witzigen Löwenberg fofort den Beis namen „Bouillonfopf” eingetragen, was ein Gelächter verurfachte, von dem bärbeißigen Jaſchkat aber mit der Bemerkung „wird wohl mehr Wafler als Bouillon drin fein” zurüd- gewieſen wurde.

Plotzlich ſtürzte Beißert, der an ber kaum merklich geöffneten Thür Wache gehalten hatte, auf feinen Pla; feinem Beifpiel folgten alle anderen, und in ber Öffnung erſchien die kurze Geftalt Profefjor Hedemanns. Seine Blide glitten befriedigt über bie ruhig daſtehenden Jünglinge, und nachdem einer die Thür hinter ihm geſchloſſen und ein anderer ihm Hut und Mantel abgenommen, trat er würdevoll bis zum Katheder. Der Primus ſprach mit uns glaublicher Geſchwindigleit ein Gebet, und mit dem feftftehenden „Nun!“ woher der Pros feffor den Spignamen „Nunne” hatte follte die Stunde beginnen. Der Primus aber war ftehen geblieben und meldete: „Herr Profeſſor, es ift ein Neuer ba!”

Der Oberlehrer rüdte feine goldene Brille zurecht, mufterte die Schüler, und feine Blide blieben an dem aufgeftandenen Neuling haften.

„Wie heißen Sie?”

\ „Schmidtden.” Wo waren Sie auf dem Gymnafium?”

Schmidtchen nannte eine Meine Etabt Oberſchleſiens, und der Profeffor fuhr fort: „Nun zeigen Cie mal, was Sie können. ie haben doch Cäfar gelefen?”

„Ja, Herr Profeſſor.“

„Alſo funftes Buch, Kapitel!”

Er hörte eine Weile zu und fagte dann mißmutig: „Sie lönnen ja fo gut wie gar nichts! Sie find gar nicht reif für unfere Kaffe. Haben Sie Ihr Zeugnis da?”

Schmidtchen fuchte in feiner Mappe und brachte das Gewünfchte hervor.

„Ja,“ bemerkte der Profeſſor, nachdem er es durchgelefen, „wir müſſen Sie bier be= halten, Sie waren ja dort ſchon in Obertertia.

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ſechsunddreißigſtes

Sand, unfer Doktor.

Haft nad} allen Zeiten, ein Iautes Rufen und Schreien, ein Donnern mwälzte fih näher und näher, und inmitten bes mwüften Braufens und Raſens in wilder Jagd ein Pferd mit einem mütend fortgerifjenen Bierwagen. Der Kutſcher war bereit3 in weitem Bogen vom Bod ge: flogen, und das ſich frei fühlende Tier fprengte in ſchäumender Luft gerade vorwärts, ben Kopf mit den weit geöffneten Nüftern hoch— baltend und das Pflafter mit den Eifen ſchlagend, daß die Funken fprühten. Ein Strom Rettung und Hilfe ſuchender Menfchen mogte ringsum, ſchon mar ein Schugmann, der nad) den Zügeln greifen wollte, zur Seite getaumelt, ein Laternenpfahl vom Anprall des fplitternden Wagens mitten durchgefnidt, und immer weiter ging das wahnfinnige Rennen. Nun lenkte das Pferd auf den Bürgerfteig, gerade auf den Heinen Profefjor Hedemann zu. Der ftand wie hypnotiſiert, feine Hefte waren zur Erbe gefallen, bie beiden Arme hatte er nad) vorn geftredt, als fönne er das Tier aufhalten, und fo, ein Bild der Schwäche und des Jammers, mußte er im nächſten Augenblid überrannt und zerfchmettert fein. Wer ſchießt da windſchnell mit einem ſchrillen Schrei über den Etraßendamm, dem Pferde gerade entgegen? Das ift ja ber ftille Knabe, der ſchon feit einer Stunde fo betrübt drüben an der Straßenede geftanden hat! Seine Mappe bat er von fich gefchleubert, daß die Bücher hinausgewirbelt find, die Fäufte feit zufammengeballt, die Beine unglaub: lich ſchnell Hinter fich werfend, das dide Geficht dunkelrot, fo ftürmt er mit flatterndem Haar heran. Dicht vor dem Profefjor wirft er ſich gegen das Tier und faßt es feſt beim Zügel, daß es fih hoch aufbäumt und den Mutigen wie einen Ball mit emporreißt, dann giebt es einen Stoß, ein Praffeln und Knirfhen, und Roß, Wagen und Menſch brechen mit einem furchtbaren Krach zu einem Klumpen zufammen. Bon allen Seiten eilte man herbei. Der faft geiftesabmwefende Profefjor fammelte ſich wieder und trat zu dem dichten Menfchenhaufen, der ſich gebilbet hatte. Das Pferd hatte beibe Vorderbeine gebrochen und lag leife ftöhnend da, unter feinem Kopf zog man ben Körper Schmidtchens hervor. Er hatte den tödlichen Schlag des einen Hufe empfangen und war

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lautlos niebergefallen. in Polizeileutnant manbte fih zu dem Profeſſor. „Der junge Menſch da hat Ihnen das Leben gerettet,“ fagte er ernſt, „leider hat er das feinige da⸗ bei gelafjen!”

Profeſſor Hedemann kam bleich und zitternd heran und blidte ſchaudernd nieder. Ja, er hatte doch Gehirn gehabt, der arme, dumme Junge! Sehr viel fogar! Der alte Mann fah mit Grauen, daß er zu Unrecht daran ges zweifelt hatte. Da quoll es aus der Haffen- den Wunde und färbte die Steine mit feiner grauen, blutigen Maſſe!

. . .

Nah drei Tagen war das Begräbnis. Der Gefangdor, in dem Schmibthen nun nicht mehr mitbrummen konnte, follte am Grabe fingen; vorher aber verfammelten fi) die Oberllafjen und die Obertertia, um im Beifein des ganzen Lehrerfollegiums eine er- greifende Rede des Direltors anzuhören. In ſchönen, Haffifhen Worten wies er auf den Heldenmut der Alten bin, wie fie das Leben gering geachtet hätten im Dienft des Vater- landes und einer Idee. „Die tieffinnigften Dichter und Philofophen,” ſchloß er feierlich, „haben es uns verfündet, daß das Leben nicht der Güter höchftes fei, und es hat immer Menſchen gegeben, die nad) diefem Ausſpruch als leuchtende Helden der That handelten. Zu ihnen gehört auch der, den wir heut zur Ruhe bringen. Er ift als ein Sieger dahin- gegangen und wird als ein folder in unferer Erinnerung bleiben, ung zum Gebädhtnis, euch zur Naceiferung!”

Ganz im Hintergrunde des Saals wohnte der Feier ein in dürftiges Schwarz gefleidetes Ehepaar bei. Der Mann mit einer merk— würdig vorfpringenden Stim, der feinen Hut in den harten Arbeithänden hielt, fah mit glänzenden Augen nad) dem Redner; das Ge- fiht der von Schluchzen erjhütterten Frau war beftändig hinter dem meißen Taſchentuch verborgen. Als aber der Direktor die Philos fophen erwähnte, beugte fih der Mann zu der ſtill weinenden Frau, und mährend ihm die plöglih hervorbrechenden Thränen über bie Wangen liefen, flüfterte er ſtolz: „Siehft du, Mutter, ich hab's doch immer gejagt, unfer Doktor hatte einen philofophifchen Kopf.“

Drei Monate Kündigungsfrift.

Die Gelegenheit fand ſich ohne ihr Zuthun. Am andern Morgen wiederholte das junge Mädchen feine Kündigung. Sie brauchte fait biefelben beſcheidenen Worte wie vor einem Vierteljahr, aber in ihren Augen lag bereits der Ausdrud eines getifien Gekränktſeins, und Frau Oberamtmann legte in ihren Ton jene Geringfehägung, die gerade in Frauenmund zu einer fo befonbers ſchneidenden Waffe wird.

„Alſo zum 1. November. Es liegt uns natürlich fern, Ihnen irgend etwas in ben Weg legen zu tollen. Ich weiß nur nicht, wie Eie es fo lange bei uns ertragen haben. Drei Jahre. Böllig verlorene Zeit!”

Um den blafien Mund der Kindergärtnerin zudte es. „Das till ich nicht annehmen, gnäbige Frau. Ich habe den Kindern das Befte, was ich hatte, gegeben und bafür fo viel Liebe von ihnen empfangen —“ Die zurnende Gebieterin unterbrach fie.

„Na, die ſcheint aber auch reichlich in ber Abnahme begriffen zu fein, feit feit —“

Sie ſchludte, es fiel ihr im Augenblid nichts ein, was fie dem jungen Mäbchen hätte vorhalten können. Aber etwas andre kam ihr mit großer Deutlickeit in den Einn: wies viel Ärger fie wieder mit einer „Neuen“ haben würde. Und bei biefer Erkenntnis preßte fie bie Lippen zuſammen und verließ das Zimmer.

Die erften Tage nah der Kündigung gingen in ftiller Einförmigfeit dahin. Fräulein Magda nahm ihre ganze Kraft zufammen. Sie erteilte den Unterriht mit peinlichfter Genauigkeit und erfand zum Amüfement ber Kinder neue Epiele. Und abends, wenn fie fchliefen, ftand fie lange an ihren Betten. Ihr war das Herz fo ſchwer, recht ſchwer. Sie dachte an das Scheiden, wie an einen noch nicht zu faſſenden, grenzenlofen Echmerz. „Wie fol ich's tragen? Wie foll ich's über- mwinden?” Und fie drüdte das Geſicht in das weiße Kiffen der Heinen Eli und weinte.

Am vierten Tage hatte Kurt Feine Schul-

arbeiten gemacht, und als Magda ihn deshalb zur Rebe ftellte, gab er ungezogene Antworten. Sie tabelte ihn, aber ihre Stimme ſchwankte. Es war merfwürbig, bei der Heinften Erregung hatte fie jegt immer ein eigentümlich würgendes Gefühl im Halfe und ein faft unerträglices

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Herzllopfen. Sie mochte nicht zeigen, wie elend ihr zu Mut war und ging auf ein paar Minuten hinaus. Kurt fühlte fih als Sieger.

Als die Kindergärtnerin fih wieder dem Schulzimmer näherte, hörte fie, wie Nora fagte:

„Du follteft dich ſchämen, Kurt, Fräulein Magda fah aus, als ob fie fterben wollte.“ Und dazu die Antivort: „Unfinn, die verftellt fh bloß. Mama hat geftern zur Tante Wilmsdorf gefagt, fie hat ſich die gange Zeit über verftellt. Und wenn fie fortgeht” er ſchnippte mit den Fingern „id made mir nit fo viel daraus.”

Das junge Mädchen trat ein. Sie ging ans Fenfter und fchaute wie geiſtesabweſend hinaus.

„Nimm bein Lefebuch, Kurt.”

Sie wandte fi Iangfam zurüd. Da hatte ihr der Heine Burſche die Zunge ausgeftredt.

Und da war es geſchehen, noch ehe fie ſich deſſen ſelbſt bewußt war.

Kurt ſtieß ein entſetzliches Geheul aus und geberdete ſich wie wahnſinnig. Eine Ohrfeige ihm ihm, dem verwöhnten Einzigen von Oberamtmanns, der in abſehbarer Zeit ein Reitpferd und einen Hauslehrer bekommen ſollte. Es war empörend, es war haarſträubend!

Als Magda ſpäter zu Tiſch kam, hatte Kurt bereits ſeinen Platz, der ſonſt ihr zur Linklen war, neben dem Stuhl der Mutter erhalten. Ihr Gruß blieb allerſeits unerwidert man ignorierte fie vollftändig. Nach dem Eſſen minkte fie der Hausherr in fein Zimmer. r

„Mein Fräulein, jegt wird die Sache denn doch aud mir etwas zu ftart. Sch habe viel von Ihnen gehalten, fehr viel. Aber daß Sie im ftande find, Ihre Wut an einem un» ſchuldigen Kinde auszulafien, bringt mir eine andere Meinung von Ihnen bei. Der Unter- richt findet von jegt ab im Zimmer meiner Frau ftatt.”

Magda wollte etwas erwidern, aber fie fonnte ſich nicht auf den Hergang befinnen. Ihr mar, als ob alle Gebanfen aus ihrem Him herausgeriſſen wären. Sie bog ben Kopf ein wenig hintenüber, ihr fonft fo fompathifches Geficht hatte einen ftarren Aus— drud.

Drei Monate Künbigungsfrift.

Naturgefchichte zugeſchidt befommen. Yamos. Darf ich es Ihnen zur Einfiht fenden?”

Eie wechſelten noch ein paar freundliche Worte miteinander, reichten fi die Hand und gingen auseinander.

Eli pflüdte fi die erfehnten Aftern, und Magda dachte dabei zum hunderiftenmal, daß es nichts Sußeres, Wonnigeres gebe, als dieſes Kind, das fie nun bald verlaſſen müßte.

Am andern Tag ſaß Elli ganz ftill in ihrer Epielede, und als bie andern Kindern fich ihr näherten, fing fie heftig an zu weinen, kam zu Magda gelaufen und legte den Kopf auf ihren Schoß.

„Um Gotteswillen, gnäbige Frau, das Kind ift krank.“

Die Yrau Oberamtmann war mit brei Schritten bei der Gruppe. Ya natürlich. Das Köpfchen glühte, und bie Heinen Hände zudten.

So refolut die Dame fonft erſchien, mas Krankheiten anbetraf, war fie fehr ängſtlich. Ein Hüften bei den Kindern war für fie das Zeichen einer ausgeſprochenen Lungen: entzündung, und ein heißer Kopf mas lonnte fi) da nicht alles entwideln! B

Überdies fchienen die Symptome diesmal wirllich ernfter Natur zu fein.

„Run möchte ich nur willen, wo das arme Kind fih das wieder geholt hat? Sie find doch nicht etwa geftern mit ihr noch draußen getvefen?”

„Das wohl, gnädige Frau, aber es war ganz ftil im Garten und recht warm.”

Eli hob für einen Moment das Köpfchen in bie Höhe. „Und wir trafen aud ben guten Onfel Stern. Der bat ein Heines, weißes Hüundchen, das möchte ich haben.“

Die Frau Oberamtmann war außer fid. Da war die Sache ja erwieſen: die größefte Fahrläffigkeit, die es je auf Gottes Erdboden gegeben. Die Perfon trifft fih mit dem Lehrer, und mein Kind zahlt dafür fein Leben.

Sie ſprach nicht mehr, fie ſchrie förmlich.

Magda zitterte fo heftig, daß es einen Stein hätte erbarmen fönnen. Sie fuchte zu erflären. Es war umfonft. Die Mutter hatte ihr das Kind bereitd vom Arm geriffen und mar im Echlafjimmer verſchwunden.

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Landarztes von dem Gutshof. Die Frau Dberamtmann blidte ihm mit fehr gemifchten Empfindungen nad. Alſo die Mafern! Na, die mußten ja alle Kinder durchmachen, das war ſchließlich nicht ſchlimm. Ein Seufzer unfäglicher Erleichterung hob ihre Bruft.

Aber, daß eine Erfältung durchaus nicht anzunehmen fei, machte fie ein wenig unruhig. Schließlich mußte man Fräulein Magda ein Wort der Erklärung fagen.

Doch da fiel ihr noch zur rechten Zeit ein, daß ihr Mann einmal für das junge Mädchen Partei ergriffen und Kurtchens Obrfeige und die teure Zeitungsannonce wegen der „Neuen” und ber Lehrer Stern.

Da machte das nörgelnde Gefühl des Unbehagen der gewohnten Erbitterung Platz.

Es klopfte.

Die Frau Oberamtmann öffnete ein wenig und ſah unmutig durch die Spalte.

„Was waunſchen Sie,” fragte fie das junge Mädchen kurz, das mit ſchlaffherunter⸗ hängenden Armen und verweintem Gefidht vor ihr ftand.

„IH möchte ich möchte gern wiſſen, mas Elli fehlt und ob ich Ihnen nicht bei der Pflege helfen dürfte!”

Der Dame mochte es in den Einn fommen, wie Magda vor einem Jahr viele Nächte bindurh am Kranlenbetichen der Kleinen gewacht und welches Lob fie von Dr. Holz geerntet.

Sie bilvet ſich wohl gar ein, fie kann's beffer als ich, dachte fie, und ihre Stimme wurde ſchroff und abmeifend.

„Ich danke Ihnen, ich pflege mein Kind ſelbſt. Eli werde ich Ihnen überhaupt nicht mehr übergeben.”

Ohne einen Laut der Erwiderung ver- ſchwand das junge Mädchen im dunkeln Korridor.

Sie brachte die Nacht angelleivet auf dem Sofa zu.

Am andern Morgen fah fie aus wie eine Todkranke. Es hatte fie bis ins Herz ge troffen. Die legten Wochen gingen ohne meiteren Zwiſchenfall vorüber. „Sie lann einen mit ihrem ſtarren Geficht verrüdt

Zwei Stunden fpäter fuhr der Wagen des machen,“ fagte der lebensfrohe Hausherr und

Die Frauen in Birma. 299

Nehmen Sie,” fuhr er, nachdem feine kurze bulldog-pipe angezündet war, fort, „nehmen Sie beiſpielsweiſe einmal die Frauenfrage. Wir befinden uns auf dem Wege "dahin, wo ſchon feit Jahrhunderten die Frauen in Birma ganz unangefochten leben! Im Gebiet des birmanifchen Reiches ſowohl in der britiſchen wie in ber fran- zöfifchen Einflußfphäre befigen die Frauen die unbebingtefte perjönliche Freiheit, die in Zweifel zu ziehen ben Männern überhaupt gar nicht einfält, Uralte religidfe Gebräuche und Landeögefege ſichern der Frau volllommene Gleichberechtigung mit dem Mann, auch in ölonomifcher Beziehung. Jedes unverheiratete Mädchen und jede ver: heiratete Frau ift felbfländige Verwalterin ihres eigenen Vermögens ober Beſitzes. Keiner der Ehegatten ‚hat das Recht, den andern zu bevormunden. Die jungen Mädchen heiraten zwiſchen dem 18. und 22. Jahre, felten fpäter, aber auch nicht früher. Kinderehen, wie in Indien, giebt es nicht in Birma. In Folge ihrer Selbfländigteit dürfen fie ganz nach Belieben den Mann ihrer Wahl heiraten. Die Erziehung der Kinder ift ebenfalls von ganz eigentümlicher Art in Birma: nachdem die Knaben und Mädchen laufen können, bleiben fie fich felbft überlaflen und können ſich in allen Lebenslagen früh helfen, ohne dazu ‚erzogen‘ zu werben... .

Vielleicht könnten Sie daraus fchließen, daß die Konſequenz diefer Nichterziehung eine anmutige Verdummung und Verwilberung wäre. Keineswegs. Wenn die Kinder heranwachſen, lernen fie arbeiten, und bie nötigen Kenntniffe werden ihnen in ben Schulen beigebracht. Obwohl manche Gegenden des Landes dicht bevölfert find, hat der Kampf ums Dafein dort nicht bie fcharfen Formen mie bei und angenommen. Das beruht zum Teil auf der Freiheit und Gleichberechtigung der Frauen, wodurch der Verkehr auf eine breitere Grundlage geftellt ift, die die Konkurrenzfurcht zwiſchen Männern und Frauen nicht auffommen läßt.

Auch in Bezug auf bie Frauenbildung war ich fehr durch die Thatfachen über: raſcht, denn nicht nur bie Stadtbewohnerinnen, fondern viele Landmädchen und Bäuerinnen können lefen, ſchreiben und rechnen, außer den häuslichen Arbeiten, in denen fie fehr geihidt find. Praktiſche Erwerböthätigfeit finden fie vor allem als Verkauferinnen in den großen öffentlichen Bazaren von Mandalay und Rangoon; fie zeigen fih in der Warenkunde hervorragend tüchtig. Immer gleichmäßig höflich und aufmerkfam, felbft wenn man nichts kauft, plaudern und ſcherzen fie mit jedem Vorüber:

jehenden, ohne ihre Intereſſen zu vernadläffigen. Sagt man ihnen 3. 8. irgend eine ttigteit, jo haben fie gar nichts dagegen einzuwenden erhöhen aber dafür den Preis der Waare um einige Rupeeen. Beim Einkaufen von Seidentüchern paffierte mir das felbft einmal, als ich der Verkäuferin mein „Wohlgefallen“ an ihrem ſchnee⸗ meißen Kleid und den bunten Blumen im Haar, die fie anmutig kleideten, aus: geiprochen hatte.

Natüstice Anmut ift überhaupt eine hervorragende Eigenfchaft der Birmanerin, von der ein britifcher Staatsbeamter (Henry Fielding) fhreibt: „fie ift weder eine Helena, noch eine Afpafia, aber noch weniger eine Amazone.“ Fielding bat recht. Ich felbft Habe viele Europäer, Chinejen und Japaner bort im Lande kennen gelernt, die ſich mit einheimifchen Frauen verheiratet haben, fogar Hindus die fo fehnfüchtig an ihrer Heimat hängen verzichten oft auf die Rüdfehr, wenn fie eine Birmanerin zur Frau haben.

Sehr vernünftig und frei von Prüderie find die Anfchauungen der Birmanerinnen in Bezug auf die Ehe. Wie ich Ihnen ſchon fagte, Heiraten die jungen Mädchen wann und wen fie tollen. Dabei find fie durchaus nicht profaifch veranlagt, ſondern wiffen die Präliminarien zur Verlobung mit einem Schimmer von Romantik zu umgeben. Eine alte Landesfitte, die „der Zeitpunkt des Hofmachens“ Heißt, bringt die Liebenden zufammen. Abends, wenn der fühlende Sudwind (der vom Meere kommt) die Hige des Tages vergeflen macht, während der Mond jeden Zweig und jebes Blatt mit einem filbernen Schimmer überftrahlt, beginnt das Spiel, indem reizende Balkonſcenen improvifiert werden! Die Mädchen figen, hinter dichtem Laub möglichft verfledt, auf ihrer drei biß vier Fuß über dem Boden gebauten Heinen Holz

Die neue kunftleriſche Bewegung. 808

ift, konform fein dürfte wie daher die ganze materielle Bafis, auf der wir leben, eine andre geworben ift, fo müffen fchließlich uch alle idealen Lebensfaltoren davon berüßrt werben, fo muß enblih auch die Kunit, als Gradmeſſer ber jeweiligen kulturellen Verhältniffe, diefe Ummandlung zum unmittelbaren Ausdrud bringen.

Mit andern Worten: Es ift doch felbfiverftändlih, daß man in der Zeit der Gothik anders baute, anders malte, dichtete und komponierte als im Rofofozeitalter. Zur Zeit des eifengepanzerten Nittertumd mußte die Zimmereinrichtung, die Raum- verteilung im Haufe eine andre fein als etwa zur Zeit der Allongeperüden und ber feidenen Strümpfe. So jei denn bier der Leidenſchaft mancher Menichen, das öde Einerlei und Untünftleriiche der Wohnungseinrichtungen ber Iegten fünfzig Jahre mit Möbeln aus der Renaiffance oder Gothit zu unterbrecyen und zu beleben, als einer hochſt thörichten gedacht. Es ift ja nicht zu leugnen, daß dieſe Paffion jehr häufig mit einer Liebe für Kunft und Fünftleriihen Schmud des Haufes zufammenhängt, zu gleicher Zeit aber bekundet fie auch ein Unverftänbnis dafür und Verfländnislofigfeit gegendber den fünftlerifchen Forderungen ber eigenen Zeit. Es fei geftattet, Bier einige

utoritäten auf diefem Gebiete zu citieren. Cornelius Gurlitt fchrieb im Jahre 1887 ein lefenswerted Büchlein: „Im Bürgerhaus“. Dort verfucht er gegen die Leidenſchaft der alten Stileinrichtungen zu fämpfen. „Der Stil“, jo meint er, „Ihmüdt nicht da Haus, fobald und berielbe fremd ift. Der Künftler kann uns noch fein wohnliches Haus fehaffen, fondern wir felber müflen das thun. Es gilt nicht eine ideale, fondern eine eigene Einrichtung zu ſchaffen, nicht Schönheit an fi, jondern Erfüllung des Zwedes gilt es zu erzeugen. Scaffe dir jelbft ein eigenes, deinem Wefen entiprechendes Neft, und ed wird dir gefallen fchaffe es dir in Durchbildung deiner Anfichten über fhön und Häßlich, und es wird ficher ſchön werden, wenn in dir die edlen Züge des Menfchenherzend obmalten. Nicht die filiflifchen Formen machen ein Haus zum Eigenwefen, dad fih von der Mafie der Mittelmäßigkeit wohlthuend unterfcheidet, fondern der Gedanfeninhalt, der unbemerfbar und doch beflimmend in den Dingen waltet. Nicht die Raumgeftaltung, nicht die Pracht machen ein Zimmer ſchön, fondern feine Beziehung zu unferm Leben”.

Sollen wir nun flilvoll fein im Geifte früßerer Jahrhunderte? Sollen wir eine Kunſt der Selbftentäußerung fortfegen, deren Ziel doch nie ganz von und erreicht werben ann? Wer bad Alte befigt, wen es in irgend einer Form überfommen ift, der freue fich feines Neichtums es bat dann einen Zufammenhang mit ihm —, wer es ſich aber neu ſchaffen will, der ift wie einer, der ſich nachträglich Ahnenbilder malen läßt. Nicht geſchichtlich, ſondern fachlich flilvol fol man ſchaffen. Stil ift gleichbedeutend mit innerer Zwedmäßigkeit, ſtilvoll ift, mas dem Weſen eines Werkes in feiner ganzen Anlage und Ausbildung kunſileriſch entipricht. Erſte Forderung des Stils ift innere Wahrheit. Der echte Künftler hat dabei den Blid nad vorwärts und nicht auf alte Formen zu richten. Alles Alte ift ihm nur Unterlage, Vorarbeit. Er ift erfült vom Geift feiner Zeit und will diefen durch fein Werk zum Ausdrud bringen. Immer wieder wandelt fi die Zeit und mit ihr der ihr eigene Ausdruck, die Kunſt. Nur ftilftehende Zeiten haben eine ſtillſtehende Kunft. So lange die Herzen der Völker fchlagen, geht der Weg vorwärts. Es giebt fein Verweilen auf fonnenbeglänzter Höhe, der Künftler muß weiter, fein Wert muß aus dem Rahmen des Alten hinaus, e8 muß modern werden, muß bie alten Gejege der Äſihetik durchbrechen.

Und weiter prophezeit Gurlitt: „Mir will ed fcheinen, als werde Hinter dem, mas fih als neue Kunft im Gewerbe jegt zeigt, bald das kommen, was ich einen eigenartigen Stil nennen möchte, nämlich, daß man Käufer und Möbel fchaftt, wie man Bildniffe malt, in Anfehung der Perſon, nach dem Wefen des Beftellers.“

Auch Alfred Lichtwark, der geniale Leiter der Semburger Kunſthalle, urteilt in diefer Sache genau fo, wenn er fagt, daß man ſich feinen Lehnftuhl anmeſſen laſſen folle wie einen Rod.

Zange ſchon Hat man von einer mobernen Kunſt gefprochen und was zunächft die Bildermalerei anbelangt fie fo verflanden, daß von Malern, die gerade in

Die neue kunſtleriſche Bewegung. 805

des litterarifch Geiftreichen forderte, die Gelehrten dem Künftler den Inhalt feiner. Bilder vorſchrieben ſah man in ihm nichts weiter ald einen Handwerker, um fo mehr, als durch Fleiß, bei einigem Geſchich, die Technik, das Handwerkliche der Kunft zu erlernen war. So ſank die Technik immer mehr und mehr zum Nebenfächlichen herab. Daß die bildende Kunft auf der Schärfe de finnlichen und feelifchen Erfaſſens berube, daß das vollendete Werk nur aus fünftlericher Anfchauung geboren werden tönne, daß die reale künfileriſche Wahrheit über der inhaltlichen ve, begriff man nicht. Der Wert eines Bildes wurde an der Richtigkeit der Wiedergabe des Stoffes gemeflen. Goethe, der feine Kenner antiker Kunft, Hatte fein Empfinden für die Schwächen der zeitgenöffifchen. Die armfeligften Erzeugniffe befriedigten ihn, wenn fie nur irgend einen erhabenen Gedanken darzuftellen beabfichtigten.

Ebenſo fonderbar berührt uns jegt die Anſicht Leifings, wenn er fagt, ein Maler, der nad) irgend einer Beichreibung des englifchen Dichter? Thomfon z. B. eine Landſchaft darftelle, habe mehr gethan als der, welcher fie vor der Natur felbft male. Denn dieſer ſehe das Urbild vor fi, während jener feine Phantafie fo anftrengen müffe, bis er es vor fi zu ſehen glaube.

Die Künftler fonnten der Macht gelehrter Logik nicht widerftehen. Sie fingen an, dad Heil für ihr Schaffen einzig vom Studium ber Alten zu erwarten und begannen, fih an der Schöpfung einer wiſſenſchaftlichen Äfthetik zu beteiligen.

Schon Raphael Meng hatte in feinem Buche „Ueber die Schönheit” feinen Zeitgenofien den rechten Weg zeigen wollen. Und gerade er ift ein Beweis dafür, daß ein Maler alle Regeln der Logik und Aſthetik innehaben kann, und doch fein einziged Werk jchaffen, da den nur aus eigenem innerften künſtleriſchen Erfaſſen heraus: geborenen Werfen eines ungelehrien Meifterd wie Dürer, Holbein, Rembrandt, Franz Hals u. f. w. ebenbürtig iſt. Der Künftler kann nichts vom Gelehrten lernen. Er muß unbewußt naiv fchaffen, er muß feine Individualität, feine Art, die Welt zu ſehen, zur Geltung bringen.

Wenn Raffael in den Bildern feiner legten Schaffensperiode den pyramibalen Aufbau bevorzugt, fo war das richtig für ihn. Allein es war nicht richtig, den pyramidalen Aufbau zu einem Gefeß zu machen. Sept ift man wieder zur horizontalen und vertifalen Linie zurüdgelehrt, und mwir freuen uns diefer Errungenfchaft. Früher fagte man, eine Landſchaft müfle fo komponiert fein, daß alle Linien in einen Mittel: punkt zufammenfließen ein Bild müſſe mindeftens balanciert fein, d. h. dem ſtarken Effelt auf einer Seite müſſe ein annähernd ſtarker auf der andern entiprechen, fonft falle das Bild auseinander heute denkt man nicht daran, fondern malt die Natur jo, wie man fie ſieht. Gemwiß werden auf diefe Weife manche Abfurditäten auf die Leinwand gebracht, und mande Bilder, die wir jet auf Kunftausftellungen einen erften Plag einnehmen fehen, werden ficher fpäter in die Rumpellammer geworfen oder werden doch nur in Zukunft ein biftorifches Intereſſe haben, wie wir ja auch beute in den Mufeen manche biftorifch intereffanten Abfurditäten vergangener Zeiten finden. Dennoch ift der Weg, den fie einihlagen, die jungen Fraufetöpfe, der richtige, und das Befunde, Echte wird feinen Platz behaupten.

Jeder Künftler, in feiner Eigenart, wurzelt feft in feiner Zeit; die Kunft ift eng mit allen Zeiterfcheinungen verwachſen; jo mußte fie auch im zwanzigften Jahrhundert die alten ererbten Gefege durchbrechen.

Unfere Zeit aber ift die Zeit der Entdedungen auf dem Gebiet der Natur: wifienfchaften, der Chemie, der Phyſik, und fo ift es auch feine Zufälligkeit, daß die Umwandlung in der Malerei von den Ericheinungen der Natur, vom Lichte ausging. Daher der Pleinairismus, bie Freilichtmalerei, der Impreſſionismus. Und da das Licht Farbe ift, wie ung das Prisma beweift, fo mußte die neue fünftlerifche Bewegung eine beforativ-farbige fein. Nun haben ängftlihe Gemüter die Befürchtung aus— geſprochen, daß wir in einigen Jahren überhaupt fein abjolutes reines Kunſtwerk mehr zu fehen befommen werden, jondern nur noch dekorativ ftilifierte. Der Plakatftil, meinte man, wird fich breit machen und alles andre verdrängen. Indes, dieſe Be: fürchtung ift unbegründet: die neue fünftlerische Bewegung ift auch differenzierender

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806 Die neue Tünftlerifche Bewegung.

‚Art. Sie weilt der reinen Kunft ihren Plag an, und der angewandten, der ftilifierenden den ihren. Es liegt das in den materiellen Berbältniffen unfrer Seit bearünbet. Unfre Wohnung bat in der That einen andern Charakter bekommen. Die Thätigfeit der meilten Menjchen jpielt fich außerhalb des Hauſes ab, das öffentliche Leben ift vielgeftaltiger geworden, auch die Frau tritt mehr in die Öffentlichkeit als früher. Die Wohnung ift mehr und mehr zur Erholungsftätte geworden. Dadurch wird fie ja einerfeit3 zur Aufnahme von Kunſtwerken geeigneter, nur muß auch andrerfeits das Kunſtwerk, wenn es diejer feiner Beltimmung nachlommen fol, in andrer Form auf: treten als bisher. Die abjoluten Kunſtwerke früherer Epochen waren zunächſt auch nicht für die eigentlichen Wohnräume gedacht. Die Kunft ftand zuerft im Dienfte des ‚Rultus. Später, als ſich die profane Kunſt von der kirchlichen löfte, fand die erftere eine Stätte in den Prunfjälen der Fürften, der Mächtigen und Reichen, von wo aus fie in neuerer Zeit in die Mufeen, als die Sammelpläge abjoluter Kunſtwerke, über: gegangen ift.

Diefe Mufeen find in der That der geeignetite Platz, um Kunftwerfe unter den denkbar günftigften Bedingungen auf fich wirken zu laffen. An ihnen follte ein Staat mebr und mehr arbeiten; er würde fich dadurch um die Förderung der Kunft größere Berdienfte erwerben ald Durch das Arrangieren der alljährlichen großen Kunftaußftellungen, die nur zu einer Verflachung und überaus fchädlichen Überprobuftion führen. Sie richten in der That mehr Unheil an, als man denken follte. Die Künftler, die meinen, für jede Sahresausftellung etwas Neues bringen zu müſſen, werfen flüchtige, ober: flächliche Sachen auf den Markt. Sie ſuchen ſich gegenfeitig zu überbieten im Auf» fallenwollen, und jo entiteht an allen Eden und Enden viel Lnerfreuliches und Abftoßende2.

Auch der neuen Kunftbeftrebung bat dad alljährliche Ausſtellungsweſen weit mehr geſchadet als genügt. Die junge Kunſt hätte, als fie faum erwacht war, noch Sabre lang ftiller, ernfter Arbeit an fich jelbft bedurft, anftatt zur Unzeit fchon ans Tage: licht gefördert zu werden. Auch die Preſſe machte, zum Zeil in beiter Abficht, viel zu früh ein lärmendes Aufjehen von ihr. Dadurch ift viel Unheil angerichtet worden. Einigen jtrebjamen Künftlern wurde, da man fie in den Himmel erhob, der Kopf verdreht, fo daß fie fich fchon für fertige Meifter hielten, als fie doch eben erft anfingen zu werden. Und auch das Publikum wurde verwirrt. Es nahm die Ateliererperimente und jpielenden Berfuche für ernft. Der eine Teil kaufte Sachen, die eben nur als Verſuchsobjekte Wert hatten, oder oberflächliche Skizzen und verbarb ſich an den teils unfertigen, teil® unverftandenen Dingen den Gejchmad. Der andere und zivar bei weitem größere Teil begriff überhaupt nicht, um was ed ſich handelte, aber er verhöhnte und verlachte da3 Unbegriffene. Und fo ift e8 denn gefommen, daß man im allgemeinen von ‚der neuen Kunft ald von einer Thorbeit fpricht, und fie belächelt oder fie als eine Berirrung beklagt.

Aber wie nun einmal die Saden liegen, das Achjelzuden nüßt der Menge nicht es Tann die neue Kunft nicht aus der Welt jchaffen. Sie ift nun einmal da, und man kann fich ihrem Einfluß auf das Leben jchließlich eben fo wenig entziehen als dem der Elektrizität, der Dampfmaschine, des Telegraphen und des Telephons.

Das Schöne an der neuen Bewegung aber ift der Standpunft, daß e3 fich nicht mehr lediglich um die Ausbildung einiger Zurußerjcheinungen wie die Bildermalerei, die Skulptur es ift, handeln darf, jondern daß e3 in eriter Linie auf die Harmonifierung des Ganzen ankommt. Wir dürfen nicht alle Fünftlerifchen Bedürfniffe in den reinen Künften Eonzentrieren und alles Übrige vernachläffigen. E3 kommt darauf an, die fünftlerifchen Güter, die bisher auf dem Wege der reinen Kunft erworben find, zu erhalten und zu verwerten. Der fchroffe Gegenjag zwilchen dem hoben Stand ber legteren und der rohen Geſchmackloſigkeit des ganzen Volkes ſoll ausgeglichen werden.

Um ſich von diefem graffierenden Ungefhmad ein klares Bild zu machen, ver: gegenwärtige man fich einmal die fogenannte gute Stube der Durchfchnittämenfchen oder die Schaufenfter unferer „billigen“ Galanteriewarenhandlungen und dann werfe man einen Blid in die Nationalmufeen von München, Nürnberg u. |. w, wo

Die höhere Mäpdgenfjule ald Unterbau für die Gymmaſialkurſe. 807

bie Gebrauchögegenftände aller Art aus frügeten, glüdlicheren Kunſtepochen aufbewahrt find. Ober man gedenke des Standes des heutigen japanifchen Kunftgewerbes. Jeber Stoff, in den die vornehme Japanerin ſich Heidet, ift ein Kunſtwerk, desgleichen jede Kleinigleit, mit der fie ſich umgiebt, ihre Kaffetten, ihre Etuis, ihre Fächer und Schmudgegenftände. Gewiß, wenn eine Japanerin unfere deutſchen Tapifierie: fchaufenfter’ ſahe, fie würde mitunter erflaunen über die europäifche Unkultur. Gott fei Dank, daß die neue Kunft auch dies Gebiet neu zu beleben beginnt, auf dem unfere weibliche Jugend mit herangebildet werden kann zu einem wirklich aſthetiſchen Empfinden, zu künftlerifchem Denken in allen Dingen, in der Wohnungsausftattung, der Toilette, dem Schmud und endlich auch der abjoluten Kunft.

Das verfloffene Jahrhundert war ein wiſſenſchaftliches, das jeßt begonnene hat den Anſchein, als wolle ed ein künftlerifches werden. „Glüd auf“ alſo der neuen kunſtleriſchen Bewegung! Nicht aber kann diefelbe beſſer fördern, als ein Heranziehen der gebildeten, tunftfinnigen Frauenwelt.

u .

Die höhere Wäshenfänle als Unterbau für die Spmnafialhurfe.

Bon

Belene Tange.

Nacdrud verboten.

®- preußifhe Kultusminifterium hat fih in bezug auf die Gymnaſialbildung

der Mädchen für dad Syſtem der Gymnaſialkurſe entfchieden, das fi in Berlin feit einer Reihe von Jahren gut bewährt hat. In Hannover und Breslau find bereit3 auf fünf Klaſſen berechnete Gymnaſialkurſe den ftädtiichen höheren Mädchen- ſchulen angegliedert. Man darf fie wohl als eine Art von Experiment anfehen, bad die Regierung, nachdem ber rein private Verſuch in Berlin vorangegangen if, nuns mehr anftellt, um, fo darf man doch wohl annehmen, darauf ein weiteres Vorgehen zu gründen. Nach einem Erlaß des Kultusminiſters im Dezemberheft des „Central blatts für die gefamte Unterrichtöverwaltung in Preußen” fcheint dies Experiment nicht ganz glatt von Statten zu gehen. Der Erlaß lautet folgendermaßen:

Handhabung des Unterrichts in den Gymnaſiglkurſen für Mädchen.

S Berlin, den 6. November 1900.

Aus einem Berichte meines Fachreferenten über feinen Befuch der dortigen ſtädtiſchen Gymnafiat- turfe für Dlädepen habe ich erfehen, daß es bis jet noch nicht gelungen ift, im Unterricht dieſer erwachſenen Schülerinnen die auf ber Höheren Madchenſchule gewonnene und In der Aufnahmeprüfung nachgewieſene Bildung mit ben Anforderungen ghmnaſialen Unterrichts in Einklang zu fegen, und fo eine innere Verbindung beider Bildungsgänge berzuftellen. Ich muß dies als einen ſchwer wiegenden Mangel bezeichnen. .

Neu find für die Schülerinnen der Gymnaſialkurſe die alten Sprachen und die Mathematil. In diefen Disziplinen iſt felbftverftändlih von den Elementen auszugehen, wenn aud die unterridhtliche Behandlung der geiftigen Entridelungäftufe der Schülerinnen angemeffen fein muß. Die anderen Fächer find dem Gymnafium und der höheren Mädchenſchule gemeinfam. Hier wird bei Auswahl und Bemeffung

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Die höhere Mabdchenſchule ald Unterbau für die Gymnaſialkurſe. 309

das programmmäßig in einer Höheren Mädchenfchule zu erwerbende Wiffen befaßen, fo barf ich wohl aus den hier gefammelten Erfahrungen allgemeine Schlüffe ziehen. Von den ganz untauglichen Schülerinnen, wie fie einmal durd jede Schule Laufen, ſehe ich dabei vollftändig ab.

Als Geſamireſultat ergiebt fig mir da folgendes: Das pofitive Wiffen war, mit wenigen Ausnahmen, dürftig und zufammenhangslos. Fragte man, etwa in Litteratur, nad den inneren Beziehungen der Erjcheinungen, jo durfte man, wenn überhaupt eine Antwort am, ziemlich ficher auf eine Reminiszenz aus Kluge oder Werner Hahn rechnen. In den neueren Sprachen, bie doch als Spezialität der höheren Mädchen: ſchule gelten, herrfchte eine unglaubliche Unficherheit felbft in den Elementen. Ich bin bei der Prüfung, um der Befangenheit der jungen Mädchen Rechnung zu tragen, nie über das Penfum des achten Schuljahres hinausgegangen; von Ungeheuerlichkeiten, von Formen wie „cettes“ und „bienne“, „eraigni“, „mouru* will ich gar nicht eben, trotzdem fie nicht eben zu den feltenen Ausnahmen gehörten; ich will nur an= führen, daß man bei der Mehrzahl der Schülerinnen den richtigen Gebrauch weder der verbes pronominaux und der unregelmäßigen Verben, noch die Grundregeln bes Subjonctif und ber Partizipien als einen ficheren Befig bezeichnen fonnte. Das Rechenpenfum der Volksſchule, an dem die höhere Mädchenfchule fih neun Jahre lang quält, figt fo wenig feft, daß nicht felten die einfachften Bruch: und Regeldetri— rechnungen ungelöft bleiben. Ein wahrhaft fompromittierendes Zeugnis für bie höhere Madchenſchule find aber die deutſchen Aufäge. Selten waren die Schülerinnen imftande, ein einfaches Thema felbftändig zu disponieren; was fie zu Papier brachten, war meift eine Reihe von zufälligen Affociationen, deren Inhalt und Zufammenhang auf die Vorbilbung der Verfafferin allerlei nicht eben ermutigende Schlüffe zuließen.

Einer „gründlichen und ernften” Aufnahmeprüfung, wie fie der Erlaß den Gymnafialkurfen zur Pflicht macht, d. h. einer Prüfung auf Grund des Lehrplan der höheren Mädchenfchule vom 31. Mai 1894, wäre faft die Hälfte der von mir in Seminar und Gymnafium aufgenommenen Schülerinnen nicht gewachſen geweſen. Ich habe deshalb Tängft davon abgefehen, die Aufnahme von dem Beftand des Wiſſens abhängig zu machen, fondern meine Prüfung nur darauf eingerichtet, mir ein Urteil über die Intelligenz der jungen Mädchen zu bilden,

Die thatfächliche Beſchaffenheit des Unterbaus ftelt nun allerdings bie Lehrer des erſten Gymnafialfurfus, die die organifche Angliederung bed neuen Penfums vollziehen follen, vor eine fchwierige Aufgabe. Ich muß geftehen, daß ich bie Unbefangenheit, mit der ein Gymnafiallehrer an bie geiftige Leiftungsfähigfeit der Mädchen von vorn herein genau biefelben Anfprüche ftellt wie er fie an die Knaben zu ſtellen gewohnt war, ſiets als ein fehr wertvolles Rüſtzeug zur Überwindung diefer Schwierigkeiten angejehen habe. Denn immer fteigen die Leiftungen mit den Anfprüchen. Der Unterricht der höheren Mädchenfchule trägt nun einmal in feiner ganzen Haltung und feinen Anforderungen die Spuren der alten Doltrin von ber geiftigen Inferiorität des Weibes. „Mäcen können nicht rechnen“, pflegte mir ber Nechenlehrer einer ftäbtifchen höheren Mädchenfchule zu verfihern. Und in der That, die von ihm unterrichteten „Mächen” konnten nicht rechnen, was fie nicht Hinderte, nachher Tüchtiges in der Mathematik zu leiften.

„Mädchen Tönnen nicht rechnen!” In diefem Dogma liegt ein Grund für die geringen Leiftungen der höheren Mädchenfchule. Aus feinen Konfequenzen aber ergiebt

Naqhdruc mit Duelenangabe erlaubt.

* Eine deutſche Geſellſchaft für ſoziale Reform hat ſich unter ber Führung des Freiherrn von Berlepfh am 6. Januar in Berlin ge gründet. Die Geſellſchaft ift eine Landesſektion der internationalen Bereinigung für gefeglichen Arbeiterfchug, deren Gründung burd den Barifer Internationalen Kongreß vom Juli 1900 voll: zogen wurde. Die neugegrünbete Geſellſchaft will die deutſchen Sozialreformer der verſchiedenſten Richtungen und Berufe vereinigen zur Hebung ber Zage ber Loßmarbeiter durch Gefehgebung des Staates und Stärkung ber Selbſthilfe. Die Ge: ſellſchaft wird vor allem für die Auögeftaltung des Roalitiondrechtes eintreten.

In der Begründung des Statutenentwurfes führte Profeffor Sombart: Breslau aus, daß der Berein zweifellos ein politifcher fei, und man da⸗ ber um ber Bereindgefege in Preußen, Bayern und Sachſen willen auf bie namentlich auf dem Gebiete des Arbeiter: ſchutzes fo wichtige Mitarbeit der Frauen verzichten müffe. Diefer Punkt des Statuts erregte eine heftige Debatte, in der alljeitig der Wunſch geäußert wurde, (Frauen zulaflen zu künnen, die aber doch ſchließlich zu einer Faffung des Paragraphen führte, nad der die Frage der Zulaffung von Frauen in ben Berein offen bleibt. Der Bund beutfcher Frauenvereine Hatte bereit® feinen Beitritt angemeldet, er hält felbftverftänblich feine Meldung aufrecht.

Benn man bebenft, daß bie Thätigfeit fo vieler beftebender Frauenvereine basfelbe Gebiet, auf dem bie Geſellſchaft für ſoziale Reform arbeiten wird, Bereit unangefochten lange behauptet, fo ilfuftriert der Grund des Ausſchluſſes wieder einmal ſchlagend die Nüdftänbigleit unſerer Vereindgejeggebung. Wenn nur bie neue Gefell: ſchaft, die im ihr Programm den Ausbau des Noalitionsrechts aufgenommen, die formalen Gründe, die die Aufnahme von Frauen hindern, möglichft bald befeitigen helfen möchte!

su

* Mäpdengymuafium Karlöruße. Der Berein „Frauenbildung-Frauenftubium" Bat, veranlaßt dur den in erfreuficher Weiſe fich forttwähren fteigernden Befuh des Karlsruher Mädchen: gymnafiumd, ein eigened Haus für die Zwecke des Internat .gefauft. So wird in nächfter Zeit wieder den Gefuchen um Aufnahme in das Internat entſprochen werben Können, während im Augenblid feine Pläge mehr zur Verfügung ftehen.

* 18 gleiäberehtigte Armenpflegerinnen find nunmehr Frauen in Berlin zugelaffen. Der Ausſchuß zur Borberatung ber Aenderung und Berbefferung ber Verwaltung ber öffentlichen Armen: pflege in Berlin hat folgenden Magiftratgantrag nad} einer ausführlichen Beratung und Begründung durch den Stadtrat Dr. Münfterberg angenommen:

„1. Wahlbar zu Mitglievern einer Armen: tonmiffion ſind ohne Unterſchied des Geſchlechts alle großjährigen Angehörigen eines deutſchen Yunbedftantes, die ſich im Veſit der burgerlichen Ebrenrechte befinden und in Berlin wohnhaft find. Die Witglieber der Armentommiffion werden ald Armenpfleger und Armenpflegerinnen bezeichnet. Tie Amtödauer ber Mitglieder ber Armen: fommiffionen beträgt brei Jahre (bisher ſechs Jahre!). 2. Die Armenbireltion wird ermächtigt, Armenkreiſe (Degentralifation) einzurichten. Die Kreisvorſteher werden durch bie Armenbireftion aus bem Kreife ihrer Mitglieder oder auß Borftehern von Armen: tommiffionen ernannt.“

* Über „Geuoſſenſchaftliche Erziehung der herauwachſenden weiblichen Jugend“ ſprach Herr Profeſſor Zimmer kürzlich im Verein, Jugendſchutz“⸗ Berlin und zeigte an der Entwidlung ber vier ſchon beftehenden, auf genoſſenſchaftlicher Vaſis ger gründeten, Arbeiterinnenheime, wie vortrefflich dies Vorbild für ähnliche Erziehungsheime für gefährdete Jugendliche nugbar gemacht werben könnte. Eine dauernd zugeficerte Arbeit zu feftftehendem Zohn, Gelegenheit gur Erlernung tüchtiger haus:

Der Schwäbifde Frauenverein Borfigende: Frau Präfident v. Weizfäder), veröffentlicht feinen 27. Jahreöbericht. Das Jahr | 1900 hat er zur Bervollftändigung und Weiter: entwidlung feiner Anftalten benugt. Die Frauen: arbeitäfpule nimmt jet, durch ihr geiepmäßiges Weiterfchreiten, durch dad Spftematiihe in allen Unterrichtefächern, durch die anerfannt vortreffliche Xchrmethobe bed Heichenunterrichts, unter den Frauenarbeitöfdjulen Deutihland® eine der aller: . erften Stellen ein. Sie erhielt ein Diplom für ! hervorragende Leiſtungen durch die fünigliche Regierung zuerkannt infolge ihrer Teilnahme an ' ber —e— ——— im Auguſt 1899; und auf Beranlafjung der königlichen Komiſſion für die | gewerblichen Foribildungsſchulen traten zwei Lehre⸗ rinnen anderer Schulen in die Frauenarbeitsſchule ein, um die bort geübte, eigenartige Methode der organiſchen Verbindung von Zeichnen und Stiden | zu erlernen. Die rauenarbeitßfchule murde in biefem SBereindjahre, dad von Juli IRHM bie Jufi 1900 geht, voh 343 Schülerinnen befucht. Durch Anfertigung beftellter Arbeiten baben die . vorgerüdteren Schülerinnen 1460 Mark verdient.

Nachdem im Auguft 1899 vom Staate die Gefamtftellung, die Alterdzulagen, die Alters: und Krantenverforgung der Yehrerinnen an Frauen: arbeitäfehulen in gleicher Weile wie bei ben xehrerinnen anderer Schulen gefeglich jeftgeftellt wurden, reichte ber Ausichuß an die königliche Kommilfion für bie gewerblichen Fortbildungsſchulen das Gefuh ein: Die Frauenarbeitsichule des Schwäbifchen Frauenvereins möge der genannten Behörde in einer den geieplichen Beftimmungen entſprechenden Weife unterjtellt werben, damit die Yehrerinnen ihrer Anftalten die gleichen Redıte genießen vie biejenigen der ftäbtifhfen Cdyulen. !

Diefem Gefuch ift von der Föniglihen Regierung ı entiproden worden und aud die Bitte der Arbeitälehrerinnen um ftaatlihe Beftätigung ihrer Anftellung wurde in böchft dankenswerter Weile zuftimmend beantwortet.

Der Kindergarten, die Froebelſchen Unterrichts: turfe erfreuen fich guten Befuch8; ebenfo bie Koch ſchule und Haushaltungsſchule. Cs haben auf Veranlafjung des Vereins 71 Wanderkochturſe in 21 mürttembergifhen Oberämtern ftattgefunden, darunter viele Abendkurfe für Fabrikmädchen Tie ' Wandertoclehrerinnen, 14 an der Zahl, jieben mit ihrem NRochgeräte von Gemeinde zu Gemeinde und haben überall gute Aufnahme gefunden. Auch die Töchter dandelsſchuie wurde gut befucht, 111 Schülerinnen wurden nad ihrer Entlaflung ' ‚Stellen vermittelt. Die vom Verein herauögegebene

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Woch engeitſchrift „Frauenberuf” ift feit dem I. April 1900 vom Verein in Selbftverlag genommen. Ein Neubau, ben ber Berein für feine Anftalten unter: nimmt, tird in einiger Zeit vollendet fein und für eine weitere Entwidlung Raum ſchaffen.

Nener Boltsfhullchrerinnen-Berein zu Berlin.

Tie Tarlehnötafje bed Neuen Boltsihul: lehrerinnen: Verein ift, nachdem der Berein in bad Vereinsregifter eingetragen worden ift, in Kraft getreten. Die Rafle hat den Zwech den Lereinsmitgliedern in Arankheitsfällen und befonderen Notlagen, fowie zu Fortbilbungsjweden Darlehn zu gewähren. (Bejuche find an die Vor: figende der Haffe, Fri. 9. Jaftrow, N., £inien: ftraße 110, zu richten.

Heim des Allgemeinen deutfhen Lehreriunen- jereins zu Berlin Worfigende: Frau Elly von Siemend) veröffentlicht feinen Jahreöberidht für 1899/1900.

: Die Frequens des deims mar im verfloffenen

Vereinsjabr eine jehr zufriebenftellenbe, der Zudrang ein fo großer, daß vielfach Intereſſenten abgewieſen erden mußten. Tas Yebürfni® nad; abermaliger Vergrößerung des Heims ftet fi heraus, die Mittel erlauben aber noch teine Erweiterung der Räume. Ter Borftand hat den Tod eines feiner Mitglieder zu bellagen, der Frau Kathi Warſchauer, die ihm feit Begründung des Berein® angehörte. Herr Robert Warſchauer hat nach dem Ableben feiner rau, um ihren jährlihen Beitrag zu

italifieren, dem Verein 3000 Mark zugehen lafien. Unter dem Namen „Kathi Warichauer: Stiftung” fol diefe Summe, bie in Papieren angelegt worden ift, den Grundſtock zu einem ‚Fonds bilden, ber, wenn er ſich nad und nach vergrößert, den Werein befähigt, halbe und auch ganze Frei: ftellen zu Tcaffen.

Der Berliner Zranen! von 1900 (Lorfigende: Frl. Dr. Franzista Tiburtius, Bülowftr. 14) veröffentlicht feinen eriten Jahred: bericht. Tas außerordentlich raſche Aufblühen des Klubs iſt dem Umftande zu danken, daß er den Bedürfniſſen der erwerbenden Frauen, denen er dienen wollte, in jeber Beziehung ausgezeichnet entiprodhen hat. Der Alub bat im Laufe feines eriten Jahres durch Eintragung in da8 Pereine: tegiiter Hectäfäbigleit erlangt. Die Nerwaltung wird geleitet durch cine Wirtfhaftstommiffion, eine Aufnahme: und eine Unterhaltungstommiffion. Die

vacherſchau

bie vornehmſte Weiblichkeit alle Schritte in dieſem Kampf und jeden Federzug in dieſer Darftellung beftimmte.

„The Junior Temple Reader.“ Edited by Clara Linklater Thomson and E. E. Speight, with many original illustrations. London, Horace Marshall & Son 1900. (1 sh. 6 d.) Die Serauögeberinnen find in ber Auswahl und Bearbeitung der Geſchichten von der Abficht aus: gegangen, den Kindern Volksmärchen aller Länder fo zu vermitteln, baß fie ihnen verftändlid find und doch möglichft die Eigenart, den Reiz und den fünftlerifchen Wert de8 Original behalten. Tie Sammlung enthält neben einigen AÄnderſenſchen und Grimmfden Märchen, bie in einer muiter: gültigen Überfegung ganz wie Originale“ wirten, inbifche, japanifche, neufeelänbifche, norbifche volts märden und -fagen, und man muß fagen, daß bie Serausgeberinnen den felbftgejegten Zweck taum befier hätten erreichen fönnen. In doppelter Beziehung Tann dieſe Sammlung für unfere veutiche Jugenblitteratur wertvoll werden. Jede Mutter wird ihren Märchenvorrat durch bei und unbelannte Gedichten, wie das reizende Märchen von „Sampo Lappelil”, vom „Schiff, das auf dem Lande fegelte” und mande anderen bereichert finden. Bor allem aber könnte die Sammlung, der aud eine Reihe leichter und wirklich wertvoller Gedichte beigefügt ift, für den Anfangsunterricht im Englifchen an unferen Mädcjenichulen Verwendung finden. Die außerordentlich einfache Sprache, bie immer in gewifſem Sinne internationalen Wenbungen ber Märchenerzählung, die zum Teil in ähnlicher Form {hen belannten Stoffe machen das vuch dazu in ganz bejonderem Maße geeignet.

Die dem Buche beigegebenen Illuſtrationen Heine bunten find 3. T. von fünftleriichem Bert und entfpredien dem Bived der Sammlung.

enden zur Orientierung über bie Wefaltöverhäftnifie der preufifcen Boltafhul. Teßreriunen‘‘. Auf Grund eigener ftatiftiicher Aufnahmen herausgegeben vom Borftande des Yandeövereins preufifher voltsſchuiiebrerinnen Berlin 1900. Im Selbftverlage de Xereins. (Preis 0,75 Marl), Mit der Gerausgabe feines bandbuches hat der Preußifche Voltsfepuffchrerinnen: verein den Intereſſen feines Standes einen wichtigen Dienft geleiftet unb zugleich einen Beweis für die Leiftungsfähigteit feiner Lrganifation in einer weitläufigen gemeinfamen Arbeit geliefert. Turch die große Bollftändigteit, die überfichtliche Anordnung und bejonnene Berwertung ber ftatiftifchen Reiultate giebt das Buch einen ausgezeichneten Überblid über die Lage der Boltöfchullehrerinnen unter dem Lehrerbefoldungägejeg vom 3. März 1897.

Stoatöminifter D. Dr. Bofle äußerte fih dem Torftande des Bereins gegenüber wie folgt:

„Dem Borftande des Landesvereins fage ich für die freundliche Überfendung des Sanbbuche zur Orientierung über die Gehaltsverhältniſſe der preufifchen Voiloſchuliebrerinnen herzlichen Tant. Tas Handbud) macht mir befonbere Freude. Einmal

weil es auf dem geiunden Gebanten beruht, dab

bie Beteiligten felbft dandreichung thun müflen, um das Ergebnis der Durchführung des Geſetzes in® Sicht zu ftellen und die billige Ausgleihung örtlicher Härten anzubahnen. Sodann wegen ber

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sähen Thatkraft und bed einbringenden Berftänbnified, mit der bie Schwierigkeiten einer fo umfangreichen und verwidelten ftatiftifhen Arbeit überwunden worden find. Endlich wegen des nüglihen und überfichtlichen Ergebniffed. Ich ameifle nicht, daß diefe rühmliche Arbeit aud für die Zukunft ihren Segen haben wird.“

Veftellungen auf das Handbuch find unter Ein: fendung des Betrages von 0,75 Mart inkl. Borto an bie Schriftführerin ber Hauptzentrale Frl. Fitt: bogen Berlin SW., Reuenburgerftr. 34 zu richten.

„Braun Märe“. Märchen und Schwänte für Jung und Alt. Seinen indern erzählt von Rudolf Vogel. Freiburg und Seipyig, Berlag von Paul Naegel (Preis 2,50 M). Unfere geit lönne feine Märchen mehr erzäblen, bat man ge: meint. ubolf Bogel zeigt, dab fie ed noch fann. Zwar find es die alten Motive vom Königsfohn und der Müllerin, vom armen Holzbauer, dem die gZwerglein helfen, vom verfuntenen Schloß, vom luftigen Schneiderlein, dem ber Teufel nichts an⸗ haben darf. Aber eine Dichterphantafie hat fie neu ausgeftaltet und verwendet. Dazu fommt, daß, der friſche Luftige, mandmal derbe Bollton ber Frau Märe fehr gut getroffen ift. Cin Bebenten: die Märchen find ein wenig zu lang und enthalten zu vielerlei, fie dürften in bezug auf bie Zabel einfacher fein. Alles in allem find fie ein wert- voller Beitrag zu unferer Jugendlitteratur, die endlich die erfehnte gründliche Regeneration erleben zu wollen fdeint.

„Stimmungsbilder, von Malvida von Neyfenbug. Dritte und vermehrte Auflage. 1900. Scufter & Löffler. Berlin und Leipzig. In Dalvida von Meyfenbug, der „Fbcaliftin” redet eine vergangene Zeit, eine Generation zu und, die und fremd zu werben beginnt. Wohl harren viele der Gedanken, bie einft bie beneifterte Achtund: vierzigerin ausgeſprochen und vertreten, noch der Berwirtlihung, und das foziale Programm ber „Idealiſtin“ ift noch heute „modern“. Aber cben das tritt in den Stimmungsbildern, wie in dem Lebensabend“ zurüd hinter ein feines (Seniefen, ein Huges Aeftbetifieren und Gthifieren über das 2eben und feine Beziehungen. Und gegen dies betrachtenbe, abftrahierende Heniehen, das Hinein: diehen einer doch immer bilettantifch getriebenen Wiſſenſchaft in den Ausdrud der Freude am Schönen oder des Ergriffenfeins von dem Großen find wir Modernen empfindlich. Es wirkt auf uns erfältend und verftimmend. Cs rüdt uns bie Tinge ferner, ftatt fie und nahe zu bringen, febendig zu machen. Tie Stimmungsbilder find ein Buch, dad nian fid in „unfern Kreiſen“ beö Abends vorlefen wird, wegen feiner außerordentlich intereffanten Bezichungen, feiner „[dönen Gebanten“, feiner feinen Urteile, feiner ariftoratijchen Daltung. Die „Jbealiftin“ ohne eigentlich ſich felbft untreu zu werben, bie geiftreiche Süterin einer erlufiven Salontultur geworden, in der die Ein:

drücke von Jtalien und Bayreuth, von großem Welt:

Gefchehen und tiffenfchaftlichen Errungenicaften, von Menfgenfeelen und Neniyenfidialen zu einem

fanften, matten, aber barmonifhen Farbenſpiel verblaffen. Und eins ann man in folhem Dafein

ftubieren und beneiden Lebenskunſt.

vacherſchau.

in auf Driginafität, aber es läge doch im Intereffe ber Lefer, die fich weiter zu orientieren wunſchen, daß Entlehnungen als ſolche gekenn zeichnet werden.

FEudlich Känſtleriſches für die Kinder!“ mit "Beiträgen von Heinrih Wolgaft und Wilhelm Spohr. Dad Heine Schriften will Eltern und Ninderfreunden eine Anleitung bieten für die Wahl fünftferifd und nerariſch wertvoller Geſchenie Durg eine Notiz auf dem Umichlag erfahren wir, daß verſchiedene Artikel von W. Spohr in ber geitfchrift „Ernfte® Wollen“ über „Kunft und Schule‘, „Das Kind und die Aunft“ Anlaß zu einer Bewegung gegeben haben, der namhafte Künftler, Schrütfteller, Lehrer zc. angehören. Das Schriften ift im Verlag des „Ernften Wollen“, Berlin W., Adenbadftr. 2, erfhienen und zum Preife von 1U Pig. zu beziehen, partien: weifer Bezug billiger.

„Der Wäfhefhrant”. Waſche· Album der „Wiener Mode”. Über 600 Wäfheftüde und Ronogramme. 40 Tafeln Nluftrationen. Bon Regine Ulmann, Tirectrice ber Fachſchulen des Mädchen:Unterftügungs: Vereins in Wien Nerlag der „Wiener Mode“, Wien, Yeipzig, Berlin, Stutt: gart. Das vorliegende Werk will denen als Rat: geber dienen, die nicht wiſſen, wie der Gebrauch ber Wäfche zu regeln ift, damit nicht einiges vor: zeitig abgenugt, anderes bem Dergilben ausgeſetht werde, bei Radanfhaffungen Wibgriffe verhüten helfen und für die Belorgung von Ausſtattungen ein praktifdjer Führer fein. Es find in gefonderten Abſchnitten bie Haus: und Leibwäſche bebandelt. Der Rinderwa ſche ift befondere Aufmerlfamteit ge: ſchenkt, und auch die Kapitel: Bade, Diener: und Küchenwäiche haben eniſprechende Beachtung ge: Funden. Bei den einzelnen Abf—nitten find die zu den Wäfcheftüden verwendeten Stoffe, die Art der Anfertigung und Berzierung beiproden und in den Beilagen illuftriert. Ein Anhang bringt mit vorzüglichen Yluftrationen den Xehrgang des

Nähen® und ymar ded Hand: und Mafchinennähens Fr der verfehiedenen Stopfarten. Es find ferner

* angefügt 10 Bons für Gratisfhnitte zu Wäfche: ftüden. Auch erhält jede Näuferin des Werkes Schnitte nad Maß für Wäfche zu denfelben Be: dingungen tie bie Abonnentinnen der „Wiener Hode'. Schöne Ymitialen und fünftlih ver: fhlungene Nonogramme find in reicher Auswahl beigegeben.

In demjelben Werlage erfhien „Kreuzſiich mufter im nenen Stil“. Herausgegeben von Pauline und Xohanna Nabilta. (freie 2 Bart) Die Bappe enthält 25 Blätter mit 65 Wuftern zur Verzierung aller Arten von Deden, Borhängen, Kiffen, Behängen x. Wir tönnen beide Werte aufs befte empfehlen.

Der Zeihenunterricht für Mädchen‘. Ein Lehrbuch für Voltkoſchulen, höhere Schulen und Familien von Johanna Hipp, Zeichenichrerin in Wüplpaufen i. €. Hit 10 Tafeln in Lithographie,

317 20 vichtorud: und 2 Barbentafetn. Verlag von Friedrich Bull, Straßburg i. Ein vor:

treffliches Wert, das ber fallen alle Ehre macht, da es einen wahrhaft kunſtleriſchen Geſchmack offenbart und eine große metbodifche Umficht und Sicherheit. Es bietet einen vollftänbigen Lehrgang bes Zeidjenunterricht® in der fiebentlaffigen Boltd: fhule. Die Verfafferin geht bei bem Aufbau ihres Wertes von der fehr richtigen Anfiht aud, daß „ein Lünftlerifcher Zeihenunterricht in ber Boltd- {Qule" oder eine „volfötümliche Erziedung des Schönheitöfinned” eine Übung in der Kunft bes Verzierend fei. Diefe Übung ift daher die aus fhlieplihe Aufgabe des Zeihenunterrichtd in ber Voltsſchule. Wir können dem nur zuftimmen, denn gany gewiß hat die grünbfihe Durchführung einer einzigen Aufgabe mehr erziehlihen Wert als die flüchtige Behandlung mehrerer Tinge zugleich,

Nachdem Auge und Geift durch die elementarjten Grundformen (die geometriichen Figuren: Duabrat, Rechted, Dreied, Kreis u. |. w.) für das Verftänbnid freierer Gebilde vorbereitet find, werden die Motive der Drnamentit in der Natur gefudt unb zwar find fie zu unferer Freude fämtlih der heimiſchen Flora entnommen.

Die Verzierungsaufgaben, welde die Berfaflerin für den ganzen Berlauf de Jeichenunterrichts zufammengeftelt hat, find außerorbentlich reich: haltig, für die Cberftufe finden wir deren 270.

Siebzig mehr oder weniger ausgeführte Katechefen, welche für Alaffenunterricht gedacht find, behandeln das Zeichnen der einzelnen Naturformen und mas mir beſonders werwoll eridheint -- auch die ornantentale Verwendung berfelben.

Wir wünfchen der gedlegenen Arbeit, bie wirklich allen modernen ‚Forderungen angepaßt ift, von ganzem Herzen die weitefte Terbreitung.

„Deutſche Heimat‘, Blätter für Litteratur und Voltdtum. Wöchentlich ein veft für 10 Bf., viertel: jäprlid 1 WM. erlag von Georg Yeinrih Mever, Berlin 3.®. Die „Deutiche Heimat” eriheint ald neue Folge der Halbmonatfehrift „Deimat” vom 1. Cftober bes Jahres an. Cie beabfightigt, in: mitten der überall in Extreme, Künfteleien aus: laufenden modernen Richtungen einen Wittelpuntt zu ſchaffen für echte, warme, einfache deutſche Volks: art; zugleich will fie die Runft der Gegenwart und Vergangenheit, die ein fraftvoller Ausbrud biefed Ureignen des deutſchen Voikes ift, au dem Ver ftändni® des Woltes zugänglich machen Ban muß anertennen, daß bie bis jest erſchienenen ‚Hefte diefe Tendenz des Blattes ſehr glüdlich zum Ausdrud bringen. Das gilt vor allem für bie Veiprehung der befannten fulturgefchichtlichen Monographien des TDieberihöigen Merlags von Adolf Bartels im Heft I, wie für den Leitartifel des 3. Hefted „Die Kunft dem Volle“ von Bruno Wille, das gilt aber auch für den belfetriftiihen und feitiihen Teil der Hefte, obne dab damit geiagt fein fol, daß wir und mit ben Refultaten dieſer Kritit durchaus einverftanden ertlären. Dem Unternehmen ift auf® mwärmfte eine kräftige Ent: widlung zu wünfchen.

BR

828

Königin Viktoria von England. Gertrud Bäumer. Rachdrud verboten.

lizabeth Cady Stanton, die energiſche Führerin der amerikanifchen Frauenbewegung,

erzählt in ihren Erinnerungen an einen Beſuch in England, daß die englifchen

Frauen in al ihren Verfammlungen und öffentlichen Reden der Königin dankbar und liebevoll gebächten. Die felbitbewußte Republifanerin zudt darüber die Achſeln als über eine loyale Schwäche. Der Königin hat die englifche Frauenbewegung ihrer Anſicht nach wahrhaftig wenig genug zu danken.

Die englifhen Frauen denken anders darüber. Es ift wahr, daß die englifche - Frauenbewegung niemals unter der Flagge des „Allerhöcften Proteltorats“ gefämpft und gefiegt hat. So wenig wie irgend eine andere einzelne politiſch-ſoziale oder wirtfchaftliche Bewegung. der „Victorian Era“. Wer das bedauern, wer es gar als einen Mangel in der Regierung der königlichen Frau bezeichnen wollte, würde bie Bedingungen eines Eonftitutionellen Staates verfennen, würde aber auch den Wert eines Königlichen Proteftorat3 für die Frauenbewegung überfhägen. Die englifche Frauenbewegung würde fih in Widerſpruch mit dem Grundgedanken aller fozial: politifhen Entwidlung ihres Landes geſetzt haben, Hätte fie für ihre Arbeit eine befondere Förderung vom Thron ber erwartet. Als ein Kampf um freie Entfaltung gebundener Kräfte im Volfsleben vollzog fie fi auf einem Gebiet, auf dem königliche Bevormundung in feiner Weife und nad) feiner Richtung Hin frommen konnte. Seit fie ſich Ende der fechziger Jahre in dem Kampf um das Stimmrecht konzentriert hat, ift fie in jene große Reformbewegung eingemündet, die den engliſchen Staat im Lauf der legten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in eine Demokratie gewandelt hat. Und es hätte doch geheißen, die Frauenbewegung unter unpolitiſche Wohlfahrts⸗ beftrebungen rangieren, wenn ihre Führerinnen an dieſen königlichen Schuß gedacht hätten.

Hat die englifche Frauenbewegung deshalb der Regierung der Königin Viktoria nichts zu danken?

Es ließen fih ja natürlich einzelne Fälle aufzählen, in denen die Königin Einzel beftrebungen der Frauenbewegung unterftügt hat, Veftrebungen vorwiegend „gemein nügigen“ Charakter. Man könnte da auf die Ausbildung von Arztinnen für die indifche Zenana-Miffion hinweiſen, oder etwa auf die befannte Victoria Women’s Printing Press, bei deren Gründung die Königin ber Leiterin des Unternehmens verfichern ließ, „daß alle ſolche neuen und praftifhen Schritte, gebildeten Frauen neue Berufszweige zu eröffnen, Ihrer Majeftät volle Zuftimmung fänden.” Für den Fort gang ber ganzen Bewegung ift das doch nur von untergeordneter Bedeutung geweſen. Höher wird man den Wert der Thatfache veranfchlagen, daß eine Frau den höchſten Poſten im Königreich inne Hatte, eine Frau, die zugleich bewies, daß fie ihm gewachſen

21*

Königin Viktoria von England. 825

um bie breißiger Jahre, das Arbeiterelend, den Pauperismus, die furchtbare Ver: nachlaſſigung des Volles in jeder Beziehung auch nur einigermaßen fennt, ber weiß, daß England in den legten fechzig Jahren eine Regeneration bed fozialen Lebens, des fozialen Empfindens erfahren, wie fie fih in feinem europäifchen Staat jo rafch und durchgehend vollgogen bat. Bon einer unmittelbaren Initiative in Bezug auf biefe Entwidlung ſchloß die englifche Verfaffung die Königin aus. Wie vorurteilslos fie ihr aber gegenüber ftand, wie lebendig fie fie mitlebte, davon zeugt jo mande That fache, von ber ihre Minifter berichten. Ganz beſonders charakteriftifch ſcheint mir in dieſer Beziehung das Urteil der Königin über Charles Didens. Männer, die wie er die Mifftände in dem Verwaltungswefen des Reiches mit fo fchonungslofer Wahr: haftigkeit, mit fo fcharfer Satire bloßlegen, pflegen feine königlichen Anerfennungen zu erhalten. Bekanntlich fcidte die Königin dem Schriftfteller ihre „Leaves from our Journal in the Highlands“ mit der Widmung „From one of the humblest of writers to one of the greatest“.

In dem Zeichen der Regeneration der Victorian Era errang die engliſche Frauenbewegung ihre Erfolge. In dem Zeichen einer Entwidlung, beren Grund: gedanke die vollwertige Repräfentation des Volkes in ber gefeggebenden Körperichaft war, befchritten auch bie englifchen Frauen den Weg zu politifchen Rechten. Und foweit jene Regeneration von ber Perfönlichkeit ber Königin ihre Impulfe empfing, foweit der freie Gang biefer Entwidlung ihrer weifen Zurüdhaltung zu danken, ift die engliſche Frauenbewegung der Königin Viktoria verpflichtet. In der Anerkennung diefer Verpflichtung, nicht in einer fonventionellen Loyalität ift die dankbare Verehrung für die Königin begründet, der bie englifchen Frauen immer wieder Ausbrud gegeben haben. Sie wiſſen was dem naiven Urteil der radikalen Amerikanerin zu tief lag was fie der Vietorian Era verdanken, wenn auch ihre Königin nicht den Ehrenvorfig in der Frauenſtimmrechtsliga führte. Sie wiſſen, daß es andere Wege giebt, foziale Umgeftaltungen herbeizuführen, als bie fogenannten „radikalen“.

So miſcht fi in die Trauer der englifchen Frauen um den Tod der Herricherin nicht die Sorge um bie eigene Zukunft. Ihr eigenes Werk, feine Treibhauspflanze föniglicyer Gunft, fondern emporgewachſen aus dem Leben der Nation, getragen von ihren beſten Kräften, geht ſicherem Gelingen entgegen. Der Kranz, den bie engliichen Frauen am Grabe der Königin niederlegten, ift der Ausbrud reiner Verehrung für die Frau auf dem Throne, deren Wirken ein Ausbrud jenes Verantwortlichkeitsgefühls gegenüber der Allgemeinheit war, das auch ber Frauenbewegung Richtung und Ziele beftimmt.

326

Bodenreform.

Bor

Fr. Wolff- Berlin, Schatzmeiſter des Bundes Deutfcher Bodenreformer.

Nachbrud verboten. α

n einer mittelgroßen hannoverſchen Stadt befürwortete vor einigen Jahrzehnten

der damalige Oberbürgermeijter die Einführung einer erhöhten Grunbdfteuer. Bei diefer Gelegenheit Hielt er feinen Stadtvätern eine Rebe, in ber auch ungefähr folgende Säge vorlfamen: „Gehen Sie alle, die Sie Belißer von Häufern find, aus biefer Sigung heim. Schreiben Sie den jetigen Wert Ihrer Grundftüde und ber darauf ftehenden Gebäude in Ziffern an die Hausmauern und kehren Sie wieder aufs Rathaus zurüd. Und nun verfallen Sie in einen langen, jagen wir breißig- jährigen, Schlaf. Draußen geht das Leben feinen Gang. Die Menſchen arbeiten mit Kopf und Hand. Die Bevölferung fteigt. Der Wohlftand nimmt zu: Sie figen bier und Schlafen. Nad dreißig Jahren endlich wachen Sie auf. Was meinen Sie wohl, ob jene Ziffern dann noch den richtigen Wert Ihrer Häufer angeben werben? Sicherlich nicht! Ausnahmslos wird der Wert gewachſen fein, bier und da vielleicht gar auf das Doppelte oder Dreifache.”

Der Herr Oberbürgermeifter war ein äußerit Eluger Mann. Wir haben, um dies zu erhärten, gar nicht mehr nötig, zu berichten, daß er jpäter in eine hohe preußifche Staatzftelle einrüdte. Schon jene kleine Redeprobe kann und genügen. Sie beweift, daß der Mann, feiner Zeit voraußeilend, früher als fat alle anderen, das Weſen des höchſt wichtigen Bodenproblems erfaßt hatte.

Gehen wir einmal den Weg, den der Herr Oberbürgermeifter feine Hörer führte, in der entgegengejebten Nichtung.

Inm Jahre 1899 wurde ein 4 qm große® Stüd Bauland an den Königs: folonnaden in Berlin mit dem ungeheuren Preife von 50 000 Mark bezahlt. Der Morgen beften Aderbodens Eoftet in der Mark höchſtens 600 Marl. Würde man gezivungen jein, in der Umgegend der Königsfolonnaden einen Morgen Baugrund zu demjelben Preife zu faufen, der für die erwähnten 4qm gezahlt wurde, jo hätte man die Kleinigkeit von 31 Millionen nötig, Man vergleiche: dort guter Aderboden: 600 Mark, bier unfruchtbarer Sandboden: 31 Millionen! Und nun die Frage: Wenn e3 möglich wäre, daß die Bewohner Berlin die Stadt alle an einem Tage verließen, würde fi dann noch jemand finden, der auch nur halb jo hohe Preiſe für Berliner Grund und Boden zahlte?

Mer Ichafft alfo die hoben Grundwerte? Etwa der Grundbeltger? Bor dem Hallefchen Thore in Berlin wurde im Jahre 1842 das Rotherſtift eingeweiht. Alte Damen haben breiundfünfzig Sabre lang in dem Haufe gelebt. Wertichaffende Arbeit wurde in ihm nicht betrieben. Und doc ftieg fein Wert von 34000 Mark auf 1975 000 Dark, für welchen Preis es im Jahre 1895 in den Belig der Firma Jandorf überging.

Bobenreform. 837

Der Landmann, ber dur Düngung, Entwäfferung ober ähnliche Arbeiten feinen Ader verbeffert, fchafft ben Wertzumachs feined Bodens felbft. Dasfelbe gilt von dem Bauherrn, ber ein Stüd Land etwa durch Einrammen von Pfählen bebauungs⸗ fähig macht. Ale die Wertvergrößerungen aber, mit denen der Spelulant, ber Meine oder der große, rechnet, die bedingt find durch die Lage eined Grundftüds, durch das Wachstum eines Gemeinweſens oder Staates und endlich durch jeden Aufſchwung des wirtfchaftlichen Lebens, fie lönnen nie und nimmer durch bie Arbeit eines einzelnen Menfcen erzeugt werden. Ihr Erzeuger ift bie Arbeit ber Gefamtheit. Alle die Menfchen, die dazu beitragen, daß ein Ort oder ein Land mwirtfchaftlich höher kommt, die Arbeiter, die Leiter der Induftrie, die Kaufleute, die Gelehrten, auch die Beamten und Soldaten, die das Ganze verwalten und beifügen, fie alle bringen den Wert: zuwachs hervor, von dem wir vorher fprachen. Darum nennen ihn die Engländer auch: unearned increment, „unverdienten” Wertzumachs.

Die Sache wird noch Marer, wenn es fi um ein ganz beftimmtes, großes Werk handelt, das die Gefamtheit unterninmt. Wenn der Staat eine Eiſenbahn baut, fo ift die allererfie Folge ein Steigen der Grunbftüdpreife in der Nähe der Haltepunfte. Kürzlich erzählte mir ein Tegeler Arbeiter, daß in feinem Wohnorte die Mieten genau zur ſelben Zeit gefliegen feien, ald die Straßenbahn den elektriſchen Betrieb einrichtete. Leute, die auf das Zuftandelommen des Mittellandfanald rechnen, betreiben ſchon heute eine wüfte Grundftüdipefulation in den Gegenden, die der Kanal berühren fol. Aberall diefelbe Erſcheinung: Die Arbeit der Gefamtheit bewirkt zunächft ein Steigen der Grundwerte.

Bei dem heute giltigen Recht des Privatbefiges an Grund und Boden hat der Grunbbefiger den Hauptvorteil von jedem Fortichritt des mwirtfchaftlichen Lebens, und zwar hat er diefen Vorteil ohne Arbeit. Er kann ſchlafen, wie wir eingangs gehört haben, fein Grundftüd fteigt doch im Werte. Und ber, der die Werte mit geichaffen bat bat nur geringen oder gar feinen Vorteil, fofern er nicht etiva felbft Grund» befiger ifl. Der Arbeiter freut fi nur kurze Zeit über den höheren Lohn, den er fich ertämpft hat, der Beamte hat noch nicht lange die legte Aufbeflerung im Gehalt Hinter fih, der Kaufmann ift froh darüber, daß fein Gefchäft endlich geht! da kommt der Kündigungstag, und ber Hauswirt zieht in Geftalt einer Mietsfteigerung bei Heller und Pfennig wieder ein, was die drei mehr zu haben glaubten. Nachher aber wundert fi) ber Fabrikbefiger über die Ungenügfamkeit der Arbeiter, die nach der legten Lohnerhöhung ſchon wieder behaupten, fie fünnten mit dem, maß fie erhalten, nicht auskommen. Da tadelt mar auf der Regierung die „ewig unzufriedenen Beamten“. Ja, ja, Zufriedenheit giebt es ſchon lange nicht mehr in ber Welt, und Schuld daran iſt nun je nachdem, entweder die Gottlofigkeit oder die Sozialdemokratie.

Manchmal tritt dad Widerfinnige der augenblidlichen Rechtöverhältnifie fo recht unverhüllt. zu tage. Cin Beifpiel davon:

Der Dortmund:Emdlanal war gebaut worden. Die Stadt Dortmund hatte auf eigene Koften einen Hafen hergeftellt. Leider hatte man fich die zum Bau von Verwaltungsgebäuben nötigen Grundflüde nicht vor dem Hafenbau gefichert. Erſt nad ber Fertigftellung des Hafens trat man mit den Eigentümern des umliegenden Landes in Unterhandlungen. Sie forderten für die gewünfchten Parzellen bedeutend mehr, als die Stadt für den Grund und Boden gegeben Hatte, ben fie früher zum Zweck des Hafenbaues kaufte.

Frieden. 329

gekauft und darauf ein Haus für 30000 Mark errichtet, fo ift ba Grundſtück nad Vollendung des Baues 45 000 Mark wert. Die 30000 Mark Mehrwert hat ber Befiger felbft erzeugt; fie find alfo nicht „unverdient“. Verkauft der Eigentümer das Haus aber nach einiger Zeit für 51.000 Marl, fo ift ein Wertzuwachs von 6 000 Mark feftzuftelen, der allein das Ergebnis der Entwidlung des Ganzen, der Kolonie, if. Von diefen 6 000 Mark nimmt der Staat ein Drittel als Zuwachsſteuer.

Andere Steuern außer den genannten giebt es in Kiautſchou nicht. Man beftraft nicht unfinnigerweife, wie im Mutterlande, einen Menfchen dafür, daß er fleißig ift; eine Geiwerbefteuer giebt es nicht. Jede ehrliche Arbeit ift frei von Abgaben. Jeder⸗ mann kann feine Kräfte voll entfalten, ohne ſich dafür noch befondere Erlaubnis ers taufen zu müſſen. Auch Zölle erhebt man nicht. In Kiautſchou herrſcht Freihandel und Gewerbefreiheit in vollſten Umfang. Der Staat nimmt an Steuern, was er feibft erzeugt.

Dies Syſtem hat ſich in Kiautſchou durchaus bewährt. Die Denkichriften des Gouvernements ſowohl wie die Berichte der Reifenden, die die Stadt fahen, erzählen von einem überrafchenden Aufblühen der Kolonie. Daß dies auf die Landorbnung zurüdgeführt wirb, die den Verzicht auf jede Zolleinnahme möglich macht, beweift der Umftand, daß die englifchen Großlaufleute in Hongkong ihren Gouverneur um Eins führung einer ahnlichen Einrichtung, wie die der deutſchen Pachtung, gebeten haben.

Wir Bodenreformer hoflen, daß das, was in Kiautſchou fo fegensreich wirkt, auch im deutichen Vaterlande nicht ohne Nutzen fein würde. Wir haben die feite Zuverficht, daß mit der Beichräntung und endlichen Befeitigung bed Bodenmonopols eine der wichtigften Seiten ber fozialen Frage erledigt fein wird.

a

Frieden.

En Selfen blühten im Mondenfchein,

Als wir auf heimlihem Pfad zu Zwei'n Durchs blaue Zwielicht fchritten.

Was hab ich damals weinen gemußt,

Und doch ftand meine Jugend in voller Bluft, Und mein Haar glänzte wie Bold.

Der Mond glitt hinab von Glanze fchwer, Und es wurde ftiller um mich her,

Mein Sweiter war fortgezogen.

Keine Chräne hat mein Aug betaut,

Nur bangend hab ich mich umgefhaut ....... . Mein Haar war dunfel geworden.

Wie fonderbar! Wie fonderbar! Jeßt fteh ich und lach’ in die Welt, Und filbern glänzt mein Haar. Maria Janitfchek.

Der Gemüfebau im Hausgarten. 381

Das dritte Mittel zur Verbefferung der phyſiſchen Eigenfchaften des Bodens ift in der Bearbeitung zu fuchen. Daß hierbei in Privatgärten am meiften gefündigt wird, bebarf feine Wortes. Geht die Loderung bed Erdreichs nur bis etwa 25 cm, und die Wurzel der Gemüfepflanze wie bei den meiften Kohlarten bis 60 cm hinab, fo kann von genügender Ernährung der Pflanzen keine Rede fein.

Die Bearbeitung bezwedt Durdlüftung des Bodens und Hierdurch neben ber Befriedigung des Atembebürfniffe der Wurzeln die Auffchließung der an oder in den Erdkornchen vorhandenen löglichen Nährfloffe. Beides muß felbftverftändlich fo weit wirkſam fein, wie die Wurzeln in den Boden eindringen.

Sehr wertvoll ift Hierbei die Mitwirkung des Froftes, deshalb ift die Haupt bearbeitung vor Winter (Schollern) anzuempfehlen. Wo dies verjäumt wurde, wird fie fo früh wie möglich vorgenommen, fobald fi die Winterfeuchtigfeit verzogen hat. Dem Rigolen folgt dann bei der Befamung oder Bepflanzung ber einzelnen Beete nochmals eine oberflächliche Loderung und biefer die Ebenung der Beete mittels der Harle. Es kann dad Gemüfeland nicht forgfältig genug vorbereitet werden.

Ich brauche meinen Leferinnen die Verrichtungen felbft nicht zu beſchreiben, da wohl wenige fie perſonlich ausführen; doc) müjjen die Arbeiter dabei ftet3 beauffichtigt werben, Ordnung und Regelmäßigleit muß auch bei diefer einfachen Thätigfeit zur rRichtſchnur genommen werden. Gerade dieſe beiden Eigenfchaften fehlen in Privat: gärten am allerhäufigften. Es kann auch der Gemüfegarten zum Luftwandeln ein laden, und wenn er auch durch feine fommetrifche Anordnung den Schönbeitsfinn nicht immer befriedigt, fo bietet doch feine Beobachtung fo viel des Yntereffanten, daß man ftundenlang in ihm ftudieren kann. Der Gemüfegarten ift die befte Speifefammer des Haufed, und man weiß, wie viel in einer ſolchen durch Unordnung perberben und verloren gehen kann.

Ich komme nun zum eigentlichen Erſatz der Nührfloffe im Boden, zur Düngung. Hierbei werden in ben Gemüfegärten die meiften Fehler gemacht, und zwar wird in dem Glauben, daß alle Gewächle die gleichen Vedürfniffe haben, auf der einen Seite ded Guten zu viel, auf der anderen zu wenig gethan, indem alljährlich dem ganzen Garten eine durchgängige, gleiämäbige Düngung zugeführt wird.

Das Wort Fruchtfolge ift auch Laien befannt. Es ift dies eine Einrichtung im landwirtſchaftlichen Betriebe, bei der die Beftellung bed Landes in der Weife geregelt wird, daß die nädhftjährige Kultur die Bodennährftuffe verwertet, welche die diesjährige unbenugt ließ. Sie befommt alſo eventuell gar feine Düngung oder nur die Stoffe, die neben den ebengenannten’ gebraucht werden. Es ift die nicht nur eine weſentliche Erfparnis, man vermeidet dabei auch, den Gewachſen die Stoffe gleichlam aufzudrängen, die fie nicht beaueen und bie ihnen eher Schaden ald Nugen bringen. Wie bei Menden und Tieren, fo iſt auch bei Pflanzen ein Überfüttern geſundheitſchädigend.

Es ift alfo auch im Garten eine Fruchtfolge einzuführen, modurd ſich nahezu zwei Drittel des Dungs erfparen läßt, der bei allgemeiner Düngung aufgewendet werden muß. Das Refultat aber ift ein bedeutend befjeres.

Die Einteilung der Gemüfearten zu diefer Reihenfolge richtet ſich faſt ganz nah den Pflanzenorganen, die wir als Speifen genießen. Es find dies Blätter, Wurzeln und Früchte.

Der meiften Nahrung bedürfen die Blattgemüfe, von denen namentlich die Kopftohlarten eine enorme Blättermaffe produzieren, die faum noch an das natürlihe Wachstum der Brassica oleracea erinnert. Diefen folgt der Wirfing, dann der Roſenkohl und endlich der Blätterkohl, defien Blätter ſich normal entwideln.

Zu den Blattgemüfen gehören ferner die Spinatarten und die Salate. Letztere werben meiftend als Zwifchenfultur gebaut, verlangen aber gut gebüngten Boden.

Endlich ftehen den Blattgemüfen im Verlangen nach reichliher Düngung bie Gemüfe gleih, von denen wir die fleifchig gewordenen Stengel genießen. Alles fleifchige Gemüfe muß fchnell wachen, follen die betreffenden Teile zart fein; bier fteht der Blumenkohl obenan, dann folgt der Kohlrabi, dann die Gemüfe, deren Blattrippen und Speije liefern. Diefe (Cardy, Meerkohl, Bleichiellerie) werden

Der Gemüfebau im Hausgarten. 381

Das dritte Mittel zur Verbefferung der phyſiſchen Eigenfchaften des Vodens ift in der Bearbeitung zu fuchen. Daß hierbei in Privatgärten am meiften gefündigt wird, bedarf feines Wortes. Geht die Loderung des Erdreichs nur bis etwa 25 cm, und die Wurzel der Gemüfepflanze wie bei den meiften Kohlarten bis 60 cm hinab, fo kann von genügender Ernährung der Pflanzen keine Rede fein.

Die Bearbeitung bezwedt Duͤrchlüftung des Bodens und Hierdurch neben der Befriedigung des Atembebürfniffes der Wurzeln die Auffchliegung der an oder in ben Erdkornchen vorhandenen löglichen Nährſtoffe. Beides muß felbitverftändlich fo weit wirkſam fein, wie die Wurzeln in den Boden eindringen.

Sehr wertvoll ift hierbei die Mitwirkung des Froſtes, deshalb iſt die Haupt bearbeitung vor Winter (Schollern) anzuempfehlen. Wo dies verjäumt wurde, wird fie fo früh wie möglich vorgenommen, fobald ſich die Winterfeuchtigfeit verzogen bat. Dem Nigolen folgt dann bei der Beſamung oder Bepflanzung ber einzelnen Beete nochmals eine oberflächliche Loderung und diefer die Ebenung der Beete mitteld ber Harke. Es kann das Gemitfeland nicht forgfältig genug vorbereitet werden.

Ich brauche meinen Lejerinnen die Verrichtungen felbft nicht zu befchreiben, ba wohl wenige fie perfünlich ausführen; doch müſſen die Arbeiter dabei ſtets beauffichtigt werden, Ordnung und Regelmäßigkeit muß aud bei biefer einfachen Thätigteit zur rRichtſchnur genommen werden. Gerade dieſe beiden Eigenfaften fehlen in Privats gärten am allerhäufigften. Es kann aud ber Gemüfegarten zum Luftwandeln ein laden, und wenn er auch durch feine ſymmetriſche Anordnung den Schönheitsfinn nicht immer befriedigt, jo bietet doch feine Beobachtung fo viel des Jnterelfanten, daß man ftundenlang in ihm ftudieren Tann. Der Gemüfegarten ift die beſte Speiſekammer des Haufes, und man weiß, wie viel in einer folden durch Unordnung perderben und verloren gehen Tann.

Ich komme nun zum eigentlichen Erfaß der Nährfloffe im Boden, zur Düngung. Hierbei werden in den Gemüfegärten die meiften ‘Fehler gemacht, und zwar wird in dem Glauben, daß alle Gewächſe die gleichen Bebürfniffe haben, auf der einen Eeite des Guten zu viel, auf der anderen zu wenig gethan, indem alljährlich dem ganzen Garten eine durchgängige, gleichmäßige Düngung zugeführt wird.

Das Wort Fruchtfolge ift auch Laien bekannt. Es iſt dies eine Einrichtung im landwirtſchaftlichen Vetriebe, bei der die Beſtellung des Landes in der Weife geregelt wird, daß die nachſtjahrige Kultur die Bodennährftoffe verwertet, welche die diesjährige unbenugt ließ. Cie befommt aljo eventuell gar feine Düngung oder nur die Stoffe, die neben den ebengenannten gebraucht werben. Es ift dies nicht nur eine weſentliche Erfparnis, man vermeidet dabei auch, den Gewächſen die Etoffe gleichſam aufzubrängen, die fie nicht brauchen und die ihnen eher Schaden als Nugen bringen. Wie bei Menſchen und Tieren, jo iſt auch bei Pflanzen ein Überfüttern gejunbheitichädigend.

Es ift alfo auch im Garten eine Fruchtfolge einzuführen, wodurch ſich nahezu zwei Drittel des Dungs eriparen läßt, der bei allgemeiner Düngung aufgemwendet werden muß. Das Rejultat aber ift ein bedeutend beijeres.

Die Einteilung der Gemüſearten zu diefer Reihenfolge richtet fich fait ganz nad

Zpeijen genießen. Es find dies Blätter, Wurzeln

: die Blattgemüfe, von denen namentlich bie ttermaffe produzieren, die faum noch an das oleracea erinnert. Diefen folgt der Wirjing, Blätterkohl, deſſen Blätter fih normal entwideln. ferner die Spinatarten und die Salate. Leßtere gebaut, verlangen aber gut gedüngten Boden. aſen im Verlangen nad zeihlider Düngung, bie iſchig gewordenen Stengel genießen. Alles inflen bie betreffenden Teile zart fein; hier

der Kohlrabi, dann die Gemüfe, deren (Caroy, Meerkohl, Bleichjelerie) werden

Der Gemüfebau im Hausgarten. 333

Schafft Luft und Licht in euren Gärten! Pflanzt und fäet weitläufig, lichtet eure Dbftbäume! Der Kohlenftoff der Luft bildet den Bauftoff für ale Gewächfe, das Waſſer gleichfam den Mörtel und der Sauerftoff der Luft ift der Baumeifter. Die ausführenden Arbeiter aber find die Lichtftrahlen. Gebt ihnen Gelegenheit, zu jedem Blatt Hinzugelangen. Nur dann kann von freudigem Gebeihen die Sede fein.

Die Düngung beginnt auf dem Quartier, auf dem Blattgemüfe kultiviert werben follen, und wird im Gemüfegarten hauptjächlih duch Stalldung ausgeführt, dem Univerfalmittel, das alle Bedürfniffe der Pflanzen enthält und nebenbei den Boden durchlüftet, erwärmt und duch Humusbildung verbeflert. Haben mir es nicht mit fehr ſchwerem Boden zu thun, fo ift Kuhdung allen anderen Erfrementen borzu= ziehen. Reiner Pferdedung ift zuweilen für Kohlarten durch Beförderung der Kohl: krankheit berhängritvoll

Um das Blattwachstum zu fördern ift eine Kalidüngung nebenbei von Erfolg. Diefe wird durch Holzaſche oder geringe Überfireuung des Dungs mit Kainit gegeben.

Bei der ftarfen Düngung und dem Tiefgehen der Wurzeln ber Kohlpflanzen ift Nigolen auf ca. 60 Zentimeter Tiefe unerläßlih; Hierbei wird der Dünger moͤglichſt innig mit der umgegrabenen Erde gemifcht.

Das im vorigen Jahr ebenjo bearbeitete vorjährige Vlattgemüfequartier bes kommt in biefem Jahr für die Wurzelgemüfe gar feinen Dung. Gerade die Düngung mit frifchem Dung erzeugt die fo oft beflagten madigen Rüben und Zwiebeln. Sobald die Pflanzen zu wachſen beginnen, ift eine dünne Überftreuung mit Chilifalpeter, der als Stidjtoffpüngung auf die Ausbildung fleifchiger Pflanzenteile einwirkt, von Erfolg. Fe fi igen Stengel und Wurzelorgane, die zart fein follen, müſſen ſchnell

‚anwadhlen.

Nun kommen die Hülfenfrüchte, die als Nachfolger der Wurzelgemüfe feiner be fonderen Stalldunggabe bebürfen, wenn wir ihnen zur Stengelbildung im Herbft dor ber Ausfaat etwas Kali (Rainit) geben und den Fruchtanfag durch Einbringen irgend eines Phosphorbungmittel® fördern; hier find Sinochenmehl oder Thomasichladen langfam, Superphosphate ſchnell wirfend. Ale derartigen Dungmittel werben in ver- Hältnismäßig geringer Doſis verwendet.

Eid bedürfen die Hülfenfrüchte nicht, da fie ihn von den Meinen, ſich Tolonienweife an ihre Wurzeln fchmiegenden Pilzchen (Bodenbafterien) empfangen, denen fie dafür wieder andere Lebensmittel abgeben. Ja, e3 giebt auch „gute Geifter” unter den fo gefürchteten Spaltpilzen: Diefe Symbioſe ift ein eigentümliches Freund» ſchaftsverhaltnis im Pflanzenreich, wie e8 unter Menjchen felten vortommen mag.

Haben wir fo die Bebürfnifje der Gemüfepflanzen im allgemeinen befprochen, fo wollen wir in einem zweiten Auffag die Hauptarten in ihren Eigenheiten vorführen und die Anzucht der Pflanzen betrachten. Wer das Leben der Gewächſe mit Intereſſe zu beobachten verfteht, für den ift die Arbeit im Gemüfegarten ein ebenjo hoher Genuß, wie die unter Blumen. Vielleicht intereffiert e8 dann auch noch, einen Blid in den Obftgarten, der ja meiftend mit dem Gemüfegarten verbunden ift, zu mwerfen.

Der Februar bringt das langſame Hinfcheiden des Winters, die Märzfonne erwedt Millionen von Keimen und Trieben. Wir aber find berufen, das fich ent: faltende Leben zu überwachen und die heranwachienden Pflanzen zu erziehen, daß fie zur Erhaltung der Menſchen beitragen. In einer gut geführten Gemüfegärtnerei find es vielleicht 5 Prozent der Pflanzen, die ald wertlos entfernt werden, in Privat: Ben 50—60 Prozent. Deshalb an die Arbeit; forgen wir, daß es bei uns nicht

jo ausſehe.

Stella'3 Wankelmut.

„Jetzt bift du eben ſchon fo ein bißchen auf dem Abmarfh. Da vermindern fi natürlich bie Geiftesfräfte.”

„Spotte du noch. So ein Grünfchnabel wie bul“ .

„Nun, wenn ich fo ein Gudinbiewelt bin, was nüßt bir mein Rat?”

„Da haft du recht.“ Eie ſaß mieder neben feinem Ruhebett auf der Erbe, hatte die Arme um ihre beiden Kniee gefchlungen, die Hände in einander verſchränkt und blidte nachdenklich gradeaus vor fih hin. „Ja, im Grunde nüßt er mir gar nichts. Nicht das mindefte. Und doch ...“

„Sieb, Eugen,” begann fie nad einer Pauſe ganz leife, „ich will ja auch nicht grade Rat von bir haben. Und gewiß nicht dich mit Verantwortung belaften für das, was id) thue. Ich werd’ dir nie fagen: Du rietft mir, es ift deine Schuld. Nur reden möcht" id, mir felbft Mar werben. Nachher . nachher thu’ ich dann dies oder was anderes, ober auch gar nichts.”

„Alſo, leg’ 108.”

„Ja, wenn du's nur begreifen Tönnteft. Damals war eben alles fo anders. Ich fo jung. Under fo, fo... Was ihrjeßt alle Stella's Wankelmut nennt, das hat's überhaupt noch nicht gegeben. Es war im Garten, er ſchaukelte mid. Dann hielt er plöglih an, mitten im Schwunge: Du, willft du mi? Und er hob mid) hinunter zu fi auf die Erde. Ich gab ihm Feine Antwort. Auch nicht ein

Vor! Wir find dann zu ben Eltern gegangen. Unb ihr Brüder fchriet: Hurrah! und die Dienftleute kamen und

gratulierten. Mama fagte: wir müfjen ihr ein Kleid beftellen für die Brautvifiten, bie Kleine hat gar nichts! Was war denn damals zu überlegen? Ob das Kleid blau ober rofa fein ſollte. Weiter doch nichts. Es gab Heine Tontraftierenden Pflichten, es ging alles fo glatt und fo einfah. Und war fo ſchön! Ich, Etella, die heute bedenkt und verwirft und zögert und fi zu nichts ent ſchließen Tann, id} glaube, ich eriftierte noch gar nicht. Und dann als id) dann zwanzig war und er jtarb und der Kleine gleich darauf, ich dachte, ich wär’ mit dem Leben fertig. Ja fertig! Da hat's erft angefangen.”

„Arme Stella! Kein Menfh kann dir's verbenfen, wenn bu bir wieder ein eigenes Glüd ſuchſt, fie haben e8 bir ſchwer genug gemacht.“

„Sie? wen meinſt du, feine Schweſtern? Ad, das doch nicht! Sie raiſonnieren, rümpfen die Nafe über mid. Und dann zahl ich ihren Söhnen die Schulden, und dann müffen fie ſchweigen.“

„Hm, in dem Fall müßte ich alfo auch ...“

„Aber nein, das ift doch mas anderes: Du gehörft zu mir. Und dann verleumbeft du mid) aud nicht hinterm Rüden, fondern bift mir grob ins Gefiht. Das mag ich grade.“

„So? werd' mir's merlen.“

„Eugen,“ bat fie und drüdte die Wange an feine Schulter, „Lannft bu dir's nicht denlen, wie einem ift, ber ganz allein ift, immerfort, und fi vor allen, allen Leuten höflich, in Gefelichaftstoilette zeigen muß und nie im Schlafrock?“

„Nun, den da, von heute, könnteſt du vor den fremdeſten Leuten ſehen laſſen.“

„Willſt du mid) wieder nicht verſtehen ? Ich meine ein innerliches laisser aller. Mit dir bin ich natürlich, weil du's auch biſt. Wie's mich freut, wenn du ſo herausgähnſt! Das weißt du ja gar nicht.“

Er lachte: „Am Zuhausfühlen bei dir fehlt's mir wahrhaftig nicht. Wenn du die Schwäger und Schwägerinnen auch ſo hier aufs Gut einladen würdeſt, daß ſie ſich von dir geſund pflegen ließen, ich glaube, ſie fühlten ſich bald genug heimiſch. Nämlich, du haſt wirklich Talent zur Krankenſchweſter. Wenn der Profeſſor erſt einmal dein Mann wird ....“

„Ja, wird er das denn?“

„Das mußt du wiſſen“.

Eie fprang auf und ging zur Thür, ftieß fie weit auf, ſah hinaus in den Garten, kam zurüd und warf fi) wieder auf beide Kniee neben dem Kranken.

„Ich weiß es nicht,” flüfterte fie, „ich weiß nicht!”

Und dann lag fie eine Weile, das Geſicht in bie Lehne feines Ruhebettes vergraben, und an dem Zuden ihrer Schultern ſah er, daß fie meinte,

Stella's Wankelmut.

Inſpeltor ließe fragen, mann gnädige Frau !

zu ſprechen wäre. Ob der Herr Leutnant es fagen fönne?

„Seht nicht. Überhaupt Heute...” Eugen mollte fagen: heut’ gar nicht. Aber dann befann er ſich, daß ein Inſpeltor doch manchmal Geſchaͤfte habe, die vieleicht auch wichtig fein fönnten. „Nachher,“ fagte er. „Um brei ober vier. Ich erwarte den Arzt. Jedenfalls erſt, wenn der Herr Profefjor fort ift. Eagen Eie das.“

Er hatte fein Buch wieder aufgenommen, aud bie richtige Eeite darin gefunden. Aber

obwohl’3 eines von Ompteda war, das alfo

feinen Stand ſchilderte und das er lieber las als jedes andere, er fonnte nicht folgen. Gr horchte hinaus.

Und dann fuhr ein Wagen am Haus vor. Man hörte es bier, obwohl dies Gartens zimmer nad) binten hinaus lag, fo raſch fuhr er vor, jo ſcharf vor der Rampe wurden bie beiden Pferde gezügelt. Profeſſor Salzer hatte immer prächtige Tiere. Merkwürdig doch, daß fo ein Gelehrter auf Pferde was gab. Über: haupt auf Außerlichteiten. Und daß biefer Mann, fo ernft, jo gehalten, fo ganz anders, fh grade in Etella.... Aber natürlich, darum grade. Eie zog ihn an durch ihren Weltton, ihre Grazie, durch all das, was er nicht befaß.

Da kam der Profeffor ſchon herein. Ein raſcher, ſuchender Blid durch das Zimmer. Dann tar er ganz bei feinem Patienten.

„Sehr gut getwidelt,” fagte er nur halb» laut ein paarmal, als er den Verband von dem Knie nahm, „wirklich, fehr gut, ganz mufterhaft.” Aber dann hielt er's nicht aus: Ihre Frau Schweſter heut’ nicht zu Haufe?” fragte er.

Indem trat fie von der Terrafie ein. Sie Icgte raſch ihre Gartenhandfhuhe und den großen, runden Schutzhut auf den erften beften Stuhl. Augenſcheinlich war fie gelaufen, als

fie den Wagen vernommen hatte, um recht= | ! feinem ſchon ein wenig angegrauten, großen

zeitig da zu fein. Nun fniete fie und ftügte das Bein. Sie fah erhigt aus, das Haar ein wenig vom Wind zerzauft, jo mädchenhaft jung. Er war nicht grade jung und nicht ſchön. Aber er war ein ganzer Mann. Eugen,

der am mindeften von ben dreien bei der |

887

Sache war, obwohl fie ihn eigentlich doch am meiften anging, denn die Unterfuchung feines kranken Knies that ihm recht weh beobachtete feine beiden einiger. Wie fie zufammen arbeiteten, als erriete jeder von ihnen des andern Gedanken und fuchte ihnen zuvor: zukommen!

Aber nun ſollte der arme Patient wieder Gehverſuche machen, einen Arm um Profeſſor Salzers Nacken, einen um ſeine Schweſter geſchlungen. Dabei konnten die zwei ſich nicht ſo recht ſehen. Oder ob ſie hinter ſeinem Kopf dennoch ſich verſtändigen würden? Er wollt' es ihnen nicht verwehren. Tragiſch war's doch, ſich zum Krüppel fallen zu müſſen, damit zwei ſich kriegen können! Denn wenn er nicht damals mit der Stute, ... der gute Salzer hätte auch noch meitere fünf Jahre wie bisher die ſchöne Frau fo von fern ans ſchwärmen können.

„Aber, mas machen Sie denn, Herr Leutnant,” rief der Profeſſor, „Sie geben ſich ja gar feine Mühe. Ihre Frau Schweſter muß Sie fürmlid tragen.”

„Ach fo,” Eugen lachte, „aber das ſchadet nichts. Sie ijt mir nur dankbar, daß ich ihr etwas Übung ſchaffe. Sie behauptet ja immer, für das Krankenpflegen zu ſchwärmen. Na alſo iſt's fo recht?“

Und der Profeſſor: „Ja, gnädige Frau, wie Sie dafür begabt ſind! Hätten wir in der Klinik lauter ſolche Pflegeſchweſtern!“

„Nun,“ ſagte fie „vielleicht werde ich noch Schweſter. Ich hab' manchmal Luft dazu. In Ihrer Klinik oder wo anders. Darüber bin ich nur noch nicht recht ſchluſſig.“

Der ärztliche Teil der Viſite war beendet. Der Profeſſor ſah ſich nach ſeinem Hut um. Aber auf den hatte grade Frau Stella Hut und Handſchuhe geworfen. Er mußte ſie aufheben. Das that er mit zögernd vor⸗ fihtigen Fingern, als gelte es jeßt erft eine wirklich ſchwierige Operation auszuführen. Sie griff gleichzeitig nach ihren Sachen. Unter

Bart konnte man ein Erröten erfennen. Cr verbeugte fih und reichte ihr ihr Eigentum hin. Dabei berührten fi) wohl die Finger. Nun errötete fie auch. „Wollen Sie denn ſchon fort, Brofefjor?” 22

Stella's Wanfelmut.

er blieb ruhig figen, ſprach in feinem dozierenden NRatheberton weiter und erkundigte fih nad ihrem legten Aufenthalt in Ztalien. Er venfe aud) einmal hinzureifen. Später, mit jemandem, der das Land, die Sprache dort, die Kunft tennen würde... .

Eugen wetterte innerlih. So ein trodener Stubengelehrter kann eben Frauen nicht vers fiehen! Wenn er fie will, fo muß er fie zwingen. Meint er wohl, daß fie fich felber ihm anbieten fol? Na, da kennt er fie ſchlecht.

Aber ganz fo ſchlecht, wie der Bruber es meinte, verftand der Gelehrte ſich doch wohl nit darauf, feinen Vorteil wahrzunehmen. Sie waren in Iebhafter Unterhaltung vom Tiſch aufgeftanden, und er führte fie wieder in das Terraffenzimmer. Als Eugen ihnen nachgerollt worden, fand er bie zwei an dem feuerlofen Kamin, auf dem die großen Bronze⸗ abgüffe von Micyelangelos Florentiner Grab: mälern ftanden. Stella ftügte ben einen Ellbogen auf die Platte und hatte die Stim in die Hand gebrüdt. Er Iehnte ihr gegenüber. Von der Wand fah das Lenbachſche Porträt des verftorbenen Hausherrn auf fie herab. An das dachten fie wohl nicht in dieſer Minute. Sie ſchwiegen beide.

Dann büdte er ſich und nahm ihre Rechte, die ihr in den alten des Kleides herabhing. Er hielt fie fo leife, zaghaft, fragend ..... . „Auf morgen alſo?“

„Ja, auf morgen,” ſagte fie.

Er ging aus dem Zimmer, den Blid rüd- wärts, zu ihr gewendet, ohne feinem Patienten Eugen nur Adieu zu fagen. Und Stella ftand und fah ihm nad. Dann drehte fie langfam fi zu ihrem Bruder: „Nun, was fagft du? ift dir's fo recht?”

Und fie kam zu ihm und nahm feine Hand und brüdte fie ſich an bie heiße Bade:

„Du, er ift nett, nein, toirflich nett. Und er iſt fo... fo verliebt. Das thut mir wohl. Es ift doch ſchön, daß es fo was noch giebt! Ich glaube, .... ihm konnt' id es nicht gleih fagen. Aber, ja ich hab’ ihn auch gern! wir werben noch ganz glüdlich werben... . .”

Inder wurde der Inſpektor gemeldet.

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„Nein!“ rief fie, „mein, ich will nicht, jegt nit! Sagen Sie, ih bin nit an- gezogen.”

Aber er war dem Diener auf dem Fuß gefolgt und ftand in feinen Reitftiefeln, be ftaubt, erhißt, fo, wie er vom Felde am, die lurze Peitfche mit feiner Müte in ber Hand, ſchon mitten im Zimmer und vor ihr... .

„Gnäbige Frau!"

„Ach, Herr von Thielendorff, Eie ver- zeihen, ich habe nicht Beit jetzt.“

n®itte, es bebarf feiner Beit. nur erfuchen wollen, nur... Abſchied —“

„Sie!“ Frau Stella trat einen Schritt zurück

„Ja, gnädige Frau, ich muß um meine Entlaſſung bitten.“

„Herr von Thielendorff, nein, das thun Sie mir nicht. Sie wiſſen doch, ich verſtehe gar nichts. Und überhaupt.. Sprich du mit ihm, Eugen!“

„Der Herr Leutnant wird Ihnen nicht helfen. Er wünfcht, daß ich gehe.”

nAber ih wünſche es nicht, ih will's nit! Sie haben mir ja auch verfprochen, zu bleiben, damals, ala Ihr Onfel ftarb und Ihnen fein Gut... Sie hätten längft dort ſchon Ihr eigener Herr fein können. Aber Sie fagten mir, diefen Winter... .”

„3a,“ murmelte er, „da haben Sie mic glauben machen . . .”

„Daß Sie mein Freund find, das glaubte ich!“

„Daß ich nicht nur Ihr bezahlter An— geſtellter, ſondern ein Menſch in Ihren Augen, ein Mann ſei, dem Sie's erlaubten, Sie zu ... zu bewundern. Erſt ſeit Ihr Bruder herlam... Und dann der Profeſſor ... Seitdem natürlich . . .”

„Herr von Thielendorff,“ rief Eugen und richtete fi auf, fo weit er konnte, „Cie fagen ſchon zum zweitenmal etwas, als ob ih Eie bier verleumbet hätte... . Sch bielt es für meine Pflicht, meiner Schwefter . . .”

„Was weißt du von ihm!“ rief Stella dagegen. „Was man eben beim Regiment hört. Ich weiß mehr. Bon ihm felbft.”

„Gnädige Frau,” fagte der Infpektor leiſe, „ich tenne Sie, Cie würden nie eine An—

22*

36 Hatte

nur meinen

Stella's Wanlelmut.

„Barum verſuchen Sie, mich zu täuſchen? Ich ritt an feinem Wagen vorüber, als er zur Stadt fuhr. Ich ſah fein Geſicht. Da las ich die Wahrheit.“

Welche Wahrheit? daß er um mich ans gehalten hat? mill ih denn das leugnen? Dbgleih Sie's nichts angeht, ich will Ihnen auch noch mehr erzählen. Er erbat fi meine Entſcheidung für morgen. Ich veriprad fie ihm. Und morgen alfo... . ja, da ſchreibe ich ihm ab!“

„Stella!“

Wer hatte es gerufen? Thielenborff ober Eugen, oder beide? Sie baten feiner an den andern. Der Inſpeltor hatte ihre Hände ergriffen und hielt fie und ftammelte irgend etwas. Sie verftand’3 nicht, er wußte nicht mas. Das war auch gleichgiltig. Eugen hatte ſich aufgerichtet, er griff nad feiner Krüde, er tappte fi von feinem Ruhebett in die Höhe, zum nächſten Stuhl bin, zum Tiſch, zu ihr... es ging nur nicht fo ſchnell, wie er wollte.

Frau Stella hatte inzwiſchen ihre Hände aus denen bed Herrn Inſpeltor gelöft. „Alfo, darüber find Sie nun beruhigt. Mas Ihnen auch einfiel! Wenn id mich wieder: verheiratet hätte, fo wollten Eie fort? Nun, da's damit nichts ift, bleiben Eie alfo? gewiß? Ihr Wort?"

„Mein Wort, Frau Stella!” fagte der Mann mit leifer Stimme.

„Ich danke Ihnen. Ich danke Ihnen! Was auch fommen, was ich thun mag, bis ich mich einmal verheiraten werde, bleiben Sie alfo hier ala Infpeltor. So, das wär’ in Drbnung. So, gehen Sie jet. Ich muß nad) meinem Patienten fehen. . . . Adieu für heut! —“

„Du, Eugen,” fagte fie und wandte fih zu dem Bruder und kehrte jenem jo entſchieden den Rüden, daß er nicht anders fonnte als fortgehen, „mas machſt denn du ba für Experimente? Du ſollſt doch nicht aufftehen, ohne den Doktor! Komm, ich ftüß dich, fomm . .” Sie wollte ihn zu feiner Chaifelogue zurüd⸗ bringen.

Er aber, halb atemlo8 vor Erregung, ftand, zwiſchen Stuhl und Krüde fih haltend: „Nein ih will nicht, laß mich! Nein! Ich will wiſſen, was das heißt. Wann haft du

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gelogen, jeßt oder erft? Und welchen von ben zwei Männern betrügft du, den Profeſſor, den edlen, guten, berühmten, großen Mann? Oder biefen, diefen da!”

Sie nahm ihm einfach die Hand von ber Stuhllehne fort, an die er fih angeflammert hatte, unb legte feinen Arm um ihre Schulter. Um nicht zu fallen, mußte er fi nun an ihr halten, fi) von ihr führen laſſen. So brachte fie ihn zum Sofa zurüd, half ihm fi) Iegen, lagerte ihm das Bein.

„Stred di aus. Thut es noch meh? Was du aud für Gedichten anfängft. Und die großen Worte: lügen, betrügen! Du bift ein Kind. Und id) bin eine rau, weiter gar nichts.”

„Was willſt du denn nun eigentlich?" rief der junge Mentor heftig. „Auch Frauen, meine ich, müßten ſchließlich wiſſen, was fie wollen.”

„DH ja,” fagte fie. Sie richtete fi in die Höhe, nachdem fie ihn forgfam gebettet hatte, „ob ja, zuletzt!“

Und fie ging von ihm fort zu dem Heinen Schreibtiſch an der andern Seite der Terraſſen⸗ thür, feßte fich, fchrieb.

„Was ſchreibſt du,” rief er, „eine Abfage an den Profefjor? Stella, du thuft ein großes Unrecht. Du ließeft ihn durch deine Art ein Ja erwarten. Und diefen Thielendorff heiraten, deinen eignen Inſpeltor, der wegen Schulden und Schwindeleien vom Regiment fort mußte, nein, das fannft du doch nit, ganz un- möglih!" ...

Sie ſchrieb noch, ohne ſich ftören zu laſſen. Dann fam fie zu ihm, mit dem fertigen Brief in der Hand.

„Auch Frauen müfjen wiſſen, was fie tollen, fagteft du? Nicht immer, Eugen. Ich menigftens, vorhin, du haft recht, ich ließ ihn glauben, es würde ein Ja fein. Ich meint’ es felbft jo. Fünf Minuten drauf den In— ſpeltor ... den ließ ich's auch glauben. Ober vielleicht nicht heut. Diefen Winter aber, ſchon oft... Und andere auch früher. Aber nie lang. Weil es eben nichts war. Cingerebet, gewollt, nicht gefühlt. Ich fagt’ es dir vorher. Ih made mir zu viel Ideale und will zu

viel. Darum kann ich nichts Ganzes mehr fühlen. Und überhaupt... Da nimm und lieg —"

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„Stella,” rief er, da er auf dem Brief, ben fie ihm bingab, nur die Adreſſe gefehen hatte, „warum an die jeßt? das bedeutet . . 2”

„Sa eben dad. Daß ich mich bei der Oberfchweiter ala Pflegerin melde. Dazu palfe ih, mie du meißt. Dann brauche ich mid nicht mehr zu fragen, was ich will, Tann ganz einfach nur thun, was ich muß. Ach, wird das bequem fein!” Sie ftredte fich in dem Strohlehnituhl aus, die Hände hinter bem Kopf gefaltet. „Ihielendorff bleibt hier auf dem Gut, ih babe fein Wort. Dann mirb e3 gut bemwirtichaftet, daß mir Leos Verwandte nicht nach meinem Tod noch Vorwürfe machen. Und er, der arme Kerl, er ift hier geborgen, gefhübt vor feinem Leichtſinn. Das freut mih für ihn. Na, und der andere ein großer Gelehrter, wie du felbit jagft, ber hat feinen Ruhm, feine Kranken, feine Arbeit. Er wird ſich fchon tröften.”

„Aber bu, Stella, du in dem weißen Kleid da, in deinem Salon, mit ber offenen Thür zum Park und dann nahher ..... Das ift ja nicht möglich!” |

„Ach,“ fagte fie, „fo ſchlimm ift das nicht. Die modernen Kranfenbaraden find gut gelüftet. Und die Tracht ift gar nicht unfleibfam.

Dad Buch der Weisheit.

| Überhaupt —” fie war ſchon wieder auf:

gefprungen, ftand nahe über ihn gebeugt und ihre Augen blisten ihn an „meinft du, es wär’ nicht fchön, mas Schweres, jo was recht berzbeengend Großes, Schweres zu thun? Menn man fühlt, daß man’ fann? Sch hab's mir fhon oft früher gewünfht. Und dann wünſcht id) mir das Seiraten mehr. Aber nun heute... . menn bad Heiraten fein Glück ift, kein zwingendes, blaues, fraglos helles, warum benn dann? Und warum muß ich glücklich werden, grade ih? Go viele ſind's nit... Weiß ich des Morgens, warum ich aufiteh’, daß ih am Plab fein muß, die eine zu waſchen, die zu beiten, den zu verbinden, fo ift das genug. Sch babe einen Zweck dann im Leben. Meinft bu, dad wär' mir nicht wert aller Mühe? —“

„Stella,“ fagte er leife, „ihr rauen! Und ich dachte, ich fenne dich. Ob viele fo find?“

„Mandje. Und manche find wieder andere. Und ich bin fo. Du fragteft vorhin, ob ich denn nicht weiß, mas ich will® Sch meiß es ja, jet. Man kann Überhaupt fi fo was nicht lange überlegen. Es fommt, und man muß. Dann ift man nicht mehr unentichloffen. Dann bleibt e8 dabei. —“

8—

Das Buch der Weisheit.

Prometheus erderfchaffenem Gefchlecht aht’ auch Athene fih im Götterglanze

Geſchenke bringend:

„Teilet recht”,

So fprechend reichte fie dem Menfchenpaar, Dem erften, ihre Gaben dar; Ein Spinnrad war’s, ein Buch und eine Kane.

Rafch nach der fchweren Waffe ariff der Mann, Die trefflich feiner grimmen Stärfe paßte,

Und maßte auch das Buch fich

an;

Derweil des Weibes zarte Hand Das eben nahm, was fie noch fand, Und froh das zierlich fchöne Spinnrad faßte.

So blieb es auch, bis einmal Streit fich fand, (Athene felber mag den Swift entfcheiden) Das Buch der Weisheit war der Gegenftand.

Die Göttin ſprach:

„So war's nach meinem Sinn;

Wohl ift für zwei genug darin Un Weisheit; es gehöre allen beiden!”

Arthur Thielert.

——

Aesculapia Victrix.

Belene Tange.

Racbrud verboten. Er Jahre 1886 erfchien in der „Fortnightly Review“ ein Artikel von Robert

Wilfon, betitelt: „Aesculapia Victrix“. Er ſchildert darin die Kämpfe, die auch in Großbritannien durchgefochten werden mußten, ehe die Frauen zum Stubium der Medizin zugelaffen wurden, Kämpfe bis zum bandgreiflichften Sinne des Worts. Denn in Edinburg mußten die Studentinnen vor den Steinwürfen ihrer männlichen Kollegen flüchten. Aber „Aesculapia“ ging als Siegerin aus diefen Kämpfen hervor, und fleinerne Monumente, Hofpitäler, in denen Frauen von Frauen behandelt werben, geben heute davon Kunde.

Mit den fleinernen Monumenten hat's bei ung noch gute Weile. Aber auch wir dürfen zufrieden fein, auch wir dürfen fagen „Aesculapia Vietrix“, wobei wir allerdings noch eine Heine Anweifung auf die Zukunft mit in den Kauf nehmen müffen. Und wenn wir zurüdbliden auf bie fehweren Jahre, die hinter uns liegen, fo haben wir alle Urfache, dankbar derer zu gedenken, die die erfte Brefche fchlugen.

Es war zu ber Zeit, da ber Jubel über das neu erftandene Reich aller Herzen und Gedanken erfüllte, da alltäglich jeder eifrig zur Zeitung griff, um die Welt: ereigniffe zu verfolgen. Da kann möglicherweiſe mancher Leſer mit einem unwillkürlichen Zuden der Mundwinkel eine Heine beſcheidene Notiz überflogen haben, daß die erſten deutfchen Studentinnen in Zürich ihren Einzug gehalten hatten, vorausgefegt, daß die beutfchen Zeitungen dieſe Thatfache überhaupt des Berichtens wert erachteten. Heute dürfen die beiden Studentinnen, die damals die mebizinifchen Hörfäle befuchten, auf 25 Jahre einer fegensreichen, von Jahr zu Jahr wachfenden Praxis zurüdbliden. Aesculapia Victrix!

Emilie Lehmus, die Tochter eines Prediger aus Fürth, die, wie jo manche, dur den Lehrberuf zum Studium kam, war ſchon feit etwa einem Jahr in Zürich immatrifuliert, ala Franziska Tiburtius (geb. in Bisdamig auf Rügen) ſich als die zweite Deutſche in der mebdizinifchen Fakultät einfchreiben ließ. Auch fie war Lehrerin geweſen; wie Fräulein Lehmus in Paris, fo hatte fie in England fid die freiere Anfhauung erworben, die ihr half, die in Deutfchland- noch eng verbundenen Begriffe „ungewöhnlich“ und „unweiblich“ von einander zu trennen. Nicht wenig hatte zu ihrem Entſchluß, Medizin zu ftudieren, ihr Bruder beigetragen, der als Arzt den Krieg mitmachte und mit dem fie in eifriger Korrefpondenz ihre Pläne erörterte.

Von der Züriher Studentin war bis dahin nicht viel die Rede geweſen. Es batten nur eine geringe Zahl Schweizerinnen die neu erfchloffene Gelegenheit benugt. Gerade um dieſe Zeit aber, in den Jahren 1871 und 72 fand jene Invafion von ruſſiſchen Studenten und Studentinnen ftatt, die zu fo fchiefen Darftellungen des

344 Aesculapia Victrix.

Züricher Studentinnenweſens in der Prefle geführt hat. Franziska Tiburtius hat in ihrem Artikel „Frauenuniverfitäten oder gemeinfames Stubium“ im fünften Jahrgang der Frau über ihre ruffifchen Kolleginnen ein Urteil abgegeben, das doch weſentlich anders lautet. Wohl verleugneten all diefe, zum Teil blutjungen „Umftürzlerinnen mit den kurz gefchnittenen Haaren, großen runden Brillengläfern, die Cigarette im

Dr. med. Emilie Zchmus.

Munde, in den engen, fuizen, völlig ſchmuckloſen und nicht immer ganz einwands⸗ freien ſchwarzen Kleidchen“, im Umgang mit den Studenten und untereinander ab⸗ fihtlich jede hergebrachte Convention, aber durchaus nicht aus fittlicher Laxheit, fondern als begeifterte Jünger und Märtyrer ihrer politifchen Überzeugungen. Daß e8 ihnen heiliger Ernft damit war, haben viele nachher gezeigt, als das Martyrium Wirklichkeit

346 Aesculapia Victrix.

Medizinerinnen damals noch weit ſchwerer zu erlangen war als jegt, Fräulein Lehmus ging zu diefem Zweck nach Prag, wo fie in der Univerfitäts-Entbindungsanftalt unter Profefjor Weber praftizierte. Fräulein Tiburtius hatte Schon längere Zeit in Zürich unter Profeflor Huguenin auf der inneren Abteilung für Frauen gemrbeitet. 1876 ging fie nach Dresden, um dort in der kgl. Entbindungsanftalt der Frauenklinik unter Geheim- rat von Windel zu arbeiten. Hier traf fie wieder mit Fräulein Lehmus zufammen.

Es ift befannt, daß Geheimrat von Windel einer der märmften und verftänbnig- vollften Förderer der Ürztinnenfache in Deutfchland geweſen ift. In Kirchhoffs Buch „die alademifche Frau“ fält er felbft über die bei ihm beichäftigten Volontärärztinnen folgendes Urteil: „Pflichtgetreu, fleißig, gemwillenhaft und aufs eifrigfte beitrebt, al ihre Zeit beiten? auszunügen, babe ich die Leiftungen der meiften dieſer Schülerinnen mit Freuden als mindeftens gleichwertig mit denjenigen ihrer Mitvolontärärzte an- erkennen müſſen.“

Die Beziehung dieſes Ausfpruch® zu meinem Thema liegt nahe genug. Und in der Praris follten beide Ärztinnen bald genug das Vertrauen glänzend rechtfertigen, bad ihnen von allen Seiten entgegengebracdht wurde, ala fie im Jahre 1876 ihre Thätigleit in Berlin begannen. In der Neichshauptftadt fielen manche von den Schwierigkeiten fort, die Fleinere Städte damals boten und wohl jest noch bieten. Der Gefichtäfreid der Frauen war doch jchon genügend erweitert, daß fie ohne Bor: urteil und Mißtrauen dem Ungewöhnlichen gegenüberzutreten vermochten. Überdies war der Salon von Frau Dr. Tiburtius Fräulein Dr. Tiburtiuß war in den Haushalt ihres Bruderd übergefiedelt fchon lange der Sammelplag aller im ärzt⸗ lichen oder in anderen Berufen arbeitenden Frauen, die befonder8 von Amerifa und England aus Berlin “auffuchten. Die ftile Propaganda, die von diefem Haufe aus: ing, bat unendlich viel mehr und viel wertvollere Projelyten für die Frauenjache gewonnen, als jo mancher Trompetenftoß auf offenem Marlt.

Dem feinen, im ebdeliten Sinne weiblichen Auftreten unferer beiden eriten Ärztinnen ift e8 wohl auch zu danken, daß ſehr wenig Neibungen mit den Kollegen entitanden, und das Bewußtſein, gerade von den Belten unter ihnen anerfannt und geſchätzt zu fein, konnte fie gelegentliche Chikanen mit Humor ertragen lafjen.

Neben ihrer PBrivatpraris jchufen ſich die beiden Frauen ein ausgedehntes Arbeitsfeld durch die Errichtung einer Poliklinik für unbemittelte Frauen. Die nötigen Räumlichkeiten dazu in der Alten Schönhauferftraße gaben auf die Bitte von Frau Dr. Tiburtius, die dieſer Angelegenheit das größte Intereſſe bewies, Herr und Frau Bötzow ber. Dieſe Vergünftigung wurde eine unendliche Wohlthat für die armen Patienten aud weiter gewährt, als das Haus in andere Hände überging. Von 1878-1896 leifteten die beiden Ärztinnen, erft feit 1890 durch Fräulein Dr. Agnes Bluhm unterftügt, die große damit verbundene Arbeit. Was das bedeuten will, beweilt die Zahl der in diefer Zeit behandelten Patientinnen, fie belief fich auf über 20 000. Bis heute bat die Poliklinik, die 1896 an die jüngeren Kolleginnen überging, die fich feitdem in Berlin niedergelaffen hatten, nahezu 25 000 franfen Frauen ärztlichen Rat gewährt.

Immer lebhafter hatten die beiden Ärztinnen das Bedürfnis empfunden, ihren armen Patientinnen auch in Fällen, wo eine längere Elinifche Behandlung nötig war, Aufnahme gewähren zu fünnen. Zuerſt wurde eine folche Pflegeftation in befcheibenften Dimenfionen im Tiburtiuß’fchen Haufe eingerichtet, wieder unter thätigfter Beihilfe von Frau Dr. Tiburtius. Vom Jahre 1894 an wurde die Station nach der Bülomfir. 14

Ein Kapitel zur Kindererziehung. 347

verlegt und der Verwaltung bed Berliner Frauenvereind unterftellt. Ein beſonderes Komitee, deſſen Vorfigende Frau Dr. Tiburtius if, beforgt diefe Verwaltung, während die ärztliche Behandlung nach wie vor in den Händen von Fräulein Dr. Tiburtius und Fräulein Dr. Lehmus blieb, denen fpäter die jüngeren Arztinnen Berlins affiftierten.

Das Jahr 1900 brachte für Fräulein Dr. Lehmus eine ſchwere Erkrankung, die fie nötigte, ihre Praxis aufzugeben, um im Süden Erholung und im Kreiſe ber Ihren die mohlverbiente Ruhe zu fuchen. Der warme Dank eine großen Patientinnen= kreiſes gilt ihr nicht minder als Fräulein Tiburtius, der er inmitten ihrer Berufsthatigkeit perfönlich außgefprochen und betätigt werben konnte in einer Form, die ihr unzweifelhaft die Tiebfte ift: einer Frauziska Tibnrtins-Stiftung, durch welche die Zahl der Frauen, denen bie Pflegeftation unentgeltliche Hilfe gewährt, erhöht werben kann.

Ich weiß, wie wenig es dem Sinne unferer beiden erften Ärztinnen entfpräche, wenn ich diefe furze Skizze ihres Wirkens mit einem Panegyritus abſchlöſſe. Sie mag für fich felbft fprechen.

Er

Lin Kapitel zur Kindererziehung.

m

Helene Chriſtaller.

Ragprud verboten. —J

8 giebt wohl kaum eine Kinderfrage, die von Müttern und Erziehern fo oft

ungeſchickt und thöricht beantwortet wird, als die Frage nad dem Urfprung

der Kinder. Durch die Leichtigkeit verführt, mit der die Kleinen alles als Wahrheit hinnehmen, kommen die Eltern ſchon frühzeitig dazu, bei diefer Frage von vornherein ſich Schwierigkeiten aufzubauen, die fie fpäter vergeblich zu überwinden ſuchen. Dan muß fi wirklich wundern, daß eine fo verfehlte Praris nicht ſchon längft aufgegeben worden ift. Haben denn die Eltern ihre eigene Jugend vergeffen? Biffen fie nicht mehr, daß alles Angftlich Verhehlte, forgfältig Verfchleierte unfehlbar von andrer und meift Höchft ungeeigneter Seite offenbart wird und wie offenbart! Es ift wahrhaftig, als ob fie ein fectes Gewiſſen hätten, daß fie Eltern fein fo faßt es wenigſtens das num von ber Wahrheit unterrichtete Kind auf und blickt mit mißtrauifchen Augen auf die, die es vielleicht zum erftenmal auf Unwahrhaftigfeit ertappt bat. Zum Unglüd verhehlen die Kinder meift ihre hinter dem Rüden ber Eltern erworbene Lebenskenntnis und verraten fie ihnen erſt gelegentlich durch ein unreines Lächeln, oder durch ein peinliches Erröten, wenn von irgend etwas bie Rede iſt, was mit ihrem Geheimnis zufammenhängt. Im Prinzip geben die meiflen ver- nünftigen Eltern dem, der auf diefe Schäden hinweiſt, recht und bei ihren eignen Kindern befolgen fie die alte Praris.

Wenn man Stabtlinder und Landkinder vergleicht, fo fällt fofort ein großer Unterfchieb auf: die legteren find miflender, auch derber, aber natürlicher, offener und darum fittlicher.

Wer kann einen Frühling auf dem Lande erleben, ohne Blid für die unendliche Fruchtbarkeit der Natur zu gewinnen? Kinder, bie für nicht fo vol Intereſſe find als für Tiere, Pflanzen, Blumen werben ganz fortgeriffen und begeiftert von dieſem überflutenden Leben. Sie fehen den Vogel Nefter bauen, fie freuen fih mit der

Ein Kapitel zur Kindererziehung. 349

alle Papas.“ „Gelt, unjrer!” riefen alle vier einftimmig. „Sa, unfrer,” fagte ich lachend, „ben bringen wir drum auch nicht um, fondern . .. .?” „Wir lieben ihn!“ Und da er gerade den Gartenweg herunter kam, mußten fie ihm gleich zeigen, daß fie feine Fürforge im Gegenfag zu den fchlechten Vienenvätern zu fhägen mußten.

Eine Tages fragte mein neunjähriges Töchterchen beim Anblid der Krippe mit dem Jefuskind mich nachdenklich: „Mama, du haft und gezeigt, wie die Früchte wachfen, aber von den Menfchen weiß ich es nicht recht.” Ich hatte die Frage fchon längere Zeit erwartet und befchlofien, Wahrheit zu geben, wenn auch noch nicht die volle. „Nun,” antwortete ich, „tie bei den Pflanzen verſchiedene Bedingungen zufammentreffen müffen, bis es Früchte giebt, nämlich: fie müfjen blühn, die Sonne muß fcheinen, der Regen fie befruchten, jo auch bei den Menſchen. Bor allen Dingen müjfen Mann und Frau ſchon große Leute geworden fein, die felber einen Haushalt führen und eine Familie ernähren können. Dazu gehört auch, daß fie fi fo lieb haben, daß fie ihr ganzes Leben zufammen fein möchten, daß, wenn das eine traurig ift, das andre mitweint, und wenn eins froh ift, das andre ſich mitfreut, und wenn fie fich nichts Lieberes mwünfchen, ald bei einander zu fein bei Tag und Nacht, im Wachen und Schlajen .. .” „Gelt, dann heiraten fie?” „Sa, jo nennt man's, und jet be- tommen fie auch eine Kinder, die wachſen dann in der Mutter, wie die Äpfel auf dem Baum.”

Mit diefer Erklarung gaben ſich die Kinder zufrieden und werben es auch noch lange fein. Etwaige Fragen nad. unglüdlichen Ehen, unehelichen Kindern, kinderloſen Ehen wird jede Mutter leicht den Kindern ſelbſt beantworten können, indem fie ihnen das als etwas Unnormaled darftellt, was in der Schwäche der menſchlichen Natur feinen Urfprung hat.

Ich glaube, je früher wir die Kinder über die grundlegenden Fragen aufs Mlären, deito beſſer wird es fein, damit nicht ein Unberufner zuvorfommt und die Mutter ſchon ein giftige Unkraut findet, wo fie noch unberührten Boden vermutet hat. Mit wadendem Verftändnis kann man dann die Erfenntnis der Kinder erweitern. Man lehre fie, welche ernfte Pflicht für Knaben und Mädchen es ift, den Körper rein und heilig zu halten, und welches Elend eine Vernachlaſſigung dieſer Pflicht für fie und einft für ihre Kinder nach ſich ziehen wird. Auch ein für die Geſchlechter getrennter Kurfus in Anatomie und Geſundheitslehre wird für 14 jährige ober ältere Kinder von Nugen fein. Es ift unwürdig und gefährlich, wenn der Menſch über etwas, das ihn fo nah angeht, im Dunkel bleibt, während er vieleicht über die Lebensbedingungen der Krofodile genau unterrichtet wird. Mancher leichtfinnige Frevel an ber Gejundheit junger Mädchen würde unterbleiben, den fie begehen, weil fie feine Tragweite nicht genau fennen, und die allgemeine Warnung, die man ihnen zukommen läßt, wegen ihrer Unbeftimmtheit feinen Eindrud macht.

Es kann Fälle geben, wo die Eltern früher deutlicher werben follten, als erft im Alter der beginnenden Reife; nämlich überall da, wo fie ihre Kinder aus Erziehungs- oder andern Gründen jung aus dem Haufe geben und da, wo fie Verführung fürchten müffen oder erbliche Veranlagung vermuten. Man kann die zu Belehrenden darauf binmweifen, wie die zarten Blumenknoſpen auch feine derbe Berührung vertragen, und wie bei einem Berfehlen dagegen die Blüten ſich gar nicht oder nur fümmerlich ent» wideln und dann fchlechte geben. Daß man aber ein Kind, das ſich ſchon verfehlt hat, nicht zu fehr fchredt, jo daß es alle Hoffnung für die Zufunft verliert, iſt felbftverftändlich.

Ich glaube, daß wir manche Klippe meiden fünnen, an ber ſchon viel junges Leben geftrandet if, wenn wir fo die Kinder mit der Natur aufwachſen laffen, voller Unfhuld, wenn aud nicht in Unwiſſenheit. Letztere ift eine feltene Zufallsgabe, erſtere aber die Folge einer vernünftigen Erziehung, die feine Mutter in thörichter Vor—

eingenommenheit fcheuen follte.

Die Veftimmungen über bad Univerfitätäftubium ber Frauen in Deutichland ꝛc. 861

Freiburg durch einen Beichluß des Senats im Sommer 1895 den einzelnen Dozenten die Zulafjung von Frauen zu einzelnen Vorlefungen freigeftellt; in Heidelberg hatten die theologifche, philofophifche und naturwiffenihaftliche, nicht alfo die juriſtiſche und die mebizinifche Fakultät im jeweiligen Einverftändnis mit ben betreffenden Lehrern folge Frauen, deren Vorbildung und Studienzwed genügend Gewähr zu bieten ichienen, zu den Vorleſungen zugelafien. Am 28. Februar 1900 hat dann aber ein Erlaß des badiſchen Kultusminifteriums, der auf Grund ber Äußerungen der Senate und der Fakultäten der beiden Landesuniverfitäten erging, beftimmt, daß „Frauen, welche das Reifezeugnis eines deutfchen, ftantlich anerfannten Gymnaſiums bejiehungs- weiſe in den Kane beftimmten befonderen Fällen (Studium der Mathematik, der Naturwiſſenſchaften oder ber neueren Sprachen) eined derartigen Realgymnafiums oder einer derartigen Oberrealſchule vorlegen und im übrigen bie erforderlichen Nach— weifungen für die Immatrikulation erbringen, zur Immatrikulation an den beiden Zandeduniverfitäten, vorerft nur verfuchd: und probeweiſe, zugelaffen werden.” Im Fall des Zweifels darüber, ob eine Lehranftalt der fraglichen Art als eine ftaatlich anerlannte und damit den flaatlichen Lehranftalten teicteend zu erachten fei, haben die Immatrikulationskommiſſionen das Geſuch nebit den betreffenden Nachweiſungen unter Beifügung ihrer Anfichtäußerung durch ben Senat an das Kultusminifterium zur Entſcheidung vorzulegen. Daneben ift die Einrichtung, daß Damen als Hofpis tantinnen zugelaffen werden, unverändert beibehalten. In Heidelberg Haben ſich die betreffenden Damen unter Vorlegung der Zeugniffe Über ihre Vorbildung an bie Dekane der oben genannten drei Fakultäten zu wenden. Die Zulafiung erfolgt dann im Einverftändnis mit den in Frage kommenden afademifchen Lehrern, nur vergünſtigungs⸗ weiſe und jeder Zeit wiberruflih; aud erhalten die „Hörerinnen“ nicht den für männliche Hofpitanten vorgefehenen „Hofpitantenfchein“, der zum ftändigen Befuch der Vorleſungen berechtigt, fondern immer nur einen befonderen Erlaubnißfchein für das laufende Semefter. Ebenſo wird ihnen auch in Freiburg, wo nad mie vor bie einzelnen Dozenten direkt die Erlaubnis erteilen, der erwähnte allgemeine Hofpitanten- ſchein nicht ausgeſtellt.

In Roftod iſt die Zulaſſung der Frauen als Hoſpitantinnen auf die philoſophiſche Fakultät befchränkt. Das medlenburgiiche Minifterium hat in einem Erlaß vom 9. Dftober 1896 erklärt, obwohl die Univerfität eine ausichließlih für Männer beſtimmte wiflenfchaftliche Anftalt fei, fo wolle es doch bis auf weiteres fein Bedenken gegen die Teilnahme von Zuhörerinnen an den Vorlefungen im Bereich der philofophifchen Fakultät erheben, fo lange diefe Teilnahme überhaupt der Zahl nad fowie für die einzelnen Vorlefungen im Verhältnis zur Menge der immatrikulierten Hörer gering bleibe und ſich auf ſolche Mädchen und Frauen beſchränke, die ein außerorbentliches Intereſſe, insbefondere ein Berufsintereffe an dem Hören der betreffenden Vorlefungen nachweiſen und ihren Aufenthalt in einer Familie zu Roftod haben. Die Zulaffung iſt bebingt durch die Genehmigung bed Rektors. Auch ift jeder Dozent verpflichtet, don einer folchen Zulafjung unter Angabe ber perjönlichen Verhältniffe der Zuhörerinnen aeg anler Mitteilung zu machen, dem gegen die Zulaflung ein Einſpruchsrecht zuſteht.

An den übrigen 17 Univerfitäten des deutſchen Reiches iſt den Frauen ohne weitere grundfägliche Einfchränfung hinfichtlich der Fakultäten die Möglichkeit gewährt, an den Borlefungen und Übungen als Hofpitantinnen teilzunehmen. Gemeinfam ift allen der Grundjag, daß überall in legter Linie immer der einzelne Dozent endgiltig über die Zulafjung oder Ablehnung beichließen kann, daß alfo kein Univerfitätslehrer gezwungen wird, wider feinen Willen Frauen in feinen Vorlefungen fehen zu müſſen. Im einzelnen find die Bedingungen wiederum fehr verfchiebene.

In Preußen ift bis zum Ende der 80er Jahre fireng an dem Ausichluß der Frauen vom Univerfitätzftudium feftgehalten worden. Im Jahre 1886 hat ſich der

urator einer preußifchen Univerfität mit einer darauf bezüglichen Anfrage an ben Kultusminifter gewandt, tworauf von leßterem die im „Zentralblatt der preußifchen Unterrichtsverwaitung“ veröffentlichte Antwort ergangen ift, „daß auf preußifchen

Die Beftimmungen über bad Univerfitätöftubium der Frauen in Deutſchland 2c. 353

Breslau getroffen worden. An beiden Univerfitäten laſſen die Mitglieder der medizinifhen Fakultät grundfäglih nur ſolche Frauen zu den Vorlefungen zu, die das Zeugnis der Reife von einem humaniftiihen Gymnafium befigen. Die philofophiiche Fakultät in Breslau aber verlangt entweder da Zeugnis der Reife von einem ftaatlich anerkannten Gymnafium ober einer gleichftehenden Anftalt, oder einen an einer Univerfität erworbenen akademiſchen Grad oder endlich die Ablegung des Lehrerinnen- eramend für höhere Töchterfchulen oder einer gleichwertigen Brufang; Damen, die nicht eined dieſer Zeugnifle vorlegen können, werben nur ausnahmsweiſe zugelaffen, wenn fie in irgend welcher anderen Form nachweifen, daß fie die zur Vorbereitung auf einen wiſſenſchaftlichen Beruf erforderlichen Kenntniſſe befigen. Auf einem ähnlichen firengen Standpunkt fteht die Univerfität Göttingen; in einem beitimmten Fall ift einer Dame, die bei dem dortigen Rektorat angefragt hatte, der Beſcheid zugegangen, es werde eine Schulbildung vorausgefegt, die ber der übrigen Studierenden entfpreche; zu deren Nachweis würde fi) die Dame eventuell einer Prüfung durch den Profeffor des in Frage ftehenden Faches zu unterziehen haben. Von ähnlichen befonderen Vereinbarungen an den übrigen preußifchen Univerfitäten ift uns nichts befannt geworden.

Nicht unerwähnt bleiben darf, daß an einigen preußifchen Hochſchulen von dortigen Univerfitätslehrern befondere Kurje für Frauen abgehalten werden. So findet in Greifswald aljährlih im Auguft ein drei biß vierwöchentlicer Ferienkurs für Lehrer und Lehrerinnen flatt. Dann find eigentliche Vorbereitungsfurfe für das Oberlehrerinneneramen mit zweijähriger Dauer eingerichtet in Bonn und Göttingen. Bei diefen Kuren wird ber größere Teil der Vorlefungen von Univerſitätslehrern ſpeziell für die Teilnehmerinnen an dem Kurfe gehalten, zum Teil aber find aud) bie betreffenden allgemeinen Vorleſungen der Univerfität in den Kurs bineingezogen.

An der Univerfität Leipzig werden den Frauen auf Grund von Ausweiſen über genügende Vorbildung von der Jmmatrikulationstommiffion Erlaubnisfcheine zum der Vorleſungen erteilt, die immer nur für das laufende Semeſter gelten. Dabei bleibt es den einzelnen Dozenten überlaffen, ob fie Frauen, bie mit ſolchem Erlaubnisichein verfehen find, den Zutritt zu ihren Vorlefungen gewähren vollen oder nit. Solchen Frauen, die dem Deutfchen Reich nicht angehören, kann der Erlaubnis- ſchein nur mit Genehmigung de3 Minifteriums des Kultus und öffentlichen Unterrichts erteilt werben. Für diefe Erlaubnisfcheine it eine Gebühr von 3 Mark zu entrichten. Als genügend vorgebildet gelten Frauen, die in einem deutſchen Bundesftaat die Reifeprtfun eine® Gymnafiums oder Realgymnafiums beftanden oder die Befähigung zur bernahme eines felbftändigen Lehramis als Lehrerinnen erworben oder eine gleichwertige Vorbildung genofjen haben; fojern es fih um das Studium der Zahn: beiltunde handelt, ift der Nachweis der dafür gefeglich geforderten Vorbildung, Reife für Prima, zu erbringen. Bis vor einem Jahr ungefähr waren die Geſüche um Zulaffung zu den Vorlefungen unmittelbar an das genannte Minifterium einzureichen, von dem fie nad) entfpredender Äußerung der Univerjität bejchieden wurden. Diefe Einrichtung ift heute noch in Bayern (für die Univerfitäten Münden, Erlangen und Würzburg) und in Württemberg (für Tübingen) beibehalten. Auch hier handelt es fich durchweg um die Zulafjung als Hörerinnen. In Tübingen wird diefe Erlaubnis des Kultusmirifteriums vom alademijchen Senat beantragt. In Würzburg fcheint in jedem einzelnen Fall die betreffende Fakultät ein Gutachten abzugeben und daraufhin der Senat befürmortend oder ablehnend Stellung zu nehmen. Auch hier iſt überall die Zuftimmung des betreffenden Dozenten felbft die erfte Vorausfegung.

An der Univerfität Gießen mar bis zu Dftern 1900 den Frauen der Zutritt zu den Vorlefungen nicht geftattet. Unter dem erften März de3 genannten Jahres bat aber daS heifiiche Minifterium de3 Innern die Beftimmung getroffen, daB vom 1. April 1900 ab an der Landesuniverfität Gießen auch Frauen als Hofpitantinnen aufgenommen werden können. Sie haben ein fchriftlihes Geſuch an den Rektor zu tihten und darin anzugeben, weldem Fach fie fi) hauptſächlich widmen wollen.

23

Vebermeiſter Votter.

Erna Viereck.

NRagbrud verboten. -

er Lehrer trat aus dem Haufe des Webermeifters. Cr hielt fi das Taſchentuch dor Mund und Nafe und fämpfte ſichtlich mit einer Übelleit. Ein ftrammer, militäriſch aus- febender Mann in Hembärmeln begleitete ihn durch das Vorgärtchen.

„Wie Eie den Geruch da drinnen aushalten lonnen es ift fürchterlich!” preßte der Lehrer heraus und ſchnappte dann gierig die frifche, eine Herbftluft ein. Der Hemdärmlige zudte die Edulten. „Man gewöhnt's fchon. Schlafen aber thu' ich Tängft drüben in ber Werfftätten. Dort iſt's zivar falt, aber gefund.” „Und der große Bub'?“ „Der ſchlaft am Boden.” ie gingen einige Schritte. Danach zu fragen, wie's das Weib tagaus, tagein in mder Luft” außhielt, fiel dem Lehrer nicht ein. Er fpudte aus, ala wolle er damit den Ekel los werben, der ihn noch fchüttelte und reichte dem Webermeifter die Hand. „Auf Wieder fehn, Rotter. Sie kommen doch heut’ zu : einem Tarot ins Kreuz?“ „Werd' nicht | fehlen, Herr Lehrer. Danke für den freund» lichen Beſuch.“

Die Lehrerin erwartete ihren Mann fchon mit der bampfenden Suppe. Sie war eine Bauerstochter, mit derbem, knochigem Außeren unb einem guten, meiden Herzen. Solche Herzen findet man broben im Gebirge gar oft, ohne daß man groß darauf achtet, oder Auf- hebens davon macht. Es giebt fo viel Not und Elend dort, daß das Wohlthun, Helfen ober doch wenigſtens Mitfühlen fi ganz von felbft lernt und ſchickt. Die Frau war's auch geweſen, die den Gatten zu dem Befuch bei Rotters beftimmt hatte. „Wie geht's heut’ dem Tonerl?” fragte fie den Heimfehrenden, der fofort zum Wandſchrank trat, und haftig ein „Stamperl Ungebleichten“ hinunter ftürzte. |

Wie ſoll's gehn? Schlecht, elend! Der Rotter fagte mir, der Doktor hab’ ihm gefagt, zu helfen wär’ nichts mehr. Die einzige Rettung wär’ vielleicht, den Fuß abzunehmen. Aber auch das hielt der Bub’ nimmer aus. Dazu ift er ſchon viel zu ſehr berunten.“ - „Und warum hat er’3 nicht cher than?” Die Frage überhörte der Lehrer; vielleicht fand er auch nur feine Antivort darauf. Er löffelte an feiner Suppe, ſchob aber den noch halb gefüllten Teller plöglich zurüd. Schier ärgerlich fing er an, in ber Stube auf und ab zu ſchreiten. „Was haft denn, Ferdl?“ „Was werd' ich haben?! Eſſen fann ich nicht. 's ift auch fein Wunder, nad ber Kranfenvifiten, zu ber mich g’habt haft. Mich beutelt's noch, wenn ich dran denk.” „Aber Ferdl, der Toni war doch bein bravſter Schüler und ift ſoviel fehr an dir g’hangen! Weißt nod, mie er ung vorig's Jahr, fo fleißig im Schulgartl g'holfen hat? Schier verfpürt hat man’ heuer, daß der Tonerl fehlte. Nit halb fo nett und al'rat ſchaut er brein.” „Na ja, Ratti, ift ja ſchon recht. Ich bin ja auch hin’gangen, dir zu G’fallen, denn dem Buben liegt zehnmal mehr an deinen Vifiten, ala an mir. Aber nicht wieder, Alte, nicht für's allerfhönfte Wunder!” „Mas meinft denn, jegt, nachdem ihn g'ſehn haft? Wird fih der arme Kerl noch lang’ ſchleppen? Man muß ja g’rad nein wünſchen, daß ihn unfer Herrgott bald zu fi nehmet, wegen feiner und wegen der Mutter.” „Na, 's wird ſchon noch bis in den Winter ’nein dauern! Die Weberin futtert den Buben gut, ba zieht ſich's länger. Aber das Bein fhaut aus... .!! Ich hätt mir's nicht anſchau'n fol’n, jet werd’ ich's nimmer 108.”

Die Lehrerin nidte nur. Wie oft fah fie

23*

Webermeifter Rotter.

Für die Arbeitäfräfte hatte er zu forgen. Wöchentlich oder alle vierzehn Tage ging er „liefern“. Die Arbeit feiner Gehilfen Ge- fellen, Lehrbuben und Epulmeiber warf auch ihm Prozente ab, und ba er felbft fleißig und gefchidt mitarbeitete, fam fein Verdienſt auf 12—15 fl. per Woche. Hinterbörfer Geld genug, um in einem ges wiſſen Wohlitand Ieben zu können. Rotter verftand’3 befjer, als manch einer. Er zählte zu ben „Honoratioren“ des Dorfes, ſaß im Gafthaufe mit Pfarrer, Lehrer und Kaufmann beim Glafe Bier und Tarof, und fein Weib ging Eonntags mit einem Hut ber ihr zwar fürdterlih ftand, aber do ein Hut war zur Kirche. Er war ausgedienter Feldwebel und Veteranen-Hauptmann=-Stellvertreter. Am Sonntagsrocke hing die filberne Tapferleitss mebaille. Auch hatte er die „Welt“ gefehen. Was er nicht wußte, oder ſchon vergeſſen hatte, erfand er einfah dazu. Seine Zuhörer merften es nicht, ober doch nur felten, und unterhielten ſich ebenfogut dabei, tie er, deſſen höchſte Wonne es war, fih reden zu hören. Er galt allgemein für einen „Eugen Kopf.“

Zu der Krankenpflege aber war der „kluge Kopf“ nicht zu brauchen. Er prebigte zwar viel und gab gute Lehren bie ſchwere Menge. Aber einmal eine Nacht fein zum Tode er- ſchöpftes Weib abzulöfen, daran dachte er nicht. Da war die Lehreröfrau die einzige Stüße der armen Mutter. Die fragte nicht lange, erbot fich nicht erft zehnmal dazu. Wenn der Abend am, war fie einfach da, padte ihren groben, grauen Stridtrumpf und ein abgegriffenes „wunderſchön's“ Büchel aus der Schulbibliothet aus und fegte ſich ruhig an Tonerls Bett. Der erwartete fie ſchon mit glühenden Wangen unb ſehnſüchtigen Augen. Das langſame, ſtockende Vorlefen war ihm das Liebfte, Schönſte des ganzen Tages. Darnach, wenn fie ihn friſch gebettet hatte und mit leife klappernden Nadeln bei ihm faß, fchlief er am beften ein. Es ging eine Ruhe und Zuberfiht von der gefunden, Träftigen Frau zu dem Kinde über, die die ſchwache, abgehärmte, wenn auch ab: göttifch geliebte Mutter nicht geben konnte. Die litt mehr faft unter feinen Schmerzen, als er felbft, fonnte nur mit ihm lagen, beten und teinen.

Für unfere |

857

Anfangs fträubte fih die Webermeifterin und machte Redensarten. Dann aber, als fie ſah, daß es ver Lehrerin mit dem Helfen ernft war, und fie regelmäßig fam, jeden Abend Schlag acht Uhr, nüßte fie lieber die Zeit zum Schlafen aus. Und fie fchlief oft fo feft, daß die Lehrerin fie erft weden mußte, wenn fie nad Mitternadht in ihr Heim zurüdfehrte. So ertrug die Frau doch länger die Strapazen der Krankenpflege. Auf die Dauer aber war ihr ſchwacher Körper ihnen doch nicht ges wachſen, gar als noch ein „freudiges Ereignis” in Sicht kam. Sie wurde täglich matter und elender, und es fragte ſich nur, wer's länger machen würde, der Kranke oder die Pflegerin, Mutter oder Sohn. „Es fragte ſich,“ das iſt ſo eine Redensart. In Wahrheit fragte gar niemand danach, bemerkte es nicht einmal. Daß ein ſchwangeres Weib ſchlecht ausſieht, iſt ja nichts Abſonderliches. Ihr ſelbſt, freilich, war's klar genug, wie es um fie ftand.

Am Abend desſelben Tages, da der Lehrer den Beſuch bei feinem ehemaligen Schüler ge— macht hatte, kam's aber body nicht zu ber beſprochenen Tarofpartie. Die Lehrerin befam ihr Kopfweh Migräne, nennen es bie feinen Leute und mußte fi Iegen, fo hart es ihr anlam, diefe Nacht die Weber: meifterin nicht ablöfen zu Zönnen. Als ber Lehrer gegen elf aus dem Gaithaufe kam, fragte fie fofort, ob Notter nicht gejagt habe, wie es daheim ſtünde. „Er mar gar nicht dort,“ berichtete der Gatte. Die rau atmete erleichtert auf. So hatte er doch ein Einfehen gehabt und dies eine mal, ftatt ihrer, das Weib entlaftet. Beruhigt Lehrte fie ſich zur Wand und fohlief ein.

Gegen vier Uhr wedten polternde Schläge an bie Thür das Ehepaar. In Rod und Jade, mit bloßen Füßen lief die Frau hinaus, ſehn, was es gäbe. Heulend und frierend ſtand Webermeiſters, Großer“ draußen. „Mit dem Tonerl iſt's aus. Goit fhen® der armen unſchuld'gen Eee die ewige Ruh'“, fuhr's durch den Kopf der Lehrerin, während ſie den ſchweren Balten fortzog und öffnete. Sie fragte aud gar nicht, fondern zog nur den Heinen „Großen“ in das imarme Zimmer, mährend fie ſich in fliegender Haft zurecht machte. | „3 foll erſt no ſchnell zum Pfarrheren laufen,”

Webermeiſter Rotter.

nah Sch. ins Epital. Der Dorfvorfteher hatte das verlangte Armutszeugnis anſtands⸗ 108 auögeftellt. Mein Gott! Arm mar ber Bub doc gewiß, und auch der Vater hatte nichts Überflüffiges. Seine Gemeinde wurde ja bamit nicht belaftet, und die Stäbter, die mochten nur ruhig zahlen. in Bauern gewiſſen ift fein al’zu empfindliches Ding, und bier fprad ein groß” Teil Mitleid und Gutmütigfeit auch mit.

Nun war Weihnacht, Neujahr, heilige drei König vorbei, und Toni Rotter Iebte noch

immer. Die Lehrerin war vor bem Feſt

einmal in der Stabt gemefen, ihn zu beſuchen, und hatte ihm unverändert gefunden, doch

fühlte fih das Kind zufrieden und wohl ge: |

borgen. Zu Lichtmeß kam an den Vater bie Anfrage, ob er fi) einverftanden erfläre, daß dem Knaben das Bein amputiert würde. „Z'was den arm Kerl noh a fo plagen“ brummte Rotter, mwilligte aber ein. Er nahm fih auch feit vor, den Buben „noch amal” zu beſuchen. Aber im Winter iſt's beſchwerlich und unbequem. Es gab auch viel Arbeit,

und fo verfhob er e3 von Woche zu Woche. :

Die Lehrerin ſah er jet felten. Sie hatte nichts mehr im Weberhaufe zu thun und zu

helfen und ging dort hin, wo fie nötiger |

war. Als ihr Mann ihr die Kunde von ber Amputation brachte, weinte fie bitterlich. „Das arme Haſcherl, das! Was die Doftorn erft noch an ihm ’rum ſchnatzeln. Ich hab's ja g'wußt, daß fie ihm noch was anthun wer'n“, lautete auch ihre Klage. Der Tonerl war rettungslos bem Tode verfallen, das ftand allen fo feft, wie das Amen im Gebet.

Um fo maßlofer war das Erftaunen, als es anberd kam. Nah Oſtern erhielt ber

Webermeifter abermal® einen Bericht von der '

ES pitalsleitung. Er wurde fur; aufgefordert, ſich Sonntag Vormittag den fo und fo vielten dortfelbft einzufinden. Es paßte ihm gar

nit. Er ging auf Freierfüßen und wollte es juft an dem Tage „g'wiß“ (feft) machen. Als alter Soldat aber war er das Folgen gewöhnt, und fo that er's auch diesmal. Überdies nahm er feft an, es gelte, „Abſchied ynehmen“ vom Tonerl. Cr verſprach dem Lehrer, ihm abends im Gafthaufe das Refultat feiner Wanderung mitzuteilen. Später als gewöhnlich fam ber Lehrer an dem Abend heim. Die Frau erwartete ihn, aufrecht im Bett figend, mit weit offenen Augen, voll Iebhafter Teilnahme. „Na, was hat's mit dem Tonerl? #’geht wohl zu End, mit dem armen Schaferl ? So reb’ doch nur ſchon!“ drängte fie den Gatten. Der zog fih um: ſtändlich mit dem Stiefelknecht die Schuhe aus. „Ja, Schneden! G’fund wird er. In vierzehn Tagen, drei Wochen fol ihn der Vater holen.” Die Lehrerin wurde ganz rot im Geficht vor Freude; die guten Blauaugen füllten fi mit Thränen. „Jeſſas na, Jeſſas na, die Gnaden, die Gnaden! Wenn das fei Mutterl d'erlebt hätt. O, du mein lieb's brav's Tonerl du, mie ih mi auf did freu!” ftammelte fie, ganz verwirrt und felig. „Was ſagt denn der Bater dazu?“ „Schimpfen thut er wie g’drudt, und ein Rauſch hat er fi ang’hängt. Achtzig Gulden fol er geben auf ein künftlih’3 Bein, und zu einem Schneiber in d'Lehr foll der Tonerl. Das ift aud nicht umafunft. Das fehlt ihm jetzt g’rab, wo er die Iſidor Theke heiraten will, die feinen lumpigen Kreuger hat, und er für alles felbft auffommen muß, von der Hochzeit ang’fangen. Nur reiche Leut' konnten ſich's erlauben einen Krüppel in der Familie groß zu ziehen. Ruhig fterben hätten's den Buben laſſen follen, dann wär' allen Teilen beſſer g'ſchehn, fagt der Webermeifter”, und fo ſprechend warf fih ber Lehrer ins Bett, daß es krachte. Ein bißl vom Rotter feinen Rauſch hatte auch er abbefommen.

Frauenfrage in Indien. 361

Bildung eines Charakters, der Seiftetrichtung if weit größer ald der aller Lehrer und des Vaters felbft. Die legen ſich erft ins Mittel, wenn das in ber erften Kindheit fo eindrudsfähige Gehirn bereits fein Gepräge erhalten hat. Der Menſch wird zwiefach vom Stempel der Mutter geaeihnet: im mütterlihen Schoß, an ber Mutter Bruft und die darauf folgenden Lebensjahre hindurch. Das ift enticheidend. Man beobachtet an dem Charakter bedeutender Männer, daß fie alle mehr oder meniger nach der Mutter arten. Wenn die Römer im Beſitz des ausgeſprochenſten Rechtsfinnes das größte Volt der Erde geweſen find, fo verdanken fie dad mit an erfter Stelle ber in ihren Gefegen gemwahrten Bee und Würde des Weibes: wie das Weib, fo die Familie, wie die Familie, jo das Volt.

Man müßte, um die Eriftenz einer Frauenfrage in Indien zu leugnen, gleichfalls die Beſtimmung de3 indifchen Volkes, früher oder fpäter der Segnungen ſittlicher Bildung, zu der das Chriftentum die Nachkommen des erfien Menſchen berufen hat, teilhaftig zu werden, verneinen. Dieſe Verneinung wäre fühn; fie widerſpräche den göttlichen Verheißungen; fie widerſpräche der einfachen Beobachtung von Thatſachen. Das indifche Volk iſt bilbungsfähig wie faum ein anderes. Von großer körperlicher Schönheit, ift es in fittlicher Hinficht bewunderungsmürdig begabt. Sein einziger Fehler ift ein Übermag an Sanftmut und Indolenz. Aber darin fteht es noch immer wie einft eher unter einem biftorifchen als einem natürlichen Verhängnis. Wohl kommt das Klima in Betracht, allein Indien umfaßt ſehr verfchiedene Regionen; die Haupt: urfache dieſes Mangels am Energie Liegt im Buddhismus. Das Kaftenfyftem Hatte bereits feinen Einfluß geübt; es hatte bis zu einem gewiſſen Grade dad Streben des Einzelnen nach Verbefferung feiner individuellen Stellung und damit das foziale Streben gelähmt. Die Philojophie des lebensmüden Schwärmerd aber, der den gegenwärtigen Buddhismus begründet hat, hat das nationale Temperament noch weit mehr beeinflußt. Man impft nicht ungeftraft ganzen Völkern den Geift ber Paflivität und ber Ent: fagung ein. Indien hat mehrere philofophiiche Syfteme gekannt; die einen waren atheiftifch, andere materialiftifch; die pantheiſtiſchen und idealiftiihen aber haben allein wahrhaft zum Geifte der Maſſen geſprochen und weite Verbreitung gefunden. Aller: dings erfaſſen, wie anderwärts, fo auch in Indien nur wenige dieſe Syſteme gründlich und werben ihnen in vollem Umfang gerecht, aber alle haben ſich einiges davon angeeignet. Sie haben daraus die Terminologie, den wenig praftifchen Geift, die verſchwommene, träumerifche Poefie übernommen. Der Verfaſſer einer in der „Duarterly Review” (Nr. 276) veröffentlichten Studie über die chriſtliche Miffion in Indien jagt, daß „jegliche Duelle, an der die Phantafie des Volkes ihren Durft ftillt, vergiftet iſt.“ Die Sehnfucht nach dem Nirwana ergreift von den Höhen der befchaulichen Philofophie eines Safjamuni herab den legten der Paria. Je mehr der Menfch leidet, um jo eher erfaßt ihn diefe Sehnjucht. Es ift der feeliiche Selbftmord des Verzweifelnden: ein langfamer, aber unabläffiger Selbftinord des Individuums, der Familie, der ganzen Geſellſchaft, ein Selbftmord, der ein defto ficherered Ende herbeiführt, ala dad allgemeine Elend zunimmt eine fpitematifche Überantwortung des Menfchen an den Tod, die ganzen Völkern die Fähigkeit nimmt, fih dagegen aufzulehnen,

Almählih den Einfluß des Buddhismus und des Islam hemmen, ift alfo die erfle Bedingung zum Forticritt für diefen durch feine ungeheure Ausdehnung Indien umfaßt ein Territorium, beinah ebenfo ausgedehnt wie dad Europas fein ehrwürbdiged Alter und den angebornen Adel feiner Bewohner in jeder Hinſicht fo intereffanten Teil der Erde. Nun will aber ein Geſetz der Moral, das zugleich ein hiſtoriſches Gefeg ift, daß eine Religion nur einer höher flehenden Religion weiche. Ungeachtet der feheinbar geringen Erfolge der chriftlichen Miffion in Indien wird das Chriſtentum auch dieſes Land geivinnen. Wenn es die ungeheuren Maflen, bie der Buddhismus ihm entgegenftellt, bisher nicht ftärker gepadt Hat, fo liegt das zum großen Teil an einem von feiner Kraft und feinem Einfluß unabhängigen Umftand.

Das ift die römische Politit Englands. Die Engländer haben für ihre Handels: politit das von den Römern in deren Eroberungapolitit gehandhabte Suftem adoptiert: Schonung der fremden Götter und Freiheit de Kultus der Befiegten. Sie find einft

Frauenftage in Indien. 363

die Unabhängigkeit der Jungfrauen. Auf der Wanderfchaft begegnet ihr Satiavan, der Sohn eineß geftürzten, blinden Könige, der tief verſtedt in einer Waldhütte lebt und fi dank der Sorgfalt feines frommen Sohnes von wilden Früchten nährt. In Satiavan erfennt Savitri mit höherem Scharffinn ein Beweis für die Achtung, in der die Frau ſtand troß des Köhlergewandes ben Adelsmenſchen und erflärt in zu ihrem Gemahl, mit der heitern Sicherheit einer Königin, die einen ihrer Unter: janen zu fich erhebt. Beweis genug, dab unter dem Gejeg de3 Manu bie Frau ihren Gatten vieleicht mit größerer Freiheit wählte, als es heutzutage in ben Ver— einigten Staaten Amerikas gefcieht. Der Savitri geleitende göttliche Bote verkündet ihr, daß Satiavan am Ende des Jahres fterben werde, ihre Mahl daher eine verhängnisvolle fei. Mit echt weiblicher Hingebung und der feelifchen Kraft ihres Geſchlechts erklärt ſich Sapitri bereit, nad einem Jahr des Glücks, des Glücks und der Hingebung, zu fterben. Es bebürfte feines weitern Beweiſes, als diejer Legende zur Klarlegung, daß zu Beginn der hiſtoriſchen Zeiten der Frau in Indien eine befondere Verehrung gezollt worden ift. ur

Auf welche Weife hatte ſich ihre Knechtſchaft noch vor der Unterjochung durch die Mufelmänner entwidelt? Die Gefchichte weift in diefer Hinficht eine Lüde auf. Warum haben die Brahmanen lange vor ber Lehre des Säfjamuni die Frau von dem Piedeftal, auf bad die Veda fie ftellten, geftürzt, warum fie für untein, folglich zur Erfüllung der Begräbnisceremonieen unfähig erflärt und ihr das Leſen des vom heiligen Manu, dem Mofes der Inder, verfaßten Geſetzbuchs unterfagt? Vielleicht hatten fie in ihrem fteten Grübeln in der Frau das geahnt, was das Chriflentum voll erkannt hat, die Befreierin des gefnechteten Menfchen, die „Königin der Propheten und Apoftel”, die „Thür des Himmels” und den „Morgenftern“, von denen die Schrift ſpricht und hatten, als Priefterfafte eiferfüchtig auf abfolute Herrſchaft und Unterbrüdung der übrigen Kaften bedacht, die Politik verfolgt, die Frau als ihre Feindin zu betrachten. Im Chriftentum, der eigentlichen Befreiungsreligion, ift der Frau eine aftive Rolle zuerteilt; im Brahmanentum, dem in religiöfer wie politifcher Hinficht außgefprochenften Unterbrüdungsfgften der Welt, ift ihr Einfluß mit Bebacht unterbunden. Gin ganzes Netz von Hinderniffen umftridt fie. Die Brahmanen haben dem Volk die auch den Griechen eigene Anfchauung eingeimpft, daß die Erfüllung der Funeralien für die Ruhe der Seele unerläßlih fei, daß fie um fo ehrenvoller Ha und um fo bebeutfamer fürd Jenſeits, wenn dieſe Pflicht von einem Sohne des Verftorbenen erfüllt würde. Da die Frau alfo Hierzu für unfähig gilt, wird die Geburt eined Mädchens bei ben Indern als ein Unglüd betrachtet. Der bis vor wenigen Jahren im weiteften Umfang geübte Kindermord hat ſich von jeher nur auf die Kinder weiblichen Geſchlechts erftredt. In entlegenen Diftrikten, in denen das religiöfe Vorurteil fi in feiner ganzen Macht erhalten hat, fegte man fie außerhalb der Dörfer den wilden Tieren zum Fraße aus. Ein Mann, der nur Töchter und feinen Sohn hatte, war befhämt darüber, denn in Indien ift auch noch die andere Anfchauung verbreitet, wohl dazu geeignet, die Leiden des armen Menſchengeſchlechts zu verfchlimmern: daß jegliches Unglüd verdient fei. Da nad der Lehre von ber Seelenwanderung bie Seelen nie aufhören in Leibern zu mohnen, fondern ewig aus einem in ben andern übergehen, nimmt man an, baß fie auf Erden ihr Purgatorium und ihre Hölle durch⸗ machen. Jegliche von Menſchen und Tieren erduldete Leiden find eine Sühne; giebt es in einer Familie keine Söhne, jo haben Vater oder Mutter in irgend einer früheren Exiſtenz diefe Schmach verdient. Freilich zieht man ed meift vor, die Schuld der Mutter zuzufchreiben, und das arme Geihöpf wird zum Gegenftande der Verachtung feiner Umgebung. Das gleiche Los wird ihr zu teil, wenn der Gatte frühzeitig firbt, beſonders, wenn er einen geachteten Namen Binterläßt. Eine von foldem Unglüd ereilte Frau muß es verdient haben, d. 5. ihre Seele ift in einer andern Eriftenz von einer Miſſethat befledt worden. So verhält es ſich deſto ficherer, je malellofer das gegenwärtige Leben der Frau ift. Da fie für die Gegenwart nichts

Frauenfrage in Indien. 365

j III.

Dieſe Verheißung ſcheint ſich zu erfüllen. Die indiſchen Frauen richten ſich auf, nit mit Stolz fie find insgeſamt demütig und beſcheiden wohl aber mit Mut und Vertrauen. Eine nach der andern heben fie in den höhern Ständen die Köpfe, wie von dem Regen niedergebeugte Ähren unter den Strahlen der Sonne. Es ift in der That ein feſſelndes Schaufpiel, wie diefe wenigen, zarten und tapfern Gejchöpfe ohne ſich der ihrem Geſchlecht gebührenden Beſcheidenheit zu entichlagen unter dem wohlwollenden Auge ber englifchen Frauen für die Befreiung ihrer Schweflern tämpfen. Vor etwa zehn Jahren brachte die „Duarterly Review“ eine Anzahl intimer, von Frauen der höheren Kalten an Engländerinnen gerichteter Briefe. Sie find durch⸗ aus charakteriftiich für die indiiche Sanftmut und jenes Verftändnis für fittliche Fragen, das die Frauengeftalten der alten Legenden des Landes hebt und abelt.

„Liebe Schwefter in England,“ fehreibt eine von ihnen, „ich twerde nie bie Ihrerſeits mir in meiner Verlaſſenheit ertviefene (Güte vergeffen. Als ich Ihren ſchönen Brief in die Hand nahm, habe ich von neuem meine Unkenntnis der engliſchen Sprache beflagt. Sie find in allen Dingen unterrichtet, und Ihr Wiffen erfhließt Ihnen die Schönheiten Ihrer Religion. Wir fehen fie nur unvolltommen, weil wir im Dunkel der Unmiffenheit feben. Der Vabu (ihr Mann) muß fie beffer verftchen ala ich. Ich danke Ihnen für die meinen Kindern erwiejene Teilnahme. Die inaben beſuchen bie Schule, meine Töchter lernen zu Haufe leſen Was joll id) von mir jagen? Meine geiftige Armut ift groß. Ach ieſe einige Bücher in bengalifcher Spradie, aber ohne Zufammenhang und Methode, weil id nicht gelernt Habe, zu fernen. Mein Yeben wird ein fruchtlofes geweſen fein, ich werde fein einziges nüßlidhes Wert dolibracht haben, denn man vermag nichts, iwenn man nicht8 gelernt hat.“

Ein PHilofoph würde faum richtiger denken.

„Teure Schwefter in England,” fehrieb eine andere, „wie gern möchte ich Ihnen engliſch ſchreiben können, was ich benfe! Vielleicht werde ich das nie können, denn ich habe niemand, ber es mich lehrt. Ich verſuche allein zu lernen, wohl wiffend, daß der beharrlichen Arbeit nichts unmöglid ift. Sie, Sie fhreiben vorzüglich dengaliſch. IA tann Ihnen nicht jagen, wie fehr mich die wahrhaftige Derzendgüte unb der Geiftesreichtum, die aus Ihrem Briefe fprechen, entzüdt haben. Sie fagen mit Recht: ‚Ein demütiged Gerz, das in Gott feinen Frieden jucht, ift allenthalben glüdtich. Nichts gleicht dem Glaa einer Seele, bie ſich rüdhaltlo® dem Herrn ergiebt.‘ 3 ift mir unbegreiflih, wie man in biefer Welt glüdtich fein tann ohne Gott, weil ich mein Vertrauen in unfern barmberzigen Vater gefeht habe, weil ich mich unter feinem Schuge fühle und mein Herz (Frieden hat. Kennen Sie die Worte einer unferer Symnen: ‚Du bift die Tuelle des Guten, und du breiteft e8 aus über bie Erbe. Wie follte mich die Buhunft ſchreaen·

Eine Chriſtin könnte ſich nicht Höher erheben. Aber vielleicht war die Frau, die fo ſchrieb, Chriflin. Wir laſſen nadyfolgend eine andere reden, die ed offenbar nicht ift, deren Gefühle und Gedanken deswegen feinen geringern Aufſchwung nehinen.

„Sie fragen mich, welches mein Leben fei? ch ftche um ſechs Uhr auf und verrichte meine Andacht; darauf wede ich meinen älteften, jehsjährigen Sohn und laſſe ihn ein von feinem Jater vor: gelchriebene® Gebet berfagen; «3 lautet: ‚Du Beichüger ber Schwachen, ich fühle deine Gegenwart. Bater der Menfchen, erhöre mein Gebet. Wenn alles, das da Icbet, in Schlaf gefunten, behütelt du es und bereiteft fein Erwachen. Du bift die Drüde der Yarmberzigteit, großer Gott! Tu haft mich biefe Nacht hindurch bewacht: alled, mas mein ift, will ich heute in deinem Dienft gebrauchen. Hilf mir, der ich Hein und ſchwach bin! Mad) joldem Gebet reitet mein ältefter Sohn aus und der jüngere, vier: ige, geht oder fährt in Begleitung eines Dienftboten. Unterded beforge ih die Küche und Leifte meiner Schwiegermutter Dienfte. Wenn die Bereitung der Mahlzeiten mir etwas Zeit übrig läßt, ſuche ih mic) aus den Büchern, bie mein Mann mir giebt, zu belehren. Sobald die Kinder Heimtehren, Iaffe id fie effen, worauf fie mit dem Bater in die Schule gehn. Dann beginne ih in einem Gemache unferes Hauſes den Unterricht ber Heinen Mädchen unferer Schule; ich darf zu biefem Zmed bad Haus nicht verlajfen, denn wir find Gefangene und bürfen weber auf bie Straße gehen, nod mit einem Wanne reden. Danach bereite ich die Abendmahlzeit. Erſt fpeifen meine Kinder, nad ihnen mein Mann, darauf feine Brüder, meine Schwiegermutter, meine Schwägerin und endlich ich jelbft.”

Ein folder Brief it ein Cittengemälde, Wir fehen Hier den frommen Sinn ber Buddhiſten, die mufelmännifche Gefangenfhaft der grauen, die brahmanifchen Vorurteile und den Zwang, die Mahlzeiten jelbft zu bereiten, damit die Speiſen nicht von Perfonen geringerer Kaften berührt werden, und endlich bie Dienftbarkeit der Gattin gegenüber der Familie, in die fie hineingeheiratet hat. Obgleich diefe Briefe aus Diöfretion anonym mitgeteilt und veröffentlicht worden find, errät man, daß es ſich in dieſer Lebenzfgilderung um die Familie eines Gliedes des Brahmo:Somai handelt, eines angeſehnen Mannes, der zugleich ein Freund der Bildung des Jahr:

Frauenfrage in Indien. 867

ein fehr junges Mädchen geheiratet, das aber geftorben war; nun fchidte er fich zu einem neuen Erziehungserperiment mit dem Meinen Mädchen an, dad er an den Ufern des Godavery gefunden hatte.

Der Widerftand feitens feiner Umgebung, der Frauen feiner Familie und haupt: fächlich feiner Mutter war aber fo groß, daß Ananta Shaftri, des vielen Widerſpruchs müde, endlich das Haus verließ. Kleine häusliche Widerwärtigfeiten machen großen Geiſtern das Leben unerträglich; der edle Mann ertrug fie nicht. Mit dem unpraftifchen Sinn des Gelehrten verließ er leider den Ort mit feiner jungen Frau, ohne fich felbft, noch ihr die Eriftenzmittel zu ſichern. Sie irrten im Lande umher und nährten ſich von wilden Früchten. An den Abhängen der Weftghat fchnitt Ananta, nahe ber Duelle eines heiligen Stromes, die Aſte eines Baumes ab, fchlug eine Laubhütte auf und begann in ber nur vom Lachen ber Hyane und der Stimme des Tigers belebten Einſamkeit das Kind feinem Plane gemäß zu unterrichten.

Bon den zwei Töchtern, die ihm in ber Folge geboren wurden, verheiratete Ananta Shaftri die ältere im zarten Kindesalter mit einem wenig Altern Knaben, feinem Syftem getreu unter der Bedingung, daß ber Findliche Ehemann bei ihm wohnen und von ihm erzogen werben follte. Doc Menfchen feines Schlages jehen nicht weit voraus. Ananta hatte außer Acht gelafien, daß nach den Geſetzen des Landes die Frau in dad Haus des Mannes übergehen muß. Die Bedingung wurde nicht innegehalten; die Familie des Ehemanns ftrengte einen Prozeß an und gewann ihn. Des Gelehrten Pläne wurden nady diefer Richtung hin vereitelt.

Es blieb ihm feine zweite, im Jahre 1858 geborne Tochter Ramabai. Yon einer gebildeten Mutter und einem Vater, der feine ganze Hoffnung auf fie fegte, erzogen, zeigte fie eine bewunderungsmwürbige Begabung. Nie find Zuverficht und Streben in würdigerer Weife belohnt worden. Mit neun Jahren Fannte fie das Sanskrit, wie die lebende indifche, außerdem die englifche Sprache, die Gefchichte des Drient3 und Decidents, bie religidfen Dichtungen und vieled andre. Dabei war ihr Charakter ihrem Geifte benbürtig,

Indeſſen kehrte mit dem Erfolg auch dad Elend in die Laubhütte ein. Seit Ananta jein Heim verlaffen Hatte, war er zwar arm geweſen, hatte aber durch Urbar= madung unbebauten Lande im Gebirge von feiner Hände Arbeit gelebt. ALS fein Ruf zahlreiche Pilger herbeilodte, denen er Gaftfreundfchaft zu ſchulden glaubte, kehrte der Mangel bei ihm ein. Außerdem erblindete er. Cr mar gezwungen, feinen Bufluchtsort aufzugeben und zog als wandernder Prediger und Katechet von Tempel zu Tempel, von Walfahrtsort zu Walfahrtsort. Unter ſolchen Bedingungen kann man, ohne fich deffen zu fchämen, von Almofen leben. Das liegt übrigens in den Sitten des Landes. So lebte Ananta in ehrbarem und frommem Wandel fieben daeg Ing, dann ftarb er unterwegs, und feine Frau folgte ipm wenige Tage nachher ins Grab.

Zu diefer Zeit war Ramabai 16 Jahre alt, als Inderin im vollen Alter der Reife. Sie hatte mit ihrem Vater die Liebe zur Wiſſenſchaft und die Neigung zum Lehren und Predigen gemein und trat in feine Fußſtapfen. Zum Unterrichten in den teligiöjen Wiſſenſchaften nicht berechtigt, lehrte fie die_profanen. Mit der Kenntnis ſamilicher, 30 Dialekte und Nebendialekte umfajenden Sprachen Indiens ausgeftattet, in der Geſchichte, Philoſophie und Soziologie bewandert, war fie für ihren Xehrberuf wohl vorbereitet. Durch Vorträge, die fie fpäterhin bis am ihr Lebensende fortfegte, ſchlug fie fich bis and Ziel ihrer Reife durd.

Diefes Ziel war Calcutta. Hier war ihr der Ruf einer außergemöhnlichen Frau vorangegangen. Die Panditen, die gelehrten Männer der Stadt, trauten ihr nicht und forderten fie auf, vor ihnen zu erfcheinen. Freudig unterwarf fie ſich einem Eramen, das ihr den Ehrentitel Saraswati eintrug.

In Calcutta lernte fie einen rechtichaffnen Mann fennen, den das Renommee einer unabhängigen Frau nicht abſchredte. Vihari Mebhavi war als gebildeter Bengalefe einer jener in Indien gegenwärtig zahlreichen Männer, die, ohne zum Chriftentum übergetreten zu fein, teilweife die Sitten desſelben angenommen haben

Frauenfrage in Indien. 368

Lehrerinnen aufnehmen und übertrug die beim Anjhauungsunterricht gebräuchlichen Bücher ind Indifche. Im Jahre 1889 kehrte fie in die Heimat zurüd.

Von nun an benügte Ramabai ihre Fähigfeiten, ihre Thatkraft, den Einfluß ber Freunde, die fie allenthalben gewonnen hatte, das durch Vorträge erivorbene Geld zur Gründung von Schulen für arme und verwaiſte Mädchen. Eine ihr befonderd ans Herz gewachſene Stiftung ift das Aſyl für junge Witwen der höheren Kaflen. Ähnliche Anftalten exiftierten bereits in Indien dank dem Eifer der Miſſionare und der engliſchen Mildthätigkeit, allein die Macht des religiöfen Vorurteils ift noch fo groß, va nur die Verlajlenften darin Aufnahme fuchen. Gehört ein Kind einer. Familie an, jo befürchtet man für dasfelbe den Religiongeifer der Miffionare und bauptächlich den Verluſt der Kaſte. So mande junge Witwe, von der Familie des Mannes bis zum Lebensüberdruß gepeinigt, zieht der Zuflucht in einem Haufe, das fie zur Paria macht, den Selbftmord vor. Ramabai überfah die Lage der Dinge beffer als fonft irgend jemand und wußte Rat. In dem von ihr gegründeten Heim widerfährt allen nationalen Sitten Gerechtigkeit; bei den Mahlzeiten find die Penfionärinnen nad) Kaſten geordnet, jede darf ſich felbft das Efjen bereiten, die Witwentrauer ift bei— behalten, und die Religion kommt gar nicht in Frage. Im Fluge hatte die Gründerin fih zu der religiöfen Toleranz der Neuzeit emporgefchtwungen. Auf einen Vorwurf feitend der Glaubengeiferer Hat fie durch den New-NYork Evangelift die kluge und weile Antwort gegeben:

„Ih bewundere das Werk der Miſſionare; diefe Bewunderung trübt mir jedoch nicht den Blick für die wahre Lage meiner Schweftern und die Ohnmacht der Miffionare, fie daraus zu befreien... . Allerdings legen wir in unferen Anftalten den Mädchen und Witwen, denen wir Aufnahme gewähren, nicht die Pflicht auf, den Glauben ihrer Väter abzuſchwören. Das wäre unferer Anficht nach weder techtichaffen noch politifch. Dagegen bieten wir ihnen die Möglichkeit, die chriftliche Religion kennen zu lernen und ermutigen fie dazu, wenn fie den Wunjch Außern, fie anzunehmen. Die chriftliche Litteratur findet in umferer Bibliothek ihren Plag neben der indifchen, und wir beabfigtigen, jeder unferer Schülerinnen ein Eremplar der Bibel zu fchenten.”

Die Frau, die jo ſprach, wollte, obgleich Ehriftin, felbft in allem eine Hindu bleiben. Sogar während ihres Aufenthalt3 in Europa hat fie den weißen Witwen: ſhawl beibehalten, fih jeden Morgen das Abzeichen ihres Standes auf die Stim gemalt, ſich felbft die Nahrung bereitet. Das hat zu ihrem großen Erfolg in ihrem Zande beigetragen. Sie wußte, daß eine einzige Hindu hier mehr wirken kann als taufend Fremde.

Die Pandita Ramabai Saraswati iſt nicht die einzige außergewöhnliche Frau Indiens der Gegenwart. Jene Anandibai Zofhee, die der Ramabai eine jo groß: mütige Gaftfreundichaft angeboten hatte, war eine Mahrattin von bewunderuͤngs⸗ würdigem Charakter. Die Mahratten find die einftigen Eroberer, der mächtigfte Volks: ftamm Indiens, die Jofhee, zur Zeit der Eroberung unter der Zahl der Häuptlinge, maren mächtige Befiger ungeheurer Ländereien geworden und bewohnten in Poona einen feenhaften Palaft.

In Indien kann man Dörfer und Paläfte bejigen, ohne deswegen befonders reich zu fein. Das war mit den Joſhee der Fall; mand einer von ihnen hatte bei der englifchen Regierung um irgend ein geringes Amt nachſuchen müſſen. Anandibai hatte in ihrer Kindheit einen Traum gehabt, in dem der Stammvater ihr verkündet hatte, fie allein würde den Glanz der Familie wieder herſtellen. In den Vereinigten Staaten bat fie ihren Stüßpunft gefucht, aber bauptfählih in der „National Association for supplying female medical aid to the women of India“ ihn gefunden. Leider war diefe Laufbahn ebenjo kurz mie verdienftvoll. Sie ftarb im Jahre 1887 im Alter von 22 Jahren, nachdem fie ſchon durch ihr Beifpiel viel für ihre Mitfchweftern gethan hatte.

Die Sorabji, Mutter und Töchter, find jo glücklich geweſen, noch mehr gethan zu haben. Nicht nur bildeten fie eine zahlreiche Familie, fie lebten und wirkten auch in der Präfidentfchaft Bombay, dem civilifierteften Teil Indiens, in dem von jeher

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Line Berliner „Unterkunft für hilfsbedürftige Wochnerinnen und deren Sänglinge“.

Kon

€. Pely.

Rachdruc verboten.

N die „glüdlichen Mütter” in ausfömmlichen Verhältniffen, wenn fie ſich an BR, dem Gedeihen ihrer rofigen Kinder freuen, ob die „geitrengen Hausfrauen“, BA tvenn fie ein Dienftmädchen fortichiden, das der Mutterfchaft entgegen fieht, fih wohl einmal fragen, was aus den armen Frauen und ihren Säuglingen wird, die neun Tage nach der Entbindung die Charit& oder die Univerfitäts-Frauen-Klinit verlafien müflen? Da fiehen zahllofe arme Gefchöpfe mit ihrem Kinde auf dem Arm buchftäblih auf der Straße, die Frage: Wohin? auf den Lippen.

Faſt nicht eine ift bis zulegt imftande gewefen zu arbeiten oder hat ein Obdach gefunden, für das fie nicht ihre Heinen Eriparniffe angreifen mußte. Körperlich ent fräftet durch alles, was vorangegangen, bedrüdt von der qualvollen Sorge, wo das Kind laffen, wenn die Friſt um ift, wo eine Stelle, eine Pflegefrau finden, was Wunder, wenn mand eine bad Unmilltonmene mit gehäfligen Bliden anfieht. Nur vereinzelte Fälle find es, in denen im Getriebe der Großftabt ein Vater ſich um die tümmert, deren Fehltritt ihr, nicht ihm angerechnet wird. Siechtum, Verlorengehn für’3 ganze Leben, wenn nicht gar „Mord“ bilden die Refultate diefer grengenlofen, Bei erbarmenden Verlaſſenheit. Eine Pilegefrau will Geld fehen, oder fihere Garantie haben, daß die Mutter eine Stellung antritt und abzahlen kann; felbft um im Afyl Obdach zu erhalten, find Formalitäten zu erfüllen, muß man fi) nad) den Sprech: ftunden de3 Armenlommifjar richten. Und da fteht mandes im Strudel und in ber Gemeinheit der Großftadt geftrauchelte Geihöpf mit ſchwachem Kopf und matten Körper für ſich felber hat es kaum den Lebensfampf führen können, num ift da ein neucd Leben, das mit wimmernden Tönen um fein Recht am Dafein fchreit.

Dies alles ſich Mar machen, beißt der Menfchheit größten Jammer verftehen. Und eine Vereinigung thatkräftiger Männer und Frauen bat das gethan, und fo entftand in der Vlumenſiraße eine „Unterkunft für hilfsbedürftige Wöchnerinnen und deren Säuglinge“, ein Verein, dem ſich fchon zahlreiche Mitglieder angeſchloſſen haben. Zwölf Vorftandsmitglieder, Herren und Damen, vertreten feine Intereffen. Vorſitzende ift Frau Bianca Israel, eine junge Mutter mit blühenden Kindern.

Die Fürforge gefchieht den Statuten entfprechend in der Weile, daß die bebürftigen Wöchnerinnen nebft ihren neugeborenen Kindern in die Unterkunftsftelle aufgenommen und dort während eines Zeitraums, der gewöhnlich zwei Wochen nicht überjteigen foll, verpflegt werden. Daß ferner während diefer Zeit alles gefchieht, was erforderlich ift, um den Wöchnerinnen ein fpätere® Fortkommen und die Sorge für ihre Neugeborenen zu erleichtern, insbeſondere Arbeitsvermittlung und Verhandlung mit etwa unter: ftügungspflichtigen Perfonen oder Kajjen, fowie mit Gerichten oder andern Behörden.

Natürlich Hat der Verein bejcheiden begonnen er befteht jeit Oftober 1899. Erft konnte nur fünf Perfonen mit ihren Kindern Unterkunft gegeben werden, dann ftieg die Zahl auf zwölf, und binnen Jahrezfrift fanden 145 junge Wöchnerinnen Aufnahme.

Helle, Iuftige Räume mit je ein paar Betten, zu deren Füßen die Kinderivagen ſtehn; prattiiche Möbel und Waſchtiſche, alles von Sauberkeit bligend; die „Couveuſen“ Pa at nicht und werden oft gebraucht. Sämtliche Unterünftlerinnen tragen die

austrachi.

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Chemikerinnen in der Zuderinduitric. Von Hildegard Jacobi. Raydrud verboten. Wie viele Frauenberufe ihre Eröffnung dem

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geräuicvollen (Vetriebe, ſondern in der Stille des

Umſtande danten, daß ſich feine männlichen Arbeitd- ,

teäfte mehr aur Verfügung ftellten, fo liegen auch der Befcäftigung von Frauen in der Zuderinduftrie ähnliche Verhältniſſe zu Grunde.

fhtwierig, „Chemiter zu erhalten. an der Thatjache, daß biefe Stellungen nur für die einige Monate währende, fogenannte Zuder: campagne dauern, und das Gehalt infolgebeifen nur 12—1500 Dart beträgt, dann aber auch daran, daß die Ausficht, von diejem Poften aufwärts zu einer Diretionäftelle zu rüden, äußerft gering ift. So waren bie meiften Zabriten in der üblen Lage, von einer Campagne zur anderen mit neuen Chemifern arbeiten zu müffen. Und jo beſchloſſen viele Direktoren, diejen Mißftänden abzuhelien und den Verſuch zu machen, weibliche Chemiterinnen an: zuſtellen. Sie folgten darin dem Beijpiele anderer großer Zuderfabriten bei Halle und Jena, bie ſchon feit Jahren ihre eigenen weiblichen Chemiterinnen aus⸗ ‚gebildet und dabei gute Erfahrungen gemacht hatten.

Tie Arbeiten würden folgende fein: Tas für die Fabritation des Zuders erforderliche Rohmaterial, Chemitalien, das

Waſſer :c. müffen im Yaboratorium genau auf ihre |

BVeftandteile unterfucht werden. Tann finden in der Gampage täglich mehrere Proben des Zuder: ſaftes in feinen einzelnen Stabien während des Preſſens ftatt, un ben Budergehalt genau feit: zuftellen. Da all dieſe Arbeiten im Paboratorium

meift unter Aufſicht des Direttors ausgeführt |

werben, fo kommt bie Chemiterin kaum mit dem übrigen Fabritperfonal in Berüh: Der Dienft

in einer derartigen Stellung |

Son feit einer : Reibe von Jahren ift es für die Zuderfabritation | Teils liegt das ;

beginnt in einer Zuderfabrit früh 7 Uhr ums

dauert mit Mittagspauſe dis Abends 7 Uhr. bald der Direktor fieht, daß die Unterfuchungen peinfih und exatt ausgeführt werden, ift die Stellung eine durchaus jelbftändige und hochſi angenehme, da alle Arbeiten nicht mitten im

So: -

Laboratoriums ausgeführt werden.

Mann die ausgebildete Chemiterin noch über taufmänniſche Renntniffe verfügen, fo kann fie um fo eber eine dauernde und gut bezahlte Stellung erhoffen. Größere Fabriten pilegen auch nur für die Zeit der Campagne Chemiterinnen anzuftellen; die felben beziehen ein Nonatögehalt von 100-150 Wart bei meift freier Wohnung, Licht und Heizung, haben alſo nur das veben zu beftreiten; dazu kommt nach erfolgter Gampagne noch eine Sratifitation von ca. 100-150 Mart. Was nun die Ausbildungdgelegen: heiten zu biejent Beruf betrifft, jo iſt im biefer geitfrift ſchon einmal erwähnt, daß im Yabora: toriun ber Berliner landwirtſchaftlichen Hochſchule bereits jeit einem Jahr ſechswöchentliche Kurfe für Frauen eröffnet worden find. Neuerdings ift die Hauptleitung diefer Kurfe in die Hand einer rau gelegt worden, welche ihre praftiichen Erfahrungen und theoretiſchen Kenntniffe in langjähriger Tpätig- teit al Chemiterin in einer Zuderfabrif erworben hat. Zugelaffen zu ben Kurſen werben rauen und Mädchen vom 19.—30. Lebensjahre. Als Eintrittöbebingung wird weiter ber erfolgreiche Beſuch einer höheren Maͤdchenſchulanſtalt oder fonft ber Nachweis einer guten Allgemeinbildung verlangt. Jedenfalls find tüchtige Vortenntniſſe im Rechnen und ſcharfe gefunde Augen zu dieſem Berufe er: forderlih. Die furze Dauer des Berliner Kurſus bat allerbingd in Bezug auf die Gründlichteit der Ausbildung und die an fo geringe Kenntniſſe gefnüpften Auöfichten ihre Bedenken. Um fo freubiger ift es zu begrüßen, daß jept der Verfud einer grünblicheren Borbilbung gemacht ift. In Dalle a./S. hat fih nun bie erjte Fachſchule für Chemiterinnen in der Zuderinduftrie unter der Leitung von Seren Dr. Georg Schneider auigethan, und zwar bildet fie ihre Schülerinnen in einem dreimonat- lichen Kurſus aus. Cs ift aud die Anficht der Sachverſtändigen, daß trog der Beſchränkung des (Gebiets mindeiten® cin viermonatlicher Kurfus dazu nebört, um ſich eimerieits die tbeoretifchen Fach: tenntnifje auf einem den meiften Frauen noch

374 Frauenleben

ziemlich fremden Gebiete zu verſchaffen, um andrer:

wandten Handhabungen beim Experimentieren im Laboratorium zu eriwerben.

Durch die vielfachen Beziehungen, die der Leiter der halliſchen Kurfe mit Zuderfabrikvirettoren bat, ift zu erhoffen, daß nach erfolgter Ausbildung jofort Anftellung in Ausſicht ftcht.

Der Lehrplan der Fachſchule ift folgender: Der

und Streben.

erfte Kurfud datiert vom 15. Januar bis zum '

15. Mai, der zweite foll Anfang April beginnen, ſich eine genügende Anzahl von Schülerinnen ndet Das Honorar ift im voraus zu entrichten und beträgt für den Kurfus 300 Mark (incl. Ntenfilien). Der Unterricht umfaßt:

1. Allgemeine Chemie.

II. Analytiſche Chemie.

Zuckerrübenbau, Gewinnung des Zuckers und Er— läuterung der chemiſchen Eigenſchaften desſelben.

IV. Phyg Einführung in die Grundlehren derſelben, Mechanik.

—— u u

-

feit3 die nötige Übung, die fichere Hand, die ge Maſchinenkunde und Kefjelanlagen.

VI. Buchführung, Kontorwiſſenſchaften und Verſicherungs geſetze (Fakultativ).

VII. Praktiſche Arbeiten im Laboratorium. Die für bie einzelnen Gegenftände angeſetzten Stunden verteilen ſich mie folgt:

1. Allgemeine Chemie . . . 45 2. Analytifche Chemie . 2 3. Zuderrübenbau, Gewinnung des Zuderd und Erläuterung der chemifchen Eigenjyaften des ſelben 4. Phyſik und Mechanik . 5. Maſchinenkunde und Keſſel⸗ Anlagen . . 2 6. Buchführung, Kontorwiffen: fchaften und Berficherung®: Gelege (Hakultativ). . . 4 7. Praktiſche Arbeiten im Zaboratoriun . .. 18

36 Std. wöchentlich.

Anmeldungen und Bitten um nähere Audfunft

find zu richten an Herrn Dr. G. Schneider, Halle (S.), Gr. Ulrichſtr. 51.

td. wöchentlich

-

Irauenleben und -Streben,

Nachdruck mit Duclienangabe erlaubt.

* Die befannte Auflage gegen Frl. Dr. med. Frauziska Tiburtind wegen Führung faljchen Titels, die ein Anonyınus bei der Staatsanwaltſchaft eingereicht hatte, bat, wie zu erwarten war, durd) ein freifprechendes Urteil ihre Erledigung gefunden. An die Blätter zur Bekämpfung bes Kurpfufcer: tumö, in denen |. 3. Herr Dr. med. Koßmann die weiblihen Arzte als Nurpfufcher bezeichnet hatte, fandte Frl. Dr. med. Tiburtius folgenden Brief, der am 1. März dort erfcheinen ſoll:

Berlin, 7. 11. 1901. Sehr geehrter Herr!

Am 28. Novenber vorigen Jahres batte ich mich auf eine anonyme Tenunziation bin vor dem Schöffengericht in Moabit zu verantworten, da, wie cs in der Anklageichrift Heißt „Durch die Bezeichnung Dr. med., bezw. Dr. med. der Univerſität Zürich“ fo ftcht auf meinem Straßenſchild „ber Glaube erweckt werten fönnte, ich fei eine geprüfte Medizinalperfon!” E83 erfolgte Freiſprechung. In dem mir vor einigen Tagen zugegangenen Urteil heißt es:

| | | | |

geführt. Ein anonymer Denunziant bat daran Anftoß genommen, und ift auf feine Anregung bin diefe Anklage erhoben.”

„Ferner befindet ih an dem Haufe der An- geklagten ein Straßenſchild mit der Aufſchrift: Franziska Tiburtius, Dr. med. der Univerſität

Zuürich.“

„Die Angeklagte iſt nun aber, wie ſie durch Vorlegung des betreffenden Diploms der Univerſität Zürich nachgewieſen bat, von dieſer zum Doktor der Medizin ernannt worden und daher auch

zweifellos zur Führung dieſes Doktortitels berechtigt.

„Die Angeklagte iſt im Adreßbuch für Berlin |

im Bande 1 als ‚Dr. med., für frauen und

Kinder‘, und ‚Krztinnen, in Deutfchland nicht approbiert‘ auf:

im Bande Il unter der Rubrik

Wan kann ihr daher nicht den Vorwurf machen, das fie ſich einen ihr nicht gebübrenden Titel ‚beigelegt‘ babe.“

„Ferner ift Sewicht darauf zu Icgen, daß fir unter dieſem Titel ca. 25 Jahre lang die ärztliche Praxis bierielbft unbeanftandet feiten® Polizei und (sericht ausgeübt bat.”

„Endlich ſagt auch das Adreßbuch, deſſen beibe Teile als cin organiſches Ganzes aufzufaffen ift, und deren einichlägige Angaben ftets nur auf Grund eigener Erklärungen der dort Aufgeführten gemacht werden, nichts anderes, ala mad wahre Thatſache ift. Und aus der Schild Aufichrift geht mit aller Deutlichteit bervor, daß die Angellagte wicht bie

Frauenleben

Abficht gehabt hat, das Publitum über ihre Nicht approbation in Deutichland zu täufchen. Im Adreh. tatender jteht ausbrüdli in Band IT über ihrem

Namen, daß ſie in Teutichland nicht approbiert iit, |

und berußt, wie erwähnt, dieſe Mitteilung auf eigener Angabe der Angellagten.”

„Dieje bat nach alledem nicht abſichtlich verſucht, das Publifum über ihre ärztliche Stellung in Deutichland zu täuſchen. Man fann aud nicht behaupten, daß fie hierbei etwa jahrläffig gehandelt habe, denn fie mußte mit den Normalmenicen,

d. $. dem Durchſchnittsmenſchen aus dem Publiftun | | erbenttich

rechnen, und folche willen ſehr wohl einen Unter: icbieb zwiſchen bier ftaatlich geprüften einerjeits, und im Auslande geprüften und hier nicht approbierten Medizinalperjonen zu machen, ferner zwifchen bloßen Doktoren und ſtaatlich geprüften Arzten.” Bezugnehmend auf einen in Ihrer geitſchrift am 1. Juli vorigen Jahres erſchienenen Aufſatz des Herrn Profeifor Dr. Koßmann, der die aleichen Antlagen gegen die weiblichen Ärzte enthält und fpegiel auch meine Angaben im Adreßbuch einer abfälligen Kritit unterzieht, erlaube ib mir, Ihnen diefe Mitteilungen zu machen, mit der Bitte, den Brief in extenso in Ihrer Zeitichrift zu ver: öffentlichen. Hochachtungevoll Franzista Tiburtius, Dr. med. d. Univ. Zürich

* Die Koftämfchneiderei nnd bie Gefahren der Hand: und Heimarbeit für Konfumenten und YWrbeiter behandelte ein Vortrag, den Herr Erich Stoboy am 14. Februar in einer Ver— ſammlung des Berliner Frauenvereins bielt. In ſachtundiger und ergreifenker Weiſe ſchildert er die Beſtrebungen der Koſtũmſchneider und -Schneide rinnen, den Verſuchen der Arbeitgeber entgegen quarbeiten, die auch für dieſe Branche die daus induftrie und Seimarbeit mehr und mehr einführen

wollen. Die verhältnismäßig günitigen Yohn: bedingungen, die die Arbeiter dieſes früher |

ſehr Hochftehenden Gewerbes ſich unter ſchweren Nämpfen zu wahren gefucht haben, jollen nun im Intereſſe des Arbeitgeberverbandes, Zpibe der Inhaber der detannten Firma V. Mann heimer, Herr Ferdinand Mannheimer, ſteht, dadurch vertürzt werden, daß bie Betriebswerkſtätten cin: geſchrantt und der Heimarbeit ein breiterer Raum gegeben werben foll. Die Folge dieſer Maßregel be deutet für die Arbeiterin neben dem geringeren Lohn unbegrenzte Arbeitszeit, ſchlechtere Arbeits

unb «Streben.

an deſſen

bedingungen und bie völige Unmöglichfeit, von den ;

Organifationdverfucien erreicht zu werben.

Für!

die Käuferinnen bedeutet aber die Herftellung der

Roftüme in der Wohnung der Arbeiterin eine ;

375

ichwere geſundheitliche Gefahr, werben doch zahl reiche Nranfheiten aus dem Heim ber Arbeiterin, das zugleich ihre Arbeireftätte, Schlaf und Kodhraum und der Aufenthalt ihrer inder ift, durch die dort angefertigten Aleibungs. ftüde auf deren Näuferinnen und ihre Familien übertragen! Der Aufforderung des Redners, die er im Namen der Koftümſchneider und »Schneide. rinnen Berlins, deren Gewerkichaft cr angebört, an die Verſammlung richtete, nicht bei den Firmen zu kaufen, die ſich an der Bewegung zur Einführung der Hausinduſirie beteiligen, folgte eine außer: Iebbafte Tistuffien. Zu ftarten Meinungsverſchiedenheiten führte die Frage, was die Regierung zur Befeitigung der Hausinduſtrie und Heimarbeit thun fönne, und in wieweit die Arbeiterinnen diefer Betriebsarten organifations fäig feien. Zr. Mellien, Dr. Wilbrandt, Frau Gnaud-Kübne, rl. Helene Lange, Frl. Vehm, Herr Möbius, Fr. Plothow, Frl. Salomon vrörterten die bisherigen ausländifchen Verſuche auf dieſem Gebiet, Gejehe zur Ein igräntung der Sausinduitrie, obligatoriſche Einigungsänter und dergl. Einige Rednerinnen ſprachen fich gegen die Einfhräntung der Sein: arbeit aus, um den Kindern bie Pflege der Mutter nicht zu entziehen. Bor andern wurbe dieſer Standpunft energiih befämpft, weil bei den traurigen Verhältnifſen in ber Hausinduſtrie von mütterlicher Pflege und Erziehung überhaupt nicht die Rede fein fann. Much der Heferent hob in ieinem Schlußwort hervor, wie für ihn die Er: zichung im Wailenhaus geradezu ein Segen ge wefen fei, im Vergleich zu den Verhältniffen, die er vorber im Haus jeiner Mutter, die ſich ale Heimarbeiterin durchzubringen verſuchte, lennen gelernt hatte. Dieſe ergreifenden Worte des Redners dürften auch ben Anhängern ber Heim— arbeit, die der Verſammlung beimohnten, mandes zu benfen geben. Cs wurde denn auch ein— ftinmmig von ber Verſammlung folgende Reiofution angenommen:

„Die am 14. Februar 1901 tagende Ver fammlung des Berliner Frauenvereino verpflichtet fi, nah Kräften dafür ein zutreten, daß innerhalb der Berliner Roftümfchneiderei Betriebswerkſtätten eingerichtet werden.“

Zur Ausführung des Beſchluſſes wurde eine Kommiifion gewählt, bie in Gemeinſchaft mit den Vertreter der Koſtümſchneider und -Schneiderinnen über Maßnahmen beraten fol, um nad) Art der ameritaniihen Ronjumentenvereine weiße viften ber empiehlenswerten Firmen in Verlin zu verbreiten. Auf diefe Weiſe wird

Frauenleben

der Wochenpflegerinnen mehr geichehen fol und den Ärzten empfohlen, darauf hinzumirten, daß die Hilfsthätigfeit der Hebammen in der Geburtäpilfe nicht eingeengt werde. Hebammen und Wachen: pilegerinnen follen nebeneinander wirken;

Art untergeordneter Hebammen aus ihnen zu

machen, die Verpflichtung zu einer ſtaatlichen Brüfung auferlegt werden. In der Winifterial verfügung heißt es:

„Die Hebamme ift vermöge ihrer Vorbildung und" prattifgen Crfahrung im Stande, ſaus der Arzt die Kreißende anderer Berufspflichten wegen vorübergehend verlaffen muß, gefabrbrohende Cr- eigniffe rechtzeitig zu erfennen und die oft erforder: lichen fojortigen Maßnahmen anzuordnen. Ihr Erjag dur die fogen. Erftwärterinnen tann als ein volgiltiger nad feiner Richtung gelten und birgt unter Amftänden eine Gefährdung ber

‚Kreißenden in ſich felbft wenn bie Pflegerin nebenbei |

auch etwas vom Geburtöverlaufe, wie der Entwurf vorfeplägt, gelernt haben folte. Die Arzte baben hiernach alle Veranlaffung, auf die Zuziebung von Hebammen bei den von ihnen geleiteten Geburten zu dringen unb das unberechtigte Vorurteil gegen die Hebammen in den Nreiien der Bevölkerung, welche nad; Angabe des ärztlichen Leſevereins zur Zeit von der Zugichung der Hebamme neben dem Arpte nichts wiſſen wollen, zu befämpfen. Eine BVeſſerung in biefer Beziehung ift neben der Auf; flärung des Rublitumd aud dann zu erhoffen, wenn ber ärztliche Yejeverein nad dem Borgange mehrerer ärztlichen Vereine im Regierungsbezirt Tüffeldorf feine Mitglieder verpflichten würde, die £eitung von Geburtöfällen ohne Zuziehung einer Hebamme fernerhin nicht mehr zu übernehmen. Der beklagenswerten Berdrängung der Hebammen aus den wohlhabenden Familien dürfte alddann bald ein Ziel gefegt fein und die Gebamme auch in jenen reifen wieder als bie fachtundige, be:

rufene Helferin angeſehen werden, wie fie es fonit |

überall und anfcdeinend biöher unbeftritten aud dort in ber minder wohlhabenden Bevöfterung ift.“ Die Hebung der fachlichen Ausbildung der Wochen pflegerinnen will der Minijter zur Sade der ‚Frauenvereine gemacht willen. Tie Ausbildung oli in geburtöhilflichen Anftalten und Wöchnerinnen: aſhlen erfolgen und zwei bis drei Monate dauern.

* Zür die größere Konfolidierung nnferer Gymnafialturfe iſt es ein gutes Zeichen, daß ſowohl in Berlin als in Stuttgart Penſionate ein gerichtet werden, in denen die Schülerinnen der Kurfe Unterkunft finden. An Berlin wird Fräu fein Lucie Hermann, die lange Jahre als vehrerin an den Kurfen thätig war, ein Penfionat errichten, das in erfter Linie für die Schülerinnen der Kurje beftimmt ift, aber auch andere ftubierende Tamen aufnimmt. Das Benfionat wird zu Oſtern d. J. in Berlin S.W., Großbeerenitr. Y, eröffnet werben. Um nähere Auskunft wolle man jih noch an bie

den : Wochenpflegerinnen ſoll aber nicht, um nicht eine |

und «Streben.

'

377

Empfehlungen durch befannte Berfönlichteiten inner halb und außerhalb des Kuratoriums ftehen dem Unternehmen zur Seite.

Zum gleichen Termin wird unter der Voraus fegung einer binreichenden Zahl von Anmeldungen Frau Anna von Gottberg in Stuttgart, Foltertftr. 39 11 (Spredhftunde von 0—I1 br Zorm.), ein Internat für die Schülerinnen bes dortigen Madchengymnaſiums eröffnen. Es find zu dieſem Ziel im Haufe des Gymnaſiums, Urbanjtr. 42, freundliche Räume in Ausficht geſtellt worden. Ter Plan dazu wurde noch mit der leider io früß verftorbenen bisherigen Leiterin der Kurfe, Frau Schwend:lrfüll, eingehend beſprochen. Ter Penſionopreis beträgt 900 Mark jährlich, doch ift ev. eine Ermäßigung nicht ausgeſchloſſen.

Betreffend die Zulaflung von Frauen an der Univerfität Strafburg iſt durch Erlaß bed Statthalterd vom 28. Januar genehmigt worden, daß folgende, vom Zenat der Univerfität unter

| dem 31. Nuli vorigen Jahres befchloffenen Be:

ſtimmungen in Kraft treten:

„Unbefjabet des Rechtes jedes einzelnen Dozenten, rauen zu feinen Vorleſungen zuzulaſſen oder abzuweiſen, können rauen, die entweder an einem beutffen Oymmafium oder Realgymnafium oder einer deutfchen Oberrealſchule bie Reifeprüfung beftanden oder, foweit «8 ſich um Borlefungen innerhalb der philoſophiſchen und der matkemmatifhen und naturwijſenſchaftlichen Fakultät handelt, bie vehrbefäbigung für eine beutiche höhere Mädchen: ſchule erwerben haben, durch den Reftor Hofpitanten: büder zum An: und Mbmelden ber Vorlefungen, fotwie beim Abgang amtliche veſcheinigungen über die gehörten Porlefungen erhalt Durch diefe neuen Veſtimmungen bleibt das bißher ſchon geübte erfahren in der Hauptſache unverändert: Jeder einzelne Togent kann nad völlig freiem Ermefien Frauen zu feinen Porlefungen zulaſſen oder es ihnen allgemein oder im einzelnen falle vermehren. Dagegen find jetzt thatſächlich zwei verfchiedene Kategorien von Holpitantinnen geſchaffen, je nachdem die zugelaijenen ‚rauen den männlichen Stubenten gegenüber gleichtvertige orbildung befigen ober nicht; für die erfteren bedeutet die Erteilung von Hofpitantenbühern und von beionderen Be: ſcheinigungen über die gehörten Borlefungen eine ben immatritulierten Studenten ähnliche Stellung. Daß ihnen damit gleichzeitig auch für fpäterhin, wenn fie fih um Zulailung zu ben betreffenden itaatlihen oder alabemiichen Prüfungen bewerben wollen, der Nachtweis über die bier zugebrachte

| Ztubiengeit jehr weientlich erleichtert und vereinfacht

iehige Adreſſe von Fräulein Hermann, Berlin W., ,

Blumenthalftr. 18 III, wenden. --

beiten .

wird, wird zweifellos von den beteiligten Tamen ſehr dantbar empfunden werden.

+ Die Abteilung Frankfurt a. M. des Bereins Frrauenbildung Frauenftudium veranftaltete in (emeinfhaft mit der Trtögruppe ded Allgemeinen Teutihen Frauenvereind und dem Verein der Yehrerinnen und Erzieherinnen am 14. Januar einen

Bucherſchau.

Vorſtellungen und verlangten volftändigen Erjag für ihre Auslagen und Verfäumniffe, wogegen fie von allem anderen Abftand nehmen wollten. die Verdingerin ſich weigerte, irgendwelche Ent: ſchadigung zu bezahlen, wenbeten fi die Ge: Ichädigten an einen hiefigen Rechtsanwalt, um die Entſchadigungsklagen gegen bie Berbingerin an- zuſtrengen. Zu gleicher Zeit bat bie königliche Staatdanwaltipaft die Unterfuchungäverpandlungen gegen die Berdingerin anfgenommen, da begründeter Verdacht befteht, daß dieſe Frau von der Art ber Stellenvermittelung in Belgien Nenntnis gchabt und bereit8 früher bortbin Mädchen verbungen hat.

* Helen Zimmern, die durch ihre gründlichen Arbeiten auf dem Gebiet der Kunftlitteratur be: dannte Schriftftellerin, wirft auch durch Vorträge über die Ergebnifte ihrer Forſchungen an ben be: rüßmten Aunftftätten Ztaliend. NIS fie im derbft 1887 querft in Floren,, ihrem langjährigen Wohn: ort, mit ihren im englijcher Sprace gehaltenen und vermittelft Laterna Magica erläuterten „Lectures“ Bervortrat, fiherten ihre gebiegenen, birelt aus italieniihen Duellen gefammelten Kennt: niffe und ihre lebhafte, geiftvolle Vortragsweiſe ihr von vornherein den Grfolg. "Nach diefem er: genden Anfang erhielt fie aus funftfinnigen Kreifen Englands mehrfach bie Aufforderung, auch

Ta

379

dort über altflorentinifdhe Nunft zu ſprechen, ein Ruf, dent fie fhon einige Mal folge leiftete. So hielt fie erft jüngft in London am Ning's College einen Cytlus von ſechs Vorlefungen, der zur Zeit in Florenz unter dem Protektorat bes britifhen Gejandten Yord Currie und fine hai mablin von ihr wiederholt wird. R. T.

Totenſchau. In Stuttgart ftarb die jugend- liche Yeiterin des dortigen Mädchenghmnaſiums, Frau Gertrud Schwend, geb. Baroneſſe Urkül: Gpllenband, lic. &s lettres. Die Begründung der jungen Anftalt ift ihr zu banten, und in ihren

Handen lag feit den zwei Jahren des Beſtehens

die Leitung ſowohl als eine große Anzahl von Stunden. Seit dem Herbſt 1900 leitete fie außer: dem die Abteilung Stuttgart bes Bereind Frauen. Bildung: Frauenflubium, bie fie ins Yeben gerufen hatte. Die Frauenſache verliert in ihr eine be. gabte und begeifterte Vertreterin, die in der kurzen zeit ihre Schaffens fo zahlreiche Beweife ihrer Nraft und ihres Wollend gegeben, daß wir mit ihrem Tode die Jerftörung fo mancher froben Hoffnung für die Zufunft beilagen.

Bücherſchau.

„Zwiſchen zwei Welten“ von ©. Breltwig. '

Eine Weltanihauung im dramatiſchen Bilde. Fünf Akte. Freiburg i.Br. Friedrich Ernft Fehfenfeld 1401. Wie in Gertrub Breliwig erftem Drama „Übipus“, fo tämpfen auch Bier nicht eigentlich vien ſchen von Fleiſch und Blut, fondern die Geiſier in der Luft Sie tämpfen aud) nicht eigentlich über dem Schlacht: felbe, das die Dichterin zum Schauplag ber Handlung macht: Byzanz zur Zeit des untergehenben Griedentumd und ber werdenden Sirde, fie tämpfen ben Kampf bes neungebuten, deö zwanzigſten Jahrhunderts. Un der Schwelle des neuen Jahr:

Bunberts, dem die Dichtung ais Frühlingeweigegruß |

dargebradht ift, Barrt eine Frage der Yöfung: Ob Menfchentvefen fi) heiligt und vollendet in ftolgem, reinem, frohem (enieen, oder im Entſagen und Bergichten, in Selbftzucht unb Selbftbeihräntung und Selbftverneinung. Kann der unſer eigeniter Sott fein, den wir nur erreichen können, wenn wir uns felbft ertöten? Sollen wir Schönbeit

fuchen, ober giebt es etwas Höheres, dem alles, auch fie felbft, geopfert werden muß? In vornehmem Glanz fteht an der Schwelle des neuen Jahrhunderts, mas am Anfang des vergangenen als verächtlich icht

empfunden wurde, das Hecht ber Sinne. Rerii leiften, two man nehmen koͤnnte, ift es feige? cs groß?

Tiefe Fragen projiziert die Digpterin auf einen biftorifchen Hintergrund. Sie findet zu ihrer Ver: Törperung die Geftalt des Apoftata. Diele Geitalt hehe *8 als eine hiſtoriſche in zu ſcharfen da, ais dak man an ihr das Problem und hıng durchführen könnte. So wird fie ftilifiert zu Heliodor, „dem legten Jüngling, den die müben Götter ſchufen, um an ichmerzlich jhönem Unter:

"ber Kirche

gang ſich zu meiden.” Heliodor hat auß ber reinen Schönheit der Antite feines eigenen reinen Weſens Deutung gelefen, und entrüftet wendet er fi von „deren matter Blid vor des natürlichen Menſchendafeins glanzvoller Reinheit mißtrauiſch erfohridt.” Zur heiligen Freude win er fein Wolt führen. Doch muß er einfchen, daß er auf feinem Wege, im der verborbenen Welt, die ihn umgiebt, feine guten, heiligen Nräfte zu weden vermag. Ten wahren Weg zeigt ihm Janthe, die Propbetin, die ihn im moftifhen Erlebnis gefunden: (ort wohni in der Welt! „Nur ſich hineinleben, hinein: lieben, tiefer, tiefer, mit ernfter Arbeit! Das Ich dahinien laffen! Denn dad Ich, das triecht burdı die lichten Räume und fpäht nach Nahrung und Nugen, und fieht nur, was nah vor Augen und feufzt des Jammerthald.” Und noch tiefere Wahrheit fündet fie ihm, eine Wahrheit, die nicht in Worte zu fallen, fondern nur im Erleben ergriffen werden tann: „im Blühen, Welten und Auferfteben

feiert der fchaffende Gott der Melt felig das Fei

des ewigen Lebens.” Zu dieſem Erleben führt ihn fein Geihid. Der Fanatismus der an ohnmächtige Worte gefejlelten Briefter, die Stumpfheit und Kobeit des Voltes läßt ihm nur einen Weg, fein „Heiligtum heilig zu bewahren,“ den Tod. nd fo lernt er das (Scheimnis des Kreuzes verftehen, fo wird er ein Chrift, ein Jünger des Finſteren von Nazareth, den er gehaht hat.

Ta® Theoretiiche in dem „dramatifhen Bilde“ bleibt wie im Edipus wieder auf halbem Wehe in die Wirklichkeit fteden. Und das ift verhängnis- voller ald dort, denn nun beſteht ein fortbauernder ftörender Wideriprudh wiichen deutlichen hüiteriicpen Angaben und einem Milieu, das im übrigen unter

880

die Bedingungen ded: „In alten Zeiten lebte einft ein König u. |. w.” geftellt ift. Ind wie im Odipus, nody mehr ala im Odipus, fehlt jebe indivibuelle Charalteriftif, ein Mangel, über den man allerdings zeitweife hinwegkommt durch die fehr Lebendige Führung des Dialogs.

„Freigeboren.“ Roman von Friedrich Spiel: bagen. (Leipzig 1901, Verlag von 2. Staadmann). Spielbagend neuer Roman iſt in einer Beziehung dag befte Buch, das er je gefchrieben: es ift inner: licher als Die lange Reihe feiner früheren Schöpfungen auf dem Gebiet der Erzählungstunft. Alles Roman— hafte, alles derb Handlungsmäßige ift abgeftreift. Schlicht und dabei folgerichtig giebt fich die Ent: widlung eined® Menfchen, einer Frau. ALS junges Mädchen ſchon ift fie ein ganz felbftändiger Charakter. Alles Phraſenhafte, Angelernte, UÜbernommene ift ihr zumider. Sie denkt ſelbſt; mit eigenen Augen jiebt fie die Welt an; fie ſcheut ſich nicht, Dinge zu thun, die nach der Leute Meinung für Mädchen unftatthaft find. Früh verwaift, ift fie fich felber Richterin. Sie bewahrt das Bemwußtiein, richtig gehandelt zu haben, auch als einer ihrer Lehrer, in deſſen Haus ſie Iebte, fich das Leben nimmt, da fie feine Yiebe nicht erwidert. Sie nimmt eine Stellung ald Gefellichafterin in einem jüdilchen Haufe an, Sie, die zzreigeborene, die Adlige. Und dann will es ihr Schidfal, daß fie einem Mann der Phrafe als Gattin in fein Haus folgt. Die Ehe wird unglüdlich, ift e8 im Grunde. von Anfang an, und es iſt nur ein unbedeutend Mehr an Leiden, als fie erfährt, dag ihr Mann mit ihrer Schwägerin fie hintergeht. Auch fie jelbft bat ihren Herzens— roman inzwifchen erlebt. Cine Zeit lang täujcht fie fih über die Leere ihres Daſeins dadurch hinweg, daß fie eine glänzende, tonangebende Rolle in ber Berliner Geſellſchaft ſpielt. Doc hält das nicht vor. Wieder geftaltet fich ihr Leben ganz innerlich, und zu Feſtigkeit und Selbſttreue ringt fie fich durd. Wenn fie ſich nachher trotzdem das Leben nimmt, fo ift das fein Widerſpruch; dieſer Selbft: mord bedeutet nicht Flucht, jondern ein freiwilliges Sceiden aus Berbältnifien, die unerträglich ge: worden find. In Form eines Tagebuches ift ber Roman geichrieben. Vorzüglich tft auch die Zeichnung einiger Nebenperjonen, vor allem das alte Kommerzienratäpaar, bei dem fie ald Sefellfchafterin Stellung findet: jelten hat Spielhagen fo tief innerlich liebenswerte Geſtalten geſchaffen.

„Das Weiberdorf”. Roman von C. Viebig. 7. zontane u. Co. Berlin 1900. „Das Weiber: dorf” wird unter den fozialen Romanen der neueren Litteratur einen hervorragenden Rlag beanspruchen fönnen. Die Berfafferin führt in ein Eifeldorf, das feine Männer in die Snduftriebezirfe Rheinlands und Weftfalend entjendet, da der heimiſche Boden nicht Brot für alle bietet. Nur zweimal im Jahre kehren fie auf wenige Tage in die Heimat zu Frau und Kind zurüd. Und nun entwideln ſich auf dem ungejunden Boden dieſer Verbältniffe, einem Boden, der die Heiligung des Geſchlechtslebens zur Familiengemeinſchaft unmöglich macht, die niebrigften Inſtinkte zu alles beherrjchenten Mächten. Fraglos ift die Behandlung des Motive frag, an einzelnen Stellen mehr noch als dag, zweifellos tft fie auch einfeitig, die Menfchen des Romans find eben nichts als Gejchlechtöweien. Aber die Gejtaltungsfraft

Bücherfchau.

der Künftlerin giebt ben Geſchilderten das Giepräge erfchütternder Mahrbeit, und bie in dem Bud er- bobene Anklage gegen bie Gefellichaft, die ſolche Zuftände gezeitigt bat, rechtfertigt auch das von künſtleriſchem Standpunkt Anfechtbare bis zu einen gewiſſen Grade. Bis zu einen gewiffen Grade denn ftellt man dies Buch in bie Heihe der littera: rifchen Frauenproduktion unferer Tage, bedenkt man die Zahl von modernen Frauenbüchern, bie dies Broblem behandeln, jo Tann man fi des Eindruds nicht erwehren, daß man es hier mit einer gewiſſen Abfichtlichteit zu thun hat, bie vielleicht zu erklären, faum aber zu rechtfertigen und auf jeden Fall zu bedauern ift.

„Bergauf“. Gedichte von Eliſabeth Gnade. Dresden und Leipzig. Verlag von Karl Reißner, 1900. „Wurzeltief und mwurzelecht” find Clifabeth Gnades Gedichte, aber ihre Farben find matt, faft verfchwimmend, ihre Töne leife, faft einfürmig; ihre Schönheit zart und anſpruchslos. „Siegbaften Wiederhall zu erzwingen” find fte nicht gemacht, ed fehlt ihnen dad Clemtare, Starke, es fehlt ihnen an Intenſität und Lebensfülle. Der Ausdrud auch für tief und Iebendig Empfundened iſt ge: dämpft, die Gedichte erzählen vom Yeben, fie find nicht das Leben jelbft. Gedichte, deren Eigenart ſich fo wenig kräftig giebt, an jo feinen, leiſen Zügen nur faßbar iſt, follten nicht in fo umfang: reihen Sammlungen erjcheinen, fie wirken dann notwendig einförmig; es hätte eine Fritifchere Aus: wahl überhaupt dem wirklich Wertuollen in der Sammlung einen ftärferen Eindruck gefichert. Die Dichterin beherrſcht ſpielend die Form. Auch bier liegt die Schönheit mehr in Wohlklang, Weichheit. Biegfamkeit ald in Kraft und Eigenart. Aber eben in dieſer ihrer ftillen, faft müben Art find die Lieder perfönlihd wahr. Es gebt cine Sehnſucht hindurch, für deren Weſen eins der Lieder be ſonders charakterijtiich ift:

Mein Flüfchen, das vom Bergeshang Friſch und beberzt binunterfprang

Wie fchleihft du elend jegt und träg’ . Landeinwärts deinen ſand'gen Zen.

Man ſieht's dir an! Die Müp ift fchwer, Dein Daſein freut dich felbft nicht mehr. Tod börft du nicht den tiefen Ton

Tes großen Stromd von ferne ſchon? Nur kurze Friſt, und deinen Lauf,

Dein Leben ſaugt der Etarte auf,

„Gedichte von Frieda Jung. Königsberg. Verlag von Gräfe und Unzer. Es gcht ein er: friichender Hauch durch dieſe einfachen Lieder, ein Hauch wie von Wiefenblumen und tauigem Gras, Sie find die Melodie eines ſchlicht, Har und warın gelebten und erfaßten Lebens, eined Lebens, bas neben allem Leid, das feinen Grundton giebt, doch noch Raum bat für tiefes beicheidencd Glücklichſein und herzliches Genießen An Johanna Aınbrofius erinnern die Gedichte durch die Verwandtſchaft bes Lebenskreiſes, des Schidfald, dem fie angehören, durch die Schlichtheit de8 Empfindens und Tenfen?, die fie ausjprechen. Aber fie find das gilt be- ſonders von denen unter der Aufichrift „Liebe“ frifcher und Fraftvoller, es ift doch nicht alles ftille Reſignation, fondern man fühlt durch das Verzichten hierdurch das ungelebte Yeben ftarf und warm pulfieren, und da wo es noch ungebrochen zum Ausdruck fommt, ift der Ausdrud voll unb un: mittelbar.

Gouvernantenbriefe. 887

„Ex iſt für euch wohlwollend bis zur Zärtlichkeit. Voll des Lobes der techniſchen Künfte der modernen Austoren und -törinnen.“

„Ah pah das Techniſche!“ ſprach fie wegwerfend.

„Mir aber war,“ fuhr ich fort, „als läfe ich ein Referat über die Vorgänge in einem Spital bufterifcher Meerkatzen. Iſt denn noch etwas Menſchliches an all den Vopanzen, Falfüchtigen, Neurafthenifchen, die mir da vorgeführt werben in ihren ignoblen Gelüften? Ich bin eine alte Frau, wenn id) aber eine großartige Leidenschaft in ihrer vollen Kraft und Glorie dargeftellt ſehe, beuge ich mich und muß fie bewundern. Und ware fie für einen unheiligen Gegenftand entflammt in ihrem Feuer ift etwas Heiliged. Aus dem erbärmlichen Gloften, in den ihr euren Zundſtoff verfegt, quillt nur brenzliher Rauch und entwidelt tödliche Gafe, nicht Wärme und Licht.”

„Er entwidelt Piychologie”, entgegnete fie mit Überlegenheit. „Wir erweitern ihre Grenzen, indem wir alles barftellen, was da iſt.“

„In einer Richtung befonder8 der nieberften.”

„Was ift hoch, was ift nieder? Wir laffen gar feinen Rangunterſchied gelten, wiſſen beshalb nicht? mehr von Prüderie. So find wir, rufen wir ber Welt zu, nehmt und wie wir find oder laßt uns flehen.“

„Der Welt rufen Sie das zu der Männerwelt?”

„Meinetiwegen, der Männerwelt.“

„Die hat es jegt leicht. Diefe Herren werden beides thun: euch nehmen und ſtehen laſſen.“

„Auch recht. Ich bin für die freie Liebe.“

Da mußt ich auflachen. Sie ſaß vor mir, anmutig und jung, und aus ihren großen graublauen Augen ſah noch die im Innerſten von all dem ſchmutzigen Wiſſen, das über fie hingeflogen war, unberührte Seele.

Mein Lachen hatte fie beleidigt; fie ſprudelte ihren Unwillen Fräftig heraus. & wurde ein ernfter Kampf, den wir führten, wenn ich auch nicht den geringften Anlaß fand, perfönlich zu werden. Einem in die Stromfchnelle geratenen Weißfiſchchen nimmt man nicht übel, daß es von ihr mitgeriffen wird. Der Strömung aber bin ih von Herzen feind. Daß fie eine Naturerfheinung ift tie alles was ift verfößnt mich nicht mit ihr. Die Veit ift aud) eine Naturerſcheinung, und ic) kenne teinen, der fie in Schuß gegen ihre Belämpfer nimmt. Ich bin gewiß nicht die ein: zige, bie fie eben fo verderblich, troftlos und häßlich findet, wie die ſchwere Erkrankung des Schamgefühls in der Frau.

Als die Neophytin der neuen Richtung feinen andern Ausweg mehr fand, nahm fie fogar die Peft in Schug und behauptete, fie hätte ihr Guted. An meinen Ans ſchauungen Hingegen ließ fie feinen guten Faden, erklärte mir zulegt ihren unauß- Töfchlichen Haß und verließ mich mit einem Lebewohl für immer.

Ich aber rief ihr voll heiterer Zuverficht nad: „Auf Wiederfehen!”

Marie von Ebner-Eſchenbach. ISRLELNT Aa a

25*

Ellen Key. 889

neueren, religiöß vergeiftigten Individualismus iſt. Darum mußte ih mit ihm bie Schilderung einer fchriftftellerifchen Perjönlichkeit, wie Ellen Key beginnen, die Kierlegaard fo fern wie möglich fteht. Ausgenommen in einem Punkt! In dem Glauben an die große Bedeutung und den unendlichen Wert des Einzelnen. Alles kann in dieſer Welt erfegt werben, nur bie wirkliche Perfönlichkeit nicht, eine Seele, in der daß Bild Gottes in unbefledter Reinheit und unüberwindlicher Kraft ftrahlt. Nur die allein hat dad Recht, Individuum genannt zu werden, d. h. ein Individuum, dad niemals vorher eriftiert hat und niemals wiederkehrt. Diefer Glaube an das Individuum ift Ellen Keys Religion, Philofophie und Politik.

u.

Ellen Karolina Sofie Key it den 11. Dezember 1849 auf Sundöholm in Smaaland geboren. Ihr Water ift der bekannte, freifinnige Politiler und Gelehrte E. A. U. Key, Rektor des Karolinſchen Ynftituts in Stodholm. Bis Ellen Key im Jahre 1895 den polemifchen Vortrag „Mißbrauchte Frauenkraft“ und bie Schrift Raturgemäßes Arbeitsgebiet der Frau“ herausgab, war fie hauptfächlid als mutige und emergifche Vorkampferin der radikalen Frauenemancipation bekannt. Diele Nichtung wurde ja vornehmlich durch den politifchen Intereſſenkampf hervorgerufen und zielte zuerft und vor allem darauf bin, der Frau Macht im Staate zu fichern. Außerdem ift fie unlöslich mit der Politit verknüpft, die wir jegt Alt:Liberaliamus nennen, das will fagen, fie frankte an einer beichränften und kleinlichen Auffafung des täglichen Lebens, dem mir alle unteriworfen find, und einem einfeitigen, pedantiſchen Streben nah bloßem formalen Recht. Wie übrigens die Reaktion der abftraften Sreipeiteichmärmere gegenüber die Naturfeite des Menfchen und die unveränderlichen

eſetze für alles Lebende betont hat, that fie es auch binfichtlich der Frauenfrage. Mit unmiderlegbarem Recht wurde hervorgehoben, daß die Wutterfchaft, für die Frau und das ganze menjchliche Gefellichaftsichen das Entfcheidenfte, die erfte und oft einzige Aufgabe fein müfle und darum heiliger fei, als alle Freiheitsbeftrebungen, die Neformatoren und Moraliften als Ideale aufftellen können. Im Grunde war es aud eine ſolche rein menfchliche Emancipation oder befier religiöfe Befreiung vom Weiblichen, die den Kern in Camilla Collet3 Frauenrechtäfampf bildete.

Nach diefer Richtung Hin hat auch Ellen Key in den legten Jahren die mannig⸗ faltigen Fragen in Betreff der Etellung der Frau in ber Geſellſchaft, ſowie der Frauenpſychologie behandelt.

Bezeichnend für Ellen Keys befondere, individuelle Auffaflung if, daß fie ihre Anfihten in Iebensvollen Bildern, als biographiiche Charaktericilderungen eigenartige, hervorragender Frauen dargelegt hat. Eine ihrer erften Arbeiten biejer Art war der feine, verfländnisvole Eſſay über E. Ahlgren!), dem das Buch über Anne Charlotte Leftler, mit den darin enthaltenen intereffanten Mitteilungen über Sonja Kowalewsky folgte. Diefe Charalteriftiten find Lebensbilder im wahrften Sinn des Worted. Was Ellen Key ins volle Licht zu rüden fucht, ift das Menſchliche; die fitterarifche und Lünftlerifche Eigenart des Gegenftandes interejfiert fie nur als Mittel zum Verftändnis des Menichen. Für fie hat die Kunft vor allem als vornehmfter Anlaß zum Seelenftudium Wert.

Erſt in den legten biographiſchen Eſſayhs ift es ihr ganz geglüdt, die Inappe, prägnante, der Seelenmalerei allein angemefjene Form zu finden. Ich erwähne unter diefen die enthufiaftiiche Charakteriftit von C. 3. L. Almquift, den Ellen Key für Schwebens mobernften Dichter hält, wie das meifterhafte Kapitel in den „Gedanken⸗ bildern” Evolution der Seele, (Deutiche Ausgabe: Eſſays von Ellen Key. Berlin, ©. Fiſcher, Verlag) mit den tiefen, innerlihen Schilderungen von Vauvenargues, Amiel, Maeterlind und Richard Jefferies und in ihrem legten Werk die befeelten, hoch pathetifchen Stimmungsbilder aus dem Leben des Dichterpaars Browning und des Olympiers Goethe.

’) Zn deutſcher Überfegung erſchienen in der „grau“, 7. Jahrgang Heft 11 und 12.

Ellen Keh. 391

errungen haben, darf man hoffen, daß fie bie Welt ein wenig befjer und weiter machen werben, als fie es jegt ift.

Erft dur die im Jahre 1898 herausgegebenen „Gedankenbilder“ war Ellen Keys Ruf als Schriftitellerin durchgedrungen. Sie offenbart fih darin ganz als bie kluge, bochgebilbete, feurige Perfönlichfeit, die fie it, als die glaubenäfreudige, tiefe, innerlich begeifterte Kulturmiflionarin des Nordens. Diefe Gedantenbilder tönnen nur mit gewiffen feltenen Büchern der neueren europäifchen Litteratur ver: glichen werden, ich denke an fo unzünftige, unmethodifche, aphoriftifche Bücher wie Rembrandt als Erzieher, Vernon Lee's Dialoge, Paul de Lagardes Deutſche Schriften oder einzelne von Ruskins myſtiſch betitelten moralifchen Phantafien. Es find leicht bingemworfene, freie, ftimmungbefeelte Reflexionen, über denen noch die ganze Friſche des erſten Augenblids Liegt, aber immer fünftlerifh ausgeftaltet. Da ift nicht feierlich die Rebe von Philofophie, diefe ehriwürdige Weisheitöquelle fpendet uns heutzutage nicht allzu viel Geift, fondern von einfachem, natürlich menſchlichem Denken, defjen einzig. ſicheres Beweismitiel individuelles Fühlen und perfönliches Erfaſſen iſt. Das Anziehendfte diefer Aphorismen ift eine eigne Anmut, eine echt weibliche Anmut. Jede Seite, jedes Wort offenbart die reine Naivetät, die tiefe, rüdhaltloje Einfachheit, die man nur bei Menfchen findet, die fich ihr ganzes Leben hindurch ben reinen, uns berührten, empfänglichen Jugendfinn bewahrt haben. Nur die allein haben den Mut, fih unbeirrt von Spott und Zweifel den fehwierigften Fragen hinzugeben, und feiner vermag wie fie andern von ihrem Mute mitzuteilen. Diele werden darin einig mit mir fein, daß Ellen Key dieſe Kunſt bis zur Volllommenheit befigt. Mutgeberin wäre die rechte Bezeichnung für fie.

Wer Ellen Key kennen lernen will, follte fich ausfchließlih mit den beiden Bänden „Gedankenbilder“ befchäftigen. Sie enthalten alles, was fie über Menfchen und menſchliche Ideale der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gedacht, empfunden und geträumt hat. Und keins ihrer übrigen Werke zeigt einen Behr, geiſtvollen Stil. Obwohl die verſchiedenen Effays, die den Inhalt des Buches bilden, als eine hohe, aber ganz unmethobifche Reflexionskunſt charafterijiert werden fönnten, haben fie dennoch etwas ſyſtematiſch Abgeſchloſſenes. Es finden fi darin ſowohl Grundfteine zur Aftgetit, wie zur Geſellſchaftslehre und Moral. Und im Zufammengang geiehen, offenbaren fie eine Weltanfhauung von vagem, religidfem Charakter. Vage, weil fie abftraft und nur in einzelnen Grundlinien angedeutet find, ber Glaube, de: dem Ganzen zu Grunde liegt, ift fe und Har.

V.

Religion iſt nach Ellen Keys Definition „alles was unſer Herz weiten und er— heben kann“. Es will jagen, daß ſie überall die pofitiven Werte zu finden und den Menfchen zugänglich zu machen fucht. Die Lehre von göttlichen Dingen, von einem ewigen, feligen, überirdiſchen Dafein wird zur bildlichen Umschreibung für die Sehn: fuht und den Willen zu einem reineren, höheren, reicheren Leben. Sie führt oft Spinozas Gedanken an, daß Freude und Luft Vollkommenheit bedeuten; fie verleihen unferm Geift ftärfere Macht und Kraft und vermehren unfere Glücksmöglichkeiten. Und Glüd ift, wieder nad) Spinoza, Volltommenheit. Der freie Menich fol ftark fein und Hug, damit er feine Beftimmung erfüllen kann: im Lebenskampf immer zu fiegen. Der freie Menfch beichäftigt ſich mit nichts weniger, als mit dem Tode, feine Weisheit befteht darin, an das Leben zu denken und den Tod zu vergeſſen.

Diefer Gedanfe Spinozas ift der Kern des tiefften Weltbegriffs der neueren Zeit, der Goetheichen Dichtung. Goethe war ja der große Heide. Aber wiewohl Spinozas Philofophie einen entſchieden naturaliſtiſchen Charakter trägt und infofern eine Erneuerung der idealen Werte antiker Kultur bedeutet, enthält fie ebenfo aus:

jeprägte chriftliche Elemente. Der große Denker felbft lebte wie ein Asket, und feiner da tiefere und ſchönere Ausdrüde für die Hoheit und Herrlichkeit des frommen, nad) innen gefehrten Lebens, jene® amor dei intellectualis gefunden, deſſen treibende

Mitjta ber Ausreißer. 883

VI.

Sp ungefähr kann Ellen Keys Religion mit ihren eigenen Worten ausgedrückt werben. Ihr Himmel ift das kommende Reich der Gerechtigkeit. Deren einziges Myſterium die Heilige Frage: Wie ſollen wir neue Menfchen werden? Wo entipringen die neuen Lebenäquellen zu dem Babe der Wiedergeburt für den, der nod von einer Empörung des Menfcengeiftes träumt?

len Key hat viele Antivorten auf diefe Fragen gefunden. Das ganze, große Kapitel „Evolution der Seele” im zweiten Teil der Gedanfenbilder ift Betrachtungen und Phantafieen über diefe dunfelften Rätfel der Zukunft gewidmet. Ich weife haupt: ſachlich auf die ſchönen, geiftreichen Dialoge „Auf dem Jagdſchloß“ Hin, fie laſſen fih nicht wiedergeben, und kaum in umjere nüchterne Sprache überſetzen. Sie find fo gefchrieben „wie fpricht ein Geift zum andern Geifl”, und verwandte Seelen ein zelner inuſſen fie frei in fich aufnehmen.

Aber die befte Antwort auf alle Fragen über die neuen Menſchen und bie Zebendquellen der Zukunft hat Ellen Key gegeben, wo fie bie ihr feelenverwanbte, Heine Gemeinde im Norden fchildert. Ihre tieffte Eigentümlichkeit it, daß fie ſtets jung ift und imftande, Augenblide der Infpiration zu erleben, wo eine große Wahrheit, eine große Schönheit oder ein großes Glüd fie ganz erfüllen, wo Thränen ftrömen und Arme fi emporfireden, um dad Weltall zu umfaffen. In ſolchen Augenbliden haben wir das intenfiofte Gefühl unferer eigenen Perfönlichkeit und empfinden zugleich die volllommenfte Vereinigung mit all denen, die in der Welt um uns her leben und leiden.

Und wahrhaft groß ift nur ein Menfchenleben, das in tagtäglicher Arbeit die Stunden der Begeifterung zu einer leuchtenden Kette kräftiger Thaten fnüpfen kann. Edler Sinn blüht in guten Thaten. Und ein edler Sinn allein vermag das kommende

Reich der Gerechtigkeit zu gründen.

Me

Hitika der Husreißer. Aus dem Ruſſiſchen des FJalkowsky.

Nacbrud verboten.

‚nna Petrovna war mit ihrer Tochter auf dem Heimweg begriffen. Sie fam von einem Befuch beim „Batjufchla” (Pfarrer) zu⸗ -rüd, wo fie biß zehn Uhr gefefien hatte, da noch der junge Sandwirt Anbreev bazus gelommen war.

Es war dunkel und ſchmutzig. Der ein fpännige Wagen planfchte durch die tiefen Löcher des abfcheulichen Weges. Anna Petrovna kutſchierte felbft und blidte, fi weit hinab⸗ beugend, auf den Echmuß, der fi einförmig unter den Füßen des Pferdes hinzog, wobei fie haftig an den Zügeln riß, wenn eines ber Näder über einen von ihr unbemerkten Stein hinwegging oder bis zur Achſe in einer Pfüge verfant. Und ungeachtet des gräßlichen Weges,

mM. Swerd.

der Feuchtigkeit, des Dunkels und der Möglich: feit, jeden Augenblid aus dem hohen, engen Einfpänner in den Graben zu fliegen, gaben fi beide Frauen, an all dieſes gewöhnt, | völlig ihren abgerifjenen, bunten Gebanfen bin, die ihnen bie zehn Werft Iange Fahrt bis zu ihrem Haufe mefentli verkürzten.

Alles war ftil. Die Umriffe des Pierdes verſchwanden in der Finfternis; es ſchien, als ob ein Etwas ſich leblos, mechaniſch, einförmig vorwärts bewegte und die dunkle Nacht mit ſichtbarer Anſtrengung zerteilte, wie ein Dampfer das trübe Herbſtwaſſer durchſchneidet.

Man empfand den gemähten Klee im Felde, den ſchläfrigen Atem des reifenden Kornes oder den träumenden Fichtenwald, in dem die

Mitjla der Außreifer.

„Natürlich war er das!” unterbrach fie Anna Petrovna. „Und mie konnte ih auch nur feine dämliche Muſik verfennen?”

Die barfüßige Alte führte das Pferd mit Geãchze und Geftöhn fort und brachte es irgendwie zuſtande, feinen fchweißtriefenden Hals aus dem Geſchirr zu befreien.

Die Frauen traten in das Haus. Maſcha ging fogleih nach oben auf ihr Bimmer, ent Hleidete ſich haftig und halb im Schlaf und warf fi) aufs Bett, die Luft in vollen Zügen in ihre junge, lebensburftige Bruft einziehend; nad ein paar Minuten fchlief fie ſchon; um ihre halbgeöffneten, friſchen Lippen fpielte cin glüdlihes Läheln: fie träumte von einer bunten Kravatte, einem ſich Träufelnden Schnurr⸗ bart, dem fchmugigen Weg, dem Ausreißer Mitjka.

Anna Petrovna begab ſich ins Schlaf⸗ zimmer. Ihr Mann war ſchon zu Bett und ſchnarchte; auf feiner entblößten, haarigen Bruft lief ein Heiner ſchwarzer Kreis herum, wie eine Maus; es war der Schatten, den bie in der Ede jladernde Ampel warf; Anna Petrovna zog bie verſchobene Dede zurecht, entlleidete ſich, entfernte ſich aber mit einem Eeufzer vom Bett und feßte ſich auf das Sofa; fie hatte feine Luft zu fchlafen, fie war über: reizt, und trübe Gebanfen bemädtigten ſich ihrer. Seit dreißig Jahren trat fie jeden Abend in dieſe Schlafftube ein, fah fie diefe behaarte Bruft, hörte fie dieſes Schnarchen. Seit dreißig Jahren hatte fie beftändig diefen unleivlihen Abdrud eines galoppierenden General im Papprahmen vor Augen; der General galoppiert, galoppiert in einemfort und kann doch nicht einen halben Zollbreit vom Slede fommen.

Auch im Leben fommt man nie vom Flech! .. denkt Anna Petropna, voller Haß auf den General blidend.

Morgen früb, genau um vier Uhr, wird ihr Mann aufitehen; er wirt huften und fi ſchneuzen, danach wird er anfangen die Zünd⸗

bhölger zu ſuchen, er wird fchreien, daß man |

ihm ganze Schachteln voll unter der Naie wegſtiehlt: bie Zündhölzer werben fi jedoch unbedingt in feiner rechten Hofentafche vorfinden; dann wird er fein jtoppeliges, ſpitzes Kinn rafieren, ſich dabei ſchneiden und brüllen, daß

305

man ihm kaltes Waſſer gebracht habe, anftatt des heißen; darauf wird er über das Eſſen, über die Tochter, über ben Arbeiter, über ben Hund, über die Katzen und namentlich über fic, feine treue, duldende Gattin räfonnieren; und fie, die duldende Gattin, twird den ganzen Tag umberlaufen, hinter dem Mann ber, um ihm das ewig offene Hembe zuzufnöpfen, hinter ber Vichmagb, deren Haare ſtets in der Milch bherumfahren, hinter den Hühnern, bie die Eier verlegen, hinter Trefor, der die Entlein zu würgen liebt, hinter dem Vich, hinter ber halb» blöbfinnigen Alten, der Säuferin und Diebin, inter... .. ja, es ift nicht iveniges, mohinter fie den ganzen Tag berrennen, worüber fie ſchelten, ſich aufregen wird in Küche und Keller, in Garten und Viehhof .... Nachher, phyſiſch und moralifh am Ende ihrer Kräfte angelangt, wird fie in diefe Schlafftube zurüd: fehren, um wieder dieſe behaarte Bruft, dieſen galoppierenden General und biefen offenen Mund "zu fehen, der, wie aus einem Rohr, beifere Töne ausftößt. Und um das Maß ganz vol zu maden, war Mitjla davonge⸗ laufen. Oh, es war fürchterlich!

Vor fünf Wochen hatte Mitjlas Vater, ein großer, hagerer Mann mit gelbem Geficht, den Burſchen zu ihnen gebracht. Cie hatte fofort gefehen, daß dieſer dummlächelnde Bengel mit der Ziehharmonifa unter dem Arm zu nichts taugte. Aber es blieb ihr feine Wahl übrig, ein Hirte war dem Vieh fo notwendig wie das Futter, und Mitjta bürgerte ſich ein. Seit dem Augenblid fannte fie feine Nuhe mehr; bei Sonnenaufgang tedten fie die dünnen, Hlagenden Töne ber Harmonila, den ganzen Tag über war fie in Angit, daß Mitjta das Vieh im Walde verlieren ober die Wölfe mit Kalbfleiſch regalieren werde, und nachts, wenn fie troß ber Muſik des Hirten- jungen eingeſchlafen war, erwachte fie mit Entjegen, da fie geträumt hatte, daß Mitjla wieder bavongelaufen fei.

Treimal war dieſer Unband ausgeriſſen! Treimal hatte ihn jein Vater zurüdgebradht und, ſich tief verbeugend, um Verzeihung ges beten. Mitjla dagegen drehte, mit feiner Harmonifa unter dem Arm, die Müße in ben Händen und ſchaute allen ins Gefiht mit feinen hellen, Haren Augen, als ob ihm,

Mitjka ber Ausreißer.

Mit fuchtelndem Stod ging er im Stall auf und ab und trieb bie apathiichen Tiere hinaus; dabei ſchrie er und that fehr wichtig und fah nicht, daß er bei jedem Edhritte in den bünnen Mift einfank, wie in einen Moraft.

Und an biefem benfwürbigen Tage er= blidten die Fichten, die auf dem Hügel Wache hielten, und das reifende Kom und biefe ganze lebende, aber ſtumme Welt, ein bis⸗ ber nie gejehenes Schaufpiel: der Gutsbeſitzer Iwan Semyönitfc trieb fein Vieh eigenhändig auf bie Weide!

Seine Frau, feine Tochter, die barfüßige Alte, die barfüßige Milchmagd, der barfüßige Arbeiter, alle ftarrten fie, faum ihrer Sinne mädtig, die Hand vor den Augen zum Schutz gegen die Sonne, der Geftalt des Gutsbeſitzers nad, der inmitten der Herde auf und nieder tauchte mit feinen hochgefrämpelten Beins Heidern und feiner Jade aus Bauernleinwand, die ungelen? an feinem alternden Körper berabhing.

* * *

Diefer erfte Berfuch des Iman Semyönitſch mißglüdte volftändig. Höchſt erftaunlichers und unbegreiflihermeife geriet Die ganze Herbe in den Hafer, in eben benfelben Hafer, der den Neid aller Nachbarn erregte, und verblich dort über eine Stunde, da weder das Geſchrei noch die Prügel des Iwan Eemyönitich irgendwelchen Eindruck auf die eigenfinnigen Tiere ‘machten. Und, du lieber Gott, was war aus dem wundervollen Hafer geworben! ALS die arme Anna Petrovna die Riefenglagen und bie unzähligen Irrgänge darin erblidte, verfagten ihr bie Aniee, und mit weit offenen Augen fank fie nieder und blieb lange in dieſer Stellung, che fie nur hervorbringen Tonnte:

„Oh, Herrgott! Herrgott!“

Außerdem verlor fi der prächtige junge tier, der Liebling der ganzen Familie, und trieb fih jetzt wahrſcheinlich im gräflichen Walde umher. Und um alle Übel voll zu maden lag Iwan Semyönitſch im Bett, mit Senfpflaftern bebedt, ftöhnte und fehrie, daß fein Herz zu ſchlagen aufhöre. Der arme Iman Semyönitſch hatte fi überanftrengt !

Das ganze Haus war auf den Beinen. Plan |

897

ſprach davon, nad dem Arzte zu fchiden. Die barfüßige Alte kramte Ameifenfpiritus aus ihrem Koffer aus, die Wirtichafterin Fochte Lindenblütenthee, der Arbeiter heizte ben Babe: ofen, Maſcha ſah nach den Wärmeflafchen, Anna Petrovna ſaß am Bett ihres franfen Mannes, hielt feine Hand, hörte feine bittern Klagen an und blidte hoffnungslos auf den galoppierenden General.

Auch im Leben fommt man nicht vom Flech dachte fie verzweiflungsvoll.

Und vor dem fenfter heulte der Trefor Häglich; es war ihm ſchon langweilig geworben, an ber Kette zu liegen.

Plöglih hörte man vom Hof ber bünne, wohlbelannte Töne, die allen mit freubigem Schreden durch die Glieder fuhren, und gleich darauf Fam die barfüßige Alte ins Zimmer geftürzt mit der Nachricht: „Der Mitjka ift wiedergelommen!“

Kalte und heiße Umſchläge, Deden, Kiffen flogen zuerft in die Höhe und dann auf den Boden. Iwan Semyönitſch fprang aus dem Bett und ftürzte in die Küche, fo vie er war. Anna Petrovna ergriff den Schlafrod und warf ihn im Lauf dem Mann über die Schultern. Bei der Küchenthür ftand ein hoher Mann, hager, mit gelbem Gefiht, Mitjka's Vater. Als er den Herrn erblidte, verbeugte er fich tief.

„Verzeihen Sie ſchon, Iwan Semyönitſch, der Bengel iſt rein von Sinnen. Verbeuge dich doch vor dem Herrn, du Schafskopf!“

Mitjla mit feiner Ziehharmonika unter dem Arm, drehte die Müte in den Händen. Dumm: lãchelnd nidte er mit bem Kopf und ſtarrte mit feinen hellen, glüdjeligen Augen den Herm an.

„AG, du ..!“ fing Iwan Semyönitſch ſchäumend vor Wut an und hielt plötzlich inne, durch diefe gutmütigen, Haren Augen aus ber Faſſung gebradt. „Er ift ja wahrhaftig der reinfte Schafskopf“, enbigte er lahm, fih fefter in feinen Echlafrod hüllend.

Anna Petrovna begann von den Erlebniſſen des Tages zu erzählen. Als fie von ben Mifgefhiden des Herm ſprach, ftöhnte und feufzte der hagere Bauer, aber hinter feinem dünnen Schnurtbart barg ſich ein höhnifches Lächeln. Mitjka blidte mie zuvor glüdfelig | drein; als er des Fräuleins anfichtig wurde,

Mitjta der Außreißer.

blaue Himmel, unten erftredt ſich das bunt⸗ farbige, trodene Moos. Wenn man da jeßt ein Zundhölzchen hineintoürfe, wie prächtig würde das euer auflobern und ſich ver= breiten... Da läuft ein rotlöpfiger Specht den Stamm entlang und klopft mit dem Echnabel an den Baum, wie mit einem Hammer. Mitjka drehte ſich auf bie linke Eeite und erblidte den roten Sonnenſchirm des Fraͤuleins; er ſetzte fih auf und fing an zu lächeln. Der junge Stier betradtete den näherfommenben roten Gegenftand ſehr aufs merkfam.

Maſcha blieb ftehen; fie hatte einen Korb mit Pilzen in der Hand.

„Guten Tag, Mitjla, was treibft du denn?“

„Ich Liege.“

Das Fräulein lächelte.

Weißt du, Mitjla, deine Augen, find gerabe fo blau und Har, wie der Himmel.”

„J was nicht gar!”

„Und du bift überhaupt fehr niedlich . . Wenn du millft, werde ich dich Leſen und Schreiben lehren“.

„Gut, lehre mich, ich werbe dir eine Pfeife ſchneiden.“

Das Fräulein lachte und ging weiter. Nitjla und der junge Stier blidten ihr beide

mit der gleichen Neugierde nad, und als fie

verſchwand, ftieß der junge Stier nadläffig die Schnauze ins Gras, während Mitjfa feine Harmonifa nahm und dem Fräulein ein paar wilde Töne nachſandte.

Aber zu diefer Tageszeit liebte Mitja die Stille über alles; er ließ feine Muſik im Stich und begann wieder mit den Augen zu blinzeln, um „bie Seelen ber Gerechten” zu ſehen.

Und wahrſcheinlich ſah er fie auch ... Sein Geſicht war ruhig und klar, wie die ganze ihn umgebende Natur: fein Wöllchen, kein aut....

oo.

Als die Sonne errötete, größer wurde und wie eine feurige Kugel hinter dem Walde unter: ging, trieb Mitjta feine Herde heim. Woran ſchritt, langſam und gewichtig, mit vollem

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fallen Anna Petrobnas, da eine ſchwarze Kuh als erfte der Herde Regen bebeutet, und man brauchte grade feinen Regen; hinter ihr kamen die übrigen müben Tiere, ganze Wollen Staubes aufwirbelnd. Den Schluß bildete Mitjka, friſch, ftrahlend, vom Abenbrot be= leuchtet, vermittels feiner Bichharmonifa laut bie glüdfiche Heimkehr verlündend.

Nachdem die Tiere in den Stall getrieben waren, begab ſich Mitjfa ind Leutezimmer, wo ihm die Alte ein Abenbbrot zubereitete; bald fam er wieder von dort heraus mit der Harmonifa unterm Arm, um in ber Echeune ſchlafen zu gehen.

Im alten Herrenhaus wurbe bald Feier⸗ abend gemadt. Die flahbrüftige Viehmagd und bie Alte trugen einen mächtigen Eimer voll frifchgemoltener Milch an einer Stange vorüber. Jeffim, mit einem Etrid über ber Schulter, ſchloß das Getreibehaus und ging in die Küche, mit den Schlüffeln klirrend. Der barfüßige Arbeiter kam aus dem Stall heraus und goß das bon den Arbeitöpferden übrig« gelafjene Trinkwaſſer mit weitem Schwunge aus. Iwan Semyönitſch erhob fich hüftelnd vom Ballon und trat mit den Worten „ed fängt an feucht zu werben” ins Haus. Anna Petrovna verließ den Geflügelhof mit aufs gefrempelten Ärmeln. Das Fräulein klapperte oben auf ihrem Zimmer mit dem enter. Der Treſor ftredte fich fchläfrig, gähnte laut und rollte ſich neben feiner Hundehutte zu einem Ball zufammen.

Alles Leben erloſch allmählich. Der Himmel färbte ſich dunkler, und aus ſeiner nebelhaften Tieſe tauchten, eines nach dem andern, blinfende Flämmchen auf... . Grünes verwandelte fih in Schwarz, Durchſichtiges in Undurchdringliches. Der ferne Wald nahm die Geftalt einer langen Scheune an, während die Scheune einem formlofen Walde ähnlich wurde. Mitjfa lag unbeweglih im Heu. Irgendwo im Nebengebäude wirtfhafteten Kälber herum, grunzten Schweine, knirſchte ein Pferd mit den Zähnen.

Wie ſtets um dieſe Stunde, wurde es Mitjka traurig zu Mut. Schlafen wollte er nicht, zu thun gab es nichts. Mitjfa ſetzte

ſich auf und fing an, monotone Laute aus

Euter, die ſchwarze Kuh, zum großen Mik: ı feiner Biehharmonifa hervorzuloden . . .

Nitjla der Ausreißer.

Die dräuende Art und Weife, dad dräuende Verhör übten jedoch nicht die geringfte Wirkung aus. Mitjla blidte von einem zum anbern und lädelte ruhig, freubig weiter. Der Beamte verlor endgiltig die Geduld.

„Weißt du auch“, fuhr er ihn an, fi über den Tiſch Iehnend: „daß du für jeden Tag beiner freiwilligen Entfernung vom Dienfte einen Rubel Strafe zahlen mußt? Demnach werben bir, wenn bu fortfährft, fo auszureißen, für den Sommer über hundert Rubel Etrafe zuerlannt werben! ..“

„J was bu nicht ſagſt!“ ſtrahlte Mitjka.

Der Beamte ſpie wütend auf ben Boden, tauchte die Feder ein und fing an zu fchreiben, ſich felbft Taut biktierend:

Der Bauernfohn Mitjka wird wegen frei« williger Entfernung aus dem Dienfte für ſchuldig befunden ... fürfchulbig befunden. ... 1”

Kaum hatte der Beamte, Bruft und Ell- bogen gegen ben Tiſch geftemmt, angefangen,

ſchwarze Leitern aufs Papier zu malen, als |

ſich Mitjlas Gefiht plötzlich veränderte, gerabe ala ob die Tinte einen ſchwarzen Schatten darauf geworfen hätte; bie Haren Augen bes Jungen verfolgten mißtrauiſch und furchtſam die Spige der Feder, die, wie ihn dünkte, allerband Unheil auf fein Haupt herab» beſchwor. ... Jeder neue Buchſtabe gab Mitjla einen Stich ins Herz und erftand vor ihm als ein geheimnisvolles, aber entjegliches Gefpenft. Endlich hielt der Junge es nicht länger aus; mit fchriller, völlig veränderter Stimme rief er:

„So ſchreib doch nicht! denn?! ..“

Bei dem unverhofften Schrei ſchreckten alle zuerſt zuſammen, dann lächelten fie. Der Beamte blidte Anna Petrovna vielbedeutend an und fuhr enblid fort: „Schuldig befunden und geht... . aller Rechte verluftig, jogar der Harmonifa. . . .”

„So ſchreib doch nicht! . . . Ich fage bir, ſchreib doch nicht!” und Mitjka ftürzte vor, wurde aber noch rechtzeitig vom Vater er: griffen und flog zum Zimmer hinaus.

Was fchreibft du

401

n Das bat geholfen!” verkündete bie Obrigkeit.

Alles lachte. Iwan Semyönitſch kredenzte dem langen Bauern ein Glas Branntwein und ſagte dabei:

„Der Vertrag zwiſchen dir und mir iſt eine Sündenbuße für mic) geworben.”

Abends fpät trat die abgehetzte Anna Petrovna ins Schlafjimmer ein und begann fih zu entlleiven, hoffnungslos dabei den galoppierenden General, den offenen Mund und bie behaarte Bruft ihres Gatten be— trachtend, aber plögli fing fie an, ges fpannt zu horchen.

„Wie kommt denn das, man hört ihn ja nit? ... Er wird bod etwa nicht ſchon wieder fortgelaufen fein?”

Ohne Mitjlas Muſil einfchlafen, hieß mit dem Bewußtſein einfdlafen, daß morgen niemand ba fein twürde, um das Vieh auf die Weide zu treiben.

Anna Petrovna warf ein Tuch über die Schultern und ging mit Hopfendem Herzen in die Scheune.

Statt der wohl befannten Töne hörte fie ein dumpfes, erftidtes Schluchzen.

Der Mitjla meinte? Das war ja etwas ganz Unwahrſcheinliches.

Unmöglich flofien jet fiber biefes ewig lächelnde, ewig glüdliche Geficht Thränen?

Ganz betroffen fragte Anna Petropna mit zitternder Stimme:

„Mitjka, was fehlt bir denn? ... So antworte bo. Tu Dummchen, was haft du?”

Und erft nad langem Fragen hörte fie dur das Schluchzen hindurch:

„Tantchen, ich fürchte mih ... . ich fürchte mich fo fehr . . .”

*

*

| Der Bolizeibeamte erwies ſich als erfahrener I Piochologe: Mitjka lief nie wieder davon. | j i

Aber jedesmal, wenn fein Blid mit dem ihm bisher fremden Ausdrud der Furcht und Trauer auf Anna Petropna fiel, wurde ihr meh ums

Herz.

26

Die Frauen und ber Getreibezoll. 408

fondern nur Kartoffeln, den zugehörigen Kartoffelichnaps und Kaffeeſurrogat, die werben von ber Brotfteuer nicht getroffen. Ja, es ift doch eine gerechte Steuer!

Man kann wirklich nicht behaupten, daß durch fie die Armften zu Gunften ber Reichften befteuert iwerden. Denn dieſes Ideal von Steuergerechtigkeit würde erft erreicht, wenn alle Rartoffeleffer eine Steuer zu Gunften des notleidenden Krupp bezahlen müßten, ber ein jährliches Einkommen von 16 Millionen Mark verfteuert. Aber die Brotfteuer kommt diefem Ideal fo nahe wie möglich. Ihr Prinzip lautet: je größer der Latifundienbefig des Getreideproduzenten, um fo mehr befommt er, und je ärmer und je finberreicher die brotefiende Familie, um fo mehr muß fie Brotfteuer bezahlen. Das ift die gerechte Strafe dafür, ihr Mütter, daß ihr fo viel Kinder geboren habt!

Mleinftehende und alternde Arbeiterinnen, wie die Konfeltionsnäherinnen in Berlin, deren Jahreslohn von 3—400 Mark zum Leben unmöglich ausreicht, die daher geztoungen find, ihren verblühten Leib ab und zu einmal billig, für ein Abendefien, zu verkaufen, müflen da ein paar mal öfter thun, wenn fie für Brot 6 Mark mehr jährlich ausgeben muſſen. Aber fie ftehn allein die Familien möütter dagegen, die die hungrigen Kinder mit bünner gefchnittenem Brot nicht betrügen tönnen, fie leiden am ſchwerſten unter der Verteuerung des Brotd. Sie muſſen noch mehr als bisher außer Haus auf Arbeit gehen, noch mehr als bisher wird die Familie aufgelöft, durch die chriftlihe und familienerhaltende Politik der Brotverteuerung, noch mehr als bisher fterben und verderben, verrohen und ver- mildern die Kinder, die der Mutter beraubt find oder die Mutter arbeitet noch länger zu Haus an ber Nähmaschine, noch länger als die 12—18 Stunden, bie Tinderreiche Witwen in der Konfeltionsheimarbeit zu arbeiten pflegen.

Aber find die Löhne in der Induftrie nicht fo bedeutend geftiegen, daß eine Heine Mebrbelaftung durch teureres Brot wenig ausmacht? Gewiß, im großen und ganzen find fie geftiegen. Uber noch mehr geftiegen find in berfelben Zeit die Wohnungsmieten, die ein Drittel des Arbeitslohnes verfchlingen, die Zleifchpreife und befonder3 die Kohlenpreife, kurz alles, was die Hausfrau für den Haushalt am nötigften braucht abgejehen von Brot und Mehl, das jest an die Reihe kommt. Und wie hoch find denn nun im Durchſchnitt die fo fehr hoch geftiegenen Löhne? Nah der letzten Berufszählung (1895) giebt es in Preußen 13'/, Millionen Boll: erwerböthätige; von diefen haben nad) der Statiſtik der preußifchen Einkommenſteuer wenig über 2'/, Millionen ein Einfommen von mehr als 900 Marl. Alfo faft 11 Millionen, unter biefen die ungeheure Mehrzahl der Familienväter, haben ein Jahreseintommen von weniger als 900 Marl. Und die Statiftit der Invaliditäts- und Altersverſicherung ergiebt, daß (im Jahr 1896) 2,3 Millionen einen Jahreslohn von durchſchnittlich 1000 Marl, 2,5 Millionen einen folgen von durchſchnittlich 720 Marl, 4,3 Millionen einen Durchſchnittslohn von 500 Mark und endlich 2,5 Millionen einen folden von 300 Mark erhielten. Selbitverftändlih gilt das ungefähr auch für Heute: 603 Mark ift danach der Durdfchnittsjahreslohn in Deutihland. Daß er in der Großftadt, 3. B. Hamburg, auf 864 Mark fteigt, wird durch die teureren Mieten wieder ausgeglichen. Und wenn man felbft annimmt, daß die Löhne etwas Höher find, als fie angegeben werben, wenn wir daher 700 Mark (aljo 100 Mark mehr) als den Durchichnitt anfehen, fo find 42 Mark mehr für teureres Brot doch eine Befteuerung von 6 Prozent, während die preußifche Eintommenfteuer die Einkommen von mehr al3 900 Mark mit %/,, Prozent befteuert.

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Die Frauen und ber Getreidezoll 405

gewefen, dann wird man ben Zoll wieber zu befeitigen ſuchen, dann kommt das wirkliche Leiden der deutſchen Landwirtſchaft. Ihr Grunbübel, der zu hohe Bodens preis, ift dann maßlos gefteigert, die Konkurrenz mit dem Ausland ift ihr noch mehr erſchwert. Die Erhöhung des Getreidezolls ift daher ein Schaden für die Land: wirtſchaft und nur ein Geſchenk an bie jegigen Befiger, bei Erhöhung des Zolls auf 8 Mark ein jährliches Gefchent von ungefähr 6 x 56, das ift 336 Millionen, eine beträchtliche Steigerung der arbeitslofen Rente und eine um fo beträchtlichere des Kapitals, auf Koften der probuktiven Arbeit des übrigen Volkes.

Ja, wenn unſer ganzer grundbefigender Adel oder gar die Landwirtſchaft zu Grunde ginge und nur durch ein ſolches Mittel erhalten werden könnte, fo könnte ich in Zweifel geraten, denn ich Liebe die Kraft, die in unferem Adel ſteckt und möchte fie nicht aus Deutfchland verſchwinden fehen; aber davon ift ja gar feine Rede. Und ein großer Teil, ein Drittel oder die Hälfte, des Großgrundbefiged wird allerdings Bauern weichen müflen, eher ift auch an eine Vefeitigung der „Leutenot” nicht zu denken. Ein Grund mehr, nicht den großgrundbefigerifchen Getreidebau gegenüber der bäuerlichen Viehzucht zu begünftigen.

Bas für die Landwirtichaft geſchehen müffe, Habe ich Hier nicht auseinanderzufegen. Es genügt, daß die Erhöhung des Getreidezold das Mittel nicht ift. Friedrich Lift, der erſte große Schugzöllner in Deutichland, erklärte ausdrücklich: „Die innere Agris kultur durch Schugzölle heben zu wollen, ift ein thörichtes Beginnen.” Diefe Erkenntnis genügt und, und es ift nur ein Zeichen für den Tiefftand nationalöfonomifchen Wiffens in unfern Barlamenten, daß immer noch barüber Hin und her geftritten wird, ob das Inland oder das Ausland den Zol zu tragen habe. So weit das Inland ihn trägt, verteuert er dem Arbeiter das Brot, foweit dad Ausland ihn trägt, verkürzt er ihm den Lohn: denn das aderbauende Ausland, das durch den Zoll gefchädigt wird, iſt dann ein fchlechterer Abnehmer für die Waren unferer Erportinduftrie, diefe kann daher weniger produzieren, muß Arbeiter entlaffen oder den Lohn herabfegen. Und das wirft weiter auch auf die wirklich Notleidenden auf dem Lande, bie Landarbeiter: wenn die Induftrie Arbeiter entlaffen oder die Löhne verkürzen muß, fo können auch die Gutöbefiger ihren Arbeitern wieder geringere Löhne zahlen, ohne fürchten zu müffen, baß die Arbeiter ihnen weglaufen, gelodt von den höheren Löhnen der Induſtrie. Nebenbei müffen die vielen Landarbeiter, die nicht mehr in Getreide, fondern nur nod in Geld gelohnt werben, auch ihr Brot teurer kaufen von ihren getreide— verfaufenden Herren.

Doch man Hat den Arbeitern, beſonders auch den Frauen und Kindern, auch etwas geboten mit ben Getreidezol. Daß die Hunberttaufende von Müttern, die außer Haus arbeiten, und die Million Kinder, die erwerbsthätig find, dies noch mehr müffen al3 bisher, ift zwar nicht verlodend aber die Arbeiterverficherung, vielleicht die langſt erfehnte Witwen und Waifenverficherung, fol durch die Mehreinnahmen des Reichs aus dem höheren Getreidezoll gefördert werben: ein Plan, der um fo fomifcher wirft, wenn man fi das Verſprechen der Agrarier, bei höherem Zoll Deutichland ganz mit Getreide verforgen zu fönnen, verwirklicht denkt: dann kommt natürlich aus dem Auslande überhaupt fein Getreide mehr Herein, und die Neichdeinnahmen aus dem Getreidezoll verſchwinden völig! Und je höher der Zoll, um jo weniger Getreide Kann noch eingeführt werden, um fo geringer alfo die Zolleinnafmen. Überhaupt wird auch jegt nur ungefähr ein Fünftel eingeführt, im beften Fall alfo fließt von der

Niethſche und feine Freunde.

Felix Poppenberg.

NRadbrud verboten. W

etzſches Leben iſt eine Freundſchaftstragödie. Cr, ber feine weiche Seele zur unerbittlich ftählernen Lehre zwang, zu einfam hartem Wandel auf dem „Iharfen und gefährlichen Felögraten des Gehirns“, beſaß im Grunde feines Beiens die tieffte Hingebungsfehnfucht, die leidenſchaftlichſte Luft am Verehren, das probuftivfte Genie zur Freundfchaft. „Meine freundfchaftliche Empfindung für jemanden hängt fi ein wie ein Dorn, man twirb fie nicht 108,” fagt er felbft von fi, und einem Neugewonnenen fehreibt er in überftrömendem Glüdägefühl: „Ich fehe die ſchöne Gewißheit vor mir, einen wahren Freund mehr zu gewinnen. Und wenn Sie wüßten, was dies für mich bedeutet. Bin ich doc immer auf Menfcenraub aus, wie nur irgend ein Korſar.“ \

Und bderfelbe muß in der firengen und eifrigen Frohn feines Werkes, das ihm feine Raft an ftillen Herden und fein Verweilen verftattete, jondern im bämonifchen Bann zu immer höherem Steigen in gletſcherkalte Einfamfeit trieb, ein liebes Band nad dem andern löfen. Die unerbittliche Wahrhaftigkeit feiner Natur forderte von ihm Opfer über Opfer. Und das ſchwerſte Opfer, das er brachte und das ihn faft brach, war die Abfage an Richard Wagner. Als Zarathuftras Höhenpfad von Parfifals Bußweg fih für immer ſchied, da mußte Niegfche ein Heiligtum feiner Jugend, für das er gelämpft, geblutet und gejauchzt hatte, brennenden Auges einreißen.

Das Leben wird ihm von nun an ein dauerndes Loslöſen. Er gleicht dem Abenteurer auf Bödlind Bilde. Am Horizont verſchwindet ber Nachen mit den legten Gefährten, und ber Ritter ftarrt auf felfiger Neulanblüfte, auf ber die Gebeine bleichen, in die Unendlichkeit: „Ich bin, faft ohne den Willen dazu, aber gemäß einer unerbitt- lichen Notwendigkeit, gerade mitten darin, mit Menſch und Ding bei mir abzurechnen und mein ganzes ‚Bisher‘ ad acta zu legen. Faſt alles, mas ich jegt thue, if einen Strich drunter ziehn. Die Vehemenz der inneren Schwingungen war erfchredlich die legten Jahre hindurch; nunmehr, wo ich zu einer höheren Form übergehen muß, brauche ich zu allererft eine neue Entfremdung, eine noch höhere Entperfönlichung.”

Und er felbft leidet qualvoll auf diefem „furchibaren Weg” mit feinen „Viamala⸗ KRonfequenzen”. Er jhämt fi zu verraten, wie fehr er leidet, er verkriecht fih „la böte philosophe wie ein krankes Tier in feine Höhle Und er Hagt: „Jahre lang kein Labfal, fein Tropfen Menfchlichkeit, nicht ein Hauch von Liebe, ich bin jegt allein, abfurd allein; und in meinem unerbittlichen und unterirbifchen Kampfe gegen alles, was bisher von den Menjchen verehrt und geliebt worden ift (— bie Formel dafür iſt Ummwertung aller Werte) ift unvermerft aus mir felber etwas wie eine Höhle geworden etwas Verborgnes, das man nicht mehr findet, felbft, wenn man außginge, es zu fuchen. Aber man gebt nit darauf aus”... Sein Denen büßt er beftändig „durch eine immer wachjende, immer eifigere, immer fchneidendere Abfonderung.”

Riegfche und feine Freunde. 409

Hohe Zeiten, die Krifis mit ſchweren Törperlichen Leiden, Erkenntnis feines Zwieſpaltes mit Wagner, Entdedung feines Ichs, Abbrechung aller Zelte, Philoſophenleben in Stille und Einfamteit find die Stationen, die in wechfelnder Beleuchtung als ein Wandel panorama fi hier immer wieder um una drehn.

Und haben wir's mit einem Freunde durchlebt, fo fangen wir's mit dem nächften wieder von neuem an. Troßdem ift durch die Variationen der Säge dieſe Lebens: fymphonie nicht monoton.

In den Briefen an den Freiherrn von Gersdorff, den Jugendfreund von Schul: pforta, die Nechenfchaft geben von der Zeit der „philologifchen Lumpenſammelei“ in Leipzig bis zur Zarathuftramelt in Stille, Höhe und Einfamkeit zu Sils-Maria, über wiegt alles Männlich-Wehrhafte. Die Gersborff find eine Soldatenfamilie, ber junge Freiherr macht dem Krieg mit, fein Bruder fält als Offizier. Nietzſche verehrt in diefem Freund, mit dem ihn natürlich auch ftarke geiftige Lebensinterefien, Schopen: bauer: und Wagnergefühle vereinten, die energiich ftraffe Form des Lebens. Niegiches Hellenentum betonte ja fo nachdrücklich die Vereinigung Lörperlicher und geifliger Tüchtigfeit: „Die Griechen waren feine Gelehrten, fie waren aber auch nicht geiftlofe Turner“. Nichts war Niegiche verhaßter ald der Begriff des Philologen als ver: fümmerten, früppeligen Lebeweſens: „Sollte nicht das Bild eines Sopholles jeden Gelehrten beihämen, der fo elegant zu tanzen und Ball zu fchlagen verftand und babei doch auch einige Geifteffertigfeiten aufzeigte.” So ſchätzte er an dem Freund, daß der „mit fühnem Griff das allerbefte Loos erwählt, den wirffamen Kontraft, bie umgebrehte Anfchauungsweife, die entgegengefegte Stellung zum Leben, zum Menichen, zur Arbeit, zur Pflicht”.

Aufrecht, feft, warm und ftetig durch alle Zeiten und Wechſel Hindurch Hat fich diefer Freund erprobt, die beiden haben fefte Überzeugung für einander, und mas für Niegiche das Bewundernswerteſte an der Menfchlichleit des Freundes fcheint, das ift deſſen „herrliche Fähigkeit zur Mitfreude”, fie bünft ihm „feltener und ebeler als die des Mitleidens“.

Anders der Ton in den Briefen an zwei andere Yugendfreunde.

Bei Ger&borff Mingt immer die Stimme ganz felbftverftändlichen Sich-Verſtehens und menſchlichen Einander-Wohlgefalens: „Wir willen, daß mir und von Herzen freuen, auch nur bei einander zu fiten, ich glaube, twir brauchen und nichts zu vers fprecden und geloben, weil wir einen recht guten Glauben zu einander haben.”

Eine dichtere Luftſchicht hängt zwiſchen Niegiche und den beiden Studiengefährten Deufien und Krug. Es herrſcht in den Briefen an fie mehr die Erinnerungsneigung vergangner Gemeinfamteiten, als das fichere Bewußtſein innerer Zufammengehörigfeit.

Zu Deuffen, dem fpäteren Philofophieprofeffor, fpricht er fih, von jeder Überlegenheit fern, mit Achtung vor deſſen „vernunftvollen Lebensplänen” aus. Hier ſehen wir bie Vorurteildlofigkeit Nietzſches in richtigem Licht, diefe Integrität, die nicht Profelyten machen will („Niemand hat jo wie ich vor dem Gefährlichen des freien Geiſtes gewarnt und zurüdgeichredt“), diejen felbftverftändlichen Refpelt vor jedem, der einen felbitgewählten Weg entichlofien geht. Mit fachlichen Augen fieht er die Bemühungen der Menfchen an, und er jchreibt: „es macht mir großes Vergnügen, einmal den klaſſiſchen Ausdrud der mir fremdeften Denfweife kennen zu lernen.” Und ex felbft, der Feinfchmeder des Geiftes, zaudert nicht mit gern geipendeter Anerkennung rechtſchaffen ernten Fleißes: „Der Himmel weiß es: ohne rechtichaffenen Fleiß wächſt

Riegibe und feine Freunde. E11

Nietzſche bat ein überaus feines Gefühl fir Neizbarkeiten und für bie Wer fimmungen anderer und weiß fie mit einer unfagbar rüdjichtswollen Hergensdiplomatie zu heilen. Ein „Übelnehmen” kennt er nicht. Wenn er aus fehwerften, inneren Gründen feine Hand aus der eine Vergangenbeitsgeführten Löfen mußte, dann that er es mit umerbittliher Härte gegen ſich ſelbſt, „in feinen Hauptfachen muß ſich der Menſch rein halten,“ das ift feine flille Forderung an jedermann und an fi, -- aber in den Rleinigleiten war er von größter Duldfamkeit, er wußte in feiner weits überfchauenden Erkenntnis alles Menſchlichen, daß er fich nichts vergab und vergeben fonnte, wenn er fo oft zuerft die Hand wieder bot. So ift er immer bemilbt, Mißverftändniffe aufzuklären: „Schonung bedürfen wir alle, jeder hat feine Ausdruds-, jeder feine Berfländnisweife, daher. jo viel Mißverſtehen. Jedenfalls aber habe ich mi nicht gut ausgedrüdt”. „Man muß feine Empfindung für einen DMenfchen immer von Zeit zu Zeit angeſichts dieſes Menfchen Fontrollieren fünnen. Sonft giebt fie Phantafiebilder: und man bringt Züge Hinein aus günftigen oder ungünftigen Erzählungen anderer”.

Aus ſolchem Verftehen und folder größeren Auffaſſung ſchrieb er auch von Richard Wagner, nachdem er ihm abgefagt hatte: „Über Wagner empfinde id) ganz frei. Diefer ganze Vorgang mußte fo fommen, er ift wohlthätig und ich verwende meine Emanzipation von ihm reichlich zu geiftiger Förderung. Jemand fagte mir ‚der Karilaturenzeichner von Bayreuth ift ein Undankbarer und ein Narr‘ und ich antwortete: Menfchen von fo hoher Beftimmung muß man in Bezug auf die bürgerliche Tugend der Dankbarkeit nach dem Maß ihrer Beftimmung meffen.”

Das fchrieb Niegihe dem Mann, dem er fi von biefen Adreffaten am rüdhaltlofeften erichließt, dem Freiherrn von Seyblig. Ihm gegenüber iſt jene Genialität der Freundfchaft, von ber eingangs gefprochen wurde, am reichften entwidelt. Diefe Freundichaft und Hingebung ift aber nicht weichlich, wenn auch Niepfche dieſem Freund rüdhaltlofer als anderen anvertraut, wie ſchwer ihm das Werk ift, das er auf fih genommen, wie fehr er fih nach Licht und Lachen fehnt, wie weit er ſich entfernt glaubt, von jenem „vollkommenen und hochgearteten Eremitenfinn“; biefe Freundſchaft wird vielmehr zu einer herben Reife gefteigert, deren höchfte Forderung iſt: „Thun Sie mir die Ehre an, mich nie zu verteidigen. Meine Pofition ift bafür zu Rolz, Verzeifung! Ich denke, meine Freunde follen mit mir zufammen aud) ſtolz fein.“

* * *

Unter dieſen Brieffteunden ſind auch zwei Frauen. Was und wie er an ſie ſchreibt, beſtätigt, wie Nietzſche wirklich von den Frauen dachte. Allzu einſeitig werden immer nur die paar Stadheljäge aus dem dichteriſchen Zuſammenhang feiner Bücher geriffen. Daß Niegiche in Wahrheit gerade Frauen gegenüber, die etwas bebeuteten, ein Verehrender war, das erfuhren wir aus den Mitteilungen feiner Schweiter, und das erfennen wir hier wieder.

Mit welcher Bewunderung und Verehrung ſpricht er immer wieder von Malwida von Meyſenbug, die in Sorrent in den Tagen des Symphiloſophierens die „Abtiſſin de Kloſters der freien Geiſter“ war. Im ähnlicher Verehrung blidt er zur Frau Marie Baumgarten auf. Durch ihre Überjegung der „Unzeitgemäßen Betrachtungen” in das Franzöfifche tritt fie ihm nahe, und er kann nicht genug fein Glüd rühmen,

Nie iſche und feine Freunde. aus

Palaſte, wie ſie uns zu Sinnen reden, nicht Renaiſſanceburgen. Und daß man mitten in der Stadt die Schneealpen ſieht. Daß die Straßen ſchnurgrade in ſie hinein zu laufen feinen! Die Luft troden, ſublim-klar. Ich glaubte nie, daß eine Stadt durch Licht fo ſchön werden könnte.”

Und die Steigerung des Lebens zur fröhlichen Wiffenfchaft in Nizza: „es wimmelt von Nichtsthuern, Grecd und anderen Philofophen, es wimmelt von ‚Deinesgleichen‘, und dieſe Farben, alle mit einem leuchtenden Cilbergrau durchfiebt; geiftige, geiftteiche Farben, nicht ein Reſt mehr von der Banalität der Grundtöne.” Und immer neue Scenen und „feltner erprobte Reize des Daſeins“, wie jene Erbbebenpanil, während der Nietzſche „Comme gaillard“, nachts die Runde durch die Strafen macht, nach Furcht zu fpähen, der „einzig heitere Menſch unter lauter Larven”.

In Venedig fucht er träumerifche Gondelftimmung und für die vom vielen Licht trunfenen, müden Augen das fchlafende Dunkel der Gäßchen.

Die wahre Höhenmwelt Zarathuſtras des Bergſteigers aber ift Sils- Maria, das Dberengabin, „meine Landſchaft, fo fern vom Leben, fo metaphyfiſch; Hier wohnen meine Mufen, ſchon im ‚Wandrer und fein Schatten‘ Habe ich gefagt, diefe Gegend fei mir blutsverwandt, ja noch mehr.”

Wenn der Himmel bel ift, dann breitet Sils feinen alten Pfauenfchweif verführerifch fühlicher Farben aus. Doch kommen auch Lawinen, Winter und Sommer in unfeligem Wechfel, dicht verhängter Himmel, die Stimmung der Verfe:

Hier faß ich wachend, wachend body auf nichts Jenſeits von Gut und Böfe, bald des Lichts Genießend, bald des Schattend, ganz nur Spiel, Ganz Ser, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.

Und jener anderen:

Kein Pfad mehr! Abgrund rings und Totenftille So woltteft du'3! Vom Pfade wid dein Wie! Run Wanbrer, gilt's! Nun blide talt und Mar! .

Hier reift, wie unbewußt, in feltfamften Infpirationen, in dammernder Konzeption das große Zerſtörungswerk der „Entwertung aller Werte”: „ich fland (oder fprang) Öfterd nachts um zwei auf, um ‚von Geift getrieben‘ etwas hinzuwerfen. Dann hörte ich wohl die Hausthür gehen: Mein Wirt fchlih auf die Gemfenjagd. Wer von und beiden war mehr auf der Gemjenjagd?”

Die „Gemfenjagd“, das ift ein Zarathuftrabild.

Doch nicht im Zarathuftra dürfte jene andere Stelle ftehen, die Stelle voll Depreffion und Müdigkeit von 1888:

„Wie alles davon läuft. Wie alles auseinander läuft! Wie fill dad Leben wird! Kein Menſch, der mich fennte, weit und breit. Meine Schweſter in Südamerika, Briefe immer feltener. Und man ift noch nicht einmal alt! Nur Philofoph! Nur abfeit3! Nur kompromittierend abſeits!“

Hier fpricht nicht der Bergiteiger, bier erſchließt ſich Nietzſches Menſchlich⸗ Alzumenfchliches.

Und das unverhüllt einmal ſchauen zu dürfen, aus ihm ben zeriiörenden Widerſpruch dieſes Lebens erkennen zu fönnen, das verdanken wir bdiefen Briefen.

ua

Der Mönd von Heifterbadh. 416

anftaltungen und Unternehmungen, die den Zived haben, das Weib für ſolche Berufe vorzubereiten.” Es ift nur gut, daß man nicht weiß, auf weflen Haupt dies Anathema sit! Herniederfauft, da wohl feiner „waſchechten Frauenrechtlerin“ Vers anftaltungen und Unternehmungen befannt fein werben, bie fi damit abgeben, Frauen für ein „marktfchreierifches und agitatoriſches“ Auftreten in der Offentlichkeit auszubilden.

„Ja“, wird weiterhin Tonftatiert, „die meiften Frauen und Mädchen find den Berufen, die fie ſich gewählt haben, auch gar nicht gewachſen; mehr oder weniger leiden fie alle Schaden darunter, und zwar meift an ber Seele noch mehr als an ihrem Körper.” Das gilt vom Lehrerinnenberuf. „Für Volksſchulen ift bad Weib prinzipiell nicht geſchaffen. Beweis: bie zahlreichen Ruinen auf biefem Gebiet.” Und gar der ärztliche Beruf! „Es ift ein faft rührendes Zeichen für die Naivetät, für den Idealismus eines weiblichen Herzens, daß fie beſonders für den Beruf eines Arztes gefchaffen zu fein glaubt.“ Und nun erft die niederen Berufe. „Die Frauen wiſſen gar nicht, was fie thun, wenn fie danach begehrten!” Merkwürdig, wie viel Ruinen es in Mölln geben muß!

Ja, aber nun giebt es doch Fälle, fo argumentiert der Mönd ſelbſt wo bie Eltern fein Vermögen und viele Töchter haben, von denen fie nicht wiffen, ob fie heiraten werben; was dann?

Was dann? Aber, meint er, habt ihr denn den lieben Gott ganz vergeflen? Der wird dann ſchon forgen. Wenn nur die Eltern ein Mein wenig mehr Gott: vertrauen befäßen! „Sie follten fi die Mädchen naturgemäß entwideln, follten fie harmlos ihre Jugend genießen laffen, follten fie zugleich aber auch in allen häuslichen Tugenden unterweifen, fie an Einfachheit und Anfpruchslofigkeit gewöhnen, zu Frömmig- keit und Gottvertrauen erziehen.“ Dann werden fie ſchon durch die Welt kommen. So ein Gottvertrauen, wie jene Frau hatte. Die fragte ihr Pfarrer: „Na, was meinen Sie, Mutter Müller, wird's eine gute Kirfchenernte geben?” „Der liebe Gott wird's fchon geben, Herr Paftor, geblüht Haben fie ja nich!”

* * *

Es giebt Dinge, über die lacht man, weil man nicht über ſie weinen will, oder weil man über ſie nicht in Zorn geraten will. Und ſo könnte man ja auch über den Beitrag zur prinzipiellen Loſung der Frauenfrage) des Herrn Pfarrer Küßner zu Mölln lachen. Aber als Symptom hat dieſer Beitrag auch eine fehr ernſte Eeite. Zu Stößen häufen fih die geichmadfofeften Abhandlungen von beutfchen Männern über die Natur und Beflimmung des „Weibes” und die Sphäre, bie der Frau auf Grund diefer Beftimmung „anzuweiſen“ fei. Zu Stößen häufen ſich die Abhandlungen, in denen die deutfche Frauenbewegung, über deren Ziele eine auch nur oberflächliche Kenntnis der Litteratur Klarheit geben könnte, mißdeutet und farikiert wird. Und das alles angefichts der nadten Thatſache, daß e3 in Deutichland ca. 6'/, Million haupt beruflich erwerböthätiger Frauen giebt, eine Zahl, von der man nur willen möchte, wie die Herren fie ſich erflären, die behaupten, eine berufliche Thätigfeit entipräche der Natur der Frau nicht und fei auch feine Notwendigfeit.

’) Berlag von Lipſius und Tifcher, Kiel und Leipzig, 1901.

Das Töchterheim „Comeninshaut”, 47

halt für ihr Leben zu gewähren vermag. (Bewährte Schitlerinnen erbalten auf Wunſch durch die Anjtaltsleitung Stellen vermittelt; bei der Arbeit in der Diakonie innerbalb des Evangeliichen Diatonievereind erhalten fie durch diefen eine nach innen und aufen geſicherte Anjtellung mit Penfionsberechtigung.)

Dies find die allgemeinen Grundfige für alle Töchterbeime; ſie haben auch ſonſt gewiſſe wichtige Fächer gemeinfam.

In allen Töchterheimen ziemlich gleichmäßig wird Unterricht gegeben in der Religion (Gefchichte des chriftlichen Lebens, bejonders der Licbesthätigkeit; Lebens: und Tagesfragen im Lichte des Evangeliums), Gedichte, Litteraturgefchichte unter gemeinz famer Lejung klaſſiſcher Schriften, Kunftgefchichte unter Führung in die öffentlichen Kunſtſammlungen, allgemeine Etziehungoͤlehre, deutſche Sprache (fchriftliche Aus arbeitungen und mündliher Vortrag), englifhe und franzöfifche Nonverfation und Lektüre, hauswirtichaftliche Naturkunde, Nechnen und Buchführung, Bürgerkunde, Ge: yenbheitchee, Samariterfurfus, Turnen, Tanzen und Anftandslchre, Zeichnen, Chor: gefang.

In der bejonderen Berufs:Ausbildung find die einzelnen Töchterheime unter ſchieden. Es dienen der Ausbildung:

1. in der Hauswirtſchaft das Luifenhaus, 2. für den Erzicherinnenberuf das Comeniushaus.

Das Comeniushaus bietet alfo außer der wiſſenſchaftlichen Weiterbildung als Berufsbildung dad, was als Grundlage einer gebiegenen Bildung überhaupt erſtrebt werden follte, die Padagogik de3 Kindergartens und durch diefe die Gewöhnung an den Grundfag ber Selbftthätigfeit in der Erziehung. Durch einjährigen Veſuch wird die Ausbildung für die Erzichungsthätigkeit in eigner oder fremder Familie erzielt. Das Jahr jchließt mit der Kindergärtnerinnenprüfung ab. Nach Ablegung derfelben werden die Schlilerinnen, wenn fie nicht den Beruf einer Kindergärtnerin ergreifen wollen, auf Wunfh entweder in einem britten Semefter zu Nindergartenvorfieherinnen (Leiterinnen von Kindergärten oder Kinderhorten) vorbereitet, oder fie flellen fich zur Aufnahmeprüfung für die zweite Klaſſe eines im Lehrplan fih an das Comeniushaus anfchließenden Lehrerinnenfeminard. Für junge Mädchen, die Lehrerin werden wollen, kommt deshalb das Comeniushaus beſonders in Betracht.

Die Anftalt ift alfo eine Vereinigung von breierlei verſchiedenen Veranftaltungen. Eie ift erftend ein Mädchenpenſionat zum Zived der Erziehung und Allgemeinbildung, fie if ferner ein Kindergärtnerinnenfeminar, umd fie ift endlich die Unterklaſſe eines Lehrerinnenſeminars.

Solche Verbindungen können ſehr feſte ſein und die Geſamtheit aller einzelnen Teile tragen, nicht nur, wie verſchiedene Stride zuſammengeſchlungen erſt ein jeſtes Seil geben, fondern auch mie ein und dasjelbe organiidie Leben die einzelnen Aſte durchdringt. Das wird der Fall fein, wenn ein gemeinjamer Grundgedante ſich nad) den verfchiedenen Richtungen bin organiſch gliedert. Im andern Fall werden die ver: fchiedenen Zwede ſich nur einander widerſprechen.

Nun aber glaube ih, dar die Vereinigung dieſer Zwede hier eine durchaus glüctiche it, und fie bat fich zum größten Teil bereits als eine ſolche eriwieien.

Unſere Familien, die ihre Töchter au& allerlei Grünten auf ein Jahr in Peniion zu jenden pflegen, abnen großenteils nod nicht, welche erziebliche Bedeutung ein ſolches Jahr für die jungen Mädchen notwentigerweije bat. Tas Penñonsjahr erzieht, aber in vielen Fällen verzicht e3 auch. Es fommt deshalb darauf an, hier einen wertvollen erzieh: lien Grundgedanken zu geben, damit Das Jahr wirklich einen wertvellen Ertrag für das Leben abwerie. Nun verteben es die Eltern meiit leicht, daß es wunſchenswert ilt, daß das junge Mädchen ſich gejellihaftlib weiterbilde darum ſind bie Lurus: und die Sprachen⸗ Penñonate noch immer ſebr beliebt —, aber fie lernen es aub in fteigendem Maße veriichen, dab Das Leben an die jungen Wädchen wirticäftlide Anforderungen jtellt, und namentlib den Müttern it es recht erwunicht, wenn tie Töchter gut die Hauswirtſchaft lernen und darin die Mutter unterrägen fennen.

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Harie Htritt. > Ika Frendenberg.

Radbrud verboten.

B ift für einen jeden, der ein fehwieriges und verantwortungsvolles Amt antritt, eine bedenkliche Situation, einen Vorgänger zu haben, der in befonder3 hohem Grade Anfehen, Vertrauen und Verehrung genoffen hat; doppelt bedenklich, wenn diefe jo ganz ausnahmsweiſe verehrte Perfünlichkeit den betreffenden Poften geichaffen, zum erftenmale bekleidet und dadurch fo fehr mit fich identifiziert hat, daß es vielen ſchwer wird, ſich überhaupt an den Gedanken einer Veränderung zu gewöhnen.

Alle Beforgniffe diefer Situation mag Frau Marie Stritt durchgekoftet haben, als die Aufforderung an fie herantrat, zuerft proviſoriſch, dann definitiv die Stelle einzunehmen, von der aus feither Augufte Schmidt den Bund deutſcher Frauenvereine mit der ihr eignen, unvergleichlichen Würde geleitet. Und es mag bed Zuredens genug bedurft Haben, biß fie ſich entichloffen hat, zu ihrer ohnehin außgebehnten, viel- feitigen Thätigfeit noch die Arbeitslaft, die enorme Verantwortung auf fih zu nehmen, die Augufte Schmidt, bei ihren großen Aufgaben als Vorfigende des Allgemeinen Deutfchen Frauenvereind, nicht länger tragen konnte. Denn es liegt auf der Hand, daß die Anfprüche, die der Bund an die Geifted: und Nervenkraft feiner Vorfigenden flelt, von Jahr zu Jahr größer werden. Mit dem Wachfen der Frauenbewegung wachſt auch das zu überfehende und zu beherrichende Arbeitögebiet des Bundes in außerorbentlichem Maße. Innerhalb diefes Arbeitsgebiete prägen ſich die einzelnen Intereffen immer fchärfer aus; Gruppen fchließen fi) zufammen und verlangen Ber: fändnis für ihre fpeziellen Bedürfniſſe. Nachdem die Fundamente der Bundeseinheit ihre Seftigfeit und Dauerhaftigfeit bewährt haben und ein Gefühl der Sicherheit Plag gegriffen hat, wollen die einen den inneren Ausbau der Organifation befchleunigen, die andern ziehen ein langjameres und bebächtigeres Fortfchreiten an der Hand ber Erfahrung vor. AN diefes In: und Aufeinander-Wirken der mannigfachen Tendenzen und Parteiftrömungen ift natürlich und erfreulih wenn es auch mitunter zu über- füffigen und unerquidlichen Komplikationen führt denn auf ihm beruht ja das innere Leben de3 Bundes; aber melche Aufgabe für die eine, die über allem ftehn, alles erfennen und begreifen und jedem gerecht werben fol! Marie Stritt hat zwei Jahre lang, vom Hamburger (1898) bis zum Dresdener Bundestage (1900) die Geichäfte interimiftiich geleitet und ſich in diefer Zeit die gründliche Erfahrung und Sachkenntnis erworben, die fie befähigte, als Vorfigende der Dresdener Verſammlung dem großen Ganzen ber vielgeftaltigen Bundesthätigfeit in jeder Weile gerecht zu werden. Die freudige Anerkennung der Delegierten fam denn auch in der einmütigen Wahl durch Acclamation zum Ausdrud,

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Marie Stritt. 421

Einfluß weitreichender Arbeit dahin gewirkt wird, die große Maſſe der Frauen aus ihrer Unſelbſtandigkeit, Unfreiheit und Wehrloſigkeit aufzurichten.

Daß der Dresdener Rechtsſchutzverein, in dem mehrere ungewöhnlich tüchtige Kräfte der Vorſitzenden zur Seite ſtehn, auch in einem weiteren Sinne für Frauen— rechte eintritt und eine vielſeitige allgemeine Propaganda entfaltet, verficht fih von

%- =

Marie tritt.

ſelbſt. Die freieren fächfiihen Vereinzgefege geben ihm ja in mancher Hinficht eine etwas günftigere Stellung, als fie die Vereine der andern deutſchen Staaten zur Zeit noch befigen.

63 hieße die Wirkjamfeit Marie Etritts nur unvolitändig charakterifieren, wenn man nicht erwähnte, daß fie jeit dem Tode von Jeannette Schwerin Herausgeberin des Bundesorgans, des „Centralblattes“ ift. Hiermit war ein wichtiger Teil Bundes:

uw

Die Beſtimmungen über das Univerfitätstusium der Frauen in Dentſchland, SMerreih- Ungarn und in der HSchweiz.

Dr. 5. Hausmann.

Naqhdrua verboten. (Eihluf von Zeite anen

F- Öfterreich war durch eine Verorbnung des Minifteriums fir Kultus und z Unterricht vom 6. Mai 1878 feftgefegt worden, daß von allgemeiner Zulaſſung der Frauen zum Univerfitätäftudiun. feine Rebe fein Zünne, daß aber nad) zwei Richtungen Ausnahmen ftatthaft feien: einmal könnten mit jebesmaliger, befonderer Ermächtigung des Minifters beftimmte Vorlefungen ausſchließlich für Frauen eingerichtet werden, fobann bürften ausnahmsweiſe Frauen zu einzelnen Worlefungen augelaffen werden buch Genehmigung der Fakultät im Einverftändnis mit dem betreffenden Lehrer. , Die auf letztere Weife zugelaffenen Frauen, heißt es dann ausdrüdlich in ber Verorbnung, gelten weder als ordentliche, noch als außerordentliche Hörerinnen, es wird ihnen nur ber faktifche Beſuch einzelner Vorlefungen geftattet, fie erhalten darüber keine amtlichen Dokumente und feine amtliche Beſuchsbeſiatigung, birfen alfo auch zu feinen Prüfungen zugelaffen werben.

Diefe Beftimmungen haben erft durch einen Minifterialerlaf vom 23. März 1847 eine Abänderung und Fortbildung erfahren. Im allgemeinen werben fie in biefem Erlaß aufrecht erhalten; für die philofophifchen Fakultäten aber wird nunmehr die Zulaffung der Frauen al3 ordentliche und als außerordentliche Hörerinnen feſtgeſebt. Gemeinfame Vorausſetzung für beides ift die öfterreichifche Staatsbürgerfchaft und die Zurüdlegung bed 18. Lebensjahrs in dem Kalenderjahr, in dem die Einfchreibung beantragt wird. Ausländerinnen find alfo nad mwie vor von biefer Vergünſtigung ausgeſchloſſen. Die Einfchreibung als ordentliche Hörerinnen fegt dann weiter bie erfolgreiche Ablegung einer Neifeprüfung voraus, bei der genau bie Anforderungen wie bei denen der jungen Männer geftellt werben. Tiber die Zulaffung entfcjeidet der Dekan der Fakultät, bei Nichtzulafiung ift Rekurs an das Aultusminifterium zuläffig. Bei dem Verlaſſen der Univerjität wird dieſen ordentlichen Hörerinnen von dem Delan ein Abgangszeugnis außgefertigt, ohne das fie an einer anderen Univerfität nicht angenommen werden bürfen. Nach vierjähriger Studienzeit fünnen fie unter den gleichen Bedingungen wie die Männer zum Doltorat der Philoſophie zugelaffen werben. ALS außerordentliche Hörerin wird eingejchrieben, wer zwar nicht eine Reife⸗ prüfung, wohl aber die Prüfung einer Lehrerinnenbildungsanftalt oder beitimmter böherer Mädchenfortbildungsichulen, die von dem Minifter von Fall zu Fall ala gleichwertig anerfannt werden, beitanden hat. Dieje außerorbentlihen Hörerinnen müjjen mindeftens zebn Vorlefungsitunden per Woche belegen. Die Erlaubnis zum Beſuch einzelner BVorlefungen fann ‚rauen nur ausnahmsweile auf Antrag eines Dozenten von dent Profeiiorenfollegium geftattet werben.

Einen merfwürbigen Begentng zu dieſer Behandlung der Frauen bei der philoſophiſchen Fakultät bildet die Thatjache, daß bei den mediziniſchen Fakultäten in Üfterreich die Frauen das Doftorat bis vor furzem überhaupt nicht unmittelbar erwerben fonnten. Nah dem Minijterialerlag vom 19. März 164% fonnte das

Die Beftimmungen über dad Univerfitätäftubium ber Frauen in Deutichland :c. 425

Beftimmungen, als bier auch Ausländerinnen in der philofophifchen Fakultät als ordentliche ober außerordentliche Hörerinnen eingejchrieben werden können; dabei ift aber in jedem einzelnen Fal von dem Profeforentolegium die Genehmigung des Minifteriums einzuholen.

* * *

Am früheſten iſt die Zulaſſung der Frauen zur vollgiltigen Immatrikulation an ſchweizeriſchen Univerfitäten erfolgt: in Zürich im Jahre 1867, in Genf 1872, in Bern 1874. Un allen dreien find die Frauen grundfäglid) in den Pilichten wie in den Rechten mit ben Männern auf gleiche Linie geftellt worden. In Zürich haben die Angehörigen des Kantons ein Maturitätszeugnis, die übrigen aber Zeugniſſe vor- zuweiſen, bie nicht wefentlich geringeren Wertes find. Außerdem müſſen die legteren das 18. Lebensjahr zurüdgelegt haben und, wenn ihre Mutterſprache nicht die deutiche ift, fi über ein genügendes Verftändnis berfelben ausweifen, fei es durch Zeugnifje in: oder auslandiſcher höherer Bildungsanftalten oder durch cine befondere Prüfung. Natürlich genügen auch Abgangazeugniffe von ſolchen Univerjitäten, die ungefähr die gleichen Anforderungen an Vorbildung ftellen wie Zürich ſelbſt. Ebenfo find in Genf die Aufnabmebedingungen für Männer und Frauen völlig gleich. Auch bier wird in wejentlichen die Gymnaſialteife oder bei auswärtigen eine entfprecyende Vorbildung verlangt. Bei der Univerſitat Bern müffen Frauen, außer den Zeugniffen über ihre Ausbildung, noch den Nachweis über Vollendung des 18. Lebensjahres erbringen, fowie entweder durch eine beglaubigte Beſcheinigung ſich über den Zuftand eigenen Rechtes ausweiſen oder aber eine beglaubigte Einwilligung ihres Rechisvertreters bei— bringen, daß ihnen das Studium an einer Hocjichule geftattet it. An allen drei Hoch— Schulen werden auch jolche Frauen, deren Studienzeugnifje den für die Jmmatrifulation geltenden Beſtimmuͤngen nicht entiprechen, die ſich aber ſonſt über eine folde Vor— bildung ausweifen, daß fie den Vorleſungen folgen können, als „Hörerinnen” zugelaffen. In Laufanne wurden ſchon in ber Zeit, da es noch eine Akademie war, in vereinzelten Fällen Frauen geduldet. Seit ter Ummandlung in eine Univerfität, 1890, werden bie nicht dem Kanton Waadt angehörenden Frauen als immatrikulierte Studentinnen zugelaſſen, wenn fie den Nachweis über den vollſtändigen und erfolge reichen Beſuch einer höheren Mädchenfchule erbringen; wenn fie ſich aber dem Staatẽ— eramen unterziehen wollen, müſſen fie entweder Gymnaſialmaturiiät nachweiſen oder falls fie letztere nicht volftändig befigen, fih einer Ergänzungsprüfung unteriverfen; bei den einheimifchen wird der erfolgreiche Beſuch der höheren Mädchenichule im Lauſanne felbft, die gleichzeitig ein Mädchengumnafium ift, und insbejondere Kenntnis der lateinischen Sprache vorausgefegt. Im gleichen Jahr, da Laufanne ih zu einer vollen Univerfität umgeftaltete, am 8. März 1890, wurde auch am der Univerfitit Bafel durch Beichluß des Negierungsrates den Frauen die Zulaffung zu der vollen Immatrikulation gewährt. Es wurde „verſuchsweiſe bis auf weiteres“ bejtimmt, daß Schweizerinnen und jolche Ausländerinnen, die ihre Ausbildung im Stanton Bafel erhalten haben, immatrikuliert werden können, wenn fie das 18. Lebensjahr zurüd- gelegt haben und ein Zeugnis der Neife befigen, „im Fall der noch nicht erlangten Mehrjährigkeit ift die Zuſtimmung des gefeglichen Vertreters erforderlich.” Die Erlaubnis, als Hörerinnen einzelne Borlefungen zu beſuchen, wird ſolchen Frauen erteilt, die „im Belig eines Fähigkeitẽnachweiſes find, der fie zur Bewerbung um Lehreritellen an den Primar: und Mittelfchulen des Kantons berechtigt” ; folche nicht immatrikulierten Hörerinnen werden aber nur bei der philofophifchen Fakultät zugelafien. Vei der Univerfität Freiburg endlich wird den Tamen nad) einem Beſchluß des Senats die Immatrikulation nicht gewährt, wohl aber werden fie bei allen Fakultäten als Hörerinnen zugelafien.

Stärfer ald ber Tod.

Lieber Freund“, hatte fie ihm erwidert, „bei dem liebenden Weib hört eben alle Theorie auf, da giebt's nur noch Praris, und die muß jebe felber finden”.

Zivei Kinder wurden ihnen geboren und ftarben; zufammen hatten fie weinend vor den Särgen geftanden.

„Ich danke Gott, daß er mir dich ließ, bu bift mir mehr als alles auf ber Welt“, ſchluchzte fie. Wortlos hielten fie fi um: ſchlungen, und fie wußte, fie waren verbunden in alle Ewigkeit; es gab nichts, mas fie ſcheiden konnte.

Und dann waren ſchwere Jahre gelommen; langſam nahmen ſeine Geiſteskräfte ab, zu früh für fein Alter; fein Körper blieb rüftig. Was die Angft feines Lebens ausgemacht hatte in gefunden Tagen, es tar eingetroffen er ward langfam zum Kind, und das Schredlichte war, er fühlte e8 Fommen. Sein Gedächtnis verließ ihm zuerft; da ward fie ihm feine rechte Hand bei feinen Arbeiten und verbarg ihm, fo gut es ging, daß fie es tar. Sie mußten fi einſchränken, feine Manuftripte wurden ihm zurüdgeichidt; fie mußte, daß fie wiederlommen würden. Da fchrieb fie um fo eifriger, um das fehlende zu erſetzen. Man fragte den Arzt, er beruhigte ben Kranken.

„Was iſt das Ende?“ fragte Eliſabeth vor ber Thür den bewährten Freund.

„Seniler Schwachſinn“.

Eie ward blaß bis an die Lippen, aber mit einem Scherzwort trat fie raſch wieder ins Zimmer; er ſollte nichts ahnen.

Die Freunde des Mannes famen immer noch, Eliſabeths friſche Unterhaltung zog fie an. Da bemerkte fie, daß es ihrem Mann ſchwer wurde, dem Gefpräch zu folgen; fie ſchraubte es auf ein niebreres Niveau herab, und nad) und nach famen die Freunde feltner. Es mar aud) fo traurig, biefen Verfall mit anzufehn. So vereinfamten fie immer mehr; der Doktor ließ feine Frau faum aus dem Haus; mit dem Egoismus des Kindes Hammerte er ſich an fie an und fühlte ſich ver: laſſen und einfam ohne fie. Schließlich wurde er vollftänbig ftunpf.

Bei alledem war fie nicht ganz unglüdlic.

Nah wie vor fühlte fie ſich ihm in tieffter ;

427

Seele verbunden, nur manbelte fie jetzt im Glauben und nit im Schauen. Was fie vor fi$ fah, war nur feine Hülle, bie fie mit Kiebe pflegte, wie man Gegenftände, die ges liebten Toten gehörten, behanbelt.

„Wo ift feine Perfönlichfeit, diefer große, edle Geift geblieben?“ fragte fie ſich oft. „Hat er fi in das tieffte Innere zurüds gezogen, und fann fein Feuer die alt und untüchtig getvordene Hülle nicht mehr durch⸗ ftrahlen?”

Dit fah fie ibn an, fchaute ihm in bie blöben, erloſchnen Augen mit einer Liebe, die dur Mauern brechen zu fönnen meint. Er verftand fie nicht und blinzelte ſcheu nach ihr bin. Trotzdem teilte fie ihr ganzes geiftiges Leben mit ihm, nur fonnte fie, was fie bes wegte, nicht mehr in Worte fallen. Eie mußte, mir find untrennbar, wenn auch jeßt feine Mitteilungskraft erlahmt ift.

Leidet er, daß es fo it? Vielleicht ja gewiß; mie muß ihm grauen vor feinem häßlichen Kleid. Aber fie kann es ihm leichter machen durch Glauben, fie fehaut nicht auf die Zumpen, mit denen der blöde Körper den unfterblichen Geiſt bebedt; fie liebt ihn, fein innerftes Wefen, fein wahres Ich; nicht das Bettlerfleid, das jegt alle von ihm abftößt.

Schredlich iſt's ihr, wenn andere in feiner Gegentvart über ihm reden. Vielleicht bäumt ſich jegt ingrimmig der arme, gefangene Geift auf, er nimmt alle Kraft zufammen, und ein blöbes Lächeln ift das Refultat ein Künftler, der einem verborbenen Inſtrumente ſchrille Miptöne entlodt.

* *

Der Greis im Seſſel regt ſich, ſeine Augen blicken nach Eliſabeth; dieſe erloſchnen, thränenden Augen thun ihr weh.

Er will ſich erheben, die Dede rutſcht auf die Erde. Liebevoll fpringt fie hin, Hilft ihm auf und lächelt ihn an:

„But geſchlafen, Lieber?” und freundlich ftreicht fie ihm über das Haar.

„Jetzt trinfft du deine Milh, und dann gehn wir in den Garten“.

Der Alte nidt und lat: „Ja ja Milch tr... trinfen —“ er lallt mie ein Kind.

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Elifabetb eilt in die Küche und Tommt bald mit dem Eſſen wieder. Sie muß. ihn füttern, wie ein Meines Kind; er fchmast, und die Milch rinnt in feinen Bart. Gebuldig trodnet fie die Tropfen ab und ermuntert ihn zum Weitertrinten: „Gute Mil, ſüße Milch!“

„Gute Milch“, ahmt er nach und trinkt.

Er iſt fertig! Eliſabeth ſchließt einen Augen⸗ blick die Augen vor dem traurigen Anblick und jagt leife:.

„Dein Friedrich, mein Lieber, mein Lieber

ich bin bei bir, ich verlaſſe dich nicht“.

Die Thränen drängen fih ihr in bie Augen, der Greiz ftarrt fie verftändnislos an. Dann rafft fie ihre Korrefturbogen zufammen, fie müflen beute noch erledigt werben, und liebevoll den Arm um ibn legend und ihn ftügend, verläßt fie das Zimmer, um ihn in den Garten zu führen.

* % *

Monate find vergangen, und Friedrich Weidner liegt auf dem Sterbebett. Durch die offnen Fenſter weht ein lauer Frühlingswind, bläbt die weißen Vorhänge auf und führt den Duft der blühenden Akazienbäume ing Kranken⸗ zimmer.

Elifabeth figt im Lehnſtuhl, ihr Geficht ift noch blafjer geworden, und tiefe Ringe liegen um ihre Augen; es ijt lange ber, daß fie ge- fchlafen bat.

Der Kranke ift unruhig; leis und ober⸗ flächlich geht der Atem. Haar und Bart find ganz weiß geworben, die Züge fcheinen hagerer, und ſtark tritt die edel gebogene Nafe hervor. Die Augen find halb von den Lidern bebedt, und die abgezehrten, blaſſen Hände mit den Inochigen Gelenken fcharren raftlo8 auf der Dede, zupfen am Leintuch oder greifen ängjtlich in die Luft.

Eliſabeth ift „ehr gefaßt”, fo jagen bie teilnehmenden Beſucher und wundern fich ein wenig; man mar fo gewohnt, fie ala Ehe. heilige zu verehren; nun, es ift ja fein Wunder, nad drei fo fchredlichen Sahren, die Erleichterung ift ihr zu gönnen, und fie ift noch fo jung.

Verſtändnislos hatte fie zuerſt die An- deutungen der Belannten entgegengenommen,

Stärker ald der Top.

enblich begriff fie. Ein feines Lächeln ohne Bitterfeit hatte um ihre Lippen gefpielt, aber fie fagte nichts, nur die dunfeln Augen ſchauten mit einem klaren Blid, aus dem bie ganze Freiheit ihrer Seele leuchtete, den Beſucher an, ſodaß der das unbehaglicdhe Gefühl nicht los warb, foeben etwas fehr Unpaffendes gefagt zu Haben; er empfahl ſich eilig.

Es iſt fehr ftil im Kranfenzimmer; ein Bienchen Tommt durchs offne Fenſter und fucht ängftlid) brummend einen Ausweg.

Eliſabeth jißt regungslos neben dem Kranken⸗ bett; ihr ganzes inneres Tongentriert fi auf einen Gedanken: wird er fie vor feinem Tod noch einmal grüßen, wird er ihr ein Zeichen geben, daß er ihr feelifch nahe ift, daß er ihre Liebe fühlt und erwibert? In den le&ten Wochen bat fie fein einziges Erkennungs⸗ zeihen mehr von ibm gehabt; mie eine Mafchine, die langfam ihr lebte Feuer aus: atmet, erſchien ihr der Körper des geliebten Manns. Nun war die Stunde gefonmen, in der der gefeflelte Geift endlich frei werben folte von der langen, ſchweren, Gott allein weiß, mie ſchweren Laſt.

Die Atemzüge des Sterbenden werden be: Hommener, unruhig wirft er fein Haupt hin und ber. Eliſabeth erhebt ſich und ergreift feine zudenden Hände, ihre Lippen bewegen ſich tonlos, ihre Seele fpricht zu feiner Seele:

„Mein Geliebter, fühlſt du, wie ich bir nabe bin in biefer fchredensvollen Stunde; ach, wenn Liebe diefen Weg erleichtern kann, fo ift er dir erleichtert. Ob, könnt ich mit bir gehn, meine Hand in deiner Hand. Ach, nur einmal noch deine Stimme hören, einmal dir ind Auge bliden. Hörſt du mih? Ich weiß, daß du mich hörft, und wenn bu mich nicht börft, mich jeßt nicht hörft, jo weiß ich, daß es Täufchung war, nichts könne uns ſcheiden. Friedrich, Lieber, Guter, anttvorte mir, deiner Elifabeth!”

Sie ſah ihn flebend an. Er war ganz ftill geworben, als ob er den unbörbaren Worten gelaufcht habe. Nun flog ein Bittern durch den Körper, angſtvoll und feuchend ging der Atem, er öffnete den Mund und ſchloß ihn wieder, Schmeißtropfen ftanden auf feiner Stirn. eine Augen ivaren meit offen, eine

Ankunft des Morgens.

fürchterliche Angft glomm in dem ftarren Blid, mit dem er fi) in Eliſabeths Augen einzubohren fuchte. Seine Hände zudten, der ganze Körper ſchien einem inneren Gebot ger horchen zu tollen; mehrmals öffneten und ſchloſſen fi die Lippen, enblid ein Laut: "2... . liebe”. Elifabeth liefen die Thränen über die Wangen, „ichdanfedirriebrich, mein Friedrich”. Der Eterbende war zurüdgefunfen, Friede breitete ſich über fein Gefiht, die Augen ſchloſſen fi wieder. Cie beugte fi über ihn und Füßte ihn, dann nahm fie ftill ihren Platz ein, ihre Hände hielten bie feinen, ber Blid kehrte fi) nach innen. Ihre ganze Seele, ihre ganze Kraft war nun bei dem Geliebten; fie fpürte nicht® mehr vom eigenen Leben, all ihr Denken und Fühlen mar bei ihm, half ihm die Feſſeln abftreifen. Der Atem wurde röchelnd und ſetzte aus; "Elifabeth rührte fih nicht; er begann von neuem unb blieb immer öfter aus, immer ſchwaͤcher hob und fenkte ſich bie Bruft, einige Tropfen ſchwarzroten Bluts rannen in ben weißen Bart, und fcließlih war's ftill, ganz ftil.

49

Auch in Eliſabeths Eeele ift es ſtill. Wohl kann fie den Thränen nicht wehren, da nun das letzte fihtbare Band, das fie mit dem Freund verbunden hatte, geriſſen ift, aber im Grund ihre Herzens rubt ſchweigend ein tiefes Danfgefühl, daß ber Geliebte durch dieſes Thor durch ift, und ihr noch ein Zeichen feiner Liebe gegeben hat.

Ihr ift feierlich .zu Mut, wie einft an ihrem Hochzeitstage. Wie vernadläffigt diefe Kleidung ift, denkt fie, da® mürde ihm nicht gefallen, gern fah er fie ſchön.

Von der Etraße tönt ber Jubel der fpielenden Kinder; fie löft ihre Haare auf, die fie wie ein Mantel umgeben; wie hatte er es geliebt, damit zu fpielen. Träumend betrachtet fie ihr Spiegelbild; plötzlich weiß fie, er fteht neben ihr, ſchaut mit ihr in das Glas, mie fo oft in glüdlichen Tagen; faft meint fie, feinen Atem zu fpüren. Tünen nicht Worte an ihr Ohr? Sagt er nicht „mein Liebling, mein Liefel?” Nein, mit dem Ohr hat fie es nicht gehört; mit dem Herzen hat ſie's vernommen. ie lächelt in den Spiegel, ald grüße fie den Geliebten, und leiſe flüftert fie vor ſich hin: „Ja, Liebe ift ftärker ald der Tod“.

——

Ankunft des Forgens.

Wenn und Wipfel erwachen. Kräufelnd wiegt jich die Flut.

Rofenbeladener

Nahen,

Silbernes, fel’ges Lachen Schaut, wie der Morgen auf Rofen ruht!

Sanftes, beruhigtes Bleiten,

Cocken, perlend von

Tau.

Purpume Schleier breiten, Segnend die Einfamteiten, Liebende Eaften aufs Dämmergrau.

öitternde Klänge erhuben

Schwingen fchwebend zum Ficht.

Nadte und rofige Buben

Blafen auf goldenen Tuben:

Erde, wie fchön ift dein Angeficht! Erde, wie fchön ift dein Angeficht!

Maurire von Stern.

VAN

Der Gemüfebau im Hausgarten 431

Bliden wir die Gemüfenrten einzeln genauer an, fo finden wir als die begehr- lichften die Weiß: und Rotkrautarten und ben Blumenkohl. Ale brei produzieren im Verhältnis zur wildwachſenden Braffica-Pflanze enorme Blätter refp. fleifchige Organe, die nur bei ftarfer Nahrungs: und Waſſetzufuhr fich zart, ſchnell und groß entwideln. Alle drei wollen in ihren Früh: und Spätjorten forgfältig gepflanzt werben; fie können, wie auch die Wirfingarten, falls zur Frühkultur feine warmen Miftbeete zur Verfügung ftehen, ſchon im Oktober außgefäet, in kalte Fenfterbeete pifiert und darin durchwintert werden. Sie liefern dann, im Mai ausgepflanzt, im Juli fertige Köpfe.

Der Beirfing iſt ja etwas genügfamer, dankt aber auch die forgiame Pflege durch ſchön entwidelte Köpfe. Die verichiedenen Sorten biefer Kohlarten find in jedem Samenverzeichnis angegeben; man hält fih am beften an bie altbewährten an ben betreffenden Orten eingebürgerten. Die mit viel Reklame angepriefenen „Neuheiten“ wollen mit der größten Vorficht geprüft werben.

Dem Wirfing folgt der Roſenkohl, der fi ſchon mehr dem fehr genügfamen Grünkopl nähert. Wer feite Röschen wünfcht, giebt aber auch bier genügend Dung und Wafler, vor allem aber freien Standort, fo daß das Licht den Stengel mit den Nöschen beicheinen ann. Man fegt am beften nur je eine Reihe mitten auf ein Beet niebriger Gemüfe. Zum Herbft Hin werden bie großen Blätter bis auf den fiehen- bleibenden Blattftiel abgefchnitten. Die Kronenblätter bleiben figen.

Der nun folgende Grüntohl wird ala Nachfrucht gebaut, da er meiftens nur Wintergemüfe ift. (Im Süden auch im Sommer). Der niebrige ift in Schneewintern am ficherften vor Hafenfraß, oder es müßte der Grün und der Roſenkohl im Winter in der Näbe des Haufe eingeichlagen werben. Zu ben Koblarten zählt dann noch der Kohlrabi, der in feinen Frühſorten, je nachdem man nur die Stengel-Stnollen oder auch dad Grün benugt, Hle ober weniger eng gepflanzt werben kann; bie großen Spätforten müſſen weitläufig ftehen.

A Die Rohlrübe kann mie Grünkohl behandelt werden; fie wird Ende Mai gepflanzt.

Unter den ‚Dlattgemüfen folgen nun die Spinate. Hier ift für Herbft und Winter der gewöhnliche Spinat maßgebend. Er wird breitwürfig im Auguft ausgefäet. Bewirkt im Frühling die fteigende Sonnenwärme ſchnelle Blütenbildung, fo bietet der Neufeeländer Spinat den beiten Erjag. Diefer wird in Blumentöpfen außgefäet und Mitte Mai auf 5 cm Abftand ausgepflanät, Die Blätter werden einzeln abgepflüdt. An einigen Orten wird der grünblättrige Mangold, an anderen die großblättrige Melde als Spinat genoffen. Die übrigen hier und da als Spinat benugten Kräuter bedürfen feiner befonderen Beete, jondern werden, wo fie befannt find, gelegentlich in Heinen Quantitäten audgefäet. ö

Es find nun noch die Salatfräuter übrig. Hier fteht der Kopfſalat obenan. Es giebt unzählige Abarten desfelben, von benen die für den befonderen Gefchmad gewünfchten ausprobiert werden müflen. Sie werden im Sommer meiftens als Zwiſchenfrucht zwifchen Sellerie zc. außgepflanzt und lieben reichlicheg Gießen. Früh: falate laffen ficy leicht im Miftbeet treiben. Diefe Sorten wie die Treibgurfen find in den Samenverzeichniffen beſonders angeführt, fie taugen, mie jene, meiftens nur für die Treiberei. Dann find die Winterfalate bei Dftober:Ausfaat leicht zu durch wintern. Sie geben im Mai gute, aber nicht ganz zarte Köpfe. Das zu fchnelle Auffchiegen verhindert man durch Halbdurchſchneiden der Stengel. Abarten des Kopf: ſalats (Lactuca) find der Pflüdjalat und der Spargelfalat, beides aufſchießende Pflanzen; von erfterer genießt man die abgepflüdten Blätter, von letzterer die Stengel ſelbſt, folange fie noch zart find. Das kann übrigens bei jedem aufgeſchoſſenen Salatkopf geichehen; die Stengel haben aber durchaus nicht den Nährwert der Spargel, wenn fie auch jo zubereitet werben.

Der Schnittſalat ift ein ſchnell wachſender, aber nicht Topfbildender Salat, der fi im Zimmer, in Käften ausgejäet, gewinnen läßt. Salatausfaaten müſſen wie 3. B. NRadiesausfaaten während des Sommers wiederholt werden.

Der Gemüfebau im Haudgarten. 438

Eine noch viel zu wenig verbreitete ARübenart ift bie Kerbelrübe. Sie wird im September breitwürfig gefäet und im nächſten Sommer derart geerntet, baß man nach Abfterben der Triebe die obere Erde durchfiebt und die Heinen Rübchen auslieft. Die Heinften runden können noch einmal gepflanzt werden.

Die Kohlrübe (Stedrübe) habe ich ſchon unter den Koblarten erwähnt. Sie wird wie die Kohlarten außgefäet und auf ca. 40 cm Abftand gepflanzt. Sie leidet wie alle Kohle jehr am Raupenfraß.

Den Beſchluß der rübenartigen Wurzelgemüfe machen bie Rettige mit ihrer Heinen reizenden Abart, den Radieschen. Die Rettige werden in den großen fpäten Sorten im Juni als Zwiſchenfrucht oder in Reihen mit 30 cm gegenfeitigem Abftand ausgefäet, die Heineren Sommerrettige fönnen enger ftehen, und die Radieschen werben dünn in Breitfaat den ganzen Sommer hindurch wiederholt auegeſäet, während ber heißeften Zeit nicht an zu fonniger Stelle. Beim Säen der Rettige werden in Heine mit dem Finger gemachte Löcher je 3—4 Korn eingelegt und von ben entleimenden Pflanzen nur je eine belaffen.

Rettige müffen wie auch Radieschen ſchnell wachien, alfo genügend gegoffen werben. Letztere —8 ſich im Miſtbeet ſchon vom Januar ab treiben.

Unter den knollenartigen Wurzelgemüfen fleht der Sellerie obenan. Er verlangt, wie ſchon erwähnt, ftarte Düngung, wird im März im Miftbeet aus: jefäet, pikiert und dann auf 50—60 cm Abftand ausgepflanzt. Das Hauptbebürfnis jeiner Pflege ift Wafler. Dies kann ihm kaum genug gegeben werden. Die Zwiſchen⸗ tulturen von Salat und Rettigen habe ich fchon erwähnt. Reinhalten von Unkraut und wiederholte Behaden find bei allen gepflanzten Gemüfen felbftverftändliche Verrichtungen.

Der in England beliebte Bleichſellerie bringt Feine Knollen. Seine Behandlung iſt diefelbe, wie bie des Knollſelleries, nur muß er ohne Zwifchenkultur weitläufiger gepflanzt werden, da man ihn im Herbft durch Anhäufeln bleicht. Vorher werden die Blätter leicht mit Stroh umbunden, damit fie nicht ſchmutzig werden. Eine befiere Bleichmethode ift das Einfteden der Pflanzen in weite Drainröhren; die Spigen der Blätter dürfen hervorſehen. Die vielerort3 Fultivierten Erbbirnen (Topinambour) haben für die Küche geringen Wert, da fie zu weichlich find, um ald Erſatz der Kartoffel zu dienen. Die Knollen werden wie Kartoffeln gepflanzt, die hochgehenden Triebe im Herbft nad dem Gelbwerden abgeſchnitten; die nicht erfrierenden Knollen können nad Bedarf geerntet werden.

Bierliche, Heine Knöllchen geben auch die Oralis, die ald Glüdsklee häufig in Töpfen verkauft werden; fie gedeihen im freien Lande fehr gut, die Knöllchen muͤſſen aber, in Sand eingeichlagen, —8 durchwintert werden.

Der Meerrettig wird in Privatgärten faſt nur als Unkraut gefunden, und doch iſt es leicht, fehöne, lange Stangen zu erziehen. Man kauft von einer Erfurter Gärtnerei Sepftangen, legt fie möglichft wagereht in ca. 25 cm Tiefe in die Erbe, daß das bdidere Ende etwas hervorblidt und hält fie feucht. Im Auguft wird die Stange entblößt und durch Abreiben von den etwaigen Faſerwurzelchen gereinigt. Die am dünneren Ende fteil in die Erde gehende Wurzel bleibt erhalten und dient im näcjften Jahr als Setzſtange. Die wieder mit Erde bededte Hauptftange bildet fih bis zum Herbft zur ftarten Verbrauchäftange aus. Meerrettig verlangt tief: gelodertes Land; Zwiſchenkulturen find nicht ziwedmäßig.

Der vor längerer Zeit mit vieler Reklame empfohlene Knollen=Zieft ift fehr bald aus ben Küchengärten wieder verſchwunden, da die Knöllchen zu Mein und zu meichfich find; aud wird die Pflanze zu leicht zum Unkraut, das man nicht wieder 108 wird.

Bataten, Ignamen und Erbmandeln, die in unfern Rolonieen vielfach als Gemüſe gebaut werden, gedeihen hier nur in warmen Miftbeeten und bringen nur wenig Knollen. Es folgen die zwiebeltragenden Gemüfe. Streng genommen find dies ja feine Wurzelgemüfe, da man die Zwiebelfchuppen, alfo die Blätter, genießt. Sie find aber wie die Wurzelftöde (Rhizome) der Knollengemüfe, Nährſtoffe

28

Der Gemüfchau im Hausgarten. B 435

Reinhalten von Unkraut und Behaden macht bei Erbien und Bohnen bie Sommerpflege aus. Es ift aber durchaus faljch, wenn man fagt, fie dürften nicht gegoffen werden. Bei anhaltender Dürre wird eben alles gegoflen, fei es was e& wolle! Nur vermeidet man, die Blüten zu benegen; man täflert nur den Erdboden, diefen aber energifch! Die verichiedenen Sorten find in jedem Samenverzeichnid ge: nügend erflärt. Es find Cchneidebohnen, Brehbobnen und die ganz kleinen Perlbohnen. Es giebt faft von jeder Sorte Stangen: und Bufchformen, doch find die erfleren meiften® größer und ergiebiger. Bei den Bohnen dürfen nicht die fchönen, zu den Widen zählenden Ruffbohnen übergangen werden. Diefe werden zeitig im Frühjahr zu je 3—4 in 30 cm Abftänden mitteltief gelegt und entwideln ca. 1'/, m hohen Stengel. Daran erfcheinen die wohlriechenden Boten, denen breite, wollige Hülfen mit je 4—5 Bohnen folgen. Die fih ſtets an den Stengelfpigen einftellenden Blattläufe werden durch Abſchneiden der Spigen, fobald die eriten Früchte anfegen, vertilgt. Die Bohnen find folange brauchbar, als der Meine Nabel an der Spige noch grün ift.

Die oft empfohlene Sojabohne ift für das norddeutſche Alima nicht brauchbar.

Gehen wir zu_ den Fruchtfleifhgemüfen über, die namentlich durd Gurken und Kürbis repräfentiert werden. Die Kultur der Freilandgurken bedarf ſtark, aber mit altem abgelagerten Dung gebüngter Beete. Es werden Mitte Mai auf jedes Beet nur je eine Reihe Gurkenkerne gelegt, und die daraus entftehenden Pflanzen werben auf ca. 25 cm Abftand verzogen. Dann werden fie bis an die Samenlappen angehäufelt. Ehe fich die Triebe ausbreiten, können nebenbei noch Kopfſalat, Radieschen, Früßlartoffeln 2c. geerntet werben.

Breiten fi die Triebe aus, fo bedeckt man das Beet mit altem Dung und pflegt nun die Gurken mit genügendem Gießen, wozu aber nur weiches oder mindeſtens einen Tag an der Sonne geftandenes Waſſer benugt werden darf. Zu Salat werden Schlangengurfen, zum Einfäuern mittellange Gurfen gezogen; Eſſiggurken werben von den fog. Traubengurfen bereitet, oder man nimmt die Heineren Früchtchen der beiden ebengenannten Arten. Azia und Zudergurlen werden aus dem Fieiſche völlig außgereifter Früchte bereitet. Hiernach kann fi jeder bezüglich der anzubauenden Sorten richten. .

Den Schluß meiner Betrachtung möge ber Kürbis bilden, da die Melone fi bei und nur in Miftbeeten erziehen läßt und bie Epargelfultur einer befonderen Beſprechung bebürfte.

Der Kürbis laßt fih am beſten auf Kompofl oder Dunghaufen in fonniger Lage erziehen, auf dem die Kerne in ca. Im Nbftand gelegt iverden. Muß man Beete benugen, fo gleicht die Pflanzung der der Gurken bei größerem Abſtande. Bet der Pflege Heißt das Hauptbebürfnis Waller. Davon kann man kaum zu_ viel verabreihen. Die Früchte müſſen, da fie nur vollteif benugt werben, durd Unter: legen von Brettftücdchen vor Fäulnis befchügt werden; der hohle Ton beim Anklopfen zeigt die Reife an.

iermit hoffe ich in der Kürze, die durch den Raum dieſer Zeitfehrift geboten ift, einen Überblid über die Produkte gegeben zu haben, die man dem Gemüjebau abgewinnen ann. Immer wieder heißt es tie bei jeder menfchlichen Thätigfeit, danach fireben, nur befte, volfommene Nefultate zu erzielen. Minderwertige Produkte verlangen denjelben Aufwand an Kraft und Zeit.

Iſt e8 doch mit ben Obftgärten ebenfo. Wir laffen lieber Millionen nah Amerika wandern, ald daß wir una Mühe gäben, in unferen Gärten gleiche Erfolge zu erzielen, wo bdiefelben Grundlagen dafür gegeben find tie in Amerifa.. Warum geht’ in Süddeutſchland befier? Nicht etwa des Klimas wegen dad Völkchen ift dort regſamer, und ſich regen bringt Eegen.

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28*

Ertverbötkätigteit,

der Breite, Stärke und Mufterung der Ware abs hängt, fo ift doch bie Bewältigung von 240 Zuch in ber Minute eine Leiftung, bie und ftaunen macht, und dies um fo mehr, ald ein einfaches Rechenexempel und ben ftünblih vom Schügen zurüdgelegten Weg auf 25200 Meter angiebt. Biermal in der Sekunde fliegt der Schügen auf feiner Bahn hin und her; dem Auge nicht fichtbar, mit bligartiger Geſchwindigkeit, und ebenfo oft ſchlagt der Schlagbaum ben Schuß zu feinem Bor: gänger. Wie gering ift Biergegen bie Kraft ber Hand, bie es bei angeftrengteftem Fleiß auf höchſtens 35—40 Schuß in ber Minute bringt. Gebenten wir nun noch der Maſchinen, bie fih beim Reißen aud nur eined einzigen Fadens felbftthätig aud- ſchalten und den ganzen Koloß im Augenblid zum Stilftand bringen, jo glauben wir bad Wiſſens⸗ wertefte gezeichnet zu haben. Im Handwebeſaal finden wir in entfprechend vereinfachter Art und geringerer Farbenpracht biefelben Stoffe wie auf den mechaniſchen Webftühlen. Auch Krimmer wird bier angefertigt. Doch wie mühfam ift dies alles, mie langfam geht der Schügen durch die Kette, und wie ſchwer Kommt ber Krimmermeber, ber jeden Stab zur Hervorbringung des Zuchs einzeln zwiſchen Kette und Schuß fticht, vorwärts!

Aus der Weberei zur Wirkerei: und Pofamentier: Abteilung. In der Ausſtellung der Abteilung für die Wirkerei finden wir alles, was mit ber Be: zeichnung Untertleidung“ umfaßt werden Tann. Außerdem wird Trikot zu Turmanzügen hergeftellt und werben Felle imitiert, die dad teure Fell, wenigftend dem Auge, erfegen.

In der Bofamentier-Abteilung finden wir eben: falls alle Erzeugnifie diefer Branche auögeftellt. Hälelarbeiten in reizenden Muftern, Schnüre, Be hänge und Duaften für Gardinen und Bortieren, Bandgürtel ıc. in reicher Auswahl. Hierzu die nötigen Nöppel, Hälek, Plattier-, Chenille- Maſchinen u. f. f. Ein den beiden legten Gruppen Gemeinfames ſcheint eine geringere Verwendbarkeit motorifcher Kraft zu fein; wird doch in ber Vofamentier-Abteilung fo mander Schügen noch mit der Hand durch die ja nur ſchmal aufgebäumte Kette gezogen.

Roch drei Abteilungen, und nicht bie uninter- effanteften, giebt es in biefer, das Handwerk mit wiffenfchaftlicher Tiefe Ichrenden Schule und zwar, die Stiderei, Mufterzeichnung und das chemifche Laboratorium. Bevor wir jeboch auf diefe legten drei Abteilungen eingehen, wollen wir bie Zu: fammenfegung ber Schule, d. h. ihren Lehrförper, die Unterrichtöfächer und die zum Beſuch der Schule notwendigen Borbebingungen, Fury durchgehen.

Die Schule zerfällt in Taged:, Abend: und

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Sonntagskurſe und unterrichtet außer in den ſchon angeführten Abteilungen noch in ber Buchführung, Taufmännifchem Rechnen, Materiallehre und Gefehed: kunde (Gewerbe und Sozial:Gefeggebung). Die Schüler werben in Vollſchuler, Tagesſchüler und Halbſchüler, Sonntags: und Abendſchüler eingeteilt. Bon ben Bolfhirlern wird in ber Regel, mit Ausnahme der Stider: und Muſterzeichner, die Abfolvierung ber erften Alaſſe einer Realſchule verlangt. Es kommen bier in erfter Linie Fabritanten, Fabrildirektoren und folde, bie es werben wollen, in Betracht. Die anderen Kurfe find einem jeden gegen Hinterlegung des Schul: gelbes zugänglih. Zu dem Unterricht gehört Bindungslehre, Materiallehre, Muſterausnehmen, Montieren und Demontieren der Mafchinen und Webftühle und prattiſche Übung.

Die Kurfe für Mufterzeichnen und Stiden find aud weiblichen Schülern zugänglich; das Schul: geld beträgt in den Kurfen für Mufterzeichnen für Preußen und Deutfche 60 Mark, für Ausländer 800 Marl, für Stiden vierteljährlih 50 Mark. Diefe Angaben gelten für Tagesfhüler. Die Kurfe beginnen zu Oſtern und Michaelis ) und erftreden ſich beim Wufterzeichnen auf 2 Jahr, beim Stiden auf % Jahr. Außerdem wirb in beiden Fächern auch Abends und Sonntags unterrichtet, wobei bie Unterrichtöftunden nad ben Verhältniffen der Teilnehmer feftgelegt werben. Die Schule erteilt Zeugniffe über Betragen, Fleiß und Leiftung; den Teilnehmern der höheren Kurſe fteht es frei, fih einer Prüfung zu unterziehen ober nit. Der Lehrlörper befteht aus zwei Direktoren, Chemitern, Mufterzeichnern und Fachleuten. Das Unterrichtd: geld wird von Preußen, Deutfhen und Aus: ländern in ungleicher Höhe erhoben, Preußen zahlen am wenigſten. Doch nun zurüd und zur Stidere. Ein weißes Alastiffen mit Gold: ftiderei, ein volles Schilfbouquet mit goldgelben Bafierrofen darftellend, weiße Tifchgebede mit einem Blumengewinde in ber Mitte und herrlich ftififierter Randzeichnung, in allen Farben beftidte Vorhänge, Portieren und Lambrequind find aus: geftellt und nehmen dad Auge gefangen. Auch Soutache und Perlarbeiten auf Caped und Damen: jadetS find vorfanden. Auf einem Langen Flur find die verſchiedenen Spfteme ber Kurbelſtick- maſchinen aufgeftellt. Es werden fämtlihe Stid: arten (Tambour:, Mevos-, Einlagen und Zierftic) gelehrt. In der Abteilung für Muſterzeichnen finden mir geradezu Meifterwerte der Zeichen: und Mal: tunft. Unterrichtet wird in brei Semeftern und zwar im erften nad Vorlage; im zweiten nad)

d In diefem Jahr am 15. April Proſpetie find in der Säule Loftenfrei erhältlich.

Frauenleben und »Streben,

daß es nicht mehr als hauptſächliches Nahrungs: mittel von den arbeitenden Klafien gefauft werden tann, fo werden dieſe zu einer bie Gefunb: heit gefährdenden Verſchlechterung ber Lebenshaltung gezwungen. Was können alle Gefege zum Schuß ber arbeitenden Klaſſe nügen, alle Berfuche, die Arbeiterin ihrem Haus, ihrer Familie, ihren Kindern zurüdzugeiinnen, wenn man ihr die Möglichkeit erſchwert, gefunde Träftige Kinder heranzuziehen; wenn man ihr mit ber einen Hand giebt, um mit ber andern zu nehmen?

Eine Teuerung, bie ald unabwendbares Schidfal gebuldet und getragen werben müßte, wenn fie durch Mißernten oder Krieg verurfacht wäre, will

man fünftli dur Zölle und Steuern herbei: |

führen. Aus ſolchen Maßregeln würde aber nur einer Meinen Minderheit des ganzen Volles ein vorübergebender Vorteil erwachſen; weite Kreiſe ber Bevölterung würden ſchwer geſchadigt werben: auf bie Frauen aber wird bie Hauptlaft ber Verteuerung fallen!

An alle deutſchen Frauen richten wir deshalb die Bitte, alles zu thun, was in ihren Kräften fteht, um die Sorgen und Mühen abzuwenden, die ihren Geſchlechtsgenoſſinnen durch eine Erhöhung der Getreibezölle auferlegt würden, der Not ent: gegenzutreten, mit ber biefe Maßregel unabweisbar die arbeitenden Volksklaſſen bedroht, ber Ber. tümmernng ber Broternährung, ber Berteuerung des täglicden Broted!

Helene Lange-Berlin. Alice Salomen-Berlin. Auguſte Schmibdt:Leipzig. Anna Simfon-Breslau. Marie Stritt-Dreöben.

* Der prenfifche Qultubminiſter hat in Sagen des Mäbdengyinnafiums unter dem 14. Januar folgenden Erlaß auögehen Laffen:

Die Eingabe vom 5. Ottober v. Is. betreffs Er: richtung eined neunflaffigen humaniftifchen Mädchen: gummafiums in R., habe ich nach allen Seiten einer erneuten und forgfältigen Prüfung unterzogen. Ich erlenne die felbftlofe Abficht des Vereins, denjenigen Mädchen, welche fih afademifchen Studien widmen wollen, die Gelegenheit zu guter und grünblicher Vorbildung zu gewähren, gern an, vermag mid aber davon, daß ber gecignetfte Weg hierzu bie Gründung eines humaniftifhen Sollgomnafiums fe, um fo weniger zu überzeugen, als gerabe jegt in Berfolg des Allerhöchſten Erlaſſes von 26. November v. Is. auf dem Gebiete bed höheren Schulweſens Wandlungen fi vorbereiten, welche die Vorausfegungen, von denen die Eingabe des Vereins ausgeht, in weſentlichen Punkten als bin fällig erſcheinen Laffen. Auch beruht es auf einer Pertennung des Wefend und ber Beftimmung der befteenden Gumnafialkurfe für Mädchen, wenn der Verein ihnen bie Aufgabe zumweifen will, mit ihren

üferinnen in vier ober fünf Jahren den neun: jährigen Lehrgang des Gymnafiums zu durgeifen.

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Ihre Aufgabe werden fie vielmehr darin zu erfennen haben, die beiden Bildungdgänge in organifcen Bufammenhang zu fegen und auf Grund der all: gemeinen Bildung, wie bie höhere Mädchenfchule fie zu gewähren vermag, in einer Lehrform, bie dem Berftändniffe erwachſener Mädchen entſpricht, ihre Schülerinnen zu den Sielen des Gymnafiums zu führen, nicht in ber Art einer Preſſe für die Reifeprüfung, fondern in georbnetem, imethodiſch fortfchreitendem Lehrgange, der naturgemäß auf diejenigen Gebiete fich Tonzentrieren wird, welche neu an die Schülerinnen herantreten.

Ic vermag daher bie Genehmigung zur Er⸗ Öffnung einer Gymnaftalferta und einer Gymnafial- tertia für Mädchen in R. zu Oftern d. Is. nicht zu erteilen.

Dabei vertenne ich keineswegs, daß bem höheren Unterrichte der Mädchen im Laufe ber Jahre neue Aufgaben erwachien find, und baf bie gegenwärtige Lehrorbnung der höheren HMäbchen: fulen, zunächft wenigftenß bie der höchftentwidelten Anftalten, einer zeitgemäßen Fortbildung fähig und bedürftig ift. Ih bin aber überzeugt, daß bie höhere Nädchenichufe, bie, den Bebürfniffen folgend, im weſentlichen ohne behördlichen Zwang und obne Prüfungsdrud, ald freie Bildung ſich entwidelt hat, allgemein als Einheitsſchule und al® Grundlage für weitere Bildungsgänge, welcher Art fie auch feien, erhalten bleiben muß, und daß ed ein ver: hängnisvoller Jrrtum märe, fie ihrem eigentlichen Berufe zu entfremmden, und von dem Bebürfniffe und ben Neigungen einer beichräntten Minderzahl die Bildungdeinritungen für die große Mehrheit der Mäbchen abhängig machen zu wollen.“

* Die Reform der höheren Mädcgenfchuie tam im Abgeordnetenhaus bei Gelegenheit der Be: ratung bed Aultusetats am 11. März zur Bes ſprechung. Die üblichen Warnungen ber Herren Dittrich, Shall und ihrer Gefinnungsgenofien vor weiteren Konzeffionen an die ſchon zu weit getriebene Frauenbewegung lonnen fuͤglich über: gangen werden. Von Intereſſe iſt die Ertlärung de Regierungstommiſſars Geheimrat Wae doldt. daß für die höheren Mädchenſchulen „eine Prüfung der Frage unumgänglich wird, ob ihr ganzer Bildungsgang und bie Art, wie fie lehren, noch den Forderungen ber Zeit entſpricht · Wir fönnen nur hoffen, baf durch bie geplante Mäbchenfhul: reform wirtlich die Möglichkeit geſchaffen wird, die niederen und höheren Lehrgänge zu verſchmelzen, geſchaffen nämlich durch eine gründliche Umgeftaltung des Unterbaued, auf den die Gpmnafialbilbung fid) zu gründen hat.

I * Über den Ansfdhinf der Frauen von der Mitgliedfchaft der Geſellſchaft für foziale Re- form äußert fih die „Soziale Praris · (Spalte 534 f. in Rr. 22) wie folgt:

Bu ihrem lebhaften Bedauern hat die „Gefell: ı haft für Soziale Reform" zur Zeit auf bie Mit: ; gliebfehaft der Frauen verzichten müffen. Nachdem ! bie fonftituierende Verſammlung am 6. Januar

Brauenleben und «Streben. 4l

beichäftigt, find bereits weitere Kreiſe gewonnen worben. (frauen, die ben erften Berliner Geſellſchafts⸗ reifen angehören, Künftlerinnen und Borfigende don Frauenvereinen haben eine Anfrage an bie Inhaber der Berliner Koftüm:Detailgefchäfte ge⸗ richtet, um beren Stellungnahme zu ber Frage der Heimarbeit zu erfahren. Außer dem Berein ber Berliner Damenmäntel: und Roftüm:Detailgefchäfte haben 82 Gefchäftsinhaber die Anfrage beanttvortet. Die Mitteilungen ber Herren, bie allerdings ſehr twiberfprechend lauten, beftätigen bie Befürdhtung, da von vielen Geſchäften die Einführung reſp. Aus: dehnung ber Heimarbeit ind Auge gefaßt wird, um die Lohnforberungen der Arbeiter umgehen zu Tonnen. Die Kommiffion beſchäftigt fi nun damit, die Sache durch Herbeiſchaffung weiteren Materials zu fördern. Es wird über ben Verlauf der Be: wegung weiter berichtet werben.

* Die Anftellung von Frauen in ber öffent lichen Armerpflege hat jegt auch der Charlotten: burger Magiſtrat beſchloſſen, nachdem fi früher bie Armenbireltion nahezu einftimmig dagegen aus: geiprochen hatte. Da die Charlottenburger Armen: bireltion heute einen ber Sache freundlichen Stanb- punft einnimmt, hat der Magiftrat bei der Stadt: verorbnetenverfammlung einen Antrag eingebracht, in dem er um Zuftimmung zu ber von ihm be: ſchlofſenen Zuziehung von Frauen zur öffentlichen Armenpflege erfucht. Die Heranziehung von Frauen zur Armen: und Waifenpflege wird auch in Rirborf bei Berlin angeftrebt. Cine Berfammlung der Gemeindewaifenräte von Rixdorf und Brig faßte den Beſchluß, unter Hinweis auf die an anderen Orten, befonder® in Berlin, gemachten guten Erfahrungen den Rirdorfer Magijtrat auf: zufordern, Frauen zu ben unbefolbeten Gemeinde: ämtern heranzuziehen und mit der Anftellung von BWaifenpflegerinnen den Anfang zu machen.

* Das Deutidhe Laud · Erziehungsheim für Mädchen (Leiterin: Frau von Peterjenn) am Stolper See bei Potsdam, das in ber Mainummer bed vorigen Jahrgangs ausführlich beiprochen worden ift, beginnt am 1. April fein neues GSommerfemefter. Bir entnehmen dem Bericht über dad vergangene BWinterhalbjahr zu unferer Freude, baf das Unter: nehmen ſich in den neuen, ihm beffer entfpredenden Räumligpteiten Träftig enttwidelt Hat, und empfehlen an diefer Stelle die Anftalt allen Eltern, die ge: nötigt find, ihre Kinder fortzugeben, aufs wärmſie. Um die Ziele des Deutſchen Land:Erziehungheims unfern £efern noch einmal in Grinnerung zu bringen, entnehmen wir ben kürzlich erfchienenen Mitteilungen ber Leiterin folgendes: „Wir wollen die Lörperliche Ausbildung der Mädchen in weit: gehendem Mafıe pflegen; denn das umfangreichite Säulwifien fann fie nicht entfcäbigen, wenn fie es im geringften mit irgend welchen förperlichen Nachteilen erfauft Haben. Wir fuchen dies zu ver:

meiden durch: 1) größtmögliche Einfchräntung ber wiffenfchaftlicgen Arbeitägeit; wirb angefpannt ge: arbeitet und mit Aufmerffamteit, fo tann man da weſentlich abweichen von bem gewöhnlichen Maß; 2) burd viel Bewegung im ifreien; dem dient unfere Garten: und Feldarbeit, die Pflege ber Tiere, Turnen, Rudern, Saufen, Radfahren, 8) durch Ab: Härtung, tägliches Baden, falt Abreiben, nicht zu warme Kleidung, gefunbe Betten (mollene Teen anftatt Federn), gefunde Ernährung (viel Wild, Eier, Mehlipeifen, Obſt, Fleiſch, fein Altopol, teine ftar! gewürgten Speifen).

Gleich wichtig, wie die Pflege des Körpers muß und bie des Charakters fein, und wir haben und gefreut die Erfahrung zu maden, daß eine Ein: wirkung in biefer Richtung viel beffer möglich ift durch unfer inniges Zufammenleben mit den Kindern, al3 etwa in einer Tagedihule, wo außerhalb der Schulzeit unberechenbare Einflüffe auf fie einwirken. Die_fleipige Arbeit, die jede Stunde des Tages ausfüllt, läßt ohnehin ſchon nicht viel Rebenger danten auflommen und wenn man ben Kindern ge: nügend Freiheit läßt, felbft Teil nimmt an ihren Bergnügungen, Liebe und Aufmerkfamteit zeigt für alles, was fie angeht, nicht durch Strafen, ſondern durch Einfehenfernen zu wirten fuct, fo it faft alled damit zu erreichen. Mächtig fördert ferner ein der Eigenart entfprechender Unterricht und dad Betonen der ibealen Ziele bei demſelben. Doch nicht nur diefem idealen Biele fol Rechnung ger tragen werden. Die Frage: „Was willft Tu werben?“ ift bei und an der Tagesordnung. Wir wiffen, daß eine jede von und das Ziel ber Selbftändigkeit erreichen muß, je nachdem es ihren Fähigkeiten entfprit. Darin [lichen wir uns den berechtigten Beftrebungen einer befonnenen modernen Frauenbewegung an unb wenn eins ber Kinder fo lernen möchte, daß einem etwaigen Abiturienteneramen nicht im Wege ftände, jo fände «8 bie hierzu nötigen Hilfämittel fo gut vor: handen, wie zu irgend welchem anderen Berufe.“

* Die Wirtfchaftlihe Fraueuſchule auf dem Lande zu Nieder Ofleiden, in ber ſchönen Gegend bei Marburg a. db. 2, wird manchem unferer 2efer ſchon befannt fein, aud in der „grau“ ift ihrer bereits gedacht worden. Mas biefer Schule und den von ihr verfolgten Zielen einen eigemartigen Charakter verleiht, ift, daß fie toeber eine „Daußhaltungafejule“ im gewöhnlichen Ianbläufigen Sinne ift, noch eine Erziehungs: anftalt, wie bie meiften Penfionate, die der Schule entwachfenen jungen Mädchen eine weitere Aus: bildung, auch in den häuslichen Rubrifen, geben follen. Sie bejwedt vor allem, Damen aus den höheren Ständen durch twiflenfchaftliche und theoretifche, ſowie prattiſche Unterweifung all die Kenntniffe zu vermitteln, die eine wirklich tüchtige Reiterin eines Oaudwejend, in der Stadt oder auf dem Lande, fei es als Hausfrau felbft, als Nepräfentantin ober Borfteherin, fei es als hauss wirtfgaftliche Zehrerin, (der Schule ift eine Haus: haltungsſchule für Bauernmäbchen mit Abteilung für weibliches Dienftperfonal angegliedert, und fo fann fih an dieſen Schulen die Seminarklaſſe im Unter: richten üben) ähnlicher, noc) zu errichtender Anftalten befigen muß, um den heutigen Anfprüchen zu genügen. Deshalb gehört zum Eintritt auch ſchon eine gewiſſe Reife und ift als nicdrigfte Alterögrenze

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die Vollendung des 17. Lebensjahres angefeht. Außer dem alle Gruppen des nötigen Wiſſens um: faffenden und von bewährten Kräften geleiteten Unterricht bietet gerade die Schule von Nieder: Dfleiden durch Lage und klimatiſche Berhältnifie, Wafferleitung, materielle Verpflegung u. |. w. auch in fanitärer Hinficht die größten Borteile. Wir

Frauenvereine.

können dem Unternehmen nur immer weitere Un: erfennung und die notmenbige Tnterftügung ber betreffenden Kreiſe wünſchen. Wer fich näher dafür intereffiert, möge fih um Brofpelte ober genauere Nachrichten an den Borftand wenden, zu Händen ber Freifrau Dorette Schent gu Schweinsberg in Nieder:Ofleiden bei Homberg a. d. Ohm, Oberheffen.

BIS

Frauenvereine.

Der Berein Berliner Dienſtherrſchaften und Dienftangeftellter

bat während feines bald einjährigen Beſtehens durch häufige Zufammenfünfte und Beiprechungen feiner Mitglieder an der Klärung ber Dienftboten: frage gearbeitet. Referate wurden gehalten von befannten Rebnern, von Hausfrauen und auch von Dienftangeftellten über die Lage der Dienjtboten im Ins und Auslande, über Stellennadhmeis u. ſ. w. Im Monat Februar fanden 3 Berfanmlungen ftatt: eine Bereinsverfammlung für Herrichaften und Dienftangeftellte, eine öffentliche Verfammlung für die lehteren nicht vom Verein felbit, fondern von einigen Mitgliedern einberufen und eine Vereins: verfammlung für die Herrichaften. In der erſten fprad Frau Sophie Suſsmann überdas, Intereſſe der Herrichaften an einer Beſſerung ber Lage der Dienftangejtellten”. Sie warnte vor einfeitiger Bertretung ber Intereffen der Herrichaften wie ber Angeftellten, die den häuslichen Frieden gefährden würden und empfahl den Hausfrauen die Wünfche der Dienjtboten, die fich auf gemeinnüßigen Stellen: nachweis, Befeitigung der Geſindeordnung, Anſchluß an die Reichs-, Kranken- und Unfallverſicherung, geſunde Schlafräume, zeitgemäße Regelung von Arbeit und Muße und beſſere Geſelligkeit richten, nach Kräften zu fördern. Nicht nur um der Ge— rechtigkeit willen, ſondern auch weil, wie fie bar: legte, die Herrſchaften nicht nur meiſt keinen Schaden, ſondern in vielen Fällen Vorteil haben, wenn ſie für dieſe Wünſche eintreten. Beide Gruppen ſtimmten lebhaft zu.

In der öffentlichen Verſammlung ſprach H. v. Gerlach über „die Dienſtbotenfrage im Reichs— tag“. Er befürwortete lebhaft die Unterſtellnng der Dienſtangeſtellten unter das Gewerbegericht. Die Verſammlung nahm im Anſchluß an ſeine Ausführungen nachſtehende Reſolution an: „Die von Angehörigen aller Stände, insbeſondere von Hausfrauen und Hausangeſtellten zahlreich beſuchte öffentliche Berfammlung erwartet vom Reichstage, daß er die Streitigkeiten aus dem Gefindevertrag ben Gewerbegerichten unterftellt und zwar Gewerbe: gerichten, bei denen Hausfrauen und Hausangeftellte Beifiger find.” Sn der Nereindverfammlung für Herrfchaften entwarf Herr Schriftiteller Went in feinem Vortrag „Zeitgemäße Betrachtungen zur Dienftbotenfrage” dag Spealbild eines Hauſes, in welchem die Dienftboten gerecht und zeitgemäß be- handelt werden und regte dadurch eine ſehr lebhafte Diskuſſion an. Der Berein, deifen Gründung von den Dienftangeitellten angefangen wurde, zählt heute unter feinen Mitgliedern mehr Hausfrauen

als Dienende. Doch zeigen bie letzteren ein viel ſtärkeres Intereſſe für die Aufgaben des Bereing, während fich dieſes bei den erfteren leider vielfach nur auf die Stelfenvermittelung beſchränkt, die, noch in den eriten Anfängen befindlich, fich Hoffentlich immer mehr entwideln wird. E8 wäre aber bringend wünſchenswert, daß die Hausfrauen fich ernithafter ala bisher mit der Dienftbotenfrage befchäftigten. Bureau des Vereins Potöbamerftr. Bde, 3—7 Uhr.

Der Münchener Kunftgewerbe:Berein hielt am 5. Februar cinen Bereindabend ab, der ben Frauen gewidmet war. „Die Frau in der Kunſt“ lautete das Thema von Dr. Helms Bortrag, der bauptfächlich die Darftellung der weiblichen Eriheinung in Plaſtik und Malerei behandelte, und in feiner Weife den Syortfchritt nachwieg, der fih von den fchlichten, reinen Brofilbildern ber italienischen Renaiffance an 5i8 zum vollen freien Nachſchaffen der Schönheit, des ſeeliſchen Ausdrucks der Frau bis auf unfere Zeit vollzogen Bat.

Die aktive Thätigkeit der Frau in künſtleriſchen Dingen würde nicht ſehr hoch angefchlagen, doch ftebe ihr das weite Gebiet der beforativen Künfte und der Nadelfunft offen. Died leitete zum zweiten Teil bed Abends über, der Heinen, aber gut gewählten Austellung von Frauenarbeit auf funftgewerblihem und illuftrativen Gebiet, die, in wenigen Tagen zufammengebeten, fein vol- ftändiges, aber doch ein recht charakteriftiiches Bild der heutigen weiblichen ALeiftungen bot. srl. Srene Braun bielt einen kurzen Bortrag zur Erläuterung und betonte, daß fih in den letzten schn Jahren das Niveau der Zunftgemerblichen Frauenarbeit bedeutend gehoben babe, obwohl die Mädchen in mander Beziehung babei mehr Schwierigkeiten zu überwinden haben als bie jungen Leute. Die ganze Ausbildung der Mädchen gefchicht nur auf den Bapier, während man jett überall zur Einficht kommt, wie nötig dafür die MWerkftatt ift, die die jungen Leute vor oder nad ber theoretifchen Lehrzeit befuchen können; dad Ent: werfen für die verfchiedenen Zweige ber Anduftrie müßte immer folchen praftifchen Untergrund haben. Immerhin betbätigen fich eine Reihe von rauen als Zeichnerinnen für gewerbliche Betriebe. Ganz jelbftändig hat Frau Schmidt-Puſt in Konftanz ihre Kunſttöpferei eingerichtet. Margarete v. Brauchitſch erhielt Schon vielfach Auszeichnungen für ihre phantafievollen Entwürfe und für bie danach ausgeführten Tapeten, Kunftverglafungen und Malereien. Einige Lcdertapeten von vor:

Frauenbereine.

gügfigger Wirkung waren im Saal aufgehängt, ebenfo mehrere befannte Plakate von Frauenhand, (3. Ströver, Ehrhardt, Kaltenbach). Mehr: fach haben Frauen in den Blafattonkurrenzen gute Preiſe errungen. Ganz neu finb ferner bie Driginallithographien von Frauen einige feine Blätter von J. Fikentſcher, B. Welte (Mit: glieder des Karlöruher Künftierbunbe8) bann von J. Ströver, 2. Ehrmann und andere waren außgeftellt. Doris Raab dagegen ſteht ſchon länger unter ben erften in ihrem dad; fie hatte zwei ihrer beften Blätter große Radierungen nad Holbein und Rembrandt gegeben. Unter den zahlreichen guten Rabierungen war ‚befonderd eine Arbeit von Linda Kögel bemerkenswert. Das Kunftgeiverbe war gut vertreten burch feine Holzintarfien von Fr. dv. Debfcig, Leberplaftit von M. Winterwerber, einen geftidten Wand» ſchirm von Lester, ein geſchnitzies Schränfchen und Proben einer indiſchen Färbetechnit (Battid), von der Bortragenben feldft, Tiefbranbarbeiten von M. Gleck und eine Reihe von Kunftftidereien nad Entwürfen von M. v. Brauditfch, Gertrub Rommel und anderen.

„Es wird viel von Frauen-Rechten geredet, die noch zu erringen find”, fo etwa jchloß Frl. Braun, „eine aber haben wir uns ſchon erworben und erwerben es und täglich neu: das Recht ernit- haft genommen zu werben, wirklich und wahrhaftig zu arbeiten, wie die Tüchtigen unter unfern Kollegen.“

Lebhafter Beifall bezeugte das Intereffe, womit die zahlreiche Verſammlung den Ausführungen ge folgt war. Es iſt fehr erfreulich, daß ber Verein, der früger von feinen weiblichen Mitgliedern feine Notiz nahm, nun unter der Leituug des bekannten Argitetten $. v. Thierfdh, beginnt, fich für Frauen: arbeit zu intereffieren. Schon im vorigen Jahr wurde eine Ausftellung fünftleriicher Handarbeit veranftaltet, und Frl. Irene Braun zu einem Vortrag darüber aufgefordert. ie erläuterte in Harer, überfichtliher Weife nach Entftehung und Weſen die verfciedenen Technilen, faßte fie in wenigen Sauptgruppen zufammen und ging auf bi hen Gefege und delorativen Mögligjteiten ein, die durch gute Beifpiele belegt werben fonnten.

Auch damals war das Antereffe an dem reichen Thema außerordentlih rege, und ber Vortrag erihien mit vielen Abbilbungen ber beften Aus: ftelungsftüde im Geptemberheft ber Vereinszeit⸗ frift: „Runft und Handwerk”,

Am 23. Februar wurde in Köln der bereits in einer Gerbftoerfammtung vorberatene „rheiniſch · weſtphaͤliſche Frauenverbaud“ als Teil bes Yunded beutfger Frauenvereine lonfſutuiern Dem auf 2 Jahr gemählten Borftand gehören an: Frl. Günther:Bonn, Frau Hoeſch⸗ Dortmund, Frau Aramer: Bodum, Frau Arutenberg-

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Bonn, Frau von Langsdorff: Köln, Frl. Webers Gobeßberg, Frau Widkott: Dortmund. Die Leitung der Propaganda übernahm Frl. Günther:Bonn, biejenige der Sentral-Auökunftäftelle die 8. Bor: figende, Frau Rrufenderg: Bonn. Abweciclnd in beiden Provinzen wird in jedem Frühling eine Verfammlung ftattfinden. Dem Verband Tönnen torporative Mitglieder und Cingelmitglieder bei: treten. Publikationsorgan ift das Zentralblatt des Bundes.

Der Frankfurter Franenbildungdverein

(Borfigende Frau Rofalie Teblee) hielt am 20. Februar feine Yauptverfammlung ab. Dem Jahresbericht, der dieſes Jahr nit im Drud erfcheint, entnehmen wir Nachſiehendes:

Die Zahl der Schülerinnen betrug 450 gegen 310 im Borjahre. TDiefelben belegten 1073 Kurje. Diefe verteilen fi wie folgt: Buchführung 76, Rechnen 69, Schönfgjreiben 61, Hanbelsforrefpondenz und Warenkunde 51, Hanbelögeographie 44, Steno: graphie 48, Gchreibmafchine 22, Deutf 5B, (Fran: söfff 76, Enoliſch 82, Zeichnen 26, Vorbereitung zur Prüfuug der Hanbarbeitölehrerinnen 7; Kunft» ftiden 63, Schneibern 88, Weihnähen 68, Mafchinen: nähen 83, Wäfchezufeneiden 71, Pugmacen 42, Bügeln 37 und Aunftwafcen 2. Bon den oben angeführten Schülerinnen hatten 50 die fämtlihen ‚Kurfe der Kaufmännifchen Fortbildungsſchule befucht. Soweit zu unferer Kenntnis gelangt ift, haben 90 Schülerinnen in ben veridiedenen Berufen Anftelung und lohnenden Grwerb burd_felb: ftändige Thätigfeit gefunden. Die Prüfung als Hand: arbeitö: Lehrerin beftanden 4 Schülerinnen. Eine namhafte Breiermäßigung wurde 8 Schülerinnen zu Teil. Die Zahl der Benfionärinnen betrug 10. Die Kochſchule zeigte gleichfalls einen erfreulihen Auffhmwung. Am Unterricht beteiligten ſich 86 Schüle- rinnen gegen 88 im ®orjahre. Die Qubereitung von Aranfentoft ift in dem Unterricht mit auf genommen. Die Zahl ber verabreichten Mittags: portienen 40 durchfepnittlich täglich betrug 14,673 gegen 12,772. Nicht mitgerechnet find Hierbei die Penfionärinnen und die Perfonen des Haushalts. Ter Kindergarten wurde pro Monat durdichnittli don 7U Kindern beſucht. In ber Fröbel’igen Bildungsanftalt für Hindergärtnerinnen ft durch bie verſchiedene Alteröftufe und or: bildung eine Teilung in verfäjiedenen Fächern noi⸗ wendig geworden. Im Sommerhalbjahr befughten 24, im Winterhalbjahr 22 Schülerinnen die Anftalt. Der Vorftand beriet eingehend bie ihm durch bie Borfigende vorgelegten Cingaben bed Bundes beutfcher Frauenvereine und gab allen feine Zu: ftimmung. Bei der Generalverfammlung bed Bundes beutſcher ‚Frauenvereine twar er durch eine Delegierte vertreten. Die Polytechniſche Geſellſchaft, fowie die | Stabtbehörben gewährten bem Berein nicht un- ! Bedeutende Zufchüffe.

Bücerfhau.

nBrauenbilder and ber meneren bentichen itteraturgefchiäjte‘ von Ott o Berdrow. Mit 11 Bildniffen in Cichtorud. Siveite veränderte und vermehrte Auflage. Stuttgart. Greiner und Pfeiffer. Das Buch, befien erfte Auflage wir feiner Seit beiprochen haben, erſcheint in tenig veränderter Geftalt. An Stelle von Karoline von Günderode und Ulrike von Kleiſt find Charatteriftifen von Charlotte von Schiller und Erneftine Boie getreten. Um die Sfiggen über Gufanna von iettenberg unb Henriette von Paalzom if die Sammlung vermehrt Berdrow bat es auch in der meuen Auflage wieder gut verftanden, den Anſprüchen an wiſſen chaftlichen Wert und anregende, leicht ver: fändfiche, populäre Dasftellung in gleicher Weife zu genügen.

nDie Zranen in der ſozialen Bewegung” von Laura Marholm Mainz 1900. Berlag von Franz Kirchheim. An Laura Marholms Schriften hat man immer bie Yeiftungen hoher geiftiger Be: gabung bei einem bevaueriichen Mangel an miffen- Thaftlicher Schulung, überhaupt an geiftiger Diszipfin tonftatieren Fönnen. Wenn fie in dem borliegenben Bud) einmal fagt, Frauen fehle der biftoriiche Blid, fo trifft das auf ihre eigenen Geſchichtsbetrachtungen allerdingd durchaus zu. Und da fich auf dieſen Gefhichtöbetradhtungen die Theorieen oder, da foviel Syſtematik in dem Buche faum vorhanden, ift, daß man von „Theorie” fprechen kann Be Hauptungen ober Ideen in Bezug auf Augenstiätihe Lage und künftige Entwidlung der Frau aufbauen, fo ift nicht viel_damit anzufangen. Cin näheres Eingehen barauf erübrigt fi auch badurdh, baf die Grundanfhauungen von ber Berfaflerin ſchon oft und zwar beffer ausge ſprochen find. An dem Buch ift nicht genug gearbeitet, um ben Gebanfen, der ihm zu Grunde zu liegen fcheint, zu bewältigen. It falls short“ fi die befte Charateriftit, bie leider deutſch nicht fo treffend wiederzugeben iſt. Und das kommt einem doppelt ftart zum Bewußt- fein durch bie tategorifche Art mit der bie Der: fafferin ihre Urteile fält. Die Frauen haben feinen Grund zu irgendwelchen Shmpathieen für Laura Marholm, aber fie können es bedauern, daß ihre Kraft feine glüdlichere Entwidlung genommen.

„Was hat eine Mutter ihrer erwachſenen Tochter gu fagen?" Bon Klara Muche. Leipzig, Th. Grieben s Berlag & Fernau) 190. Daß in der Unwiſſenhe um Eintritt in die Ehe über bie Beziehungen des Geſchlechtslebens gehalten werben, kein Segen liegt, ift vielfach anerfannt. Durch bie Schwierigteit, bie Form für ſolche Aufllärungen zu finden, hat ſich aber mandjer hindern Laffen, feiner Erkenntnis ent: ſprechend zu handeln. Eine joiche Form zu geben hat die Verfafferin bes vorliegenden Schriftchen® verfucht, und das ift entihieben päbagogifh wertvoll. Die Beurteilung und Wertung einer folden Form ift allerbingd nicht leicht, da Hier indivibuelle Empfindungen ftärfer und entſchiebener mitſprechen, ald im vielen anderen ragen. Die Berfafjerin giebt ba feldft zu und ftellt ihre Schrift in biefer Hinfit zur Diehuffion. Cine unmittelbare An: wendbarkeit wird man natürlid von derartigen Verſuchen überhaupt nicht erwarten dürfen; fie find dazu da, Anregungen zu geben, eine Richtung anzumeifen. Und in biefer Beziehung Tann das

der Mädepen womöglich biB |

: und, bier eine empfehlen zu lönnen.

445

Buch, trog mancher Geichmadiofigleiten, zu denen ir befonder8 die etwas geichrauhte Einleitung rechnen, durchaus empfohlen werden.

„Univerfal-Ronverfationd-Leriton‘‘, heraus: gegeben von Jofeph Kürfgner. Dritte Auflage. Berlin, Eiſenach, Leipzig. Hermann Hillger, Preis 5 Marl.) Was der befannte Herausgeber mit feinem Konverfations:2erifon bat erreichen wollen, liegt auf der Hand. CB ift Heutzutage felbft in ben Kreifen, die große und teure Nachſchlagewerke be: figen, ein Bedürfnis, ein Buch bei der Hand zu haben, dad dem Ratfuchenden bequeme, fchnelle und inappe Antwort erteilt, befonder wenn es auch noch, wie wir bad bei ben großen Leiten Längft getoögnt find, die Jluftration zur Verdeutlichung zu Hülfe nimmt. Daß das Kürfhnerihe Leriton diefe Aufgabe in vollem Maße erfüllt hat, beweiſt bie große Verbreitung der erften Auflagen, bie nad Yunderttaufenden zählt. Die neue Auflage bringt eine bedeutende Grweiterung, 4—500 Bilder kamen zu ben vorhandenen, für die neue Auflage mehrfach umgezeichneten hinzu. Die Bilder wurden nun in der Vehrzahl unmittelbar in den Tert geftellt, ſodaß ein Auffhlagen Artitel und Jluftration zu: gleich vor da® Auge führt. Neu find ferner die Nartographiihen Beigaben: TDoppeltarten von Deutfchland, Ofterreich-Ungarn, Solonialbefig und Weltvertehr, verbeflert und verfhönert Papier und Einband. Zrog biefer Berbefferungen ift der billige Preis von 5 Mark unverändert geblieben.

nDa8 Mufenm“. Cine Anleitung zum Genuffe der Werke bildender Kunft von Wilhelm Spemann. Berlin und Stuttgart. Preis 1 Marl pro Lieferung.) Bon den zahlreichen Verſuchen, die Kunft dem Genießen bed Laien zugänglih zu machen, bem Intereſſe des tunitverftändigen Publikums an ihren biftorifchen Grfcheinungen entgegen zu fommen, ift das Muſeum einer der glüdlichften und gelungenften. Das ift fowohl der Auswahl des Dargebotenen, als auch der Feinheit ber Reproduktion und der Bor: züglichteit des Terted zu banken. Die 6. Lieferung % laufenden Jahrgangs bringt einen Artifel mit jeprobuftionen über Vittore Pifano, Blätter von Bildern des Gabriel Metfu, Piero di Cofimo, Paulus Potter ıc. Wir machen unjere Lefer, wie ſchon öfter an dieſer Stelle, von neuem auf das ausgezeichnete Werk aufmerkjam.

Tiny und Tinys Geſpielen.“ Cine Gefchichte für die Meinen und ihre Freunde von Bernharbine Schulze-Smidt. (Berlag von velhagen und Klafing, Bielefeld und Leipzig 1900). SKinbergefcichten fhreiben ift durdaus nicht leicht, wenn e8 aud) meift leicht genommen wird. Um Kinder richtig heraußzubelommen, bazu gehört ebenfo ein ver tiefendes Künftlerauge als zu ben Geſchichten für die Großen. Und da ein foldes Auge fich felten den Kleinen zuwendet, fo haben wir jo wenig gute Kindergeſchichten. Um fo mehr freuen mir Es ift bie Geſchichte eines jener phantafievollen Kinder, bie ihre eigene (Freuden: und Leidenswelt haben, und die fortwährend in Patſchen geraten, von denen die normalen Heinen Vernunftmenfchen ihres Alters nicht ahnen, wenn wir nicht irren, die Geſchichte der Berfafferin felbft, da e8 zu augenſcheintich auf eigener lebendiger Erfahrung beruht.

448

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Unterbeffen [hält man 10—12 große Sellerietöpfe, ſchneidet von jebem eine Scheibe als Deckel ab, und böhlt die Köpfe fo vor⸗ fihtig aus, daß ein tiefes und breites Loch entfteht, ohne daß Wände und Boden berfelben befchäbigt erden. In diefe Höhlung drüdt man nun bie Fleifchfüllung hinein, bindet mit weichem Baummollfaden den Dedel feft auf den Kopf und ſetzt alles mit 80 g zerlaffener Butter in einer großen Pfanne auf. Man gießt Y, Liter Fleifchbrühe unter bie Köpfe, beit 2 Dedel darüber und ſchmort die Speife eine Stunde gar. Dann werben bie Sellerielöpfe beraußgenommen, die Fäben vorfichtig abgemwidelt, und die Sauce mit etwas Mehl fämig gerührt. Diefer fügt man noh da8 nötige Salz und 17, Theelöffel Maggitvürze zu und giebt fie durd) ein Haarfieb über den Sellerie. M. v. 8.

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Gouvernantenbriefe. 451

Wenn von Goethe, zum Beifpiel, werden fie gleih an Fauft denken und an bie bübjche Scene mit Gretchen, die id) ihnen, ein wenig arrangiert, vorgeleſen habe.”

„Arrangiert?“ wiederholte ich. „Diefes Arrangenıent Tann Ihnen nicht Leicht geworben fein.“

„Im Gegenteil, ganz leicht. Ich laſſe Fauft fagen: ‚Mein fchönes Fräulein darf ich wagen, Ihnen meine Hand anzutragen?‘ Gretchen antwortet: ‚Bin weder Fräulein, weder ſchön, kann unverheiratet nachhaufe gehen,‘ und alles ifL in Ordnung.“

„Merkiwürdig. So etwas wäre mir nie eingefallen.“

Beil Sie feine Kinder haben. Wer Kinder bat, dem kommen ſolche Eingebungen von felbft. Meine Freundin, die von der Dreftie, verwirft den Bildungsihwindel für Mädchen per Baufh und Bogen. Frauen brauchen feine Gelehrfamteit, jagt fie, das viele Lefen verdirbt ihnen nur die Augen, und gefcheiter werden fie davon doc) nicht. Ich gebe das nicht zu, ich fage: meine Töchter follen Bildung haben umd ihre Dichter kennen. Aber“

„Aber Führerin auf dem Parnaß find Sie,” fiel ich ihr nicht ſehr artig ind Wort.

„Bin ich!“ beftätigte fie unbefangen. „Sch forge dafür, daß fie Notion von allem haben und daß ihre Phantafie doch nicht Schaden leidet. Ich made das fo.” Sie holte ein Buch herbei, eine Anthologie und ließ mich darin blättern, und ich konnte mich einer gewiſſen Bewunderung nicht erwehren. Mütterliche Sorgfalt und mötterliche Geduld Hatten da eine Klofterarbeit verrichtet. In biefer Sammlung deutſcher Lieber waren die Worte: Geliebter, Liebchen, und die: Liebe, Leidenfchaft, Verlangen, und fo weiter! mit Zettelchen überklebt, auf denen ein anderes Wort ftand. Es bezeichnete eine preiswürdige Empfindung: Frömmigkeit, Freundſchaft, Pflichtgefühl, oder einen Verwandtſchaftsgrad.

Der Väter, Mütter, Brüder, Schweſtern, beſonders aber der Onkel und Tanten, die auf den früheren Plägen der Liebchen und Geliebten jaßen, waren unzählige. Zum Beifpiel hieß es ich glaubte Heine in feinem Grabe ftöhnen zu hören:

„Lieb Tantchen, leg's Händchen aufs Herze mein“ ... Für den Oheim pflüdte Lenau in fremder Ferne eine Roſe umd bedauerte, ſich zu weit ins Land gewagt zu haben, um fie dem Teuren noch blühend überreichen zu können ... Nicht einmal der Toggenburger blieb von diefer Sippen-Epidemie verſchont. Ich las: „Ritter, treue Schwefterliebe widmet Euch dies Herz, fordert feine Mutterliebe, denn es macht mir Schmerz.”

„Hören Sie,” fagte ich, „das finde ich begreiflich; mit feiner Mutterliebe rüdt er fie in Jahren doch gar zu weit vor. Aber, Scherz bei Seite, wozu alle dieſe Falſchungen? Warum wird das hohe Lied des Lebens, fein Troft, fein Glüd, die Liebe zwiſchen Mann und Frau aus der Welt der Vorftellungen eine jungen Mädchens mweggeihaftt? Geſchieht das, um dieſes junge Mädchen zu einer Vernunft: ehe zu präparieren? Sol ihm verheimlicht werden, daß man auch aus einem andern Grund Heiraten kann als au Naifon? ... Sie werden noch bie Bibel ‚arrangieren‘, um Ihrer Tochter weiß zu machen, daß Jakob die Rahel aus Raifon geheiratet hat.”

Da kam ihr ein nmedifcher Einfall: „Ich bin vom Gegenteil nicht überzeugt, wenn ih an Labans große Herden denke!”

Wir gerieten in eifrigen, ganz fruchtloſen Streit. Jede von uns ftand unver: rüdbar auf der breiten Bafis ihrer Überzeugung, und nach jedem Schlag, den die eine aufs Haupt der andern geführt hatte, fühlte ſich die nur befeftigt in ihrer Pofition.

29*

Sansinsuftrielle Franenarbeit.

Bon Dr. Robert Wilbrandt. Nachdruch verboten.

B L

a3 ift denn Hausinduftrie? Iſt es fo viel wie Handwerk oder fo viel wie

Fabrifarbeit? Es ift eine Zwifchenftufe zwifchen beidem. Die Hausinduftrie hat von der Fabrik die Eigenfhaft der Abhängigkeit des Arbeiters vom Unternehmer, der die Probuftion leitet und den Abſatz vermittelt, vom Handwerk hat fie nur noch die Eigenfchaft des Arbeitens in einem Raum, der nicht vom Unternehmer, fondern vom Arbeiter felbft geliefert wird, fei ed nun eine Werkftatt oder Das eigne Heim, die Wohnung.

Der Handwerker arbeitet für ben einzelnen Kunden, an den er felbft verkauft, und er ift oft, als ber viel Begehrte, geradezu der Mächtigere; man kann lange warten, bis er fi) endlich herbeiläßt, die verſprochene Arbeit zu liefern. Ganz anders die Hausinduftrie: fie entftand, ald mit zunehmendem Verkehr nicht mehr nur für den Kunden in der Stadt oder in der Nähe auf dem Lande, fondern mehr und mehr für den Weltmarkt gearbeitet wurde. Da bedurfte ber Handwerler, der felten zugleich aud ein ben Weltmarkt überblidender Kaufmann war, der Vermittlung eines gewandien Händlers, der ihm den Abſatz feiner Ware ficherte.e So entitand, befonderd im 18. Jahrhundert, ein Verhältnis, in dem vielfach beide Teile, Handwerker und Händler, zu ihrem Vorteil kamen. Aber als die allmählich überall durchdringende Gewerbe: freiheit mit den alten Zunftmißbräuchen mehr und mehr überhaupt alle Schranfen befeitigte, die der freien Entfaltung des Erwerbsfinnes im Wege geflanden hatten, traten an die Stelle des behäbigen Handwerkers nun Arbeitskräfte in Stadt und Land, die für den Händler, den Verleger, arbeiteten und von ihm, dem Unentbehr⸗ lichen und durch feine Geldmacht Unabhängigen, in gänzliche Abhängigkeit gerieten. Das ift Hausinduſtrie.

Wo die Mafchinenkraft noch billiger arbeitet als die billigften Hände, wurde meift die Fabrik daraus. Wo aber die Leitung durch den Unternehmer und eine gewiffe Arbeitsteilung genügte oder wo der Übergang zum Fabrikbetrieb zu viel Schwierigkeiten machte, blieb es Hausinduſtrie. So ift es Heute noch, ſowohl auf dem Lande wie auch in der legten Zeit befonder3 in der Großftadt. Und von jeher war es die Frauenarbeit, die zum Entſtehen der Hausinduſtrie beitrug: von ben Zünften ausgefchloffen, arbeiteten die Frauen außerhalb der Werkftatt des Handwerks- meifter3 in der eignen Wohnung für den Verleger, und auch heute ift es das Angebot der vielen Taufende von arbeitfuchenden Frauen, das in den großen Städten die Hausinduftrie entftehen läßt. AU die Frauen und Töchter der Arbeitermaffen, die fich

454 Haußinduftrielle Yrauenarbeit.

um die Fabrifen der Großftäbte ſammeln, dazu noch die vielen Dienſtmädchen, Die vom Land in die Stadt bereinfommen, aber fpäter, um ber „Freiheit“ willen, in Die Sklaverei der Konfeltionghausinduftrie übergehen, al dieſe vermehren täglih das Angebot weiblicher Arbeitskräfte: unternehmende Kaufleute haben diefe Maſſen billiger und gewandter Hände ergriffen und Baben fie angelernt, manchmal auch in Fabrif- betrieben, die in Hauginduftrie aufgelöft wurden, jobald ein Stamm von gelernten Arbeiterinnen vorhanden war, und fo Haben wir nun die berüchtigte Hausinduftrie mit ihrem sweating-system, ihrem Auspreffen und Ausfaugen der wehrloſen Arbeits fraft, in Berlin wie in London, in jeder Großftabt wie auf den abgelegenen Höhen der Gebirge.

Frauen und Kinder find die gebornen Opfer dieſes Vampyrs. Meiſt geht der Mann einem Beruf nach, der ihn außer dem Haufe befchäftigt; die rau aber fucht, da der Lohn des Mannes zur Ernährung der Familie oft nicht außreicht, nad) einem Nebenerwerb: entiweder fie gebt auf Arbeit wie der Dann, in die Fabrik oder in andre Arbeitägelegenheit außer dem Haufe, die Kinder können inzwilchen zu Haufe fterben und verderben; oder fie ergreift irgend eine Arbeit, die fie zu Haufe betreiben fann, ohne die Kinder und die Wirtichaft zu verlaffen, und es iſt begreiflich, daß eine Mutter dies meiſtens vorzieht. Leicht ergiebt fich dann, daß die Kinder ihr helfen ein fehr liebliches Familienbild, aber nicht ganz fo ſchön in der Wirklichkeit.

Wil man dieſe Heimarbeit von Frauen und Kindern bejeitigt oder wenigſtens auf ein erträgliches Maß eingefchräntt jehen, jo muß man jelbitverftändlich vor allem die Lohnbewegungen unterftügen, durch die die Arbeiter, die Familienväter, fich einen Lohn zu erringen fuchen, der zur Ernährung der Familie ausreicht. Der durchſchnittliche Jahreslohn unferer Arbeiter ift 6—700, in der Großftabt 8—900 Mark; davon kann die Familie nicht leben. Wollen wir aljo die Mütter und Kinder (eine Million Kinder, vom vierten Sahre an, find erwerbsthätig in Deutichland) von der Erwerbsarbeit befreien, wollen wir ein gejundes Familienleben, gefunde Mütter und Kinder haben, fo kann die Grundlage dafür, der ausfömmliche Lohn des Familienvaters, nur durch die gemwerkichaftlichen Organifationen der Arbeiter erziwungen werden. Aber ebenjo, wie die Frauen bei Krankheit oder Invalidität des Mannes troß aller Arbeiterverficherung zur Ermwerbsarbeit gezwungen find, werden e3 die zwei Millionen Witwen auch dann noch fein, wenn die dringend notwendige Witwen: und WWaijenverficherung ihnen einen gewiſſen wirtſchaftlichen Rückhalt gewähren wird. Man hat berechnet, daß eine Witwen: und Waijenverficherung für den Arbeiterjtand, mern jede Witive 80 und jede Waife 40 Marf jährlich erhält, zur Zeit ihrer volljtändigen Durchführung jährlih 111 Millionen Mark koſten wird. Diefer Betrag jollte meiner Anficht mindeftens verdreifacht werden; aber jelbit dann, beit einem jährlichen Aufwand von 333 Millionen Mark, können die Witwen von ihren 240 Mark und die Waifen von ihren 120 Mark langfam verhungern, aber nicht leben. Die Mütter müfjen daher erwerben, und wenn fie nicht die Kinder gänzlich fremder Pflege und Erziehung überlaffen wollen, jo kann ihr Erwerb nur Heimarbeit fein, wenigſtens in der Induſtrie. Nur fozialdemofratifche Unnatur, Die Mutter und Kind zu trennen leichthin bereit ift, Tann von der Abfchaffung der Heim: arbeit phantafieren. Nicht Abichaffung, aber Reform thut bier not, ftarfe ftaatliche Reform, denn die Heimarbeit, wie fie jegt ift, fteht allerdings an Scheußlichfeit noch tief unter der gebrüdteften und ausgebeutetſten Fabrikarbeit.

Haudinbuftrielle Frauenarbeit. 455

Um diefe beftehenden und täglich weiter freffenden Zuftände an der Hand unanfechtbarer amtlicher Erhebungen fchildern zu können, greife ich zunächfi nach den Berichten der k. k. Gewerbeinfpektoren über die Heimarbeit in Öfterreich, herausgegeben vom k. k. Handelsminifterium (Wien 1900). Aus dem erften Band, der bie Heim- arbeit in Böhmen behandelt, hebe ich nur das Wichtigfte von dem heraus, was über hausinduſtrielle Frauenarbeit darin mitgeteilt wird.

Beginnen wir, der Einteilung des Buches folgend, mit der Edelfteinjchleiferei. Sie ift Hier noch Handarbeit, während die auslandiſche Konkurrenz ſchon Maſchinen anwendet, und kann daher nur durch ihre niedrigen Löhne mit der Mafchine in Wettbewerb treten; die Schmutzkonkurrenz kapitalſchwacher Geſchafte, die nur durch Lohndrud neben den großen Unternehmungen auffommen können, hat die Löhne noch weiter zum Sinken gebracht: der Tageöverdienft ift jegt höchſtens 30 Kreuzer (= 50 Pfennig) täglih, ja in der Granatichleiferei verdient der Mann jährlich 100—120, die Frau jährlich 60 fl., alfo durchſchnittlich für den Tag 15 Kreuzer (= 25 Pfennig). Um das zu verdienen, wird von früh bis fpät, vor dem Liefertag die Nacht durch gearbeitet; die Frauen unterbrechen die Arbeit nur für die dringendſten häuslichen Pflichten. Wo ein Heiner Landbefig vorhanden ift, beforgt die Frau bie Landwirtſchaft, und der Mann fchleift allein; in der Nähe der Stadt gehen bie Frauen in die Fabrit und helfen abends nad Schluß der Fabrifarbeit dem Mann zu Haufe beim Polieren der Steine.

Gewiß ift es der Gipfel des Widerfinns, daß der Mann zu Haufe arbeitet und die Frau in der Fabrik, und ftaatlicher Zwang, zum Fabrikbetrieb überzugehen, muß diefe Heimarbeit der Männer, die durch und durch nur ſchädlich ift, befeitigen. Aber noch ärger ift e8 in der Glasfchleiferei und Glasmalerei: die Frauen beforgen hier die Reinigung, dad Verpaden und den Transport des Glafed, faft den ganzen Tag über fchleppen fie Körbe von 30—50 kg Gewicht weite und befchtverliche Wege,

„ohne Rüdfiht auf die Witterung und auf ihren phyſiſchen Zuftand. Jedermann muß ſich die Frage vorlegen: wie fteht es da mit der Familie, wie kann da ein Haushalt ökonomisch und gedeihlich geführt werden, wie fann bie von ſolchen zer: marterten Frauen ftammende Generation befchaffen fein, wie geftaltet fich die Erziehung der Kinder?” Go fragt der Gewerbeinfpektor, und er fügt Binzu, daß wenig Kinder, aber Erkrankungen der mannigfachſten Art die „probuftive Thätigfeit” diefer Frauen begleiten. Die Frau als Laftträgerin, der Mann zu Haufe bei einer Arbeit, die ber Gewerbeaufficht bebürfte, damit nicht mehr durch anſteckende Lungenleiden das 30. Lebens⸗ jahr die normale Alterägrenze bilde dazu das fortwährende Hin- und Herichleppen der zerbrechlichen Glaswaren: nicht die paar Bänke zum Abjegen der Nüdenkörbe, durch die man den Frauen die weiten Wege zu erleichtern gefucht Hat, fondern die Errichtung von Fabriken allein kann bier Helfen. Für die Arbeiter würden fie ver doppelte Löhne, verkürzte und geregelte Arbeitszeit, gleichmäßige Beichäftigung, Unfall» und Krankenverfiherung, Schonung der Frauen und Kinder, gefunde Werfftätten und Wohnungen bedeuten.

Bei den Perlenarbeitern fteht dagegen ber Lohn im Vordergrund, ber durch die Konkurrenz der Erporteure von Stufe zu Stufe herabgebrüdt worden iſt. Außer den Frauen arbeiten hier auch Kinder mit, die „vor und nad dem Schulunterricht täglich bis 9 und 10 Uhr abends, bei größeren Beftelungen auch länger arbeiten, in vereinzelten Fällen fogar bis 3 Uhr früh.” (Allerdings ift dies noch wenig im

Hausinduſtrielle Frauenarbeit. . 457

abwechfelnd, „je 12 Stunden, fo daß ſich der Webſtuhl ohne Unterbrehung im Gange befindet. Es wurde Eonftatiert, daß in einem Falle der Mann von 6 Uhr früh bis 6 Uhr abends und die Frau von 6 Uhr abends bis 6 Uhr früh den Webſtuhl bediente. In einem andern Fall fing der Weber die Arbeit um 2 Uhr nach Mitter: nacht an und übergab den Webftuhl um 6 Uhr abends feiner Ehefrau, welche bis 1 Uhr nachts weiter an dem Webftoffe arbeitete.” Dazu kommt das Kohlenoxydgas, das den ſchadhaften Rauchichloten entftrömt, und der Qualm der Lampe: in folder Luft verbringen bie Familien ihr ganzes Leben, die Kinder fiechen dahin von der Geburt bis zum Tode, die dumpfe, warme Stubenluft wird ihnen Bebürfnis, fie entarten und find „infolge jahrelanger fchlechter Ernährung“ zu andern Berufen meift zu entkräftet. „Wenn 21 mal Wailerfuppe und 21mal Kartoffeln gegefien find, fo ift die Woche weg“, ift ihr Sprichwort. „Der widerwärtige Eindruck, berichtet der Gewerbeinfpeftor, welchen man beim Betreten einer derartigen Wohnftube gewinnt, wird ein förmlich efeferregender, wenn auch Unteinlichfeit angetroffen wird, welche ſich in manden Weberfamilien gewöhnlih auf die Dauer der Winterfaifon, während welcher fieberhaft gearbeitet werden muß, eingeniftet hat. Während dieſer Zeit wird die Stube nur felten gelehrt, gereinigt und gewafchen, und auch bie Bett: und Leib: waſche der Familie wird der nötigen Reinigung feltener unterzogen, weil die Ehefrau des Webers fleißig fpulen muß, um bem Weber die nötigen Schußgarne ſtets rechtzeitig in verwebbarem Zuftande zur Verfügung halten zu Können.“

Die Männer wandern vielfach nach deutfchen Webefabrifen, und wenn's gelingt, unterftügen fie die Daheimgebliebenen; aber oft find fie zu entkräftet für bie intenfive Arbeit in der Fabrik und ehren frank zurüd. Daher find Cigarrenfabriten für ſolche Webergegenden ein Segen: fie bieten den Männern, Mädchen und Frauen ben legten beſonders ald Cigarrenhausinduftrie einen nicht zu anſtrengenden und bedeutend beſſeren Verdienſt.

Über die Zwirn- und Leinen-Knopfherſtellung, die nur Kinder und Frauen zu Haufe betreiben, wird und aus dem Budweiſer Auffichtsbezirt von 800 Arbeiterinnen berichtet, die bei elfflündiger fleißiger Arbeit höchſtens 16 Kreuzer täglich verdienen; ſolche Knöpfe haben wir an unferer Waſche.

Sind es die Händler oder Verleger, die die Löhne fo tief gedrüdt haben oder wenigſtens, der Konkurrenz nachgebend, fo tief haben ſinken laffen, und ftedt.auch der Faltor oft einen großen Teil des Arbeitslohns in feine Vermittlertafchen, fo thut auch der Staat das Seinige, um den Ärmſten und Ausgebeutetften zum Bewußtſein zu bringen, daß bie Gerechtigkeit über ihnen waltet. So berichtet und der Geiwerbeinfpeftor von einem Mann, der täglich 30 Kreuzer, alfo im Jahr 90 fl. verdient; davon zahlt er 9 fl, alfo 10 Prozent, Erwerbsſteuer. Außerdem befigt er ein Haus, das er zur Hälfte felbft bewohnt und zur Hälfte für 36 fl. jährlich vermietet, von dieſen 72 fl., die das Haus ihm trägt, zahlt er 17,55 fl. Steuer und 2,10 fl. Gemeinbeumlagen; er zahlt fomit 19,65 fl. oder 27 Prozent Hausfteuer. Bon feinem Gefamteintommen von 126 fl. nehmen ihm alſo die Steuern 28,65 fl., das ift faft den vierten Teil feines Einkommens, ganz abgefehn von der indireften Befteuerung, die allerdings bei der außfchließlichen Kartoffelnahrung wenig ausmacht. Seine Frau, die mit Haushalt und Kind viel zu thun hat, verdient mit der Ausfertigung von Stridereimaren täglich höchſtens 6—7 Kreuzer, aljo im Jahr 21 fl. Diefe 21 fl. find anfcheinend nicht befteuert, was einen eigentlich wundern muß.

458 Hausinduftrielle Frauenarbeit.

Im allgemeinen günftig ift die Sandmafchinenftriderei, die geradezu wie geichaffen ift zur weiblichen Heimarbeit. Hier verdient die Frau fogar oft mehr als der Mann: 3. B. der Mann als Taglühner jährlich 120 fl.; die Frau ald Striderin jährlich 121 fl. Allerdings find auch hier, infolge der Konkurrenz unter der zunehinenden Zahl von Striderinnen, die Löhne in den legten zwanzig Jahren auf bie Hälfte geſunken. Trotzdem fann ein Striderin wöchentlich 3 fl. verdienen, während ihr Mann, als Heimarbeiter einer Schuhtwarenfabrif, nur 2,50 fl. einnimmt.

Kommen wir nun endlih ins Erzgebirge und auf den Böhmerwald zu ben 15 000 Spißenflöpplerinnen, die troß der erbrüdenden Konkurrenz der Mafchinen= Ipige bei der altgetwohnten, von Kindheit an geübten Spigenflöppelei geblieben find, jo finden wir bier zwar Klöppelfchulen, aus Staatzmitteln oder von gemeinnügigen Vereinen gegründet, die die Technik verfeinert und damit auch die Preife gehoben haben, da dieſe funftuolleren Mufter der Konkurrenz der Mafchine entzogen find; aber im allgemeinen berichtet ung ber Gemwerbeinjpeftor: „nach Abrechnung ber ca. ein Sechſtel des DVerdienftes betragenden Auslagen für Zivirn oder Seide fann der Durch: Ichnitt8verdienft einer ganzjährig arbeitenden Perfon mit 30 fl. pro Jahr taxiert werden.” Die Wohnungsmiete verfchlingt vielfach den ganzen Jahresverdienſt einer Perfon. Da die Frauen mit der Wirtfchaft viel zu thun haben, klöppeln vor allem die Mädchen, die aber auch meift uneheliche Kinder haben, To daß bie Familien im Durchſchnitt 10, oft 12—15 Köpfe zählen. Der Kinderſegen fteigt mit den finfenden Löhnen. Die Bevölkerung entartet, durch die fchlechte Ernährung, das enge Wohnen, die Kinderarbeit und durch das Klöppeln ſelbſt, bei dem die Mädchen oft 15 Stunden lang vorgebeugt und faft unbeweglich ſitzen müffen. Bei der Gorlnäherei (Bola- mentenherftellung), die von den Stlöpplerinnen vielfach betrieben wird, ſobald die Marktlage dafür günftiger ift, wird der Lohn gedrüdt durch die vielen, neben erwerbenden Birrgersfrauen, denen e3 auf die Höhe des Lohnes fo genau nicht anfommt ; dennoch ift er beſſer als beim Spitenflöppeln.

Im Bergleich mit den übrigen Erzgebirglöhnen verhältnismäßig günftig geftellt find die Heimarbeiterinnen der Handichuhinduftrie, jedenfall3, weil diefe Induftrie noch nicht jo eingebürgert ift und daher noch Fein fo unbefchränftes Arbeitdangebot zur Ver: fügung bat. Denn nicht die Leiftung und-nicht dag Maß deflen, was zum Xeben nötig ift, jondern nur Nachfrage und Angebot beſtimmt die Höhe oder vielmehr Niedrigkeit des Lohnes. Wie in der Politik, fo entjcheidet auch im Wirtjchaftsleben nur die Macht, aber nicht eine Macht, die der Gerechtigkeit ihren Arm leiht oder doch wenigſtens dem Sklaven das zur Lebenzfriftung Nötigfte zumeift, ſondern ber Herr ift der wirtichaftlich Stärfere, das ift der Neichere und Gefchäftsgeiwandtere. Er kann in Ruhe berrjchen, denn daß der wahrhaſt Stärkere, die auggebeutete Maffe, einmal die Fäuſte ballt und ihn niederichlägt, das verhütet der Staat. Der Staat ihügt gegen die Gewalt der Körperkraft, aber nicht gegen die Geivalt des Geldes und der gewiſſenloſen Echlaubeit.

Am klarſten offenbart das der Bericht des Gewerbeinſpektors über die Stiderei. Nur ein Drittel oder ein Viertel dr3 Lohns wird vom Unternehmer in bar aus: gezahlt, der Neft muß in Waren bezogen werden, von den Unternehmern (Verlegern) oder von ihnen befreundeten Firmen, wo bereitwilligit Kredit gegeben wird: „Blieb die Stiderin einmal ſchuldig, jo muß fie fich mit jedem ihr gebotenen Arbeitslohn begnügen, jonft wird in rüdfichtzlofefter Weife auf Bezahlung der Schuld gedrungen.”

Hausinduftrielle Frauenarbeit. 459

„Überall wurde die Klage laut, daß den Stiderinnen Waren von Außerft ſchlechter Qualität um einen weit höheren Preis verabfolgt werden als dies in jedem anderen Kaufladen der Fall iſt.“ „Die Stiderinnen find gegenüber einer derartigen ſchranken— und gewiffenlofen Ausbeutung gänzlich machtlos und müſſen fich diefe deshalb ger fallen laſſen, weil bei dem in der dortigen Gegend bejtehenden Überfluß an Stiderinnen nur ſolche Perfonen dauernd beichäftigt werben, welche auf Entlohnung in barem Gelde Verzicht leiften.“ Diefes „Trudiyftem“, die Bezahlung in Waren flatt in Geld, wird und von den Gewerbeinipeltoren aus Böhmen vielfach gemeldet; bei und feheint es durch das gefeßliche Verbot mehr und mehr verbrängt worden zu fein. Aber typiſch auch für unfere Verhältnifje ift der Lohnraub, den und der Gewerbe: infpeltor ſchildert: troß der mangelnden Ausbildung (eine Fachfchule fehlt dort) werden von den Stiderinnen oft vorzügliche Leiftungen, Prachtwerke in Stidereien, geliefert, fo daß den Unternehmern für das Stiden von Damenausftattungen nicht felten 1000—1500 fl. gezahlt werden aber nur den Unternehmern! Denn es werben „für die reiche Stiderei an Bruftbefägen bei Damenhemden den Arbeiterinnen 18—60 Kreuzer Arbeitslohn gezahlt, während dem Konfumenten hierfür 3 fl. bis 5 fl. pro Std aufgerechnet werben.” Für das Stiden funftvoler Monogramme bekommt der Arbeitgeber 3.8. 1 fl. und zahlt dafür der Stiderin bloß 30 Kreuzer. Über das Stiden felbft berichtet der Gewerbeinfpeltor: „Das Stiden ift eine ſehr mühevolle Arbeit, die, wenn fie 12—16 Stunden täglich ununterbrochen bei gebüdter Stellung des Oberkorpers und eingebrüdter Bruft ausgeübt wird, von außerſt ungünftigem Einfluß ſelbſt auf gefunde Naturen ift. Insbeſondere ftrengt das Stiden zumal bei ungenügender Beleuchtung die Augen in hohem Grade an. Mit dumpfiger Luft erfüllte, räumlich ſehr befchränfte, nie ventilierte Arbeitölofale, mangelhafte Beleuchtung, insbeſondere während der Wintermonate, wo die Hälfte der Tageszeit hindurch bei der qualmenden PVetroleumlampe gearbeitet wird, unzureichende Kartoffelfoft abwechſelnd mit ſchlechtem Kaffee, das ift in großen Zügen das getreue Bild de Dafeins diefer Heimarbeiterinnen, die ſich im beften Fall einen Tageloen von 3U—50 Kreuzern verdienen. Es wurde anläßlich der Erhebungen die Wahrnehmung gemacht, daß diefe Arbeiterinnen binnen wenigen Jahren nicht nur fehr kurzfichtig werden, jondern auch fi Verknöcherungen der Halsmuskeln zuziehen, fo daß fie den Kopf nicht mehr aufrecht zu halten ver: mögen. Hinzu gefellen fich fehr bald au Magen: und Bruſtbeſchwerden, welche bie Gefundheit der Stiderinnen vorzeitig untergraben.” So wird und aus den Bezirken Chrudim und Parbubig berichtet, im Erzgebirge ift e3 noch ärger, denn die Hand» ftiderinnen verdienen Hier täglih nur 18—30 Kreuzer. „Die Ernährung entipricht diefen geringen Verdienften und befteht nur aus Erbäpfeln, Brot und SKaffeefurrogat abſud.“ Wir können uns nicht damit tröften, daß der Lohn der Dafchinenflider bedeutend höher ift, daß eben die Handfliderei durch die Mafchine verdrängt wird; fondern es find vielfach wertvolle Runftftidereien nur der Lohn fließt in die Tafche des Händlers.

Damit möchte ich fchließen. Die Prager Lederhandſchuhinduſtrie, bie viele Taufende von Heimarbeiterinnen und Heimarbeitern beichäftigt, die Prager Kleider und Wäfchelonfeltion, die Kunftblumeninduftrie und die Bildermalerei, bei der das Grundieren den malenden Frauen zu allem übrigen Bleitveipvergiftungen zuzieht alles das übergehe ich, denn es ift in verſchiedenem Nahmen überall dasſelbe Bild. Das Topifche der Hausinduftrie fennen wir ja nun: wehrlofe Abhängigkeit vom Der:

460 Ein Gymnaſium für Bauernmäbchen in Rußland.

leger, Zabrifanten, Händler, oder wie der Unternehmer gerade heißen mag, und gänzliches Fehlen aller Schußgejege, wie fie für die Fabriken vorbanden find. Geſetz⸗ liche Beichränfung der Arbeitszeit ift felbftverftändlich hier unanmwendbar, die Kontrolle it unmöglich; auch hygieiniſche Beitimmungen wären nur eine Plage für die Leute, wenn man ihnen nicht das Geld in die Hand giebt, fie befolgen zu können. Die Verleger allerdings könnte man für die Arbeitsräume verantwortlich machen. In eriter Linie aber ftebt der Lohn und die VBorbildung: wie der Staat da eingreifen fann und ſoll, darüber möchte ich in einem zweiten Aufſatz fprechen, der die haus⸗ induftrielle Frauenarbeit innerhalb der ſchwarz-weiß-roten Grenzen behandeln joll. Ich hoffe, man zieht aus dem, was ich heute nach den amtlichen Berichten aus Böhmen mitgeteilt habe, nicht den Schluß: wir Deutjchen find doch befjere Menſchen. Es ift bei ung nicht anderd. Aber e8 muß anders werden.

Lin Gymnaſtum für Vauernmädchen in Rußland.

Von Mm. Behmerfny. Nachdruck verboten. | Burner

Ayo verfchrt es wäre, „höhere Töchter” Fünftlich zu züchten, jo ungerecht fcheint es, den begabten Kindern des Volks den Bildungsiveg zu verjperren. Amerika, Skandinavien und Finland haben bereit? bedeutungsvolle Schritte gethan zur Förderung der höheren Schulbildung unter dein Volke. In Frankreich und bei und in Deutichland forgen die Fortbildungzichulen in gemwiffen Maße für die fortgejehte unterrichtlicye Einwirkung auf die heranreifenden und der Elementarjchule entwachjenen Schülerinnen. In Rußland jedoch, wo die Volksſchulbildung noch nicht obligatoriſch ift, giebt e8 nur wenig Bildungsmöglichkeit in den entlegenen Fleden und Dörfern.

Wie ein Märchen muß uns daher ein ruſſiſches Gymnafium für Bauernmädchen vorfommen! Und doch ift es unlängft Thatjache geworden. Sin der Kreizftadt Orlow des Gouvernements Wijatka follte vor ca. 6 Sahren eine Bolksfchule für die Mädchen der umliegenden Dörfer eröffnet werden. Da die Etadt, die zum großen Teil von Handwerkern und Gemwerbetreibenden bewohnt ijt, fein ſtädtiſches Mädchengymnaſium, jondern nur ein Privatpenfionat beſaß, To faßten die Vertreter der „Semſtwo“ oder der landichaftlichen Ortsabininiftration den Beichluß, ein Mädchengymnafium ins Leben zu rufen. Der Vorfchlag fchien einem tief im Herzen der Bevölkerung Ichlummernden Bedürfnis zu begegnen. Bon Nah und Fern gingen der „Semſtwo“ Geldjpenden mit dem Geſuch zu, die höhere Mädchenjchule von Gemeinde wegen jchleunigft zu Ichaffen und fie nicht erft als ein Geſchenk von der Regierung zu erbitten.

Beflügelt von den Wünfchen der Bildungsdurftigen kam das achtklaſſige Mädchen: gymnaſium?) bald zu ftande, und von den 200 Schülerinnen find 190 wahre Kinder

1) Unter ruffiiden Mädchengymnaſien find unſere höhern Mädchenjchulen zu verftehen, denen neuerdings eine Lateinklafle, wie in dem Stajunia-Öymmafiun zu St. Petersburg, beiarfügt wird. Alle entlaffenen Gpmnaftaftinnen find zum Eintritt in die „büberen weiblichen Kurje“ und auch in die „medizinischen Kurſe“ berechtigt und künnen das Gramen für Yatein ſpäter ablegen, fofern es noch nicht zu ihrem fchulplanmäßigen Lehrſtoff gehörte.

Berföhmung. 461

des Volles, Bauernmäbdchen, die den Namen der Anflalt „Bauerngymnafium“ voll: tommen rechtfertigen. Mehrere Werft weit kommen die Lerneifrigen durch Wind und Wetter, durch Schnee und Eis merktäglich nach dem Gymnaſium, das ein ganz anderes Bild als jede andere höhere Tüchterfchule bietet. Hier find keine bleichfüchtigen Stadtlinder mit feinen Kleidern und hohen Abfägen zu ſehen, fondern frifhe Bauerntinder, die ohne Korſet, mit einfachen Bauernſchuhen und dem bunten Kopfiuch auf dem Flachs— haar in aller Herrgottäfrühe mit ihrem Bücherbündel zur Stadt wandern. Um auch den Unbemittelten den Beſuch bed Gymnafiumd zu ermöglichen, ift das Schulgeld auf nur 3 Rubel = 6 Mark das Jahr feftgefegt. Im Anſchluß an das Gymnafium ift neuerdings auch ein Penſionat gegründet, damit den weiter von ber Etadt mwohnenben Soglingen ein dauerndes Aſhl geboten werde. Die Bauern können alle Viktualien für ihre Kinder fchiden und brauchen für die Aufficht nur 60 Kopeken 1,20 Mart monatlih als Penfion zu zahlen. Es ift bemerfenswert für die Begabung und den Fleiß der ruffiihen Bauernmäbchen, daß alle Schülerinnen des Progymnafiums auch den Schulbefuch in den höhern Klaſſen fortfegten. Und ebenfo fennzeichnend für das geiftige Etwachen der Bauern zum gefunden Verfländnis ift der Umftand, daß die ganze „Semſtwo“ von Drlow, die aus Bauern befteht, einmütig den Plan des Mädchengymnafiums unverzüglich in die That umfegte und dem Antrag um die obrigfeitliche Veftätigung ein. fehr wichtiges Moment zu Grunde legte. Die „Semftwo“ wies nämlich nad, daß dem Mangel an Bolksfchullebrerinnen und gebildeten Landwirtinnen gar nicht beſſer und glüdlicher abgeholfen werben könne, als dur die zwedmäßige Erziehung begabter Bauernmädchen, die eng mit der Scholle verwachſen, das Bauernleben und die ländlichen Vebürfniffe von Grund aus kennen und von der Liebe für den Boden und das Volt durchdrungen find. Diefe Behauptung bat fih auch wirklich bewahrheitet. Die Gymnafiaflinnen, die nicht grade auf eine frühe Heirat ausgeben, find faft alle geneigt, fich dem Lehrfach oder der Landwiriſchaft ober dem neuen fombinierten Berufe der landwirtſchaftlichen Voltsfchullehrerin zu widmen.

So ſcheint das weibliche Bauerngymnaſium eine gute Bildungsftätte werden zu —X von der Kultur und auch die Erſchließung neuer praktiſcher Frauenberufe aus: gehen wird.

ER

Ferfoͤhnung.

d £iebe macht uns reich und weit, Erhebt uns über niedere Gewöhnung.

Die Sreien find zum Handſchlag ftets bereit, Erwarten nicht für alles Löhnung.

Sie ſchieben auch den Groll beifeit, Stets ringend nach des Menfchen Krönung, Die Welt birgt foviel Bitterfeit Derfchließe nie dich der Derföhnung! 1.3. 2 N E00

Früßlingsgefchichte.

Und dann fam der Frühling, plötzlich, faft ohne Übergang. Es war auf einmal ein Stöhnen in ber Luft umd ein laues Wehen. Das Eis auf den Flüffen hob fi und barft, von ben Bergen rannen ſchmelzende Fluten, überall tauchte die ſchwarze Erbe hervor und überall hin füßten warme, brennende Sonnen⸗ ftrahlen. Und dann gefchah alles, wie es jedes Jahr geſchieht. Mit prachtvoller, er: habner Werbefreube fprengte bie Natur den ftarren Todesbann und begann ihr Felt des Lebens, unbefümmert darum, ob die Menſchen gewillt waren, es mitzufeiern.

Und viele ſchauten gar nicht einmal danad) bin und fpürten es nicht, daß ber Frühling begann. Sie mußten vielleicht nur, daß der Weg frei wurde zu den Gräbern, daß bie Thränen, die fie die langen Monde hindurch zu Haufe geweint, nun an ben ftillen Hügeln fließen durften. Aber die Hügel umleimte junges Grün. Und in den Kirchhofsbäumen pfiffen die Amfeln. Und bie Tage maren lang und arm, und die Zitronenfalter gaufelten Durch bie Luft, und manchmal breitete ein Trauermantel feine geheimnisvollen, ſchwarzſamtnen Flügel aus. Und die klugen Meifen zirpten und pidten mit ben ſpitzen Schnäbeln an den aufbredhenden Baumfnofpen, daß es ausfah, als wollten fie dem Frühling helfen, die braunen Hülfen zu fprengen. Und in der Luft war ein Duft von warm würziger Erde und jungen Blüten.

Das ſchmeichelte ſich in die Einne, fo daß

mand) trauriges Auge fröhlich erftaunt Teuchtete, |

wenn unter wellen Blättern ein erftes Veilchen mit feiner dunklen Blüte ftand. Ein Lachen ſchwirrte durch die Luft, hie und da an ben frieblichen Feierabenden, von Lippen, die lange nicht gelächelt. Herz und laufchte dem feltfamen Ton. Aber wenn die Kinder durch die Straßen jauchzten und die Loden ſchüttelten, die Kinder, die vom Tod nichts mehr mußten, dann zog durch alte, büftere Augen ein leifer Glücksſchimmer, und jãh und verftohlen rührte fich in ſchmerzzerriſſenen Herzen ein heimliches Entzüden, noch teil zu haben am fonnigen Leben.

Und als der Mai fam, als der Frühling al feine Fahnen ausgehängt hatte, als Iuftige und warme Winde tofend durch die Blüten—

463

bäume fuhren, murde auf der Dorfwieſe eine kleinen Fledens, den die Peſt am ſchwerſten beimgefucht hatte, wie alljährlich alles mit Bänten und Guirlanden zum Maien- fefte vorbereitet.

Um diefe Zeit ſchritt ein junges Mädchen einen hügeligen Pfad entlang dem Torfe zu. Sie war groß und fräftig und atmete troß des raſchen Echreitens gemach und langſam Die Stirn hatte fie leicht gejenkt, ihr Mund war ftreng und traurig geſchloſſen. Mandmal bob fie gleihgiltig den Blid, mehr um des Weges zu achten, ald um ben friedlichen Nundblid zu genießen. Hie und da war ein Bauer im Felde befchäftigt, der Waldrand leuchtete im jungen Grün. Vor ihr lag, nun der Pfad fi neigte, das Dorf mit feinen Heinen, breiten Häufern und den Kronen ber alten Linden. Auf der Wiefe ftanden ein paar Leute, die auf und abſchritten, Pilöde einfhlugen und miteinander fprachen.

ALS Urfel, das Mädchen, fie im Heran— ſchreiten bemerkte, lam ihr erft flüchtig, wie eine matte Erinnerung der Gedanke, es fein im vorigen Jahre ihrer mehr geweſen, bie alles zugerichtet; dann verbunfelte ſich ihr Auge, denn ihr fiel num ein, es fei dies Jahr kaum an ber Zeit, ein Maifeft zu feiern. Eie ging aber gelaffen weiter und hatte andres zu denfen, denn ſie mußte einiges beim Krämer ausrichten und Flachs für die Bafe holen.

Indefien hörte fic bald ihren Namen rufen und fah von der Wiefe eilig ein Mädchen berantommen. Das war Dörte, ihre Spiel- lameradin, bie, wie fie felbft, ihren Bräutigam an der Peſt verloren hatte. Da blieb fie ftehen, und Mitleid war in ihren Augen. Wir

; fennen am beften das Leid, das wir jelbft Dann erſchrak wohl mandes "

gelitten. Dörtes Gefiht war heiß, und ihre Augen hatten einen ftilen Glanz. Cie faßte Urfels Hand.

„Man ficht dich felten im Dorf, Urfel,” fagte fie freundlich, obgleich fie vor ber tiefen Traurigfeit, die in dem Geficht der andern lag, faft ein wenig zurückſchreckte.

„Und die Leute wollen tanzen?“ fragte Urfel und fhaute zur Wiefe hinüber.

„Ja, wir werben tanzen,” erwiderte Dörte. Urfel Tieß ihre Hand los und blidte fie an, mit tiefem Staunen in den Augen.

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„Du nicht, Dörte?” fragte fie langfam.

„Bir alle,” fagte Dörte. „Und bu follteft auch fommen, Urſel. Du lebſt fo einfam mit der Bafe, da wird das Herz immer ſchwerer und trauriger. Sieh, das Leben ift doch noch ſchön.“ | „Ja, das Leben, aber der Tod” fagte Urfel flüftend, und ihre Augen fchauten dunfel und entfegt in Dörtes frifches Geficht. Eie fah in diefem Augenblid ein andres, das war ftarr, bleib und verzerrt. Dörte er: widerte ruhig ihren Blid. Über ihnen fchrieen die Schwalben.

„Sb tanze mit dem Tilchlerfrit,” fagte fie. „Wir heiraten im. Sommer.”

Jetzt Tachte Urfel, und dann ging fie, ohne ein Wort zu jagen, die Dorfftraße meiter bin- auf. Aber Dörte blieb an ihrer. Seite.

„Er bat mich inimer lieb gehabt, der Tiſchlerfritz,“ erzählte fie, während ihr Atem haftig kam und ging. „Und ich mag ihn jet auch gern,” und dann, ald habe fie zu menig gefagt, fügte fie nach kurzem Zögern binzu, „ja, recht von Herzen.”

„Dann ift es ja gut,” fagte Urſel gelafien. Aber Dörte faßte haftig nach ihrer Hand.

„Den Michel hab ich nicht vergeſſen, denk dag nicht,“ murmelte fie. „Aber es iſt traurig, einfam zu fein, wenn das Leben noch lang ift und das Blut jung.“

Urfel erwiberte jetzt ihren Händedruck.

„Laß es nur gut fein,” fagte fie leiſe. „Wenn bu ihn lieb haft und er dich, fo tanzt nur und heiratet euch, das ift das Beſte.“

Ihre Lippen zitterten. Cie eilte rajch voran und trat in den Laden des Strämers. Hier forderte und zahlte fie und holte den Flache für die Baſe. Dann nahm fie für die Heimkehr einen Umweg um das Dorf herum.

Es funkelte alles im erjten Keimen und Blühben, ganze Stoßwellen warmen Blüten- duftes ſchwellten durch die Luft. Über dem flachen, fonnbejchienenen Feld tünte ein un- aufhörliches Xerchengejubel. Urſel ging wieder mit geneigtem Kopf und in tiefes Sinnen verſenkt. Ihre rubevolle Traurigkeit mar einem qualerfüllten Nachdenken gewichen.

Mer dem Tode fo nahe geitanden, wer immer das Totenglödchen gehört hat, wer

Erde ruhen die Toten,

Frühlingsgeſchichte.

jeden Morgen mit der bangen Frage erwacht iſt: wen trifft es heute?, wem endlich ein liebes Leben um das andre entriſſen iſt und ſchließlich das Liebſte, Einzige der findet das Leben ſchön, der fühlt, daß er jung iſt, der wagt auf dieſem ſchwanken Boden frevelnd nach neuem Glück zu haſchen! Und kann glücklich ſein! Und tief in der dunklen Tief, tief. Kein Frühling, kein Licht, kein Hoffen für ſie. Sie hören vielleicht nur, wie das Weinen ſich in Lachen verwandelt, in lautes Freudengelächter.

Urſel erbebte. Ein Schauer überriefelte ſie, als ginge fie nicht in wärmender Frühlings⸗ jonne. Sie ſpürte auch nichts von dem linden Flüftern der Bäume, von dem verftohlenen, koſenden Bogelgetriller. Ihr Mund war berb, ihr Auge verbültert.

Der Weg ging jeßt ein wenig bergan und führte in ein lichte® Buchengebölz voll hober, junger Etämme Died Gehölz mußte fie durchfchreiten, um zu dem Gehöft der Bafe zu gelangen. Das lag weitab vom Dorf. Die Peſt war nicht dorthin gefommen, aber nun kam auch feine Freude, fein Leben, nun brütete dort nur derfelbe Schmerz. Urſel blieb, als fie in das Wäldchen voll würziger Düfte trat, einen Augenblid ftehen und atmete die reine Luft mit Erquiden. Dabei ſah fie gleichfam mit Erftaunen, meil fte es vorher nicht bemerkt hatte, den Himmel im farbigen Feuer ber untergehenden Sonne. Auch ftanden an der andern Himmelsſeite bleiche, leuchtende Wolfen: züge, deren Schimmer einen Abglanz auf bie Felder warf. Sie ftand eine kurze Zeit in Anftaunen verfunfen. Über ihr flötete von der Spitze eined® Baumes eine Amfel mit ganzer inbrünftiger, Tehnfüchtiger Wehmut, in ben Zweigen rajchelte es leife Wie von hufchendem Leben.

Die Baſe faß vor ihrem Häuschen und ſchaute friedlich in die Abendfonne Die welfen, alten Hände hatte fie im Schoß ge- faltet, an ihren Knieen rieb fih ein großer, gelber Kater und fchnurrte behaglich. Als fie Urfel von ferne erblidte, hob fie die Sand an die Augen und fchaute nach ihr aus. Der Kater aber fchlängelte feinen ſchönen Schwanz und ging ihr langfam und vomehm ent: gegen.

Frühfingögefchichte.

Das Mädchen trat mit furzem Gruß heran und legte den Flachs und die Rrämerwaren auf die Bank.

„Welch ein Frühlingstag das iſt,“ fagte die Bafe, die ihr freundlich zunidte. „Der liebe Gott meint e3 gut mit ung Alten. Im Ofen fteht dein Süppchen. Geb, ib, du wirft müde fein.”

„Im Dorf richten fie das Maifeft,” fagte Urfel.

„Das ift recht. Mit Freude loben wir den Herm,” erwiberte die Alte,

Ein dunkles Zuden erſchien auf der Stimm des Mädchens, als meine fie faft, hier fei nichts zu Toben; dann fügte fie aber falt hinzu:

„Unb Dörte heiratet den Tiſchlerfritz“

„Gott ift gnäbig. Er tröftet die zerbrochnen Herzen,” fagte die Bafe und fah mit fanften Augen auf Urfel, während fie lind den Frühlings⸗ duft einatmete.

Die ſah fie mit brennenden Augen an, dann wandte fie ſich ftumm ab und ſchritt in das Häuschen. Hier ftand fie einen Augen: blick reglos und preßte die Hände ineinander. Wie ein Stöhnen fam es von ihren Lippen:

„Weshalb bift du gegangen, Franz? Ic bin fo allein, fo allein.”

* * *

Es mar ein paar Tage fpäter, da fehritt Urfel duch das Wäldchen. Auf der Hälfte des Weges zwiſchen dem Dorf und dem Häuschen der Bafe hatte ein Bäuerlein fein Befigtum mit ein paar Kühen und Pferden. Dorthin ging Urfel ab und an, um Milch zu bolen. Auch heute war fie früh hinaus, zugleich mit der Sonne, die milde und far aufging. Ein ganz fanfter Morgenwind regte die jung: begrünten Buchen, der Tau hing fatt und ſchwer im Gras, ein Häglein fprang durch das Unterholz und machte Männden. Vor allem aber regten ſich die Vögel und zwitſcherten und fangen.

Urſel ſchritt raſch und munter aus, ihr Traftvoller Körper war nad der Nachtruhe befonders friſch, die fhnelle Bewegung, bie jaft noch etwas herbe Luft belchten ihn. Es war wohl ſchwer, an biefem fonnigen Frühlings- morgen nicht unwillkürlich auch vol ruhiger Lebensfreude zu fein. Wie unbewußt drängte fih ein Summen auf ihre Lippen, eins von

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jenen Volfsliedern, die fie früher mit Franz und Dörte und Michel gefungen. Sie wurde es felbft nicht gewahr. Faſt gedankenlos wanderten ihre Blide in den Sonnenjubel, und plöglich ftiegen wirbelnd, Har und macht⸗ voll Ieuchtende, lodende Töne aus ihrer Bruft in ben fonnigen Morgen, um bie Wette mit den Bogeljtimmen, nur lieblicher, kraftvoller. Die Welt war fo ftill ringsum, ihr Lied war allein zu hören; wie Glodenllänge ſchwebten die Töne über dem taugligernden Gefilb.

Aber mitten darin brach Urjel ab und horchte faft erfhroden, ob fie es wirklich felbft gewefen, deren Stimme fo jubelnd erſchallt mar. Und dann ftieg eine Nöte in ihr Geficht, obwohl - fie ganz allein war. Sie hörte nur noch das gebämpfte, nedende Gezwitſcher der Vögel. Untoillig z0g fie die Etim zufammen und fchritt rafcher vorwärts und babei trieb fie ihre Gedanken unbarmherzig in bie dunklen Wintertage zurüd, in die Etunden atemlofen Grauens, wenn der Nordwind um ihr Häuschen feufgte und fie gemeint hatte, die Stimme von Franz zu hören, als Hage er um Einlaß, als fei es ihm zu fehauerlid im einfamen Grab. Hatte fie nicht oft feinen Schritt gehört, den rafchen, feften Schritt? Aber er tar verhallt, ehe er die Thür erreichte, er ging immer vor: über.

Nun hatte der Frühling feine Macht mehr über ihre junge Seele. Sie ſchritt durch den blühenden Wald und merkte es nicht.

Erft als fie fih nad kurzer Zeit dem offenen Feld näherte, machte fie aus ihrem dunklen Brüten auf. Sie ſah durch bie Stämme hindurch zwei Pferde auf dem Ader ftehen, und an einen der Bäume lehnte ein Mann, die Arme gereizt, und unter düftrer Stirn blidten zwei fremde, todftille Augen nad ihr hin. Einen Augenblid durchrann fie ein Schred, daß ihr Fuß ftodte. Der Mann aber wandte den Kopf und fah reglos wie vorher in das flimmernde Feld hinaus.

Nun erfannte fie ihn aud. Es war der Toni vom Steingehöft. Und ihr mar, ale müfje ihr Fuß leifer auftreten, um den in feinem Schmerz nicht zu ftören. Die Bafe, die gern mit den Alten ſchwatzte, wenn fie nad) dem Dorf kam, hatte ihr über den Toni erzählt. Er war tie finnlos geweſen in feinem Schmerz,

3

Srüßlingögefciäte.

und goffen mit ihren Tönen Seftftimmung über den Tag. Der Echall wiegte fich heiter durch bie Mare, reine Luft, und Urſel hörte ihn, während fie ihre Morgenarbeit im Felbe verrichtete. Sie richtete fih mandmal auf, um zu laufchen und munderte fi dann, mie warm ſchon bie Sonne war, daß fie es an dem Epatengriff fpürte, wie lange er bereits in ihrem Strahl gelegen hatte.

Als fie etwas früher als gewöhnlich heim am, Tag in dem Stübchen ihr Feftpug aus: gebreitet, und bie Bafe rief aus dem Neben- raum, fie folle nur eſſen und ihr ein wenig verwahren; Urſel betrachtete erftaunt das feſt⸗ liche Kleid. Cie hatte gar nicht daran gedacht, daß fie fih auch ſchmüden müfje Dann aber eilte fie, es raſch zu thun, um mit ber Bafe zufammen zu eſſen.

Als fie nun ihre Böpfe aufgebunden hatte und das Kleid feft und zierlich faß, betrachtete fie ſich mit nachdenllichem Blick in dem Spiegel. Ihre volle, braune Wange war nicht ſchmaler getvorden, der Fräftige Mund nicht bleicher, ihr Auge nicht matter. So hatte fie auch voriges Jahr ausgeſchaut, ald fie noch ein wenig zärtliher in ben Spiegel blidte und rechte Freude daran hatte, daß ihr Antlig ſchön mar. Denn dazwiſchen warf fie ver- ftohlene Blide zum Fenſter hinaus auf den Franz, der ungebuldig pfeifenb auf und ab⸗ ſchritt und einen Strauß mit Pfingftrofen verftedt zu halten fuchte. Cie aber lachte, denn fie hatte den Strauß auf den erften Blick gefehen.

In diefen Gedanken murbe fie bon ber Bafe unterbrochen, die auch zierlich gepußt ihre Kammer verlieh.

„Ei, Urfel, fertig,” fagte fie erfreut und warf einen wohlgefälligen Blick auf das ſchlanke Mädchen.

Urfel holte den Napf mit Eſſen und legte fih und der Bafe vor. Ihr war wunderlich zu Mut, wie fie das gepußte alte Weibchen fah, und ein gerührtes Mitleid erwachte in ihr.

„Sie wollen fi ja alle täuſchen,“ dachte fie traurig, „täufchen und denken, daß fie glüdlich find. Und find uns nicht allen ſolche Stunden zu gönnen? Soll id an einen Schmerz mahnen, den fie vergeffen wollen?”

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Aber troß dieſer guten Vorfäge brannten ihr heiße Thränen in den Augen, bie fie nur mit Mühe zurüdbrängte.

Die Bafe vorfichtig mit vorgeneigtem Dberlörper und marf unruhige Blide zum Fenſter hinaus, um nad) dem Stand ber Sonne zu fehen, ob es nicht Zeit zum Aufbruch fei. Dann trippelte fie, während Urfel die Teller wuſch und fortftellte, ſchon vor die Thür und ſchaute bort recht ehrbarlich unter ihrem breiten, geftidten Kopftuh den Weg hinauf. Endlich mar auch Urfel fertig und trat zu ihr.

„Schau, Urfel, weld ein Tag”, fagte bie Bafe. „Diefer Glanz und Flimmer und ſolch eine weiche, linde Luft, daß ſich kaum ein Blütenbaum rührt. Voriges Jahr war es doch auch ſchön, aber einen ſolchen Tag hat es nicht gegeben, feit ich jung war.”

Urfel lächelte bebächtig. Ja, der Tag war ſchön und in feiner ftilen Pracht beinah rührend. Bon fernher am Hähnegefchrei, das dur die ftille Luft ganz klar herüberdrang. Am Himmel zerfloß ein zartes Duftwöllchen. Neben ihnen ftieg eine Lerche auf, und über dem Wald zog ein Habicht feine ruhigen Kreife. Eine Eidechfe lag auf dem fonnigen Weg und huſchte erſt fort, als fie nahe heran kamen.

Die Bafe ftüßte fih auf Ullas kräftigen Arm, und ihre junggebliebenen Augen fonnten ſich an allem Schauen nad rechts und links nit genug erquiden. Dft blieb fie ftehen, teils um fih zu ruhen, teild um andächtig den tmürzigen Feldgeruch einzuatmen. Hier freute fie fih an der zarten Saat, dort an einem überhängenden Blütenbuſch. Es mar Urfel faft, als ginge aud ihr erft jegt der Reichtum und die Fülle diefer gefegneten Tage auf. Und fein Arbeitflang tönte herüber, felbft die Mühle ftand mit reglofen Flügeln.

Im Buchenwäldchen fagte die Bafe: „Und ſchau, Urfel, nicht? vergißt der liebe Herrgott. Mein Lebtag hab’ ich nichts fo geliebt, mie Leberblümchen und Anemonen, und fieh, mie alles weiß und blau ift. Geh, Kind, und pflüd mir ein Sträußchen.“

Nah wenigen Minuten tvaren Urſels Hände gefüllt, und fie feßte fich zu der Baſe auf den bemooften Stamm und ordnete die heilen Blumen. Die nahm fie mit etwas zitternden Händen und lehnte einen Augen⸗

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Fruhlingegeſchichte. Antworilos nahm fie bie Hand, die er bot |

und trat in die Reihen. Er legte den Arm um fie und balb glitten fie in der linden Luft nad den fröhlichen Taften auf dem platt: getangten Rafen dahin. Mit keinem andern

hätte Urfel getanzt, fie begriff es felbft faum,

daß fie nun im Reihen war und im Vorüber- ſchweben flüchtig bie Geſichter der Bafe und des Frangenvaterd unb der andern ſah. Sie

wußte nur, daß dies Wiegen und Drehen ı

köſtlich war, daß ein fefter Arm fie führte, daß die Eonne glänzte und daß manchmal ein

Schwalbenſchrei ihr Ohr traf. Und dies alles :

mar ſchön. AS dann die Mufit eine kurze Paufe

machte, ftanden fie nebeneinander und prüften '

ſich gegenfeitig mit verftohlenen Augen. Cie

ſah wohl, daß fein Geficht heute nicht düfter

mar, wenn auch ernft, und fein graues Auge mar fanft, wenn er fo gelaffen vor fi hin⸗ ſchaute. Nun fah er fie mit einem furzen Lächeln an, einem Lächeln, bei dem fchneeige

Zähne unter dem ſchwarzen Bärtchen ſichtbar

wurden und bas deshalb feltfam fröhlich ſchien, und fagte mit einer ruhigen, etwas leifen Stimme:

„Wie prädtig haft du neulich gefungen, Urſel.“

Sie erſchrak ein wenig, er aber fuhr fort:

„Schau, fol eine Menfchenftimme am ſchönen Tag im einfamen Feld, die fährt durch das Her.”

„Und ich meinte, ich hätt’ dich geſtört,“ ſagte Urfel.

„Beim Eggen?“ fragte er und lachte.

Und dann begann bie Muſik wieder und

wie felbftverfländlidh führte er fie aurüd, und |

fie tanzten rubig, ohne zu reden, langfam und jeden Schritt im Takt genießend, den ganzen, langen Tanz zufammen.

Paare geftellt hatten, fo blieben fie bei ein— ander, und tie fie mit feinem andern getanzt hätte, fo dachte auch der Toni nicht daran, von ihrer Seite zu meichen.

Immer wieder erhoben bie Fiebler nad) kurzem Raſten die Geigen, immer wieder Schritten fie dann Hand in Hand in ben Kreis. Sie fah nicht die andern, fie fah nur ein buntes Gewimmel. Sie hörte nicht, was ges

Es fam kein andrer, der fie zu einer Runde holte. Wie fi die ,

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rebet ward, nur Stimmen, bie ihr fern ſchienen | und bie, je tiefer der Abend fanf, je mehr von

einer müben, füßen Wehmut erfüllt fchienen. | &ie tonnte des Tanzens nicht genug finden, aber gut waren auch die Zeiten ber Raft im meiden Grafe, wenn die heiße Stirn von einem ganz fanften Hauch gefühlt ward und das unſchuldige Gezwiticher der Vögel hörbar ward nach dem Verftummen der Muſik. Ein- mal brachte der Toni ihr etwas zu trinfen, und ı bon fern fchien es ihr, als fähe fie das lächelnde Geficht der Bafe, das ihr zunickte.

Und die Sonne fanf, feurig und mild. Ihr rotes Licht erloſch an den Häufern, Fadeln ı brannten auf, ehe noch die Sterne berbortraten, und von den Wiefen fam ein tiefer, fühler Hauch. ' Da begann ſchon hie und da ein übermütiges Gejauchze und trogiges Gelächter, das fo klang, als fordere das Leben den Tod heraus. Und konnte es das nit? War es nicht unbefchreib- lich fieghaft und ſchön? Konnte das mahre Xeben, das Frühlingsleben des Herzens, durch irgend einen Tobesfchatten getrübt werben?

Urfel und Toni faßen Hand in Hand. Cie plauderten nicht viel, nur hie und da ein Wort über den Tanz, den Duft der Wiefen und bie glanzvollen Frühlingstage. Aber nie vorher hatte Urfel fo den Frühling empfunden, nie vorher hatte ein füßes, herzzerreißendes Glück fo ihre Seele erfüllt. Sie wünſchte nichts, als noch lange, lange fo zu bleiben, mie ein Genefender, den plößlich peinigender Schmerz verlajien und ber in tiefer Danfesftille das bloße Atmen und Sein genießt. Und manchmal ſchaute fie dann auf den Toni, und ihre Augen rubten voll ftrahlender Liebe auf feinem ernften Geſicht.

„Noch einen Tanz, Urſel,“ bat er, und fie drehten fi in dem Wirbel, der jegt rafcher und toller ward, nun Luft und Freude wuchs. Man merkte es dem raſenden Gejubel der Fiedeln an, daß bei dem Geiger das Feſtbier

Eieger über den Schmerz geivorden, und bie | übermütigften Tänzer ftampften die Erde, | jauchzten und ſchwangen ihre Tänzerinnen, daß

deren Füße faum den Erdboden berührten. | An Tonis ftarfem Arm glitt Urfel aus dem Wirbel hinaus und merkte es faum. Nun ward es auf einmal ftiller um fie, die Mufit Hang gebämpjter, und ber Flammenſchein ber

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Fackeln reichte nicht mehr bis zu ihnen hin. Aufatmend blieb der Toni ftehen, zog Urfels Arm durch den feinen und fagte:

„Sieh, wie filbrig der Mond ſchon glänzt. Magſt du es, dann bring ich dich heim, und wir gehen das Stüd noch zufammen.”

„Aber die Bafe?” fragte Urfel und erſchrak, denn fie hatte des alten Weibleins den ganzen Abend nicht gedadıt.

„Ad, Urſel,“ lachte der Toni, „fie bat dir ja zum Adieu genidt und ift früher mit bem Franzenvater heimgegangen. Weißt bu nicht mehr?”

„Ich weiß ſchon,“ fagte die Urfel und

ftügte ſich feiter auf feinen Arm, denn der Weg

war dunkel, und der Mond gab nur ein unficheres Licht.

Nun fie von weitem das Echreien hörte, dag wüſter aus der Ferne Hang, war fie froh, nit mehr im Reigen zu fein. Der Toni war jest ftill, fie hörte nur feinen langfamen, fraftuollen Atem. In dem grauen Dämmern huſchten und überhufchten fich die Fledermäuſe, fhlugen oft nah an ihnen mit lautlofen Flügeln vorbei. Sie waren auf dem Meg, der zum Wäldchen hinaufführte. Das fühle Wehen des Abende war einer reglofen, Iauen Wärme gewichen. Hin unb wieder ftolperte fie über einen Stein oder ein Zoch im Wege, dann hielt fie der Toni, und endlich legte er feinen Arm um fie, und fie ließ es gefcheben. Es war fo feierlich, dies ftille Dabinfchreiten. Mas gingen fie die Menfchen an, die da ferne lärmten, was ging fie auch das Ge: weſene an?

An dem Waldrand blieb der Toni ftehen und lehnte fie ein wenig zurüd, baß er in dem matten Schein ihr Gefidht fah.

„Hier bab ich dich fingen hören, Urſel,“ jagte er leife. „Sch war jo wunb und ieh, daß ich gegangen bin und geweint hab’. Zum erftenmal Thränen. Das hat mir das Herz freigebadet. Dann hab ih nur gemwünfcht, dich noch einmal zu fehen, um bir zu danken. Und jetzt könnt' ich did) nimmer, nimmer lafjen.“

Er ftieß es faſt zwiſchen den Zähnen hervor, als bereite es ihm Dual, das zu fagen. Aber über ihr Gefiht, das im Mondlicht blaß erichien, ging nur ein leifes, inniges Lächeln.

Frühlingsgefchichte.

Da neigte er fih zu ibr und küßte fie wie rajend auf Mund und Augen.

„Urſel, Urfel, Gott fei gelobt. Ich hätte ohne dich das Leben nicht mehr ertragen.”

„Und ich, Toni?” fragte fie dagegen, un wieder blieben fie ftehen und blickten fich mit ftaunenden Augen an und lähelten und füßten fich.

Nie hatte Urfel fo Tange Zeit gebraudt, das Gehölz zu burdfchreiten, und nie war ihr der Meg fo kurz erfdienen. Durch bie jungbelaubten Bäume riefelte der Mondfchein, wie Silber lag er auf dem weißen Pfab. Ein weſenloſes Raufchen bie und da war um fie das einzig Lebendige. Und kein Schatten, feine Erinnerung mar zwilhen ihnen. An biefem einen Tage vollgemefjienen Glüdes war niht Raum für einen trüben Gebanfen.

Bor dem Häuschen der Bafe blieben fie ftehben und fchauten ſich noch einmal an.

„IH Tomme morgen wieder,” fagte er und faßte ihre beiden Hände, mit ben beichatteten, grauen Augen fie innig betrachtend.

„Richt zu ſpät,“ war ihre Antivort.

Noh einmal neigten fie fih einander zu in einem legten, fcheuen Ruß, bei dem fie jäh errötete. Dann wandte er ſich um und ging. Eie blieb an die Bank gelehnt und fchaute ihm nad. Von dem Felde Fang ber Huf der Kornwachtel. Der Mond war glängender geworden und umwob alles mit feinem ftilfen, märchenhaften Echein. Die blanfen Fenfter an dem Häuschen der Bafe glänzten mie Silber. Und die Luft war fo würzig und fühl, daß fie Urfel fürmlich beraufcte.

Borfichtig tappte fie fich endlich, als ber Toni im Gehölz verfhmwunden war, in ihre Heine Kammer. Hier ftieß fie das Fenſter auf, um noch mehr Monbfchimmer und Frühlingsluft zu atmen, dann entfleibete fie fih und fchlief, ermattet von den ungewohnten Anftrengungen und Aufregungen des Tages, bald tief und ſchwer.

Plöglih, fie mußte nicht, wie lange fie gefchlummert hatte, fuhr fie empor und faß mit bämmerndem Herzen aufredht im Bett. Ihr Kopf war fchwer und ihr Atem flog; vorgeneigt laufchte fie angeftrengt in die Nacht. Dort war ihr Name gerufen, einmal, ziveimal, weit, Hagend. Davon war fie wach geworben.

4

Srüßfingsgefgjtchte.

Der Ruf Hang ihr noch immer im Ohr nad, es lonnte feine Täuſchung fein: Wer aber mochte fie rufen?

No immer lag draußen die Nacht, und ihr ruhvoller Frühlingsatem ging leife. Der Mond war höher geftiegen, nur ein ſchmaler, heller Streif lag noch am Boben ber Kammer. Urfel lauſchte, aber es lam kein Laut aus ber tiefen, nächtlichen Stille.

Und doch Batte ber Auf fie aus dem Schlummer geivedt, und fie hatte gemeint, es müffe ber Toni fein, der aus Todesnot und Angft zu ihr riefe. Der Toni, defien Ruß fie noch fühlte, der Toni, deſſen Auge fie noch fah, der fie im Reigen geführt und fie heimgebracht hatte.

Wer anders follte fie denn auch rufen? Doch nicht der Franz, der im Fühlen Grabe lag, der ſchon fo lange, lange tot war!

Aber jeßt erſt wurde fie ganz wach aus ihren irren Gebanfen und preßte mit einem jammernben Etöhnen das Geficht in die Hände. Sie mußte, fie fühlte, es fei der Franz ge: weſen, der Franz, den fie treulos verraten. Seine ganze, junge, ernfte Liebe hatte er ihr geſchenlt, und jeßt fehon konnte fie ihn vers geilen, nah wenig Monden ganz vergefien, wenn auch nur auf kurze, wirrſüße Stunden.

Wer hatte fie fo verzaubert? Wer hatte fie gezwungen, zum Maienfeſt zu gehen? Wer hatte fie dulden laſſen, daß ein Fremder fie umfchlang und füßte? Ja, wer ließ auch jegt noch das Geſicht diefes Fremden fo nah, fo gütig ernft vor ihren Augen ftehen, wer den tiefen, weichen Klang feiner Stimme in ihrem Ohr zittern?

„Franz,“ ftöhnte fie, „Franz,“ und ihre Gedanken jagten und fuchten nad feinem rofigen, lebensvollen Gefiht, nach dem hellen, hoben Lachen, das fie noch fo oft zu hören gemeint hatte, daß ihr gegen biefe Lebens- freude fein Tod noch entfegensvoller fchien. Zurüd in die dunklen Eterbeftunden! Fort aus der weichen, lind tönenden, felig bebenden Frühlingsnacht in graue, häßliche Herbftftürme, die mit ihrem dumpfen, eintönigen Klagen Schmerzen und Thränen nicht zur Ruhe fommen ließen.

Und wirklich ftieg ein zuckendes Schluchzen ftoßtveife aus ber jungen Bruft, wirklich kam

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ein heißes, überquellendes Mitleid warm ftrömend in ihre Seele. Wirklich erwachte eine ftille, drohende Abwehr gegen den Räuber ihres Schmerzed in ihr. Das hatte er nicht gedurft, fie füffen, weil fie einmal ihren Nummer zurüdgebrängt hatte, er, von bem man fagte, er wiſſe, was Tod fei. Ja, Tod! Sollte fie noch einmal ihr Leben an ein anderes binden? Niemals, niemals mehr. Ein folder Schmerz ift genug für ein Leben.

Als ihr Schluchzen fachter wurde, wuſch fie fi die Augen im fühlen Waffer und fah dann, binausfhauend, daß ſchon überall cin leifes, laum merkliches Dämmern die ſchweren Schatten der Nacht erhellte. Auch fing ihr Hahn fröhlich und durchdringend an zu krähen, und ein berber Lufthauch ftric in die Kammer.

Urfel begann, ſich raſch und heimlid an= zulleiden. Ihre veuige Sehnſucht drängte fie zu Franzens Grab. Sie mußte dazu bem Morgen eine Stunde abgewinnen, um mit ihrer Arbeit nicht im Nüdftand zu bleiben. As fie fertig war, hatte ſich an den Aſten und Bäumen fhon das Dunkel gelöft, und bie Sterne waren verblichen, ber Himmel war von mattem, farblofem Blau. Aus den Sträuhen kam ein erftes, verſchlafenes Spatzengezwitſcher. Behutfam öffnete fie die Thür und trat hinaus. In dem Stall grunzten und quietfhten die Schweine durcheinander. Das Alltagsleben hatte fich feit geftern nicht geändert, nur fie far eine andere geworben.

Lautlos ging fie durch das frühe Dämmern, denfelben Weg, den fie geftern gelommen war, aber fie dachte nicht an geftern. Je weiter der Morgen fortſchritt und alle Schatten ſcheuchte, defto mehr Tag es wie ein Schlimmer Traum, der feine Wahrheit hatte, hinter ihr, defto mehr Iebte fie ſich in ihr Leben zurüd, wie es vor dieſem Geftern geivefen. Als fie das Wälbchen erreichte, ging fie zwiſchen bie Stämme und pflüdte, was fie an friſch er wachten Blumen fand. Die follten das Grab des Jünglings fchmüden, ber fein Leben fo wenig hatte genießen dürfen.

Als fie ihre Schürze damit gefüllt hatte und nun aus den Stämmen herbortrat, war der ganze Himmel von rofigem Schein getränkt, und golbbligende Wöltchen badeten fih in den Strahlen der Eonne, die noch

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nicht am SHorizont aufgeltiegen war. Urfel fchritt rajcher vorwärts, dem Kirchhof zu, von deflen boben Bäumen melodifches Amfel: geflöte erſchallte. Sie befreuzte fich ſtill und ernft, ala fie durch die Pforte trat, ging dann den Ichmalen Pfad zu dem Grabe des Liebften hinauf und betete dort, nachdem fie die Blumen verſchwenderiſch darüber hingefchüttet hatte, fo trauervoll, jo inbrünftig, jo tief erjchüttert, wie nie zubor. Ihm gelobte fie fih von neuem, ihn flebte fie an, ihr leßtes Gut, ihren Lebenstroft, den Schmerz, nicht von ihr zu nehmen, und je inniger ihre Thränen rannen, deſto fanfter und leichter ward ihre Eeele.

Als fie binauffchaute, ſah fie, nicht weit bon ſich, an Hanni Grab den Toni Stehen. Der erſte aufzudende Morgenftrahl beleuchtete ihn und den großen Strauß von Moosrofen, den er in der Hand bielt, wohl um Hannis Grab damit zu fchmüden; aber das hatte er vergeſſen; er ſah nur zu ihr hinüber mit itarren, leibverbüfterten Augen. Da, als ihre Blicke fich trafen, zudte etwas in feinem Geficht, er machte eine Bewegung, wie um ihr entgegen- zuftürzen, über die Gräber hinweg, mit aus- gebreiteten Armen. Ä

Uber die Urfel lag nur ganz regungslos auf den Knieen und ſchaute ihn an. Sie fah nur fein berbes, junges Gefiht; den Franz batte fie vergefien. Ihr erftes Gefühl mar wie ein Jauchzen geweſen, und num war e3 wie ein Schall von großen Gloden in ihren Obren, der alles übertönte.

Schweigend, reglos fchauten fie ſich an. Allmählich verbüfterten fich ihre Blicke, die erft jo trunfen einander gejucht hatten, fein Mund zudte herb und falt, und die Stirn zog ſich zujammen. Denn Urfel hatte bie zitternbe Hand erhoben und mwie-zur Abwehr ein Kreuz auf Stimm und Bruft gefchlagen, den Blick immer auf ihn gerichtet. Jetzt fenkte fie den Kopf und murmelte mit haftigen Lippen Gebete vor fih Hin. ALS fie wieder auffchaute, war der Toni verſchwunden.

Schwerfällig erhob fie fich, ftrich über ihre Stim, ging ganz gedanfenlos beim. Nur einmal auf dem Weg blieb fie ftehen. Mit den kraftvollen, braunen Armen padte fie eine junge Birke, die am Feld ftand, daß bie frühlingsgrüne Krone fi) rauſchend in der

Frühlingsgeſchichte.

Luft bog. Die vollen Lippen preßte fie auf: einander, aber doch rang es fich los:

„Die Hanni, Gott, wie hat er die Hanni geliebt.”

Dann ging fie ftil, bleih und in fi gekehrt weiter.

Aber zu Hauſe wartete die Baſe, und tauſend Schelme lachten aus ihren milden, braunen Augen.

„Schau, Urſel, du haft doch Freude gebabt am Felt. Wie bift du aber fo früh daher geflommen, Mädchen?”

Urjel blieb ftehen. In ihren Augen bligte e3 drobend und fdharf.

„sh Tomme vom Grabe, Baſe,“ fagte fie mit bebender Stimme. „Vom Franz, in ijt mein Platz. Immer, ewig.“

Da mar die Baſe betrübt und ſchüttelte ihren greifen Kopf, denn fie hatte andre Dinge für ihren Liebling erträumt.

Frühling, Frühling, fangen die Nachtigallen. Frühling, verfündeten die taufenb jungen Blüten, die täglich erwachten, Frühling atmete die braune, buftende Erbe, die den Samen empfing und ihn grün und lebensfrifch glänzend wieder aus ihrem Schoß erftehen ließ.

Am nächſten Tage fam Dörte mit lachenben Munde und erzählte, daß es nun Hochzeit gäbe, Hochzeit mit Meßgeläute, mit wehenden ahnen und fröhlihem Trunk. Dabei fchaute fie auf Urfel, und Iofe, ſchelmiſche Worte tanzten auf ihren ſchwellenden Lippen. Aber Urfel fchaute fie nicht an. Mit dem gleich: mütigen, ftillen Geficht blidte fie vor ſich hin, verbarg ihre brennende Scham, verbarg ihre Angſt, den Namen von Toni zu bören.

„Und Schau, ich habe gebacht, der Toni müffe bier fein,” fagte die Dörte treuherzia. „Da wollt’ ih euch gleich zufammen laden.”

„sh habe auch gedacht, er follte kommen,“ meinte die Bafe und nidte. „Eie haben ſo viel getanzt, die Kinder, daß er wohl fragen fünnte, was ſie macht.”

Urfel war bis an die Lippen erbleicht.

„Der Toni fommt nicht,“ fagte fie mit kalter, verlöfchender Stimme. „Zwiſchen uns jtehen zmei, die tot find. Gott belfe ung, wenn hir fie vergeſſen können.“

Und als die Dörte ſchwieg, und entfcht, mit Augen, die naß wurden im Scred, in

Frühlinggefchichte.

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ihr Geficht ftarrte, fuhr fie fort, ettvas näher | Gloden, die Progeffionen, die langen ge:

tretenb:

„Bu deiner Hochzeit komme ich nicht, Dörte. Tanzt, lacht, mic) laßt gehen. Daß einer im Grab liegt, der mir lieb war und hat feinen Frühling, feine Freude, fein Leben, fein Glüd, das vergeß ich nicht, und wenn's alle vergeſſen. Wer mi von dem reißt, ift mein Feind, cin Feind, den ih haſſe. Und nun laßt mic. Wenn's gebt, für immer. andres tie eures.”

Sie batte ruhig, jaft mit leifer Stimme geſprochen, dabei fuhren ihre Hände aber unabläffig an der Schürze auf und nieber, und jegt wandte fie fi) und ging.

Dörte ſchluchzte auf und verſicherte, daß fie ihren Michel ja auch nicht vergefien habe. Die Baſe aber ſprach ihr milde zu und wieder⸗ holte nur immer:

„Gott fügt die Herzen. feiner Hand.”

Und dann ging die Arbeit fort, das Leben drängte weiter, jeder Tag ward von dem milden Glanz der Eonne gefegnet. Abend für Abend nad} vollbrachtem Tagwerk wanderte Urfel zum Kirchhof. und fehaute mit verfchleierten Augen vor ſich bin. Oft blidte fie zu Hannis Grab hinüber und ſuchte fih ihrer zu entfinnen, wie blond und froh fie gemwefen, wie der Toni am DMaienfeft fie nicht aus feinen Armen gelafjen und wie ibr Lachen filberner geflungen hatte, als das der andern. Und dann ftüßte fie den Kopf auf und fann, daß wohl fein Herz wie das ihre fih auf einen Augenblid verirrt habe, aber doch treu und voll Liebe nur an Hanni bängen fünne. Unb wenn dann ihre Thränen heiß hervorbrachen, ſchluchzte fie dumpf:

„Wärſt bu nur nicht geſtorben, Franz, wie glücklich könnten wir ſein.“

Dann erſtarrte wohl wieder ihr Herz, wenn ſie an die Stunden der Angſt dachte, als ſie das Totenglödchen hörte, das jeden Tag ein: tönig, jämmerlid durch die Herbftluft Hagte. Wie fie die Dorfftraße hinauflief, als irgend jemand fagte: „Der arme, alte Mann, nun ift auch fein Franz tot.” Mie fie gleich einer Verzweifelten mit dem greifen Vater rang, um nod einmal, ein einzigesmal den Toten zu fehen. Und dazu das Wimmern der

Sie liegen in

Mein Leben ift ein |

murmelten Gebete des Priefters.

Manchmal zwar fuhr fie aus dem Zinnen auf und dachte: „Aber das ift ja alles vor: über, das ift ja vorbei und vergefjen.”

Und eines Morgens, als fic erwachte, ſcholl ein beller, fröhlicher Klang vom Dörfchen berüber, ber ganze, windige Morgen: war von dem luſtigen Kling⸗Klang der Gloden erfüllt; das mar Dörtes Hochzeitstag. Bei aller Arbeit verfolgte fie der beitere Schall und wiegte ſich durch die Blütenbäume, fchmeichelte ſich in die Fliederlaube und felbft durch die offnen Fenfter zur Mittagszeit in das Stübchen, wo fie mit der Bafe af. Die Bafe kränkelte, fie batte Reißen in den Glievern und mar ein wenig niebergedrüdt. Nah dem Schall aber laufchte fie hinaus, und ein freundliches Lächeln glitt über ihr runzliges Geſichtchen.

Nach beendeter Mahlzeit mußte Urfel in das Dürfen, um Einkäufe zu machen. Es war ihr lieb, heute zu gehen, da fie ale Be: Tannten beim Feftfhmaus mußte, der wohl bis in die Nacht währen würde. ie börte

| aud das Schreien und Jauchzen der Feiernden Dort faß fie am Grabe

im Wirtshaus. Der Krämer aber lehnte be= baglid an feinem Ladentiſch, rauchte fein Pfeifhen und gab ihr, mas fie begehrte. Mäbrenddem begann das Fiedeln, und er nidte und wies mit dem Daumen binaus.

„Die find heut luſtig,“ fagte er ſchmunzelnd, „ieder vergißt nicht fo leicht wie die Dörte, Haft du vom Toni gehört?"

„Mein“, fagte Urfel gelafjen und ſah ihn mit Haren, rubigen Augen an.

„Den hält's nicht”, fagte der Krämer und zählte ihr das Geld. „Da hat er den Hannes in fein Haus gefegt und gebt felber in den Krieg. Eine Schande iſt's mit ihm. Solch ein Burfche, der eigenes Vich bat und Ader dazu. Aber 's ift um die Hanne. Die vergißt der nicht. Hat fo ftarre, traurige Augen, wie am erften

| Tag.”

„Iſt er fort?“ fragte die Urfel.

Ihre Stimme fam von weit, weit ber. Der Krämer merkte es nicht.

„Fort über alle Berge. Schad' um den Burfchen. Kommt er heim, ift er ein Lotter⸗ bub’ ober ein Krüppel.”

„Freilich wohl,“ fagte die Urfel tonlos.

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Dann nahm fie ihr Päckchen und fehritt hinaus. Im Wirtshaus wurde gegeigt, und das Stampfen der Tanzfüße Hang. An ber Linde das Muttergottcsbild fah fie ſich an und ſah das milde Gefiht zu den fieben Schwertern im Herzen. Die Luft war voller Schwalben, die flogen und riefen und riefen. Der Flieder duftete fchon fo füß, daß die Luft fommerli davon warb.

Mit leichtem Fuß ging die Urfel den Pfab, ſchlank, bochaufgerichtet.

„But, gut,” fagte fie fih. „Gut, gut.”

Darüber hinaus gingen ihre Gedanken niht. Uber ein andre zerrte und riß an ihrem Herzen. Sie mußte nit mas. Go fam fie heim.

Bor der Thür faß die Bafe, die Füße bebedt, und ſah mit trübem Geſicht nad ihr aus. Sie fchritt fo ruhig und fchön heran.

„Schau, in die Sonne hab’ ich mich geſetzt. Das mwärmt,” fagte die Bafe. „Solang man den Frühling und Sommer hat, muß man e3 nüßen.“

Nach einem Weilchen feste fie zu:

„Aud der Toni war bier.”

Urfeld Hände eritarrten, ſanken fchlaff herab. Sie laufchte.

„Sinen Gruß an dich, hat er gelagt. Er gebt fort, in den Krieg. Mich hat’ gar ge: jammert.“

Als Urſel nichts ſagte, ſah die Baſe auf, in ein eiſig verſchloßnes Geſicht. Da ſeufzte fie, blickte trüb und müde und murmelte dann berivorren:

„Keine Kraft hat die Sonne. Mid däudht, die Strahlen find nicht recht warm.”

Urfel ging. Nein, die Sonne hatte feine Kraft. Sie fror, fror. Ob er noch da war? Ein Gott behüt’ hätt’ fie ihn gern gejagt für die weite Sabre. Aber er fehritt wohl fchon zu, durh all den Frühling hin in den Tod. Auch in den Tod. Dann batte fie zwei zu bemeinen. Einen, deſſen Grab fie nicht mußte, um den durfte fie überall klagen, im Selb, im Wald, den ganzen Tag. Für den Franz blieb der Abend am Hügel.

Ach nein, es war fehlimmer. Den einen hatte fie ganz verloren, mußte nicht, ob er lebte oder nit. Den Franz hatte fie, war ihm nab, der konnte nit von ihr fort. Um

Frühlingsgeſchichte

den durfte ſie weinen. Ja weinen, das mußte fie jetzt. Sie ſpürte, wie die Thränen an den Augen brannten. Ihr ſchien nur, ſie bürfe erft an Franzens Grab meinen, erſt da, nur da, aber dort auch die Seele hinaus, die thränenbrechende Seele.

Sie eilte, fie lief faft, das bleiche, ftarre Geſicht oft leiſe zudend vor Schmerz. Co trat fie ein durch das Thor, das bie Sonne rötlih vergoldete. Wie der Flieder duftete, fo fatt, fo mübe, ala fei er am Wellen. lieder lag auf Franzens Grab, weißer und roter, lieder lag auf dem Grab der Hanni.

Am Kreuz ſtand der Toni, emft, ruhig, jtiles Licht in den Augen. Und Urſel empfand einen Schmerz, daß fie nicht weinen durfte, fo lange er da war, daß fie nod warten mußte mit den Thränen.

Er löſte fih von dem Kreuz und trat zu ihr:

„eb wohl denn, Urfel.”

„eb wohl, Toni.”

„Und daß ich dich gekränkt hab’, vergieb,“ fagte der Toni, und fein Atem ging rajcher. „Sieh, ich geb’ es büßen. Hier kann ich nicht bleiben. Es drüdt zu vieles auf mich, Tote3. Nicht die Hanni, mein ih. Aber was ic gedacht hab fpäter —“

Er ftodte und ſchwieg. Sie blidten fich beide an, fie hatten ſich Iangfam genäbert.

„a, Toni,” fagte Urfel.

„Und mweil id) nun geh,” fagte der Tont, „\o freut’3 mich, daß ich dich noch einmal feb, Urfel. Und meil ich doch nicht wiederkomme, mein ic), du follteft vergeifen —“

Sie ſchluchzte plößlih auf, fo ſehr fie auch kämpfte, und wie er ein wenig die Arıne bob, lag fie ſchon an feinem Herzen und umfchlang ihn in inniger Liebe, Er ſprach nicht weiter. Er küßte nur immer und immer wieder ihr Haar und ihre Stirn und ſtrich mit der Hand an ihr bin. Bon den Gräbern duftete ber Flieder, die Amfeln fangen. Enblich richtete fie ihr Geſicht auf und fchaute ihn an.

„Das iſt ſtärker als Tod,” fagte fie leife.

Er erſtickte das Jauchzen in feiner Bruft.

„ur did, dich Lieb ich,” murmelte er gedämpft.

„Mutterſchaft und geiftige Arbeit.“ 475

„Franz, Hanni,” fagte fie twieber, „wir |, überwunden. Er wußte faum mehr, daß er tönnen nicht anders,” und bann, tie im | hatte gehen wollen. Arm in Arm mandelten Traum, die Worte der Bafe: „Gott fügt bie | fie auf und ab durch die Gräber, bis es fpät Herzen.” ward. Dann gingen fie heim, und Urfel

Um alle Gräber grünte das Leben, fieg- | wußte, zwei alte Augen, die noch das Leben reicher hatten biefe beiden Herzen den Tod | liebten, würden heut leuchten in Glüd und Dank.

ARE „Wntterfhaft und geiftige Arbeit.“

Belene Tange.

Nahdrud verboten.

®- „Loſung der Frauenfrage* if augenblicklich Gegenftand litterariſchen Ehr-

geizes geworden. Faſt täglich finden fi auf den Redaktionstiſchen Schriften zur Frauenfrage ein. Titel wie: „Das Weib in feiner Geſchlechtsindividualität“, „Das Weib in ferueller Beziehung”, „Der phyfiologifche Schwachſinn des Weibes“, „Das neue Weib” u. ſ. w. u. ſ. w. fchreien einem von den farbenprächtigen, häufig mit entfeglihem „Buchſchmuck“ verfehenen Umfchlägen dünnleibiger Broſchüren entgegen. Gewöhnlich Löfen diefe Brofchüren die Frauenfrage gleich prinzipiell, und zwar häufig genug auf Grund von Erfahrungen, die ihre Verfaffer in der Behandlung kranker Frauen oder in ihren „Beziehungen“ zum „Ichönen“ Geichlecht gemacht haben. Daß ihnen jede tiefere Kenntnis der wirklichen Frauenbewegung und ihrer inneren und äußeren Motive abgeht, braucht kaum erwähnt zu werben.

In wohlthuendem Gegenfag zu ſolchem temdenziöfen Dilettantismus fteht das Bud von Adele Gerhard und Helene Simon: „Mutterihaft und geiflige Arbeit” (Berlin, Georg Reimer). Es zeigt den einzigen Weg, auf dem nicht etwa bie Frauenfrage zu löfen ift, denn das gefchieht nur auf dem Wege praktifcher Arbeit fondern auf dem einzig und allein die wünſchenswerten Hilfstheorieen zu gewinnen find. Das ift der Weg erafter Unterfuhungen auf Grund eines durchaus objeltiv, ohne tenbenziöfe Abfichten beigebrachten Beobachtungsmaterials.

Eine Buchbeſprechung fol nicht die Lektüre des Buches erſparen. Am mwenigflen fol das bei dem vorliegenden Buch verfucht werden, da es dringend wünſchenswert erſcheint, daß alle, die ſich mit ber Frauenbewegung befcäftigen, eingehend davon Kenntnis nehmen und womöglich das reichhaltige gefammelte Material und die darauf von ben Verfafferinnen begründeten Schlüffe im: einzelnen nachprüfen. Es genüge hier, Weg und Gefamtergebnis der Unterfuchung anzudeuten.

Das Bud will feftftellen, ob und inwieweit die Mutterfchaft ein Hemmnis für die geiftige Berufsarbeit der Frau bildet. In Bezug auf die Vergangenheit konnte ſelbſtverſtandlich nur -der Weg Hiftorischer Darftelung und Kritik eingefchlagen werden. Durch eine außerordentlih umfaffende und forgfältige Benugung des vorhandenen litterarifchen Materials find die Verfafferinnen auf diefem Wege fat durchweg zu

„Wutterichaft und geiftige Arbeit.” a7

Sophie Junghans meint:

„Jim ganzen ift meine Überzeugung, daß zur Zeit in Deutſchland wenigſtens der ſchriftſtelleriſche Beruf ſich ſchwer mit den Pflichten der Hausfrau und Mutter, mit denen ber Gattin überhaupt kaum vereinigen läßt.“

Und Magdalene Thorefen:

„Ich glaube nicht, daß man mit demfelben Seelenträften fich zugleich in beide Lebenspflichten verteilen Tann; ift man Mutter, daß man, fo lange die Kinder minderjährig find, fi dem tiefen Seelen: ftubium Hingeben Tann, welches das Schriftftellerleben erfordert. Cine andere Sache ift ed, wenn die Kinder das Alter erreicht haben, wo bie Erziehung zum Schulleben beginnt. Bon der Zeit an kann ſich die Frau ihrem Künftlerberuf hingeben, denn ba ift ihre Liebe zum Kinde mehr mit äußeren Rüd: fichten gemifcht. Ich Hätte nicht ſchreiben oder litterarifch arbeiten können, während ich meine Kinder näbrte. Erſt ba biefe ald heranwachſende Menfchen an meiner Seite gingen, Tonnte ich diefelbe Wärme, mit der ich fie liebte, in die Menſchenſchilderung, in meine ſchriftſtelleriſchen Werke hineinfegen.“

Es ift danach offenbar, daß phyſiſche Anlage, Temperament, Konzentrationd- und Dispofitionsfähigkeit ebenfo verfcieden find bei den in einem geiftigen Beruf ftehenden Müttern als bei ben nicht beruflich thätigen auch. Jedenfalls müßte man, um zu unbeftreitbar algemeingiltigen Ergebniffen zu fommen, in der Lage fein, bie Erhebungen in weit größerem Umfange anzuftellen, als das zur Zeit möglich ift. Bei einer verhältnismäßig fo geringen Zahl von Experten, wie fie heute zur Verfügung fteht, wirken die einzelnen doch noch mehr als Inbividualitäten, denn als Ratiftifche Nummern, aus denen man prozentuale Berechnungen ableiten ann.

Aber auch ausgedehntere Unterfuchungen würden ficherlih zu demfelben Endergebnis führen, zu dem die Verfaſſerinnen fommen: daß, von Ausnahme- naturen abgefehen, die gleichzeitige Erfüllung der Mutterjhaft und eines die ganze Seele binnehmenden geiftigen Berufs zu einem unlöglichen Konflitt führen muß. Es hieße wahrlich die foziale Bedeutung der Mutterfchaft gering anfchlagen, wenn man glauben wollte, daß fie bei einem Beruf, der den Mann voll ausfüllt, noch fo nebenbei abzumaden fei. Das aber mögen ſich auch die Frauen gefagt fein laſſen, die ſich den Berufsarbeiterinnen gegenüber als eremplarifhe Mütter vorkommen, obwohl fie ihren Beruf weit mehr in der Gefellfchaft als in ihren Kindern finden. Wenn die geiftige Arbeit den Kindern Häufig die Mutter entzieht, fo vermittelt fie ihnen doch wieder geiftige Werte, die die Geſellſchaftsdame niemals zu bieten vermag.

Doch wird nicht mit diefem Endergebnis zugleich über die Forderung ber Frauenbewegung, die Frau und Mutter tie die unverheiratete Frau in die vollen Bürgerrechte und =pflichten einzufegen, ihr freien Spielraum für foziale Bethätigung zu geben, der Stab gebrochen?

Die Erfahrungen der Verfafferinnen führen zu einem ganz entgegengefegten Refultat. Die in der Agitation für foziale Reformen thätigen Frauen betonen faſt ausnahmslos, daß ein Konflikt zwiſchen ihren doppelten Pflichten ihnen nicht zum Bewußtſein gelommen ſei. Dffenbar deshalb nicht, weil Bier beide Pflichten aus derfelben Quelle fließen und feinerlei Verſchiedenheit der Sphären fie Hier: und borthin sieht. Der Ausgangspunkt ihres Thuns ift der gleiche: ihre Mütterlichkeit, und es handelt fih nur darum, mie viel Arbeit die einzelne Frau zu leiften imftande ift. Und gerade „die Unübertragbarkeit mütterlicher Erfahrung weift darauf hin, welchen Wert der Eintritt der Frau in die gefeggebenden Körperfchaften Haben könnte. Zugleich Scheint die Möglichkeit der Verwertung jener Erfahrung in fpäteren Jahren zu zeigen,

478 Aus Marie Ebners Spätherbfttagen.

daß die inneren und äußeren Bedingungen des Mutterberuf3 fein Hindernis für eine wirffame öffentliche Thätigfeit bilden.” Zu dieſem Ergebnid führt die Unterfuchung, bie, dem Titel entiprechend, als Hauptaufgabe des ganzen Buches angejeben werden muß. |

Aber fie iſt nicht feine einzige Aufgabe. Wertvolle Unterfuchungen über die geiftige Thätigkeit der Frau überhaupt führen zur Befeitigung der neuerdingd immer zuverfichtlicher wieder auftretenden Vorurteile, als ob die Frau ſchon durch ihr Geſchlecht zu geiftiger Arbeit untauglih fei. Und auch in dieſer Hinficht darf die Arbeit, bejonder® den im Eingang genannten, auf vorgefaßter Meinung beruhenden, pjeudowiflenfchaftlichen Tendenzichriften gegenüber, in ihrer ruhigen Sachlichkeit als ein bedeutfamer Beitrag zur Klärung der einjchlägigen Sragen betrachtet werden. Es würde für den Fortichritt der Frauenbewegung von unberechenbarem Wert fein, wenn der Geift ſtiller, geſammelter, jahrelanger Arbeit, der dies Buch Tennzeichnet, einer Arbeit, die alle Bebingtbeiten jorgfältig berüdfichtigt, auch für das praftiiche Wirken ber „Frauenrechtlerinnen“ audjchlaggebend würde.

Ans Marie Ehners Hpätherbſttagen.

Ernfi Beilborn.

Nahdrud verboten. om nn

„Sa, mein Guter,” fagte Goethe, „hierauf tommt alle® an. Man muß etwas fein, um etwad zu machen.“ Gefpräcdhe mit Edermann. 1828. .

ies Buch „Aus Spätherbittagen”’) von Marie von Ebner-Eſchenbach gehört zu B den wenigen Büchern, die man miterlebt. Dean lieft es und fühlt fich bereichert, AD) und es läßt feine Spur in deinem Innern. Dieje Gedanken muß man weiter denten: diefe Menſchen, die Marie Ebner aus dem Nichts gerufen, heiſchen ſeeliſche Anteilnahme und man wird ihres Seins fich bewußt werden, öfters vielleicht und beffer, als der perfünlichen Belanntichaften, die ein gleichgiltiger Zufall vermittelt Hat, und die, gleichgiltige Schatten, in der Erinnerung wohnen; man wird etwas wie Heimweh empfinden nach ber tiefen, feiertäglichen Stille, die fih in der Beilegung dieſer feelifchen Kämpfe giebt. Denn das Befreiende, das Friedenſpendende aller echten Kunft, es ift in diefem Buche. Und doc ift e8 ein andrer Eindrud, der ftärler fih bervordrängt und fih dem Leſer vor anderen geltend macht: das Gefühl der Kraft.

„Aus Spätberbfttagen.” Soll diefer Name des Buches mehr als rein perjönliche Geltung haben, jo darf man dabei nicht an das Fallen der Blätter und das Raufchen

1) Berlin 1901. Verlag von Gebrüder Paetel. 2 Bände.

Aus Marie Ebner Spätherbfttagen. 479

des Windes um entlaubte Stämme denfen und nicht an ein twehmütiges letztes Gligern der Sonnenſcheins. Nichts ift in diefem Buch von müder Refignation und krankem Rubefüchteln. Statt deifen immer wieder das fiegreiche, befreiende Gefühl der Kraft. Wil man des Herbftes dabei gedenken, fo gilt es nur ben Herbft, in dem die Früchte reif geworden find.

Geftalten werben Iebendig, mit eindrudsvollen Zügen und anteilheifchendem Sein, und dieſe Geftalten atmen Kraft. Nicht zum twenigften bie Frauen! Da ift die Mutter des „Vorzugsſchulers“, eine vergrämte, kleine Beamtenfrau, unter dem Joch einer feiertagslofen Ehe verfümmert. Was noch von urfprünglicher Liebeskraft in ihr if, das gehört ihrem Sohn. Seinetwillen, um ihm beffere Nahrung zu ver= ichaffen, begeht fie Heimlichkeiten vor ihrem Mann, trägt fie ererbte Schmudftüde ins Leihhaus; feinetwwillen Iehnt fie ſich auf gegen biefen Mann trog ihrer Zagheit. Und dann nimmt fi) ihr Sohn das Leben, weil er dem Ehrgeiz des harten Vaters nicht genügen kann, weil die Laft, die der in verftänbnißlofer Liebe ihm auferlegt, für feine ſchmächtigen Schultern zu ſchwer if. Alles hat die Frau mit feinem Tode verloren, alles. Und fie geht Hin und tröftet ihren Mann. Eine andere, mit gleicher Kraft befeelte, tritt neben fie, „Maslans Frau“. Sie hat ihren Mann geliebt, und er ift ihr untreu geworden, und fie bat ihm vergeben. Sie hat ihm oftmals verziehen, immer wieder. Bis ihre Verzeihenskraft erſchöpft war und fie ihn von ihrer Schwelle gewieſen bat. Und ba bat fie geſchworen, ihn niemals ungerufen wieder aufzufuchen. Sie Hält ben Schwur, da ihr Mann auf dem Totenbett banieberliegt, obwohl der Priefter fie immer wieder mahnt zu ihm zu gehen; fie hält den Schwur dem eignen Liebefehnen zum Trotz. Und ich denke des guten, alten Fräuleins Sufanne, deren ganze Freude es ift, anderen wohlzuthun und bie darin bie Kraft zum Glüdlihwerben findet; ich denke nicht zulegt Michaela’s, die klaglos die Graufam: teiten ihres Vaters erduldet und in feiner Pflege fich aufreibt und doch fo gar nicht die blaffe Heilige ift, fondern ein lebensfrohes, warmherziges Mädchen, zugänglich jeder Freude. AU diefe Frauen haben ihre Kraft mehr oder weniger im Dulden zu bewähren. Aber das Dulben fordert ja wohl auch bie größte Kraft. .

An der Liebe und Liebesfähigkeit gemeflen, treten die Männer neben dieſen Frauen in den Schatten. Doch erfcheinen fie nicht ſchwächer, nur unbigciplinierter iſt ihre Kraft, äußerlicher ihr Wollen. Der Meine Beamte, der in feiner Unverftändigfeit und Härte den Sohn, den er liebt, in den Tod treibt; der ſchneidige Maslan, der feiner Frau die Treue nicht zu halten vermag, ein Trogkopf, der nicht nachgiebt und bei al feinem Übermut doch ein ganz naives Naturkind ift; Graf Lothar in „Uneröffnet zu verbrennen“, der feine Frau fo lang fie lebte niemals recht geliebt Hat, auch gar nicht daran dachte, ihr treu zu fein, und dem dann nad ihrem Tode Eiferfuchtöqualen erftehen, freilich eine kalte Eiferfucht aus kaltem Ehrbegriff geboren; ein ſehr zweifelhafter Charakter, und doch ein Mann, kraftvoll in feinem Thun und kraftvoll aud in feinem Seren.

Man hat Frau Ebner unzähligemal eine Erzieherin genannt: es trifft das fo ſehr ihr Weſen, daß ich das Wort gern wiederhole. Eine Erzieherin ift fie auch in ihren Spätherbfttagen. Deshalb eine fo große, weil fie die Naturkraft in dem Kinde voll empfindet. An ihr „Gemeindefind“ erinnert der Provi, von dem fie in ber Meinen Erzählung „Die Spigin” erzäßlt. Zigeuner haben den Buben einmal zurüdgelaflen, und dann ift er im Dorf aufgewachſen, von allen herumgeftoßen und verachtet, und

Aus Marie Ebners Spätherbfttagen. "481

Mädchen geheiratet, die er als Kind im fein Haus aufgenommen und erzogen hatte. Nach Jahren glüdlicher Ehe verliebt fie fih in feinen Schüler, und an ihren Totenbett if der im flande, ihr die legte Stunde mit feiner Liebe und feinem Verftändnis zu verflären. Der alte Mann aber befiegt das Haßgefühl, den Schmerz im eignen Herzen: „Steh auf! Ich beneide di, du Haft der DVielgeliebten das Sterben füß gemacht.” Die ſchwere Stunde feines Lebens fam und fand ihn gerüftet.

In den Prüfungen des Lebens wachen Charaktere ſcheinbar fiber fich felbft hinaus. Der Fernerflehende fünnte von einer Charakterivandlung fprechen; die giebt es nicht; aber es giebt ſehr verſchiedene Lebenzgeftaltungen zum Guten oder zum Böfen bie innerlich im Bereich desſelben Menfchen ftehen. Auch folgen Charakters problemen geht Frau Ebner nad). Der Provi, der „Abſchaum“, wird ein anderes Leben führen, nachdem einmal fein Herz ſich erweicht hat, nachdem er einmal fich felbft bezwungen. Die Mutter des „Vorzugsſchülers“, die vergrämte und verängftete Frau, tritt ihrem Mann mit einem Mal ganz ander gegenüber. Einen beinah mütterlihen Ton ſchlaägt fie gegen ihn an, wie er in Eelbftqual um ben Tod des Sohnes ſich ganz verliert; die Überlegene ift fie getvorden, aus der ängftlichen eine ganz jelbftfichere Frau. Auch in der Heinen Skizze „Ein Original” geht Marie Ebner ſolcher ſcheinbaren Charakterwandlung mit pſychologiſchem Forfchereifer nad. Bon einem Mann erzählt fie, einem Sonderling, der an nicht? Anteil nimmt, ftumpf vor fih Hin lebt und ſich ganz an technifche Spielereien verliert. Da wird ihm eine Tochter geboren, in der er fein Selbft, aber veredelt, gefteigert, gekräftigt, wiederfindet. Und er liebt diefe Tochter, und durch fie geht das Herz ihm auf, und er lernt mitempfinden. Aber iwie diefe Tochter dann firbt, ift er plöglich wieder der Alte, der teilnahmlofe Sonderling.

Sp gehen diefe faft ausnahmlos ftarfen Menschen durchs Leben, und beinahe immer fieht man fie in den Kämpfen, die fie zu beftehen haben, erftarten. In all diefen Erzählungen beſteht ein tiefer, organifcher Zufammenhang zwiſchen Perfönlichkeit und Schidjal, und aus dem Zuſammenwirken beider löſt fih auf den Lefer ein Eindrud ab, in dem das Herz fich weitet. Man empfindet tief das Ausgeglichene diefer künftlerifchen Weltanſchauung. Auch das ein Beweis der Kraft.

In einer Zeit, da vieler Hände müde getvorden find und die Refignation ihr Xodlied anftimmt, geht ſolche frohe, ermutigende Botſchaft der Kraft aus von einer Frau in ihren Spätherbfitagen.

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482

Der Franentag in Mürnberg.

BRlire Salonıon.

. UWE NN

Nachdruck verboten.

ie Stadt der großen Vergangenheit, Nürnberg, bot in ben Tagen vom | %, 9. bis 13. April zum zweiten mal den ftinmungsvollen Rahmen für ein Bild, ‚zu dem nur Die Gegenwart die Farben abgeben Tonnte, und dag für fommende Zeiten den Ausblick auf eine Aufwärts: und Vorwärtöbewegung gewährt: für einen Frauentag.

Al im Jahre 1893 die Generalverfammlung des Allgemeinen Deutichen Frauen: vereind in Nürnberg tagte und Frauen aus allen Teilen des deutjchen Landes ein . noch nicht erlebtes Neues in die Mauern der alten Stadt trugen, da galt e8 nod anzuregen, den bayriſchen Frauen die Wege zu teilen, die man in anderen Zeilen Deutichlands jchon befchritten hatte. Diesmal bei dem zweiten in Nürnberg ftatt: findenden Frauentag galt es, eine bayrifche Parade’ abzuhalten, einen Überblid zu geben über das, was die Frauen Bayerns bisher, was die Frauen Nürnberg in diefen acht Jahren erftrebt und erreicht Haben, über ihr Wollen, Schaffen und Können.

Der Gedanke, neben den großen VBerfammlungen des Bundes Deutjcher Frauen— vereine und des Allgemeinen Deutjchen Frauenvereins, die in den verfchiedenen Teilen Deutſchlands abwechjelnd ftattfinden, bejondere bayrifche Frauentage zu veranitalten, ift vom Münchener Verein für Frauenintereffen ausgegangen. Nicht partitulariftifche Intereſſen follten dabei gepflegt, nicht ein Staat im Staate gefchaffen werden; nut den Sonderbedürfnijfen der kleinen und Eleinften Städte, in denen eine organijierte Frauenbewegung noch nicht beftand, deren Frauen erſt allmählich zu einem Verftändnis der Frauenforderungen gefchult werden mußten, wollte man gerecht werben. Daß die Frauen der bayrifchen Landeshauptitadt bei den Vorarbeiten für den erften bayrifchen Frauentag, der im Sabre 1899 in München ftattfand, Erfolg hatten, daß fie durd das Anbahnen von Beziehungen und das Anknüpfen von Verbindungen mit Vereinen und Einzelperfonen auch für alle ſpäteren bayrijchen Frauentage wertvolle Vorarbeiten geleiftet, nicht nur ein Nugenblidzinterefje zu entfalten gewußt haben, bewies bie ſtarke Beteiligung am zweiten bayrischen Frauentag, der von 53 auswärtigen Delegierten aus 15 bayrifchen Städten beſucht war.

Die ſehr lebhafte Beteiligung aus allen Kreifen der Stadt Nürnberg, die mit jedem Tage zunahm und am legten Abend den etwa 1500 Perfonen fallenden Rathaus: faal ganz füllte, die Teilnahme der Königlichen Regierung und der ftädtiichen Behörden, die Vertreter delegiert hatten, die paffive und aktive Teilnahme von zahlreichen Männern aller Berufsfreife deren ſich in ſolchem Umfange noch nicht oft ein Frauentag bat

484 , Der Frauentag in Nürnberg.

Frauenvereins ihr Entfiehen. Was diefe Vereine felbit geworden, was fie im Leben der Stadt Nürnberg bedeuten, ift in erjter Linie auf ihre Begründerin und Vorſitzende, Helene von Forfter, zurüdzuführen. Eine Verjönlichkeit, in der Warmberzigfeit und Humor und alie liebenswürdigen Züge ſuddeutſcher Eigenart fich mit einer jeltenen Thatkraft, mit feltenen organifatoriichen Gaben vereinigen, ift fie wie wenig andere dazu geichaffen, der Sache, für die fie eintritt, Boden zu gewinnen, Sleichgiltige zu erwärmen, Skeptiker zu überzeugen, Gegner zu entivaffnen. Für die Frauen bewegung war eben ihre Perfönlichkeit um jo wertvoller, als fie das feltene Glück bat, Für ibre Arbeit das volle Verftändniß und die thatkräftige überzeugte Mitbilfe ihres Gatten zu finden, dem fie ibrerjeitS in einer ausgedehnten augenärztlichen Praris AL erſier Aſſiſtent am Operationstifch und in der Klinik zur Seite fteht.

Wer es mit erlebt bat, wie viel wirfjame Anregungen Helene von Forfter in öffentlichen Vorträgen, felbjt in dem fühlen Norddeutichland, gegeben bat, der wirb Sid nicht darüber wundern, wie fchnell es ihr gelungen ift, in ihrer Baterfiadt Nürnberg eine Schar von tüchtigen und jchaffensfrohen Menfchen um ſich zu ſcharen, die ihren Ideen folgen und durch ihr Brganifationstalent zu jelbftändigem Thun gedrängt werden. Auf ihren Einfluß, auf das freundliche und liebevolle Berftändnig, das fie jeder Mitarbeiterin entgegenzubringen weiß, ift es zurücd— zuführen, daß die Nürnberger Frauenbewegung, die nicht nur eine große Anhänger: zahl Hat, jondern auch reich an ftarken Individualitäten ift, bisher vor jeder Diſſonanz bewahrt geblieben ift.

Auf ein harmonische Zuſammenwirken waren denn auch die Verhandlungen des ganzen Frauentages geſtimmt, troß aller verjchiedenartigen Anfchauungen, die dabei zu Tage traten. Ohne jede Schärfe und Bitterkeit, ohne daß auch nur ein einziges Dial ein perjönlicheg Moment in die Augeinanderjegungen getragen wurde, ftrebten die Debatten nach einem Ausgleich der Meinungen, rangen alle Beteiligten, Frauen und Männer, Anhänger und auch Gegner der Bewegung an denen es keineswegs fehlte voll Ernft und Eifer nach der rechten Einficht, nach Klarheit und nach Wahrheit. .

Im einzelnen auf die Verhandlungen einzugehen, verbietet da3 reichhaltige Programm, das fich einesteild an die Nürnberger Einrichtungen anlehnte, andernteils durch Behandlung der Fragen, die in Nürnberg bisher noch nicht Boden gewonnen, neue Anregungen geben wollte. So wurde die Frage des Frauenftudiums durch einen Vortrag von Brof. Nehm: Erlangen erörtert; die Arbeiterfrage war durch einen Vortrag über Heimarbeit und durch Referate über die Dienftbotenfrage im Programm vertreten. Im Zufammenhang damit müſſen die Verhandlungen über Drganifation der Handelsgehilfinnen genannt werden, die Zeugnis von dem wachſenden fozialpolitifchen Intereffe innerhalb der Frauenbewegung ablegten.

Den Verhandlungen, die an die Nürnberger Einrichtungen anfnüpften, wird am beften durch einen kurzen Überblid über die Veranftaltungen des Vereins Frauen: wohl Rechnung getragen, die auch in einem einleitenden Bortrag von Fräulein Mathilde König, der Schriftführerin de3 Vereins, behandelt wurden. Der Verein Frauenwohl, der auf die Anregung bin, die die Generalverſammlung des Allgemeinen Deutjchen Frauenvereind in Nürnberg gab, gegründet wurde, zählt im fiebenten Sabre feines Beſtehens 2647 Mitglieder; bald nad) Gründung des Vereind

Der Frauentag in Nürnberg. 485

wurden Abendkurſe eingerichtet, die fich durchichnittlich im Jahre eines Beſuches von etwa 1000 Schülerinnen erfreuen. Der Unterricht im Nähen, Scneidern, Fliden, Bügeln, Wäfchezufchneiden und in fremden Sprachen wird von bewährten Lehrerinnen erteilt. Da der Andrang von Cchülerinnen fo groß ift, daß alljährlich viele abgewiefen werben mußten, hat der Verein im legten Jahr noch eine Frauenarbeit ſchule übernommen und ben Beduürfniſſen entiprechend umgeftaltet und ausgebaut. Außer den in den Kurfen gelehrten Disziplinen wird Hier noch Unterricht im Stiden, Putzmachen, Blumenmaden, Buchführung, Stenographie, Malen gegeben, auch wird der Vorbereitungsunterriht zur Lehrerinnenprüfung für Handarbeiten in der Anftalt erteilt.

Neben der praktiſchen und beruflichen Vorbildung ftrebt der Verein bie geiftige Förderung der Frauen durch Veranftaltung von Kurfen über mebizinifche Gegenftände, Bildungsfragen, Rechts: und Gefegesfunde an.

Eine der wertvollſten Schöpfungen des Vereins ift das Wöchnerinnenheim, das von den Teilnehmern des Frauentages befichtigt wurde und Veranlaffung zu Vorträgen über Wöchnerinnenhygiene und über die foziale Bedeutung ber Wöchnerinnenheime gab. Mit warmen Empfinden und der Sachkenntnis, die nur langjährige Erfahrung zu geben vermag, erörterte Frau Elife Hopf in dieſem legten Vortrag unter anderem die Frage, ob ſolche Heime auch unverehelicgten Müttern zugänglich fein follen. Im Nürnberger Heim ift ähnlich wie aud) in Berlin die Frage dadurch gelöft worden, daß eine befondere Abteilung für ſolche Mütter vorbehalten ift. Dem Heim ift eine Pflegerinnenfchule angegliedert, in der Wochen: pflegerinnen ausgebildet werben; eine Einrichtung, die um fo dankenswerter ift, als in Nürmberg wie auch vielfah anderwärts das vorhandene brauchbare Pflegerinnenmaterial nicht annähernd dem Bedarf entfpricht.

Seit längerer Zeit ift der Bau eines Arbeiterinnenheimd vom Verein in Aus: fiht genommen; ferner Hat er ſich ſchon vor Jahren damit befchäftigt, eine Reform des Biehlinderweiend herbeizuführen; er hat erfolgreich gegen das Sitzverbot für Ladnerinnen angelämpft; er befigt eine Stellenvermittlung für Hausbeamtinnen, die als Abteilung dem großen deutichen „Hausbeamtinnenverein” angegliedert ift und ſteht augenbliclich in Unterhandlung mit den fläbtifchen Behörden, um die Zulafjung der Frauen zur öffentlichen Armenpflege zu erlangen.

Bon der Ortsgruppe des Allgemeinen Deutfchen Frauenvereind, bie in engiter Fühlung mit dem Verein Frauenwohl arbeitet, ift ein Ausfunftsbuch über die Nürnz berger Wohlfahrt3einrichtungen herausgegeben worden.

Daß neben der Propaganda der That auch die Propaganda des Wortes nicht vernachläffigt wird, daß der Verein fi nicht damit begnügt Hat, auswärtige Nebnerinnen für gelegentliche Vorträge und Veranftaltungen zu gewinnen, fondern auch beftrebt war, die Nürnberger Frauen für diefe Aufgabe zu ſchulen, haben die Verhandlungen des Frauentages beiviefen. Neun Nürnberger Frauen waren mit Vor: trägen und Referaten im Programm vertreten, die in Inhalt und Form zum Teil Vorzügliches boten. Auch die Beteiligung an ber Diskuffion war für fo große Verfammlungen eine ungewöhnlich lebhafte, namentlich nad den Vorträgen von Frau Roeper:Houffelle über Mädchenbildung und Prof. Dr. Rehm über Frauen: Rudium.

486 Der Frauentag in Nürnberg.

Unter einer Reihe von Vereindberichten aus andern bayriſchen Städten mur audy der Bortrag über die Frau in der Armenpflege von Fräulein Emilie von Wallmenich (Bamberg) und der Vortrag über Landkrankenpflege von Dr. med. Gräfin von Geldern:Egmond (Münden) erwähnt werden, die ebenfo mie dic Vorträge von Ita Freudenberg (München) über die Frau als Arbeitgeberin, von Elementine von Braunmühl über die Frau im Gewerbe und Helene Sumper über Fortbildungsjchulen in Stadt und Land mannigfache praftiiche Anregungen boten.

Bejondere Erwähnung verdient endlich noch der Vortrag von Herm Dr. Siegmund von Forfter über dad Thema: Die Frau und die Volksbildungsbewegung. Er führte aus, wie die Frau von ber Natur zur Mitarbeit an diefer Bewegung aan; beſonders befähigt jei, wie man diefe ihre Kraft in anderen Ländern bereit3 in weitem Umfange verwertet babe, während bei uns felbit das Wirken einer Seannette Schwerin verhältnismäßig wenig Verftändnis und Nachfolge gefunden habe.

Die Saftfreundfchaft, die zu einer Begleiterfcheinung von Kongreffen und Frauen: tagen gemworden ift, wurde den Nürnberger Gäften in einer bejonderd anziebenden Form geboten. Durch Aufführung eine® von Helene von Forfter gedichteten Feltfpield nad) Schluß des Frauentages bewiejen die mitwirkfenden Anbängerinnen der Frauenbewegung, daß fie ſich

„auch im holden Reich des Schönen in den Formen, Farben, Tönen“

zurechtfinden, und den Sinn dafür bei der Arbeit nicht verloren haben. In den Häufern mehrerer Borftandsmitglieder, die fich gaftlich den Fremden öffneten, fanden ih nah Schluß der täglichen Verhandlungen die Delegierten zuſammen, um bei zwanglofer Gejelligfeit den Meinungsaustaufh über das Gehörte fortzufegen und gemeinfam Pläne zur Ausführung der gewonnenen Anregungen zu beraten.

So haben die Nürnberger Frauen fein Mittel unverjucht gelaffen, um dem ziweiten bayrifchen Frauentag einen erfolgreichen Berlauf zu fichern; fie haben verfucht zu beweilen, daß fie von dem Willen bejeelt find, zur Erwerbung bober, fittlicher Güter für das deutfche Land beizutragen, der großen Kulturbewegung unſerer Zeit neue Süngerinnen zuzuführen. Und wohl mancher, der mit Zweifeln zum Frauentag kam, mag durch die Kraft und das Können, das die bayriſchen Frauen offenbarten, bei den Verhandlungen zum Glauben an das Dichterwort befehrt worden fein, mit dem Helene von Foriter die Tagung einleitete:

„Die Frauen werden die Menjchheitsfragen löſen; als Mütter müſſen ſie es thun.“

487

Htaatliche Wohnungsfärforge in Freußen. Ir. wrig· Beil,

I Naqhdrua verboten. 2* Da Jahren fteht in Deutihland die Wohnungefrage im Mittelpunkt des öffent—

lichen Intereffes. Überall, wo ſich unfer wirtfchaftliches Leben in auffleigender Linie bewegt, erhebt fie ihr Haupt, und faft an allen Orten ift fie infolge arger Vernahläffigung zur Wohnungsnot ausgewachfen.

Die Mieter, befonder8 die Meinen Leute, fehen jedem Kündigungstermin mit Beſorgnis entgegen. Wird er ihnen wieder, wie fehon fo oft, eine neue Steigerung bringen, die ihre wirtfchaftliche Lage verichlechtert oder bie etwa eingetretene Der: befjerung berfelben wieder illuforifch macht? Wohin jollen fie gehen, wenn es ihnen nicht gelingt, eine neue Wohnung zu mieten, ind Afyl für Obdachlofe, zu Verwandten, in die Bretterbuden der Laubenvorftädte? Wie wird die Wohnung ausfehen, die fie vieleicht noch im legten Augenblid für ſchweres Geld bekommen? Wird fie nicht, wie fo viele andere, ein ungefundes Loc) fein, ungeeignet für den dauernden Aufents halt von Menfchen, von der Polizei aber umbeanftandet, weil man nicht weiß, wo die Leute fonft bleiben follen?

Das ift in wenigen Strichen ein Bild de3 modernen großftäbtiichen Wohnungs: elends. Einfihtige Leute Haben fon lange eine nachdrüdliche Bekämpfung dieſes freffenden Übels an unferm Volkskörper gefordert. Allen voran haben die deutſchen Bodenreformer auf feine Urſachen aufmerkſam gemacht, die in ber gemiflenlofen Aus— beutung des privaten Eigentumsrechte® an Grund und Boden, beſonders durch bie Bodenfpefulation, zu fuchen find. Private Hilfe ift hier völlig unmöglich; das liegt in der Natur der Sache. Darum verlangte man von den Gemeinden kräftige Maß— regeln zur Abhilfe der Wohnungsnot.

Damit kam man aber bei den Mancyefterleuten, die in unfern Großftädten am Nuder ftehen, fchön an. Sie leugneten das Vorhandenſein einer Wohnungenot entiweder überhaupt, wie der Stadtverorbnete Wallach in Berlin, ober fie priefen, wie die Freifinnige Zeitung in diefen Tagen, als einziges Mittel zur Bekämpfung der Wohnungsnot die Thätigfeit der Privatipefulation, alfo den Bobenwucher. Difficile est, satiram non scribere! Andachtig rutfchte man auf den Knieen vor dem Idol des „freien Epiel3 der Kräfte”: wer aber an biefen alten Götzen nicht mehr glaubt, den fuchte man zu fchreden, indem man das blutrote Bild des ſozial⸗ demokratiſchen Zufunftöftantes als notwendige Konfequenz einer vernünftigen Wohnungs⸗ fürforge der Gemeinden an die Wand malte. Einige ivenige Ausnahmen, Düffeldorf, Frankfurt a. M. und Halle, abgerechnet, verfagte die Selbftverwaltung unfrer Städte in diefer wichtigen Frage leider vollftändig.

Nunmehr verfucht die preußiiche Regierung, einen fanften Drud auf bie Gemeinden auszuüben. Am 4. April d. 3. veröffentlichte der Neichdanzeiger zwei gemeinfame Erlaffe der Minifter des Handels, der Medizinalangelegenheiten, des

488 Sprüde.

Innern und der Landwirtichaft an die Ober: und Regierungspräfidenten, in Denen Mapregeln zur Linderung der Wohnungsnot angeregt werden. Die Erlaffe bezeichnen die Bodenfpefulation ala Haupturfache des berrfchenden Wohnungselendd, machen es den Gemeinden zur Aufgabe, dem Übel abzubelfen und ftellen eine geſetzliche Regelung der Wohnungsfrage in Ausfiht. Als Mittel gegen die Wohnungenot werben den Gemeinden empfohlen: Herftelung von Wohnungen für Arbeiter und Beamte ber Gemeindeverwaltungen, finanzielle Unterftügung der gemeinnügigen Baugefellfchaften, Ausbau der Verkehrsmittel und vor allem eine gejunde Bodenpolitif der Gemeinden. Gemeindebefit an Grund und Boden ſoll grundfäglich nicht veräußert werben. Die Gemeinde jol im Gegenteil möglichit viele Grundftüde jelbft erwerben und fie den Baugejellichaften zur Herftellung von Häufern in der Rechtsform des Erbbaurechte: überlaffen. Die Privatipetulation in Grund und Boden fol auf jede mögliche Weiſe erichwert und verhindert werden.

Das Wichtigfte an diefen Erlaffen ift die klare Erkenntnis des Grundübels und die Aufftellung des Grundjages, daß die Regelung der Wohnungsangelegenheit eine Aufgabe der Gemeinde if. Was die Bodenreform feit Jahren vertreten bat, wird bier zum erftenmale von der preußischen Regierung angenommen. Über die Einzel: forderungen läßt fich ftreiten. Ob es 3. B. gut und richtig iſt, die Arbeiter und Beamten der Gemeindebetriebe zu kajernieren, das beftreiten vor allem die Beteiligten jelbft, die von dieſer Maßregel eine Beeinträchtigung ihrer perjönlichen Yreibeit befürchten. Aber das find fchließlich Kleinigkeiten. AS Ganzes genommen muß man die Erlafje durchaus freudig begrüßen. Man kann nur eins wünſchen: Möchten fie nicht wie jo vieles andre auf dem Papier ftehen bleiben, jondern Fräftig durchgeführt ‘werden! Glüdauf zu diefen „neuen Schritte in den fozialdemofratiichen Zufunftsitaat”, wie unjere Stadtväter Jagen werden.

prüche.

Miriam Eck.

Die größte Liebe aber kann ſich nur in der Entſagung bethätigen. Die feinſte und vornehmſte Kunſt des Weibes iſt die Entſagung. %* Entjagende Menſchen baben bie fruchtbringendften Thaten gethan alſo foll die Frau ibr Entfagen in Bethätigung umjeken. x Wir baben auf der einen Seite eine barte, liebloſe Sunafräufichkeit und auf der andern eine eigennüßige und befledte Liebe! Wo finden wir die reine Yiebe, die Yicbe, die glübend und Frpftallrein zugleich ift? Schließen diefe Eigenichaften einander aus? Man findet fie in der Yicbe der Märtyrer, der himmliſchen und der irdifchen. % Es giebt in der Liebe ſowohl Geſetze als eine böbere Inftanz. In Sonderfüllen, wo das Geſetz richtet und richten muß, ift es der böchiten Inſtanz vorbehalten zu begnadigen.

Der Klein

Paula Rahdrud verboten.

inter dem nörblihen Friedhof laufen die Straßen Mündens in eine ungeheure, dürre, häßliche Wiefe aus, die Schwabing von diefem Viertel der Stadt fcheidet. In dem legten Haufe einer folden Straße faß hinter einem Fenſter des erften Stodwerls ein Knabe und brüdte fein ſchmales, gelbes Geficht platt an die Scheibe. Die Straße mar wenig belebt. Den Einblid auf das Kirchhofsfeld verwehrten ihm die teilweife noch belaubten Bäume, aber einen Teil der Wiefe, auf dem gerade eine Kinderſchar fpielte, konnte er gut überbliden.

„Andreas“, fagte die Mutter, „zieh mir die Heftfäden aus!” Der Heine Knabe glitt fogleih vom Fenſterbreit herunter und nahm das Höschen in Empfang, das die Mutter ihm aus einem abgethanen Bureaurock des Vaters zurechtgefchneibert hatte. Er fegte fih auf einen Schemel zu ihren Füßen nieder und zog eifrig Fäden aus. Die Frau, von ber ber Junge die hohe, ſchmale Kopfform, den gelben Teint und die enge Bruft geerbt hatte, breitete inzwifchen eine Anzahl von Stoffreften auf ihrem Nähtiſchchen aus, paßte einen alten vergilbten Papierſchnitt darauf und ſchob bie Flicken und das Papier unermüblid um. Sie hob vom Boden ein winziges Stoffreſtchen auf, ftedte es mit Nadeln feſt und ergänzte fo eine fehlende Ede.

„Nun reicht es auch noch zu einer Bloufe für dich!“ ſagte fie zu dem Knaben.

Andreas hatte feine Arbeit gethan, gab

ihr das Kleidungsftüd zurüd und widelte die |

Heftfadenendchen forglih auf eine Epule. Diefe Fadenendchen einjt weiß waren ſchon gelbgrau vom häufigen Gebraud.

*

e Andreas.

Winkler.

Als Frau Magdalene fih mit dem Minifterialfefretär Wolf verheiratet hatte, war fie Mitte der Zwanzig geivefen, ein hageres, einfilbiges, reizlofes Geſchöpf. Sie hatte ein Heines Vermögen in die Ehe gebracht, deſſen Zinfen aljährlich zum Kapital gefchlagen wurden. Vom Gehalt ihres Mannes vermochte fie auch nod einen Teil zurüdzulegen, und überdies hatte Wolf noch eine Nebeneinnahme, da er wöchentlich mehrere Abende im Bureau feines älteren Stiefbrubers zubrachte, um deſſen Bücher zu rebibieren, wofür biefer ein wohl habender Yabrifant ihn reichlich ent⸗ ſchädigte.

Magdalene hatte vom erſten Tage ihrer Ehe an mit jedem Pfennig gerechnet. Damals hatte fie ſich ein ganz junges Dienſtmädchen gehalten, dem fie fo gut wie micht® bezahlte. Diefes Mädchen jedoch es war eine robufte Bauerntochter getvefen hatte eine ungeheure Eßluſt befeffen und war dadurch eine Duelle nieverfagenden Ärgers für bie fparfame Magba- Iene geweſen.

Im zweiten Jahr ihrer Che lag auf den Kiffen im Wäſchekorb, den man neben Mag- dalenens Bett auf zwei Stühle gefeßt hatte, ein winziges, gelbes, ſchwächliches Kerlchen, Magdalenens volllommenes Ebenbild, der kleine Andreas. Vom Vater hatte das Kind nur die graublonden, ſchier farbloſen Haare geerbt und die ebenſo farbloſen Augen.

Als Magdalene wieder aufſtand, war ihr ohnedies vorgebeugter Rüden noch ſchiefer, und man konnte deutlicher als bisher erkennen, daß ihre rechte Schulter höher als ihre linke war. Sie hatte nicht im Bette bleiben können, aus Angſt, es möchte hinter ihrem Rücken im Hauſe etwas veruntreut werden.

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Um diefe Zeit fagte ihr Mann einmal des Abends nad) Tiich zu ihr:

„Heute bin ich Helene Forſtner begegnet. Sie will ſich demnächſt verheiraten.” Darauf Ichwieg er eine Weile nachdenklich, dann ſagte er mit eigentümlichem Lächeln:

„Du tmeißt vielleicht garnicht, daß ich felbft eine Seit lang daran bachte, fie zu heiraten. Hübſch ift fie ja! Außerdem rieten mein Bruder und meine Schwägerin mir lebhaft zu der Verbindung. Ein ganz nettes Vermögen batte fie auch —“

Er nannte eine Summe, die Magdalenens Vermögen beinahe um die Hälfte überſtieg.

Sie ſah erſtaunt von ihrer Arbeit auf.

„Nun, weshalb thateſt du's nicht?“, fragte ſie. Ya, ſiehſt du”, antwortete ihr Mann, „ich beobadytete das Mädchen fo. Wir waren jede Woche einmal zufammen bei meinem Bruder eingeladen.

Da trug fie einmal ein neue? Kleid, das nächte Mal einen anderen Hut, bald hatte fie ein Konzert befucht, dann war fie wieder im Theater gewwefen. Im Sommer reifte fie ins Bad.

Siehft du, Lena, da dacht ih mir: fo eine paßt doch nicht für dich! Die Zinſen ihres Geldes reichen gerade für ihre Kleider und ihr Vergnügen. Und von der Wirtfhaft verfteht die ganz gewiß nichts. .

Sieber eine, die weniger mitbringt und weniger hübſch ift, aber bejcheiden in ben Ansprüchen. Eine, die mir im Haus mit an- greift und zufammenhält, was da ift. Hab ih nicht recht?”

Er Hopfte fie auf die hohe Edhulter.

Da zudte das magere, gelbe Gejchöpf, das jest nach der Geburt bes Kindes, erſchöpft und gealtert, reizlofer als je erfchien, vor innerfter Glüdfeligfeit zufammen. hr tar, ala bätte ihr einer ein Königreich gefchenft. So ergriff fie dies halb verhehlte Lob ihres Mannes, der, wie fie felbft, gefühlsfarg, ihr faum je eine Liebkoſung ſpendete.

Sie lag die Naht über ſchlaflos vor Gr: regung. Einige Tage Später ſagte fie zu ihrem Gatten:

„Du Mar, ih hab mir das jo über: legt, das Mädel, die Kathi, haben wir nicht nötig. Die ißt wie ein Dreher. Man kann

Der Kleine Andrea.

fih auch mit allerlei noch einfchränfen, wenn fo ein Frauenzimmer einem nicht ewig in allı Töpfe und Läden gudt! Und dann braudıen wir ihre Kammer fo notwendig. Ich nehm' mir eine Aufivärterin.”

„Sa wirft du denn fo mit der Arbeit fertig?” meinte Wolf.

Sie dachte an das Lob, das er vor kurzem ihrer Sparſamkeit und ihrem Fleiße geſchenkt und wurde ganz rot. Wolf, eben zum Auz- gehen gerüftet, reichte ihr bie Hand und fagte:

„Ra, verſuch's halt. 's wär freilid einc Ihöne Erfparnis!“

Andread war jeßt drei Jahre alt. Er hatte, ſchwächlich wie er geblieben war, überaus ſpät gelernt zu gehen. Auch jegt fiel e3 ibm noch ſchwer.

Indes fammelte der dreijährige Knirps jetzt Ihon blanke Nidel, die ihm die Eltern ab und zu ichenften, wie man Kindern fonjt Obſt und Bonbons giebt, in einer Pillenſchachtel. Er merkte febr genau, wenn eines der Eltern ihm im Scherz eine Münze herausgenommen. Dann ſuchte er in allen Eden und Winkeln, froch unter Tiſche und Etühle, begann fchlich- lich ganz kläglich zu heulen und wurde nicht ruhig, ehe er das Bermißte hatte.

Als Andreas vier Jahre zählte, entließ

tagdalene die Aufmärterin, um allein die

ganze Wirtfchaft zu übernehmen. Ihre ein: zige Hilfe war der kleine Andreas, Er be— forgte, was fie an fleinen Dingen in der Küche bedurfte, rihtig und pünftlid. Nie hatte er Gelb verloren oder eine Düte zerrifien, wie andere Zungen thaten.

Einmal, als fie ihn mit einer Fleinen Kom: miffion auf die Straße geſchickt hatte, hatte ihn ein Hund gebiffen. Er fam mit blutendem Bein nad) Haufe, zitternd und balbtot vor Angit. Dod) hielt er das Sträußchen Peterfilie, das er eingefauft hatte, treulic in der einen Hand, während die andere fo Frampfhaft über ein paar Pfennigen zufanınengeballt war, daß fid) die Nägel in das Fleiſch gegraben batten.

Andreas ging zur Schule. Er lernte ziemlich Schwer, war aber fleißig und fill, fo daß ber Lehrer feine Klage führte. Seine

Der Heine Andreas.

Mitſchuler aber haften ihn bitter und prügelten ihn, wo fie ihn erwiſchen konnten. Er fannte alle Gänge und Schlupiwinkel auf dem Schulwege und benußte fi, um fi feinen Peinigern zu entziehen.

Hingegen fchlug er alle Heinen und ſchwäch⸗ lichen Kinder und war in der ganzen Etrafe von ihnen gefürchtet. Zu Haufe klagte er niemals, auch nicht, wenn man ihm noch fo übel mitgefpielt hatte.

Er brachte vielmehr beinahe täglid Spiel: ſachen nady Haus, die er wie er fagte von anderen Kindern geſchenlt befommen ober gefunden hatte,

Diefe Dinge verſchwanden indefien nad einiger Zeit wieder. Dafür manderte ein Geldſtuck in die Sparkafje. Andreas verfaufte ober vertaufchte diefe Dinge gegen Gelb.

Er hatte auch ein regelrechtes, Meines Ver⸗ leihgefhäft mit Bleiftiften, Federn und Papier, die er feinen vergeßlichen ober nadläffigen Mitfhülern gegen Tribut von einigen Nideln überließ. Ein Kind, das ihm irgend etwas ſchuldete, verfolgte er mit unerhörter Aus: dauer.

Die Eltern hatten den Anaben um feiner Sparſamleit willen lieb. „Nie vernaſcht er einen Pfennig“, fagte Magdalene. „Er wird es zu etwas bringen!” ...

Andreas erreichte in dieſem Winter ſein achtes Jahr. Immer noch war er ein ſchmãchtiges, ſchwaches Bürſchlein und eigent⸗ lich doch wieder von merkwürdig zäher Art.

Beinahe immer war er verſchnupft, er- tältet, huftete, ober war irgendwie fonft nicht wohl. Das Schüffelhen mit Bruft:, Kamillen⸗ ober Minzenthee kam faft nicht aus der Dienröhre.

Das war eine fortwährende Sorge für Magdalene.

Einmal in diefem Jahr hatte Andreas den Eltern noch außerdem furdtbaren Kummer be: reitet.

Magdalene hatte Andreas dabei betroffen, ein größeres Gelbftüd durd die Öffnung der Sparbüchſe zu zwängen. „Ich habe es auf der Treppe gefunden!”, hatte er gefagt.

Nach einer Weile erſchien eine Nachbarin, der Andreas mandmal gegen Heine Gefchente an Geld Kommiffionen machte, bei Magdalene und behauptete, Andreas habe ihr ein Geld:

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ftüd vom Tifch entivendet. Magdalene zerſchlug die Eparbücfe. Das vermißte Gelvftüd fand fih unter den übrigen Heineren Münzen.

Andreas fauerte mit verfiodtem Gefiht in der Eofacde.

Die Frau ging.

Magdalene taumelte gegen den Schrank und ftieß fi) eine Beule an der Stirn. Wie eine Wahnfinnige fah fie aus, die Augen quollen hervor, fie brachte feinen Laut über ihre Lippen.

Andreas wollte durch die Thür entfchlüpfen. Da rannte fie auf ihm zu, ſchüttelte ihn, bis ihr der Atem ausging, riß ihm die Kleider vom Leibe, warf ihn auf fein Bett und ver- ſchloß die Thür feines Kämmerchens.

Sie Heidete ſich mit furchtbarſter Haft zum Ausgehen an; fie, die Sorgfame, zerbrach die Halten und zerriß den Beſatz mit zitternden Händen.

Den weiten Weg bis zum Minifterium lief fie befinnungslos. Eine Stunde lang ftand fie vor dem Haufe und wartete. Dann tatn Wolf herunter. Unter lautem Meinen erzählte fie alles.

Wolf entfärbte ſich, ſprach aber fein Wort. Ganz verfunfen gingen fie neben einander her, er in verbiffenem Zom, fie leife weinend in bilflofem Gram.

Magdalene wartete auf ein gutes, tröftendes Wort. Aber es blieb aus.

Zu Haufe rannte Wolf in die Schlaf: tammer des Knaben.

Cie war ganz erfüllt, mit dem faben, albernen Geruch, den der Körper des Knaben ausftrömte, der feinen Kleidern anhaftete und allem, was mit ihm in Berührung fam.

Wolf riß Andreas aus feinem Bett und ſchlug erbarmungslos auf den Heinen, jämmer⸗ lichen Körper 108. Das Kind ſchrie anfänglich laut und durchdringend, winſelte dann leife und verftummte endlich.

Jetzt warf Magdalene ſich dazwiſchen.

Andreas fieberte die ganze Nacht und mälzte ſich in feinem Bett umher.

Stundenlang ſaß Magdalene neben ihm in ber dunflen Kammer.

Wolf hatte fi, ohne fein Abenbbrot eins zunehmen, zur Rube begeben.

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In der nädften Zeit wurde ber Knabe ftreng überwacht. Einige Wochen lang brachte er weder gefundene, noch geſchenkte Gegen: ftände mit. Später that er es wieder, aber heimlich. Er verbarg die Sachen im Korribor, binter einem Schrant, in der Holzlammer, in der Matraße feines Bettes. |

Die Eltern bemerkten von alledem nichts und begannen, fich zu beruhigen. Sie gingen feit jenem Abend noch magerer und blafjer einher, als früher.

„Er hatte ja das Geld nicht vernajcht, wie andere Kinder!“, ſagte Magdalene. „Er hat es aus Unwiſſenheit genommen, fo ein Kind! Und dann fpart er fo gern! Das iſt doch nicht ſchlecht! Mir maren zu ſtreng!“

Um Mitternacht war Andreas noch wach. Er hielt ſich jedoch ftill in feinem Bette. Der Vater hatte feit einiger Zeit eine Befchäftigung, die ihn länger ala gewöhnlich aufbielt. Er übte fih im Stenographieren, um ſich um einen Nebenpoften im Minifterium bewerben zu fünnen, der ihm wieder einen Zuſchuß zu feinem Gehalt bringen fonnte.

Endlich waren die Eltern zu Bett gegangen. Alles war ftil, man hörte den Weder deutlich durch die ganze Heine Wohnung tiden. Nun ſchlüpfte Andreas aus feinem Bett, ging in feinem oft geflidten, ausgewachſenen Bett: fittelhen aus buntem Bardhend an die Kammerthür, klinkte leife auf und fchlich ſich auf ben Korridor hinaus.

Sn der Holzkammer, hinter dem Stoß von Scheiten, hatte er einen Gummiball liegen, den er morgen früh verlaufen wollte. Er fand ihn richtig, ald er aber den Arm zurüd: 309, ftieß er heftig an die Edheite, fo daß ber Stoß mit lautem Gepolter umfiel.

Blisichnell rannte er zurüd, zog fich die Bettdede über die Nafe. Tas Herz Tlopfte ihm bis zum Halle.

Set fchimmerte Licht durchs Schlüſſelloch. Der Bater ging nad) der Holzlammer. „ES müffen wohl Mäufe draußen fein!”, hörte er nach einer Weile feine Mutter jagen.

Nach einer Viertelſtunde tvar alles wieder ftil. Andreas ſprang aus dem Bett, |tredte die Zunge beraus, fo weit es ging, bis fid) fein Gefiht blau färbte. Mie ein Befejlener

Der Heine Andrea?.

fprang er umber und late, ladhte, ohne var ein Ton über feine Lippen kam.

Eines Abends brachte Rolf einen niedlichen, Heinen Hund mit nach Haufe, ein ganz jung:s Tierhen. Er hatte e8 auf der Straße gr: funden.

„Er ift von ganz reiner Raſſe“, ſagte Wolf, „toir fünnen ihn in einigen Monaten teuer verlaufen!”

Frau Magdalene zudte mißvergnügt mit den Achſeln: woher follte fie Fleiſch und Milch nehmen? Ob er nicht wüßte, wie leicht ſolche jungen Tiere zu Grunde gingen? Dann hätten fie Mühe und Koften vergeblich gehabt.

Andreas, der das feine, zierlihe Tierchen auf feinem Schoß gehalten hatte, feßte es zu Boden und hörte mit offenem Munde zu. Nah dem Abendbrote griff er nach einer Lederklappe und erſchlug die legten, berbit- matten Etubenfliegen, die an den Wänden hingen. Er ftedte fie in eine leere Zünbbol;- ſchachtel.

„Mutter“, ſagte er nach einer Weile, „nun brauchſt du dem Hunde kein Fleiſch zu kaufen. Ich habe ihm Fliegen gefangen. Weiter braucht er doch nichts zu freſſen?“

Wolf und Magdalene lachten.

Das Hündchen wurde am nächſten Tage für ein paar Mark an eine Familie im Hauſe verkauft.

Seit ein paar Wochen wohnte über Wolfs ein Muſiklehrer mit feiner Familie. Da waren aud ein paar Knaben, große, kräftige Jungen, etwa in Andreas’ Alter, mit denen er bald befannt wurde. Die Buben tvaren gutmütig, ſodaß Andreas feine Schläge zu befürdten batte. Er hütete fi) auch wohl, fie heraus: zufordern.

Oft ftedte er halbe Tage bei der Familie oben. Die Frau hatte eine Stube voll Kinder, wie fie fagte, da fam es auf eines mehr ober weniger nicht an. Magdalene hätte ohnedies nicht geftattet, daß Andreas feine Gefptelen mitbrachte. Fremde Kinder im Haus? Damit fie mit fchmußigen Füßen berumftanpfen, alles anfafjen, zerbredden, und dann zu Hauſe erzüblen, was in der Wohnung vorgebt? Sie hätte mit ihrem eigenen genug zu tbun!

Die beiden Kameraden Andreas’ wurden von ihrem Vater fleißig zum Geigenfpiel an:

Der Heine Andreas.

gehalten und mußten unter feiner Aufficht täglid ftundenlang üben.

Da befam Andreas wohl ab und zu ein Inftrument in die Hand. Die beiden Jungen finblich ſtolz auf ihre Kenntniſſe brachten ihm fpielend die erften Fingergriffe bei.

Der Vater der beiden fam einmal dazu und überzeugte fi, daß Andreas mit auf- fallend reinem Gehör und feltener Finger- fertigfeit begabt war.

Von nun an brachte Andreas ganze Tage bei ben Leuten zu; er vernachläſſigte feine Schularbeiten, faum und war" mit leiden ſchaftlichem Eifer darauf bedacht, die Geige in die Hand zu befommen. Den Mufitlehrer rührte der Eifer bes Kindes.

„Hör mal, Kleiner“, fagte er, „fag’ doch deinem Vater, er fol dir eine Violine an= ſchaffen! Man kriegt ſchon ganz billig welche. Dann kannſt du mit meinen Buben zufammen bei mir lernen. Ich verlang’ nichts dafür!”

Er ſah, daß Andreas’ Eltern ziemlich ärmlich Iebten.

Andreas lief fofort hinunter und beftürmte feine Elten. Sie miefen ihn ab. Er bat immer dringender. Schließlich weinte er und legte ſich auf die Erbe.

Wolf hob ihn auf, 308 ihn bei den Ohren und ſchickte ihm fchlafen. Auch Magdalene gab ihm einen Puff.

Für eine folhe Verridtheit Geld aus- geben! Das hätte ihr gerade gefehlt!

Sie beichloffen, den Jungen nicht mehr mit ben Kindern des Mufiflehrers verkehren zu lafjen. Da lernte er ohnedies nichts Ver: nünftiges. Leute mit fo unficherem Ausfommen, tie die da oben, ‘— und dabei in Saus und Braus leben! Eo oft man eines ber Finder fab, hatte e8 ein Butterbrod in der Hand oder Obſt.

Magdalene redete ſich in eine ordentliche Wut gegen die Leute hinein. Andreas lag im Bette und fehluchzte, daß fein Heiner, magerer Körper gegen das Holz ſchlug. Seine Bett: ftelle war für ein Meines Kind berechnet, und er war ihr längft entwachſen, fo daß er ge— frümmt und mit aufgezogenen Beinen liegen mußte. Er ballte fein Nachthemd zufammen und ftedte e8 in den Mund, um nit laut zu Meinen und von ben Eltern gehört zu

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werben. Denn das, er wußte es aus Erfahrung, hätte fie noch mehr aufgebracht. So wartete er, bis fie fchliefen, dann weinte er herzbrechend die ganze Nacht bin: durch. Er mußte eine Geige haben! Er mußte fpielen darauf! Er wollte nicht leben ohne das! Vielleicht, wenn er bat, zu Weih— nahen!

Magdalene wachte ſtreng darüber, daß Andreas bie Knaben des Muſillehrers nicht mehr beſuchte. Das Kind ſah in der letzten Zeit furchtbar elend aus. Er kaum und brach bei jedem lauten Wort, das man an ihn richtete, in Weinen aus.

Magdalene kochte ihm Theechen und Breichen aller Art, verſuchte es mit allen möglichen Hausmitteln, ja fie überwand ihre Sparſam⸗ keit ſo weit, daß ſie ihm ein friſches Ei zum Frühſtück und gebratenes Fleiſch zu Mittag vorſetzte, während ihr gewöhnlicher Mittags- tiſch das ganze Jahr hindurch aus Suppe, ausgelochtem Rindfleiſch mit Kartoffeln oder einer anderen, billigen Zufpeife beftand. Wenn fie für den Sonntag Fleiſch briet, kochte fie eine Waſſerſuppe.

Aber das Kind machte ihr wahrhaft Sorgen. Nichts wollte nügen. Sie konnte ihn nicht mehr zur Schule gehen laſſen. Er weinte und fieberte, und der Lehrer fhidte ihn nad Haufe.

Der Arzt erflärte ihn für nervös und fehr ſchwächlich. Er folle gut genährt werben und viel in frifche Luft gehen.

Magdalene ſchickte ihn fort, er fpazieren gehen.

Er indeſſen ſchlich ſich zwei Treppen höher, ſetzte ſich vor der Speicherthür nieder und horchte auf das Geigenſpiel, das durch die Thür des Muſiklehrers auf das Treppenhaus drang.

Er nahm ein Stück Holz unters Kinn und bog den Ellenbogen darunter ein, ſtrich mit einem andern Stück Holz darüber hin und ahmte ſo das Geigen nach, während die Töne unter ihm laut wurden.

Dann war's ihm, als hielte er ein wirk⸗ liches und rechtes Inftrument, und die Töne drängen unter feinen Bogenftrichen hervor.

Verftummten aber die Melodien unten, fo kehrte das Bewußtſein feiner Hilfslofigfeit

follte

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und des Entbehrens wieder, und er meinte zum Erbarmen.

Einmal wagte er’3, feine Eltern um eine Heine Geige zu Weihnachten zu bitten. „Nur eine Dreiviertel3-Geige zu Weihnachten”, jagte er. „Ich will gamichts außerdem!” Sie wollten ihn heftig anfahren, befonders bie Mutter; da fiel ihr Blid auf das verhärnte, gelbe Kindergefiht mit den eingefunfenen Augen, die jett voll Thränen ftanden, auf dies arme, verheerte Geficht, das fo unkindlich, jo greifenhaft ausſah mit feinem Ausbrud von heftigen und unfchönen Inſtinkten, und fie verlor den Mut zum Echelten.

Am Abend beriet fie mit ihrem Mann ba- rüber. Eie fahen ja ein, dab das Kind fidh abhärmte! Uber eine Geige anfchaffen, etwas fo Überflüfliges, das ſchien ihr läfterlich.

„Wenn er nicht fo notwendig Wäfche brauchte”, fagte fie, „und neue Etiefel! Hat er die Geige, fo fällt ihm ein anderer Un: jinn ein. Es ift unrecht, ihn fo zu vertvöhnen. Nein, es geht nicht!“

„Er ift Schon ganz abgezehrt“, wandte Wolf ein.

Magdalene dachte eine Weile nad. „Gut“, meinte fie, „fo mag er fi die Geige von feinem Epargeld zu Weihnachten faufen”.

Cie ging zum Kleiderfchranf, öffnete eine Schatulle und Icerte den Inhalt auf den Tifch. Es war alles, was der Eleine Andreas bon feinen Baten nnd Verwandten gefchenft be— fommen batte, durch al die Jahre, und es fehlte wenig an hundert Marf.

Am nächſten Morgen fagte Magdalene zu Andreas: „Wenn du eine Geige zu Weib: nachten befommen mwillit, fo wird fie von deinem Spargeld gekauft. Neue Schuhe aber be: fommft du dann nicht. Die alten werden noch einmal geflidt. Auch fonft nichts. Mir werden auh feinen Kuchen baden. Wir find arm und müſſen Sparen, fonderlid wenn unfer Kind ſolch ein Verſchwender ift.” Sie begann zu einen.

Auf dem Tifh neben Andreas’ blecherner Kaffeefchale Tagen die Goldſtücke. „Wir hätten fie zum nädjten Neujahr zur Sparfaffe ge: bracht, du bätteft ein Buch befommen, und Zinſen.“ Sie ſchluchzte heftiger.

Der kleine Andreas.

Andreas ſah auf das Geld vor ſich un auf feine aufgeregte Mutter.

„Überleg’ dir’s big zum nächften Zonnn: . ſagte Magdalene.

Diefe Woche wurde zu einer Folter \v das Kind. Zwei Leibenfchaften, mie ricſen große Ungetüme, kämpften mit geheimnisvollen Kräften gegeneinander. Das Kind hit litt unbeſchreiblich.

Da war das Gold, das liebe, funten:: Gold! Da war die Mufif! Sept fpielte mn oben. Die Töne kamen leife, füß gedäm“. in die halb dunkle, wenig geheizte Stube tur! den Plafond herunter, Andreas Fauerte, 'n ein wollenes Umfchlagtuch feiner Mutter gebüll: auf dem alten Sofa. Draußen ſchneite c:, und der Ffalte Wind kam durd bie Fenſier ritzen herein und bewegte die Seibenpapiv itreifen auf dem Tifche, die Andreas ſocher geflebt hatte.

„In dem Schrank dort liegt das Geld,“ dachte das Kind. „Goldſtücke und ein, Silbermünzen.“

Und nach einer Weile: „Jetzt ſpielt der Herr Lehrer ſelbſt.“ Er kannte das Lieb: „Ur ift beftimmt in Gotted Nat.” Sie fpielten c oft drüben auf dem Friedhof.

„Ach, wer doch eine Geige hätte!“

Er zog die Beine unter Tuch. Lieber Gott warum muß man denn immer barır denen! Er bat ja das Geld fo lieb 7 kann's nicht weggeben aber er möchte ted ſo gern eine Geige!

Penn er doch eine Lampe bekäme! Oder in die helle Küche dürfte! Aber dort zieht «=, jagt die Mutter.

So ſitzt er im Dunkeln.

Nun hat das Epiel geendet. Andrea: flettert auf das Fenfter. Seht eben gebt cu fleiner Knabe aus dem Haug, viel Heiner als Andreas. Er trägt eine Geige im eimen Sädhen aus grünem Baummolltud. Er ba eben Stunde gehabt. Jetzt fpannt er einen großen Schirm auf und hält ihn über ſich und fein Säckchen.

Über Andreas fommt eine unbändige Aut. Warum bat diefer fleine Junge eine Beine, und er hat feine? Ad), er könnte den ungen töten! Er ftrect die Zunge gegen das Fenſter, daß fie ganz platt gedrüdt wird, ſchneider

|

Der Heine Andreas,

eine fürchterliche Grimaffe hinter dem Jungen ber und zittert vor Echmerz und Haß.

Er friecht auf dad Sofa und wimmert leife.

Der Neid frißt an dem Heinen Herzen, tie ein Lörperliher Schmerz. „Ob alles thut fo meh, fo weh!“, denkt Andreas. „Warum ift das fo?”

Andreas hatte den Pater zum Bureau begleiten bürfen. Dann ging er noch etwas ſpazieren. Es mar am frühen Nachmittag und das Wetter troden und mild. Buerft lief er nad dem Domplatz. Da mußte er eine Inftrumentenhandlung. Bor diefer ftand er wohl eine Stunde lang. Zithern lagen in der Auälage, Blasinftrumente, zur Seite hingen aud Geigen. Diefe Heine war gewiß eine Dreiviertelögeige. Er drüdte fih mit ber Wange and Glas, um beſſer zu fehen. Im Eifer fam er auch mit den Fingern an die Scheiben.

Ter Verläufer kam heraus und fuhr ihn an. Er folle die Scheiben nicht befchmieren! Andreas ftellte fich verfchüchtert an der Mauer des Domes auf und verſuchte hinüberzubliden.

Da ftand er, ein winziges Wichtchen, im Schatten der ungeheuren Mauern, ganz aufgelöft und verzehrt von feinem Wunſche.

Am Anger waren viele ZTröbelgefchäfte. Da gab es gewiß auch Geigen. Dort wollte er hingehen und nad) dem Preife fragen.

Dort lief er von einem diefer winzigen Lädchen, die doc) fo angefüllt von unglaublichen Maſſen alten Gerümpels find, ind andere, um nad) einer Geige zu fragen.

Den üblen Geruch der alten Möbel, Kleider und Schuhe atmete er oft viertelftundenlang ein, ehe jemand nad feinen Wünſchen fragte.

Er fah recht ärmlich aus in feinem Winter: mäntelchen, deſſen Nähte bis aufs äußerfte ausgelaffen, deſſen Knöpfe bis an bie Ichte Kante gefegt waren, und in das er trotzdem förmlich eingefhraubt erſchien. Endlich fand er eine kleine Geige, wie er ſie gewünſcht. Achtzehn Mark ſollte ſie koſten.

„Du mußt ſie aber bald holen“, ſagte der Verkäufer, „es iſt jetzt viel Nachfrage!”

Auf dem Heimweg wurde Andreas ſich haftes Violinſpiel hörbar.

Har, daß er ſoviel von feinem Spargeld nicht würde opfern können. Als er in den Haus:

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flur trat, fah er den Heinen Knaben mit ber Geige mit dem grünen Sädchen eben heraus: treten.

„Haſt du oben Stunde?” fragte er ihn. Seine Augen hingen an dem grünen Beutel und begannen ſcharf zu funfeln. Er wurde noch gelber im Geficht.

„Ja“, fagte das Bürſchchen und blieb ftehen, geneigt, eine Unterhaltung zu führen.

Andreas fagte nicht weiter, rührte ſich aber nicht vom Fled. Er zitterte heftig. Der Heine Junge ging.

Als er bereits auf der Straße war, lief Andreas ihm nad.

„Wann haft du Stunde?“ fragte er haſti

ig. ° imo und Samstag!” Das Bübchen blieb wieder ftehen.

Andreas kehrte um und fticg die Treppen hinauf.

Am Morgen darauf fagte Andreas feinen Eltern, daß er fih feine Geige kaufen wolle. Das Geld follte auf die Sparkaſſe fommen.

Magdalene war glüdlih darüber und belobte ihn fehr. Wolf fagte,. er fei ein braves Kind. Andreas fah von dieſem Tag an friiher aus und aud wieder.

Mittwod war Andreas den ganzen Tag über fehr erregt und zerftreut. Er hörte garnicht, wenn man ihn anrebete, gab verkehrte Antworten und war nicht vom Fenſter wegzubringen.

Es war ein Harer Tag heute, der Himmel ganz blau.

Andreas fah nah dem Friedhof hinüber. Die Bäume waren nun gänzlih entlaubt, man fah die weißen Leichenfteine deutlich, ſah die Eärge dazwiſchen bintragen und hinter dem Kreuz den Bug ber Leidtragenden fchreiten zwiſchen den Gräberreihen. Tie Totenglode bimmelte unaufhörlih. Dazwiſchen wurde ein Trauermarſch geblafen. Ein anderes Mal fang ein Männergefangsverein. Dann wieder hörte man laut beten.

Andreas rutfchte nervös auf dem Fenſter⸗ brett herum.

Es dämmerte ein wenig.

Jetzt wurde oben ein quiefenbes, anfängers Er zudte auf. Seine Augen wurden größer. Er ſaß regungs-

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108 eine Stunde lang. Das Epiel brad ab, und Andreas lief ans Fenfter.

Jetzt trat der kleine Junge mit dem grünen Sädchen aus dem Haufe. Blitzſchnell und leiſe ſchoß Andread aus der Stube zur Thür hinaus. In der Küche brobelte es laut.

Er fam ungehört die Treppen hinunter, mar in ein paar Eefunden hinter dem Kleinen auf der Straße, riß ihm das Säckchen mit der Geige aus der Hand und rannte blind» lings weiter. Der Junge ftand verblüfft da und ‚machte fugelrunde Augen.

Dann lief er heulend hinter Andreas her, der indes einen guten Vorfprung hatte.

Unter einer Seitenthür ber Friedhofs: mauer ftand die Magd des Anfpeftors und Iodte ihren tiberfpenftigen Pudel, herein zufommen.

Andreas fehlüpfte hinter ihrem Nüden in den Hof der Leichenhalle. Der Kleine aber ftrebte, immer lauter brülend, gerade aus.

Der Magd war es endlich gelungen, den Hund hereinzubefommen. Sie ſchloß das Thor hinter fih.

Es mar bereit® nach zehn Uhr abends. Andreas war nod nicht nad Haus gekommen. Wolf und Magbalene hatten das ganze Viertel abgefucht, ohne den Anaben oder irgend eine Spur von ihm aufzufinden.

Wolf war nad der Polizei gegangen, während Magbalene ftarr, frierend und ver: zweifelt in der Etube am Tiſche ſaß. Eie ließ achtlos drei Kerzen und die Lampe brennen.

Wolf fam zurüd. Er tweinte laut. So verging die Nacht.

Früh morgens um fieben Uhr brachte ein Polizift den Kleinen Andreas auf dem

Arme. Das Kind hielt ein Geigenfädden feft in der Hand. Er hatte die ganze Nacht im Vorhof der Leihenballe zugebradht. Am Morgen hatte ihn der Wächter unter ciner Buchshecde faft erftarrt gefunden. Man hatte ihn gewärmt, in Tücher gewwidelt und nadı Haufe geſchickt.

Das Tüchterchen des Wächters hatte ihn erkannt.

Er war vollfommen fteif und konnie nicht ſprechen.

Der Polizift entfernte fih mit der Geige. Es fei auf feinem Burcau geftern Abend ge: meldet worden, daß einem Knaben von einem anderen in bdiefer Straße eine Geige ent riſſen worden fei, fagte er, und er glaube, daß fie mit der bei Andreas gefundenen identiſch fei.

Am Spätnahmittag ftarb das Sind. Dan hatte vergeblich zwei Ärzte gerufen.

Die Eltern ſchlichen wie Schatten um— ber.

„Magdalene“, fagte Wolf am Abend, „wollen wir ein Grab anlaufen, oder fol Andreas im allgemeinen Kinderfriedhof begraben werden?“

Die Frau faß gebrochen vor dem gelben, verzerrten Leichlein des einzigen Kindes, das fie geboren.

Der Vater legte einen Plan vor fie bin. Die verkäuflichen Gräber ftanden barauf, ihr Preis und ihre Lage.

Das erfhöpfte Weib warf einen müden Bid auf das Papier, Wolf las ihr bie Zahlen vor. Sie wurde aufmerffam.

„Nein“, fagte fie nad) einer Weile, „wo: zu ſoviel Geld ausgehen? Er wird uns ja doch nicht lebendig davon.”

Sie weinte laut auf. x

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Line dentſche Reifende in Alt / Fexiko.

Paul Schettler.

Raqhdrua verboten. ſcheint auf den weiblichen Forſcherſinn einen beſonderen Reiz aus: üben. Eine gelehrte Dame war ed, Frau Nuttall, die kürzlich in der Bibliotheca Nazionale zu Florenz eine altmerifanifche Bilderhandſchrift aufgefunden hat und jegt herausgiebt. Eine Amerikanerin, die Frau des Forfchungsreifenden und Archäologen Dr. Auguftus le Plongeon, begleitete zwölf Jahre lang ihren Gatten auf feinen Reifen in den wildeſten Urwaldgegenden von Yulatan, und in Anerkennung ihrer Berdienfte bat die Parifer Geographiiche Gejelihaft ihrem Album berühmter Neifender das Bild der mutigen Amerifanerin einverleibt. Und ähnlich ift auch eine Deutfhe, Frau Caecilie Seler, ihrem Gatten auf zwei längeren Forſchungsfahrten durch Merito und Guatemala in den Jahren 1887—88 und 1895—97 eine treue und Hilfreiche Genoffin geweſen, deren Sammlungseifer ſich in gleicher Weile auf Altertümer aller Art wie auf die Flora der bereiften Länder erfiredte. Die zahlloſen Altertumsfunde, die photographifchen Aufnahmen der alten Rulturftätten und Bauwerke der Mayas, ſowie eine reiche ethnographifche Sammlung wurden von dem Ehepaar Seler dem Berliner Ethnographifhen Mufeum überwiefen, die mitgebrachten didleibigen Herbarien dem Botaniſchen Mufeum; die Reife felbft aber hat Frau Seler in einem ſchönen, reich illuftrierten Bande) beichrieben, der kürzlich bei Dietrich Reimer in Berlin erſchienen ift. Und es iſt gut, daß bei den Publifationen ber Forfchungsergebniffe des Ehepaars Seler die Frau ſich gerade diefen Teil vorbehalten hat; denn nun ift es kein unlesbar gelehrtes Werk geworben, fondern ein flott und anſchaulich, ja amüfant geichriebenes, echtes und rechte Wanderbud.

Zwar die Verfafferin glaubt fih in der Einleitung entfchuldigen zu müſſen, daß fie von feinen Abenteuern zu berichten babe, „keine Kämpfe mit böfen Menfchen oder wilden Tieren, feine Feuersgefahr oder Waſſersnot, fein Verſchmachten in Sonnenbrand, fein Verhungern in dunfeln Höhlen“, all ſolche Abenteuer erlebt der Reifende dort nicht, denn „Merito und Guntemala find feine wilden Länder“. Aber man vermißt die großen Abenteuer auch garnicht. Dafür erfährt man um fo mehr und um fo Intimeres von Land und Leuten, von der Nrt, in jenen fernen Ländern zu leben, zu reifen, fih zu nähten und zu Heiden. Mit einer gewiſſen Vorliebe fogar, wie man ſich dort Hleidet und nährt: die leifen Wanblungen, die bie „Manta enrollada“, das in ganz Merifo und Mittelamerika die Stelle des Rodes ver- tretende, meift bis an die Knöchel reichende, von bunter Binde um die Hüften feftgehaltene Hüfttüch, durchmacht, vom Thal von Daraca bis hinauf nach Duczaltenango und der Kaffeeſtadt Coban, bejchreibt fie mit der Gewiffenhaftigkeit eines Modejournals. Ihr entgeht feine der feinen Nüancen der indianischen Nationaltracht, die bei aller weſentlichen Übereinftimmung doch fo wechielvoll ift, daß jedes Indianerdorf Verſchiedenheiten in der Tracht aufzuweifen bat, und wäre ed auch nur die Farbe, die „in ©. Bartolo und aud weiterhin in den Dörfern überall dunkelblau, mit dem im Lande gebauten Indigo gefärbt ift die Schönen von Tehuantepec und Juchitan bevorzugen die

') Auf alten Wegen in Merito und Guatemala. Reifeerinnerungen und Eindrüde aus den Jahren 1895—1897. Mit 65 Lichtdruden, 260 in ben Tert gebrudten Abbildungen und einer Karte. 32

498 Eine beutiche Reiſende in Alt-Mexiko.

rote Farbe die mit importiertem türfifchen Rot gefärbten Hüfttücher finb teurer; am teueriten aber die mit echtem Purpur gefärbten. Denn an der Küfte von Zehuantepec dient heute noch der Saft der Purpurichnede zum Färben”, umd dızie ift nicht gerade häufig.‘ „Sorgiältig wird die Schnede von der Felswand abgehoben, angeblajen oder angeivieen. Sie giebt dann einen waflerhellen Saft von fidy, duri den man den weiben Faden zieht, der fih beim Trodnen an der Luft rotviolett färkt. Die Schnede wird wieder ind Waſſer gefegt, nachdem fie getban, was man von ibı verlangt. Soviel mir befannt, wird fonft nirgends in der Welt diejer echte Purpur de3 Altertumd zum Färben verwendet, als an den Küflen des Etillen Ozeans.“ Ridt minder gewillenhaft als ihre Beobachtungen über die Kleidung der Indianerfrauen viel jeltener fpricht fie von der der Männer und der Spanierinnen (von denen ihr namentlich die tebuaniichen „Damen“ mit ihren runden fteifen Röden im Schnitt eine ſpaniſchen Hoffleide® aus dem 17. Jahrhundert auffallen, „aus bunter Seide reih mit Goldftiderei verziert und bis zum Knie abgefteift, ebenio wie die weißen Unterröde”, jo daß das Geräuſch der geitärften Rodjäume auf den fleinemen Treppen: fufen der Kirche Iprichwörtlich geworden, und es audfteht und fich anhört, „als ob die hölzernen Heiligenfiguren ihr Poftament verlaflen hätten, obzwar die Frauen von Tehuantepec keineswegs im Geruche der Heiligkeit ftehen“), unterläßt unfere Reiſende es nie, zu vermerken, wenn fie einen „hübjchen Kleinen Mejon mit leidlicher Unterfunit und gutem Efjen” findet. Häufig genug müſſen fie ja auch im freien nädhtigen, oder als Lagerftatt fann ihnen nur eine Tifchplatte eingeräumt werden; und Tüte Früchte find oft wahre Lederbiffen, wenn man fich tagelang von ſchwarzen Bohnen und der landezüblichen Tortilla, einem aus gequetfchter Maismafle ohne jegliche weitere Zuthat bergeftellten laden, der bier überall die Stelle des Brote vertritt, bat ernähren und mit großem Kummer das legte Reftchen verichimmelter Erbswurſt fortiwerfen müſſen. „Es mag Hleinlich ericheinen”, entichuldigt Frau Seler einmal, „daß ich To lange bei diefen Dingen verweile; für uns bedeuteten fie viel.“

Jedenfalls Hat fie neben dieſem frauenhaft fcharfen Bid für die Koſtüm- und Küchenangelegenheiten und dem eifrigen Sammelinterejje, mit dem das Ehepaar jeder Spur nachgeht, auf der e8 noch leidlich erhaltene Altertümer, ſei es von den Ein: geborenen zu erhandeln, fei es ſelbſt auszugraben giebt, ein nicht minder heilfichtiges Auge für taufend andere Dinge, die interejlieren. An allen Mexikanern Eonftatiert fie die große Kinderfreundlichkeit, weshalb die Fülle des Spielzeuges kaum überrafchen fann, das auf allen größeren Märkten einen breiten Raum einnimmt. „Alle nur denkbaren Formen der gebräuchlichen Haus: und Küchengeräte findet man ba in ‚Heinftem Maßftabe.” Bei den Indianern ftellt fie eine auffallende Muſikliebe feit Auf den Märkten find fie die beften Käufer von Mufifinfirumenten. Manche der wohlhabenden Gemeinden beligen ein ganzes Drchefter. „Die Mufilanten kommen bin und wieder abends zur Muſik in die Stadt, um zuzubören. Da fie natürlid feine Noten kennen, ift dies ihre ganze mufifalifche Ausbildung Wan hört viele deutiche Mufifftüde, da die deutichen Handelshäufer mit den Snftrumenten auch zu: gleich die Noten einführen.”

Der deutjche Kaufmann ift dort überall anzutreffen: „Wo überhaupt Europäer leben, find ficher Deutiche darunter. Der deutiche Kaufmann erobert die Erde langſam und ficher. Auf unferer Reife haben wir Engländer garnicht getroffen, Ameritaner nur, wo Eifenbabnen gebaut werden, in Minendiftrikten und in den großen Städten. Häufiger Franzofen, aber am häufigiten Deutiche.. Dan macht den Deutfchen oft den ungerechten Vorwurf, daß fie allzu Leicht fich fremdem Weſen anbequemen, aber gerade dieje Leichtigkeit, fih in der andern Art Hineinzufinden, ihre Sprache fchnell zu erlernen, ermöglicht ihre Erfolge. Im Herzen bleiben fie doch deutſch, werden es vielleiht nod; mehr. Daß fie hier draußen manches anders anſehen als daheim, wird ihmen niemand verargen.” In den großen Städten find die Deutichen meill die Beliger der Ferretarien, d. h. wörtlich Eijentramladen, bedeutet aber ein Import: aclhäft, in dem es fo ziemlich alle giebt, „was zum Haushalt, Feldbau und zum Schmuck des Leben? notwendig ift.” Dagegen find die Geſchäfte, in denen Stofte,

Eine deutſche Reifende in Alt: Merito. 409

Gewebe, Kleider feilgehalten werden, meijt in franzöfifchen Händen, die „Tiendas de Alborrotes“, die Wein und Schnapgläden, gehören Spaniern, und die Heinen Kram— laden, kurzweg „Tienda“ (eigentlich „Zelt“) genannt, Einheimischen, welch letztere meift „Zabinos“ find, Miſchlinge von Weißen und „Indios”. Eine eigentümliche Über: raſchung durch den Spefulationsgeift deutfcher Kaufleute erlebten die Neifenden in Guatemala: Das Hauptflädtifche Militär trug deutfche Uniformen, nur mit der Ab: weihung, daß die Infanteriften Artilleriehelme hatten und umgekehrt. „Vermutlich hatte ein fpefulativer Kopf ausgemufterte preußifche Uniformen aufgefauft und in Mittelamerifa an den Mann gebradt Ob auch an der unter des militärfreundlichen Praſidenten befonderem Protektorate erft kürzlich gegründeten Schuhfabrik, der zuliebe eine Verordnung ergangen war, daß jeder Mann der Republik Stiefel tragen müfle, wofern er als vollgiltiger Staatsbürger gelten wollte, deutſche Spekulation beteiligt ift, verrät die Verfafferin nicht. Aber an anderer Stelle erzählt fie 3. B., daß der ganze Staat Chiapas, der freilich noch zu Meriko gehört, jedoch ſchon an Guatemala grenzt, von der Schuhwarenfabrik eined aus Warmbrunn ftammenden Deutfchen mit Schuhwerk verfehen wird.

So kann unfere Forfhungsreifende immer wieder von Deutfchen erzählen, die fie gaftlih aufnehmen und fie au in ihren Sammelbeflrebungen unterflügen. Wir machen die perfünliche Befanntichaft beinahe aller Landaleute, die dort drüben leben, und deren Verhaltniſſe werden uns fo vertraut, ald hörten wir von unfern nächften Nachbarn im Städtchen.

Bei der Menge dort lebender deuticher Familien kann es nicht Wunder nehmen, wenn die Reifenden auch Gelegenheit finden, Weihnachten und Sylveſter in deutſcher Weife zu feiern. „Die deutichen Familien geben ihren indianifchen Holz: und Kohlen⸗ lieferanten ſchon wochenlang vorher den Auftrag, ihnen einen Nabelgolzbaum zu beforgen, und aus den Wäldern des Cerre de San Felipe wird er pünktlich zur Stelle geſchafft, wird gepubt und mit Lichtern beftedt. Und am Abend des 24. Dezember brannten etwa ein halbes Dugend Weihnachtöbäume in Daraca. Aber trotz alledem, trotz der reichbefchenkten Kinderſchar die rechte Weihnachtäftimmung war doch nicht vorhanden. Draußen war Sommer und eine Menge, die nicht von dem mußte, was der Weihnachtsbaum in Deutfchland bedeutet. Der Baum allein aber thut es nicht.” Die Merikaner feiern ihre Weihnachten durch die „Veladas“, die ſchon während der Adventözeit beginnen und aus abendlichen Zufammenkünften befreundeter Familien beftehen, wobei zuerft die reifende und Obdach fuchende Jungfrau Maria unter Eingen feltfam kindlicher Melodien, Blechpfeifenmufit und Kerzentragen zur Darftellung gelangt, und zum Schluß eine „Tertula” ftattfindet, eine harmloſe gefellige —— bei der Zucerwerk herumgereicht wird. Am heiligen Abend ift die Darſtellung ber reiſenden Jungfrau durch die Krippe verdrängt, und an Stelle der Tertulla findet ein Ball ſtatt. Und in der Markthalle draußen ift am dieſem Abend großer Radieschen— Markt. Alles firömt dorthin, „Rabanos“ zu kaufen, zu eſſen, ſich gegenfeitig anzubieten. „Den Grund dieſer fonderbaren Sitte vermag ich nicht anzugeben.” Überhaupt find alle Kirchenfefte in Mexiko mit mehrtägigen Märkten verbunden. Als die größten Feiertage gelten den Indios Gründonnerfing und Charfreitag, an denen die ganze Bevölkerung ſich betrinkt, während das an andern großen Feierlagen nur immer die Einwohner des Ortes thun, deflen Patron an dem Feſte unmittelbar beteiligt ift. Selbft in Orten, wie das große und reiche Indianerdorf Nahualä bei Quezaltenango, das jährlih eine Geldfumme für die Vergünftigung zahlt, feinen Branntwein-Ausichant in feinen Mauern zu dulden, darf einmal im Jahre, eben am Tage feiner „Fielta” für Nahualä ijt es der Kalendertag Corpus Chriſti Schnaps in unbeichränfter Menge hereingebracht werden, um den lanbesüblichen Sefteszuftand der allgemeinen Vetrunfenheit herbeizuführen.

Noch mande amüfante Einzelheit ließe fich aus den Reifeeindrüden Frau Selers erzählen, vieles, was gerade die Leferinnen der „Frau“ lebhaft intereifieren möchte. Wir müflen uns leider mit den menigen Andeutungen begnügen. Mögen fie aber dazu einladen, in dem Buch felber nachzulefen, das kurzweilig auch für alle die fein

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500 Mary Aftell.

wird, denen die Schilderung der Abenteuer fo bedeutungslos ericheint, wie die zahlreich in den Tert bineingedrudten ſchön kolorierten alt-meritanijchen Hierogluphen Deutungs- [08 der einzige Mangel des Buches, daß es zu diejem Teil feiner Illuſtrationen nicht wenigſtens einen Anhalt für deren Verftändnis giebt. Diefe ſchönen bunten Bildchen find leider ſämtlich ungedeutete Hieroglyphen geblieben.

—22

Harv After

Sine Iirauenrechtlerin des 17. Babrbunderts. Von Glifabeih Gotiheriner. Nachdruck verboten. ne

NER

Air find gewohnt, die Frauenbewegung ald eine Bewegung de 19. Kabr:

P bundert3 zu bezeichnen und in Mary Wollftonecraft3 „Verteidigung ber SR Frauenrechte“ ihre erfte Kundgebung zu erbliden. Daß bereit3 im

17. Sahrhundert eine Frau mit beftimmten VBorjchlägen zur Erweiterung der Frauen:

bildung und zur Hebung der gejellichaftlichen Stellung des weiblichen Gejchlehts an

die Offentlichkeit trat, dürfte menig bekannt fein.

Mary Aſtell, „diefe große Zierde ihres Geſchlechts und ihres Vaterlandes“, wie ihr im Sabre 1752 fchreibender Biograph George Ballard fie nennt, wurde im Sabre 1668 in Newcaſtle als Tochter eines dortigen Kaufmanns geboren. Sie erhielt eine nach damaligen Begriffen außergewöhnliche Erziehung für eine Frau, da ibr Onfel, ein Geiftlicher, der ihre großen Fähigkeiten früh erfannt hatte, fie perjönlich in Philoſophie, Mathematik und Logik unterrichtete. Mit ungefähr zwanzig Jahren verließ fie Newcaſtle und ließ fich in London nieder, wo fie den übrigen Teil ihres Lebens zubrachte.

Die Kenntuiffe, die fie felber erworben und die Vorteile, die fie dadurch vor ihren Gefchlechtögenoffinnen voraus hatte, erwedten in ihr den Wunfch, diefe auch anderen Frauen zugänglich zu machen und trieben fie dazu, mit einem lang erwogenen Plan für die Erweiterung der Frauenbildung an die Öffentlichkeit zu treten. Die Heine Schrift erfchien anonym unter dem Titel „Ein ernfter Vorfchlag für Frauen“ im Sahre 1694. Mary Aſtells Plan war, um mit ihren eigenen Worten zu |prechen, „ein Klofter zu errichten, da3 einem doppelten Zwed dienen foll, indem es nicht nur denen,. die den Wunfch haben, Zurüdgezogenheit von der Welt biete, jondern gleich: zeitig auch eine Erziehbungsanftalt für diejenigen fjei, die in ber Welt Großes und Gutes leiften wollen.” Seinerlei Gelübde follten abgelegt werden und es follte den Klofterfrauen jederzeit frei ftehen, audzutreten. Trogdem das religidfe Element bei dem Plan ftarf in den Vordergrund trat; denn Mary Aftell war ftreng firchlich gefinnt, follte doch auch die wifjenfchaftliche und philofophijche Ausbildung zu ihrem vollen Rechte kommen, denn „Unwiffenheit und mangelhafte Erziehung find die Wurzel allen Lafter3”.

Ob der Plan in der Frauenwelt Anklang gefunden bat, bleibt zweifelhaft. Jedenfalls fand fich eine vornehme Dame, aller Wahrjcheinlichfeit nach die Tpätere Königin Anna, damals Prinzeffin von Dänemark, die jo begeiftert davon war, daß fie zehntaufend Pfund für den Bau eines Frauenfolleges verſprach. Leider aber ſah der Biſchof Burnet, zu deſſen Obren das Projekt gedrungen war, darin eine Rückkehr zum Katholizismus, und er agitierte mit jo großem Erfolg dagegen, daß der

Marb Aftell, J 501

Plan völlig aufgegeben wurde. Seine Furt war gewiß völlig unbegründet, denn am Schluß des einige Jahre fpäter erfchienenen zweiten Teils ſchreibt die Verfaflerin ſelbſt: „Wer behauptet, daß wir die Nachbildung ausländifchen Kloſterweſens bezwecken, muß entweder ſehr ungebildet oder fehr boshaft fein. Hätte man aufmerffam gelejen, fo würde man wiſſen, daß es ſich um die Errichtung einer afademifchen, nicht einer Höfterlichen Anftalt handelt.”

Trogdem diefer Plan fo Häglich gefcheitert war, gab Mary Aftell den Kampf für die Befreiung ihres Geſchlechts nicht auf, und fehon nad Verlauf von zwei Jahren tritt fie wieder als Frauenrechtlerin auf den Echauplah, diesmal mit einer der Königin Anna gewibmeten „Schrift zur Verteidigung des weiblichen Geſchlechts“.

Die originelle Perfönlichkeit der Verfaſſerin tritt Hierin dem Leſer deutlicher vor die Augen, als der Biograph fie zu ſchildern vermocht bat. Ihre Derbheit und ihre Liebenswürdigkeit, ihr Icharfer Verftand und ihre Herzensgite, ihr Humor und ihr feifcher fröhlicher Mut, alle fpiegeln fih wieder in diefem Heinen Meiſterwerk, aus dem ſich hier leider nur ein furzer Auszug geben Täßt.

Bas fann liebenswürbiger fein, als die kurze Einleitung, in der fie ihr Buch gegen etiwaige Angriffe der Männerwelt verteidigt. „Unferem Gefchlecht ift von der Natur Zärtlichkeit für feine Sprößlinge eingepflanzt, es ift daher wohl erflärlih, daß wir für die Kinder unferes Gehirns eine nocd größere Liebe empfinden, als für die unſeres Leibes, da ihre Zahl fo gering ift, und die Welt fie fo feindfelig aufnimmt.” Aber aud ein gefundes Selbftbervußtfein Außert fi in den Worten, bie fie der zweiten Auflage vorausfhidt: „Einige Männer wollen behaupten, dies Buch fei nicht von einer Frau geichrieben. Wenn ich wüßte, in wie weit ihr Urteil ſchätzenswert if, konnte es mich dazu veranlaflen, eine höhere Meinung von dieſer Echrift zu haben, als ich fie bisher hegte. Aber wäre dad Buch fo gut geichrieben, wie ich es wohl wünfchte und mie der Gegenfland «8 verdiente, ſehe ich doch nicht ein, warum unferem Gejchlecht die Ehre geraubt werden fol, es verfaßt zu haben. Denn es hat zu allen Zeiten Frauen gegeben, deren Schriften mit denen ber größten Männer feinen Vergleich zu ſcheuen brauchen.”

As Grund der Peröffentlihung ihrer Schrift bezeichnet fie nichts Geringeres, als die Abficht, „durch Beweisführung zu überzeugen, daß unfer Geſchlecht mindeftens auf gleicher Höhe fteht, wie das männliche”. Sie geht dann zu einer Erklärung über, marum gerabe fie diefe Aufgabe auf fi) genommen babe, die andere vielleicht beſſer bewältigen fönnten, und Mereibt: „Die Verteidigung unferes Geſchlechts gegen fo viele und jo große Geifter, die es jo beftig angegriffen Haben, mag mit Recht als eine zu ſchwere Aufgabe für ein Frauenzimmer ericeinen. Nicht, daB ich zugeben fönnte oder müßte, daß wir von Natur für ein ſolches Unternehmen weniger geeignet feien, al die Männer, wofür ich genügend Beweiſe zu geben Hoffe. Sondern weil infolge ber Gewalt der Männer und der Tyrannei der Sitte es nur wenige Frauen giebt, die durch ihre Erziehung für eine ſolche Aufgabe außgerüftet find. Es thut mir leid, daß häusliche Geſchaͤfte, Zerftreuungen oder zu große Bequemlichkeit die Frauen, die dazu imftande wären, davon abhalten, öffentlich für ihr Geſchlecht auf: zutreten. Selbſtſucht oder Neigung zwingt die meiften Männer, gegen uns zu fämpfen, jo daß wir faum erwarten dürfen, e8 werde ſich einer finden, der den Kampf für und aufnimmt und der Ritter unferes Gefchlecht3 gegen die Beleidigungen und die Tyrannei feines eigenen wird.” Mary Aftels Urteil über die Männer und deren Stellung zur „Srauenfrage“ berührt ganz modern. An einer anderen Etelle fagt fie: „Ein Mann ſollte fich nicht mehr darauf einbilden, daß er weiſer if, als eine Frau, fofern er diefen Vorteil lediglich einer befferen Erziehung und größeren Erfahrung verdankt —, als er fich feines Mutes rühmen follte, wenn er jemand jchlägt, dem die Hände gebunden find. Nichts bringt Tyrannen dazu, ihre Ellaven graufamer zu unterdrüden, als bie dieſe möchten eines Tages ſtark und mutig genug werden, um ihre Feſſeln abzuſtreifen und ſich über ihre Herren zu ſchwingen.“

Der zweite Teil des Buches, die ind Einzelne gehende Bemweisführung, daß die Frauen den Männern in den meiften Dingen gleichlommen und ihnen in manden

502 Mary Aftell.

überlegen jeien, und daß nur die mangelnde Erziehung ihren Aufſchwung Bindere, it weit jchwächer, als der erfte Teil, der fich mit allgemeineren Erwägungen beſchäftigt. Dod im ganzen genommen ift die Schrift wohl wert, der Vergeflenheit entriffen zu werden; fie enthüllt ung die Perfönlichleit einer Frau, bie ihrer Zeit um jo wen voraus war, daß ihr Wirken eben deshalb ohne Einfluß blieb. Das jheint fie jelber eingefehen zu haben, denn nachdem fie im Jahre 1700 ein Buch „Über die Ehe“ ver: öffentlicht hatte, in dem fie, wie ihr Biograph jagt, „nach der Anficht wieler Leute bie Rechte und Vorrechte ihres Gejchleht® gar zu hitzig verfocht,” wandte fie ſich anderen, hauptſächlich politifchen und religiöfen Intereſſen zu, die uns bier nicht be ſchäftigen können.

Es iſt intereflant, das Urteil verfchiedener Zeitgenoffen über dieſe beroorragend: Frau zu hören. Der Hiftorifer Dr. Sohn Walker nennt fie „die geiftreiche Mrs. Aftel,“ der befannte Theologe Henry Dodwell fpricht von ihr als einer „beivunderungsierten grau,” und der Schriftfteller Evelyn ſchreibt über fie: „Ich würde mich großer lin: Dankbarkeit jchuldig machen, wollte ich nicht Mrs. Aſtells Verdienfte anerkennen. Eie bat durch ihr eigenes Beilpiel bemwiefen, daß ihr Geſchlecht großer Dinge fähig if.” Ein intereffantes® Urteil findet fi in einem Brief des Biſchofs von Rocheſter, Dr. 5. Atterbury, an feinen $reund Dr. Smalridge. Es lautet wie folgt:

„Vor vierzehn Tagen war ich bei Mrs. Aſtell zu Tiſch. Sie ſprach mit mir tiber meine Predigt und riet mir, fie druden zu laffen. Sie bat mid, fie vorher noch einmal bdurchlefen zu dürfen, und ich fchidte fie ihr am folgenden Tage. Geftern jandte fie nun die Predigt mit inliegenden Bemerkungen zurüd, die ich mich nicht ent: balten fann, Dir zu jchiden, da fie außerordentlich bemerkenswert find, wenn man bebentt, daB fie der Feder einer Frau entſtammen. Man follte wirklich kaum glauben, daß eine Frau fie gejchrieben hat. Kein einziger Ausdruck verrät ihr Gefchleht. ie greift mic) heftig an, wie Du fiehft. Hätte fie ebenfo viel Lebensart als Verſtand, jo würde fie vollfommen fein; aber fie ift nicht übermäßig wähleriſch im Gebraud ihrer Worte, und ihre Ausdrucksweiſe ift oft ein wenig derb. Dies wundert mid um fo mehr, als das weibliche Gefchlecht es im allgemeinen befjer verfteht als wir, feine Worte geziemend zu drehen und zu wenden. Mrs. Aftell verfteht es nicht. Aber ihre klare und verftändige Schreibweiſe hebt diefen Mangel auf, wenn überhaupt etwa imjtande ift, ihn aufzuheben. Ich fürchte mich, mich mit ihr in einen Streit ein- zulaffen, ich habe ihr daher nur eine allgemein gehaltene böfliche Antwort gefandt und boffe, das übrige mündlich zu erledigen.“

Den Reit ihres Lebens widmete Mary Aftell, wie gejagt, hauptfächlich religiöfen Pflihten und theologifchen Studien. Doch auch die griechiichen und Iateinifchen Klaſſiker vernachläffigte fie nicht, und bis zu ihrem Tode gehörten Kenophon, Plato, Seneca und Epictet zu ihren Lieblingsjchriftftellern.. So eifrig lag fie ihren Studien ob, daß ihr nicht® unwillkommener war, al3 eine Unterbrechung durch Bejucher, beſonders wenn diefe lediglich mit der Abficht kamen, ein Plauderftündchen bei ihr zu verbringen. In ſolchen Fällen pflegte fie fcherzend zum Fenfter binauszurufen: „Mrs. Aſtell ift nicht zu Haufe,” ein Mittel, das ihr gewiß mehr Feinde zugezogen bat, als irgend eine ihrer Schriften. |

Ihre Schaffensluft und Lebensfreude hielten an bis zuletzt, da ein ſchweres Krebsleiden fie befiel, das, wie fie von Anfang an wußte, nur mit dem Tode enden fonnte. Mit wahrem Heldenmut unterzog fie fich einer Operation, die zu jener Zeit noch ohne jegliche Betäubungsmittel vorgenommen werden mußte, doch der Erfolg wat nur ein zeitweiliger, und am 11. Mai 1731 machte der Tod ihrem reichen Leben ein Ende.

Daß Mary Aftel nicht Schule gemacht hat, daß ein ganzes Jahrhundert ver: ftreichen Eonnte, ehe Mary MWollftonecraft, unbeeinflußt durch ihre Vorgängerin, von beren Exiſtenz fie nicht einmal etwas ahnte, die Sache der Frauen von neuem aufnahm, zeigt nur, daß die Zeit noch nicht reif war für ihre Anjchauungen.

A

Erfte ſtaatlich genehmigte Lehranftalt für Hellgymuaftit und Maffage in Kiel. Bon Amalie Junt

(Raddrud verboten.)

Wenn einerfeit® bie rechtzeitig angewandte, wiſſenſchaftlich ausgeübte Heilgymnaftit den menfc: lichen Körper vor großen Gefahren, ja vor dauerndem Siechtum zu bewahren vermag, fo kann anderer: feitd auch durch Unverftand und unzureichende Kenntniffe über die Beſchaffenheit des menfchlichen Körperd auf biefem Gebiete viel gefünbigt werden. Und dann find birelte Geſundheitsſchädigungen mur zu Häufig bie traurige Folge ber falſch an: geiwandten Heilgymnaftit.

Um die wirkſame Anmwenbung der Heilgymnaftit in weiterem Maße zu fihern, hat Dr. Lubinus in Kiel einen Kurfus zur Ausbildung junger Mädchen und Frauen ald Heilgymnaftinnen und Zurnlehrerinnen eröffnet.

Die Errichtung diefer Anftalt ift um fo freubiger zu begrüßen, als fie die erfte ftaatlich genehmigte Lehranſtalt für Heilggmnaftit und Maſſage ift. Dementfprecdend wird eine vom Staate ein: gefegte Prüfungstommiffion am Schluß der Kurfe das Examen abnehmen, und bie Schülerinnen er: halten dann ein Zeugnis als „ſtaatlich geprüfte Heilgymnaftin”. Es gab bisher ja auch in Deutſchland außerordentlich tüchtige Orthopäbinnen, die privatim ihre Lchrlurfe abfolviert hatten, aber leider maßten fid die Mafjeure und Mafjeufen auch oft Behandlungen auf dieſem Gebiete an, denen ihre Kenntniſſe abfolut nicht gewachſen waren. Diefelben hatten dann in wenigen Wochen

oder Monaten bei einem Maffeur ober etwa an |

einem Krantenhaufe die verſchiedenen Manipulationen der Maffage mehr ober weniger gut fich zu eigen zu machen gefucht. Naturgemäß aber konnten fie in einer fol kurzen Vorbereitungszeit nicht über

den Bau des menſchlichen Körpers, bie Funktionen :

feiner Organe, dad Weſen der in frage kom— menden Krankheitsprozeſſe, die Technik der Heil: aumnaftit und die mittel® der Maffage erzeugten

| Bervegungen u. f. w. genügend aufgeflärt und untlrrichtet werben. Es fehlt eben bie hier fo j überaus notwendige wiſſenſchaftliche Vertiefung und richtige Erkenntnis, die allein einen Erfolg ber Behandlung erhoffen läßt. Um fo befier konnte es benn auch den ſchwediſchen Heilghmnaſten refp. Gpmnaftinnen gelingen, bei uns in Deutſchland feften Zuß zu faſſen, fo daß feldft junge Schwedinnen, bie nicht ihre Ausbildung am Sentral-Inftitut in Stodholm erhielten (dad Königl. ghmnaſtiſche Zentral· Inſtitut in Gtodholm erfreut ſich be: anntlich eined Weltrufes und hat längft die wiſſenſchaftliche Ausbildung junger Mädchen zu Heilghmnaſtinnen übernommen), fondern nur wenige Monate privatim vorgebildet waren, bei und reichlich Befhäftigung fanden. Auch ſchon von dieſem Geſichtspunkte auß ift es cin mohlberechtigtes deutſches Streben, durch eingehende wiſſen ſchaft. liche und pratifche Ausbildung einen ebenbürtigen Stand deutfcher Yeilgymmaftinnen zu fchaffen. 1 68 ift leicht erſichtlich wie bie Genehmigung eined vor ber Regierung abgelegten Eramens ben Stand heben und ihm die volle Anerkennung der Ärzte verichaffen wird. Der erfte Aurfus in Kiel beginnt mit dem 15. April und wird zweijährig fein. Die Lehrgegenftände find folgende: Anatomie ded menſchlichen Körpers, Phoſiologie Bewegungslehre, Geſundheits· und Krankheitslehre, Turnen, inkl. Geſchichte, Methodik und Gerät kunde, Heilghmnaſtil und Maflage, ſowohl theoretiſch als auch in praltiſcher Ausübung. Die Aufnahmebedingungen. find: . Alter zwifchen 18 und 85 Jahren. . Gute Schulbildung. . Kräftiger Gefunbheitäzuftand. . Amtliches Führungszeugnis. . Honorar halbjährlich 1650 Marl. . Teilnefmerinnen-Zafl fol möglichft be: ſchrantt werben.

enmopm

504 Frauenleben und :Streben.

7. Anmeldungen und Anfragen find zu richten an ben Leiter der Anftalt Dr. Lubinus- Kiel, Brundwiderftr. 10.

Die beftandene Prüfung verleiht ben Schülerinnen die Approbation ald SHeilgymnaftin und Turm: lehrerin. Solche Ausbildung ſchafft nicht einen Stand von Hanblangern, ſondern wiſſenſchaftlich

eingehenden Ausbilbung, die Kranktheitäerfcheinungen in ihrer Urfache und ihren Wirkungen richtig zu er- kennen vermögen, alfo auch bie richtige Bebanblumg2- weile anwenden können. Selbitverftändblich haben auch fie mit den Ärzten Hand in Hand zu gehen.

Es unterfieht wohl keinem Zweifel, baß ber in Kiel unternommene Verſuch fih ald lebens

gefchulte Kräfte, die ihrer oft ſchwer verantiwort- | fähig ermeifen unb weitere Derartige Unternehmungen lichen Aufgabe gewachſen find, weil fie, dank ihrer | nad) fich ziehen wird.

de

Tranenleben und -Streben.

Nachdruck mit Duellenangabe erlaubt.

* Der Bund beutfcher Frauenvereine hat durch feine Rechtskommiſſion in Ausführung der Beichlüffe der Dresdener Generalverfammlung nachfolgendes Flugblatt ausarbeiten und verfenden laſſen, das wir eindringlich der Beachtung empfehlen.

Weshalb follen Eheverträge geichloffen werben?

Das Bermögen und die Ausfteuer der Frau find nad) dem geltenden Güterrecht, mit Au2- nahme der zum perjönlichen Gebraud der Frau beftimmten Saden, wie inäbefondere Kleider, Schmudjachen und Arbeitögeräte, eingebrachtes Gut, der Mann verwaltet es und verfügt barüber. Durch Vertrag, den die künftigen Gatten vor einem Notar oder vor Gericht unterfchreiben, kann an Stelle dieſes Rechte Gütertrennung vereinbart erden, db. h. die Frau behält die Verfügung über ihr Ber: mögen und deſſen Erträge, und ift verpflichtet, dem Ehemann einen angemefjenen Beitrag zur Be: ftreitung des ehelichen Aufwandes zu zahlen. In denjenigen Ehen, in denen die Frau im Hausweſen oder Geſchäft des Mannes erheblich mitarbeitet, fann fie fi durch Vereinbarung von Errungens Ichaftögemeinichaft, verbunden mit Giütertrennung, den ihrer Arbeit entiprechenden Anteil am Gewinn und Griparten fichern.

Man fagt, daß bei glüdlichen Chen die Gelb: und Eigentumsfrage feine Rolle fpiele, aber es giebt doch auch unglüdliche Ehen, und gerade die pefuniäre Abhängigkeit der Frau, die unerquidlichen Auseinanderfegungen, das Rechten um fleine und große Ausgaben untergraben nur zu oft Frieden und Vertrauen -und dadurch das Glüd. Es ift fiher Müger und praftifcher, die Geldfrage vor der Ehe in gerechter, den Berbältniffen entiprechender Weiſe zu ordnen und fo fpäterem Unfricden vor: zubeugen. Es ift Pflicht jedes Menfchen, feine

Pflicht dürfen fi auch die rauen heutigen Tages nicht mehr entziehen. Derliert eine rau den Gatten, jo bat fie nach den neuen Gefeh, außer dem eigenen Vermögen, auch das ber Kinder zu verwalten, daher ift es notwendig, daß fie von vornherein auch in Geichäftsangelegenbeiten felbft: jtändig handeln lernt. €3 kann ber Familie nur zum Vorteil gereichen, wenn nicht mehr ausſchließ⸗ lih der Mann bie gefchäftlihen Intereſſen ber Familie wahrt, fondern auch die Frau ihren Scharf: blid und ihre Erfahrung geltend machen Tann.

Pflicht der Eltern ift e8 vor allem, barauf zu dringen, daß ihre Töchter Eheverträge ſchließen. Nur auf diefe Weife kann ein mirkfamer Schug bes Frauenvermögens gegen bie Folgen von Schid: falsichlägen, fowie gegen eventuelle Mißwirtſchaft bed Gatten erreicht werben. Vernünftig und geredht dentende Männer werben biefe Fürforge der Eltern verſtehen unb darin feinerlei Miftrauen gegen ihre Perſon erbliden. Bei einem fo wichtigen Lebens: abichnitt dürfen falſch angebrachtes Zartgefübhl und Sentimentalität nicht maßgebend fein. Die Bin: gebende Liebe der Frau wird burd die Wahrung ihrer pekuniären Selbftändigfeit in feiner Weife berührt; die bingebende Liebe des Mannes jur Frau bedingt ja auch nicht, daß er ihr fein Ber: mögen überlafie.

Die praftifchen Vorteile eines Chevertrages find jo bedeutende, daß man Verlobten nicht dringend genug das Eingehen eines folchen raten Tann.

I. yormular zum Gbevertrag einer vermögenden Chefrau.

Zwiſchen ...... ijt unter heutigem Datum der folgende Ehevertrag abgejchloffen worden: 81

In der Ehe ſoll Guͤtertrennung herrſchen, die Verwaltung und Nutznießung des Mannes am Ber:

eigenen Angelegenheiten felbft zu beforgen; bdiefer | mögen der Frau fällt fort.

\|

Frauenleben

82. Die Roften des Ehevertraged tragen, bie Ci gatten ve eigen zeilm ed Fragen. bie he

m Formular er Frau, bie einen Beruf auß: ober —— ein Gefchäft betreibt.

Zwilhen ...... ft unter heutigem Datum ber folgende eherrenna N ofen worden:

In der Ehe foll Shkertrennung herrſchen, bie Verwaltung und Rutznießung bed Manned am Ber: mögen ber Frau fält fort.

82.

Die Hinftige Ehefrau hat das Recht, ihren Beruf dauernb auszuüben ober ihr Ermerbögefchäft dauernd w betreiben. Insbeſondere erteilt ber Chemann

R. feiner Braut und künftigen Ehefrau hiermit ein für allemal die Zuftimmung zur Eingehung von jeglicher Art von Verträgen, durch melche fie ſich zu einer von ihr in Perfon zu bewirkenden Leiftung verpflichten will.

88. Die Koften bed Ehevertraged tragen bie Che: gatten zu gleichen Teilen.

I. Formular

zu einem Arbeiterehevertrag. Zwiſchen ...... ift unter heutigem Tatum der folgende Ehevertrag abgeſchloff en worben:

814. In der Ehe ſoll Gütertrennung herrſchen, die Verwaltung und Nutznießung des Mannes am Bermögen der Frau fällt fort.

82.

Die künftige Ehefrau fol ferner auch in ber Berwertung ihrer Arbeitöfraft vollftändige Freiheit haben und von ber Zuftimmung ihres Mannes hierbei gänzlich unabhängig fein. Insbeſondere erteilt der Ehemann N. N. feiner Braut und zu tünftigen Ehefrau hiermit ein für allemal bie Zuftimmung zur Eingehung von jeglicher Art von Verträgen, burd; welche fie ſich zu einer von ihr in verſon zu beivirtenden Zeiftung verpflichten will.

88 Die Koften bed Ehevertraged tragen bie Che: gatten zu gleichen Teilen.

IV. Formular zum Ghevertrag einer Frau, bie einen Landwirt, Handel: oder geiverbetreibenben Mann heiratet, oder einer bermögend: und beruföfofen ‘Frau, bie durch ihre Arbeit im Haufe am eignen Erwerb ge: Sinbert it

wilden ...... iſte unter heutigem Datum

der ſolgende ——— ‚seetstoflen worden:

Als eheliches uem "gilt Die Errungenſchafis. gemeinfhaft, da8 heißt: da3, was bie Gatten durch den, gemeinfchaftfichen Betrieb eine® Erwerbo geijäfted geiwinnen oder auf andere Weife fparen, wird gemeinfchaftliches Vermögen.

und «Streben. 505

$2.

Borbehaltägut ber fünftigen Ehefrau find die in beiliegendem Verzeichnis aufgeführten Gegen: fände ber Außfteuer und alled, wa bie künftige Ehefrau durch Erbfolge, Bermägtnis ober Pflichtteil erwirbt (Ertverb von Todeswegen), ober was ihr

unter Lebenden von einem Dritten unentgeltlich zu: | gewendet wird.

88.

Im Fall der Aufloſung der Ehe durch Scheidung ober Aufhebung ber ehelichen Gemeinfchaft er: Hält jeber Ehegatte die Hälfte des Gefamtgutes, welches nad; Berichtigung ber Geſamtgutsverbindlich⸗ kin als 3 Vermögen vorhanden ift.

Im Fall der Auflöfung der Ehe durch Tob er hält ber überlebende Gatte die Hälfte des Gefamt: guted, welches nach Berichtigung der Gefamtgutd- verbinblicleiten vorhanden ift.

8 4.

Zur Beftreitung ihrer perfönlicen Betürfniffe erhält bie künftige Ehefrau für ihre Arbeit im Hausweſen des Mannes eine Bergütung ven monatlich - Marl.

85.

Die Koften bed Ehevertraged tragen bie Che:

gatten zu gleichen Teilen. Anmerkung 1:

$ 1427 des Bürgerlichen Gefegbudjes beftimmt, daß bei Gütertrennung bie Frau bem Mann zur Beftreitung des ehelichen Aufwandes einen an: gemeffenen Beitrag aus den Ginkünften ihres Vermögens, von dem Ertrag ihrer Arbeit ober eines von ihr felbftänbig betriebenen Erwerbägefhäftes zu eiften hat. Die Höhe dieſes Beitrages fann im Ehevertrag nicht für bie Dauer der Che feſtgeſetzt werben, ba ber Vermögensſtand beider Ehegatten fih im Laufe der Jahre zu verändern pflegt.

Anmerkung 2:

Der Ehevertrag wird am beften vor Eingehung der Che bei gleichzeitiger Anweſenheit beider Verlobten oder beren Bevollmächtigten vor bem | Amtögericht ober vor dem Notar abgeichloffen.

Anmerfung 8:

Nach gefcploffener Che ift die Eintragung bed Ehevertrages ind Güterrechtöregifter ded Amtd- | gerichted zu beantragen, in deffen Bezirk der Mann ! feinen Wohnfig bat. Die Beantragung kann geichehen entiveer burd) beide Ehegatten, durch einen derfelben oder durch den Notar. Lehieres ift da8 einfacfte Derfahren. Nur durd biefe Ein: tragung wird der Ehevertrag Dritten gegenüber wirkfam.

Anmerkung 4:

Es empfiehlt fi, im Sinblid auf den & 1362 des Bürgerlichen Gefegbuhes unb ben $ 45 ber Reis: Konkurd: Drbnung, bem Antrag auf Ein: tragung in dad Güterredhtöregifter ein vollftänbiges Verzeichnis des ber Frau gehörenden Vermogens (Wertpapiere, Möbel u. f. iv.) beizufügen.

Anmerkung 6:

Abänderungen der PVertragsformulare können dur Weglaffen und Hinzufügen einzelner, den ! erhältniffen und Wunſchen ber Bertragigjließenden nicht entſprechenden Beftimmungen vorgenommen werben. Tod raten wir, wo es irgend angeht, * bie Formulare fo zu. benugen, wie fie vorliegen.

6

* Ter Berliner Frauenverein und die Haus⸗ inbufßrie in der Berliner Qoſtũm⸗Naſſchneiderei Tie Antworten der Inhaber von Koftüm-Tetail- ge:häften, bei benen der Berliner Frauenverein, wie in den vorigen Rummern berichtet wurbe, über die etwa geplante Cintührung von Hausinduſtrie Grluntigungen einsog, haben die Kommiſſion des Vereins zu folgendem weiteren Schreiben an die Konfektionãre veranlaßt:

Sehr geebrter Herr!

Aus dem Antwortihreiben bed Arbeitgeber: verbante3 vom 7. März ſowie aus den Bricien aner Anzabl Inbaber von Koftüm-Detailgeibäften bat Die unterzeichnete Kemmiiſion des Berliner Frauenvereins mit Bedauern von der Thatiache Kennmid genommen, daß ein Teil der Berliner Rap: Tetailgeihäfte dazu übergegangen ift, in er: wmeitertem limtange Waren auserbalb ihrer Wert: ftatten anfertigen zu lafien. Als Grund dafür wird angegeben, daß man durch die übermäßigen ‚serderungen der Arbeiter zu dielem Auswege ge: swungen worden ie.

Zie ‚stage, ob Liele Forderungen übermäßig seien, iſt unierer Anfıht nad ichon durch die im rorzgen Frühjahr eriolgte Annabme beitimmter Zarıie ven jeiten der Herren Arbeitgeber felbit verneint worden. In der Umgebung aber ticier art'masigen Abmachunaen durch Die Ausgabe von Arkeir an Zwiibenmeiiter und Seimarbeiter er: bi:den wir jedenialls eine nicht zu billigende Maß— regel; und zmar

1. aus allgemein fozialpolitiihen Gründen; 2. aus lanitaren (Sründen.

Es ift eine alfaemein beitätiate Criabrung, daß das ungeregelte Arbeitsangebot der Heimarbeiter und Me Unmealichkeit, in der Suusinduitrie zu kollek— tiren Abmachungen zmwiihen Arbeitaebern und Ar: beimebmern zu fommen, zu der Entwicklung unges funder Yobnverbältninie fuhren mug. Wir lönnen nicht wunicen, daß die Yuitinde, die in der Kon: jettionsinduitrie allgemein beklagt werben, aud in ter Maßbranche Play areisen.

Tie fanitaren Bedenken, die ber Seritellung von Zaren in unlontreilierten Arbeitsitätten ent: gegeriteben, liegen auf ber Hand.

Nonne man auch vieleiht für bie ſozial— politiſchen Getichtäpuntte nicht auf das Veritandnis weiterer Kreiſe rechnen, io dech für Diejenigen, weiche Die geiundbeitlichen Antereiien der Kuͤnd icaft berußren.

Tas Publikum, das in den eriten Geichäften Berlins die beiten Treiie zahlt, kann und wird auch tie Forderung fielen, daß die von ihm ent:

nemmenen Waren nicht Anitedungsactabren in

unbefannten Wohnungen ausgeiegt werben.

Die Unterzeichneten innen nur befürworten, daß die Kundichaf in dieier Frage zur Selbitbilie greiit und durch Vachiorichung uber die Beſchañen— heit der Arbeitsſtätten und Bekanntgebung der— jenigen Geſchaite, welche in geſundbeitlich einwands⸗ freien ®ertitisten arbeiten iaien, ſeine Intereiien fichert.

Wir erfuhen die Firmen, bie fih zu unieren Ötuntiägen befennen, um eine zuistiimmende Annwert

Frauenleben und -Streben.

und bie Erlaubnis, ihren Ramen im ber Lite :u veroffentlichen, die wir über diejenigen Gekhö' zu führen gebenten, welde ihren Berrieb nut unferen Gefichtspunkten leiten.

Mit vorzügfider Hochachtung i. A. der Kommiſſion des Berliner Fraucaverems

Helene Lange. Gertrud Dyvhrenfurth. Alice Salomon.

Ta jegt ſchon feftzuftellen if, daß ſehr wenige der Konfektionäre fi zu ben in dem Schreiben audgeiprochenen Grundiägen beiennen, jo werten diele erften Schritte des Berliner Frauenvercius nur dann von Einfluß auf die herrſchenden Ver kältnifie werben lonnen, wenn fie gu einer in weiteren Kreiſen unternommenen Bewegung den Anitoh geben.

* Die Oymuekallurfe für Frauen zu Berliz haben Oſtern wiederum zwei Schülerinnen entlarien, Frl Tora und Annemarie Bieber, die beide mit gutem Erfolg bad Cramen vor ber Prüfungs kommiĩſion bed Königlichen Luiſengymnaſtums be ftanten. Trei andere Xipirantinnen, die fich auf Grund privater Vorbereitung gemeldet batıen, mußten teild ibon vor Beginn, teild währenb bes mundliden Examens zurüdtreten. Es wäre ieht mwünichenätvert, wenn der Riniiter, der fi immer noch die Enticheibung über die Zulafiung von Fall zu Fall vorbehalten bat, ſolchen privatim, oft in fürzeiter Zeit vorbereiteten Schülerinnen bie Zu: laitung erihmwerte. In Berlin wiederholt fih nun iben jeit einer Reibe von Jahren bei jebem Trüfungätermin der gleihe Vorgang, daß folde privatim vorbereiteten Schülerinnen bie nicht jelten wegen Unfähigkeit oder Mangel an Fleiß in bieiiaen oder anderen Aurfen nicht vorwärts famen bie Zeit der Prüfungstommiffion unnüsß in Aniprub nebmen und das Frauenſtudium diskreditieren.

* Die beiden erfien ſtaatlich approbierten Ärztinnen in Deuntſchlaud find Frl M. Wagner und Frl. Democh, die beide ibr Staatderamen kürzlich beitanden, tt. Wagner in jrreiburg i. Br. stil. Democh in Salle.

* Anftellung Radtiiher Waijenpflegeriunen in Tilfit. Am 12. Dezember des vorigen Jahres bat bie Trtägruppe Tilſit Des Allgemeinen Deutfchen Frauenvereins in einer Cinaabe an den Magiſtrat ibrer Statt um die Anstellung ſtädtiſcher Waiſen⸗ pilegerinnen. Der Eingabe war eine Lifte bei: geleat, welche die Namen ven 70 ‚rauen aus ben verſchiedenſten Ständen enthielt, die ſich bereit erflärt batten, dad Amt ter Waifenpflegerin zu

En

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Frauendereine.

übernehmen. Unterftügt wurde die Petition ber Drtögruppe von fämtlichen hieſigen Frauenvereinen und vom Königlichen Amtögericht, dad den Magiftrat erfuchte, der Bitte der Frauen gemäß verfügen zu wollen, da „mir die Anftellung von Waiſen⸗ pflegerinnen für die Stabt Tilfit als jehr wünfchend: wert betrachten”. Der infolge biefer Petition geftellte Antrag auf Anftelung von Waifen- pflegerinnen wurde fowohl im Magiftratstollegium mie in ber Stabtverorbnetenverfommlung ein: Rimmig angenommen; aud) von feiten ber Waiſen⸗ räte wurde fein Einwand gegen ben Befchluß erhoben. Für die 14 Bezirke der Stadtgemeinde find vorläufig 28 Baifenpflegerinnen gewählt worden, bie ſchon an ber nächſten Waifenratöfigung teilnehmen follen.

* Ueber die Bulafjung von Franen zum

gaſtweiſen Beſuch von Univerfitätänsrlefungen :

iſt kürzlich eine neue minifterielle Beftimmung er: laffen, die für die numeriſche Geftaltung des Srauenftubiums im Sommerfemefter bebeutungävoll werben dürfte. Der Beftimmung zufolge wird es als ſelbſtverſtaͤndlich erachtet, daß die für männliche Hofpitanten geltenden Crforbernifie auch auf die weiblichen in Anwendung gebracht werben. erfteren wird an den Univerfitäten allgemein baran feftgehalten, daß ohne eine mindeftend der Ober⸗ ſecunda einer inländifhen höheren Lehranſtalt oder der wiftenichaftlichen Reife für ben einjährig frei⸗

Bi |

507

} willigen Militärdienſt entfprechende Vorbildung ber

Beſuch von Univerfitätßvorlefungen nicht geftattet ! werben Tann. Da die Borbildung ber Volksſchul⸗ ı lehrer zum einjährig freiwilligen Militärbienft be: rechtigt, wird für die Zulaſſung weiblicher Hofpi- | tanten unbedenklich das Lehrerinnenzeugnis genügen. Es würde aber voraußfichtlich die wiſſenſchaftuͤche | Höße des Univerfitätdunterricht8 gefährden, wenn auch daB bloße Entlafjungäzeugnis einer Höheren | Tochterſchule ald ausreichend erachtet würde. Biel:

mehr darf die Zulaſſung hier jedenfall nur ganz ausnahmsweiſe beim Vorliegen andermeiter voll: j gültiger Ausweiſe über bie erforderliche Borbildung erfolgen. Bezüglich der in Betracht kommenden auslandiſchen Zeugniffe wird eine nähere Be: ı ftimmung vorbehalten.

* Totenjen. Frau Dr. jur. Emilie Xempin ftarb nad langem Leiden in ber Irrenanftalt zu | Bürig. Sie bat befanntli) bie legte Zeit ihrer N deruflichen Thätigteit in Berlin zugebradt, und | pi glauben und berechtigt, anzunehmen, daß der | damals zu mandem Angriff führende plögliche | Weile ihrer Überzeugungen fhon auf die ber ginnende geiftige Umnadhtung zurüdzuführen war, ! der bie unglüdlihe Frau, wohl mit infolge von drüdenden Sorgen, verfiel. Frau Kempin bat ſich i in ber Zeit ihrer vollen geiftigen Kraft bedeutende Zerbienfte um den Fortſchritt des Frauenſtudiums erworben, vor allem dadurch, daß fie als erfte auf | dem Kontinent das juriftifhe Studium bis zur ! Promotion burchjegte.

57.25

Frauenvereine.

Die de —E ringen in

die ber Verein Frauenbildung Frauen: ubium ins Leben gerufen bat, wurben am 14. April in Anwefenheit von Vertreiern ber ftaatlichen und

ftäptifchen Behörde, Angehörigen der rinnen und Freunden der Sache eröffnet. In ihrer Er:

öffnungörede gab bie Borfihenbe der Abteilung rant-

furt des Verein® Frauenbilvung Frauenftubium, ' Frl. Dr. Elifaberh Winterhalter, einen Über: | bfid über ben Fortf—ritt des Unternehmens Biß -

jet unb Tennzeichnete die Gefichtepunkte, nad) denen es fortgeführt werben follte, etwa mit folgenden Ausführungen: Tie Schülerinnen follen nicht lernen zur Befriedigung ihrer Gitelteit, um dur Willen zu glänzen, fie follen auch nicht arbeiten im Hinblick auf einen rein äufierlihen wel, um für das

Eramen eine gewifie Summe von Kenntniffen zur '

Verfügung zu haben, fondern fie follen in heiterer, Iebenfrober Arbeitöluft einen Teil_ ihrer ſchonen Jugend, ganz allein un ihrer felbft willen, dem Studium wibmen, zur Erlangung von wahrkafter Bildung, von wahrhaftem Verſtändnis für die Melt und ben Meniden, für die Größe und Schönheit in Ratur, Wiffenfhaft und Kunft, zur Erlangung eines geiftigen Inhalte, einer inneren Welt. Für

den Menfchen ift dieſe innere Welt ein (Yut von ‚größter Roftbarteit, die Erlöfung von aller Unfreiheit und Halbheit. Tas Streben ber Schülerinnen fei, dur Arbeit zu Willen und durch Wiſſen zu innerer Kraft unb gu innerer Freiheit zu gelangen, dad heißt gu fönfter und befter Entfaltung der Verfönlihteit. Im Auftrag de Provinzial: fdultolegiums zu Caffel und des Cherpräfidenten überbrachte Herr Propinzialfulrat Dr. Pähler die beften Wünfce und die Verfiherung bes Intereffes und Wohlmollend ber Behörden. Serr TDireltor Dr. Hartwig betonte, wie wichtig es fei, daß bie erteiterte Bildung der Kurfe mit dem, was bie jungen Damen an Wiſſen mit ſich bringen, organiſch Ü vertettet werde. Herr Cherbürgermeifter Dr. Adides rühmte das fehöne Recht der Privatunternehmung, tüßn voranzugehen unb fid neue Ziele zu fteden. Ein Unternehmen, das fo befonnen und fo ruhig in bie Wege geleitet werde, fei danach angethan, die neuen Aufgaben, welche bie wirtſchaftliche Ent- widfung unjere8 voiles aufrolle, mit löfen zu belfen. Die Kurfe werden, wie noch bemerkt fei, mit 10 Schülerinnen eröffnet und zwar mit einer, der unterften Klafie (Tbertertia). Als Ordinarius der Klaffe wurden für Latein, Deutſch, Geſchichte Dr. 9. Auengle, für die übrigen Unterrictäfächer bewährte Lehrkräfte Frankfurt gewonnen.

- -

„DaB Wefen bes Chriſtentums.“ Sechszehn Vorlefungen vor Stubierenben aller Fakultäten im Winterfemefter 1899/19008 an der Univerfität Berlin, gehalten von Abolf Harnad. (Leipzig. 3.2. Hinricha'fche Buchhandlung.) Die Menfcheit Tonne nicht oft genug daran erinnert werben, fo hat einmal John Stuart Mill gejagt, da es einft einen Mann Namens Sokrates gegeben. Wichtiger als das, fo beginnt Harnad die erfte feiner Bor: leſungen, fei es, die Menfchheit immer wieder daran zu erinnern, baß einft ein Mann Namens Jeſus Chriftus in ihrer Mitte geftanden habe. Die Berfönlichteit und dad Wert Jefu darzuftellen, die Frage zu beantworten: Was ift Chriftentum? was ift es geivefen? was ift es geworben? das ift ber Zwed ber DVorlefungen. Der Weg ift der des Siftorifers. Das Chriftentum ais eine hiftorifche Erſcheinung gefaßt, zuerft in feinen Grundlinien als Verkündigung Jefu felbft, dann in feinen Beziehungen zu fittlichen, fozialen, religiöfen Lebens: fragen des Einzelnen und der Gejamtheit, und ſchůeßlich der Weg des Evangeliums durch die Geſchichte, das wird in großen Zügen, doch ſo, daß fich dem Verſtehenden die weiteren einzelnen Augeftaltungen Leicht von felbft anſchließen unb unterorbnen, in dem Buche entivorfen. Es ift teine Frage, daß das innere Bebürfnis nach einer Weltanfhauung unter ben Gebilbeten unferer Zeit tebhafter empfunden wird, ald in den legten Jahr⸗ zehnten, keine Frage auch, daß mächtige und immer mächtiger werdende Strömungen unfere modernen Geifteölebens eine tiefe innere Vertwandtiaft mit dem Chriftentum zeigen. Und modernen Menfchen aber wird eine Weltanihauung vor allem Iebendig un verftänblich, in ihrer Beziehung und in ihrer Wirkung auf Rerfönlicteiten, auf praftiiche Vrobleme, in ihrem Charakter al gefhichtlihe Macht, ald der Kern geſchichtlichen Werbens. Auf biefem Wege das Chriftentum dem gebildeten Qaien nahe gebracht zu haben und man kann wohl fagen, in bisher nicht erreichter Form nahe gebracht au haben, barin fiegt der Wert diefer Vorlefungen. Dad Buch ift in der Geifteägefdichte der Zeit und in ber Geſchichte der evangeliſchen Kirche eine That, deren Bebeutung nicht Hoch genuggefehäßt werden tann.

„Frauz“. Roman von Mbolf Wilbrandt. 3. Auflage. (Stuttgart, 3. ©. Cottafhe Bud: Handlung, Nadıf. Preis 3,50 Marl.) Der ftarke Familienzug aller Wilbrandt’fhen Helden, ein biebenötürbiger, feiner, Huger Xbealismus hat in „Franz“, dem Helden ſeines neueften Romans, eine andere Nuancierung erhalten. Franz ift ein Gott: fuger, der die ganze Melt durdreift, um die

Gotteötheorien aller Rulturnationen kennen zu lernen, um fchließlich zu finden, daß auf alle biefe Theorien fi eine lebendige Lebenspraxis für bie Gegenivart nicht aufbauen läßt, daß ber Deutſche nur vom Deutfchen für eine erneuerte Innerlichteit des Lebend, für ein Leben in Gott gewonnen werben Tann. Ais Wanderprediger ganz im mobernfien Sinne weiß er dieſer Idee Jünger biß hinein in die Kreife exalter Wiffenfhaftler und geriebener Geldmenſchen zu gewinnen allein durch die Macht einer lauteren, felbftverleugnenden Perfönlichteit. Als ein Opfer feiner in bie Praxis umgefepten Theorie erliegt er einer anſteckenden Krankheit; ein Schluß, der nun allerdings die Frage: Mas weiter? jäh abſchneidet. Der eigentliche Roman, ber diefen Kern umhüllt, ift mit der alten Sicherheit gefügt. Eine ziemlich bunte Geftaltentelt drängt fih al® Staffage um ben Helben. Die einzelnen Figuren find mit der charalteriſtiſchen Liebe behandelt, durch die ber Dichter ihmen aud eine felbftändige Be: deutung zu geben weiß.

„Kämpfe und Ziele”, „Kampf und Spiele“. Gedichte von Detleff vom Liliencron. (Berlin 1901. Schuſter und Löffler. Brofiert 2 Mart pro Band.) In gut audgeftatteter Geſamtausgabe fin die Gebichte von Lilieneron hier in 2. Auflage erſchienen. Nicht Tann es Zwech biefer kurzen Veſprechung fein, bie Vorzüge dieſer Gebichte, ihre Eigenart und ifre Iede Originalität zu Harakteri- fieren. Es fehlen der Sammlung berunglüdte Verfuche, Gefhmadtofigfeiten night: aber «8 if aud fein Zweifel, daß biefe Sammlung Beftes moberner Zyrit überhaupt bietet. In diefen beien Bänden find zahlreiche Gedichte, die tief zu Herzen ſprechen und zwingend in ihrer Stimmung find.

„Heimattlãuge and beutfchen Gnuen’, aus: gewählt von D. Dähnhardt. I. Aus Marid und Heide. Mit Buchſchmuck von Robert Engels. Brei in fünftlerifchem Einband 2,60 M. (Leippig, 3. ©. Teubner.) Das Buch gehört zu denen, bie man bei ber heutigen Überprobuftion an Drud- ware nicht aleihgültig bei Seite legt. Der Zwea der ganzen Sammlung, bie e8 einleitet, ift, eine Charatteriftit der deutſchen Volksſtämme durch Wiedergabe ihrer munderilichen Dichtungen zu geben. Da kommt natürlich jo gut wie alles auf den Spürfinn und bie geididte, fichtende dand he Herauögeberd an. Diefer erfte Band läßt für bie folgenden das Befte hoffen. Plattdeutiche Dichtung greift zwar immer beſonders ans Herz. Es liegi fo etwas treuherzig Meltfrembed darin, das den | Rulturmenfchen genau im Verhältnis zu dem Grade

Bücerfchau.

feffelt, den feine Kulturſattheit bereits erreicht hat. Aber doch ſcheint auch bier bie Auswahl eine wohl gelungene. Für die Freunde des Humors, für ben die plattdeutfche Mundart gleichfalls einen fo be: ſonders glüdlihen Ausdrud findet, empfehlen wir das koſtbare „Rich to Marl” von Johann Hinrich Fehrs, eine der beften der Sammlung.

„Friedeſiuchens Lebenslauf.” Fur große und eine Leute erzählt von veinrich Sohnrep. 4.—6. Auflage. Mit Zeichnungen von Eilburger. (Berlin SW., Georg Heinrich Mayer.) „Friedeſin⸗ hen® Lebenslauf" bildet den erften Band ber Niederfähfifchen Dorfgeihichten, die Heinrich Sohnrep unter dem Titel „Die Leute aus ber Lindenhütte“ erzählt bat. Wer diefen erften Band gelefen, der freut fi, daß noch ein zweiter in Ausficht fteht. So viel Dorfgeſchichten e8 giebt, fo felten find darunter die „echten“. Und am menigften echt kommen die „braven“ Kleinhäusler heraud; entweder merft man bie moralifche Ber: : ſpektive ober fie merben langweilig; nicht felten auch beides zugleich Hier aber haben wir bie einen Leute vom Lande aus einer Zeit, wo fie in der That noch eine Sonderegiftenz führten und | fi) zu einer Sonberart entwideln tonnten, beren | Glaubendbetenntnid ſich noch mit bem einfachen: . „Ub' immer Treu und Redlichleit" bed ftamm: verwandten Dichters dedte. Nicht folort hat biefer Xupus bie Herjen gewonnen. Die Lindenhütten: leute zogen fon vor 12 Jahren hinaus, ohne fonberlide Beachtung zu finden; heute ift ihr Erfolg entjdieden. Die feinjinnigen und daralte: riſtiſchen Zeichnungen von 2. Burger gereichen bem Buch zu befonderem Schmud.

DaB Verlangen nad) einer neuem beutichen Kumf' von Theodor Volbehr. Verlag von Eugen Diederichs, Leipzig 1901. Buchſchmud von Heinrich Vogeler. Das Buch von Theodor Volbehr bringt nicht eben etwas Neues. Er giebt folden, bie weder Zeit noch Luft haben, ſich in bie Hunft: anffauungen bed XIX. Jahrhunderts zu vertiefen, ein bequemes Mittel in die Hanb, fih damit in den Sauptzügen befannt zu machen. Er giebt in geihidter Sufammenftellung einen Überblid über die Wandlungen bed Aunfturteild bis auf unfere gegenwärtige Zeit und zeigt daran, daß das Ber: langen nad freiheit in der Aunftausübung, nad) einer eignen deutichen Kumit, nicht erft eine yorbe: | rung ber neueften Seit fei, fondern ſchon in den | Zeiten der Nachahmung und ber Unfreiheit Wurzel | gefaßt habe. Tas Buch zeigt zugleich wieder | die neuen Wege, bie ber Diederichsſche Verlag auf ; dem Gebiete des Buhihmuds eingefhlagen hat. ! wird verfucht, durch eine Schrift fünftleriicher Eigenart und beforative Behandlung der Seite mit |

i I

Zuhilfenahme des Drnament?® dad Buch aud | äußerlich zu einem Ganzen zu geftalten. Tiefer verfuch ift geglüdt. Ginbandbede, Titelblatt und der innere Schmud ber Bücher wirten charatteriftifch jufammen. ‘eine Ornamente füllen die weißen ı Stellen zwifchen den verſchiedenen Abſchnitten aus. Die Überfgriften wirten in Schrift und Anordnung : beforativ, und die Umrahmung ber Seitenzahl giebt ı jeder Seite den Abflug.

„Orchideen im Lößgrund.“ Geſchichten vom Raijerftußl von Pauline Wörner. (Freiburg,

509

Paul Waetzel 1901.) Unfere moderne Litteratur ift giemlid arm an Dichtungen mit kräftigen Lotalton in Nilieu und Charatteriftit. In biefem Lolalton liegt der künſtleriſche Wert der einfahen und anſpruchs⸗ Iofen, aber friſch und lebendig gefchriebenen Geſchichien vom Kaiferftupl. Der Dorfichullehrer in der erften Erzählung „Watthis und Watthed”, der reihe Hachberger, die Sculjungen, der alte „Bannwart” und bie „Swicbelen:Urfchel”, das find alles fo ſcharf und Mar umriffene Geftalten mit fo lebens. wahren Zügen, und ihr Leben und Treiben wirb mit fo echtem, liebenswürbigem Humor gefchilbert, daß das Buch ſich zweifellos in kurzer Zeit überall Freunde gewinnen wird.

„Was id als Kind erlebt.” Bon Tony Schümacher. Mit 3 Bilbniffen und 3 Fakfimiles. (Stuttgart und Leipzig, Teutihe Berlagsanftaft.) Die beliebte Rinder epeitfielerin wendet diefem Buch an ein erwachſenes Publitum. Sie giebt die Gefchichte nicht nur des eigenen Lebens, ſondern aud die der Eltern und Großeltern, bie mithandelnd bie großen diſtoriſchen Zeiten burde leben durften, mitleidenb durchleben mußten, bie die erfte Hälfte unferes Jahrhunderts füllten. Sie weiß anfgaulic da8 Aleinfeben der Familie auf dem Hintergrund biefer Zeiten zu ſchudern und fo ein nicht wertloſes Kulturbild zu geben. Erft der zweite Teil ſetzt mit dem ein, was fie felbft erlebt bat, erlebt im ftillen Pubwigsburg, das fie ald begeifterte Schwäbin auch bem fremben, norbbeutfehen Leſer in feiner eigenartigen Poeſie nahezubringen meiß. Als Großnichte Juftinus Kerner möchte fie damit eine Art Fortfegung feine® „Bilberbuch® auß meiner Anabenzeit“ geben, in bem Sinne, den Kerner felbft in feinem Vorwort bejeichnet: „Ich betrachte mein eigne® Leben nur ald Faden, an dem fi Bilder aus dem merhvürbigeren Zeben anberer anreihen follen.” Auch das ift ihr mohlgelungen.

„Zehn Ruskin““. Ausgewählte Werke. Boll: ftändige Überfegung. Verlegt bei Eugen Dieberichs, Leipzig 19UL. Br. pro Band geb. 4M., brofc. 3 R. Von der Ausgabe, die in der feinen Ausjtattung des auf biefen Gebiet vorbüdlichen Diederihäf—en Verlages erſcheint, liegen und der 2. und 3. Banb ver. Der zweite enthält „Seſam und Lilien“ in der Überjegung von Hebwig Jahn, ber dritte den „Kranz von Llivenzweigen”, überjeßt von Anna Henichte. Bei bem Intereffe, dad Rusfin in den leßten Jahren in Deutſchland immer mehr erregt hat, ift das Unternehmen einer deutſchen

Ausgabe burgaus zeitgemäß. Die außgezeichnete

Überfegung wird ficherlih dazu dienen, den felt: famen altmodifjen Propheten einer modernen Welt: betrachtung aud in Deutfdland einen tweiteren Freundeskreis zu gewinnen.

„Spartanerjünglinge”. Cine Kabettengefchichte in Briefen von Paul von Speiepandti. (Leipzig, Georg Wigand, Preis 2 Marl.) Cine flott gefcpriebene Erzählung, die night nur „Fadhtreife" intereffieren dürfte, da fie in ihrer Art ein ebenfo charakteriſtiſches Heined Kulturbild Tiefert als „Rofenmentag“. Der tragiihe Schluß ift nun freilih nur äußerlich motiviert; ber Heine Held hätte allen Anſpruch darauf gehabt, als korrelter Leutnant feinen Lebenslauf fortzujpinnen und eine glänzende Karriere zu machen.

614 Gegen ben Allohol.

„und da er des Weins trank, ward er trunfen“ (1. Mof. 9, 20 u.21). Und bereiti an dieſen nebelhaften Trunfenbeitsfall beftet jich der Fluch, der bier freilich einen Schuldloſen trifft, den jungen Sohn Ham, nur weil dieſer des Vaters befchämenden Zuftand fürwigig geihaut. Homer erwähnt wiederholt den Wein, bie alten Agypter, Römer, Gallier und Germanen verftanden e8, aus Getreide Bier zu bruuen, bie ffandinavifchen Völker bereiteten aus Honig den ftarlen Meth. Ob nun als ba3 beraufchende Prinzip dabei erft Jahrtauſende fpäter ein beftimmter chemiſcher Stoff erfannt und beraußbeftilliert wurde, thut doch gewiß nicht der Thatfache Abbruch, dat die alten Ägypter, Israeliten, Griechen, Germanen u. f. w. ihre alkoholiſchen Getränke batten und fich öfter und gründlicher daran gütlich thaten, ala ihnen gut war. Deshalb beiteht auch eine Alloholfrage nicht erſt feit der fpäteren Römerzeit, ſondern jo ziemlich bei allen Völkern ſchon zu allen Zeiten. Solange e8 eben und wo aud immer alkoholhaltige Getränke giebt, To lange bat auch die Neigung zu deren über- mäßigem Genuß beftanden. Sa, es find auch fchon in älteften Zeiten Männer auf: getreten, die dagegen eiferten, ganz wie heut, mit mehr oder weniger Erfolg. So ift bereit3 bei den Söraeliten zur Zeit der Propheten „der Alkoholismus eine beängftigende Erjcheinung” geworden, wie das neuerdingd noch Dr. Franz Walter in einem intereffanten Buche („Die Propheten in ihrem fozialen Beruf und das Wirtjchaftöleben ihrer Zeit”, Herderiche Verlagsbuchhandlung, Freiburg i. Br. 1900) anjchaulich geichildert, und hat eine richtige, jogar überaus leidenfchaftlihe Anti: alfoholbewegung hervorgerufen: namentlich die Propheten Amos und Jeſaias können fich nicht genug thun in dein Eifern und Droben gegen die überhandnehmende Trunffucht. „Wehe denen, die de Morgens frühe auf find, des Saufenz fich zu befleißigen, und figen bi in die Nacht, daß fie der Wein erhiget!” Heißt e3 bei Jeſaias (5, 11) und nod einmal: „Wehe denen, fo Helden find, Wein zu faufen, und Krieger in Völlerei !“ (5, 22). Wie weit es mit diefer, der Völlerei, gekommen, zeigen einige weitere Stellen“ bes Jeſaias. Kap. 22, V. 13 wird als die Lofung der Zeit bezeichnet: „Laßt uns effen und trinken, wir fterben doch morgen,” und Kap. 56, B. 12: „Kommt ber, laßt ung Wein bolen und vol faufen, und joll morgen fein twie heute, und noch viel mehr.” Und Kap. 28, V. 7 beißt es fogar: „Dazu find diefe auch vom Wein toll geworden, und taumeln von ftarfem Getränk. ‚Denn beide, Priefter und Propheten, find toll von ftarfem Getränk, find im Wein erfoffen und taumeln von ftarfem Getränk“ alſo felbft bis auf Priefter und Propheten erftredte fich das Laſter, wie da auch Hojen beitätigt. Dr. Walter glaubt aus dem Umftande, daß eine der zahl: reichen Drohungen des Jeſaias mit der Unfruchtbarkeit und dem Verdorren der Weinberge gerade an die „reichen Weiber, die forglofen Töchter” gerichtet ift, ſogar ſchließen zu dürfen, „daß ſelbſt die Frauen dem Trunke ſtark ergeben waren“.

Daß man auch in ſpäterer Zeit noch im ganzen Orient zur Unmäßigkeit im Trinken neigte, dafür iſt ſchon das Verbot des Weingenuſſes durch Mohammed Beweis genug. Dies hat den in der Geſchichte der Völker einzig daſtehenden Erfolg gezeitigt, daß die 175 Millionen Islambekenner, die es heutzutage giebt, ſich im großen und ganzen des Alkoholgenuſſes enthalten. Leider iſt dem europäiſchen Weſten kein Prophet erſtanden, der dem Dämon Alkohol gleich erfolgreich zuleibe gegangen wäre. Im Gegenteil hat es z. B. in deutſchen Landen allzeit gerade als Bethätigung des Nationalcharakters gegolten, ſich gelegentlich, d. h. möglichſt oft, toll und voll zu zechen. Denn der Gelegenheiten gab's allweil viele: „Die alten Deutſchen tranken immer noch

Gegen ben Allohol. 515

eins.“ Die mittelalterlichen erſt recht: „Wenn man früher Thors, Wodand und anderer Götter ‚Minne‘ trank, fo trank man nun Chrifti und der Heiligen Minne”, ſchreibt Dr. W. Fabricius in der Einleitung feiner Gefchichte der „Deutihen Corps“ (Berlin, Hans Ludwig Thilo, 1898). „Befonders der ffandinavifche Norden war die Heimat biefer Bräuche, und bier errichtete man ſchon frühe befondere Gelagahäufer, Gildehäufer in den Städten, in denen die Verfammlungen abgehalten wurden. Aber aud in Deutfchland find ſchon fehr frühe Gilbehäufer gebaut worden, und Heinrich I. verordnete geradezu, daß die Gildegelage in den Städten gepflegt würden, weil er fo feingn Zwed, bie Städte zu Mittelpunften des Voltslebens und Verkehrs zu machen, in vorzüglicher Weife unterftügt fah.” Was Wunder, daß Trinfgelage die beliebtefte Bethätigung germanischen Gefelligfeitsfinned waren und blieben. Die ftudentifchen Drden und Nationen, die fi nad) dem Mufter diefes alten Gildenweſens zunächſt als Schugbrüberfchaften der deutſchen Mufenföhne im Auslande bildeten, wandten diefem Teil der Gefeligkeitspflege ihrer heimiſchen Vorbilder ihre ganz befondere Liebe zu. Schon im 14. Jahrhundert verkehrten die Scholaren der deutfchen Nation zu Paris in nicht weniger als 40 Kneipen, unter denen der Engel, der Hirſch, ber goldene Bart, Kahlkopf, Schwan, Delphin, die Zither, das goldene Kreuz und namentlich die zwei Schwerter oft genannt werden. Anlaß zu Kneipereien gaben alle Feſte: „fieri festum in ecclesia et in taberna“, war die fländige Formel (feftiert wird in Kirche und in Sneipe). Aber auch jedes perfönliche Ereignis wurde „begoſſen“ „aliquem perpotare“ hieß das ſchon damals. Strafend wird einmal in ben Aften bemerkt, daß „der neue Profurator bislang noch nicht begofien worden“ „novus procurator non fuit perpotatus usque tunc“. So bildeten ſich die fludentifchen Trinkſitten aus, denen erft jegt eine meuzeitliche Antialkoholbewegung zu feuern ſucht. Nicht mit Unrecht hat auf dem Wiener Kongreß Dr. Meinert:Dreöden, wenn aud in allzu fcharfen Worten, gegen die „Trinkfitten der höheren und gebildeten Stände” geeifert, in denen er das hauptſachlichſte Hindernis für einen burchgreifenben Erfolg der Antialfoholbewegung erblidte. Hätte er nur gefagt, daß die „Trinffitten“ eins der hauptfächlichften Förderungsmittel des Alkoholismus feien, fo hätte er auch hierin recht gehabt. Den wefentlichften Grund indes, warum twir fo tief in die Schlingen des Alkoholismus bineingeraten find, hat ſchon Liebig aufgededt: „der Alkohol, durch feine Wirkung auf die Nerven, geftattet dem Arbeiter, die fehlende Kraft auf Koften feines Körpers zu ergänzen, diejenige Menge zu verwenden, welche naturgemäß erft den Tag darauf zur Verwendung hätte kommen dürfen; es ift ein Wechfel, außgeftellt auf die Gefundheit, welcher immer prolongiert werden muß, weil er aus Mangel an Mitteln nicht eingelöft werden Tann; der Arbeiter verzehrt das Kapital anftatt der Zinſen, daher dann der unvermeidliche Bankerott feines Körpers”. In diefen Worten liegen die urfächlichen Beziehungen des mißbräuchlichen Alkoholgenuſſes zu den fozialen Verhältniffen angedeutet, wie fie Dr. A. Grotjahn : Berlin in feinem Buch „Der Alkoholismus nach Weſen, Wirkung und Verbreitung“ (Band 13 der Bibliothek für Sozialwiſſenſchaft. Georg H. Wigand, Caffel, 1898) ausführlich dargeftellt at: der niederen Lebenshaltung breiter Schichten der Bevölkerung entfpringt vor allem andern das Altoholbebürfnis, „denn Unterernährung, Überarbeit, Wohnungsnot, Unficherheit der Eriftenz und die Unzulänglichkeit anderer Genüffe laffen immer wieder bie Betroffenen zum forgentötenden, Iuftbringenden, unluftabftumpfenden Branntwein greifen“. (Vgl. auch das treffliche „hygieniſche Merkbüchlein für das werkthätige Volk“ desfelben 33*

516 Gegen den Alkohol.

Verfaſſers, das erft fürzlich unter dem Titel „Alkohol-Genuß, Alkohol-Mißbrauch“ als Nr. 8 der „Sammlung Saſſenbach“ Verlag von ob. Saſſenbach, Berlin und Paris, Preis jedes Bändchens 15 Pf. erichienen if.) Das ift denn auch auf dem Kongreß vielfach zur Ausfprache gekommen, daß der Trunkfjuchtgefahr andauernd nur Durch Beſſerung der ſozialen Verhältniffe, Hebung der Lebenshaltung in ben niederen Volksfchichten begegnet werden könne. Profeſſor Weiß-Freiburg (Schweiz) hätte ba? Thema jeines® während des Kongrefje gehaltenen Vortrages: „Keine Sozialreform ohne Trinkreform“ eigentlich umdrehen müffen: Keine Trinkreform ohne Sozialreform. Daß die zahlreichen Temperenzgefellichaften, bie fich jeit Anfang des verflofjenen Jahrhunderts aus den Vereinigten Staaten verbreitet haben (1803 entfland in Bofton der erite derartige Verein), feine größeren Erfolge als biöher erzielten, liegt meines Erachtens an der Unterfchägung dieſes fozialen Moments. Was hat es den amerifanijchen Temperenzlern genügt, und vor allem: was haben fie genügt, daß fie eg big zum ftaatlichen Verbot aller geiftigen Getränfe brachten das erfte abjolute Verbot jegten fie genau vor fünfzig Jahren, nämlich 1851, im Staate Maine durd wenn fie damit nicht weiter gelommen find, als daß die freien Bürger der Union nun ihren Whisky heimlich in Apotheken kaufen oder aus Theetaflen trinken? Die ganze amerifanifche Antialtoholberwegung, von jenem Maine Liquor Law und ben verſchiedenen Sunday Laws, die den Verkauf beraufchender Getränfe und die Offen: haltung der Wirtshäuſer an Sonntagen verbieten, bis auf den vberrüdten Kreuzzug der biederen Frau Kanie Nation, die neuerdingd® dad Übel durch gemwaltthätiges Demolieren der Schankwirtichaften ausrotten zu können fich unterfängt, bat mebr gefchadet als genügt. Denn fie bat eine gute, ja große Sache, eine Frage von eıninenter fozialer Bedeutung, an deren gründliche Löſung über kurz oder lang alle Völker und deren gefeßgebende Organe ernithaft werden gehen müflen, einfach nur lächerlich gemacht, dem Site und Wige der Spötter ausgeliefert. Würdiger verliefen ja die Mäßigfeitsbewegungen in Europa. Knüpfte ſich auch an die 1832 zu Prefton in England erfolgte Gründung der fogenannten Teetotaler-Bereine der Disput, ob das Wort mit Thee zufammenhänge und daher englifch „tea“ zu ſchreiben fei, weil nun ſtatt der beraufchenden Getränfe nur noch Thee und Kaffee erlaubt fein follte, oder ob «3 auf einen ftotternden Schmied aus Birmingham zurüdzuführen fei, der bei einem Meeting anftatt „J am a totaler“ geftottert haben fol: „J am a t—t—totaler“, jo bat es doch nicht an Bewegungen gefehlt, die nicht® weniger ald den Spott berausforberten. Man denke nur an die großartige Thätigleit des Pater Theobald Mathew in Srland, der in den breißiger und vierziger Jahren Millionen feiner doch gewiß jchnapsgewohnten Landsleute das Enthaltſamkeitsgelübde abnahm, oder an den preußifchen Baron von Seld, der in ben vierziger Jahren als Mäßigkeitsapoftel von Stadt zu Stadt zog und folchen Erfolg hatte, daß viele Brennereien ihren Betrieb einftellen mußten. Auch der 1877 im Anfchluß an den Kongreß zur Hebung ber Sittlichfeit in Genf vom Pfarrer Rochat begründete Verein „Blaued Kreuz”, der über 200 Zmeigvereine bereits zählt, ſowie der urfprünglich in Amerika begründete, dann aber nach England verpflanzte und feit 1894 auch in Deutichland verbreitete Orden der Guttempler haben nicht bloß eine pietiftifche Antialtohol: Bewegung gefördert, ſondern auch ernithafte foziale Reformarbeit gethan. Mehr noch der 1883 zu Caſſel gegründete „Verein gegen den Mißbrauch geiftiger Getränke”. Denn biejer fteht nicht auf dem Boden der abfoluten Enthaltfamkeit, fondern Fämpft, wie fein Name

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ſchon fagt, außfchließlich gegen den Mißbrauch, gegen das übermäßige Trinken; im Mittelpuntt ſeines Intereſſes fteht nicht die Einzelerfcheinung des Trinkers, der zum Abftinenzler befehrt werden fol, fondern die Umgeftaltung unferer öffentlichen Ver— hältniffe im Sinne einer Hebung ber wirtichaftlichen Lebensbebingungen ber unteren Bevolkerungsſchichten. Und in diefem Sinne find ja auch ſchon, unleugbar unter dem Einfluffe jenes Vereins, unfere Behörden vorgegangen. Man hat den Klein handel mit Spirituofen unter irenge Auffiht genommen, die Schanklonzeffionen ver- mindert, den Wirten Verabreichung von Spirituofen an notorifche Trinker unterfagt, Trinkerafyle begründet und bergl. mehr. Ein 1891 dem Deutſchen Reichſstag vor— gelegter Entwurf eined Gefeges zur Bekämpfung des Mißbrauches geiftiger Getränfe ift freilich damals garnicht zur Beratung im Plenum gelommen. Dafür hat kürzlich erft wieder Graf Douglad an der Spige der Freilonſervativen im preußifchen Abgeorbnetenhaufe einen ähnlichen, nur noch meiter gehenden Antrag eingebracht, der jegt vieleicht ernfter genommen wird als der vor zehn Jahren. Die kaiferliche Marine, die feit 1894 eine befondere Statiftit darüber führt, in wie vielen fand» und kriegs⸗ gerichtlichen Straffällen Truntenheit mitgefprochen hat, (38,1 %,, in den Sonderfällen von thätlihem Angriff und militärifhem Aufruhr fogar 75,4 reſp. 88,2%.) ift durch Regulierung des Altoholgenufles in den Kantinen, durch Schaffung der Seemannshäufer, firengere Beftrafung der Trunkenheit und rüdfichtölofere Entfernung von Trunfenbolden aus dem Dienft in letzter Zeit der Frage ernfthaft zuleibe gegangen. Noch energifcher war das Generalfommando de3 16. Armeeforps, dad ſchon 1893 nicht nur aus den Kantinen, fondern auch aus den Wirtfchaften in der Nähe ber Rafernen den Schnaps überhaupt verbannt hat. Dasſelbe geſchah ſeitdem auch in ben Rantinen der Faiferlichen Werften und anderer techniſcher Betriebe der Marine. Die rheiniſchen Induftrielen wollen neuerdings ebenfalls gegen den Alkoholismus in ihren Betrieben vorgehn. In einer am 4. April unter Teilnahme von Vertretern ber Regierung fowie der Fölnifchen Handelsfammer abgehaltenen Berfammlung fam zur Sprache, daß der Altoholgenuß auf Betriebsunfälle erheblichen Einfluß babe und bie Unfalllaften um reichlich 10 %/, fteigere, die namentlich laut Nachweis der amtlichen Statiſtik auf dad Konto der blauen Montage kommen.

Wieviel aber in Bezug auf Einfchräntung des Alkoholismus gerade feitens der Behörden und der großen privaten Wirtſchaftsbetriebe noch zu thun übrig bleibt, dad zeigten fo recht draſtiſch an ein paar Beiſpielen mehrere Nebner auf dem Wiener Kongreß. So teilte der üfterreichiiche NRegierungsvertreter, Minifterpräfident Dr. v. Koerber, gleich in feiner Begrüßungsrede das folgende Geſchichtchen mit: „Bor zwei Jahren lag ein galiziicher Bauer drei Tage lang im kataleptiſchen Schlaf im Sarge; als er erwachte, erklärte er, im Himmel geweſen zu fein und dort eine Verlängerung feines Lebens unter der Bedingung zugefagt befommen zu haben, daß er unter feinen Zandöleuten als Miffionar gegen die Trunkſucht auftrete. Er hatte merfwürdigen Erfolg. In wenigen Monaten zählten die galiziichen Bauern, die dem Schnaps entfagten, nach Zehntaufenden. Da ergriff die Gutäbefiger, welche Schnaps⸗ brenner und Branntweinfchenker find, und die überdies ihre ländlichen Arbeiter ftatt mit Geld mit Schnaps entlohnen, eine förmliche Panik, und bei dem Einfluß, ben die Polen feit vielen Jahren in der Regierung haben, war e8 ihnen ein Leichtes, den Apoftel der Enthaltfamfeit, dem feine Miffion fo ernft war, verhaften zu laffen; und fo viel ich weiß, ſchmachtet er noch immer im Gefängnis.”

518 Gegen ben Allohol.

Eine ähnliche Entlohnung in „Naturalien“ aus den gleichen, menfchenfreundlichen Motiven heraus ftellte Profeſſor Dr. Neiniger- Graz bei einer Anzahl öflerreichifcher und deuticher Brauereien feit, die nach alter Gepflogenheit ihre Arbeiter zum Teil durch Bier entlohnen, jo daß in manchen öfterreichifchen Brauereien der Arbeiter biz zu ſechs Liter Bier täglich zum Verbraud erhält. Dieſes Bier werde von ber Steuerbehörde als Einfommen betrachtet und befteuert, und dem Arbeiter ſei es unter: jagt, dad Bier zu verlaufen oder mit nach Haufe zu nehmen. Der Berziht auf das Bier berechtige ihn nicht zu einer Entjchäbigungsforderung, wodurch der Arbeiter demnach einem furchtbaren Trinkzwange unterivorfen werde.

Ob das ruffiihe Branntweinmonopol, da3 dem Staate 350 Millionen Rubel einbringt, wovon er großmütig 3 Millionen für Mäßigkeitszwecke überweilt, gerade nur in der fozialreformatorifchen Abficht eingeführt wurde, das Volk zur Mäßigkeit zu erziehen, dürfte auch, troß der gegenteiligen Berficherungen der ruffiichen Regierung? vertreter, nicht ganz zweifeldohne fein, wenn man auch nicht gerade der Behauptung des Peteröburger Rechtsanwalt? Borotin zuzuftimmen braucht, daß durch dies Monopol dad ruffiiche Volk nur noch mehr der Entartung auögefegt ſei.

Sedenfall3 hat die weitgehende Teilnahme der Regierungen an dem Kongreiie bewiejen, daß man allentbalben bebörblicherfeit3 gewillt ift, die foziale Gefahr des Alkoholismus anzuerkennen und ihr zu fleuern. Daß diefe Gefahr eine eminente, dem Tann ſich nach den gewichtigen Feſtſtellungen einer folchen Reihe von wiſſen— Ichaftlichen Kapazitäten, wie fie im April in Wien beifammen waren, und der neuejten Statiftilen niemand mehr entziehen. Der üfterreichifche Kultusminifter v. Hartel berichtete, daß 1897 in einem öfterreichifchen Induftriebezirt von 25 000 Einwohnem 2 Millionen Kronen für Alkoholika ausgegeben wurden, alſo 80 Kronen pro Kopf der Bevölkerung jenes Diftriftd. In ganz Ofterreih wurde im legten Sabre für 1600 Millionen Kronen Alkohol fonjumiert! Auf den Kopf der Bevölferung entfallen jährlih 9 Liter Branntwein, 18,9 Liter Wein und 65 Xiter Bier. Sin Böhmen wurden in den lebten Jahren 25 000 polizeinotorijche Trunfenbolde gezählt, „deren Lafter etwa 75 000 Kinder den ſchwerſten phyſiſchen und moralijchen Gefahren prei®: giebt.” Da Böhmen rund 6 Millionen Einwohner bat, jo kommt auf 240 Köpfe bereit ein notorifcher Säufer! In Deutfchland fol erft auf 2000 erivachjene Männer ein Trunfjüchtiger fommen, und auch das ift ſchon fchlimm genug, da es an bie 10 000 Gemwohnheitsjäufer ergeben würde. In Wien gebrauchen 50 %, der Schul: Inaben bereits alfoholifche Getränke. Gerade Kindern aber, mindeſtens bi zum 16. Lebensjahre, jollte man überhaupt feinen Alkohol geben, auch nicht in der aller: leichteften Form. Die Gewohnheit vieler Eltern, jo führte Profeſſor Dr. Kaffowig: Wien auf dem Kongreß aus, ihren Kindern in gefunden, . mit bejonderer Borliebe aber in krankem Zuftande Alkohol in allen möglichen Formen zu verabreichen, hat bie Ichweriten Schädigungen des kindlichen Körper® im Gefolge, namentlich ſchwere funktionelle Störungen und nachiweisbare LOrganveränderungen, Leberichwellung, Waſſerſucht. Und das nicht bloß nad Branntwein, fondern häufig auch bei bloßen Genuß von Bier oder Wein in mäßigen Uuantitäten oder bei jo geringen Gaben von Cognac, wie fie von vielen nicht nur als erlaubt und unfchädlich, fondern jogar als Heilfam angejehen werden. Durch die phyſiologiſche Forſchung ift bie früher allgemein verbreitete Annahme, daß der Alkohol irgendivelche nährenden, oder auch nur verdauungsfördernden oder fieberftillenden und bafterientötenden Eigenschaften

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befige, vollfommen widerlegt. Hofrat Dr. Gruber:Wien glaubte zwar menigitens eine einzige Ausnahme für den Alkohol als Nahrungsmittel in Anfpruch nehmen zu möüffen, nämlich bei gewiſſen SInfeltionsfranfheiten wie QTuberkulofe, obgleich gerade er an zahlreichen Tierverfuchen feftgeftelt, daß große Gaben von Alkohol in hohem Maße die Widerftandsfähigfeit des Körpers gegen bie Infektionserreger ſchwächten, fo daß unter ihrem Einfluffe die Infektionen leichter zuftande famen und fchiverer verliefen als bei normalen Tieren, während Heinere Gaben in feinem Fall das Zuftandelommen der Infektion Hinderten oder auch nur deren Verlauf milderten und abkürzten. Allein auch jene Ausnahme mußte er nachträglich noch befonders dahin einfchränfen, daß er bemerkte, er wolle jelbftverftändlih nicht den Satz aufftelen: der Alkohol ift ein Nahrungsmittel, fondern wolle ihn nur bei beftimmten Krankheiten als nährendes Hilfsmittel angewendet wiſſen. Jedenfalls, für Kinder hat der Alkohol unter keinen Umftänden auch nur den allergeringften Nährwert. Dr. Zapper-Wien bezeichnete es in der Verfammlung geradezu als Unfug gröbfter Art, wenn Eltern, wie das häufig geichehe, ihren Kindern, in ber Abficht, ihnen ein beſonders wirkſames Kräftigungsmittel zuzuführen, Töffelmeife Cognac einflößen. „Und da die Anregung zu dieſem Mißbrauch meift von den die Kinder behandelnden Ärzten ausgehe, fo fei es eine Pflicht der anweſenden Ärzte, gegen biefen Unfug energifch Front zu machen und bei ihren Berufs: genoffen darauf zu dringen, daß fie von ber leidigen Gewohnheit der Altoholz verordnung für Kinder abgehen.”

Hat doch der Alkohol, abgefehen von den organischen Schädigungen, auch auf das Nervenfyftem der Kinder den fchlimmften Einfluß. Sie bleiben in der geiftigen Entwidlung zurüd, wie im törperlihen Wachstum. Bei Schulfindern wurde bie ſchwachende Wirkung auf die Lernfähigfeit, wie Profeflor Kaſſowitz berichtete, ſelbſt nach mäßigen Altoholgaben direkt nachgewieſen. Wie fehr der Alkohol überhaupt das Nervenleben beeinträchtigt, geht auch aus ber Mitteilung des öfterreichifchen Rultusminifter8 hervor, „daß 50%, ber Geiſteskranken Oſterreichs Alkoholiker geweſen find. Ebenſo find 60—80 %/, der Roheitöverbrechen und 30—40 %, der Selbftmorde auf chroniſche oder afute Alloholvergiftung zurüdzuführen. Eine eben bekannt werdende internationale Selbftmorbftatiflil, die der Medical Record veröffentlicht, weit allein für Norwegen eine Verminderung der Selbftmorde nach und führt das ausbrüdlich auf die energifchen Maßnahmen zurüd, die hier gegen den Alloholgenuß er= griffen worden find. Dr. Wilhelm Bode, der ſich vom Gründer des erften deutfchen radikalen Enthaltfamteitövereins, des Altoholgegner-Bunds von 1889, zu einem der maßvollften Belämpfer des Alkoholismus entwidelt hat, teilte vor zwei Jahren in einem Artikel der „Gegenwart“ mit, „daß jährlih 200 000 Landsleute, zumeift junge Männer zwifchen 17 und 27 Jahren, in die Strafanftalten wandern, weil fie ‚Vergehen oder Ver: brechen gegen die Perfon begingen‘, d. h. bei den allermeiften, weil fie den Alkohol nicht ver: tragen konnten, den fie trinken zu müſſen glaubten“. In der Schweiz, wo e3 bie befte Mortalitätsflatiftit giebt, wurde für 1894 feftgeftelt, daß bei den Todesurfachen von 10%, aller über zwanzig Jahre alten Geftorbenen männlichen Geſchlechts der Alkoholmißbrauch als Haupt: oder Nebenurfache beteiligt war. In Deutichland dürften die Verhältniffe ähnlich Liegen, wobei nicht gefagt fein fol, daß jeder zehnte Deutſche oder Schweizer ein Trinker ift, wohl aber, daß „der in der Schweiz (tefp. Deutfchland) übliche Alkoholgenuß ausreicht, bei dem zehnten Teil der männlichen Bevölkerung eine ſchwere Beeinträchtigung der Gefundheit zu veranlafien”. So mies auf dem

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Kongreß Profeffor Forel-Chigny an der Hand der legten Statiſtik Schweizer Arzte nad, daß durchaus nicht der Zuftand ſchwerer Trunfenheit und noch weniger der chronische Alkoholismus es fei, der zu den geſundheitsgefährdendſten jeruellen Erzeilen führe, jondern gerade der anfcheinend jo harmloſe Zuftand des bloßen Angebeitertfeind.

Wenn man weiter bedenkt, daß, wie Dr. Anton:Graz ausführte, es fich bei der Alfoholvergiftung nicht nur um eine Schädigung des einzelnen Individuums Hanbelt, jondern um „fortwachjendes, in den Nachkommen jich progreffiv verwielfältigende? Elend”, fo wird man bie Gefahr des Alkoholismus einigermaßen ermeflen können. Denn es ift eine alte Erfahrung, daß die Kinder von Trinkern entweder felbft auch Trinker oder Nervenktranfe find. Bourneville berichtet, daß die Zählungen bei 1000 Idiotenkindern 471 mal chronischen Alkoholismus des Vaters, 84mal der Mutter und in 65 Fällen Trunffucht bei beiden Eltern ergaben, aljo weit über die Hälfte. Beſonders Häufig findet ſich auch Epilepfie bei den Nachlommen trunkjüchtiger Menjchen, und ebenjo auffällig ift die Häufigkeit der Verbrechen gerade bei den Nach— fommen der Trinfer. Chronifche Vergiftung des väterlichen oder mütterlichen Organismus mit Alkohol ift an und für ſich imftande, eine frankhafte Artung und geftörte Entwidlung des kindlichen Organismus bervorzurufen. - Und als bejonder? draftiiches Beifpiel für den Zufammenbang von Alkoholismus und Erblichkeit teilte Dr. Fröhlich Wien die Beobachtung eines in einer niederöfterreichiichen Weingegend wirkenden Lehrer? mit, daß, wenn ein erfter Schuljahrgang ganz befonders jchlechten Erfolg aufmweift, daraus immer zu erkennen fei, daß ſechs Sabre vorher ein gute? Weinjahr war!

Daß der Alkohol thatſächlich ein Gift fei, führte Profeffor Dr. Hand Mever: Marburg aud. Wenn unterhalb einer gewillen Grenze in der Menge bes dem Organismus zugeführten Alkohol jede merkliche Wirkung ausbleibe, fo teile der Alkohol diefe Eigenschaft eben mit allen Biften. In wirkſamen Mengen verurfache er Betäubung der Gehirnfunktionen und der Reflere, jchließlid; auch des Atemzentrums im verlängerten Marke, bewirkte Abfchwächung der Muskelkraft, der Herzthätigfeit, unter Umftänden Abnahme der Körperwärme und verzögere die Verdauungsthätigkeit. Was fpeziell die Einwirkung auf die Hirnfunftionen betrifft, jo wies Dr. Rud. Wlaflak: Wien an der Hand der erperimentellen Unterfuchungen des heidelberger Piychiaters Profeffor Kräpelin darauf bin, daß die Fähigkeit, zu addieren, jchon nach den geringen Alkoholgaben finke, die 0,2 Liter Bier entjprechen. Ein rapider Abfall der in einer gemefjenen Zeit addierten Zahlen tritt bei größeren, 2—3 Liter Bier entjprechenden Mengen ein. Der jchädigende Einfluß dieſer Mengen läßt fich durch 24 Stunden und oft auch länger noch nachweilen. Ganz dasfelbe zeigt fich für das Auswenbdig- lernen und die Fähigkeit, Vorftelungsverbindungen zu bilden. Beſonders deutlich find die Störungen der Auffaſſungs- und Merkthätigfeit einfacher Sinneseindrüde, wie Zahlen, Buchftaben und Silben, die dem Auge nur eine kurze meßbare Zeit dar: geboten werden. Schon bei Alkoholdoſen von 30 Gramm (?/, Liter Bier) find bie Leiſtungen berabgefett, fehlerhaftes Lejen und Auslaffungen fowohl beim Lejen wie beim Reproduzieren fteigern fih. Bon vielleicht noch größerer praftifcher Bedeutung find die Verfuche über die Wirkung täglich regelmäßig genofjener Alkoholdoſen. Hier zeigt es fih, daß die Schädigungen der einzelnen Tage fich zu häufen vermögen, und daß diefe Schädigung beim Ausfegen des Alkohol mehrere Tage hindurch nachweisbar bleibt. Daraus cergiebt fich, wie Kräpelin mit Recht bemerkt, eine wiſſenſchaftliche

Gegen den Allohol. 521

Definition des „Trinkers“, die weit über die bes täglichen Lebens hinausgeht. Trinker iſt jeder, bei dem eine Dauerwirkung des Alkohol nachzuweiſen ift, bei dem alfo die Nachwirkung einer Alkoholgabe noch nicht verſchwunden ift, wenn die nächfte einfegt. Ihre volle Wichtigfeit erlangen diefe Ergebniffe aber erft dann, wenn man fie mit der Thatſache zuſammenhält, daß alle Verfuchsperfonen während der Arbeit feine Empfindung von der Herabjegung ihrer Leiftungsfähigleit hatten, fondern im Gegenteil gut und leicht zu arbeiten glaubten. In diefem, die thatjächlichen Ver: haltniſſe verfalſchenden Gefühl liegt die eigentliche und größte Gefahr der Alkohol⸗ wirkung. Sie täufcht das Ermüdungsgefühl hinweg. Und diefe Vorfpiegelung einer in Wahrheit nicht vorhandenen erhöhten Leiftungsfähigfeit Hat vor allem zur Verbreitung der Anſchauung von der „Närkenden” Eigenfchaft der alkoholiſchen Getränfe beigetragen. ‚Gerade diefe Fähigkeit, die Unluftgefühle in Luftgefühle zu verkehren oder fie doch weniger fühlbar zu machen, nicht bloß über Ermüdung, fondern auch über Hunger: und Durft:, Hitze- und Kälteempfindungen, Trauer und Freude binwegzutäufchen, enthält, wie Dr. Grotjahn in feinem eingangs erwähnten Merfbüchlein ſehr richtig fchließt, die Verurteilung der alkoholiſchen Getränke als Nahrungsmittel, denn es geht daraus hervor, „daß fie ihren Ruf weniger einer wirklichen Zufuhr von Nährwert als ihrer rein geiftigen, das körperliche Bedürfnis nicht befriedigenden, fondern übers täubenden Wirkung verdanken. In der nämlichen Überlegung liegt aber aud zu: gleich die volle Rechtfertigung des Alkohols als eines Genußmittels! Nichts wäre verlehrter, als aus der Thatfache, daß der Alkohol hauptſachlich auf die fubjeltive Empfindung Einfluß Hat, auf feine Überflüffigkeit zu ſchließen. Denn gerade bie fichere und fehnelle Herbeiführung einer euphoriſchen Stimmung macht ihn zu einem fo audgezeichneten Genußmittel. Und die Genußmittel, die dem Menfchen zur Ber: fügung ſtehen, find denn doch nicht fo zahlreich, daß man bloß deshalb eines derſelben falten Herzens opfern bürfte, weil einzelne Individuen Mißbrauch damit treiben.” Daher verwirft Dr. Grotjahn die Forderung der abfoluten Cnthaltfamteit; bie Menſchen könnten vielmehr froh fein, „diefen Luftbringer und Unluftabftumpfer er: funden zu haben“, der deshalb nicht weniger ein Kulturfortfchritt bliebe,” weil fein Genuß, wie jeder Genuß, in Mißbrauch ausarten kann.

Man braudt alfo nicht, wie der fürzlich verftorbene Pettenkofer in feinen legten Lebensjahren, ober wie Forel, der 3. 3. energifchfte Vorfämpfer der vollftändigen Enthaltfamfeit, der u. a. auf dem Kongreß die Thefen aufftellte, daß die Einführung altoholfreier Getränke in Wirtichaften gefordert, ſowie aus allen ſtaatlichen Anftalten die geiftigen Getränke verbannt und durch alkoholfreie erfegt werden müßten, bebingungslofer Abftinenzler zu fein. Diefe Forderung brauchen mir nur, wie Wilhelm Bode in jenem Gegenmwartartifel unter der Spigmarle „Dürfen wir noch Bier und Wein trinfen?” ausführt, in erfler Linie an wirklich Trunkfüchtige zu fielen: Säufer find Kranke, in Trinkerheilanftalten müffen fie als ſolche behandelt werden und bis zur völligen Heilung zu dauernder Enthaltfamfeit in der Kur verbleiben. Die Anftalt zu Elliton in der Schweiz hat es dahin gebracht, daß zwei Drittel ihrer Patienten auf die Dauer geheilt find. Ferner geht die Enthaltfamfeitäforderung an alle, die Trunkfucht zu fürchten haben oder fonft vom Trinken erheblichen Schaden fpüren. „Wer bei ehrlicher Selbftprüfung findet, daß auch der mäßige Genuß ihm nicht zuträglich ift oder daß er Gefahr läuft, an den Alkohol feine Freiheit zu ver- lieren, der muß eben ben mäßigen Genuß auch aufgeben.” „Drittens geziemt ſich bie

622 Ä Gegen den Alkohol.

völlige Entbaltung für die, die unter dem Einfluß des Alkohols unrechte Dinge thun, vielleicht Verbrechen begehen.” Viertens follen enthaltſam alle bie fein, deren Pflicht es it, „andern den Berzicht leicht zu machen”, „Zaufende von Frauen haben jchen ihr Schickſal bejammert, weil ihr Mann trinkt, vielen von ihnen wäre geholfen worden, wenn fie ſelbſt tapfer das Beifpiel völligen Verzicht vorgelebt hätten.” Und endlich eben ift von der heranmwachjenden Jugend jeder Alkohol fernzuhalten.

Für alle andern genügt bie eine Forderung: Maß halten! Die Uninverfitäls: profefjoren Morig in Münden und Ziehen in Sena find nach forgfältiger Prüfung zu bem Ergebnid gelommen, daß eine halbe Flaſche leichten Weines oder ein Liter Leichten Biere das zuläjlige Tagesquantum Alkohol für den gefunden Mann darftellen. Das entipricht etwa 30—40 Gramm abfoluten Alkohole. Bei ſchweren Bieren und Weinen würde das zuträgliche Quantum ziemlich um die Hälfte zu verringern fein. Für erwachlene Frauen wäre wiederum nur die Hälfte des für Männer Yuläfiigen zu geftatten. Menjchen, die das 60. Lebensjahr überjchritten haben, brauchen ſich feinen bejonderen Zwang aufzuerlegen, alten ‘Leuten „befommen alkoholiſche Getränfe und gerade die Tonzentrierteren, in der Regel gut.“ Dr. Grotjahn verwirft ferner den regelmäßigen Genuß altobolifcher Getränte bei der Arbeit wie bei den Mahlzeiten, betont aber ausdrüdlich dabei das Regelmäßige. Als regelmäßiges Getränk betrachte man Wafler, Kaffee und Thee. Das Leitungswaſſer der Großſtädte bat ganz unverdientermaßen einen ſchlechten Ruf. Es ift fogar beſſer ald das Brunnenwaſſer in den Dörfern der norddeutichen Tiefebene und wie das Quellwaſſer der Gebirgs⸗ gegenden völlig Feimfrei. Der Kaffee ift mehr als Erregungsmittel nach guten Mahl: zeiten von Wert, er Hilft die Trägheit und Schläfrigfeit überwinden. Den ärmeren Bevölkerungsſchichten ermöglicht er, mit den billigften ftärfemehlbaltigen Nahrungs: mitteln, wie Kartoffeln und Brot, auszulommen; doch verichuldet er dadurch auch jenen Zuftand der Überarbeit und der Unterernährung, der heute bei einem großen Teil des ftädtifchen und Ländlichen Proletariat3 anzutreffen if. Für das bisher beſte Erſatzmittel alkoholiſcher Getränke erklärt Dr. Grotjahn einzig den Thee. Gegen ein audgiebigered Genießen von Alkoholien bei feftlichen Anläffen hat aber auch er ebenjo: wenig einzuwenden, wie Bode, der ein gelegentliches ftärfere® Heranziehen dieſer willlommenen „Betrüger“ des grauen Lebens und „bequemen Slufionsfabrifanten” gleichfall8 für ganz berechtigt erklärt. „Der Lebensgenuß ift fein Unrecht, und es iſt fein Unrecht, Bier und Wein zu genießen. Aber eben: genießen!” Dazu gehört, dab man fi ihrer durch Wochen und Monate auch einmal ganz enthält, dann werden wir fie gerade bei guter Gelegenheit mit umfomehr Freude genießen. Und dann könne es unbejchadet der Geſundheit fogar einmal in größeren Mengen gefchehen. „Es find weniger medizinische Gründe als folche äfthetifcher Natur und der Rüdfichtnahme auf eigene Würde und die Empfindungen der Mitmenjchen, die eine Beraufchung biß zur mehr oder weniger ausgeprägten Sinnlofigfeit verbieten. Die akute Alfoholvergiftung, als welche fich der Rauſch vom mebizinifchen Geſichtspunkt aus darfiellt, wird nämlich in der Regel von menschlichen Organismus fpurlos überwunden.” Nur Wiederholungen in kurzen Zwiſchenräumen haben eine ziemlich ſchnell eintretende dauernde Schädigung im Gefolge.

Selbft der fonft fo alkobolfeindliche Profeſſor Kräpelin jagt: „Ohne Zweifel fann man im intimen Kreife und unter lebhaften Menjchen die Anregung durch den Alkohol ſehr gut entbehren. Dagegen wird die Gewohnheit größerer, nach Zufall zufammengemwürfelter gejelliger Vereinigungen kaum auf ein Mittel verzichten dürfen,

Die Ausftelung des Vereins ber Berliner Künftlerinnen. 523

welches den Einfilbigen gefpräciger, den Derlegenen ſelbſtbewußter madt und bie ftarfe Reibung vermindert, die notwendig den Verkehr einander innerlich fernftehender und gleichgiltiger Menfchen erſchwert.“

So tönt noch aus dem finftern Chor der Ankläger, die in jenen Apriltagen dort zu Wien im großen Mufilvereinsfanle wo man finnigerweife den Kongreß verfammelt hatte dem Alkohol, diefer „Pet der modernen Menfchheit”, das Grab: lied grollten, eine freundliche Weife Herüber, fchüchtern zwar und nüchtern und in etwa vermindertem Alkord, aber altvertraut: „Der Wein erfreut des Menſchen Herz!” Nur foll es möglichft leichter Landwein fein.

Er

Die Anstellung des Fereins der Berfiner Känfferinnen.

Bon R. von Ruersivald. Rachdrud verboten. ze

T- den Sälen der Kunftafademie Unter den Linden 38 bat ber Verein der + Berliner Künftlerinnen und Kunftfreundinnen feine diesjährige Ausftelung, die 17te in den Jahren feines Beſtehens, eröffnet. In gefchloffener Gruppe treten bie Berliner Künftlerinnen bier vor die Öffentlichkeit und zeigen aufs neue, was fie zu leiften vermögen, welche Fortfchritte fie gemacht, welche neuen Kräfte fie getvonnen haben. Zweifellos if eine ſolche Ausftelung, die fi an bie Kritik und das Publitum wendet und eine laute Meinung über ftillgewachiene Arbeit verlangt, grade für Frauenſchaffen, dad fo leicht in engem Kreife bleibt, das ſchon bei rein dilettantiſcher Berhätigung Staunen und Wohlwollen erregt und dadurch leicht Selbfizufriebenheit und Einfeitigfeit auflommen läßt, von unberehenbarem Nugen. Und je ftrenger bie Arbeiten gewertet werden, je mehr man heute von den künſtleriſch thätigen Frauen verlangt, defto ftolzer dürfen fie auf das Errungene zurüdbliden fie felbft haben es ſich erfämpft, daß man beginnt, Anforderungen an fie zu ftellen und fie mit anderm Maß zu mefjen, als bisher; denn nicht darauf fommt es hier an, daß das Streben einer einzelnen, ungewöhnlich begabten Frau Anerfennung gewinnt das ift nicht? Neues, ſolche Ausnahmen hat es zu allen Zeiten gegeben —; hier handelt es fi darum, dem Geſamtſchaffen der vielen, die -fih Heute der Kunft widmen, Achtung zu erzwingen und dur Kritif und Selbftzucht dad Niveau des Könnens zu heben.

Von diefem Geſichtspunkt aus darf die Ausftelung nur als eine durchaus erfreuliche bezeichnet werden. Sie zeigt, daß der Fünftferifhe Ernft in beftändigem Wachen ift, daß die Künftlerinnen es gelernt haben, fich nicht jedem fremden Einfluß ſchwanlend hinzugeben, fondern jelbftändig die Natur zu betrachten, um ihr in mübfamen, ernftem Studium das abzugewinnen, was jeder erft aufs neue für ſich erringen muß. Sie zeigt und das ift das Gute an ihr daß die Künftlerinnen auf dem rechten Wege find, auf dem fie vorwärtsfchreiten müflen, um etivas

524 Die Ausftelung des Vereins ber Berliner Künftlerinnen.

wirklich Gutes zu fchaffen. Und bier fegt auch die Kritif ein: die Malerinnen bürten es nicht vergeffen, daß dieſes wirklich Gute, von Ausnahmen natürlich abgeſehen, für die Geſamtheit noch nicht erreicht ift. Verharren fie bei dieſen Vorarbeiten, dieſen mehr oder minder gründlichen Studien oder dem Leben abgelaufchten Skizzen, jo kommen fie in Gefahr, in ftehendes Waffer zu geraten und, beiten Falls, nette Genre: bilder und verfäufliche Stillleben zu malen. Und fie wollen doch mehr. Hier aber it, 3. B. in Landichaft und Porträt, man möchte jagen: noch Raum, Raum für ftarfe Individualitäten, die nicht mit den Augen anderer Leute ſehen, jondern mit eigenen, und den Beichauer zwingen, die Kraft und Wahrheit ihrer Betrachtungsmeile anzuerkennen. Sold einen eigenen Blid hat die bier nicht vertretene Vilma Parlagbi für eine Frau in ungewöhnlichem Grabe.

Unter den Porträtiftinnen, die diefe Ausftellung beichidt baben, find Namen von gutem Klang, wie Sabine Lepfius, Dora Hig und Betty Wolff, am meiften hervorzuheben. Sabine Lepfius bat ihr, jchon von der Sezeffion Her befanntes Kinderbild gefandt, das in Farbe und Auffalfung vornehm und ruhig wirft. Es jtedt von allen am meiften reife Kunft und ſelbſtſichere Perfönlichkeit darin. Weniger glüdlih ift Dora Hitz mit einer Mutter und ihrem Kinde vertreten. Das etwas Verſchwommene, Farblofe des Bildes ift ohne den intimen Zauber, ber ihre Arbeiten jonft auszeichnet. Betty Wolff ift ſehr fed und ficher in der Zeichnung, mit wenigen Strichen weiß fie lebendig und anmutig eine Geftalt feitzubalten, und diefe unbefümmerte Technik ift ein Hauptreiz ihrer leichten Paftellffizzen. Eine tüchtige und feinfinnige Arbeit bat auch U. Loewenſtein in dem Bildnis einer alten Dame gegeben, desgleichen C. E. Fifcher in dem Porträt von M. von Keudell, und Beyme:Golien in dem lebensvollen Bild eined jungen Mädchens. Auch Mens: bauen und Madeweiß haben Arbeiten gejandt; doch viel neue Leben, neue Talente für das Porträtfach find unter den andern Arbeiten der Künjtlerinnen des Vereins nicht bemerkbar. In ähnlicher Weile fehlt e8 an ftarker, perfönlicher Aus- brudsweile, an friichen Kräften auf dem Gebiet der Landichaft. Altbewährte Namen, wie M. von Keudell, P. Bonte, Lobedan und M. Kirfchner find auch Bier wieder mit anmutigen und ſchön empfundenen Stüden vertreten, auch E. Stort hat ein paar frifche Bilder gefandt. Doch die Mehrzahl der Arbeiten erhebt fich eben nicht über das Studienhafte, das als notwendige Vorausſetzung reifer Kunſtwerke wohl zu begrüßen ift, aber nur einen erften Schritt auf einem langen Wege bedeutet.

Sehr reich ift dagegen die Auzftellung mit wirklich trefflichen Stillleben beichidt, die in Technik und Aufbau zum Teil meifterhaft find. Aus der Fülle der Künitlerinnen, die fich auf diefem Gebiet bewährt haben, fünnen nur einzelne hervorgehoben erben. Hedinger, Lobedan, Lehnert, Iverjon, Rofe haben Arbeiten eingefandt, die ſich den beften ihrer früheren anreihen, beſonders Hedinger ift mit zwei ſehr tieffarbigen und wirkſamen Innenräumen vertreten, die ihr großes Können auf neue betätigen. Hier fei auch H. Weiß mit ihrem etwas ſchweren Stillleben erwähnt, das doch durch feine reife Technif auffällt. Die Stilllebenmalerei ift ein ſchon lange angebautes Feld, dad der Begabung der Frau recht eigentlich zu entjprechen jcheint. Es gilt auch Bier in ernfter Vertiefung neue Ausdrudsmeifen finden: 9. Weiß ijt auf dem Wege dazu. Flott und kräftig find zum Teil auch die Aquarelle, die eingefandt find. Unter den Gentebildern find die beiden bübjchen Arbeiten von U. Roeſtel zu nennen.

Das große Gemälde von EC. von Rappard bat 1900 in London bie Goldene

Die Ausftellung des Vereins der Berliner Künftlerinnen. 525

Medaille erhalten. Es ftellt ein mufizierendes Mädchen dar, das vor einer alten Frau figt, die ihr beglüdt lauſcht. Es fehlt dem Bilde an organifhem Zufammenhang und fräftiger Einheitlichkeit; gute Einzelheiten find vorhanden. Paczka-Wagner ift mit zwei größeren Phantafiebildern vertreten, die die Heitere Lebensfreude entichwundener Beiten barzuftellen beftimmt find, doch zwingen fie nicht in den Gebankengang der Künftlerin. Es ift ſchade, daß fie Feine ihrer Zeichnungen oder Rabierungen ein geihidt Hat. Käthe Kollwig bat ihre vorzüglichen Rabierungen zu den Webern geſandt. Sie ift eine ftarke Kraft, die in ihren Leitungen weit über dem Durchſchnitt ſteht, und es iſt erfreulich, daß fie ihre Kunft durch Unterricht übermittelt. Die Arbeiten ihrer Schülerinnen laſſen den großen Einfluß ber Lehrerin erfennen und zeichnen ſich durch befonnene Gediegenheit aus; die Radierung von Wegener ift doch zu ſtizzenhaft.

Unter den plaftifchen Arbeiten, die nur in geringer Anzahl vorhanden find, zeigt 9. Duitinann am meiften Begabung, Leben und Bewegung feftzuhalten. Die Büften von D. Beer find ziemlich fonventionel. Wislicenus ift mit zwei getönten Reliefs vertreten, bie ſich durch Lieblichkeit der Erfindung und Behandlung auszeichnen. Ihre Arbeiten werden immer gefallen, grabe weil fie ein wenig weich find. Auch hat fie zweifellos großes Geſchick, doch ift den deutſchen Bildhauerinnen eine ähnliche Kraft zu wünfden, wie fie in Mrs. Cadwallader Guild, die in diefen Tagen in Berlin eine Separatausftellung eröffnet hatte, hervortritt.

Ein Teil der Ausftelungsräume ift für die Schilerinnenarbeiten beftimmt, die nad den verſchiedenen Lehrklaſſen eingeteilt find und geeignet ericheinen, einen Über- blid über die Lehrkräfte und Methoden zu gewähren. Diele der beften Künftler und Künftlerinnen Berlins gehören zu dieſen Unterrichtenden, und bie Erfolge, die fie erzielen, find durchaus anerfennenswert. Die Leiftungen von K. Kollwig wurden ſchon erwähnt; auch M. Thun in der Blumenmalerei, Hoenerbach im Porträtfach dürfen auf den Studiengang ihrer Schülerinnen mit Befriedigung bliden. Unter den lehrenden Malern fein M. Buſch für Zeichnen nah Gips, Uth für Landfchaften und Figuren und Brandenburg für Akt erwähnt. Legterer führt allerdings feine Schülerinnen in einen kraſſen Naturalismus ein, der auch für den ernfteften Studien: gang nicht notwendig fcheint. Viele der Akte wirken fogar brutal und in der Abfichtlich- keit manieriert, was für Lernende gewiß nicht ohne Gefahr ift. In dem legten Saal befinden fi die für die Verlofung beftimmten Bilder und funftgewerblichen Gegen: Hände, unter denen fehr fchöne und tüchtige Arbeiten vorhanden find.

Sp zeigt diefe Ausftelung in recht erfreulicher Weife, wie auf allen Gebieten die Künftlerinnen fih im ernfler Arbeit um ein immer vertieftered Können, immer größere Sicherheit bemühen und wie fie es gelernt haben, die Sehnfucht, ſich felbit zum Ausdrud zu bringen, zurüczubrängen, folange fie nicht ganz ihre Ausdrudgmittel beherrichen. Das ift ein Fortfchritt, ein großer Fortfchritt, der zeigt, wieviel Ernſt und Befonnenheit unter ihnen lebt. Unter den Bildern findet fi mehrmals bie ſymboliſche Darftellung einer Frauengeftalt, die mit fehnend erhobenen Armen der Sonne entgegenfteigt. Daß die Frau das in Wahrheit thut, braucht nicht mehr befonders verkündet zu werden. Sie fol nur ftill und unverdroffen weiter Mimmen, bis fie im Sonnenfchein fteht, ben ihr dann feiner mehr nehmen kann.

A

Her Sinzige.

Roman

Nachdruck verboten. en

De April bat den Mai eingeholt” jagen die Leute in dem kleinen Harz: fleden Blumerode und arbeiten tüchtig in den Gärten und Feldern. Man ift an ein ſolch vorzeitiges Knoſpenbrechen und Grünen und Sprießen gar nicht gewöhnt, ſonſt geht's fein langfam, diesmal mit Gewalt. Und der Erdgeruch ift kräftig, und bie Vögel zwitſchern, die Quellen riefeln, die Sonne meint’3 gut, und ber Himmel bat, wenn nicht juft ein Schauer befruchtenden Regens berabraufcht, ein graublaue® Ausſehen und flatternde, weiße Wölkchen. Die Sonnenftrahlen laufen überall bin, zeigen erbarmungslos erblindete Fenſter, herabgefallenen Bus der Wände, ver: nadhläffigte Wege. Man muß fchleunigft daran gehn, die Spuren der Winterfälte und Näffe zu befeitigen, will man nicht in den Nuf läffiger Leute kommen. Die ziegelroten Dächer auf den niedern Häufern fehn freundlich aus, die Berghüöhen, die gepubert im Winter erfcheinen, nehmen braunfhwarze Färbung an, bald wird fie fich in einen grünzarten Echein verwandeln. Der Schieferbevedte Kirchturm bat ein blendendes Bliten, und die dradjen- artige Windfahne auf dem hochgelegenen, altersgrauen Schloß jchimmert in Silber⸗ glanz.

„Werd Frühjahr met Macht,“ fliegt es im platten Dialelt von Mund zu Mund über die Heden bin, hinter denen man mit Spaten und Haden arbeitet, und überall find frifche, früh: liche Kinderftimmen laut.

. Der belle, ſchnelle Mühlgraben, der aus dem Gebirgsfluß gefpeift wird und in Win- dungen durch Blumerode läuft, hier eine Mühle, da eine Tuchfabrif treibend, ſcheint es

von

&. Vely.

nr

noch eiliger als ſonſt zu haben. Er iſt voll bis zum gemauerten Schutzdämmchen, das ihn von der Straße abſchließt. Vor dem Hauſe des Holzherrn Wagner, wo eine uralte, prächtige Linde ſteht, macht er eine kühne Biegung, er hat vorher viel Fall gehabt.

Mit raſchem Schritt kommt eine zierliche, blonde Frau über die Schwelle des freunt: lichen Baues; fie trägt eine Harfe und ftellt fie an den Stamm bes Baumes, um den im Nund eine Bank läuft. Da, wo die meilte Sonne hinſcheint, fitt ein junger, blafier Menſch von Deden umbüllt, die Füße auf einem Schemel in einem Pelzſack geborgen.

„Ach, Mutter”, fagt er lächelnd, „ſchon?“

Sie nidt eifrig. „Sa, mein Junge, das wird bei dem Wetter nich’ zu lange dauem, baß eins heruntergeſchwommen fommt, Kopf über, Kopf unter. Eie fehrein und grölen ju Ihon die Welt wieder voll!”

„Sie find luſtig!“

„Eben darum! Da liegt denn dag NRader: tüg bald au drin und ivenn hier nid' gleih aufgepaßt wird, denn kann's jchon Matthäi am lebten fein! Eh ſo'n Weib ficht, daß feine Brut fortgeſchwommen is, is meiſtens zu ſpät.“

„Hätteſt zählen ſollen, wie viel hier bei Wagners Linde ſchon rausgeharkt ſind, Mutter!“

„Hätt' ich viel zu duhn gehabt, mein Junge. Da reichen ein Hundert in all den Jahren nich! Aber, was mich immer noch wundert, daß dazumal keiner dageweſen is, als die lüttje Ida, der Danehlſchen ihr Blondkopp ſo elendiglich ertrunken is. Das war'n nüdlich Balg und konnte ſo artig:

Der Einzige.

Tag, Wagners Tante‘ jagen. Ya, war nu ſcheußlich.“

Das Wagner'ſche Haus, dem beide den Rücken drehn, hat belle Fenſterſcheiben; die Sonne ſpiegelt ſich darin. Sie leuchtet auch auf der lichtgrünen Verputzung der Wände und der tiefer grüngetönten, hölzernen Ver— ſchalung. Aus einem Erdgeſchoß mit acht Fenſtern Front, einem Oberftod und einem Halbftod befteht das Haus, auf dem Bäder: gerechtfame ruht. Aber der Eigentümer, Konrad Wagner, hat fih mit dem Gewerbe lang ſchon zur Ruh gefegt und hat nur das Ehrenamt eines Holzherrn in der Gemeinde inne. Es befteht darin, daß er bie Über wachung von fürftlihen Schenkungen von Wäldern an die Gemeinde Blumerode hat und die Verteilung des Holzertrages gegen Schlaggeld an die Gemeindemitglieder. Ganze und halbe Holzftellen ruhen auf einzelnen Häufem. Das Schloß mar Witwenſitz welfiſcher Fürftinnen, die verſchiedentlich ſolche Stiftungen gemacht zum Kummer des Fiskus, dem viel Weitläufigleiten daraus er- wachſen und ber ſchon lange an der Ab: löſung arbeitet.

Ylütentveiße Vorhänge an den Echeiben veden davon, daß es aud im Innern des Haufes bligt und blinkt. in geräumiger Hof und ein großer Garten mit vielen Obſt⸗ bäumen und Gemüfeland gehört zu dem Wagnerſchen Anweſen, ein ftolges im Ort. Mit al der Eorge für den Befig, der Land⸗ wirtſchaft, Gartenbeftellung und Viehzucht hat Frau Antoinette Wagner troß zweier Dienft- boten und vieler Tagelöhner nod genug zu thun, denn ihr Mann fümmert fi nicht gern darum. Gie hat ein freundliches Gefiht, das trog ihrer fünfzig Jahre eine Runzeln aufweiſt, Sanftmut und eine ftille Trauer bliden aus ihren großen Augen. Eie trägt ein einfaches Wollkleid, ein Meines, ſchwarzes Spihtzentuch ift über ihre Haare gebunden, die

das

fi) Hinten zu einem Flechtenknoten türmen, :

der noch reichlich ſchwer iſt. Ihr Kopf ift leicht nach vorn geneigt und ihre Schultern find aud ein wenig gebüdt; aber wenn fie

Energie überfommt, richtet fie fich gerade auf, .

und dann ſieht's aus, als würfe fie eine Laſt ab.

627

Sie hat das Rettungsmittel, das fih fo jedem Vorübergehenden auch glei zur Be: nügung bietet, nod immer mit der Rechten geftügt, nun fegt fie fi einen Augenblid neben den Sohn.

„Haſt's auch gut fo, mein Frige?“

„Ja, Mutter.”

Sie ftreichelt ihm leife bie weiße, blau: abrige Hand mit den langen Fingern.

„Glaub's ſchon, hat mir immer weh ge dahn, daß du fo infigen mußteft, ben langen Winter.” \

Es ift ein Zug in dem ſchmalen Geficht des hübfchen, blonden Menfchen, deſſen blaue Augen ganz die der Mutter find, der zeigt, daß ibm das Bebauertiverden peinvoll iſt. Sie verfteht das fofort. J

„Na, haſt ja auch Abwechſelung gehabt mit Leſen, und Leute ſind gelommen. Un' die nübliche Mile hat dann mit dir gefpielt, und ihr habt mandmal wie doll gelacht. Und guten Toppfaufen habe ich auch gebaden, und ihr hat er geſchmedt, das fonnte man ja wohl merken.”

Der leichte, rote Echein auf feinen Baden vertieft fi ein menig.

„Dag, Fru Holzherrn!“

nDag, Diehlihe!“

Eine Frau, die Hade über der Schulter, die Röde kurz gefchürzt, ein braunrotes Woll⸗ tu, unter dem ein paar Eträhnen ſchwarzen Haares herborquellen, über dem Kopf hinten jufammengebunden, ift mit ſchwer fchlürfen- den Tritten herangefommen und fteht vor ben beiden ftill.

„Here Fritzelen auch mal wieder draußen? Das is aber recht. Geht es denn nu alles teile befier? Ja, fo'n Einziger, kann mich ja denken, das macht Sorgen, wenn da nid) alles in Ordnung is mit das Gefundfein. Was unfereiner iS, wo neune rumheulen, da fümmert man ſich nid ville um. Das wächſt auf, un’ is gefund. Man bloß, daß fie immer hungrig find. Es is ungleich auf de Welt verteilt, Fru Holzherrn, Sie mit das ı Shöne Wefen Eönnten mehr brauden, un’ haben bloß fo'n Einzigen, un’ is 'n Eorgen= find.” Und das grobfnodige Weib grinft dabei. Die Mutter fieht ihren Cohn an; er ı hat wieder den gepeinigten Ausdruck.

528 Der Einzige.

„Diehliche, da fteht noch ettvas von Mittag, wenn Sie fih das wärmen will?”

„Ab, Fru Holzberrn, wie woll ih nid wenn Sie fo gautmütig find! Ne, Sie beide! Der Herr Holzherr au! Geſtern is er mid noch begegnet un hat gejagt: Diehliche, Sie weiß ja, meine Frau giebt gerne. Hol’ Sie fih man ab und an 'nen Stüd für Ihre Bälger!”

Über das Geficht der blonden Frau huſcht ein Schatten, fie wendet fih ab und geht dem Haufe zu, und die andere latſcht mit ben großen Männeritiefeln Hinter ihr ber.

Drüben am Nachbarhaufe fteht der ver: trunfene Gigarrenarbeiter Kracke neben ber Schulzeſchen, die eine Witwe ift, aber nicht im Tagelohn arbeitet, ſondern einen Kleinen Fiſch⸗ handel hat und, wenn's vorkommt, auch mit Wild umhergeht.

„Nu, ſieh, die Diehlſche, holt ſich all wieder was!“

„Was ſoll ſie nich?“ grinſt Kracke.

„Un' die Frau is ſo gut.“

„Der Holzherr is das ja früher auch gegen die Diehlſche geweſen, wie ſie noch jünger war.“ |

Die Schulzefhe hat ein hübiches, aber freches Geficht und eine volle, ftattliche Figur. Eie trägt ein Wollkleid und ein leuchtend rotes Tuch darüber kreuzweis gebunden. Sie ftreicht mit der Hand über die blaumweiß ge- ftreifte Schürze.

„Ach, was die Leute jagen!”

Krade fchiebt feine Heine ‘Pfeife, auf der das Bild eines Frauenzimmerd mit einer Marketendermütze ift, in den linfen Mund: winkel. Er hat eine Joppe an, die man früher in befferem Zuftande an dem Heinen Major, dem Bürgermeifter von Müller, gejehen bat, und ein feuerrotes, ſchmutziges Halstuh, das ihm ein durchreiſender Künftler gelafien hat, dem er feinen Koffer nah dem Bahnhof trug.

„Hihihi! ja, die fagen ja nu ville; Schultzeſche, die ſagen au von Sie —“

„Watt denn, watt denn?“ fragt die Frau und ſtemmt beide Arme in die Seite. „Watt ſoll'n das heißen?“ |

„Ih, gar nie nich! ch meine man jo. Un’ der Knaſter, den Sie mich da mitgebradt

"haben von Münzbaufen, der ſchmeckt nad

mehr, meine ich man.“

Sie ladt. „Sch geb’ ja öfter bin und Rrade, wenn die Leute was fagen, was gebt’3 mir an. Sch habe mein Ausfommen. Un’ feine neune, wie die Diehlſche wer ich fo was auflieft! Un’ feinen kranken Sungen!" Dabei fliegt ein Blick nach ber Zinde hinüber. . „Mit der Fru Holzherrn taufch ih noch lange nih! Ne!“

Krade reibt fi die Hände. „Die bat ihr Päckchen! die hat's o Semine. Die hars ordentlih. Un’ wenn fie auch nie nicht ge: zanft un’ gekrankt hat, die weiß, was Er für einer geweſen id. Bücherd un’ Spazierengeb’n' Un’ die Semmeln Tonnte die Frau baden, un’ das Brot der Gefele. Büchers! gar in 'nc Sorte Sprachen, die Fein omtlider Menſch verſteht, ſagte Martina Anton, der ’mal ’rein- gegudt hat. Un’ Epazierengeb’n in „Wald und auf der Haide, da fuch ich meine Freude“ hahaha! Un’ Begleitung: Das rote feiden: Taſchendauk aus der Nodtafche, denn mußte die Diehlſche Beſcheid und ging nad Beeren, oder die Pottbergen da brüben aufm Brint; na, mid fehlen die Namens ale! So'n Echwerenöter. Aber immer angeſeh'n! Der Herr Sanitätörat un’ der Amtmann, die figen ja ftundenlang mit'm auf der Bank da. Son Schwerenöter! Schulzefche, un’ die Leute fagen, die Stab’ ließ ’3 Maufen immer noch nid” ja, das fagen je!" Und er Tneift das eine Auge zu und blinzelt fie mit dem andern liftig an.

‚Watt geht mir's an vor mir —“ fie macht eine fchlenfernde Handbewegung.

„Ih ja, ih ja!“

„Woll'n Se en Wachholder? Warten Se mal!“

Sie fchnellt hinein und fommt mit Glas und Flaſche aus dem kleinen Haufe zurüd, zwiſchen deſſen Fenſtern ein Scdilb jtebt: „Witwe Schulte, Obſt- und Fiſchhand- lung.”

Krade ſchmatzt laut: „Das kann 'n Men: chen wieder auf die Beine bringen!”

Die Frau nidt, aber fie fcheint ganz we anders mit ihren Gebanfen.

„Aufn Holzberrn find Se nih gut iu iprechen, Krade! Warum eigentlidh nich?“

ur 2e/ E

Der Einzige.

Er dreht das Glas um, zum Zeichen, daß fein Tropfen feines Inhalts drin geblichen ift.

„Warum? Darum! Schultzeſche, das is 'ne alte Sache. Mal konnte ich in 'ner Fabrik in Münzhaufen 'ne befiere Stelle friegen, bloß aufn gutes Wort vom Holzherrn wär's an: gelommen. Meinen Sie, daß er's gefagt hat? Könnt er nid die Wahrheit, immer bie Wahrheit. Un’ Appels Louife ihrer Mutter bat er aud abgeraten, daß fie mir das Mädchen gab. Ne, Lieber nady Hannover in Dienft. Un's Mädchen war mir gut.”

„Na, Krade! Das wär auch 'n Stüd geweſen.“ J

„War doch 'n hübſcher Kerl dazumal.“

Aber —“ fie macht die Bewegung des Schludens.

Wer weiß denn, ob ich mir nich’ geändert hätte?”

„Ne ne!”

„38 auch nu einerlei, Schultzeſche. Brannte⸗ mein is befier wie MWeiböleute!”

Die Witwe lacht. „Schade, Krade, ſchade!“

„Was denn —“

„Ich meine man, daß Sie kein ordentlicher Menſch geworden ſind —“

„Sagt der Bürgermeiſter auch Immer, was überhaupt ein gemeiner Mann is, ber es gut mit die armen Leute im Sinne hat. Krade, Krade, der Branntewein Herr Bürger meifter, fag ich denn, ich hab's von Vatern, dem fein Lieblingslied war auch ſchon: Schnaps, Schnaps, Schnaps, du edeles Ge- teänfe.”

nDag, Rrade, ih muß rein —“

„Na, denn Dag auch —”, fie wendet ſich Turz und gebt, und er fteht noch ein Augen« blidchen und gudt nah dem Wagnerſchen Haufe Hinüber, dann fehnalzt er mit der Zunge und ſchlägt den Weg in eine Nebengafje ein.

Fritz Wagner bat fih damit befchäftigt, einer Bachftelze zugufehen, die über bie Steine, dicht am Waſſer hergehüpft it. Wie das Köpfchen ſich dreht, das Echwänzlein wippt, die Beinchen ſich fegen, wie zierlich!

So ein Bachſtelzlein! er lächelt, ein Aufblitzen iſt in ſeinen Augen. Ja, und wie er den Kopf hebt, da kommt ſie drüben vom Pfaffengang herüber, faſt auch von Stein zu Stein hüpfend, denn da haben die Leute Wafch-

529

fäfler über den Weg bin ausgeleert. Ihr Kleid Hält fic hoch unb lacht und biegt den Kopf nad der Mutter hinüber, die ihr nicht folgen kann und ein wenig hilflos ift in ihrer behaglichen Fülle. Sie, an die er gedacht bat, fein Bachſtelzlein, die Mile.

„Mutter, hier! da! fo, fo geht's doch!“ ruft fie zurüd, und dann fieht fie ihn und trippelt noch fchneller heran.

„Big! Draußen bift du! bei dem ſchönen Wetter!”

Er fteht auf, ganz rot übers Geficht, die Deden fallen, und er verwidelt ſich faft in dem Fußſad.

„IH! ja freilih! Tag Mile! Guten Tag, Frau Steuerinfpektorin,“ und er macht eine ganz ehrfurchtsvolle Verbeugung. Mile büdt fih nad) den Deden.

„Laß doch, laß doch,“ murmelt er, „ich brauchte das doch gar nicht, aber die Mutter, du weißt ja! Sie ift immer fo ängſtlich!“

Mile lat. Sie ift braunhaarig, hat ein fraufes, natürliches Gelock und große, graue, fragende, lachende Augen, ein keckes Näschen und einen füßen, roten, ewig plaudernden Mund.

Sie trägt ein blaues Wollklleid und einen bräunlichen, nicht ganz gut figenden Paletot darüber. Fri hat einen Blid dafür, er fieht auch ftet3 die Mobeblätter mit an, die zu ber Journalmappe gehören.

Der Hut mit Federn und einer feuerroten Schleife figt fed auf dem braunen Kopfe. Und das weiß Frig aud, wenn Milchen Zehſe etwas abgetragen ober nur ganz einfach an= gezogen ift, nad ihr muß man doch fehen. Ihr fteht alles noch hundertmal befjer, ald den reihen Mäbchen ber teure Putz.

„Mütter haben immer recht, Fritz, wenn fie uns auch quälen. Was, Mamachen?“

Die Ungerebete ift endlich fo weit gelangt, Frig unter haftigem Atmen die Hand-zu geben.

„Das ift ja hübſch, Herr Wagner, daß Cie heraus können! Was fagft du, Mile, Mütter? Ach, fie ift ein Unband, ein rechtes Kind noch und doch ſchon fiebzehn Jahre. Ich mar fo viel gefeßter damals, fo fehr viel nein, bie Leute! Die reine Sintflut bier auf ber Straße. Ich muß es mal dem Herrn Bürgermeifter fagen, wenn ich ihm begegne.

34

Das ift recht,

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Da ift ja gar Feine Ordnung und Aufficht. Ich ſagte gleich zu Mile, wir wollten auf dem Damm drüben fpazieren gehn, aber bie muß am Mübhlgraben entlang!”

„Das ift doch auch ſchön! köſtlich der bat’3 immer eilig, immer was zu beftellen. Weißt du, Fritz Lals ob er in die weite Welt, direft ing Meer wollte —“

Fritz lacht. „Bis er dahin fommt! Er fließt ja erft in ein paar andre Flüſſe und gar in die gelbe Leine!”

„Ab ja, mein armer, fchöner, heller Graben! Fri, frag’ man nicht, wie die Heinen Flüſſe beißen, ich weiß es ja doch nicht, und wenn du's fagft, eraminiert mid) die Mutter. Und für die dumme Geographie hab’ ich nichts über ih mil doch auch nicht Lehrerin werden, twie fie war. Sch denfe, viel lieber ad nein, ich ſag's nicht. Du, haft du fchon den neuen, bübjchen Forftlandibaten gefehn? Steht dem die Uniform gut! Beckmann heißt er, fagt unfere Aufwärterin.”

„Kein, Mile! Er will aber meinen Bater befucdhen, fo viel ich weiß!“

„Deinen Vater, natürlich den Häufften Mann —“

„Mile!“ ruft die Steuerinfpeftorin ver: weiſend.

„So nennen doch die Leute den alten Wagner.“

„Den Herrn Holzherrn —“

„Ne, denn ſage ich ſchon Onkel Holzherr!“

Fritz nickt ihr zu. Sie ſpringt nach dem Rande des Grabens.

„Die vielen Stecklinge komm doch bloß! Die balgen ſich förmlich! Ach nein, bleib man da. Denn wenn deine Mutter das ſieht, daß du dich da herausgewickelt haſt! O je, da iſt ſie ja ſchon!“

Von der Diehl gefolgt tritt Frau Wagner aus dem Hauſe.

„Dank ock, Dank ock, Fru Holzherrn!“ ſagt das Weib unterwürfig.

„Schon recht!“ wehrt ſie ab und kommt mit ſchnellen Schritten unter die Linde.

„Da hat's der Fritz ja gut. Setzen Sie ſich doch, Frau Steuerinſpektorin. Mile, du ſiehſt mal wieder luſtig aus! Recht, mein Kind! Geh doch rein friſcher Zwiebel— kuchen, hol doch, die Hanne weiß ſchon, für

Der Einzige.

dich und die Frau Mama. Nein, Das duürien Sie mir nicht abichlagen, Frau Inſpektorin!“

Eie fpridt mit Haltung und ein wenig gezierter als fonft; fie weiß, mas ben Hono: ratioren des Orts zulommt, denn die Wagners fünnen ſich trog Befit und fonftigen Anfehnd nicht dazu zählen.

Dagegen bat die Steuerinfpeltorin, eine Witwe in Inappen PBerhältnifien, im ibrer ſchäbigen Eleganz etwas Patroniſierendes.

„Liebe Frau Wagner, immer friſch, immer thätig und rührig, Sie fieht man nid anders!”

„Da, wie joll man denn fonft die Stunden binbringen, Frau Inſpektorin? Ich bin nidt ſo aufgezogen, zwiſchen Büchern und gelehrten Dingen. Wir mußten ran an 'n Haushalt und die Zandwirtichaft; vier Scheitern war'n wir; daß ihr mal vor eurem zulünftigen Manne beftehen könnt, fagten Pater und Mutter immer.”

Mile ift wieder zurüd und hält einen Teller in der Rechten und führt mit der Linken bereit3 ein Stück Kuden zum Munde. Sie bolt Atem nad) dem erften Träftigen Biſſen.

„Komiſch, fürn Mann, den man nidt fennt, aufgezogen und ausgeftattet zu werben,” ſagt fie.

„Smilie!” vermweift ihre Mutter.

„Komiſch doch, doch!” beharrt das junge Ding. „So, wie 'ne Ware. Hab ich nicht recht, Fritz?“

„Gewiſſermaßen!“ beſtätigt der. „Dem Mädchen bleibt aber immer die Wahl —“

„Ach, Unſinn! Tante Wagner, ſag mal, haben dir deine Eltern, wolln mal ſagen, dein Vater, viel Wahl gelaſſen?“ Sie beugt den Oberkörper zurück, die Hände in die Seiten ſtemmend.

„Emilie!“

„Na, man muß ſich doch bilden, Tante —“

Die blauen Augen der Matrone nehmen einen ſonderbaren Ausdruck an. „Viel Wahl, Kind? Ja, was ſoll ich da antworten? An einem Sonntagmorgen kam Konrad Wagner nach der Aumühle zu meinem Vater. Ich war eben im Sonntagskleid, zwei Schweſtern in der Kirche, die andern in der Küche. Soweit war ich mit allem fertig, daß ich eben noch Sand auf die Diele ſtreute. Dazumal kannte

Der Einzige.

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man’3 nid) beſſer und war's fein heute ſoll's Hand über die andere „ja fo war's,

nich mehr fein. Ich bleib aber bei meiner alten Gewohnheit und bei den weißgefcheuerten Dielen aud.”

„Aber fo laß doch!” ruft Mile, „erzähl’ doch weiter fo was hör ich gar zu gern, Tante!”

Ein feltfamer Schein liegt über dem Ge- fiht von Fritzens Mutter. „So'n bißchen kannt' ich ja wohl Wagners Konrad, den. fie ‚den Oberflaufen‘ dazumals nannten, aber er batte fo mas 'n Bittſchen Angft hatt ich vorm. ‚Morgen, Jungjerchen‘, fagt er, ‚melde i8 es benn eigentlich von dem Aleeblatt?‘ ‚Sch bin doch Nettchen‘, und ich ärgerte mich, weil daß ih ja fühlte, daß ich rot wurde. Un denn ging er rein und id war mit'm Sand fertig und lief raus in Garten, wo id bie Kirhengloden hören konnte. Das hatt’ ich gerne. Dann machte mein Vater plöglih das Fenſter auf und rief: ‚Antonette" Wenn er Antonette fagte, dann hatte er was Befonberes, dann war er hochdeutſch. Denn vors allge meine wurde Platt in der Aumühle gefprochen. Un richtig war's fo. ‚Der junge Mann, Konrad Wagner, will dich zur Frau un ich fag’ Ja und Amen‘ fagte Vater.

Un diesmal wurde ich noch heißer, fudte ! Konrad an, konnt's aber nich ordentlich, und

dann faßte er mi an der Hand.

Wolln's mit einander verfuhen, was, Jungfer Netthen?‘ Ob ich überhaupt etwas geantwortet habe, weiß ich heute noch nicht. Co mas, das feinen Widerſpruch leidet, hat Frigen fein Vater damals ſchon gehabt. am Abend, als ich'n auf 'n Weg brachte, fagte er: ‚Das mußt ic ja beftimmt, daß heute eine Aumüllerfhe mid an’ Schlagbaum

Un;

'

bringen müßte ganz gewiß. Cine von .

den vieren.‘ ‚Un tie famft du auf mid? fragte ic.

‚Weil du mir in den Weg liefft und fo rot ;

wurdeſt.“

‚Wenn nun eine von den andern da geweſen wäre?‘

‚So ginge bie vielleicht mit mir; wer fann’3 wiſſen? Aber, mir bift du recht gelommen, die Reputierlichfte, das bift du doch von allen. Das habe ich nun hinterher gefehen!“”

Sie fenkt die Blide und ftreicht mit der einen

Mile. Nich wie in Büchern mit Liebes» geihichten, wo fie viele Worte machen. Das war bazumal unter unfereinen nid Mode.“

„Sie haben ja nun auch Glüd mit einander gehabt viel vorwärts gebracht”, fällt die Inſpeltorin ein, die inzwiſchen ſich den Kuchen bat ſchmeden laſſen. Mile hat das Eſſen ver- geflen; fie hörte mit vorgeſtredtem Stöpfchen zu und fagt jetzt: „Viel freie Wahl war das freilich nicht, Wagner? Tante. Aber, dazumal waren es auch andre Zeiten. Was, Frig, wir wir machen es ſchon nicht mehr fo. Wir wollen gründlich gefragt fein, oder beſſer noch, wir wählen ganz alleine.”

„Ja, das ja, dad!” erwidert er ver⸗ legen.

Mile achtet nicht darauf, fie beißt jegt mit verboppeltem Appetit in ben Biviebelluchen. „Prachtvoll, Mama, der ſchmedt anders, ala—" Ein Blid der Mutter unterbricht fie. „Frau Holzherr kann in gefülte Vorratsſchubladen

{ faffen, bei ſolchem Anweſen. Eine Witwe

als mein feliger Mann noch lebte, er war

; fo gut und ich mar glüdli mit ihm, auch

ohne fogenannten Reichtum”, fpricht die Witwe mit Würde. „Ich bin und war ihm fo dankbar!”

Und das ift wahr, fie hat es ihm jeden Tag gedankt, daß er fie aus unerquidlicher Gouver⸗ nantenabhängigfeit befreite. eine Launen und Grillen hat fie gebuldig ertragen. Nun ift ihre Hauptforge ihr Kind. Was foll ein- mal mit dem gefchehen? Lernen that Mile ungleich; ihr Kopf ift hell, ihre Finger find geſchidt, und eine unbändige Lebensluſt figt in ihr. Cie arbeiten für ein Tapifferiegefchäft in Hannover. Ein fehmaler Verdienft aber doch eine Meine Zubuße. Und den Damen des Ortes fagt Frau Ditilie Zehfe: „Was fol’n ein paar Frauen mit ihrer vielen Zeit anfangen? Man Tann fi doch nicht mehr nützlich machen, wie zu Lebzeiten meines lieben, feligen Mannes!"

„Sie müſſen noch ein paar Stüd Butter- fuchen mitnehmen“, behauptet Frau Wagner, „morgen früh zum Kaffee | hmedt er noch gut“,

und biesmal läuft fie gleich felber, auf den

ſchwachen Widerſpruch nicht achten. „Ihre Mutter ift fo gutherzig und aufs merfjam”, fagt die Witwe. u*

—- -—r

582 Der Einzige.

„Sa, ja”, meint Frist, der Mile anficht, die mit einer Gerte, die auf der Bank lag, drei vorüberfchnatternde Gänfe antreibt.

Frau Wagner bringt ein Packet beraus und legt es in Miles Hände. „Nein, wenn Eie’3 denn ſchon wollen, Tiebe Frau Holzherr, dann trag ich's befjer felber. Sie läßt es plößlich fallen, wenn ihr irgend etwas in den Weg läuft. Der Wildfang!“

„Ad, fie ift ja doch noch fo jung!”

„Komm bald wieder, Mile!” fagt der franfe, junge Menſch bittend, und feine großen Augen glänzen.

„Natürlich!“

Ein Weilchen blicken Mutter und Sohn den Gehenden nach. Mile muß ſelbſtverſtänd⸗ lich oben auf dem Damm hinhupfen und den Fiſchen in dem klaren Bache zuſehn. Man hört ſie lachen. Die rundliche Geſtalt der Inſpektorin bewegt ſich behutſam unten.

„Ja, ja!“ ſagt Frau Wagner.

„Was, Mutter?“

„Denk ſo vor mich hin! Ein artig Kind! Bißchen luſtig, giebt ſich aber mit'n Jahren!“

„Iſt das nicht ſchön, ſo fröhlich ſein können?“ fragt Fritz. „Mich freut's immer, ſieh, wenn ſie ſo da is —“

Die Frau ſteht auf und ſtreicht ihm zwei⸗ mal über den blonden Kopf und ſtreift den Himmel mit dem Blick, juſt über dem Haus: dach drüben, wo die zerflatternden Wolfen die Bläue freilaffen.

„Ja, min Junge, min Sunge, haft recht, baft ganz recht —“

„Fiſchlein im Haren Bach!” zmwitfchert Mile Zehfe vor ſich hin.

„Kind, fing’ doch nicht auf der Straße!“

„Ad jo na, wenn's nit fein foll Oh je!“ und fie büdt fih. „Das ift ein Prachtkerl du komm mal bierber! Wie heißt du denn? Diana? Blig? Schnell? niht? willſt au nicht?“

Der braune Hühnerhund mit dem weißen Stirnfled fteht und fieht fie an.

„Mamchen, wem mag der Hund gehören? Bielleicht dem neuen Forſtkandidaten?“

„Iſt doch völlig gleichgiltig !”

„Mir nicht! Sch kenne alle Hunde in Blumerode.”

„Fritz Wagner fieht wohler aus!” fagt vie Inſpektorin.

„Findeſt du? Der arme Kerl! Und wie konnte der früher laufen!“

„Das braucht man nicht fürs Leben!“

„Aber doch ſeine Geſundheit!“

„Mit zarter Geſundheit kann man auch alt werden. Mit liebevoller Pflege Pater war auch viel leidend.”

„Ich glaube ich bleib dabei: Nur Iuftige Kameraden braudt man bazu. Schade um den Fritz!“

„Du läßt ihn das doch nicht fühlen?“

„Wie werd’ ich denn! Das märe ja roh. Uber, ich meine, er fühlt es zuweilen! Er gudt mir oft fo traurig nad.”

„Laß ihn das nie fühlen! Die Wagners find prächtige Leute! Mir lieber ald die ganze erite Geſellſchaft.“

„Das ftimmt!”

„Und der Befis! So viel hat er zum Bermögen der Frau erworben, auch glüdlich Ipefuliert. Der fünnte Blumerode auflaufen.”

„So! na —“ Mile fieht einer auf: flatternden Taube nad), „denn kann er ja mal Fürft von Blumerode werden und Fritz fein Thronfolger!”

„Immer Allotria! Fri wird eine Bartie fein. Den nimmt jede aus dem Honoratiorenftand in Blumerode und fonft mo ber, kann ich dir fagen. Darauf gebe ich jede Mette ein. Unter den Honoratioren find ja auch feine Bartieen nidht eine! Die beiden Meferendare gehen jicher unverlobt weg, und der junge Arzt und der Apotbefer follen im Stillen fchon gebunden fein, wer bleibt denn noch?”

„Kann mir doch wirklich ganz egal fein.“

Frau Zehſe ſeufzt. „Mädchen!“

„Ich hab noch Zeit.“ Sie bleibt plötzlich ftehn. „Übrigens, der Fritz nimmt feine von allen, die du im Sinne haft. Da fchneiden fie fich, die Mädchen!”

„Woher weißt du das?”

„Weil er fie nicht ausftehen kann!“

Wie ein Seufzer der Erleichterung kommt e8 von den Lippen ber Frau „Hm! eine Partie, eine rechte Partie, das ift er. Und fein Vater kann's mit allen aufnehmen an

ı Bildung und feine Mutter, eine Seele” —.

Der Einzige.

„Aber wiflen mir doch Althen. Du findeft ja heute fein Ende. Sieh, da kommt der Heine, dicke Männe, Männchen von Paſtors. Hier, hier, lauf mal her, Männe!“ Sie kniet nieder und breitet die Arme aus. Und das Kind läuft jauchzend hinein.

Sonntagsglocken! Sie haben einen etwas blechernen Ton, aber Fritz Wagner liebt ſie doch. Er hat ſich in Göttingen, wo er auf der Schule war, bei dem vollen Geläut immer nach den dünnern Klängen der Heimatsglocken gefehnt. Damit fam ihm allemal das liche Gefiht der Mutter, ihr fanftes Reben, ihre forgende Hand in den Einn, und er roh fürmlid den Blumenduft aus dem Garten. An Heimweh hat er immer gekrankt. Nicht nad dem Vater, das kann er fidh nicht vor= lügen. Der ift ihm fo fremd geivefen mit feiner aufrechten Haltung, dem Ausbrud robufter Gefunbheit, dem leichten Spott, ber ihm fo oft wehe that. Auch jegt, wo fie feit feiner ſchweren Krankheit nun lange zufammen gelebt haben, find fie einander fremb geblieben. So verſchieden ja, das iſt's. Nicht böfer Wille von ihmen beiden. Wie follte ber zwiſchen Vater und Kind fein. Nur ver ſchieden. Frig figt wieder im Sonnenfhein auf der Bank; ehe die Mutter, feierlih in ihrem ſchwarzſeidenen Kleide, in die Kirche ging, hat fie ihn ſorglich verpadt. Ein Stoß illuftrierter Samilienzeitungen liegt neben ihm, fie hat fie auch herausgefchleppt.

„Mußt mid nicht fo verwöhnen!“

„Sat man, Jung! Was fann id denn fonft viel für dich thun? Biſt doch ſchon fo viel Hüger als ich.”

In ihrem Geſangbuch ftedt ein winziger Strauß von Schneeglödchen, die er ihr gepflüdt hat. Wie fie an ihn denfen wird in ber Kirche, wie fie ihr volles Herz bittend aus— ſchutten wird vor dem lieben Herrgott das weiß er ja.

Mile figt ihr natürlich gegenüber auf ber jenfeitigen Empore.

Wenn die den Kirchenſtuhl aufſchließt und bereinhufcht, das iſt na ja, er meint, ber Schlüffel kreiſcht ſchon anders in ihren Heinen,

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tändelnden Fingern. Mit geneigtem Köpfchen betet fie, aber dann wuppt das fchnell in die Höhe und fie muftert die Gemeinde oben und unten und weiß hinterher ganz genau, mas für Kleider die Damen anhatten und ob ber alte Kantor vorfang oder der neue Rektor, und wenn fie aud nad dem Gefange den alten Herrn Superintendenten fehr ftandhaft auf der Kanzel anfieht, ob nicht die Gebanten binter der weißen Etirn abivippen vom Thema? ja, die Heine Bachſtelze

„Nu kuck einer den Jungen, der is ja nu wohl ganz verträumt!“

Sein Vater fagt es und fteht vor ihm mit dem Bürgermeifter und dem Sanitätsrat Bord.

„Dieſe ganze Romanwirtſchaft in den gelben Büchern da neben fi und träumt am frühen Morgen!”

Konrad Wagner ift fehr groß, breitfhultrig, fein bartlofes Geſicht ift ſcharf gefchnitten. Kluge, graue Augen fehen unter buſchigen Brauen hervor, das Haar ift leicht ergraut; die Lippen, etivad breit und mulftig, paſſen nicht recht zu Stirn und Nafe, der Naden iſt wuchtig; die Stimme Hingt tief.

Der Sanitätsrat ift ein ſchlanker, eleganter Mann. Er ift gefleivet, als käme er cben aus einer Großſtadt. Zivifhen den Fingern hält er einen Stod mit goldenem Griff, den er zu halber Schulterhöhe emporgehoben hat,. Eitte vergangener Jahrzehnte. Sein Kopf hat etwas Goetheſches; um den Mund liegt ein leichter, ſarlaſtiſcher Zug.

Der Heine Major a. D., der zwiſchen ben beiden fteht, kommt ſchlecht weg mit feiner unterfeßten, behäbigen Figur beim Vergleich. Er hat braune, unruhige, lebensluftige Augen, einen riefigen, mohlgepflegten Schnurrbart, und bie vollſte Gutmütigfeit läßt fih aus feinen Zügen leſen.

Guten Morgen, Herr Sanitätsrat! Guten Morgen, Herr Major! Vater, ja, wir haben uns auch nody nicht geſehn!“ fagt Fritz, einen Anflug von Nöte in feinem mädchenhaften Geſicht.

„Daß ſo'n junger Menſch das nur aus— fprehen mag. War noch in’n Federn, als ich "raus ging. Was, ein ſchöner Morgenfpazier: gang auf die Eleonorenhöhe, Herr Major?”

534 Der Einzige.

„sa! ja, Freund und Gönner! Aber, 'rumgefchleppt haben Sie mich tüchtig.”

Der Sanitätsrat lächelt. „Warum find Sie aud) ‚Verfhönerungsvereinler und woll'n abfolut 'nen Kurort aus Blumerode machen? Sie willen, ih bin nicht dafür. Was fol’n wir mit Fremden in unferm Drt? Laſſen Eie und die boch vom Leibe!”

„Aber hör'n Sie, hör'n Sie, mein teurer Herr, man will doch, daß dem Orte aufge: bolfen wird. Das ift der einzige Weg. Darin jtimmt mir mein lieber Holzherr Wagner bei.“

„Sollte auch gefcheiter fein, der Konrad Wagner,” brummt ber Arzt. „Haben mir ung bier nich’ immer gut befunden, he?”

„Rur, aber... .”

„Bleiben Sie mir alle beide mit ihren Volksbeglückungsideen vom Leibe. Was kommt dabei raus? Die Leute fpefulieren auf leichten Sommerverdienſt und arbeiten noch meniger ala bisher. Das faule Gefindel, na —“ Dann feßt er fich neben den jungen Menſchen.

„Siehft zwar aus, als haft du's nid) nötig, daß man fragt, mein unge. Aber lag’ mal, wie iS e3 denn fo im allgemeinen? Appetit? Lebensluft? Das ift die Haupt: ſache. Na, wird fi) maden! Wird fi machen!”

„zebensluft,” Träht der Kleine Major, „da haben Sie ein rechtes Wort gejagt. Freude an allem muß man haben, jeh’n Sie! An der lieben Früblingsfonne, die nun wieder zu icheinen beginnt, an den Beilchen, dem Vogel: gezmoitfcher, den Tpielenden Kindern und den lieben, bübfchen, kleinen Mädchen, die da durch die liebe Welt laufen —”

„Hm! ja!” wirft der Sanitätsrat troden ein, „man jagt ja hier bereits fchon, daß Eie die haben.“

„sm allgemeinen, ganz im allgemeinen,“ beeilt fih Herr von Müller zu fagen. „Und Dankbarkeit muß man dazu empfinden auf diefer lieben Gotteswelt. Seh'n Eie, ich bin eine beicheidene Natur, ich freue mich im Winter, daß ich warm unter Dad und Fadı bin, daß ich meinen wohlſchmeckenden Kaffee trinten kann, ohne Eorgen, daß ich jet hier bin und zu thun habe.”

„Den Beigefhmad wird Ihnen die liebe, nic zufriedene Gemeinde fchon dazu ftiften.

Mas, Holder? Marten Sie'3 man ab. Aber nun red’ du mal, Jrig, mein Sohn!“

„Der!“ Wagner verzieht die dicken Lippen. „Das ift ne Jugend! In Deden und Kijien, jtatt über alle Zäune. Un wie 'ne zimperliche Sungfer, ftatt hinter allen Mädchen berzu- laufen, wie’3 den Jahren zufommt. Herr, bu meine Güte, wie war da unfereiner. Zwiſchen Meizen und Korn, zwifchen Heden und Tim zwiſchen Bäumen und Gras‘

„Ra ja, na jal” begütigt der Sanitätsrat, „Ihre Stiernatur hat der Frig nun freilid nicht mitbefommen, aber doch 'ne ganze Menge guter Eigenſchaften. Das laffen Sie mir nur, das Fri, wir fpringen auch noch über Helden und Zäune, wenn du wieder gejund biſt.“

„Wenn, wenn! Man hat nur den Ein— zigen und wollte was daraus machen und ließ ſich auch gut an. Dann plötzlich: wird nicht ſtudieren können! ſagen die Herrn Ärzte; wird nicht ſtudieren können. Und hab's doch gut mit ihm vorgehabt. Was ſoll denn nu daraus werden? Ein Bäcker, wie ſein Vater? Der wird den Mehlſtaub und die Badofenhitze aud nicht vertragen können, was dann alfo, was dann?”

Fritz ſchiebt an feinen Deden; er Scheint mit dem Entſchluß zu kämpfen, den Plaß unter der Linde zu verlaffen und doc den Mut nicht zu finden.

Der Eanitätsrat faßt ihn unter dem Arm.

„Ra, Wagner, mit dem Bäder, da fpielen Sie fih nur nicht groß auf. Von Haus aus waren Sie das wohl, aber gewandert find Eie nid; und bann, ald Sie in Hannover in 'ne Feinbäckerei reingegudt haben, erden Sie fih auch nicht zu weh gethan haben. Wer'n Bäder iS wie Sie mit den drei Heiligen: Goethe, Heine und Beranger, der, na, aus echtem Teig i8 der auch nich gebaden.”

Konrad Wagner lat von Herzen; halb bat fich feine Eitelfeit bei der Strafprebigt gefchmeichelt gefühlt.

„Freilich, gut gejagt, nur ſollt eine Krähe Na, Eie wilfen fhon, Herr Sanitätsrat! Sch bin auch 'n bißchen aus bem Häuschen. Geftern abend ift Frau von Lieven noch bei meiner Frau geweſen und bat ihr bie Ohren voll geſchwatzt. Den ungen hätten

Der Einzige.

wir nad der Na, Frig, deine Mutter hatte es natürlich nid; behalten, was hat der Irrwiſch für eine füblihe Gegend genannt?”

Die Riviera, Vater!”

„Alſo dahin hätten wir ihn ſchiden follen, ftatt ihn den harten Winter am Harz durch⸗ machen zu lafien. Das Weib liegt ja immer auf ber Eifenbahn. Na, Sie kennen meine Frau; ihr einziger Junge! Meiner er doch am Ende auf. Un mas für Hoffnungen babe ich darauf geſetzt!“

„Hm! Mit der Riviera, lieber Wagner, da hätte ſich unfer Fritz höchſt unglüdlich ger fühlt: aus allen Lebensgewohnheiten geriffen. Und die Frau hätten Sie doch wohl nicht mitgeſchickt ?“

„Bei Leibe nich! Ich will meine behagliche Häuslichkeit nicht geftört haben! Kein Ge— dante!” brauſt der Alte auf.

Deshalb hab ich das auch weit von mir getviefen, Ihnen den Vorſchlag zu machen. Fritz iſt jung; er wird fih ſchon burd- beißen.”

Der Arzt legt Fritz die Hand auf die Schulter.

„Wenn er der Stärkſte nicht wird —“

„Ja, freilich! Das wird er nicht. Und was ſoll ich denn aus ihm machen, frag ih Siet"

Jetzt fteht Trip auf; er Mirft mit einer

energiſchen Bewegung die Deden ab und geht .

dem Haufe zu, und diesmal macht Bord feinen Verſuch, ihn zurüdzubalten.

„Ich meine, das ift gegeben, Wagner”, fagt er ernſt. „Cie haben das fhöne Ans weſen; kaufen Sie dazu. Eie fönnen 'ne feine Grafſchaft ftiften. Fürs Bewirtſchaften wird feine Kraft reichen, notabene mit richtiger Hilfe. Und dann ne nette Frau dazu, lieber Holzberr, das liegt ja alles fo nah.”

Ne reiche, meinen Sie, Herr Sanitätsrat?”

„Ein paſſende zuerſt.“

Na ja! Vermögen paßt allerwegen hin. Du, Frig ad) fo, der Menſch hat fi) davon gemacht.“

„Meinen Sie, es kann ihm angenehm ſein —“

„Ach, Unſinn! Krank is er doch nu mal. Und das hat er nich von mir!“ Bords Augen bliden ihn ſcharf an.

}

| fih Halb verbrannt im Dufel!

“585

„Von Ihrer Frau gewiß nicht. Ich habe mid ſorgſam erkundigt; auf Generationen hinaus ift die Zungenfrankheit nicht in ihrer Familie geweſen. Die Alten habe ich felber noch behandelt. Aber Ihre Mutter, Holzberr, die hatte Tuberleln. Sie farb ja aud früh. Sie brauchen alfo nicht viel zu fragen. Und daß Sie's mal erfahren, das ift am Ende gut.”

Wagner macht mit feinen beiden Händen ein paar zudende Bewegungen, dann ballt er fie zu Fäuſten. Er ift einige Augenblide wortlos, und man hört das Plätſchern des Mühlgrabens, deutlich, Iuftig und bel. Dann fagt er: „So! Meine Mutter! Ich habe feine Frauensperfon auf der Welt fo lieb ge- habt, wie die. Er heißt ja nad) ihr; fie hieß Friederike.“

Schweigen. Der Arzt ſteht auf. Dann fommt wieder bie alte, fefte Haltung über Konrad Wagner.

„Die Herren trinfen nun ein Glas Wein bei mir!”

„Ich nicht!” fagt Bord. „Ich muß noch zur alten Probftei und bann nad; meiner Freundin Schindermarie ins Armenhaus. Hat Morgen! Morgen!" Den Knopf des Etodes hebend, gebt er.

„Er ift böfe,“ meint der Major.

„Na ja, wenn man den einen Jungen hat und friegt lauter Querftrihe in feine Pläne, da foll man’3 noch nich mal fagen. Nor ihm zittert feine Familie und ih fol Kommen Eie, Herr Major und Bürgermeifter!”

„Wenn Sie's fo wollen, ich bin nämlid) nad dem Spaziergang hungrig und durftig.”

„Dafür wol’n wir auffommen.”

„Und ih muß Ihnen eine Gefchichte er⸗ zählen, lieber Freund und Gönner eine

Gecſchichte! 'ne ſaftige! Is mir da bei Nizza

eingefallen.” Er ftreicht feinen Schnurrbart. „Zie werben laden, Holzherr, ih fage Ihnen —“ und er lacht auch ſchon in ber Vorfreude hell und frähend.

Fritz Wagner fieht die beiden lommen und verläßt das Wohnzimmer.

Von der Schwelle der Hausthür her ruft der Holzherr mit ſchallender Stimme feine Befehle nad der Küche hinüber. „Anfahren: Schinken, Wurft, den famofen Harzläfe —“

536 ' Der Einzige.

Eine dralle, blonde Magd in Eonntags: kleidung kommt auf die mit Sand überftreute, weißichwarzfliefige Diele.

„Dann müßte ich um den Speifefammer: ichlüffel bitten, Herr Holzherr!“

„Allemal! Man rausgeholt!”

Etwas befangen, fcheu nad dem fremden Herrn binüberblinzelnd, fommt Tine ange: trippelt und nimmt einen Schlüffel vom Hafen hinter der Thür.

„Meine Frau is natürlich fromm. Eie macht's für und beide ab. Mit dem Herrn Superintendenten ſchwatz' ih gern eins unter der Linde, aber was er da drüben fagt —“

„Ein umgänglicher, freundlicher Herr,” lobt der Bürgermeifter.

„Freilich, aber fehn Sie, wenn er auf feiner Kanzel das Weich alleine hat, da Tann ih doch nich’ mwiberfprechen. Un’ unfre An: ſichten deden ſich nid immer. Ja, in den Keller, und uns zu ’ner guten Flaſche Rot: sohn belfen muß ich nu felber. Setzen Sie einftieilen ’nen Zleinen Nordhäufer auf unfern Morgenfpaziergang; in die heiligen Hallen da unten laß ich fein Frauenzimmer. Ne, ne!“

Er läßt den Gaft voran und holt von dem Schrank eine Flafche, die er mitten auf den mit gebäfelter Dede belegten Tiſch vor dem Sofa ftelt. „Da is auch 'n Glas —” Er ſchenkt zwei Schnapsgläfer vol. „Proft! Proft!” beißt es gegenfeitig.

Freundlich fcheint die Sonne in den ein: fachen, behaglihen Raum. Alte Schränfe, die Urgroßväterzeit gefeben, fteben bier und auf der Diele. Man treibt feine Antiquitäten- liebhaberei in Blumerobve, Konrad Wagner hat aber feine eigene von andern unverftandene Freude an dem verbunfelten Eichenholz mit der Schnigerei aus der biblifhen Geſchichte, an den eingelegten Sternen und dem leuchtenden Farbenſpiel der Eſchenwurzelſtühle, die mie Kutichen find, mit Leber bezogen, ebenjo das Sofa; weitbäuchige Rokokokomoden mit gelben Griffen, ein paar Ridinger an den Wänden, Goethe’ Kopf und Goethe in der Campagna nach Tifchbein, ein Bücherfchrant neuer Art. An dem einen Fenſter ift ein Nähtiſch, vor dem andern ein Stehpult.

Der Major fieht zu, wie das Mädchen den Tiſch deckt, immer mit niebdergefchlagenen

Augen und erhöhter Nöte auf den Baden; bie prallen, mohlgeformten, bloßen Arme find auch rot geworden.

Auf den Fenſterbänken fteben Myrten⸗ bäumchen, eine blühende Calla und Geranien, alle mwohlgepflegt.

Konrad Wagner fommt zurüd, zwei Flafchen im Arm.

„Für den erften Durft!” fagt er.

„Ah!“ macht der Gaft, die Marlke lefenb. „Ale Achtung!“

„5a, darauf halt ih. Was hat man benn viel in ſolchem Neft? Ein guter Trunf! Mit dem beizenden Tobak hab’ ich nichts im Sinn, hm!“

Der Beine Major ift ganz aufgeregt, froh, daß er dem umjchriebenen Goethegedanken gegenüber Verftändnis bemeilen fann. Richt oft geht's ihm fo.

„Hähä! Aber auch die Magd im Puß ganz allerliebft.“

„sb, was Sie jagen. Die ift erft viegehn Tage da. Meine Frau bält fonft nicht viel von gut ausſehenden Frauenzimmern im Haufe naja —“ es ift ein Schmunzeln um feine Mundwinkel.

Sie ſetzen ſich. Tine kommt wieder, um den Käſe zu bringen. Es iſt alles gut ge⸗ ordnet, zierlich auf dem Tiſche.

„So is recht,“ ſagt der Holzherr lobend.

„Wie heißt du doch auch, mein Kind?“

„Tine!“

„Is gut, Tine! Werde es meiner Frau ſagen, daß du anſtellig biſt.“ Er zieht an dem Schürzenband, als ſie vorüber huſchen will.

„Ne, mal dageblieben und Kopf hoch. So! das iſt doch'n Geſicht, das ſich ſehn laſſen kann. Woher find wir denn? he?“

„Loneburg!“ ſagt das verlegene Mädchen.

„Un' da?“

„Ich bin doch dem Waldarbeiter Feiſt ſein Kind. Bei uns ſind neune und Mutter is tot. Un' Vater ſchon vor drei Jahren, und was mein Vormund is, der hat die Frau Holzherrn ſo gebeten, wenn ich was lernen ſollte, ſo könnt' ich's bloß hier, meint er. Erſt wollte ſie nich —“

„Wollte nich —“ Wagner nickt. „Na, das wird ihr gut gethan haben, die Aner⸗ kennung, ſchwatzen kannſt du ja ganz ornd'tlich,

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Der Einzige.

immer bloß aufgezogen werben muß's Uhr: wert.”

„3a, ja, ja, die Frauenzimmer!” ruft Herr von Müller Iuftig und zwinkert mit ben Augen.

Die Schürze liegt am Boben. fee auf.

„Herſagen babe ih immer gelonnt, ich bin beim Lehrer die Erfte geweſen un’ auch im Ronfirmandenunterridht.”

„Hat dir denn auch ſchon wer gefagt, daß du niedlich bift?”

„Ach ne, nee —” ftammelt fie.

„Du nid’ lügen, Tine!”

„Wahrhaftigen Gott!”

„Na denn, der Herr Bürgermeifter, ber hat es entbedt. Vor bem nimm did) man zufammen!”

„Ih, ih, ih!“ kräht der. Das Mädchen huſcht hinaus; Wagner ladht, der Kleine droht ihm mit dem finger.

„Sie Schwerenöter, Eie Schwerenöter. Aber, das is hier gemütlich, ne, wirklich! Ja” ein Seufzer, „ſo'ne Häuslichkeit ift am Ende das Wahre!”

„30, wenn man es bequem haben will,”

Tine rafft

fagt Wagner und legt den mächtigen Kopf |

gegen die Etubllehne, „denn muß man ſich bei Zeiten einrichten.”

Die Meinen Augen fehn ihn ein wenig verftört an.

„Sollte es denn meinen Cie denn, ſchon ein bißchen fpät für mid) fein? Ich denle jet nämlich feit einiger Zeit ernſtlich

„Sm! ja! Das nicht. Aber wenn man fih eine Frau eingewöhnen will, ſehn Sie, das ift wie mit den jungen Zugtieren. Zur rechten Zeit muß fie ’ran, daß fie noch unter feiner andern Hand hat ftörrig werden Tönnen. Wenn Eie heute, die Züngfte werden Eie ſchon aus Furt, daß fie über die Stränge ſchlägt, nicht nehmen eine ein bißchen An- gejahrte friegen, die till fi nich' viel fagen

a.

SE

*

537

laſſen. Und da i8 die Gefahr, daß Sie unter den Pantoffel kommen, Sie wiſſen nicht tie.”

Herr von Müller drüdt die Augen zu: fammen.

„Gewiß ja, mein lieber Holzherr! Gewiß! Aber, wer mag fi) denn fo früh binden? Ich komme mir mit meinen neun undvierzig wahrhaftig noch jung vor. In der Ehe fehen Sie, da muß man fo feinen ge= meinfamen Weg gehn. Und ich leugne gar nicht, ic} habe bisher Freude an allen Blumen gehabt. An Treibhausblüten und Wald- und Wieſenblümchen ja fehn Sie!“ Und er ſtreicht wohlgefällig fein gefärbtes Bärtchen.

„So! ja! nu!“ Wagner ſchließt die Lippen und öffnet fie wieder.

„Eine junge Frau zieht man ſich aud, wenn man felber jung und Iebenzluftig ift, am beften.”

„So hahaha! ja, Sie, lieber Holzherr, Sie! Man hat ja auch'n Glödchen ſchon läuten hören, feit man hier ift. Sie haben fih in jeder Beziehung Ihr Leben zurecht gemadt. Willen Eie, der Sanitätsrat aud) ber aud. Und ich habe das fo gar nicht gewußt, wie man doch aufm Lande Ne, lauter Salomos hier lauter Salomos!”

„Meinen Sie?" Der Hausherr fieht Tine nad), wie fie raſch die vergefiene Pfefferbofe noch auf den Tiſch ftellt.

„Nun langen Sie zu! ſchlachtete Ware.”

„Behaglih! Appetitlih! Behaglich!“ Tobt der Major.

„Drüben hat meine Frau ihr Allerheiligftes, ihre Staatsftube, zum Kaffeeflati natürlich. Mahagoni und Plüfchmöbel. Vor zehn Jahren, da beftand fie darauf. Man thut ja auch mal was zu Gefallen.”

Er gießt die Gläfer voll, fie ftoßen an, der Major ſchlürft langſam, mit Kenner= miene.

„Un' nu meine Gefdjichte, lieber Holzherr, nu paſſen Sie auf!” (Fortfegung folgt.)

Alles felbft ge:

638

Hausinonſtrielle Frauenarbeit.

Von

Dr. Robert Wilbrandt.

Nachdruck verboten.

II.

m vorigen Aufſatz babe ich einiges aus den Berichten der öſterreichiſchen k. f. Gewerbeinjpektoren über die Heimarbeit in Böhmen berausgeboben, um an ‚go der Hand diefer amtlichen Darftelung ein Bild der bausinduftriellen Frauen: arbeit zu geben. Für Deutichland haben wir folche amtliche Erhebungen über die Lage der Heimarbeiter nicht. Sie find aber auch faum noch nötig, denn die wiſſen— Ichaftlichen Unterfuhungen des Vereins für Sozialpolitif über die Hausinduftrie in Deutfchland und Ofterreich fchildern und zuverläffig und gründlich diefe Zuftände in unferm Vaterland. Nicht mehr zeitraubende Erhebungen, fondern durchgreifende Reform erhoffen wir bier von der Regierung.

Um wie viele Frauen und Mädchen es fich dabei handelt, ift nicht genau anzu: geben. „Denn Heimarbeit ift die Arbeitsform auch für alle diejenigen Arbeitsfräfte, die von der Statiftif überhaupt nicht erfaßt find.“ Dr. Alfred Weber, deffen Worte ich joeben anführte, in Deutfchland wohl der gründlichfte Kenner der Hauzinduflrie, hat daher die Statiftil, die und Hier im Stich läßt, durch Berechnungen zu ergänzen gejucht. Nach der Statiftif arbeiten rund 200 000 Frauen und rund 250 000 Männer in der Hausinduſtrie; aber mag jchon die Zahl der Männer thatfächlich etwas größer fein, weil mancher Heimarbeiter fich jchämt zu befennen, daß er in die Stellung des Haus: induftriellen herabgebrüdt ift, fo find die Heimarbeiterinnen, die der Statiftif entgehen, noch viel zahlreicher. Die Erwerbsarbeit der Ehefrauen bleibt der Statiftif überhaupt oft unfichtbar. Selbſt in der Hausmweberei, wo die Frau oft ebenfo viel arbeitet wie der Mann, entgeht fie leicht dem Auge der Statiftil. Und gar all die verichämten Heimarbeiterinnen, Frauen, Witwen und Töchter des Bürgerftandes, deren es in ber Berliner Konfektion allein 15 —20 000 giebt, erfcheinen natürlich nur als „Angehörige” oder „DBerufslofe” in der Statiftif. Man kann daher, ſehr gering rechnend, gegen 60 000 heimliche Heimarbeiterinnen aus dem Bürgerftand in der Konfeltion und gegen 100 000 jolche in der Hausinduftrie überhaupt annehmen; und man wird nicht zu boch greifen, wenn man die Zahl der Arbeiterfrauen, die als Heimarbeiterinnen der Statiftif entgangen find, auf 50—100 000 ſchätzt. Dem entiprechen auch ungefähr die Berechnungen von Dr. Weber, nach denen der Umfang der bausindujtriellen Frauenarbeit in Deutjchland faft doppelt fo groß ift als ihn die Statiſtik angiebt:

Frauen in der Bekleidungshausindufttie . . . . 226 000 „„ xertilbaußindufttie . . . . . . 100000 „nn Übrigen Haußinduftrie . . » » . 43000

„nn Hausinduftrie überhaupt . . . . 369 000

Hausinduſtrielle Frauenarbeit. 539

Da die Heimarbeiterinnen, die der Statiftil entgehen, zum größten Teil verheiratete Frauen find, fo müffen wir zu den amtlich nachgetviefenen 36 000 Ehefrauen und 34000 Witwen und geſchiedenen Frauen in der Hausinduftrie mindeſtens nod einmal fo viele hinzunehmen, fo daß ungefähr 150000, alfo /, aller hausinduftriellen Arbeiterinnen, verheiratet, verwitwet oder gejchieden find. Die Zahl ber Kinder diefer Frauen dürfen wir nun allerdings zu Hoch nicht fchägen; aber wenn nad) R. Martins Erhebungen bie verheirateten Fabrilarbeiterinnen, die trotz der Kinder in die Fabrik gehen, durchichnittlich jede ein Kind haben, fo können wir übereinftimmend mit den Angaben von Gertrud Dyhrenfurth und Hans Grande auf jede von dieſen Heimarbeiterinnen, die wegen der Kinder zu Haufe arbeiten, im Durchſchnit zwei Kinder rechnen. Soweit biefe 300 000 Kinder noch Mein oder im ſchulpflichtigen Alter find, bedürfen fie der Mutter. Die Zahl der Frauen, die durch die Kinder ans Haus gefeflelt find, ift alfo nicht gering; fie ift ungefähr fo groß, als bie Zahl ber Mütter, die in die Fabrik geben und bei denen daher die Kinder der Mutter beraubt find.

Die Gefahr, da das sweating-system auch bei uns ſich noch weiter in den Voltzkörper hineinfrißt, ift nicht ausgeſchloſſen. Schon jetzt ift es im weiteſten Maße vorhanden. Vor allem die Großftadt mit ihrer anwachſenden Überzahl von Frauen und mit ihren beftändig. fteigenden Mieten if der Nährboden dafür. Die hohen Mietspreife zwingen Frauen und Töchter zum Miterwerben, fie erfchweren dem Unternehmer größere Werfflätten und machen ihm dadurch bie mietefparende Heim" . arbeit wertooll, fie drängen die KHeimarbeiter in die engflen Löcher zufanmen, in denen fie arbeiten, leben, fchlafen, kochen und atmen müflen. Ohne es zu wollen, bat auch ber Staat durch die Fabrifgefege und die Arbeiterverfiherung die Haus: induftrie begünftigt: denn von diefen Laſten ift der Unternehmer in der Hausinbuftrie faft gänzlich frei Freiheit ift hier fein goldenes Los, Freiheit von jeder Schranfe und jeber Pflicht. Das Unternehmerrifito Tiegt bier faft ganz auf dem Arbeiter: fobald die günftige Gefchäftszeit vorüber ift, wird er entlaflen, eine Fabrik, derent- wegen der Unternehmer weiter arbeiten ließe, ift ja nicht vorhanden.

Ein Produkt der Großftadtentwidlung ift vor allem bie größte Frauenhaus- induftrie, die Konfektion. In Berlin allein befchäftigt fie 44000 Werkftattarbeiterinnen in Zmifchenmeifterwerfflätten und 25000 Heimarbeiterinnen. Der Groffift, fagt Grande, verdient am Stüd etwa 17 Prozent, der Detailift mindeftens 25 Prozent, bei beſonders eleganten Stüden bis zu 50 Prozent. Die Reklameſtücke, die ohne Profit verfchleudert werden, fpielen dem gegenüber keine Rolle. Die Händler find bier die Herren. Sic) der launiſchen Mode anfchmiegend, bat ihre Spekulation die Arbeitsfaifon in der Damentonfeltion auf 6 Monate zufammengedrängt. Drei bis vier Monate giebt die Arbeit nur noch unzureichenden Verdienft, zwei biß drei Monate find die Arbeiterinnen ganz ohne Arbeit. Die kurze, zufammengepreßte Arbeitzjaifon bewirkt natürlich eine um fo längere tägliche Arbeitszeit. Nach den Erhebungen der Reichskommiſſion für Arbeiterftatiftit umdb nad den Unterfuchungen von Grandte ift der Durchſchnittsjahre sverdienſt der Konfeltionsarbeiterinnen 3—400 Mark, der BWerkftattarbeiterinnen näher an 400, der Heimarbeiterinnen näher an 300 Mark.

Der Grund für diefe Niebrigkeit der Löhne liegt zunächft in dem Überangebot von ungelernten weiblichen Arbeitskräften, und dann in der Unterbietung durch bie Haustöchter und Ehefrauen, ber Arbeiterfchaft ſowohl wie des Bürgerftandes; dieſe

510 Hausinduſtrielle Frauenarbeit.

juchen nur einen Nebenerwerb und find daher auch mit weniger Lohn zufrieden. Und da der großftädtifche Arbeiter durchfchnittlich 900 Mark Jahreslohn erhält, aber etwa 1200 Mark zur Ernährung der Familie braucht, fo find es 3—400 Marl, die die Frau dazu verdienen muß; bis auf 3—400 Mark find daher die Löhne herunter⸗ gegangen, die alleinjtehenden aber können unmöglich davon leben.

Teild um diefe „Lohndrüderinnen”, die heimarbeitenden Ehefrauen, 103 zu werben und die Organifation zu ermöglichen, teild wegen ber Scheußlichkeit ber „Schwig- buden”, in denen jeßt gearbeitet wird, verlangten bie Arbeiter 1896 die Errichtung von Betriebsmwerkftätten. Dieje Forderung, derentwegen fie den Streit begannen, trat aber dann ganz in den Hintergrund, die Lohnfrage wurde bie Hauptſache. Die Konfektionäre gingen anfangs fcheinbar auf die Verhandlungen ein, dann aber wurden fie wortbrüdig und kehrten fich nicht an den Schiedsſpruch des Gewerbegericht!, das einen brauchbaren Stüdlohntarif ausgearbeitet hatte. Die allgemeine Lohnerhöhung um 12!/; Prozent, die das Gewerbegericht feitfegte, wurde jchon dadurch umgangen, daß die Gejchäfte alle Lohnbücher einzogen und nur noch Lohnzettel außgaben: To machten fie die Kontrolle darüber, ob die Löhne wirklich erhöht wurden, von vornherein unmöglih. Zulegt wurden fie „ungefchminft wortbrüchig“ und erklärten den Mindeſt⸗ lohntarif des Gewerbegerichts, deſſen Schiedsſpruch fie fich unterworfen hatten, für nicht bindend. (H. Grandke, Schriften des Vereins für Sozialpolitif, Band 85, Seite 350). |

Auch die andere Forderung der Arbeiterfchaft, die Errichtung von Betriebs⸗ werfitätten, würde für die Mehrzahl der Arbeiter und Arbeiterinnen ein großer Segen jein. Die Arbeitsjaifon würde durch die Betriebswerkftätten gleichmäßiger fiber das ganze Jahr ausgedehnt werben; unter Gewerbeaufficht, in geregelter Arbeitszeit, in gefunden, Iuftigen Räumen und mit motorifcher Kraft würde die Arbeit geſchehen, die jest die Nächte durch in „Werkftätten” und „Wohnräumen“ gethban wird, die den Maren eine jolche Luft mitteilen, daß beim Öffnen der von den Heimarbeitern abge: lieferten Bündel unerträgliche Dünfte auffteigen. Eine folche „Werkſtätte“, möchte ich als Beijpiel anführen. Da „Ichläft die ganze Familie, die Frau, der lungenkranke Mann und drei Kinder, in der als Arbeitsraum benupten Küche, weil da Zimmer an Schlafgänger abvermietet ift.“

Auch die große Gefahr der Übertragung von anftedenden Krankheiten auf die Käufer der Kleider würde durch Betriebsmerkftätten fehr verringert werden. Aber am Mohnungdelend würden fie menig ändern. Nur durch ftäbtifche Boden: und Baus politit im Sinne der Bodenreform und durch höhere Löhne, die es den Arbeitern möglich machen, eine menjchenwürdige Wohnung zu bezahlen, kann das gebeflert werden. Überhaupt tritt immer der Lohn wieder an die erfte Stelle. Denn die Mütter mit Kindern, die ja einen großen Teil der bausinbuftriellen Arbeiterinnen ausmachen, wollen felbitverftändlich von Betriebswerkſtätten nichts wiſſen.

Betrachten wir noch die Löhne diefer Heimarbeiterinnen in der Schürzens und Unterrod:, Blufen: und Tricotlonfektion nach der Darftelung von Gertrud Dyhrenfurth. Hier macht der Fabrifant einen Zufchlag von 33—50 Prozent, der Bazar oder ber Kleinhändler nimmt für ſich noch 20—50 Prozent, ſodaß eine Schürze, die der Käufer mit 3 Mark bezahlt, in der Herftellung 1,50 Mark koftet. Und die Löhne? Bei den billigften Unterröden, den fogenannten Bauerntöden, wird für dad Nähen von einem Dugend 45 Pig. bezahlt; mit Nachtarbeit kann die Arbeiterin 8—10 Dugend an

Haudinduftriclle Frauenarbeit. 541

einem Tage nähen, ihr Verdienſt iſt dann für dieſen Tag 2,40 Mark; allerdings muß fie ununterbrochen an der Mafchine fteppen, was die befannten Stepperinnenfrant: heiten, Unterleib3- und Frauenleiden u. |. mw. zur Folge bat, die die Stepperin nach wenigen Jahren erwerbsunfähig machen. Dennoch iſt's bei diefen billigften Unter töden günftiger als bei dem koftbarften, kunſtvoll gearbeiteten feidenen Unterrod: die Arbeiterin bekommt für das Nähen eines ſolchen 4 Mark, für Auslagen gehen 70 Pfg. ab, fie arbeitet daran anderthalb Tage, verdient alfo am Tag nur 2,20 Marl. Der Groffift verkauft diefen Unterrod für 60 Mark, der Arbeitslohn ift 4 Mark, alfo Y/ı, de3 Preifes; würde die Verdoppelung des Arbeitölohnes und fomit die Erhöhung des Preifes von 60 auf 64 Mark viel ausmachen bei der Kundfchaft, die folche feidene Unterröde kauft? Oder würde es die Induſtrie zerftören, wenn der Fabrifant ftatt 33—50 Prozent und der Kleinhandler ftatt 20—50 Prozent etivad weniger in die Tafche fteden könnte?

Bei den billigften Sachen ift der Arbeitslohn nur !/,, des Preiſes. Wenn für das Nähen von einem Dugend Röden ftatt 30 Pfg. ein Arbeitslohn von 50 Pig. gezahlt würde, fo daß die Frau ftatt 15 nur noch 9 Stunden täglich zu fteppen brauchte, jo würde die Käuferin bed Unterrods nur 1%, Pig. mehr zu bezahlen haben.

Selbftverftändlich Handelt ſich's bei diefen Löhnen nur um Saifonverdienfte. Der jährliche Durchſchnittswochenverdienſt ift in diefer blühenden Induftrie 7—9, auch 3—5 Mark, Witwen mit Kindern, bie der Kinder wegen zu Haufe arbeiten, richten fi) dabei zu Grunde, denn für fih und die Kinder genug zu verdienen, den Haushalt und die Kinder zu beforgen, das fiberfteigt bei ſolchen Löhnen jede menfchliche Kraft. Und die Kinder, um derentwillen die Mütter bei dieſer Arbeit bleiben, werden mit zu Grunde gerichtet: denn bie Mutter, fieberhaft arbeitend, behält für ihre Pflege und Erziehung feinen freien Augenblid. Verwahrloſung und Schmuß ift trotz aller Aufopferung der Erfolg Verwahrlofung und moralifher Schmug ift der Erfolg aud bei den übrigen Aleinftehenden: die Proftitution wird zur wirtſchaftlichen Not⸗ wenbigfeit, bei ben meiften in fühle Berechnung oder in Leichtfinn und Genußfucht, bei manchen in Verzweiflung. Die Kommiffion für Arbeiterftatiftit hat den optimiftifchen Ausfpruch gethan, daß fich befondere fittliche Mißſtande in der Konfektion nicht gezeigt hätten; dazu bemerkt Gertrud Dyhrenfurth, völlig übereinflimmend mit den Schilderungen von Grandke, daß diefer Ausſpruch nur dann zutreffe, wenn „der Nachbrud auf dem Wort ‚befondere‘ Liegen fol und man überzeugt ift, daß auch anderwärtd ein Zufammenhang zwifchen dem Kaufpreis der Arbeit und der Käuflichleit der Arbeiterin befteht.” „Laſſen Sie die Mädchen nur auf den Strich gehen, dann ſchaffen fie billige Mäntel”, dieſes topifche Wort eines Unternehmers ift aus ben Reichstags- verhandlungen befannt. Und damit die Konfeftionäre nicht zu viel Lohn zahlen möüffen, zahlt au die Armenverwaltung und die Wohlthätigfeit davon einen Teil.

Den Verhältniffen der Berliner Konfeltion ähnlich, wenn nicht noch trauriger, find die in Breslau und Stettin. Ein viel günftigere® Bild bietet und die rheinifch- metfälifche Konfektion in Bielefeld, Herford u. |. w.; große moderne Fabriken, und an fie angefchlofien eine KHeimarbeiterfhaft von Frauen, die zu Haus bei ihren Kindern arbeiten und ohne Zmwifchenmeifter unmittelbar mit der Fabrik in Verbindung ftehen, Herftellung beſſerer Sachen und ausreichende Löhne und das alles aus dem einfachen Grunde, weil dort die Nachfrage der Fabrifanten größer und das Angebot arbeitfuchender Frauen geringer ift. Überall aber, wo Maffen von Arbeitern

542 Haudinduftrielle Frauenarbeit.

fih bei einer von Männern betriebenen Induſtrie fammeln, entfteht das Überangebot weiblicher Arbeitskräfte.

Diefe gropftäbtiiche Konfektion ift die größte, aber vielleicht noch nicht bie Ichlimmfte Hausinduftrie. Die zweitgrößte, die Tertilbausinduftrie, die hundert: taufend Frauen bejchäftigt, zeigt erfreuliche Ausnahmen in der Handmafcinenftriderei und in denjenigen Arten der Weberei, die durch ihre kunſtvollen Mufter der vernichtenden Konkurrenz der Mafchine entzogen find. Am übrigen aber ift das MWeberelend ja befannt; e8 ift noch Beute wie in Gerhart Hauptmanns Webern.

Auch die feineren Teile der Tertilhausinduftrie, Stiderei, Spitzen- und Pofamenten: verfertigung, jelbit die befte Kunftitiderei, alle find fie dem allgemeinen Schidfal der Hausinduftrie verfallen: überall find die Löhne unmenſchlich niedrig, So ift es, mit geringen Ausnahmen, auch bei den vielen Zleineren Haußinduftrien, die man kaum ale aufzählen Tann. Lichtpunkte find die Wirkerei in Apolda und die Kartonage— beimarbeit in Lahr, abgejehen von der Ausnutzung der Kinder, die die „Lädlesfrauen“ in Lahr treiben. Die Kinderarbeit gehört überhaupt zum jcheußlichiten in ber Heim: arbeit. Bei den Schachtelmacherinnen in Schlefien müfjen die Kinder von früh 4 Uhr an mit an die Arbeit, und nad der Schule dann wieder bis zum Abend. Noch ärger ift es bei der Filetnäherei, und gar in der Sonneberger Spielmarenbausinduftrie: „Es ift kaum glaublich, daß an manchen Tagen, jo an den Freitagen der Sailon, vor dem Liefertag, die Kinder die ganze Nacht hindurch arbeiten muſſen“. „Da betrachten natürlich die Kinder die Unterrichtöftunden als Erholung und bemühen fich, in ihnen den verfäumten Schlaf wenigſtens teilweiſe nachzuholen.“ (Profeſſor Ehren: berg.) Auch bei der Cigarrenhausinduftrie iſt die Kinderarbeit ein Hauptübel. Im übrigen ift hier die Heimarbeit abgefehen davon, daß bie Unternehmer fie als Mittel gegen die Arbeiterorganifation anivenden vielfach ein nüglicher Erjag für die hinfiechende Hausweberei; und mit gewiſſen geſundheitlichen Beſchränkungen wäre fie zur Frauenhausinduftrie bejonderd geeignet.

Auf al die übrigen Heimarbeiterinnen kleinerer Induſtrieen kann ich nicht mehr näher eingehen. Handſchuhmacherei und Fächermacherei, Schuhmwarenbeimarbeit, Kürfchnerei und Mütenmacherei, Perlkranzflechten, Dütenkleben, Kaffeeverlejen, Bern: fteinarbeit, Hafenhaarfchneiderei, die Induſtrien der Fünftlichen Blumen, der Hutfedern u. ſ. w. u. ſ. w. es ift faum möglich, hier volljtändig zu fein.

Das Mittel zur Abhilfe, das von mwohlmeinenden Leuten jo oft verlangt wird, die Ausdehnung der Arbeiterfchußgefege auf die Hausinduftrie, hat in England und Amerika, wo man ed damit verjucht Bat, völlig verfagt. Auch der Paragraph, um den jest bei uns geflritten wird, die Einſchränkung oder das Verbot des Mitnachhaufe: nehmend von Arbeit nad Beendigung der Werkitattarbeit ift in England in Geltung und bewirkt nichts weiter als fyftematifche Umgehung und allgemeinen Betrug. Das ift ganz natürlich, wenn man bungernden Arbeiterinnen verbietet, jo lange zu arbeiten, bis fie ſich halbwegs von ihrem Berdienft jatt eſſen können ohne ihnen zu ermöglichen, in fürzerer Arbeitszeit das Nötige zu verdienen. Auch in den Vereinigten Staaten hat man jegt zehn Jahre lang mit Befchränfung der Arbeitszeit und hygieniſchen Vorschriften die traurigften Mißerfolge erzielt. Allerdings ift man dort vor allem auf bie Gefundheit des Faufenden Publikums bedacht; darin mürde man vielleicht etwas erreicht Haben, wenn diefe Gejeßgebung nicht von dem einzelnen Staaten ausginge, fo daß die verfeuchten Waren troß aller Maßregeln des einen Staat? aus bem

Haußinduftrielle Frauenarbeit. 543

Nachbarſtaat hereinfommen. Das Wichtigfte aber, die Lage der Heimarbeiterſchaft, ift unterdeffen nur immer ſchlimmer geworden. Nach Berichten amerifanifcher Fabrik: inſpeltoren ift fie noch zehnmal fcheußlicher als bei und.

Ich muß e3 mir leider verfagen, bier auf die lehrreichen Mißerfolge der englifchen und ameritanifchen Heimarbeitsgeſetzgebung näher einzugehn. Sie beweilen aufs neue, was dem gefunden Menjchenverftand von vornherein Har ift: daß man Leuten, die in Meinen Werkftätten oder zu Haufe arbeiten, nicht gefeglich die Arbeitszeit vor- ſchreiben kann, weil die Kontrolle einfach unmöglich ift; und daß man fein Recht hat, Leute mit gefundheitlichen Vorſchriften zu peinigen, deren Lohn fo gering iſt, daß fie fie nicht befolgen können.

Für jeden, der ſich eine andere Einwirkung des Staats als die auf die Arbeits: zeit und die Hygieine des Arbeitsraums nicht vorftellen kann, ift damit der Wunſch gegeben, daß die Heimarbeit und die Hausinduftrie in Heinen, unfontrollierbaren Werk: ftätten überhaupt befeitigt werde. Einschränkung oder Erſchwerung und zulegt das Verbot der Hausinduftrie ift daher die Forderung, bie nicht nur von ber Sozial: demokratie, fondern aud vom Arbeiterfchugfongreß in Zürich und von gründlichen Kennern der Hausinduftrie wie Beatrice Webb und Dr. Alfred Weber erhoben worden ift.

Für die große Mehrzahl, Männer, unverbeiratete Frauen und arbeitende Kinder, würde allerdings, vor allem in der Stadt, die Befeitigung ber Hausinduftrie ein reiner Segen fein. Die verheirateten, gefchiedenen, cheverlaflenen oder verwitweten Frauen haben aber zum größten Teil wegen ihrer Kinder, wegen des kranken Mannes, wegen der Wirtfhaft und aus andern Gründen den Wunſch, zuhauſe zu arbeiten. Und gar die Frauen und Mädchen des Mittelftandes würden nichts als Nachteile haben, wenn man fie aus ihrer angenehmen Wohnung in die Betrieböwerfftatt zerrte. Bon den 230 000 Ehefrauen und Witwen, die in Fabriken arbeiten, würden auch viele lieber zu Haus bei ihren Kindern und bei ihrer Wirtſchaft ihr Brot verdienen, fo bald die Heimarbeit nicht fo ſchamlos ausgebeutet werden bürfte, als es jetzt gefchieht.

Diefelben Urfachen, die den jegigen Zuftand in der Hausinduftrie herbeigeführt haben, machen es auch unmöglich, daß die Heimarbeiterfchaft fich felbft davon befreit. Sind fon die Männer in der Hausinduftrie durch ihre gedrüdte Lage und ihre Vereinzelung unfähig, ſich kräftig zu organifieren, fo fommen bei den Heimarbeiterinnen nun noch Gründe Hinzu, die es bei ihnen erft recht unmöglich machen. Abgefehen davon, daß ihre Arbeit meift keine gelernte ift, fo daß jede Arbeiterin leicht von unzähligen andern erfegt werden kann, wächſt dad Angebot weiblicher Arbeitskräfte vor allem in der Großftadt täglich mehr, und einerfeit® die Töchter und Frauen, die nur einen Nebenverbienft ſuchen, andererfeit die Mütter, die plöglih für die Familie forgen möüffen und nun Arbeit ſuchen um jeden Preis, „Arbeitöwillige” der traurigften Art, machen ein einheitliche® Vorgehen unmöglid. Der weibliche Charakter if überhaupt im allgemeinen mehr von der Familie als von dem Intereſſe des Berufs und der Allgemeinheit erfüllt. Die Familie, diefe Heimat der Frau, macht fie ald Arbeiterin unfähig zur Organifation. Gertrud Dyhrenfurth ift in einem Aufſatz, in dem fie über eine englifche Unterfuchung diefer Frage berichtet, zu demfelben Ergebnis gefommen. Am Schluß jagt fie: „Bisher hat man nur in Viktoria die Konfequenz daraus gezogen und in einigen der sweated trades die zwangsweiſe Organifation eingeführt. Vielleicht, daß wir in Deutfchland vermöge unferer ganzen gefchichtlihen Vergangen—

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heit eher als Eagland und Amerika zu einem ſtaatlichen Eingriff auch auf dieſem Gebiete kommen werden und daß, nachdem den organiſatoriſchen Kräften der Arbeiter: Ichaft freied Spiel gelaffen wurde, da, wo dieſe Kräfte nicht vorhanden oder nicht wirkſam jein können, eine obligatorische Organifationsform gejchaffen wird, in ber die Intereſſen der wirtichaftlihb Schwädhlten ihre Vertretung finden.” Dem fiimme id vollkommen zu.

Der Gewerkverein der Heimarbeiterinnen für Kleider: und Wäſchekonfektion, der im vorigen Herbſt von chriftlich=jozialen Frauen begründet und ſeitdem auf 500 Mitglieder angewachlen ift, gewährt den SHeimarbeiterinnen verichiebene wirtfchaftliche Vorteile, auch Hat er die Ausdehnung der Krantenverficherung auf die Arbeiter der Berliner Hausinduftrie fräftig gefördert, troß des Entrüftungslärm3 der Konfektionäre über diefe „neue Belaftung und Beläftigung der Konfektionäre in Berlin“ aber erft an die Staatshilfe angelehnt wird dieſe Organifation ihren ganzen Wert offenbaren. Wenn der Staat auch bei un? mit gerechter, ftarfer Hand in die Lohn— feftfegung eingreift, jo wie er es in dem fozialen Mufterländchen Viktoria gethan bat, dann wird die Gewerkichaft die Kontrolle übernehmen, ohne die die Ausführung ber ftaatlichen Feſtſetzungen nicht zu verbürgen ifl, und dann wird auf dieſer feiten Grundlage vielleicht auch eine ftarfe Organilation daraus werben.

„Angelicht8 der volllommenen SHilflofigkeit der hausinduftriellen Perjonen zu erwarten, daß dieje Leute auf dem Wege der Selbithilfe ihre Lage beflern, daß ift Utopie. Sch bin der Meinung, daß man bier durch irgend welche autoritäre Organe, Staat oder Gemeinde, in Verbindung mit Unternehmern und Arbeitern Mindeftlöhne für die in dem betreffenden Bezirke produzierten Waren aufftellen follte.” (Prof. Philippovich.) Ähnliche Gedanken vertritt jchon lange Profefior Schmoller, und fehr nahe flieht dem auch der Borichlag von Prof. Brentano, die Heimarbeiter zwangsweiſe zu organifieren.

Die Einrichtung, an die wir bei und zur Verwirklichung ſolcher Gedanken anzufnüpfen bätten, ſcheint mir das Gemwerbegericht als Einigungsamt zu fein. Won Sahr zu Jahr bat es ſich mehr bewährt und das allgemeine Vertrauen erworben. Mit zwei Befugniffen müßte es für feine neue Aufgabe ausgeftattet werden: einmal im allgemeinen mit der Befugnis, beide Parteien, Unternehmer und Arbeiter, zur Verhandlung vor dem Einigungsamt zu zwingen, auch wenn ed nur von der einen Seite angerufen wird; und zmweitend müßten die Mindeftftüdlöhne, deren Feſtſetzung e8 durch Zureden und nötigenfalls durch Schiedsſpruch herbeiführt, gefeßliche Kraft haben. Es müßte mit hohen Strafen belegt werden, geringere als diefe Mindeft: ftüflöhne zu zahlen. Die Erhöhung der Heimarbeitälöhne, die dadurch einträte, würde die Unternehmer veranlaffen, die Technik zu verbefjern, große Werkftätten ein: zurichten, Mafchinenkraft im großen anzuwenden; denn die Kraft der Stepperin, bie die Nähmaschine tritt, wäre dann nicht mehr billiger ala die Dampfkraftl. So würben durch die höheren Löhne ganz von jelbft zum großen Teil Betrieb3werfftätten und Fabriken an die Stelle der Hausinduſtrie treten; und man follte das, nach Dr. Webers Vorſchlag, in der Großftadt durch die Anlagen von Borortbahnen und auf dem Lande, namentlich im Gebirge, durch die Anlage von Kleinbahnen unterflügen: dadurch würde in den Vororten der Großftädte und auf den Gebirgen die Anlage von Fabriken er: möglicht. Wenn aber dann trogdem die Errichtung von Betriebswerkſtätten nicht recht vorwärts gebt, weil die Heimarbeit, ſelbſt wenn fie höher bezahlt ift als die Fabrik— arbeit, durch die Erſparnis an Miete, Beleuchtung u. f. w. für den Fabrilanten oft

Haußinduftrielle Frauenarbeit. 545

doch noch das Billigere ift, jo fann man dem @ewerbegericht als Einigungsamt die Befugnis geben, durch einen Schiedsſpruch mit gefeglicher Kraft auch die Herftellung von Betriebswerkftätten den Unternehmern aufzuerlegen. Das Geſetz, das dem Gewerbegericht diefe Befugnis gäbe, Könnte ihm zugleich vorfchreiben, daß es von ihr feinen Gebrauch zu machen babe in folgenden Fällen: 1. wenn bie Leute auf dem Lande zu weit von einander wohnen und daher vorziehen, zu Haus zu arbeiten, 2. wenn ober foweit die Arbeiterinnen Witwen, verheiratete oder gefchiedene Frauen find, und 3. wenn der Unternehmer ſich verbürgt, daß die Räume, in benen für ihn gearbeitet wird, den gefundheitlichen Bedingungen entfprechen, die für Fabriken vor geichrieben find. Dieſer legte Fall wäre aljo der aller Heimarbeiterinnen oder Heim: arbeiter, die in ausreichender und angenehmer Wohnung arbeiten; beſonders alfo ber Frauen und Töchter des Bürgerftanded. Trifft der Gewerbeinfpeftor in dieſem leßten Fall trog der Bürgfchaft des Unternehmers Leute, die für ihn arbeiten, in vorfchrift: twidrigen Räumen, fo ift der Unternehmer dann fo zu beftrafen, wie wenn feine Fabrik den gefundpeitlichen Vorfchriften der Gewerbeordnung nicht entipricht. Für bie Fälle unter 1 und 2 gilt das natürlich nicht. Selbftverftändlich wäre der Zwang, daß der Unternehmer die Heimarbeiter regiftriert und Lohnbücher an fie ausgiebt, für das alles die Vorausfegung.

An die Heimarbeit der Mütter wäre alfo eine andere Bedingung als die des Mindeſtlohns geknüpft. Wolte man dem Unternehmer Vorfchriften machen über die Heime, in benen fie arbeiten, fo würde man damit nicht® erreichen als indirekt diefe Ärmften zu peinigen. Ihre Wohnungen zu beffern, ift Sache der Wohnungs: und Bodenpolitit. Etwas beffer würden ihre Wohnungen ofnehin durch die Erhöhung der Löhne. Durch diefe würde auch ihre Arbeitszeit kürzer; und wenn einerfeit® durch die Betriebswerkftätten mit Mafchinenkraft, in die die große Mehrzahl der Heim— arbeiterfchaft allmählich übergeführt würde, die Nachfrage nach Arbeitern ſich verringern würde, fo würde andrerfeit3 jede Heimarbeiterin nur noch fo viel fürzere Zeit arbeiten, daß dadurch die Nachfrage nach Arbeitskräften wieder gefleigert und fomit die Löhne über die Mindeftftüdlöhne hinaus gehoben würden.

Überhaupt Handelt es fi ja nur um Mindeftftüdlöhne: es bleibt der Arbeiter- Schaft jedes Geſchafts und jeder Gegend unbenommen, auf ihrer Grundlage ſich durch träftige Streits höhere Löhne als dieſe Mindeftlöhne zu erringen. Auch find es nur Mindeftftücklöhne, die ich vorſchlage; die Gefahr, die bei Mindeftzeitlöhnen befteht, daß bie weniger leiftungsfähigen Arbeiter brotlos werden, ift hier außgefchloffen. Für die Heimarbeit ift ja aud überhaupt nur Stüdlohn möglich. Anders wäre es bei dem Mindeſtlohn für die ungelernten Tagelöhner, wie ihn Dr. von Zwiedineck- Südenhorft vorfchlägt, der am Schluß feines kürzlich erfchienenen Buchs über „Lohn: politit und Lohntheorie” im übrigen zu derfelben Forderung kommt wie ich. Bei Mindeftftüi cklohnen aber find alle Bedenken hinfällig, auch das, ob fich bei wechfelnden Moden und vielerlei verfchiedenen Stüden Stüdlohntarife aufftellen laffen; die meiften englifchen Gewerkvereine beftehn auf Stüdlohn und ändern ihre ausführlichen Stüd- lohnliſten aljährlih. Aufmerkſamkeit erfordert allerdings die Höhe der Stüdlöhne; man kann die für Heimarbeit höher fegen als die für die Werlftatt, fo lange die Heimarbeit für den Unternehmer doch noch billiger bleibt als die der Werkſtatt: fegt man die Heimarbeitslöhne aber zu hoch an, fo befeitigt man, ohne es zu wollen, die Heimarbeit ganz und damit auch die der Mütter.

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546 Hausinduftrielle Frauenarbeit.

Eine Schiwierigfeit entfiebt auch dann, wenn eine Induſtrie fi nur mit un: menfchlich niedrigen Löhnen halten kann. Der Gewerberichter dürfte dann Doch nur ber Feſtſetzung ſolcher Mindeftlöhne zuftimmen, von denen die Arbeiterfhaft leben fann. Sft es der betroffenen Induſtrie nicht möglich, durch Erfindungen und Ber: befferung der Technik auch mit folchen Löhnen zu beftehen, dann möge der Mindelt- lohn ihr den Todesftoß verjegen. Mit Recht fagt Profeflor PHilippowih: „Hat eine Induſtrie, welche Außerlih Waren, thatfächlich aber vermöge der Bedingungen, unter denen fie die Waren berftellen ließ, Arbeit Gefundbeit, Stärke, Volkskraft erportiert, Anſpruch auf Schonung?”

Ein Hindernid muß noch aus dem Meg geräumt werden: in Stadt und Land und in den großen und Heinen Städten ift das Leben verjchieden teuer, der Mindefllobn muß daher verjchieden hoch fein in verjchiedenen Gegenden; dabei aber muß vermieden werden, daß die höher gelohnten Plätze durch die niedriger gelohnten unterboten werden. Es ift daher eine Drganifation jede Gewerbes, für das Mindeftftüdlöhne feitgejegt werben fullen, über das ganze Reich Hin nötig. Arbeiter und Arbeitgeber müſſen Vertreter an einen Zentralpunkt jchiden, wo vor dem Gewerbegericht Mindeſtlöhne dieſes Gewerbes für ganz Deutjchland vereinbart werden. Für die verfchiebenen Gegenden werden zu dem allgemeinen Mindeftlohn Zufchläge feftgejegt, und bier ift vielleicht der Ausweg der englifchen Hutmacher gangbar, von dem das Ehepaar Webb in „Industrial democracy“ berichtet: der Unterichied der Preiſe für die ganze Lebens— baltung entjpricht ungefähr dem der Mieten; nach diefen, deren Durchichnitte ja befannt find, werden die Zufchlagsprozente berechnet. Die Unterſchiede der örtlichen Minimal⸗ löhne werden dann durch andere Vorteile des teureren Platzes und durch die größere Feinbeit der Waren, die diefer herftellt, ausgeglichen, ebenſo, mie das auch jetzt der Fall if. Unnatürlich niedrige Löhne, die jegt an gewillen Plägen die Arbeiterihaft erdrüden, um die andern Pläße zu unterbieten, würden dadurch bejeitigt.

Sobald durch die Mindeftlöhne eine „Sanierung ded Marktes” in der Heimarbeit erreicht ift, fann man auch dem Verbot der Fabrifarbeit der verheirateten Frauen und der gefchiedenen und verwitweten Mütter näher treten. Über die Schädlichkeit der Fabrikarbeit diefer Frauen brauche ich fein Wort zu verlieren; die Spagen pfeifen es von den Dächern, was die Außerhausarbeit der Mutter für die Hinfterbenden und verwahrloften Kinder, für die Wirtfchaft, für den Mann bedeutet. Aber erft wenn die Löhne der Männer in ihren Mannezjahren ausreichend für die Emährung der Familie, die Arbeiterverficherungen ausgebaut und die Löhne in der Heimarbeit menjchenwürbdig fein werden, kann man daran geben, dem Proletariat die Familie zu erhalten. Wenn man in dem Buch von Collet die Kindheit3erinnerungen eines Menjchen lieft, dem durch die Fabrifarbeit die Mutter genommen war, jo wünſcht man, diefer Tag käme bald. Alſo reformiere man bald die Hausinduſtrie!

Durch eine Reform, wie ich fie worichlage, würden von jelbft gewille Berufe, für welche die Heimarbeit geeignet ift, die Berufe der Mütter werden, die auf Erwerbs: arbeit angemwiejen find. Die Mütter ziehen die Heimarbeit, wenn fie anftändig bezahlt wird, allgemein vor, und fie würden als Heimarbeiterinnen von den linternehmern borgezogen werden, weil außer dem Minimallohn ale bejchräntenden Beſtimmungen bei ihnen weafielen. Die Verbindung von Fabrit und Heimarbeit ift auch für den Fabrifanten vorteilhaft. Nur eins ift gefährlich: in der Fabrik würde das ganze Jahr gearbeitet werden, die heimarbeitenden Mütter aber würden nur in der Hauptarbeits⸗

Haudinduſtrielle Jrauenarbeit. 547

faifon herangezogen werben und in der flauen Zeit brotlos jein. Ich weiß da kaum einen andern Ausweg als den, daß dieſe Frauen in verſchiedenen Gewerbszweigen thätig fein müßten, deren Arbeitsfaifons mit einander abwechſeln. Das gefchieht icon jest, aber den meiften fehlt es dazu an der nötigen allgemeinen Vorbildung.

Das ift ja ber wundefte Punkt aller Frauenarbeit: die mangelnde Vorbildung! In der Konfektion zum Beifpiel werden die Mädchen oft in Furzer Zeit notbürftig auf ein paar Handgriffe eingelernt, zahlen dafür Lehrgeld, werben als Urbeitäfräfte ausgenügt und haben nachher ebenfo wenig gelernt mie vorher. Die fchlechte Aus: bildung, fagt Gertrud Dyhrenfurth, ift geradezu eine Gefahr für die ganze Ronfeltion. Gegenüber der Konkurrenz billiger arbeitender Völter kann überhaupt nur in der Qualität der Waren unfre Zukunft liegen. Für Frauenarbeit und Hausinduftrie gilt das befonderd. Der Dann kann aud in ungelernter Arbeit durch feine Körperkraft etwas verdienen, bie Frau aber ift als Arbeiterin fo gut wie wertlos, wenn fie nicht etwas kann, wenn fie nicht etwas gelernt hat. Und für die Heimarbeit gilt bie Forderung von Profeffor Brentano: für Qualitätswaren Schulung, für Duantitäts- waren Befeitigung der Hausinduſtrie. Die Heimarbeiterin alfo müßte zu einer gewiſſen Kunftfertigleit ausgebildet fein. Das gefchieht teilweife in der Fabrik, aus der fie nach der Verheiratung in die Heimarbeit übergeht. Aber in ben meiften Gewerben ift das nicht möglich. Nur Vorbildungsanftalten, die zu verſchiedenen Berufen und vor allem zu ſolchen vorbereiten, die zu Haufe ausgelibt werden können, find Heutzutage im ftande, diefe Haffende Lüde auszufüllen. Und nur ber Staat kann folche weibliche Fortbildungsſchulen unentgeltlich, obligatorifh und über das ganze Land Hin einführen. Auch das, was die Mädchen des Volks jegt meift nur als Dienftmädchen und die meiften überhaupt nicht Iernen, alles was fie als Mutter und Hausfrauen können und wiſſen follten, müßte die obligatorifche Fortbildungsfchule fie lehren. Jetzt wachſen namentlich die Arbeiterinnen ganz ohne ſolche Kenntniffe in die Pflichten der Mutter und Hausfrau hinein: Das fozialdemokratifhe Verlangen, bie Kinder lieber in Anftalten und die Erwachſenen in gutgeleiteten, gemeinfamen Wirt: ſchaften unterzubringen, ift unter den jetzigen Verhältniffen ganz begreiflih. Alſo entweder Anftaltöpflege für die Kinder, Befeitigung des Einzelhaushalt® und gänzliche Auflöfung der Familie oder gründliche Ausbildung aller Mädchen des Volks in Haushaltung, Stindererziehung und in Berufen, die ald Fertigkeiten für die Heimarbeit geeignet find. Dazu muß der Staat zwingen durch obligatorifchen Unterricht, und dazu muß er die Möglichkeit geben, indem er die Erwerbsarbeit aller jungen Mädchen bis zum 16. Jahr auf den halben Tag einfchränkt: die andre Hälfte des Tages gehört ihrer Ausbildung. Nur unter diefen Vorausfegungen hat es einen Wert, die Heimarbeit der Mutter zu erhalten.

Daß die Arbeiterverficherung auch auf die Arbeiter und Arbeiterinnen der Hauss induſtrie ausgedehnt werden muß, ift eine Forderung, die ſich faft von felbft verfteht trotz der Schwierigkeiten, die dabei zu überwinden find. Und auch als Konfument, als der größte Käufer, Tann der Staat bei feinen großen Beftellungen bie aus— gebeutete Heimarbeiterfchaft bedenken: in vielen andern Ländern, vor allem in England, haben die Behörden fchon lange begonnen, in die Verträge mit ben Lieferanten Lohnklaufeln aufzunehmen, die den Arbeitern anftändige Löhne ausbebingen. Und wenn ich es auch für zu weitgehend halte, in ben Verträgen jede Heimarbeit auszufchließen, jo ift doc ein Verbot de3 Weitergebend an Zwiſchenperſonen und vor

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648 Die Laeisz.

. allem die Lohnklauſel jegensreih. Bei uns ijt dergleichen noch jo gut wie unbekannt. Der Staat als Arbeitgeber foll in der Bernfteininduftrie die Heimarbeiterinnen beſonders jchlecht zahlen, das Nähen von Militärbinden wird jammervoll bezahlt, und bei den Lieferungen für die Armee wird von geringem Berdienft der Arbeiter und gewaltigen Gewinnen der Unternehmer berichtet.

Aber vielleicht erleben wir es doch noch, daß man über Vorfchläge, ähnlich denen, die ich hier gemacht Habe, in Erwägungen eintritt. Bielleicht dringt doch die An- ſchauung allmählich in weitere Kreife, die der Abgeordnete Dito von Bigmard-Schönhaufen, am 18. Dftober 1849, in der preußifchen Kammer mit den Worten außfprad: „Ich glaube, es möchten uns unjere wohlfeilen Röde aus dem SKleiderladen zulegt unbehaglich auf dem Leibe figen, wenn ihre Verfertiger daran verzweifeln müſſen, fich auf ehrliche Weile zu ernähren.”

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Ze dr Kaeisʒ ID R. Gröning.

Nachdruck verboten. un ————

Orr

A183 vor einigen Jahren der Bund deutſcher Frauenvereine in Hamburg tagte, RR * re: und man fich zur Schlußfeier im Rathauskeller einfand, überflogen meine Augen PEN. die Verſammlung, und ich dachte daran, ob es mir gelingen würde, Karl Laeisz zu entdeden. Diefer Name bedeutet mir nämlich ein Stüd Familiengefchichte, und ich hatte nicht nur am Vormittag in einem der Rathausfäle das Bild ſeines Potofi, diejes einzig daftehenden Fünfmafters, erblidt, fondern auch die Freude gehabt, während der folgenden Hafenfahrt einige der B.- Schiffe, (Peru, Bernambuco, Pudel ıc.,) mit dem wohlbefannten und oft gehörten F. L. in den hanfeatifchen Farben im Top zu erbliden. Welche Bedeutung der Name Laeidz befigt, ift nunmehr auch weiteren Kreiſen flar geworben, jeit unſer Kaiſer den Potofi befichtigte, und Prinz Heinrich dem todkranken Träger des Namens die legten Grüße feines Bruders überbrachte. Man weiß jebt, was man in den Kaufmannskreiſen der ganzen Welt allerdings längit wußte, daß bie Firma Ferd. Laeisz eines der größten Rhederei- und Afjeturanzgejchäfte ift, und ibr Salpeterimport der Ohlendorff'ſchen Guanveinfuhr gleich teht.

Nun haben fich die Thüren des äußerlich unjcheinbaren Hauſes am Neuen Sungfernftieg wiederum geöffnet, um dem dritten Laeisz den Weg zur legten Nubejtatt nach dem abgelegenen Ohlsdorf frei zu geben. Ein königlicher Kaufmann wurde beftattet und mit königlichen Ehren. Und mie bei dem Begräbnis der Mutter, jo barrte auch jegt eine nach Hunderten zählende Menge auf der Straße, und mande Thräne ift wiederum gefloffen. Unter den nach Hunderten zählenden Kranzipenden waren auch SFrauenvereine vertreten, und die legte Gabe der Witwe durfte eine Krone fein, als Zeugnis gleichfam, daß der Berftorbene Anrechte auf die Bürgerfrone beſeſſen. Neben ihr hatte der unfcheinbare Kranz aus dem Laeiszſtift einen Ehren: plat erhalten.

Sp möchte ich jegt von den Eltern des Verftorbenen reden, den Gründern dei heutigen Weltgefchäftes. Als wir, meine Mutter und ich, vor einem Menjchenalter

Tie Laeisʒ. din

deren Haus zum erftenmal auffuchten, machte ich zugleich die erfte Fahrt über die Grenze meiner engeren Heimat. Damals lernte ich noch ein Stüd des alten Hamburgs tennen. Die Strede, die man heute mit dem Blipzug in faum zwei Stunden durcheilt, beanspruchte eine volle Nachtfahrt mit der Pol. Es war meine erfte Eiſenbahnreiſe und die legte mit dem Eilwagen. „Warum wollt ihr nur bis Harburg fahren?“ Hatte man in Bremen gefragt, wo die Fortfegung diefer Weltfahrt reguliert wurde und malte und zugleich die Annehmlichkeit einer Fähre aus, die in früher Morgenflunde paffiert werden mußte. Damals erblidte man in Hamburg noch den nach englifhem Vorbild blau gefleideten Konftabler mit feinem Stabe, der heute durch den preußifchen Schugmann verdrängt if. Auch die Überbleibſel des Gängevierteld wurden uns durch Vermittlung der alten Qaeißz gezeigt, wie wir fie fchlechtweg zu nennen pflegten. Und fo oft wir den Landungaplat der Alfterdampfer betraten, waren mir von einer Schar jugendlich anmutiger, in farbig echte Tracht gekleideter Vier länderinnen umgeben, die baten: „Mir werden Sie doch Blumen ablaufen, Madame Laeisz?“ Jetzt haben ſich auch diefe Figuren aus dem Hamburger Straßenleben verloren, und erblidt man noch eine Vierländerin in Et. Pauli, dann ift fie ſicherlich weder jugendlich noch farbig gekleidet.

Die alten Laeisz fanden damals bereit? auf dem Höhepunkt ihres Anſehns, zu dem taftlofes Schaffen fie geführt hatte. Ihr bebaglicher Landfig in Eimsbüttel, ihr ftattliches Winterquartier am Jungfernftieg befundeten das. Sinnfälligen Prunk zu treiben aber überließen fie dem Sohn, der nunmehr auch ein alter Laeisz geworden und grade damals fein prächtiges Heim auf der Uhlenhorſt hart am Waller bezogen hatte. Doch auch da verriet fih ein Streben nad Einfachheit, wenigſiens in ber Erziehung de3 Sohnes und einzigen Erben. „Bei und Kaufleuten,“ erläuterte eines Tages der alte Konful, „pflegt der Vefig felten die dritte Generation zu überdauern; was die erfte erwirbt, hält die zweite noch zufammen, aber bei der dritten tritt der Verfall ein.” Das geihah Hier freilich nicht, fondern es durfte ihn mit Stolz er: füllen, daß fein Enfel auf der von ihm betretenen Bahn der öffentlichen Wirkjamfeit weiter ſchritt. Dagegen mußte es fchmerzlih anmuten, daß die Fortdauer des Haufes ſtets nur auf zwei Augen beruhte die jegigen Träger des Namens Laeisz find ſchul— pflichtige Knaben.

Eson damals, vor mehr als dreißig Jahren, galt der alte Konſul Laeitz als eine Berühmtheit. Er hatte als Hutmacher und Buchbindergefelle die Welt durch: zogen, um als vielfacher Millionär zu enden. Frauenfleiß und Umjicht hat redlich beigetragen, biefe Höhe zu erreichen. Sie waren Emporlömmlinge, die alten Laeisz, im beften, fchönften Sinne des Wortes und fchänten fich defien nicht. Auch ala Driginale durften fie gelten. Won ihr hörten wir oftmals, daß fie fi an der Her: ftelung von Frauenhüten beteiligt hatte, die für Afrika beflimmt waren, und er ſprach mit beiterem Behagen von den Abenteuern feiner Lehr: und Wanderjahre, und gern verziehb man ihm 3. B. bei einer Wanderung dur den Hamburger Hafen die Heine Schwäche, wenn er in feinem gewohnten Platt fagte: „Dat iS allens min.” War er doc offenherzig genug, auch auszusprechen, daß erit mit dem Eintritt feined Sohnes, des geichulten Kaufmanns, das Geſchaft feine Weltftelung erlangt hatte. Er felbft hatte es fo weit gebracht, mit altrenommierten Firmen in Verbindung zu treten.

Unfer damalige Tagesprogranım war ein fehr einfaches und beftand haupt: ſachlich in der Morgenfahrt zur Stadt und der Nachmittagsfahrt nach dem ſpäten Mittagsefien in die Umgegend, oft fiber die dänifche Grenze hinaus, die damals noch in lebhafter Erinnerung jtand. Ein Beſuch von Wilkens Steller, jetzt Pforte, ſpielte dabei feine Rolle, wohl aber wurde und mande Wohlfahrtseinrihtung gezeigt.

Wenn wir früh morgens das im Tberftod gelegene Frühſiückszimmer betraten, erſchien bald nach uns der alte Konſul, der jchon fein Morgenbad im Gartenteich genommen hatte, mit den Strümpfen in der Hand, die er mit Nüdficht auf die Gäfte auf den am Eingang ftehenden Stuhl legte, von wo die Hausfrau fie ebenfo leife in das nebenan liegende Schlafzimmer beförderte. Am Abend verfchaffte ſie mit

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der gleichen ſtillen Furſorge der unbequemen Halsbinde im Schlüſſelkorb Unterkunft. In ſolchen und anderen kleinen Zügen, in der unermüdlichen Fürſorge um die Geſundheit und das Wohlbefinden des Gatten, verriet ſich die ſtille Herzensgüte, die man auch am Sohne rühmte und die auf ihn übergegangen iſt. Nach dem Fruͤhſtück widmete ſich der alte Herr der Gartenpflege, bis der Augenblick kam, wo er ſich unter dem Bei— ſtand ſeiner Frau zur Fahrt in das Geſchäft rüſten mußte. Die hilfloſe Einfalt, mit der er ſich bisweilen von allen Seiten betrachtete, hatte etwas Ruhrendes, wenn er dabei außrief: „Was, Mus, haft du mir einen ganz neuen Rock angezogen? Tas wußte ich ja nicht.” Es war auch ein hübſcher Anblid, ihn mit Roſen beladen ab- fahren zu ſehen; die wurden fpäter an die Börlenbefucher verteilt, die fie als Laeizzjche Roſen der Gattin heimbrachten.

Die alte Laeidz ging inzwifchen ihren häuslichen Pflichten nach, zu denen auch die Bejorgung des Frühſtücks für Bater und Sohn gehörte. Dann fuhr auch für uns der Wagen vor, zum shopping, wie man in England jagt. Allerdings betraten wir dabei feine Modemagazine am NReejendamm oder Alten Sungfernftieg, ſondern jolive Läden in ftillen Nebenftraßen. Das Ermworbene wurde zulammengebalten, doc auch mit weiler Hand an andere verteilt. Auf dem Gebiet des Wohlthuns wird ihr Name fortleben, wie der einer Amalie Sieveling und Emilie Wüftenfeld, die gleichfalls ihre Pflichten als Bürgerinnen erfüllt haben. Als man in den Hamburger Bundes: tagen ziemlich geringſchätzig äußerte: „Ach was, die bat nichts für ung gethan“, durfte ich daher mit vollem Recht proteftieren. Die alte Laeisz hat fich, ſoviel ich weiß, der Frauenſache öffentlich nicht angefchloffen. Bielleicht ift die Anregung dazu auch nicht an fie herangetreten; doch die Gründung einer Ortdgruppe des Allgemeinen Deutichen Frauenvereingd würde ihrer Aufmerkſamkeit nicht entgangen fein, und den auf Rinber- und a en gerichteten Bundesbeftrebungen würde fie vollen Anteil entgegen:

ebracht haben.

s Alles innerlich Sohle, aller weſenloſe Formelkram war ihr ein Greuel. Offentlich hervorzutreten, liebte fie jo wenig, wie fpäter der Sohn, und das Auftreten jchellen: lauter Thoren pflegte fie mit fcharfem, ſchnell treffendem Wort, das ihr zu Gebote Stand und fie manchmal gefürchtet machte, abzufertigen. Oft geſchah es dagegen, daß fie fih in jpäter Abendftunde in unfcheinbare Tracht büllte, um ſich unerkannt jelbit zu überzeugen, wie die von ihr geipendeten Gaben verwendet würden. Sie fannte das Volk, aus dem fie hervorgegangen war und ließ fich nicht leicht täufchen. Wenn dann der Gatte fragte: „Mus, wo willft du bin?” Fam prompt die Antivort: „Da? geht dich nichts an, F. L.“, und er ließ fie gewähren. Troß ihres Scharfblids blieben auch ihr gelegentliche Erfahrungen nicht erſpart, die das leiſe Mißtrauen recht: fertigten, da8 über ihren Augenbrauen oft zu brüten fchien. So batte fie fich einit mitleidig bewegen laflen, ihren Rod auszuziehen und einer Armen zu jchenfen, die fie auf ihre ärmliche Tracht hingewieſen hatte. Als fie am andern Tage den Etand eines Straßenbändlers pajfierte, ſah fie dort ihren Nod hängen, der direft au Japan oder China importiert und fofort Tenntlih war. Der ihr mohlbefannte Händler ſchwor jedoch bei dem Gotte feiner Väter, den Rod mit einer Ladung anderer von einem Schiff gekauft zu haben. „Was ſollte ich machen?” jchloß fie lachend, „ich habe mir meinen Rod zurüdgefauft und trage ihn noch.” Die Thür, die zwiſchen Haus und Flureingang de3 Haufes am Jungfernſtieg ein unbemerktes Betreten und Berlaffen ihres Arbeitszimmerd geftattete, war an fich ſchon ein Beweis für die Ausdehnung ihres Wirkens.

Zu feinen Eigentümlichfeiten gehörte e8, daß er wohl abends mit den Worten jein Haus betrat: „Mus, morgen gah id weg”, und fragte fie, wohin die Reife gehe, dann antwortete er wohl: „Ob, bloß nach SKtonitantinopel,” oder wohin es fonft war. Das war dann für fie das Signal, einen Koffer mit allem Notwendigen zu paden mit dem ihr Gatte abreifte, aber nicht zurüdfehrte; denn die gebrauchten Gegen:

ftände wieder in den Koffer zu legen, daran dachte er nicht. Syragte man ihn, was er anfange, wenn er nicht3 mehr babe, dann antivortete er forglod: „Ob, ich bleibe zu Haufe und fage dem Stellner, daß er mir etwas kaufen fol.” In feiner Anfpruchs:

Die Fach. B81

loſigleit gehörte er in die Kategorie der Millionäre, die nicht als ſolche geboren ſind. Eine Uhr trug er nicht bei ſich und würde fie auch wobl immer verloren haben, Ihm genügte ein Blick auf die Sonne, um die genaue Tagedſiunde zu erfahren, und meine allerdings höchſt kümmerliche Fähigkeit, den Stand der Sonne zu beurteilen, babe ich mir damald auf unferen gemeinfamen Ausfabrten an der Seite des alten Konſuls erworben. In ihm verkörperte ſich ein Shakeſpeareſches Element: ſonnige Heiterkeit und kühne Wageluft, die alles, felbft das Yeben dranfegt und dadurd) wohl den Erfolg eines Unternehmens verbürgt, folange es wenigſiens die erften ahnt gilt. Auch die raftlofe Unruhe lebte in ihm, von ber Hamburg durchſeht erſcheint.

Seiner Waghalſigkeit und Gewandheit ſchien nichts unmöglich. Einſt machte er mit vierundſechzig Jahren in Trieſt auf einem Dampfer die Bemerkung, ein Sprung aus dem Maftlorb in dad Meer müfje den Offizieren doch eine Nleinigfeit fein. Es wollte fi feiner dazu verheen, und fofort that er es. „Daß es lebensgefährlich war, wußte ich ja,” meinte er jpäter treuberzig, „aber ich hatte davon geſprochen und mußte es nun doch ausführen.” Seine Frau Außerte dann wohl draſtiſch, daß er nicht eher fterben werde, als bis man ihn wie eine Rage totfchlüge. Gern erzählte er, daß er ald ewig bungriger Lehrling feiner geizigen Meifterin einft eine Wuͤrſt vom Boden entwendet habe. Dabei wurde er gehört, und während die Meifterin die Treppe herabeilte, brachte er die Wurft in Sicherheit und Eletterte behende eine Leiter herab, daß er noch vor ihr anlangte und bei der Diebesſuche folden Eifer an den Tag legen konnte, daß er mit einer zweiten Wurft belohnt wurde. Soldye und andere Erzählungen, 3. B. die feiner Brautwerbung, die man oft von ihm felbft gehört, enthält auch die Autobiographie, die nach feinem Tode von dem Enkel heraus gegeben wurde, aber nicht im Buchhandel erſchienen ift.

Seine Frau pflegte feiner Originalität freundlich Rechnung zu tragen, wie cs einer Gattin zufteht. „Ich kann allerwege durchgehen“, erklärte er wohl auf einem Spaziergang, und dann folgten wir auf das privilegierte Gebiet der Jeniſch in Flott bed oder wohin es fonft war. Aber wie er, jo wußte auch fie ihre Etellung fehr wohl zu wahren. So betrat jie einft morgens um 8 Uhr das Haus der Godeffroh, und da fie wie flet3 Yen gekleidet twar, nahm die Dienerin Anftand, fie einzulaffen. ALS fie aber ihre Karte hineinſchickte, öffneten fich natürlich alle Thüren vor ihrem Namen, und fie hätte nicht Karoline Laeidz fein müſſen, um der Dienerin eine Lektion zu Schenken. Bisweilen fuchte jie den Gatten in harmloſe Verlegenheit zu feßen. Einjt fubren wir nach Blankeneſe, als ein Gewitter uns nötigte, in Teufelsbrüd Halt zu machen und in einer unfceinbaren Gartenwirtihaft an der Elbe einzufehren. Der alte Yaeisz ſah fih um, und äußerte, hier jei er noch nicht gewwejen, man werde ihn wohl nicht fennen. Schlagfertig verlegte fie: „F. &., thu doch nicht jo” und forderte ihm nach einer Weile auf, zu bezahlen, wohl wiſſend, daß er niemals (Held bei ſich führte. Er geftand es der Kellnerin ein und fragte, ob fie ihm auf fein ebrliches Geficht Hin borgen wolle. Sogleich wurde geantwortet: „Natürlid, Here Laeisz.“ „Ich Tage e3 ja, ihn fennt jeder,” jente jeine Frau hinzu.

Ob es auf dem Landiig in Eimäbüttel einen Bücherſchrank gab, weiß ich nicht mehr zu jagen. Ihm ließ die fauimännishe und öffentliche Thätigfeit wenig Zeit zu nachhaltiger Lektüre, und von ihr wußte man, daß fie nur medizinische Werke las. Auf dieſem Gebiet durfte fie ich aber ihrer Kenntniſſe und Erfahrungen ruhmen. Dagegen liebte ber alte Laeisz den Ankauf wertvoller Bilder, und es bereitete ihm Freude, die Auimerkjamteit darauf zu lenken und zu erzählen, wie viel Tauiende ſie ihn gekoſtet bätten. Es iit nun einmal Hamburger Art, alles auf den materiellen Wert hin abzuihägen. Wie jeine Gattin den Beiuch der Konzerte liebte, und auch andern gern zugänglich machte, jo war er ein eitriger Tbeaterbeiucher, une fam man, wenn bie Voritellung begann, in jein Haus, io erbielt man jein Billet, inces er von dem Recht des freien Eintritts Gebrauch machte, und Die Stammgähte fih wohl fragten, wer denn beut den Kap des alten Laeisz einnäbme. Handelie es fd Darum, ein Tbeaterdefizit aus zugleichen, dann feblte er ni

552 Die Laeisz.

An den Weltfahrten des Gatten nahm Frau Karoline keinen Antell. Syn jpäteren Jahren mag fie ihn oft mit ihrer Sorge begleitet haben, wenn er 3. B. in London jtundenlangem Regen troßte, um die Auffahrt zur Königin anzufeben. Es galt als ein Ereignis, daß fie fich einmal auf langes Drängen Hin entihloß, ein befreundete® Haus in Bremen aufzufuchen, wohl der einzige Fall, dab fie Hamburg verlaffen hat. Das Laeiszſtift in St. Pauli war ihre Lieblingsfchöpfung ein Geburtätagägefchen? ihres Gatten. Es gewährte fünfzig alten oder unfähigen Leuten ein Aſyl und läßt den Namen Laeisz weiterleben, obſchon es an Größe dem Schröder: ftift nicht gleichlommt. Erſt ala körperliches Siechtum fie war zulegt recht fünmer- ih Frau Laeisz dazu zwang, überließ fie die Sorge für das Stift ihrem Sohne. Sie war zeitlebens eine gute Hausfrau, deren Dinerd, Hummer und Spid: aale man zu würdigen wußte. Aufgaben, wie fie das bürgerliche Geſetzbuch an Die Witwen jtellt, wäre fie auch im größten Umfang gerecht geworden, denn fie war ſtets eine gute Gefchäftsfrau geweſen. Ihrer Selbftändigfeit und ihrem Scharfblid würden auch kaum deſſen Mängel entgangen jein und die Inkonſequenzen der Befeg- geber, 3. B. das Verbot des Börfenbefuches. Ob fie jolcher Erkenntnis Ausdrud verliehen Hätte, ift freilich eine andre Frage. Im Kontor des Gatten war fie beimifch, wie im eigenen Haufe, und jede Unordnung der anderen Hausbewohner fand an ihr eine ftrenge Richterin. Sie ließ fich ftetS die Bücher vorlegen und war über den Stand der Gejchäfte immer genau unterrichtet. „Meine Tönigliche Mutter“, pflegte fie der Sohn zu nennen, wenn fie auf der Neueburg erichien.

Unmdglih war e8, mit dem alten Paar zufammen zu fein, ohne an beider um: begrenztes Wohlthun gemahnt zu werden. Meine erite und legte Erinnerung an beide ijt damit verfnüpft. So erſchien am erften Tag meines Aufenthalts im Haufe ein ein facher Sciffelapitän, der mit bemwegter Stimme um die Gunft bat, fein neu erbautes Schiff Ferdinand Laeidz nennen zu dürfen. Es wurde ihm nur geftattet unter der Bedingung, daß der Enkel als Pate des Schiffes gelten jollte. Und dann fuhr ich abermal3 nad dem ftillen Landſitz hinaus, teild aus eigenem, teild auf fremden An- trieb, denn man batte un? von der Erkrankung der alten Frau Laeisz geiprochen.

batte mich kaum dem alten Herrn genähert, als ein junger Mann ftaub: und ſchweißbedeckt erichien, ein Baron von Z., und mit Thränen in den Augen nach ihrem Befinden fich erfundigte. Er erzäblte, daß er troß des Feierabends fein beſtes Pferd aus dem Stall gezogen und halb zu Schanden geritten habe; denn er dante ihr den geficherten Bei feines Erbguted®. Der alte Mann hörte das gütig, aber auch mit der unerjchütterlichen Würde eines Kaufherrn an, die ihm. jo gut ftand.

Damals fchien eine Steigerung in den äußeren Berbältniffen und im Beſitz faum noch möglich zu fein, dennoch ift fie eingetreten. Bis dahin hatte es ſchon an gelegentlichen Ehrengeſchenken nicht gefeblt, 3. B. aus dem Kabinet Friedrich Wilhelms IV. Später erhielt fie das eijerne Kreuz und auch, irre ich nicht, den Zuifenorden. Eie trat damit in die Neihe derer, deren Wirken gleichſam ftaatlich anerkannt ericheint. Ihm murde wiederholt die Aufgabe, Wilhelm I. in jeinem geliebten Hamburg zu empfangen. AS aber vor der Diamanthochzeit vertraulich angefragt wurde, ob dem Jubelpaar eine Bibel als Geſchenk des Kaiferpaares angenehm wäre, erklärte der Sohn: „Ya, wenn etwas bineingejchrieben wird.” Es steht zu Hoffen, daß folches Selbftgefühl, auf freiem hanfeatifchen Boden erwachſen, in unjerem Föbderativftaate nie ausfterben möge.

George Band und ihre Bebentung für Sie Franenbewegung.

Von

Anna Brunnemann.

Naqhdrug verboten.

ünfundzwanzig Jahre find vergangen, feit am 7. Juni (1876) zu Nohant in der anmutigen Provinz Berry die Echloßherrin aus dem Leben fchied, Sp eine treffliche Mutter ihrer Kinder, eine prächtige, märchenerzäplende Groß: mutter, bie geiftige Freundin bedeutender Zeitgenoffen, die mütterliche Beraterin aufs ftrebender Talente, die MWohlthäterin aller Armen und Unterdrüdten. Die dreiund⸗ fiebzigjährige edle Greifin war niemand anders ald George Sand, deren Name mit Begeifterung von einer ganzen Generation genannt wurde, und deren Werke in unferer fchnelllebigen Zeit beinahe nur ein litterarhiftorifches Intereffe erregen würden, wenn wir nicht daneben dieſes bedeutende Frauenleben an fi als Beifpiel einer kühnen Selbftbefreiung des geiſtig hervorragenden Weibes in Betracht zögen. Denn wer lieft heute noch George Sand? An uns vorübergebrauft find die Stürme des Naturalismus und haben bie Periode glutvoller Poefie und Iyricher Deflamation, toller himmel: ſtürmender Phantafie und troftlofen Weltichmerzes ebenfo verdrängt, wie fie das liebliche genrehafte Idyll unmöglich machten, das George Sand in der legten Phafe ihres litterarifchen Schaffens pflegte. Dieſes aber wird immer und immer wieder aufleben, weil e8 auf dem Boden klarer realiftifcher Anfchauung ſteht und firenge Ge: ſchloſſenheit der Kompofition zeigt. Wer aber Hat noch Zeit, die romantifchen Vhantaftereien, bie breit ausgeſponnene Gefühlsſchwelgerei zu leſen, die ſich über viel: bändige Romane erfiredt? (George Sand ſchrieb über 110 Bände.) Nur das ernfle litterarifche Intereſſe wird fie aus ihrer Erflarrung in ben Litteraturbüchern erlöfen und fie noch einmal aufleben laffen in voller Dichterglut; es wird unſchätzbare zeit: geiichttiche Dokumente in ihnen finden, die ganz beſonders für und Frauen von eri find. Das Leben, das Handeln, die Werke der George Sand waren maßgebend für die ganze romantische Auffaffung vom Weibe und Peiner Liebe. Als fie ſich fpäter mehr praftiichen fozialen Fragen zumandte, behandelte fie die Toziale Stellung Frau, und ihr Einfluß erftredt ſich tief binein in die Litteratur des Jungen Deutſchlands. Vertiefen wir uns heute an ihrem Gebenktage in das Lebenswerk der nur noch wenig Gelejenen; es wird nicht ohne Gewinn fein. Zu befierem Verftändnis fei ihr Lebensgang wieder ind Gedächtnis zurüdgerufen. Marie Aurore Dupin (George Sand) ift aus einer ſeltſamen Verquidung von Raffen und verſchiedenen fozialen Sphären hervorgegangen jo daß fich ihr ungeftümer Drang nad Eelbftändigkeit und Fünftleriihem Sichausleben, ihre große Vorurteile: loſigkeit und NRüdfichtslofigkeit, ihre geiftige Überlegenheit ebenfo leicht aus Atavismus erflären laflen, wie die gemütvolle, mütterliche Seite ihres Wefend, „ce besoin de cherir sans cesse‘; ihre Vorliebe für das Volt und dad Volkstümliche, ihre fpäteren hauslichen, gut bürgerlichen Neigungen. Wenn der Marſchall Morig von Sachſen, der natürliche Sohn Augufts IL. und der fchönen Aurore von Königsmark fih nad dem Siege von Fontenoy in den Armen galanter Frauen erholte, wenn Marie Aurore de Sare, bie feinem Verhältnis zu einer Schaufpielerin entiproffen, mit allen frei: geifigen Anſchauungen der Revolution genährt wurde, wenn deren Sohn endlid) als ffizier des Empire das Leben de3 fürftlichen Großvater im kleinen fortſetzte nur daß er ehrlich genug war, das Kind, das ihm ein Mädchen aus dein Volke

554 George Sand und ihre Bedeutung für bie Frauenbewegung.

ſchenken follte, vier Wochen vor feiner Geburt durch Heirat zu legitimieren was Wunder, daß eben dieſes Kind das Hecht der Leidenschaft durch Wort und Beiſpiel in zu weitgehender Weife verteidigte? Die intelligente Großmutter aber, in zweiter Ehe mit dem gleichfalls geiftig Hochftehenden Herrn Dupin de Francueil vermählt. verlieh ihr edlen, ariftofratifhen Sinn und hohe geiftige Bedürfniſſe. Vom Bater jcheint eine loyale Ritterlichfeit, von der Mutter das demokratiſche, faft Tpießbürgerliche Element auf fie übergegangen zu fein. 1804 geboren, verlor Marie Aurore Dupin Ihon 1808 ihren Vater durch einen Sturz vom Pferde. Sie wurde der Mutter ent: rilfen, als einzige Erbin von Nohant unter der Agide der Großmutter erzogen ober vielmehr fich felbft überlaffen. Ihre Kindheit verträumte fie in dem Tieblichen Berry, das fie oft als Knabe verkleidet durchſtreifte. Hier ſog fie die große Liebe zur Natur ein, an der fie immer wieder nach leidenfchaftlichen Lebensſtürmen gena3 und die wie ein mildes, friedenfpendendes Abendrot ihre legten Werke und Lebens— jahre verflärte.

Sie lad wahllos und planlos, was die Bibliotbet zu Nohant bot. Rouſſeau war ihr erjter Lehrmeifter. Mit ihm glaubte fie an die natürliche Güte des Menſchen und an die verberbenbringende Macht der Kultur, wie die fpätere George Sand an den angeborenen Adel und an die natürliche Güte des Frauenherzens glaubte und ſich gegen den Zwang beuchlerifcher und deshalb verderbenbringender Sitte empörte. Später waren ed Byron, Chateaubriand, Lamartine, die die junge Seele mit glühender Begeilterung erfüllten. Bedeutungsvoll wurde für fie der Tod der Großmutter, der die Sechzehnjährige wieder mit der Mutter vereinigte. Dieſe erjehnte Vereinigung aber brachte bittere Enttäufchung. Madame Dupin, die von einer Penfion ihrer Schwiegermutter mit zwei Kindern aus einer früheren Verbindung in Paris lebte, bewegte fich in einer niederen Lebensfphäre, in der die junge Aurore nicht heimiſch werden konnte. Sie nahm die Hand des Baron Caſimir Dudevant an (1822), eines Ihmuden Offizierd, brachte ihm Nobant zu und führte mit ihm fieben Jahre lang das Leben einer Landedelfrau, dad nur durch einige Reifen nach dem Süden unter: brochen wurde. Zwei Kinder, ein Sohn und eine Tochter, gingen aus biefer Ebe hervor; fie brachten die Gatten, die fich jehr bald fremd geworden waren, nicht näher. Der Baron Dudevant, ein rober Landjunker, hatte feine Ahnung von der geiftigen Bedeutung ſeiner Lebensgefährtin; er trieb fie geradezu an, ihre nach Nahrung verlangende Seele anderen zu offenbaren und quälte fie dann mit Giferfuchts: ſcenen. 1832 war dad Maß vol. Aurore .erbat fich eine Benfion von dem Gatten und zog mit ihrer Tochter Solange nad) Paris. Sie erhielt nur 250 Franks monatlich. Das bedeutete für fie bitterfte Armut, Zwang zu eigenem Erwerb. Nach langem fruchtlofen Taften entdedte fie ihr ſchriftſtelleriſches Talent. Mit Jules Sandeau, ihrem Freunde und Landsmann, fchrieb fie „Rose et Blanche“. Bereit mit dem nächſten Roman war fie jelbitändig; fie hatte ihre Bahn gefunden. Indiana ging unter dem Namen George Sand in die Welt. Die Baronin Dudevant war tot; George Sand war für die Titteratur geboren. Wer aber war George Sand? Ein Zwitterding, das, als Student verkleidet, mit langem Überrod, malerifch geichlungener Kravatte, einem Sammetbarett, unter dem die braunen Locken bervorquollen, in Ge jellichaft der „berrichons“, einer Truppe junger Landsleute aus dem Berry, Theater: premieren und Clubs befuchte, in den Studentencaf6® zu Haufe war und ſich aus: lebte in der ftudentifch-Fünftlerifchen Boheme des Quartier latin. Doch aus der Chryſalide entwidelte fich immer mehr und mehr ein herrlicher, farbenprächtiger Falter. Dez Nachts ſaß die fleißige Schriftftellerin bei der Arbeit; unerfchöpflich quoll e8 aus ihrer Feder hervor, ihre Phantafie war überrafchend fruchtbar. In jchneller Auf: einanderfolge erjchienen die Romane Valentine, Lelia, Jacques, Andre, Leone Le&oni. Ruhm und Gewinn ftellten fich ein, und der unfcheinbare Student wurde eine der bedeutendften Frauen der Zeit, die Bierde der litterarifchen und fünft: lerifchen Salond. 1836 ließ ſich Aurore Dudevant von ihrem Gatten jcheiden; ihre Kinder und ihr Vermögen wurden ihr nad) langen, peinlichen Gericht2verhandlungen, bei denen fie der befannte Demokrat Michel de Bourges als ihr Sachwalter unter:

George Sand und ibre Bedeutung für die Frauenbewegung. Kuh)

ſtũtzte, zugeſprochen. Ihre Unabhängigkeit war errungen. Bedeutende Männer fuchten ihre Freundſchaft; nad einer leidenichaftlichen Verbindung mit Alfred de Mujfet, traten ihr Beranger, Pierre, Lerour, Michel de Bourges, der Abbe Lammenais, Ledru:Rollin näher. Eine abermals leidenfchaftliche Neigung fefelte fie lange J— an den genialen aber fränklichen und desbalb Iaunenhaften Friedrich Chopin. Lie war befreundet mit Liszt und der Gräfin d'agoult. Von 1837— 1848 erichienen als bedeutendere Romane: Mauprat, Horace, les sept cordes de la lyre, Jean, le Meunier d’Angihbault; bald nach 1848 Ia petite Fadette md la Mare an diable. George Sand nahm Tebhaften Anteil an der Nevolution von 18-18, Dur) die Junitage ernüchtert, gab fie ihre „demission politique“*, um nach dem Staatöftreich noch einmal in politiicher Miſſion hervorzutreten, indem fie für zahlreiche Verbannte mit rührender Beharrlichfeit bei Napoleon III. um Begnadigung nachſuchte.

Zn ihrem geliebten Berry alternd, jchrieb fie im ungeſchwächter Echaffenstraft bis zu ihrem Tode Nomane, Theaterftüde, Kindergefchichten und ihre Lebensgeſchichte; durd eine ſehr ausgebreitete Korreſpondenz ſtand fie mit allen bedeutenden Ne: präfentanten der jüngeren litterarijchen und fünftleriichen Generation in Verbindun fie widmeten ihr eine jchranfenlofe Verehrung. Guſtave Flaubert nannte fie „una che Gent und fie ward dem einfamen Sonderling eine tröftende, wahrhaft miütterliche

reundin.

Die bekannteſten Werke ihres Lebensabends find: Le Marquis de Villemer, les beaux Messieurs de Bois-dore, les Confessions d’une jenne fille, Durch ihr geruhigtes Altern, ihr liebevolle Wefen Löfchte fie die Erinnerung an das abenteuerliche Bohemetum zu Anfang ihrer Carriere aus; nur die edelften Eigenfchaften der George Sand findet man in der Schloßherrin zu Nohant wieder: vollkommene Vorurteilsloſigkeit, volltommene geiftige Freiheit und Gefundpeit, mütterliche Hingebung, oder, wie fie ald Motto zu ihrer Lebenzgeichichte fo treffend fagte: „Charite envers les autres, dignit@ envers soj-meme.“ Auch das im fi) gelehrte, mehr cms pfangende als gebende Weſen war geblieben. George Sand war niemals, wie bie meiften Franzöfinnen, geiltreich und überiprudelnd, fondern eher finnend und mit großen Augen laufchend, die Ideen gleichfam aufiaugend, um fie erft wieder unter ihrer un: ermüdlichen Feder hervorquellen zu laſſen.

Drei Produftiondepochen treten im Lebenswerk der großen Schriſiſtellerin ſcharf hervor. Sie find eng mit ihrem äußeren Lebensgang verknüpft und greifen mur wenig in einander über: die romantijche, Die ſoziale und die idulfifche. Zunachn iſt fie ganz fie jelbft, das leidenfchaftliche, von glübender Phantaſie bejeelte Weib, das die Hudy: gehenden Wogen der Romantik tragen und an dem alles überjtrömendes, jubjeltives Empfinden it. Auf der Höhe des Lebens umtobt fie der Zeittampf, das Aufruhr: geichrei der Nevolution; ſie ſtürzt ſich mit dem ihr eigenen Ungejtüm mitten hinein; fie nimmt die Jdeen bedeutender Führer fajt fanatiich auf, um ihnen mit Hilfe ihrer kühnen Phantaſie Geitalt zu verleiben. Bisweilen trifft jie überraſchend gui den Ton der Zeit und zeichnet wabrbeitägetreue Menſchen; Liemweilen verjagt ihre Kraft, ie wird bis zur Ungenießbarkeit weitſchweifig und theoretilierend. Nach Überwindung aller politischen Stürme findet fie ihr Gleichgewicht und ihren künſileriſchen Menſchen wieder; jie fongentriert fich und gelangt zu innerer Harmonie. Sie ſchafft Meiſier⸗ werfe intimer Heimatkunſt. Als litterariiche Produkte von bfeibendem Wert itehen dieje legten Werke am böchſten. Wir, die wir der Frau als Eelbitbefreierin, ald Vor⸗ tämpferin für die großen Umgeſtaltungen, die ſich allmählich in der jozialen Lage ber Frau vollzieben iollten, näber treten möchten, baben vorwiegend die beiden erjten Perioden ihres Schaffens au betrachten. Zunächſi die romantiiche.

Der Student George Sand ware wohl im WVobmetum untergegangen, hätte er nicht feine eminente litterariiche Begabung entdedt. Tie Frau aber, die mit

„Indiana“ eine jo geniale Probe ihres Könnens abgelegt, Durite ſich mit jouveräner Vorurteiläloiigteit und Kudüchtstoügkeit erlauben, ter Seielihait, die fie io lange unterdrüdt, den ;sehrebandihub binzuichleudern. Sie feiert zunachſt mit allen ibr zu Gebote stehenden Mitteln das Recht der Leidenichait, das Anrecht Des weiblichen

556 George Sand und ihre Bedeutung für die Frauenbewegung.

Individuums auf jelbit gewähltes Glüd. Sie tritt jofort in offenen Kampf gegen die Gejellichaft. Deren Ordnung, auf eine Ehe gegründet, die durch eine beuchlerifche Sitte gefälfcht und verderbt wird, muß völlig ungeftaltet werden, und das reformatorifche Element wird die reine Liebe fein. Brunbildengleich verteidigt George Sand die Liebesleidenjchaft ala elementare, unbezwingliche Naturkraft gegen bie kaltherzige Frida, das heuchelnde Geſetz harter Sitte. „Indiana“ ift ein Niederichlag ihrer Er⸗ bitterung gegen die Form der Ehe, die fie jelbit fennen gelernt Bat. In „Valentine“ nimmt fie mit entzüdenden Einzelheiten und umvergleichlicher Poeſie das Thena der unbeiligen Convenienzehe wieder auf, die nur Unglüd im Gefolge Hat. Hier heißt es einmal: „le mariage est toujours une des institutions les plus barbares que la societe ait &ebauchees; je ne doute plus qu’il soit aboli, lorsque l’humanite aura fait quelques progres vers la sagesse et la raison.“ Nachdem fie in dem wunderlich phantaftiihen Roman „Lelia* in der beraufchenden Sprache Alfreb be Muſſets, der ihr um dieje Zeit nahe ftand, ein Symbol überfinnlich-finnlichen Liebes: verlangen? auf dem Hintergrund venezianifcher Maskenfeſte der Renaiffancezeit gegeben, -tritt fie in weiteren Romanen der Wirklichleit wieder näher und führt die Forderung, die Stau dürfe über fich frei verfügen, bis in die letzten Konjequenzen durch. Ihr Slaubensbefenntni® Heißt: die Liebe ift eine heilige Handlung; ihr widerſtehen „sacrilege“ ; fie bei andern tadeln Gottlofigfeit, denn fie ift unmwiderftehlich, weil fte göttlich ift. Sie eifert beſonders gegen die Roheit der Ehegatten und läßt biefe eine traurige Rolle des brutalften Egoismus jpielen. Was ihre Geftalten, die der große Dichterhauch echter Leidenschaft durchglüht, an theoretiichen Forderungen für das Ver: hältnis der Gatten zu einander aufitellen, mutet uns oft echt elementar an; in dama— liger Zeit rief e8 einen Sturm der Aufregung hervor. Völlig neu war dieſes Wagnis einer Frau. Der „Bourgeois“ zich George Sands Schriften der Unfittlichfeit; für freiere Geifter wurden fie ein neued Evangelium. Die Saint:Simoniften, mit denen fie durch ihre Inrifchen Predigten immer mehr Berührungspunfte gewann, zogen fie bald völlig in ihren Bann; war fie bisher nur fubjeftive Verfünderin ihres eigenen Schickſals, ihrer eigenen Gefühlswelt geweſen, jo jah fie fich jeßt zu einer wirklich reformatorischen Million berufen.

Che wir diefe weiter ausführen, noch einige Worte über den Saint-Simonigmus: Der Graf Saint:Simon, geb. 1760, ein univerjeller Geift, von den Miderwärtigfeiten des Schidjals vielfach verfolgt, hatte in feinen fpäteren Lebensjahren ein Syſtem zu einer Erneuerung der Geſellſchaft durch Wiſſenſchaft und Induſtrie aufgeftellt. Er predigte das Dogma der Belohnung nad) individueller Fähigkeit, indem er den produftiven Menjchen als den wertvolliten anfah. Er verlangte ferner völlige Gleichſtellung ber Frau mit dem Mann, denn zur Klaffe der Enterbten, die er fchügen wollte, gehörten nach feiner Anficht nicht nur die dDarbenden und befiglofen Arbeiter, Jondern alle rauen, denn das Weib wird vom tyranniſchen Mann nur ausgebeutet und auf unmwürdige Meile beherricht. Schließlich verwarf er die Dogmenlehre und ftellte als höchſte Religion die Nächftenliebe Hin, durch die das Elend des Proletariats jo raſch wie möglich gebefjert werden würde. Saint:Simon hatte, als er 1835 flarb, nur eine Heine Gemeinde um fich verjammelt, doch diefe Lehre lebte als kraftvolle Unterftrömung in der Tagesflut fort und eıftarkte, als fich vor dem Ausbruch der Sulirevolution die Unzufriedenheit mit den beftehenden Verhältniffen immer gewaltiger fteigerte, zu einer fozialen Macht. Bedeutende Männer wurden von ihr angezogen; es bildete ſich eine Seite der Saint: Simoniften mit einem regelrechten Oberpriefter. Daß nun auch Apoftel, wie Enfantin, auftraten, die die ertremfte Seite der Lehre bis in ihre legten Konſequenzen verfolgten, und fchließlich deren Untergang veranlaßten, kann Bier nicht weiter ausgeführt werden. Uns interejjiert vorwiegend die Etellung, die der Saint: Simonigmus zur Frauenfrage nahm. Er fuchte das Weib völlig zu emanzipieren, nad) den Worten des Meiſters: les femmes, à peine sorties de la servitude, sont encore partout tenues en tutelle et frappees d’interdiction religieuse, politique, sociale; l’homme lui seul, constitue l’individu social. Le mariage est un acte purement individuell. Les femmes serunt definitivement affranchies,

sorge Sant und ihre Vede: 557

Vindividuseialseral’hemm« . scientifique, industrielle se exerce 2 .. Vergl. Orten. Bd. 2, &. 220)

ht die Schuld Saint: Simens mar cs, wenn fc ber „art IN Zeit feine Lebre zu nuge machte, um die Em auf freie Liebe verauiden. Geerge Sand Tribut, wir feben fie aber gerade durch den Sait vielfeitiger und zielbewußter werden. Sie tritt nit mehr

iche Zug ter em Hecht er Kifzuna ibren allmablich geläuterter,

zu überbliden. Ibre Liebe zum Velt treib: ii bevölferung, Die Dur die wachſende Inuftrie in begriffen war. Sie erkennt ibre i übertünchten Kafie der Beũtzenden bie Tugenden des vierten Standes. Als ibr beñes Ku beigende Satire auf den jungen Bourgeois, tem de Mannes aus dem Volke gegenuberachteir wirt. Itre & die frübere: „Marthe' fagt Die Freun u gegeben „pourynoei done cette doul-ur? Est er la erainte de l’aveni Tu as dispese de toi. Turtai- libre: pero ube ia le dreit de tUhumilier”.

Kunñleriſch weniger geichloen une „le Compaznon Aut 2 beichäftigt ni

in ter m Anden und creiit Die „Horarı“

Lammenais. dem Femekrani war George Sand zur damaligen get m nur ein aute dutch rerolu:ionare Stürme H

Männer en Ider Kanenzloterem gnügt fi Journaliãut. mie Die Kette i fteigender, Aeberba eworden und re illegiatur

558 George Sand und ihre Bedeutung für bie Frauenbewegung.

etouffe, on languit, on pleure, on räle, on expire dans les mansardes et dans les cachots. Jamais la race humaine n'a fait entendre une plainte plus sourdeo. plus rauque et plus menacante.*

Die idplliiche Periode ihres Dichterlebens ift angebrochen, die Periode des Aus- klingens, des Gefunden? von allen Stürmen und Widerſprüchen ded Dafeind am Herzen. der Natur, des Heimatbodend. In der Einfachheit des [ländlichen Lebens hat George Sand eine Zuflucht gefucht und gefunden.

Und während fie jo ihrem Lebensabend entgegengeht, Ballt ihr Name weit über die Grenzen ihres engeren Vaterlanded hinaus. Schon um 1830, ala das „Junge Deutichland” jeine „äfthetiichen Feldzüge” begann, um die beftehende Kultur durch äfthetifche Bildung zu reformieren, holte man ſich Rat bei den Saint-Simoniften. Gutzkow, Laube, Theodor Mundt, Ernft Willkomm u. a. ftudierten deren Zeitfchrift „le Globe* und nicht zum geringjten Teil wurden zugleich aus den Romanen der George Sand die neu aufzuftellenden Glaubensjäge gezogen: dem Individuum muß volle Freiheit verjchafft werden, damit es fich zwanglos, ganz feiner individualität gehorchend, entwideln Tünne. Staat und Kirche in der beitehenden Form müflen abgeichafft werden, meil fie der freien Entwidlung des Individuums binderlih find. Die Frau iſt zu emanzipieren. Zahlreiche Frauen jtehen auf und begrüßen dankbar die neue Lehre, denn trotz aller wiflenfchaftlichen und induftriellen Fortſchritte der Zeit bat man fich bisher jo gut wie gar nicht um die Frau gefümmert. Der ideale und ipäter materielle Notfchrei der George Sand wird von ihnen leidenjchaftlich wiederholt. Viele ſehen aber nur eine Berechtigung zur Sprengung läftiger Ehefeſſeln, und mir ftoßen auf leidenſchaftliche Plaidohers für freie Liebe. Die mehr tendenziöfen als dichterifchen Produktionen diefer erregten Zeit find voll davon. Am ftärfften tritt Gutzkows „Wally” für die neuen Theorien von Befreiung des Weibes ein; theoretifch verkündet er im Vorwort zu den Briefen über Schlegeld Lucinde: „Das Zujammen: leben zweier Menſchen muß durch volle Liebe geheiligt fein. Die Erziehung der Mädchen aus befjeren Ständen vernachläſſigt alles, was fie zu Geführtinnen bes Mannes machen könnte.“

Unter den vielen hervorragenden jchriftitellernden Frauen der damaligen Zeit verhalten fich die innerlich gefunden (wie Fanny Lewald) den George Sandichen Ertremen gegenüber maßvoll einjchränfend, während krankhaft Leidenjchaftliche und zügellofe Tenperamente in ihr das deal erbliden. Am meiſten bat wohl bie ercentrifche Gräfin Ida Hahn-Hahn im Bann der George Sand ber erften Periode geftanden. Sie Jchildert mit Vorliebe das geniale, Heißblütige Weib, dad ſich, an eine unmürdige Che gefettet, zur Sprengung der Ehefefleln berechtigt fühlt, um ſich ganz einer tiefen Leidenschaft hinzugeben.

Löſt man die Schicht des Vergeſſens, die fich in Jo furzer Zeit ſchon über Leben und Lebenswert der großen Schrififtellerin gebreitet hat, jo iſt's, als ob man einem erfalteten Krater zum neuen Ausbruch verhülfe. Alles gährt und ftürmt; die elementare Duelle heute geläuteter Gedanten wird mit einen Male auß dem Schoße der Ber: gangenheit emporgewirbelt.

George Sand jelbft bat in ihren fpäteren Lebensjahren zu diefer Läuterung beigetragen, indem fie als Künftlerin wie als Menſch zur Harmonie gelangte. Sie bat ſogar fpäter der Ehe einen Hymnus gejungen und ftellt das deal des Ehegatten in folgenden Worten hin: „le mari tel que l’a fait Jesus, tel que l’a explique St. Paul, en un mot mariage vrai, ideal, humanitaire et chretien & la fois, qui doit faire succeder la fidelit& conjugale, le veritable repos et la veritable saintete de la famille & l’esp&ce de contrat honteux et de despotisme stupide qu’a engendres la decrepitude du monde“.

George Sand bat fich zu immer reineren Idealen emporgerungen; der große idealiftifche Dienjch in ihr wird fie überleben. Er ſteht über allen Stürmen ihres äußeren und inneren Lebens. Er hat das Leiden einer ganzen Generation verftanden und ſich in alle quälenden Probleme zum Heil der Menjchheit zu vertiefen gefucht. Er bat die flammende, durch Schönheit geheiligte Sprache der Liebe geredet, er hat

An der Kindheit Grenze. 569

aus tieffüßlendem Kerzen heraus die Klage gegen alle Uugercchtigfeiten erhoben, er hat mit echt dichterifcher Phantafie das Schöne im Menfchen und in der Natur verherrlicht.

' Serige Sand ift niemals von einer rein idealen Auffafjung der Dinge ab» jewichen und ins Gemeine und Häßliche gefunfen. Stets hat fie ihr Ideal hoch zu Helen gewußt, felbft wenn dies Ideal am fi eine perfönliche oder der Zeit eigen: tümliche Verirrung mar.

IL

An der Kindheit Grenze.

Elifabeth Siewert.

Rabbrud verboten. .

ie gingen zwiſchen zwei Mauern, ſondern bereicherten es nur, berfuchten niemals Erneſtinchen und das Kind. Es waren die ! ihm Zwang aufzuerlegen, dafür wurden fie Himbeerfträucher, die diefe Mauern bilveten. | gelicht. Das Kind war fhon ziemlid) groß, ftand aber An der öftlichen Gicheljeite des Haufes noch mit beiden Füßen im wunderbaren, grünen ; blühte auf einem zerflofienen Beet ein Durch Dämmerland, und noch mar von biefem Land | einander namenlojer Sommerblumen, lang: ſcheinbar fein Ende abzufehen. An feiner ı ftenglig, bunt, zart und lodend. Eie gediehen Stelle waren die Bande gelodert, die fein ! nicht gut; um fo inniger war ihr Wefen, ihre Weſen mit dem Weſen der Natur verfnüpften, | Farben rührend. Cie hatten ihre dünnen, unb da das Kind ein reiches Gemüt und viel | verfchlungenen Stengel ber Sonne zugebreht; Seele hatte, waren es viele und ſchöne Bande. , wenn ihr Goloblid fie traf, trodnete der Tau, Deshalb unterſchied fie ſich auch fo auffallend ı der fie beſchwerte; fie dehnten ſich und dufteten von den andern; tie ein ganz andres Gejchöpf ' ihre Lebenskraft in feinen Gerüchen aus. Am ging fie unter den Großen umher. Man | Nachmittag ftanden fie im Schmud ihres Tonnte wohl behaupten, nichts, was bie fahen ! Dunkelrot und Wafferblau mwartend, abends und empfanden, worüber fie ſich freuten und wurden fie ftill im Schatten. Ich glaube, grämten, war dem ähnlich, was das große ; diefe Blumen ftanden dem Herzen und dem Kind fah und empfand, worüber es fich freute | Verftändnis des großen Kindes näher als und grämte. Alles an ihm mar ftolzefter Erneſtinchen. Anſpruch, Unbeugfamfeit, Wildheit und Ganz⸗ Und die Bäume! Ob es nun Efpen, die beit, und dabei war feine Seele wafjerhell an | Blätter wie aufgereibte Perlen, oder Ahorn, Reinheit. Sein Benehmen war freundlid. | fpigig und zadig in ber Form, ob es fein Da es fein Leben ganz für fich führte, | geftrichelte Weiden oder weich gelappte, üppige machte es wenig Anfprühe an die Cr: | Linden, blank prahlende Buchen oder heitere, wachſenen. Fiel es dieſen einmal ein, ſich runde Kaftanien waren, fie alle, die Bäume, in fein Treiben einzumifhen, dann flüchtete , die jungen und die alten, die einzelnen Wächter das Kind wie eine Schnede in ihr Haus und | an den Wegen und Gräben oder hinter den nahm alle Illuſionen und Phantafien mit, | Ställen, und die zu Hainen und Gruppen vers von denen eingehegt es fein fürftlich reiches ! einigten Träger, die Geheimnisfrämer in Ges Leben führte. An lebloſen oder unerleuchteten büfchen, fie fanden ihrem Herzen nahe. Im Gefpielen hatte es eine wahre Fülle, diefe ! Sonnenlicht myſtiſche Schatten beherbergen, miſchten fi nicht in feine Angelegenheiten, ſehnſuchtsvoll dunfel im blajjen Abendhimmel,

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verfinftert im Sack der Naht, aufgeregt, geſchwätzig, dramatifch im Sturm, in Schweigen verfunfen, immer, immer Erzähler, Freunde.

Da gab es unten in der mageren Fohlen- foppel mit ihrem Waflergraben, der Himmels: bläue oder eine gläferne Helligfeit durch das kurze Weideland ranlte, ein zottiges Rappfohlen. Es mar fpröde und träge, unbänbig und launifh, weich in den Felleln, am Bauch bingen ihm lange Haare. Das große Kind fonnte Stunden lang da unten am Zaun ober mitten platt auf dem kurzen Weideland ſitzen und das Tier mit tiefer Freude beobachten. Wie es den Kopf warf, gelegentlich losjagte, bäumte und einem unfichtbaren Gegner Huf: ſchläge austeilte, jedes Muskelſpiel that dem Kind jo wohl, weil es Mhantafiegebilde mit jeder Lebensäußerung verband. Mit deutlichen Spiegelbild ftand das Fohlen am Waffer in einer beroifchen Stellung, ſenkte dann langfam ben Kopf, um mit dem weichen, dummen Maul die blanfe Kühle einzufaugen. Dann madıte e3 jeinen Körper halbrund und knappſte feit- wärts an feinem Schenkel. Wie das Kind laut und glüdlich auflachte!

Emeftinden ftand dem Kind ganz fremd und fern gegenüber, mie follte fie nicht! Ein ältliher, abgebrauchter, vom Leben zurecht ge- mobdelter, das heißt mißhandelter Menſch, eine Dorfichneiderin, eingefponnen in all den Kram, der mit des Lebens Notdurft und Nahrung zujammenhängt. Mit Natur und Schönheit bat der Kram nicht? zu thun. Das war es ja: das Kind war fchön und fühlte Schönheit, ed wußte von nichts andrem. In ihm war der Anſpruch ber Griechen, das Leben bes Vogels, die Freude und Leichtigkeit des Vogels. Bisher war alles an ihm abgeprallt, jede Belehrung, für die feine Natur nicht gefchaffen, jeden Verſuch zur Cinengung hatte es von fi) gewieſen; die Häßlichfeit und Gemeinbeit, bie ihm je begegnet, hatte feinen Schatten ge: worfen.

Erneſtinchen iſt mit all der Heuchelei, der Zweizüngigkeit, der Schlauheit, die ein be— drängtes, niederes Leben lehrt, längſt, längſt bekannt, ſie hat all den Krampf und die Unnatur gekoſtet, die der Verkehr unter un— klaren, rohen Menſchen mit ſich bringt. Sie

weiß kaum mehr von einem reinen, harmoniſchen

An der Kindheit Grenze.

Seelenzuſtand. Ihre Seele bat ſich zu oft mit dem Spielen mit geiftiger Erbebung, der unwahren Reue und dem unmwahren Echmerz befledt, durch tiefe, ſchlammige Sinnlichkeit hat fie fich gefchleppt, ihr Blut hat zu oft geftebert und ift dann totenfalt geworden. Was weiß fie von der vollen, gefunden Wärme des Kindesgeblüts! So Iange fie denken fan, hat jte unter der Dual gelitten, benachteiligt zu fein, und die Begierde, Glüd an fih zu reißen, bat fie von Kindesbeinen an gehest.

Außerlih find die beiden Menfchen, bie da zwiſchen ben Himbeerfträuchern geben, vollftändige Gegenfäte. Man kann mobl Erneftinhen eine interefiante Erfcheinung nennen, für den interejlant, der bie Häßlichfeit als Grundidee der Menichenbildung ſchätzt. Eine humoriftifche Erfcheinung für den Menſchen⸗ freund, alles an ihr ift grotesf, charakteriſtiſch Der große, birnenfürmige Kopf mit einer Un- menge bon unappetitlichen Haaren zu Echanzen aufggtürmt, Trönt eine Kleine, ftillofe Figur, der Teint ift gelb und ftubenfiech, die Nafe lang, gebogen, eine ftarfe Nafe, wie fie niemals unintelligente Menfchen haben. Ihre DMiene, befonderd um ben Mund, erzählt von einem beillofen Temperament, bie ſchlaffen Wangen geben dem Geſicht etwas Sinnlihes und Per: brauchtes. Erneſtinchen ift feurig und em: pfindlih, gänzlid im unklaren über ihre Verfönlichkeit und bis zum Wabnfinn ge: ſchmacklos. Eie fpricht von Liebe! Dem großen Kinde erzählt fie mit einem öligen, lüjternen Slänzen in den von Fältchen umzogenen Augen von ihren Gefühlen für einen Dann. Ihre unrubige, gelbe, arme Hand hält fie auf den Bufen gepreßt, ber eine heftige Curve beſchreibt. Das Medaillon mit dem Bildnis des Gärtnerd trägt ſie da verborgen, ein ftolzeg Leihen, daß fie diesmal wieder— geliebt wird. So gut tie diefem jungen, robuſten, nichtönugigen Burſchen ift fie noch feinem geweſen. So gut es zieht fie zu ihm hin, wo fie ihn auch entbedt, jeder ihrer gehetten Blutstropfen brennt vor Sehnfucht, und eine Angft fchürt noch biefes Feuer: fie fönnte ihn wieder verlieren, dad Ganze wäre nur Spaß von feiner Seite,

Ihre Finger wühlen zwiſchen den Knöpfen ihrer Taille, während ſie mit viel Genuß und

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Geläufigkeit erzählt, mie fie ihn hat kennen lernen auf einem Walbfefl, da war er gerade vom Militär gelommen. Die Stellung bier bat fie ihm verfchafft, nun kann fie gar nicht die Zeit erwarten, wo fie zum Schneiden gerufen wird, um ihr „goldenes Schnutchen“ wiederzuſehen. Während fie dies alles erzählt, hofft fie fehr, die Angft zu verfcheuchen, die fie foltert. AU die Thatſachen klingen ganz vernünftig. Der Gärtner ift eben ihr Schag, fie werben ſich Heiraten, fo bald es irgend geht.

Das große Kind geht neben dem fiebernden, alten Weib einher tie ein unfchulbiges, anmut⸗ volles Waldgeſchöpf. Das reine Geficht mit den tauflaren, laufenden Augen, die gerade Schlanlheit ihres Körpers paßt in ben grünen Garten zu dem Sonnenuntergang und der Blätterfülle.

Die Himbeerſträucher find hochgewachſen, die Pfundbirmenbäume, die aus dem Gebüſch aufftreben, find noch höher, und wieder höher ift ber mit meißen Windwolken gemufterte Himmel, aber noch höher hängt das, was ſich das Kind unter Liebe vorftellt.

Ein Cherub, ganz nadt, glänzend wie eine Wolke, Sonnenftrahlen um das ewige Haupt, mit Riefenflügeln, ſchaut aus dieſen hohen Regionen, wo die leichte Luft in Klängen fließt und wogt, hinweg über fie, hinweg mit mächtigen Augen in felige Fernen, in Traum lande, in Meeresweiten, denen Inſeln ent fteigen. Wird es eines Tages feinem Blid begegnen? Wie aus einem Brunnen fiebt es empor zu bem Götterbilb, Wachfen und Bangen in der Seele und das Herz von einer tiejen, kaum gefaßten Vorfreude entzündet.

Von feiner Neife kehrt fein Blid zu Erneſtinchen zurüd, die jegt dabei ift, das Medaillon aus feinem warmen Verſteck heraus⸗ zufiichen. Mit ernfthajter Scheu ſieht das Kind zu, wie es erſcheint, eine runde Kapfel mit gemalten Vergißmeinnicht darauf. Nun öffnet fie fie wichtig und poliert das Glas mit ihrem Ärmel.

„Er iſt ein hübfches Mannsbild, das muß '

ihm der Feind laſſen,“ fagt fie, dem Kinde das Medaillon hinreichend. „Ih fann die Schwarzen für 'n Tob nicht leiden!”

Das Kind befieht den ganz von vom aufgenommenen Soldaten auf dem runden

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Bildchen und erfennt den Gärtner, bie niedrige Stim, über der dichte fettige Haare gefcheitelt find, abftehende Ohren. Wenn er mit der Herrfchaft redet, ift er ſtets furchtbar rot im Gefiht und verlegen; fo balb er mit feines gleichen verkehrt, fpielt er fih auf. ein Lachen ift fo albern und unmelodiſch, wenn er mit den Gartenmädchen zufammen ift. Ob er noch ein ganz anderes Mefen hat, das das Kind nicht kennt? Eigenſchaften, die allen verborgen find, die er nur Erneftinhen offen- bart? Und ebenfo, hat Erneftinhen noch ein anderes Wefen als das, was fih in ihren Mienen und Worten und Bliden verrät? Iſt da irgend etwas ihren orftellungen Ähnliches zwiſchen den beiden?

Das Kind fieht mit offenem Munde zu den Windmolfen auf, als mollte es fi da Weisheit holen, um die Rätfel zu löfen. Man liebt nur das, was ſchön, gut und herrlich

iſt das fcheinen ihm die meißen, wie Hörner gebogenen, leichten, fernen Wolfen zu ſagen. Es lädelt.

„Was haben wir ſchon alles angeſtellt, daß wir uns mal ſehen können,“ erzählt Erneſtinchen in eifrigem Ziſchelton. „Meine Mutter iſt ſehr ſtreng, immer hat ſie Obacht gegeben, daß ich nicht allein aus war. Wie ich im Dorf bei ihr wohnte und er im Pflanz⸗ garten arbeitete, kam er abends rüber gelaufen, unten am Zaun ging er auf und ab, um Uhre zehn pfiff er: Ach, wie ift'3 möglich dann. Da mußt’ ich, mein goldene? Schnutchen ift da und wartet. Ich alles weggeſchmiſſen, zur Mutter fagt ih: Die Freundin wartet, wir müfjen ein bißchen fpazieren, man wird ganz dumm vom vielen Sitzen.“

„Was thun Sie nun beide, wenn er pfeift und Sie berausfommen?" fragt das Kind ängftlih und wißbegierig zugleich.

Erneſtinchen zeigt langfam die Zähne. „2iebesleute haben immer was zu reden.” Sie lacht in fi hinein. „Er ift auch fehr für's Schälern, grade fo wie ih aud. Neu— lich habe ich ihm die Armel von feinem Raletot heimlih zugenäht, das gab ein Gaudium.“

Das große Kind findet, daß es ſchauder⸗ haft ausſieht, wie Erneſtinchen jetzt das Bild zurück in ihren Buſen praktiziert und dabei

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auf eine feltiame Art mit ftarren Augen lächelt. „Näben Eie ihm aud Knöpfe an?” fragt es zur Seite ſehend und errötet.

Die Himbeeren haben aufgehört. Auf einer Rabatte vor langen Gurkenbeeten, von DiN überfchleiert, ftehen grelle, gelbrote Einnien. Ihre Farbe feſſelt wie ein lauter Ton. Das Kind muß feine Augen auf dieſe blendenben, gröben, duftlofen Blumen richten, die jo frech fagen: da find wir.

„Na ob, er ift fo abgerifjen, ſchon acht Mal hab ich nachts an feinen Hemden geflidt.”

Das ift fehr gut von Erneftindhen, denkt das Kind, und ihm ift doch fo unheimlich und zweifelnd zu Sinn. Erneſtinchen ift nicht gut, fie flidt die Hemden nicht, weil fie zerrifien

find und der Gärtner ihr leid thut, da iſt

irgend etwas SHäßliches verborgen, was es nicht verfteht. Die Cinnien find auch fo häßlich und fo grell, fie geben das Kind gar nicht? an, und es muß doch hinjehen, jo: gar den Kopf dreht es nad) ihnen um. Soll es nicht lieber auf feinen alten Lieblingsplag unter den Hollunderbüfchen am Gartenteich laufen, die Harfe nehmen, die da verftedt in einem Buſch hängt, und den Pla um die Heine Bank und den wadligen, felbitgezimmerten Tiſch harken? Vielleicht waren auch wieder die beiden meißen Enten auf dein Teich, die fih da fo gern herumtrieben und nicht ſchlafen gehen wollten.

Nein, es kann ſich nicht losreißen, obgleich es nach dem Hollunderberg ſchmachtet, nach dem Alleinſein mit feinen ſchönen Vor⸗ ſtellungen von geflügelten Göttern und aller: band heimlichem, buntem Märchenkram. hm ahnt Trauriges, und boch, es wird feitgehalten; Erneſtinchen erzählt fo neue, wunderliche Saden, die den Vorzug haben, in greifbarer Nähe fi) abzufpielen, je dunkler es wird, je neuer und mwunberlicher werben fie.

Der Weg verfinftert ſich jetzt; mie ein Hohlweg läuft er in die Büſche hinein und verſchwindet. Lindenblütengeruh liegt ſüß und ſtark in der Wölbung.

Erneſtinchen unterbricht fih in ihrer Er: zäblung von einem Tanzvergnügen im Dorf: fruge, fie feufzt mwollüftig auf: „Ad die Linden, wie die ſchön buften,” dann fährt fie fort. „Wir gingen 'nen Schottſchen zufamnten,

An der Kindheit Grenze.

ih in blau Barege mit vieredigem Ausſchnitt. In der Paufe fpazierten wir Arm in Arm im Wirtsgarten. Es war naß im Garten na, er wollt’ aber, und ich Tann nidt nein jagen, wenn Mar mas will. Der Organiſt kam uns nachgepinjchert, er hatte ſich die Naſe begofien und fing an, Redensarten zu maden. Mein Schatz ift ein Draufgänger es lam bald zum Krawall. Er ift eben eiferfüchtig.” Erneftindhen ſchwelgte in der fchmeichelbaften Auslegung, die fie den Vorgängen im Krug⸗ garten gab.

„Eiferfüchtig!” wiederholte das Kind, mit Teierlichleit in den dunklen, duftſchweren Zaubengang bineinfchreitend.

An der Bleihe wurde es wieder beller, vrüben der blühende Schneeball Teuchtete verloren vor den Heden. Die Windwolken waren faft alle verichwunben; nur eine lang: geftredte, rötliche Fahne bing noch im glas⸗ Haren Abenphimmel. '

„Haben Sie den Gärtner denn lieber ala Ihr Leben?” fragte das Kind und rungelte feine elfenhaft beitere, glatte Stirne.

„Ab, du liebe Zeit!” Erneftindhen lachte auf eine ganz befondere Art und drehte ſich in ihren Kleidern.

Am Treibhaus gingen fie vorbei, wo bie wohlriechende Wide wie ein Mantel um den Schornſtein hing, ihre Füße traten auf Glas- ſcherben. Dann rechts über die Feine, gewölbte Brüde den Weg zwiſchen den Zwergbäumen und ber langen Stallmauer entlang.

Wie durch unfichtbare, ftarfe Fäden feit: gefnüpft, muß das Sind an Erneſtinchens Seite bleiben. Die ganzen Detail® einer frampfhaften, von vornherein verfehlten Liebes⸗ gefchichte merden ihm aufgetiiht. In der dunklen, warmen Luft befommt e3 heiße Wangen und unrubige, entgeilterte Augen.

Auf ihren Wanderungen find bie beiben dem Wohnhaus in den Nüden gelommen, zwei helle Fenſter ſehen mit rotem Schein aus der Hoffront neben dem Vorbau der Küche.

„Da find fie alle verfammelt!” Erneftinden faßt e8 wie im Fieber, fie ftrebt mit Energie auf die hellen Fenfter zu und ergreift des Kindes Arm, um fih zu verſichern, daß es mit fommt. Man hat es ihrem Schutze an⸗ vertraut.

An ber Kindheit Grenze.

Der Infpeltor Schulz figt auf dem Tiſch, feine langen Beine in heller Hofe und langen Stiefeln wippen unternebmend. Die Mamjell hat die Hände auf den Magen gefaltet und lacht ſchallend. In ihrem firfchroten Sonntags⸗ kleid ſieht der eng eingeſpannte Buſen und der ſtarke Leib beſonders auffallend und plump aus. Das Geſicht mit den feiſten Backen, der Stumpfnaſe hat ſeinen gewöhnlichen, gut⸗ mütig ſchlauen Ausdrud. Da ift auch der Brenner, ein brünetter, firer, Heiner Dann mit Epigbubenaugen, das podennarbige, maliziöfe Stubenmäbchen und nod eine un= befannte Frauensperfon, ein hübſches, derbes Ding mit bunten Schleifen auf einem ſchwarzen Kleid.

„Hola! das Fräulein Echneiberin, das witzige Marjellchen!“ ruft der Brenner, auf Ermeftinhen zutänzelnd. Als er das große Kind entbedt, reißt er die Augen auf, ver: ändert etwas feinen breiften Ton und fagt: „Sie fommen grad zur Seit, wir werben was ſpielen.“

Jemand ruft „Kudcudk.“

Die Mamfel lacht noch lauter, fih an den Dfen lehnend, und zeigt auf Erneſtinchen, die fih mild im Kreiſe umficht, und als es nochmals Kudud ruft, ſich geberbet, als fei fie von der Tarantel geftohen. Erneſtinchens Betragen wirft beängftigend auf das Sind. Es dachte wirklich, fie hätte den Verſtand verloren, man müſſe ihr zu Hilfe kommen. Das ftört das Sind in der berivunderten Beratung der Wirtſchaftsſtube. Die ift nämlid) völlig verändert. Der Milchſchrank fieht in der unnatürlichen Beleuchtung einer ohne Glode brennenden Stehlampe aus wie | ein Poften, der emfig ein völlig abgegrenztes Neich bewacht. Die geblümten Gardinen haben etwas fpöttifch Fratzenhaftes, das Bett wirkt peinlich, nein, unheimlich und efelhaft, wie es da verftohlen in feiner Ede fteht. Die gelbe, getündte Dede und die faltblaue Tapete machen den Raum zu einer Höhle, und fie maren doch diefelben wie an vielen Tagen i und Abenden, wo fie das Kind geſehen, friedlich zu einer häuslichen Beihäftigung den Hinter grund abgebend.

Emeftinden fährt, die Nöde ſchwenkend, in der Stube umher, als es immer wieder Kudud |

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ruft, ſtürzt fie auf den Inſpeltor los, ihn am Armel padend, ihn anſchreiend, ob er wiſſe, wo der Gärtner ftedt.

Dem Kinde wird himmelangft. Das muß doc jeder merken, daß die Stimme hinter dem Dfen berfommt, mie kann Erneftindhen fo dumm fein!

„Suchen Eie doch hinter dem Den nach“, rät ihr. das podennarbige Stubenmäbchen mit verädhtlihem Ton. „Mie lange follen wir denn die Komödie anfehen!” fagt fie zu der Mamfell.

Der Gärtner wird hinter dem Milchſchrank und dem Den hervorgeholt, er thut, ala fei er eingefchlafen, fein Glied fann er rühren, er taumelt über die Diele mit hochgezogenen Schultern, während er ein Geſicht fchneidet und fällt auf Emeftinchen herauf. Die kreifcht [08 und verfichert, daß fie Herzllopfen habe.

Dem Kinde ift, als erlebe es in der ver- änderten Wirtſchaftsſtube einen fchredlichen Traum, ber zugleich fo bunt, wild und von folder derben Kraft ift, daß es baraus nicht aufmachen kann. AU diefe Menſchen, die fie tennt, zeigen ſich ihr vom einer neuen Seite, ala eine gefchlofiene Geſellſchaft, die ihren befonderen Charakter trägt, in ber fie felber ſich nur geduldet vorlommt. Und das ift das Schmerzliche an dem Treiben diefer Geſellſchaft: es ift etwas Verftedtes, Unficheres darin, das Feuer in den Augen ift frampfhaft, das laute Lachen ohne Freimut, die Beziehungen zwiſchen den verſchiedenen Perfonen tagesfhen. Aus diefem Grunde macht das Gefinde einen ge ſpenſtiſchen Eindrud, trotz aller groben Auße⸗ rungen ihrer Freude.

Man arrangiert ein Spiel. Der Inſpektor mit den fhönen Beinen, die er fo eifrig zur Schau ftellte, bequemt fih vom Tiih auf einen Stuhl. Er ſetzt fi neben das Kind, dem man bienfteifrig zu allererft einen Stuhl zurecht geftellt hat. Manchmal wirft der ftattlihe Mann feinen Kopf zu ihm herum, dann fieht das Kind feine blanfen, falten Augen, feine hübſche Nafe und den weichen, roten Mund in dem kurzen, braunen Bart. Er wirkt nicht gefpenftifch, fondern beängftigend. Es ſcheint fo, ala ob er etwas fagen will, aber er entfchließt fich nicht dazu, verhält ſich überhaupt ziemlih ftumm. Sein Anteil an

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564 An der Kindheit Grenze.

den Gefellihaftsfpielen beichränft ſich darauf, Witze zu beflatichen, mas er dadurch bewerk⸗ ftelligt, daß er mit feiner hellroten Hand auf feine ftraffen Schenkel klopft. Ober er erhebt fih zu feiner fchlanfen Höhe und fchlichtet einen Streit, zwingt das Mädchen mit den bunten Schleifen dazu, ſich einen Schnurrbart anmalen zu laſſen, faßt jemand, ber ſich ber Spielregel nit fügen will und befördert ihn dahin, wo er bin fol. Gelegentlich greift er der Mamfell unter das Kinn das große Kind erftarrt über den Ausdrud, den dies Frauengefiht annimmt. Diefer Mund, ihm ift, ala müſſe es um Gnade bitten. ..

Dem Kinde gegenüber fiten Emeftinchen und der Gärtner, fie tufcheln und greifen fich an den Händen und fteden die Köpfe zufammen. Jeden unbewachten Augenblid benußt der Gärtner, um mit hingenommenem, lüfternem Blid nah dem Mädchen im Schwarzen Kleid binzufchielen.. Die ift jchredlich affektiert, fie fpielt die Feine, die Zimperliche. Erneftinchen weiß, daß fie eine Nebenbuhlerin bat, fie möchte das fremde junge Mädchen zum Fenſter hinauswerfen. Sie zeigt ihren Abſcheu fo deutlich, daß alle ihre Gefühle merfen. Man verhöhnt fie, ſpitzt auf ihr Alter. Mit ziemlicher Gewandheit teilt fie Hiebe aus, wo man fie angreift, und dabei leidet fie unfäglich. Das große Kind weiß es und fieht auf die Dielen mit ihren großen Flecken und Sprüngen. Es furrt in feinem Kopf, als ob da raftlofe Näder an neuen Gedanken fpönnen. Muß ed um al die armen Gefpenjter Mitleid und Scham im Herzen tragen, und fi um bie Sleden auf den Dielen forgen? In der ſchwülen, unreinen Luft überlaufen das Kind Schauer.

Man ſpielt Briefträger. Hinter der Thür nach der Schankſtube ſteht die dicke Mamſell, ſie wird gefragt und antwortet. Die roten Siegel auf den Briefen bedeuten Küſſe, die ſchwarzen Ohrfeigen.

Das Kind ſieht der Schneiderin Geſicht ſich zu einer wahren Muſterkarte von Zorn und Qual verändern, ſterbenskrank und welkend alt ſieht ſie aus, um den Mund ein paar tiefe Falten. Was geht vor? Der Gärtner küßt das fremde Mädchen, ſie wehrt ſich lachend, jeden einzelnen Kuß läßt ſie ſich

rauben. Es giebt eine bewegte, jugendliche Gruppe, der es nicht an einer gewiſſen derben Grazie fehlt.

Der Inſpektor zählt die Küſſe.

Dem Kind iſt, als ſtiege ein feucht heißer Dampf aus den Dielenritzen, der es einhüllte und ihm die Kleider vom Körper ſchmolz, der es hineinzieht in einen trägen, ſtarken, furchtbaren Wirbel. Die Hände klammern ſich au den Stuhl feſt, der Körper ſtrafft ſich.

„Einen Brief vom Herrn Inſpektor an das kleine Fräulein!“

„Wieviel Siegel? Rot oder ſchwarz?“

„Eins. Ein rotes Siegel.“

Es entſteht eine Pauſe.

Wie aus der Nebenſtube, durch Brauſen hindurch, hört das Kind Frage und Antwort. Mit einem Ruck fällt Hitze und Schwindel von ihm ab, es ſitzt in ſeinem weißen Kleid auf einem Stuhle mitten unter dem Geſinde, den Kopf erhoben mit fühlen Wangen, groß⸗ äugig und mit gefpanntem, ſtarkem Herzſchlag. Ein Siegel für fie? Alle ſehen fie an mit Augen, die nach ihr Hafen auszuwerfen fcheinen. Der Inſpektor Schulz neben ihr bat den Kopf auf dem langen beweglichen Halfe berum: geworfen.

„Auglöfen!” ruft der Brenner widtig, in demfelben Tonfall, wie e8 der Inſpektor thut und erhebt ſich von feinem Platz.

Das Kind Sieht zur Seite und begegnet des Inſpektors Blid.

„Auslöfen, auslöfen!” Der Brenner näbert fih, ein Grinfen auf dem Gefidht, das Stuben: mäbchen fommt auch berbei.

Nein, ganz gewiß nicht, denkt das Kind mit einem feltfamen Schwächegefühl in feinen Gliedern und einem Auflodern feiner Seelen: fräfte.

Der Inſpektor neben ihm erbebt fi, cr fühlt einen leichten Zwang in feinen Be: wegungen, wie ein Turm fteht er neben ber Kleinen und fieht auf fie herab, während feine Wangenmuskeln fpielen. Langſam beugt er ſich.

Das Kind ficht zu dem Manne auf. Sein Geficht nähert fich ihm wie die Verkörperung einer rauben, niedrigen, brutalen Welt. Die Finger ihrer Heinen Hände fpreizen ſich ein wenig, ihre Pupillen vergrößern fih in Ab: wehr, je näher diefe ausgebrannten, wiſſenden

An der Kindheit Grenze.

Augen, diefe roten, fündigen Lippen in dem krauſen Bart ihr kommen. Sein Atem ftreift über ihr Blumengefiht .... „Das war fein Kuß,“ fagt das Etubenmäbchen mit einem unbefinierbar gehäffigen Blit auf bas große Kind.

„Wenigftend ein Handkuß,“ ſchlägt der Brenner vor.

Der Infpektor hat fih aufgerichtet und fieht auf die Nleine herab, auf dieſe unfhuldigen Hände... .

„Es wird meiter gefpielt!” befiehlt er mit einer fcharfen Wenbung, faßt das Stuben- mädchen um die Echultern und dreht fie wie einen Kreifel um ſich felber. „Es foll fi feiner unterftehen, an die Kleine einen Brief zu bringen,“ ruft er mit fnarrender Stimme.

Nach diefem überftandenen Echreden kommt dem Kind die erlöfende Entdedung, daß bie verherte Wirtfchaftsftube eine Thür hat, die durch den Eleinen Zwiſchenraum in die Küche und durch den Vorbau ins Freie führt. Ins Freie! Ihr perlen Schweißtropfen auf ber Stim, ihre Nafenflügel dehnen fi. Ins Freie! Sie ift ja ein gefangener Vogel, ein gequälter Schlupfvogel unter vierfüßigen Tieren, fie hat, o Gott, Gott fei Dant, fie bat ja Flügel! Noch ſchwebt über ihrem Kopfe wie eine Viſion das Gefiht des In— ſpeltors, und in ihrem Blut ift fo ein peinigenber Aufruhr, leiſe fteht es auf.

Dazu ift es zu fchüchtern, um biefe ver: bündete Geſellſchaft, in der es nur gebulvet mar, ganz augenfällig zu verlaffen, aber ven Tumult benußt es ſchlau; als der Brenner, dem ſechs Küffe von Erneſtinchen bevorftehen, mit Ausrufen des Jammers hinter den Dfen ftürzt, da ſchleicht es fih zur Thür. Co lange es im Haufe in Engigfeit und Dunfel- heit vorwärtstaftet, fo lange wirb es verfolgt von dem naben, drohenden Männergeficht. Nun noch ein Schritt der hohe Himmel ift über ihm, Himmelsöde, der alte Mond fteht blank und ſcharf über den Gartenbäumen binter ber Mauer. J

Das Kind blidt um ſich und dann noch— mals zurüd nad den beiden hellen Fenftern. Es würde fih nit wundern, wenn da Flammen zwifchen den Gardinen fpielten, oder die Leute in der Wirtſchaftsſtube oben an der

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Dede herumzögen mit Larven ftatt Gefichtern. Die Männer hinter den rauen ber, bie rauen den Männern nad, eine wilde Hehe. Welche ftarke, albbrüdende Macht ftrömt aus den beiden Fenftern? Es muß ieiter fort, um ihr zu entrinnen; noch iſt e8 nicht allein. Da auf ber Bleihe hat der Mond feine wunderbare Wäfche ausgebreitet, da hinein ftürmt das Kind in das raub betaute, helle Gras. Mitten darauf in der Weite bes Pages, in feiner größten Freiheit bleibt es ftehen und breitet die Arme aus.

Wie eine Geifterhand legt fi der Schein auf fein Haar, an feinem Halsausſchnitt vorbei rinnt er über feine Bruft, an den Fingern tropft er herab zu dem mohlig auögebreiteten Teich von Licht. Das Kind Feucht und ſtößt findifche Klagelaute aus. Es möchte irgend jemand ober irgend etwas zur Verantwortung ziehen für die Häßlichfeit, die es gefehen hat, und alles ringsum ift ftumm, öde und von erbrüdender Großartigleit. Da ahnt das Kind, nichts auf der Welt kann ihm helfen, die Häßlichteit ift da, ebenfo wie eine lachende tüdifhe Tierfrage aus Holz geihnigt da ift, die im Hausflur hängt, von irgend welchem widerwaͤrtigen, wilden Mann gearbeitet. Man kann fid} von ihr weg wenden, aber ba ift fie. Eine neue, ſchmerzhafte Traurigteit fchüttelt das Kind bis ins Mark.

Mit geſenktem Kopf und einem Him, das ſich dehnt in verwirrenden, fremdartigen Vor: ftellungen, ftapft es aus dem Gras und begiebt fih an ben Ententeich. Wo der Rand ganz flad ift, kauert es fi hin, wirft einen Blid hinüber nad ihrem Hollunberberg mit dem Tifh und der Bank in dem jein- gemufterten Echattenbild des Laubes was für ein felig einfames Plätzchen horch, die Fröſche quarren. Nun fängt es an, fi das Geficht zu waſchen, ganz nah fieht es auf die glatte, ſchwarze Waſſermaſſe, ſchöpft dann und reibt mit Eifer. Wie ein Segel liegt weiter unterhalb des Hollunderberges der Mondſchein und da drüben am Ufer unter den großen Kürbisblätten! Da hat fih der Herr Mond nicht den Epaß gemadt, einen Heinen weißen Berg von Licht aufzuhäufen, nein, das find die beiden Ausreißer, die beiben weißen Enten eng bei einander. Mit nafjem

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Geſicht läuft das große Kind um ben Teich, bebende wie ein Indianer nähert es fich dem Uferrand, „Ahr Mondenten!” Mit auf: ſtrahlendem Geſicht büdt es fih, um leife auf die feften Federrücken zu taften. Und plötzlich hebt es mit einem Rud die Hände und ruft leidenfchaftlih und mit böfer Schabenfreube: „Huhu!“

Die Enten ſchnattern erſchreckt und flüchten mit ausgebreiteten klappenden Schwingen nebeneinander über das Waſſer; als ſie über den Glanz ſtreichen, blitzen ihre Federn ſilbern auf. Das Kind zeigt die Zähne vor Luſt, ſo heftig hat es ſich noch nie gefreut.

Jenſeit ducken ſich die Enten, plantſchen und klatſchen noch ein wenig, die Kreiſe auf dem Waſſer verlöſchen. Jetzt quarren nur noch die Fröſche in dem Bruch hinter der Hecke.

Die Traurigkeit hat nur darauf gewartet, daß es wieder ruhig werden ſollte, jetzt ſenkt ſie ſich aus allen Büſchen und Bäumen, aus der Luft herab, vom Waſſer hergleitend, aus dem Mondſchein rinnend, hinein in des großen Kindes Seele. Sieh mal, ſagt ſie, ſo traurig iſt die Häßlichkeit! Mußt du nicht über das weinen, was du geſehen haft? War irgend etwas, ein Wort, eine Miene, ein Blid nicht beflagenswert? Beſinne dich, ich babe Zeit zu Warten.

Das Kind preßt die Lippen zufammen und befinnt fih. Nichts, nichts mar lauter, fchön, natürlich, die Zärtlichleit ohne Reinheit und Süßigkeit, die Blide ohne Seele, die Geberden ohne Abel. Zum Sterben häßlich das Ganze! Aber in ihr wühlt Trog und Yeinbfeligfeit gegen die ſchwarze Trauer, die fie zu Thränen auffordert. Sch will doch meiterleben, wenn ih auch weiß, wie es mit Erneſtinchen ſteht, daß fie lieber lügt und Spott erträgt, als es entbehrt, mit dem Gärtner zufammen zu fein, von dem fie doch weiß, daß er lieber mit dem Mädchen mit den bunten Schleifen zufammen wäre, jagt das Kind. ch weiß auch, daß die Mamfell nicht nur einem Schwein ähnlid, ift, nein, fie hat auch etwas von einem Schwein

ganz gewiß; als ich fie anfah, wie fie der Inſpektor unter das Sinn faßte, da mußte idh e3. Der Gärtner ift fo dumm und albern, daß er in einem Augenblid nicht weiß, wie er im nächſten fein wird, lauter Sehen find in ihm. Der Brenner möchte immerzu lärmen und Witze maden, um nicht zu bedenken, daß er ein Spitbube if. Das weiß ich alles und werde e3 ertragen. a, aud das werbe ich ertragen, daß mir Herr Schulz jo nahe mit feinen Augen, feinem Bart und feinen Zippen gefommen ift. Sch werde nicht mehr daran denken, außerbem habe ich mich ja gewaſchen.

Das Waſchen thut es nicht, auch nicht das daran nicht denken, bu Baft etwas verloren fpürft du die Lüde, liebe Seele?

Das große Kind fpürt: die Lüde eine Brefche ift in feine goldenen und bunten,

gläſernen Kouliſſen eingeriffen, mit denen es

fein Dafein umjtelt; die unbarmherzige, wirflihe Ferne fieht hinein, und es bläft Falt wie ein Winteriwind durch das Loch.

Eigentlih gebt es mich gar nicht an, was das Gefinde treibt, ſagt es fih mit gewollter Fühlloſigkeit. Warum fol ich mich grämen, ich habe ſolchen Abfcheu vor ihnen, ih bin anders als fie.

Sa, aber fie find Menſchen, und du bift ein Menſch. Sie find ärmer und niedriger als du fieh, darum mußt du am meiften weinen, das Kind denkt nach, und bie Augen werden ihm naß. Wie web thut biefe ſchwere Traurigkeit feiner heiteren Seele! Es bäumt auf und fchleubert fie fort zu ben Chatten unter den Kürbisblättern, in ben Teich .... Das weiß ich ja alles, fagt fich das Kind heftig. Es nützt nichts, Sand darauf zu ſchütten, aber ich thue es doch! Sch will das ſchöne Leben meiter führen, das von geitern und heute Vormittag, ich werde fo tbun, als ob nichts vorgefallen wäre. Dleine Erfahrung über das Häßliche fol mir niemand anmerken... ...

Das Leben ber Erivadhjenen fing an diefem Abend feine Arbeit bei der Kinder:

in ihrem Weſen, es ift furchtbar, aber es ift | feele an.

NRadbrud mit Duellenangabe erlaubt.

Das Bercind: und Berfammlungsredht der rauen wurde am 4. Mai von bem Ausſchuk der Geiellichaft für Soziale Reform verhandelt. Wir geben um der Wichrigfeit der Sache willen den Bericht über dieie Situng (Soziale Praris Nr. 32) im Wortlaute:

Ter Referent Reichstagsabgeordneter Nic. Noefide betonte, wie bei Begründung ber Gefell ſchaft für Soziale Heform die Abſicht beſtanden

babe, alle Areite ber Bevölterung und alfe Parteien ;

jum Sivede der Förderung der Zoyiafreforn au umfailen unb zu vereinigen jerngeblieben feien aus eigenem Entichluß die Ertremften rechts und lints, die auf der rechten Seite, weil fie überhaupt von ber Sozialreform nichts willen wollten, die linfs, weil fie leiber noch in der Ablehnung gemein ſamer Thätigteit vwerbarrten. Hier könnten wir nichts ändern. Anders aber jei c& mit den ‚rauen. Dieje hätten felbft ben Iebhafteiten Wunich mirzu arbeiten und das wärmite Intereſſe an unferen PVeftrebungen bekundet. Trogtem Fonnten wir fie nicht zulafien, weil in ben größten Staaten bad Vereinsgeſet es ausdrücklich verbietet. Und nicht die Geielfhaft für Soziale Reform allein müſie jegt auf dieſe wertvolle Unterftügung verzichten, ſondern fie fehle allen soziatpofitiichen Beitrebungen, ia au der Hegierung felbit, die ja nad ihrer oft wieder doiten Yeteuerung Die Sortführung ber [ reform für unerläßlich balte, ſich aber für weite Gebiete der beiten Mitarbeiterinnen beraube. Tas Heich habe auch den Arbeiterinnen bad Roalitions recht verliel helfen, der Einzelftaat aber werfümmere ober ent. siehe ihnen Dieies Recht micher aber dieſes Verbot, fo fegen wir uns der ür ber Pol aus und verbindern geradezu feine Be: jeitigung. Dian foll überhaupt in der Sorialpolitit Wunden nicht zudeden, iondern wir müſſen sie oñenlegen und Mittel zur Heilung fuchen, In dielem Falle heißt daß; 1 den ‚Frauen das Recht verichaften, ſich iosialpolitii und Verſammilunger betätigen. Wie Die ge: werbůchen Verbaln (ch geftaltet haben, it es wideriinnig die PVeteiliaung der Ärauen aus: ichließen. Schen heute in ihre Teilnahme in vielen Bundes ſtaaten erlaubt, aber gerate bie größten verbieten fie. Hier ann nur cin geiek belfen, chenio mic man durch Mei einzelftaatlichen Verbote ber Verbindung von Ler: einen aufgehoben bat.

damit fie fi durch eigene Nraft

Übertreten wir :

Vereinen '

J FRE L i Der Korreierent Preieiſor Dr. Frande entwarf

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in großen Zügen ein Bild der beftchenden vereins geieglichen Beitinmungen über die Julafiung von rauen zu politiichen Vereinen. 16 deutſche Cinzel ftaaten, an der Spige Sachien, Württemberg, Yaben, Heſſen, dann bie meiiten Nleinftaaten und vie Sanjaftäbte, fennten feit den I1R50er Jahren das Frauenverbot nicht; ja nicht einmal ber rcaftienäre Bundesbeſchluß von Ix54 habe bie Arauen aus: neichlofien, fondern nur die Schüler und Lebrlinge. Andere Staaten, wie bie Beiden Medienburg und Eliaß votbringen, verböten die Teilnahme der frauen nicht ausbrücklich, ftellten aber das nanıe Vereins und Verſammlungsweſen in das biöfretienäre Er meiten ber Vehörten. Vayern habe IHUN dao Frauenverbot nur inſoweit aufgehoben, ald Vereine für die Berufsintereſſen, ſowie Zwecke des Inter: richts, der Erziehung und Mranfenpflege in Betracht fommen. Preußens Vereinsrecht, da® nun 51 Sabre alt jei, ichliche die rauen von Vereinen aus, die volitifche Angelegenheiten in Verfammiungen er- ürterten, laile fie aber zu öffentlichen Verjammlungen au. Noch reaftionärer ſcien bie Vorichriiten im Braunſchweig, wo jept der Evangelich Soziale Non: greß darunter zu leiden Babe, und ciniger Alein: ftaaten. So ergebe jih ein aanı bunticediaes Bild, ein zuſtand gröhter Berworrenbei in dem einen Staate feit alters her erlaubt, jei in dem benadhkarten verboten. Tief verlegend müie für die ‚frauen die Zufammenftellung mit Yehrlinaen, Schülern, (perjährigen, ber Ehrenrehte Zer: luſtigen wirfen. Und das in einer Zeit, we ber Ztaat die ‚Frauen ald Beamte in manden Ver waltungen keicäftine, wo er ibnen im Ermerbs. leben bieielben Rechte wie den Männern aewäbre! Auch ber Norreierent it der Anficht, daß bier nur durch Eingriff der ihögeiehachung zu belien sei, indem man das landesgeſehliche Frauenverbot cbenio wie das Verbindungsverbot beieitige.

An ber Schr Ichbaften Debatte beteiligten. ſich bie Herren Hite. Nei Schmoller, Bebrens, Som: bart, vehner, Freiberr ". Berlevich und die Ne: ferenten. Schließlich wurde auf Grund veridiebener Anträge folgender Beichluß einitimmig gefaht:

Im Sinklid auf Die dringende Notwendig

teit der Mitwirfung ber Frauen an allen beichlic‘

ber ran, eine Eingabe an Bundesrat und Reichstag zu richten, in der der baltige Erfah; eine Heihs geiehes gefordert wird, das bie der Anteilnabme der ‚Frauen an jenen Beitrebungen entgegen: ſtehenden landesgeieglichen Heihräntungen der Vereins: und Verlannılungsgeicggebungaaufbebt,

en Beitrebungen,

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+ Die Frage des Zudrangs umberufener Frauen zu den Univerſitätsvorleſungen be: Ihäftigte den Berliner Frauenverein in einer Situng, zu ber auch die Mitglieder des „Vereins ftudierender Frauen zu Berlin“ eingeladen worben waren. Die Frage war zur Diskuſſion geftellt worden, da in meiteren Kreifen die Anficht ver: breitet ift, die Zulaffung ber Frauen zur Berliner Univerfität fei in einer Weife von Unberufenen ausgenußt worden, daß das Frauenftubium für die Univerfität zu einer Kalamität werde. Es murbe von den anmwefenden Stubentinnen feftgeftellt, daß es ſich bei den Elementen, für die dieſe Anficht ge: rechtfertigt fei, meift um Frauen handele, die ohne Erlaubnid einzelne Borlefungen befuchen. ine ſchärfere Kontrolle würde dem Übelftand abhelfen. Im übrigen mar man der Anficht, daß die neue minifterielle Beftimmung über den Berechtigungs: nachwei3 zum Befuch der Borlefungen genügen werbe, um den Mikftänden, von denen jedenfalls im Publikum übertriebene Vorftelungen berrichten, abzuhelfen. Die Verſammlung faßte das Ergebnis der Disfuffion in folgende Refolution zufammen:

„Die am 25. April tagende Verfammlung bes Berliner Frauenvereind FTonftatiert, daß an ben öffentlichen, und zum Teil auch an den privaten Borlefungen der Berliner Univerfität Hörerinnen teilgenommen baben, die nicht im Beſitz des vor: ſchriftsmäßigen Hoſpitantenſcheines waren und beren Anwesenheit in den Hörfälen thatſächlich ala eine Gefahr für das Frauenftudium betrachtet werden kann. Die Berfammlung hält eine ftrengere Aus: übung der Kontrolle für wünſchenswert. Der Minifterialerlaß vom 26. Februar betreffend bie Zulafjung von Hörerinnen mwürbe nad) Anficht der Verfammlung ein genügendes Mittel zur Abftellung der Übelftände fein, eine ftrenge Handhabung und möglichit beichräntte Zulaffung von Ausnahmen vorausgefegt. Doch erklärt die Verfammlung es für wünſchenswert, daß die in Ausficht geftellten Beltimmungen für die Ausländerinnen von biefen eine Ausbildung verlangen, bie ber von ben deutichen Hörerinnen geforderten durchaus entſpricht.“

* Das Wahlreht ber rauen für Die Ge- werbegerichte wurde im Anſchluß an 5 10 und S 13 des Gefeged über die Gemwerbegerichte bei Beratung bed Abänderungsentwurfe® von bem Reichdtag verhandelt. Der von fozialdemofratifcher Seite eingebrachte Antrag, Frauen das paffive ($ 10) und attive Wahlrecht (K 13) für die Ge: mwerbegerichte zu geben, den Abgeordneter Tutauer mit dem Hinweis auf die Erfahrungen in Ofterreich begründete, wurde gegen die Stimmen der Sozial: demokraten abgelehnt.

* An der lUniverfität Heidelberg wurden für dies Semefter ſechs Damen immatrifuliert. Weitere zwei find vorgemerkt, und aus vorigem

Frauenleben und :Streben.

Semefter find brei verblieben Mit fonadh mindeſtens 11 rite immatritulierten Studentinnen hat die Ruperto:Carola im laufenden Senmer- femefter die höchſte Zahl an einer reichäbeutichen Hochſchule jemals vollberechtigt Ttudierender Damen erzielt. Bei der erften Smmatrilulation an ber Univerfität Freiburg i. B für das Taufenbe Sommerjemefter wurden brei Damen eingejchrieben, von benen fich zwei bem Studium ber Medizin, eine dem ber Archäologie widmen.

* In Mannheim fol, mie bei Beratung bes

Budgets mitgeteilt wurde, der höheren Mübchen:

ſchule, unabhängig von biefer, eine Dberreal: ſchule für Mädchen mit Unter und Bberprima angegliedert werden, beren Nbiturientinnen bie Univerfität befuchen tTönnen. Die Mäbchen, die ſich bumaniftifche Bildung aneignen wollen, find zum Befuch des Mannheimer Gymnaſiums berechtigt.

* Den Ruhm des rüdftändigften Bereins- rechtes im Dentfchen Reihe bat Brannfchweig, und es fcheint ihn ftolg behaupten zu wollen Es Ihließt die Frauen nämlich nicht nur von politifchen Bereinen, ſondern auch von allen Berfammlungen diefes Charakter8 aus, und der Bolizet- Präfident behnt dieſe Beftinnmung auf den evangeliſch-ſozialen Kongreß aus, der zu Pfingften dort tagen will

Der Allgemeine Deutfche Frauenverein, der im Herbit feine Generalverfammlung gleichfalls in Braunſchweig zu halten beabfichtigte und bereit? das betreffende Geſuch dem Polizeipräfidenten ein: gereicht Hatte, bat, infolge der Zurückweiſung der Frauen vom Evangeliſchen Kongreß, fein Geſuch zurüdgezogen. Im übrigen ſcheint fich Braunfchweig erft neuerdings auf den Paragrapben befonnen zu haben, ber den Staat vor einer Gefährdung durch bie rauen fchüßen fol. Als vor 33 Jahren ber Allgemeine Deutiche Frauenverein dort tagte, fvurbe ihm der Rathausſaal zu feinen Berfammlungen eingeräumt und Frau Dr. Goldſchmidt Konnte zum Schluß einer Rebe, in der fie u.a. die Zulaflung der Frauen zu kommunalen Ämtern forberte, den Vertretern der Stadt Braunfchmeig ihren Dank mit den Worten ausſprechen:

„Laſſen Sie e8 mid noch zum Schluſſe als ein bedeutungsvolled Zeichen der nahenden Erfüllung der in meinem Antrage geftellten Forderungen begrüßen, baß die Vertreter der altehrwürbigen Stadt Braunſchweig uns dieſe Stätte zu unfern Beratungen geöffnet. Sie haben und bamit ala Bürgerinnen, unjere Beftrebungen als gemeins nüßige anerkannt.”

Als das Kefultat einer Entwidlung von drei Jahrzehnten ift die Zurüdweilung der rauen des

Rrauenleben und

evangeliich iesiaten Menarchics fur Braunichwein aewiß cin seltiames Jeunnis. Immerbin kann man im Sinblid auf die Beruckſichtigung. Die das Vergehen der Hraunicweiger Veborde durch die Weleuichaft für Tosiale Reform gefunden 11. 2.507 dieier Kummer), Die aanze Sache al& ein Zeichen einer Ariũs betrachten, auf Die endlich cine der ungelunden Verbaltniſſe, Die durch bie ci ĩtaatlichen Vereinsrechie geichaften werben, er felgen muß.

» Über die induftriele Tramenarbeit im OHeſſen krinat der neue Jabreebericht der beittichen Griwerbiinipektion «1Mm) eine Neibe für uns wichtiger Rotizen. Mer den Erielg der Arbeit der weiblichen Aifiitenten berichten die Auichtebeamten von Tffentah und Tarmitant (unitiais. Der

fenkader Tenitattert, dak Der Arbeiterinnen mit der Aftirentin ſich iebr acheben babe, baupriahlic auf (rund der in ihrer Dienit lien Thatiareit erwerbenen Kenntnis von Terionen und werben.

Bemerfendwert find Die Angaben uber die Arbeirdzeit Fur die Arbeiterinnen. Ton 145 Jabriken des Mainzer Besirts beichaitigen nur 20 bie Arbeiterinnen 197, besm. I1 Stunden malic, aue anderen breiben unser der acieplich Rarimalacbei: ding danach, de lortuntige N grekt Schmier Tie Treaniatien

* Die Gründung eines Bi fer ranenvereine,

+ geberene Hefenfame in Teetinbem ernannt.

Streben. 5 ittat Heidelbera sum Ghrenbofter ernannt wurde, ft jett zum Witter des bertugieſiichen Santiaue erdens ernannı worden. Tie aleiche Auszeichnung eriubr Die bekannte vertugieiriche Amalia Sa: de Carvalbe. criten rauen in Kertuagal, verlieben wurde.

Üund dies Die denen dieier Erten

Als Sculinipehter im Berirt Tectindem (Erorinz elderland wurte rau X. H. M. vente, Zie iit der eriie weibliche Schulinipefter in Sellane.

- Ein‘ an Frauen eingeleiteteö gensfienihait- n Maktaber icheint

andeiter Ausiihr auf Kerwir: Es banteit Äh um Me Einsuhtung ve teinunastuchen inc denen Bezırfen ver Statt, durch die man den turd bervorgeni bes Einzeibausbaltes abzuberien Ruce ich in rurrer Ber ın einem ter widtteiten Staditeile erofner werden. Tie li eine Aktienseilihak mir beisrantter

Die Begräudung

im Normen

570

„über den phufiofogifhen Schwachfinn des Weibed“ von®.J.Möbius. 2. Aufl. (Halle a. ©. Sarl Marhold.) Bon Zeit zu Zeit taugt immer einmal wieder ein Mediziner auf, der mit jenfatio- nellen Behauptungen über bie geiftige Beſchaffenheit der Frau ein billiged Auffehen erregt. Die Sade ift jest bereit® jubiläumäreif, denn betanntlich begann Profeffor von Bifchoff in den fiebziger Jahren den Reigen. Auf Bilhoff folgten Runge und Albert, von deſſen Broſchüre Marie von Ebner-Ejchenbad) bekanntlich fagte: „Solde Bücher nügen un mehr als fie ſchaden · Febt ift wieder ein ganz Heiner Epigone erftanden, ber über den pbpfiologifchen Schwachjfinn bes Weibes allerlei Mare au berichten weiß, gefpiet mit Reminicenzen aus Schopenhauer, Lombrofo und den ärztlichen Kollegen. Seine mebizinifchen Behauptungen haben bereits eine fachverftändige Entgegnung gefunden; bie übrigen einer Widerlegung zu würdigen, liegt fein Grund vor. Iſt doch der Verfaffer uͤndlich genug, um ſich beifpielaweife an der Anwendung bes Namen? „Frau“ als Kollektivbezeichnung für dad ganze Geflecht zu ärgern, das feiner Anficht nach mur Anfpruch auf ben Namen „Weiber“ Habe. Wir raten ihm, zu einer Befeitigung dieſes Arger⸗ niſſes ſich doch einmal an bie Eifenbahnverwaltung zu wenden, mit der Bitte, die Auficrift „Frauen: koupee” in „Weiberfoupee” zu verwandeln, was nad Anſicht des Herrn Möbius allein bem Sprach: gefühl des deutichen Volles entfprechen wilrbe. Im übrigen ift die Sucht des Verfaifers, überall nur Krankheit und Schwachfinn zu jehen, wohl genügend dur) fein Bud) „Über das Pathologiſche bei Goethe” getennzeichnet.

Daß übrigens ein Blatt wie der „Zeitgeift” diefes Viſchoff Lombrofo: Albert: Runge: Möbiuside Ragout mit einer hochſt faden Hans Schulzeihen Brühe ferviert feinen Leſern vozufegen wagt, zeigt, auf was für einen Geſchmack man in dem Lande noch rechnen darf, dem die Frauen einft als „etwas Heiliges” galten. Die Frauenbewegung aber wird über alle diefe Schulze und Müller, dieje Hans und Kunz zur Tagesordnung übergehen.

Es märe ja freilich ein Leichtes, dem Schrift: hen „Bom phyfiologifhen Schwachfinn des Weibes" ein gleiches „Vom phyfiologifcen Startfinn, vulgo Brutalität, des Mannes“ entgegenzufegen. Ich wollte mich gleich anbeifchig machen, babei zu ebenfo ſchiefen Nefultaten zu kommen. Infiierung der Mehrzahl der Männer, bie Taufende von Frauen, bie durch fie vernichtet werden, bie Milliarden, die fie alljährlich in Altobol, Tabak und Tulinarifche Genüffe umſetzen, der brutale Egoismus

Die gefehlechtliche |

von Taufenden von Chemännern und Familienvätern, mad für granbiofe Themen für ein Kapitel über den phyſiologiſchen Starkfinn des Mannes! Wahrlich, es wäre leicht, gegen Schopenhauer zu behaupten, daß bie Frau der eigentliche Menfch fei, feicht, in der frau ber heutigen Beit mehr edelmenſch⸗ Tide Züge nadzumeifen, ald in dem durch ben Dienft der Venus, bes Bachus und Gambrinus entarteten Mann. Den phyſiſchen Grund folder Ent: artung könnten wir ja dann, die Grau ald Normal menfch gefet, in dem zu großen Gehirn und ber zu maffiven Beſchaffenheit des Mannes fuchen, die ihn höchſtens geeignet machen, ihr als Gehirn. und Krafttier Syſieme und technifche Apparate zur Erleichterung ihrer rein menſchlichen Wirkfamfeit zu bauen. Aber wir rauen von heute haben anderes zu thun, als folhe Spielereien. Wir wollen zufammen mit den Männern, bie mehr fönnen, als fenfationelle Brofhüren ſchreiben, eine Zeit heraufführen helfen, in ber billige Schmäbungen der Frauen bie verdiente Nichtbeachtung finden, in der Mann und Frau vereint, tie in der Familit, fo auch im öffentlichen Leben, an der Hebung und Veredelung ber Menfchheit arbeiten.

nDie Wenigen und die Bielen.“ Neue Eifave von Ellen Key. (Berlin 1901, ©. Fiſcher Verlag.) Eine moderne Lebenzftrömung, bie der Frauen beivegung zuerft ihre Fluten entgegenzurollen ſchien. der Individualismus, beginnt fih nun beutfih von ihr zu fcheiden, und nimmt manche mit fort, bie ihr halb gehörten. Ellen Key feht an bieſer Grenzicheide. Auch die Frauenbewegung ift gewedt und getragen von ber Kraft bed modernen Individua⸗ lismus, mag fie auch in dem altruiftifchen Pathos, das ihre erften Lebendäußerungen trug, und in den Mitteln, die fie ergreifen mußte, ihren Urfprung verleugnet haben, mag die Art und bie Zahl ber Anhänger, die fie fid) gewonnen, ihr den urfprüng- ůchen Charakter verwißht und ihrem Auftreten ein Mittelmäßigteitögepräge gegeben haben Es finb die Formen, die die fozialen Verhältmiffe ihr aufzwingen. Sie mußte ſich „herbenmäßig“ organifieren, um eine Macht zu werden. An biefen Formen nehmen die „Wenigen“, zu denen Ellen Key fi dechnet, Anftoß. Sie eriheinen da düch unharmoniſch, unvornchm, fic gehören ben Vielen“ an und verhüllen das feine eigenartige Wefen der Beften. lien Key hat ſchon viel gegen biefe Formen aefagt, ſchon mehr und Beffered als in der neuen Sammlung ihrer Eifays. Neue Gefichts: punkte bringt fie nicht, fie greift nur birckter an, als etwa in der erften. Eines Eingehens auf dad

Frauenvereine.

Sachliche der Efland, die fpexiell der frauen: (Sie !

bewequng gelten, bedarf es desbalb kaum. find übrigens zum Teil auch ſchon älteren Datums.) Was bie übrigen Beiträge der Samınlung betrifft, fo kann fi einer, der Ellen Key kennt und ihre ſchriftſtelleriſche Thätigfeit verfolgt, des Eindrucks micht ganz erwehren, daß auch feines Nefleftieren über die feinen Tinge des Lebens in einen er: mübenden Kreislauf einmünden fann.

„Education of Girls and Women In Great Britain“ von C. S. Brenner. (London, Swan Sonnenfeein, 1897.) Eine mit forgfältiger Aus: wahl des Wefentlihen Kar zufammengeftellte Überficgt über das engliiche Mädchenfhulmwefen von der Volioſchuie Bid zur Univerfität. Sie dürfte

bei dem allgemeinen nterefie, das bei und bem , englijhen Mädchenerziehungsweſen entgegengebracht ;

mird, in Peuticland wohl aud eine Yüde auß: zufüllen geeignet fein Das Buch behandelt in zwei Zeilen das Bildungsweſen in England und Wales, und in Schottland. Beſonders wertvoll ift & baburd, daß «8 die tehniihe und gewerbliche Ausbildung der Mädchen eingehend berüdfictigt, ein Gebiet, auf dem der Ausländer aus Mangel an Material fib am ſchwerſten orientieren fann.

Die Einteilung in kurze Abfchnitte mit vorgedrudten :

Inhaltsangaben erleichtert das Auffinden von Zeil: gebieten außerordentlich.

571

Abendlinder.”” Roman von Frieda Freiin von Bülow. (Dresden. Carl Reifner.) Der neue Roman von Frieda von Bülow führt uns in

cin Milieu, dad ihr befannt ift, tie faum ein | sneited, auf die Güter des thüringiſchen Landadels. Man mag einzelne Vorkommniſſe bezweifeln, man mag fi unter anderm bie frage vorlegen, ob eine Frau wie Juliane wirklich einen Mann wie den Grafen Ternach, der ab und zu ganz harmlos ; einen Meinen Ehebruch begeht oder ſchwer betrunten nach Hauſe getragen wird, ertragen könne: ber volalton ift fo unzweifelhaft echt, daß das Buch durch derlei Einzelheiten feinen Reiz nicht einbüßt. | Er liegt Hauptfächlic in dem liebevoll wehmütigen Verwellen auf Heinen feinen Zügen, bie ben Unter: gang einer Welt bezeichnen, bie fi in ihrer aus: geprägt ariſtotratiſchen Färbung, in ihrer vornehmen Zurüdhaltung von jeber Aktion, die auf materiellen Gewinn abzielt, gegen die thatlräftige, aber nichts weniger ald ariftofratifehe Gegenwart nicht mehr zu halten vermag. Tie Yiebe, mit der bie Ver: fafferin die legten Dieimanndriebs fdilbert, bie in bewußter Refignation auf eine Fortführung des alten Geſchlechts verzichten, zeigt deutlich genug, auf weſſen Seite ihr Gerz ift, wenn auch ibr Kopf ſich dem nüchternen Rüglichleitöprinzip ber Gegenwarts⸗ welt nicht verfhließt. Am wmenigften wirffam ift bie Berliner Epiſode bes Romans. Der berühmte Berliner | Künftler will fid nicht recht überzeugend geftalten.

u

Franenvereine.

Aufruf! Der unterzeichnete Vorſtand beabſichtigt eine

größere Frauenbibliothet in Leipzig einzurichten.

Der Stanım diejer Bibliothek befteht aus ber „Louiſe Otto: und Auguſte Schmidt: Stiftung”, welche von Herrn Profefior Dr. Wendt in Troppau begründet und bis jegt in banfenswertefter Weile verwaltet worden ift. Die Bibliothek ſoll enthalten:

1. alle diejenigen deutſchen Schriften, welche don Frauen ober von Männern über die rauen

und Frauenbetoegung geſchrieben worden find, gleich: ,

viel ob im freundlichen oder im feindlichen Sinne;

2. die wiſſenſchaftlichen Schriften, die von deutſchen Frauen geichrieben worden find. Zu dieſen würden auch die Tiffertationen der deutſchen Doltorinnen gehören;

3. die Schriften auslandiſcher Frauen und ihre wiſſenſchaftlichen Arbeiten, ſowie Schriften zur Frauenbewegung ded Auslands.

Wir bitten nun hierdurch unjere Mitglieder ganz ergebenft, micht mur ihre eigenen etwaigen Arbeiten einfenden zu wollen, fondern au in weiteren Kreiſen freundlichſt dafür zu wirken, daß Werte der oben bezeichneten Art im Sinblid auf die

Bedeutung des Unternehmens dem Verein zur Ver: !

fügung geftelft werden. Einfendungen werden an

Arau Johanna Schweiger in Leipzig, Löhrftrafe 9, Marthahaus, erbeten. Der Borftand des Allgem. Teutfhen Frauenvercind.

Dert rheiniſch-weſtfäliſche Zranenverband

unter beſonderer Verückſichtigung provinzieller

-hältnijie während der zwiſchen ben vundes⸗ Verſammlungen gelegenen Jahre den räumlich ein: ander naheliegenden Vereinen Gelegenheit geben zu gegenfeitiger Anregung und Förderung, zu gemein: famem Vorgehen in verfejieenen Fragen von alls gemeinem Intereife. Der Berband hofft, aud folhe Vereine zum Anſchiuß zu gewinnen, denen ein diretter Anfcluß am den Bund nod) fernliegt. Er möchte vor allem auch burd Aufnahme von Einzelmitgliedern in folgen Städten, in denen tein dem Verband angehörenber Verein beftcht, ein Mittelpunkt werben für bie noch verftreut lebenden eingelnen Anbängerinnen der Frauenfache in beiden Provinzen, möchte durch Sermittlung Diefer Eingelmitglieber den Ideen der Frauen beiwegung an allen Orten neuen Boden getrinnen. Durch Vorträge, durch Verbreitung von Propaganda: material, durch geregelten Außtaufc) der im ver: ſchiedenen Stäbten gemachten prattifchen Erfahrungen hofft der MWerband förbernd thätig zu fein unb weitere Kreiſe von dem Ernſt und ber Rot: wendigkeit der jyrauenbeftrebungen zu überzeugen.

I Er gehört bem Bunte beutiher Frauenvereine an und muß fagungsgemaß auf den Yundes:

572

verfammtlungen vertreten fein. Außerdem mwirb er in jedem Frühjahr in beiden Provinzen wechſelnd eine Verbandes-Verſammlung berufen. Mittelpunkt ded Verbandes ift die Zentral:Auskunft: ftelle, Die unter Leitung der 1. Borfigenden, Frau Krutenberg:Bonn, ſteht und auf alle Anfragen auh aus dem Verband fernftehenden Frauen: freifen koſtenlos Auskunft erteilt, und die Propagandaftelle, welche in Händen der 1. Schrift: fübrerin, Frl. Günther-Bonn, liegend, Flugblätter, Drudichriften u. ſ. m. verbreitet und Anregung giebt zur Begründung neuer Vereine unb Orts: gruppen. Durch Inſerate in größeren Zeitungen will der Berband auf feine Thätigfeit aufmerkſam machen. Geldmittel fteben ibm bank ber Frei: gebigteit verfchiedener Mitglieder bereits aus: reichend zu Gebote. Bisber haben Frauenvereine aus Bochum, Bonn, Dortmund, Godesberg, Köln, Remſcheid ihren Beitritt erflärt.

Der Verein „Hauspflege“,

Abteilung des Berliner Frauen-Bereing, veröffentlicht den IV. Jahresbericht über feine Thätigfeit im Laufe des Jahres 1900. Als der Berein im’ Sabre 1897 begründet wurde, erftredte fich feine Wirkſamkeit vorerft nur auf die am meiften be: dürftigen Stadtgegenden SO. O., N., NW. mit 125 Stadtbezirken. Im Januar dieſes Jahres wurde das Gentrum als letter noch fehlender zeil mit in den Kreis der Vereinsthätigkeit ein- aeichloffen, und nunmehr umfaßt das Gebiet des Vereins das gefamte Berlin mit feinen 357 Stadt: bezirten. Die Thatfache des fo fchnellen Wache: tums des Bereind bemeift am beiten, daB feine Leiftungen einem wirklich vorhandenen Bedürfnis entiprechen, daher hat er auch in den 4 Sahren feiner Thätigkeit fo viel Freunde und Gönner ge: funden, die bie rafche Ausdehnung feiner Arbeit ermöglichten. Das verfloffene Jahr bat fi) von den früheren nur dadurch unterfchieden, daß die Arbeit außerordentlich gewachſen if. Es wurde im ganzen in 2328 Fällen mit 19 384 Pflegetagen gepflegt. Das Zuſammenwirken mit dem Berliner Verein für häusliche Gefunpheitöpflege und vielen anderen bat fich für beide Teile durchaus bewährt und wird immer unentbehrlicher und felbftverftänd:- licher. Außer in Fällen ſchwerer Erkrankung hat der Berein auch durch Gewährung von Hilfe bei leichteren Erkrantungen und Rekonvalescenten dadurch vorbeugend gewirkt, daß er durch Ge währung von Wafchtagen und ftundenmeifer Hilfe der Hausfrau die Möglichteit gab, fich bis zur voll: jtändigen Wiederberftellung zu fchonen, ohne daß die Ordnung ihres Hausweſens darunter zu leiden batte. Sebr erfreulich ift Die ftetige Zunahme der Zahl der freiwilligen Zuzahlungen für gemährte Hilfe, ſowie der Umftand, daß wiederum mebrere Familien aus Dankbarkeit für die in fchwerer Zeit geleiftete Hilfe dem Verein als zahlende Mitglieder beigetreten find. In finanzieller Hinficht war das Jahr in Bezug auf einmalige bedeutende Bu: wendungen befonderd günſtig. Die Befichtigung von Ateliers und Kunftfammlungen ergab einen Reinertrag von 9328,45 Mark und die Stadt Berlin erhöbte ihre Subvention auf 4000 Marl. Auf Grund der neuen Beftimmungen des Bürgerlichen Geſetzbuchs ift der Verein in das Vereindregifter eingetragen worden,

Frauenvereine.

Der Dentſch⸗Evangeliſche Franenbund

hielt am 13., 14. und 15. Mai in Gotha feine II. Jahresverſammlung ab. Am Montag Ieitetc ein Feſtgottesdienſt mit Predigt bed Herrn General: Superintendenten Pfeiffer aus Kafiel die Ber: fammlung ein. Ein Begrüßungsabend ſchloß Fich an, der die von nah und fern zuſammen gelommernen Mitglieder zwanglos vereinigte. Die erſte geihäft: liche Situng am Diendtag Morgen wurde von Frau Pfarrer Schrader:Kaflel, der bisherigen ftellvertretenden Vorſitzenden, mit einer aegrüßunge- rede eröffnet, in ber berpvorgeboben wurde, wie dic Grabesluft früherer Seiten heute nicht mehr webe, wie es nötig fei, die Schranken nieberzureißen, die den Frauen feit Jahrhunderten aufgerichtet waren. Die Nebnerin fchloß mit dem Wunfche, daß ter Bund für die Unterdrüdten unſeres Geſchlechts, für alle Frauen eintretend, in treuer Arbeit wert- thätiger Liebe wachſen und gebeiben ındge. Fräulein Ganslandt-Kaſſel erftatteteben Geſchäfts bericht: Der Deutſch⸗Evangeliſche Frauenbund zählt heute 2108 Mitglieder mit 22 Drtögruppen. 28 Bereine haben fih ibm angeſchloſſen. Neu: begründet wurden im legten Jahre die Dridgruppen in Lübel, Naumburg und Cannſtadt. Nah Er: ledigung meiterer geſchäftlicher Angelegenheiten er: folgte die Neumahl des Bundesvorſtandes: zur erften Vorfikenden wurde Fräulein Paula Müller: Hannover, zur ftellvertretenben Borfigenden Fräulein A. v. Bennigjen:Bennigfen bei Hannover, zur Schriftführerin Gräfin M. Püdler: Hannover, zur Schapmeijterin Fräulein A. Schöntan:Kafiel, zu Beifigerinnen Frau Oberftabtarzt Steinhaufen: Hannover, Fräulein E&.&ondbruch:Kaffel, Fräulein M. Ganslandt-Kaſſel, Freiin A. v. Gablenz: Weimar, Fräulein M. Schmidt: Stuttgart gewählt. Der Bundesfig wurde nach Hannover verlegt. Unter Leitung‘ der neugewählten Vorſitzenden wurden fodanı bie behufs Cintragung in das Vereindregifter wingearbeiteten Satzungen und ver: ſchiedene Anträge einzelner Urtdgruppen bir:

beraten.

Die Grüße und Wünfde der Stadt Gotba überbrachte Herr Bürgermeifter Oftertag; feitens des Herzoglich-Gothaiſchen Staatsminifteriums wurde der Deutſch-Evangeliſche Frauenbund durch Herrn General-Superintendent Kretſchmann begrüßt.

In zwei öffentlichen Verſammlungen wurden folgende Vorträge gebalten, an die ſich lebhafte Diskuffionen fchloffen: I. die Erziehung unferer Töchter zur Wahrheit und zum Pflichtbewußtſein, Fräulein v. Broceder: Dresden; II. Erwerbszweige und Berufsarten für zrauen, Fräulein Eywalina: Kaffel; II. Mad kann von Seiten des Deutic: GEvangelifhen Frauenbunded zur Gewinnung von Hülfskräften für die häusliche Krantenpflege ge: Iheben? Fräulein Schönian:Kaffel; IV. bie ftaatliche Fürforge: Erziehung und ihre Aufgaben für die Wiitglieber bed Deutich : Evangelischen Frauenbundes, Fräulein Pholen: Hannover.

Am 14. fand noch ein von Herrn Pfarrer lie.

\cher geleiteten Volksabend ftatt, Als Ort der nächſten Sabresverfammfung wurde Hannover in Ausſicht genommen. . M.

Frauen und Frauentypen. 879

erzeugt den Anjchein des Gegenteil. Und ausbrüdlic verwahrt fi Lou Andreas: Salome gegen das verbreitete Mißverftändnis, die beiden Gefchlechter als bloße Hälften aufzufaffen, wie „es in ber populären Redewendung vom Weiblichen als dem paſſiv empfangenden Gefäß und dem männlichen als dem aktiv ſchöpferiſchen Inhalt” geichieht.

„Der Menſch als Weib” ') im Salomefchen Lichte ift eine Zufammenftellung aller Eigenfchaften, die ſich aus den phyſiologiſchen Bedingungen der weiblichen Korporifation ableiten laſſen, eine modernifierte Auslegung deſſen, was von alteräher als ſpezifiſch weiblich gegolten hat. Daher auch die Salomeihe Anfhauung, daß jene alten Bezeichnungen für dad Wefen des Weibes, „als da find: Häuslichkeit, am-Herbeswalten, Religion, Selbftbefcheidung, Unterordnung, Reinheit, Sittigfeit u. a. m.“, keineswegs Zufalöbezeichnungen find, fondern, wenn auch grob und kompakt gefaßt, Symbole und Illuſtrationen für die wahre Wefensveranlagung bed Weibes. Nach Lou Andreas: Salome geftattet. diefe Wefensveranlagung feine völlige Individualifierung; das Weib hat immer vom Gattungsmäßigen viel mehr an fi als der Mann. „Denn das ift dad Eigentümliche, daß das Weib dem Weibe gleicher ift, al der Mann dem Manne. In irgend einer geheimnisvollen und höchſten Bedeutung wird e8 wahr, was bie ſchamloſe Brutalität der Sinnlichkeit vom wahllos aufgegriffenen Weibe ausfpricht, daß Weib oder Weib dasfelbe gelte.” Das Weib ift das minder inbivibualifierte Weſen, weil e8 „noch unmittelbar Anteil Hat an dem Allleben felbft und wie deſſen perſönlich gewordenes Sprachrohr wirken kann“.

Daher fommt ed, daß ed im feiner felbfleigenen Welt als dauernden Seelen: zuftand das befigt, was daß frieblofe, fich ing Grenzenlofe verlierende und fpezialifierende Mannesweſen nur in feinen höchſten Augenbliden erreicht.

Die Salomefche Art der Darftellung, die dad Konventionelle verflärt, um aus ihm die Anhaltspunkte für „ein Bild im Umriß“ der allgemein giltigen Weiblichkeit zu gewinnen, fchließt fo völlig die Zeichnung des Individuellen aus, daß es hier fogar aus dem Welen bed Weibes heraus grundfäglich abgelehnt wird. Sie ift zugleich die Vorausfegung, unter der bie generalifierende Methode ſich rechtfertigt; in ber Marholmſchen Darftellung Hingegen führt ſich die generalifierende Methode jelbft ad absurdum, gerade weil „dad Weib” der Laura Marholm ein indivibuelleres Gepräge trägt, weil es ein reales Weſen und nicht ein aus dem Gattungsmäßigen Tonftruierte® Schemen iſt. Was für Widerfprüche vereinigt dieſes Weib in fih, aus mas für wunderlich uneinheitlichen Beitandteilen ift e8 zufammengefegt! Vorerſt das „Sentrale” des Weibes, „die heiße Duelle... . die des Weibes Ein und Alles, fein Mittelpuntt, fein Genie und fein Inhalt ift bie durchſeelte, verinnerlichte Gefchlechtlichleit”. Deshalb ift es auch nicht der Mann, „für den die Wahl die wichtigfte Angelegenheit ift, fondern das Weib“. Und dieſe Wahl mit feinfügliger Unfehlbarkeit zu treffen, „nachtwandleriſch ſicher den einen organiſch-ſympathiſchen Geliebten unter taufend gleichgiltigen oder abftoßenden Menfchen herauszufühlen“, wird als Ausdrud der intakten, hochkultivierten Weibnatur gerühmt.

Aber mit Staunen Hören wir alsbald: „es kommt für das Weib in erfter Linie nicht fo ſehr darauf an, wen es liebt, fondern daß es liebt.” Ja wir erfahren, daß der Mann, je braver, wärmer, beffer er ift, defto pathetifcher die große Liebe verlangt,

‘) Neue deutſche Rundſchau, Jahrgang 1899, Heft 8. 37°

Frauen und Frauentgpen. 881

fondern Gott. Mit fo weitgehenden Vollmachten ftattet felbft die patriarchaliſche Vorftelung vom Weibe den Mann nicht aus!

Noch von einer anderen Seite fehen wir die fpezififche Weiblichkeit bei Ellen Key. Sie fucht im Gegenfag zur Salomefchen Auffaffung für die Frauen eine „unbegrenzte Freiheit ber Individualität” trog der durch ihre Phyfis bedingten Gebundenheit zu retten. Dieſes Bemühen, den individuellen Unterſchieden gerecht zu werben, durchkreuzt bei ihr beftändig die generalifierenden Schlüffe, die fie für ihre Beweisführung doch nicht entbehren fann. Unter ihren Händen verwandelt fich die Weiblichkeit fo unaufpörlih, daß man endlich nicht mehr weiß, warum denn von etwas fo Unbefiimmbarem ober von etwas fo Nebenfächlichem weiter die Rebe fein fol.

Ellen Rey befennt zwar, ') daß ein einziger Ausnahmefall weiblicher Überlegenheit eine unabweisliche Stüge für die Forderung auf volle Freiheit der Selbftbeftimmung für jede Frau bildet aber der Zweck ihrer Ausführungen iſt trogdem, durch Nach: weiſe über das, was das wahre Weſen des Weibes ift, diefe Freiheit einzufchränfen. Wenn die Geſellſchaft, wie Ellen Key fordert, Feiner Frau Hinderniffe in den Weg legen darf, zu zeigen, was die Natur gerade mit ihr beabfichtigt bat, müßten dann nicht zu allererfi die normativen Beftimmungen über dad Weibliche und Unweibliche aufhören? Wozu fol e8 dann dienen, dem einzelnen Individuum vorzuhalten, mie die große Menge feiner Gefchlechtägenofien beichaffen ift, und ihm Richtungslinien anzumeifen, die aus Unterfuchungen über dad Durchfchnittliche gewonnen find?

Vielleicht ift e8 gegenüber ben extremen Standpunften in der Frauenbewegung angezeigt, durch folche Darftellungen de3 allgemeinen Geſchlechtscharakters u. dgl. daran zu erinnern, daß nicht alle Frauen für eine andere Lebensführung als die überlieferte geeignet find. Vielleicht denn ed wäre ja möglich, daß bie Frauenbewegung durch übereilte Verallgemeinerungen bie und da urteilslofe Perfonen auf einen falfchen Weg loden, fie mit dem äußerlichen Ehrgeiz erfüllen könnte, etwas anzuftreben, wozu fie doch nicht taugen. Diefe Beftimmungen über das Durchfchnittliche tragen aber gleichzeitig dazu bei, die normative Gewalt zu verftärken, welche die ftaatlihe und geſellſchaftliche Tradition ohnedies über das einzelne Individuum ausübt wie fehr auf Koften ber perfönlichen Freiheit, daB wiffen eben nur diejenigen, die nicht in die herrſchende Norm pafien.

Nah dem Erfahrungsfage, daß auf geiftigem Gebiete dieſelben Verhältniſſe herrſchen müffen wie auf dem des Körpers, fucht Ellen Key die fundamentale Ungleichheit dort, wo ber michtigfte funktionelle Unterfchied im natürlichen Leben der Gefchlechter liegt. Wie bei Laura Marholm duch die Wildheit, ift bei Ellen Key das Weib durch die Mütterlichleit „enger mit der Natur verwandt” als der Mann, mit dem Myftifchen, das hinter der Wirklichkeit flieht; und, „wenn die Kraft der Mütterlichkeit einft auf Erden in ihrer vollen Selbftherrlichfeit Hervortritt, dann wird fie, in einer tieferen Bedeutung als bisher, der Welt die Erlöfung gebären —“ nämlich, wenn bie Frauen erft gelernt haben werben, ihre Mütterlichkeit, die fie biöher nur in der Hingebung an private und perfönliche Verhältniffe bethätigten, auf die öffentliche und allgemeine Sphäre zu übertragen.

Diefe Sphäre war freilich nach Ellen Keys eigener Angabe immer biejenige des Mannes; und e8 ift nicht einzufehen, wie die Hiftorifche Entwidlung der ſpezifiſch

») Mißbrauchte Frauenkraft.

Frauen und Frauentppen. 583

viel zu wenig beachtet wird. Und es ift zu fürchten, daß in der „allgemeinmenfchlichen Sympathie, der Mütterlichkeit in der mweiteften Bedeutung“, die fozialen und religiöfen Genie unter den Männern der Chriftlichleit den Frauen längft den Rang abgelaufen haben.

Der altruiftifchsfentimentale Typus der Weiblichkeit Ellen Keys bat, foweit fein Gebiet die Familienverhältniffe find, mit dem erotifch:ercentrifchen der Laura Marholm den Mangel an Perfönlichleitsgefühl gemein. Beide glauben zwar eine befondere „Weibperſonlichkeit“ der Mannperfönlichleit entgegenfegen zu können; aber der Begriff der freien Perfönlichkeit ſteht und fällt mit der Vorausfegung, daß ein Menſch feinen Zweck ſich felber fegen und bie Impulſe feines eigenen Weſens zum Inhalt feines Lebens machen kann. Wer feinen Inhalt außerhalb feiner felbft fucht, das Ent- ſcheidende feiner Eriftenz in eine andere Perfönlichkeit‘ verlegt, macht ſich dadurch zu einem Menfchen zweiter Drbnung, zu einem felundären Weſen. Wie der Begriff der Perſonlichkeit auf der Vorausfegung innerer Unabhängigkeit, jo ruht aber der traditionelle Begriff der Weiblichkeit auf der Vorausfegung ber Abhängigkeit und beftimmt die ganze Hiftorifche Stellung des weiblichen Geſchlechtes. Eine Frau, die eine felbftändige Perfönlichkeit iſt, überfchreitet mit Notwendigkeit die Grenzen ber traditionellen Weiblichkeit wiſſentlich, wenn fie zugleich ſtarker Geift genug ift, fich ihre wirkliche Natur einzugeftehen, das heißt, ſich berfelben reflectiv bewußt zu werden, unwiſſentlich, wenn fie diefe Stärke nicht befißt.

Der Grad ber perjönlichen Hingebung ift an fich keineswegs, wie Ellen Key will, eine zuverläffige Bafis für eine Gemeinfamleit oder Ähnlichkeit derjenigen Frauen, deren Raceabzeichen er bilden fol, weil die Richtung, nach ber ſich diefe Hingebung bethätigt, allzu große Unterſchiede zwifchen den einzelnen Individuen fegt. Eine Frau, die in ihrer erotifchen Hingebung an den Mann das Lebengentfcheidende findet, wird vergeblich erwarten, in diefem Punkt von einer Frau, deren Lebensintereffe fih in der Mutterſchaft fonzentriert, verftanden zu werben. Der Grund, warum ber Gegen: fag, der bier Herrfcht, nicht auffäliger zur Erfcheinung kommt, liegt nur in dem Mangel an reflectivem Erfenntnisvermögen unter ben gewöhnlichen Frauen und in ber Ähnlichkeit der Lebensbedingungen, durch die gemeinfame Intereſſenſphären hergeftellt werben. In Wahrheit aber find diefe beiden Arten von Frauen fo verſchieden wie Hund und Kage. Ya, man fannı vielleicht das Bezeichnendfte ihres primitiven Weſens durch dieſen Vergleich charakterifieren. Die Frauen des erotiſch-excentriſchen Typus mit dem Bedürfnis der Unterordnung unter den Mann haben etwas von ber Natur des Hundes, der feinem Herrn auf Leben und Tod ergeben ift, und feinetwegen alles andere im Stich läßt, wenn es fein muß, während die Frauen, die in ihren Kindern aufgehen, mehr den Katzen gleichen, bie fi) an das Haus attadhieren, in dem fie leben. Das Aufgehen in der Mutterihaft it an ſich noch fein Ausdrud weiblicher „Selbftlofigkeit”. Die enge phyſiſche Verbindung, die aus dem Kinde einen Anner des mütterlihen Organismus macht, erklärt es, daß viele Frauen der Mutterfchaft ihrem ganzen Weſen nad) dem egoiftifch=frigiden Typus angehören.

Man kann mit demfelben Recht behaupten, daß „das Weib“ kein Centrum in fich Hat, als daß es das fonzentrifchfte Weſen und viel mehr fein eigener Mittelpunkt ift ala der Mann es fommt nur darauf an, welche Art von Frauen man unter dem Sammelnamen „dad Weib“ verfteht. Wer wüßte nicht, welchen Grad der Kultus der eigenen Perfon, die an Selbftvergötterung grenzende Selbftliebe bei vielen Frauen

Frauen und rauentppen. 585

Es ift ein Ratſel, für das es feine objektive Erklärung giebt es fei denn, daß jede Frau, auch die wiſſendſte, auch die bedeutendfle, nur diejenigen Frauen kennen und ſchatzen lernt, die ihrer eigenen Wefensart nahe kommen, ebenfo wie jeder Mann in der Regel nur diejenigen Frauen kennt und ſchätzt, die feinem fubjeltiven Gefchmad und Bedürfnis entfprechen.

Denn was find im Grunde alle generellen Ausfagen über „das Weib“ und „den Mann“ anders als Selbitbefenntnifje? Der fogar Selbfiverherrlichungen? Jeder verfieht darunter feine eigene, individuelle Befchaffenheit, mit jenem naiven Dünkel, kraft deſſen man überzeugt if, daß man die Norm repräfentiert. Und es Scheint, jeder will nur ſich felbft gelten laſſen, feine eigene Art als die allein echte verbreiten.

Und doch befteht eine jo große Verfchiedenheit unter den Frauen, daß das Verftändnis, das aus der bloßen Gefchlechtögemeinichaft entipringt, in vielen Fällen völlig aufgehoben wird. Jener Freimaurerblid, von dem Laura Marholm fpricht, der Blid, mit dem die Frauen angeblich untereinander die „Geheimfchrift ihrer inneren Erlebniſſe“ Iefen, er bewährt fih nur unter Mitgliedern desſelben Grades, aber er verfagt, wo es fih um größere Abftände Handelt, um Unterfchiede in dem, was ein Menſch als den Kern feiner Perfönlichkeit, als das Myſterium feines befonderen Weſens empfindet.

Jeder Menſch von Eigenart weiß, daß es eine Art von Perfonen giebt, die zu ihm gehören, denen er ſich verftändlich machen kann, mit denen er etwas gemeinfam bat, und eine andere Art, die ungeheuere Mehrzahl, zu der er feinen Zugang befigt, die feine Sprache nicht verfteht, wie deutlich er auch rede, für die er in alle Ewigkeit ein verfchloffened Buch bleiben wird. Die Trennungslinie läuft aber keineswegs immer mit dem Gefchlechte parallel. Namentlich geiftig hervorragende Frauen finden ihre Wahlverwandten eher unter Männern. Und nicht allein intelleftueller Momente wegen; fie haben in viel tieferen Dingen mehr Berührungspunfte mit ihnen als mit ben Angehörigen ihres eigenen Geſchlechts.

Ein weiſes und freies Wort über das Problem der Weiblichkeit hat Mar Stirner ausgefprochen, als er fagte: „Was fol man von einem Weibe denken, die nur voll» kommen ‚Weib‘ fein wollte? Das ift nicht jeder gegeben, und mande würde ſich damit ein unerreichbares Ziel fegen. Weiblich dagegen ift fie ohnehin, von Natur, die Weiblichkeit ift ihre Eigenſchaft, und fie braucht der ‚echten‘ Weiblichkeit nicht.” Hineingebannt in die Schranken einer begrenzten Individualität fönnen wir bie geheimnisvolle Bafıs, auf der unfer Fühlen und Wollen fih ſchickſalsmächtig erhebt, nicht wählen und nicht ändern. Wir fönnen nichts Höhere, als ihr, über alle Normen, Vorſchriften und guten Lehren hinweg, gehorchen. Denn was die Natur ſelbſt in unferer Eigenart geſchaffen hat, das allein ift das Echte. Aber das ift nicht das Gleiche für alle.

586

Sin ſalomoniſches Urteil.

Sin Zeifeerlebnis von B. Benry- Moor.

Nachdruck verboten. en

WON wohlwollend Hatte unjere Kleine, in der Cremitage eingeregnete Babe: SR gejelljchaft die Gejchichte meines Neijeerlebniffes aufgenommen, daß ich faft ESEE enttauſcht war, als plöglich ein Sonnenftrahl in die Borkhütte fiel und all meine Zuhörer hinauslockte.

Nur eine feine ältere Frau, mit lieben, Eugen Augen, zögerte noch und fagte nachdenklich:

„Schade, daß meine Tochter dad nicht mit angehört hat.“

„Die Schöne, junge Excellenz?“

„Sa, eben die.”

Sch lachte Iuftig und rief, Halb unbewußt: „In deren Gegenwart hätt’ ich wohl faum jo viel gejprochen.”

„Weshalb? Wirkt fie jo einfchüchternd? die junge Frau?”

Sch befann mich: „Einfchüchternd?“ wiederholte ich, „ja vielleicht. Sie ift ſchwer ir nicht wahr? Man weiß nicht recht: iſt ſie ſchon müde oder noch ehnſüchtig.“

Die Mutter der Abweſenden ſah mit ſeltſam verſonnenem Ausdruck den vom Abendſchein überglühten Bergpfad hinunter, auf dem eben meine eigene kleine Kinder: Ihar mit bligenden Augen und jauchzenden Hurrarufen im Wettlauf angeftürmt kam.

„Wundervoll,“ jagte fie und man wußte nicht, meinte fie die Landichaft oder die Kinder „wundervoll! Und Sie, gerade Sie, halten e3 für denkbar, daß eine Frau auch fremde Kleine Egviften fo lieb gewinnen fann wie eigene? Ich hab's nie glauben mögen.”

„Aber, die Gejchichte, die ich Ahnen vorhin erzählte, ift buchftäblicd wahr,” fagte ih. „Und die wilde Hummel da, jehen Sie, die größte, die Y jest das Saar wieder einflicht, ift die Annaliefe, die das jalomonifche Urteil gefällt bat.“

„Schade, daß meine Tochter nicht hier war,” fagte die alte Dame wieder. Und dann ganz leife, wie nad) einer Anftrengung: „Sie bat feine Kinder.”

Da verftand ich. „Ich jchreib’3 auf,” rief ich ihr zu während mich meine Kinder umringten „und wir nennen's: das ſalomoniſche Urteil.”

%* * *

Wie wir reifen, wiflen Sie, verehrte Freundin: immer am erften Ferientage und immer dritter Klaffe. Den Kindern fommt das jetzt fabelhaft vornehm vor; denn mein Mann bat ihnen eine Nührgejchichte von einem edlen Dichter erzählt, der mit feiner Familie vierter Klafle fährt und hat Hänschens Frage, vb es denn nicht noch viel billiger wäre, wenn der Dichter mit feiner Familie ganz zu Haufe bliebe, ein- fach überbört. Hat fich auch nicht darum gekümmert, daß unfere Jungen die vierte Klaſſe geradezu famos finden, fondern nur verjucht, als er feine Familie am Anbalter

Ein ſalomoniſches Urteil. 587

Bahnhof in den Zug fpedierte, ihr ein ganzes Coupe dritter zu fichern. Aber es glüdte Jubel der Kinder und zum do auf meine unentwegi betriebene Beamten- beftechung.

In Halle war der Anfturm auf unferen Zug befonderd arg.

Ihnen bringe ich nur eine einzelne Dame,“ fagte der Schaffner achtungsvoll.

Dame war übertrieben.

Sie hatte höchſtens das Zeug zu einer Dame und felbft das ſah viel zu neu, viel zu ſehr nach dem Ladenfenfter aus. Und ein fehiefgefegter rofa Feberhut verdarb vollends alles.

reilich, auf die Kinder machte fie Eindrud. Unſer eigenes Handgepäd ſieht wirffi „mitgenommen“ aus in jedem Sinne, aber bie Ede, in der die große, dicke Fremde fich einrichtete, glich nach ein paar Minuten dem Schaufenfter eines Drei— Mark-Bazars, fo wertlod und fo neu war alles, was fie um ſich herum aufbaute. Nur das Lächeln, mit dem fie fih für die fleinen Handreichungen unferer Jungen bedankte, wirkte zugleich abgenugt und doch wie auf Veftellung geliefert. Im langer Übung waren die Gefichtsmusfeln der Frau zu biefem Lächeln trainiert worden. Sie dachte ſich nicht? mehr dabei und es kam erft Leben in ihre Augen, als fie mit Hebrigen Fingern den Inhalt einer großen Düte zu unterfuchen begann und je nach Objeftbefund an Bonbons Iutjchte oder mit großer Treffficherheit Kirfchkerne zum Coupefenfter hinausſpuckte.

Unfere Kinder fahen ihr fo lange atemlos zu, bis fie müde wurde und at Düte, ganz geöffnetem Munde und gefpreizten Fingern feft einfchlief.

Sie fchnarchte audgiebig, wie jemand, deſſen Natur daran gewöhnt wurde, ſich das erforderliche Duantum Schlaf zu jeder beliebigen Tageszeit und in jeder beliebigen Stellung zu verſchaffen. Sie fchnarchte noch, als wir in den Erfurter Bahnhof ein fuhren und erwachte erft, als unfere Wagenthür aufgeriffen wurde und eine laute, ängftliche Stimme rief:

„Frau Tiggenpoch, aber Frau Tiggenpody!” (geichrieben wahrſcheinlich: Diggen- bad). Auf dem Perron ftand in abgetragener Kleidung und außgetretenen Schuhen eine Arbeiterfrau mit einem Meinen, diden, fehr herausgepugten Bengel auf bem Arm. Das etwa zweijährige Kind war ein Prachteremplar, aber die Frau war ſchmal und bleih, ihr Haar war dünn und ihre Haltung müde. Kraft fchienen nur ihre Arme und ausgearbeiteten Hände zu haben, die den Knaben fo ficher hielten, als läge er in einer Wiege. Und immerfort lachte fie ihn an: dabei ſah man freilich all ihre Bahnlüden und doch wurde uns allen wohl bei diefem Laden. Sie aber bemerkte und gar nicht; denn ihre Augen wanderten zwifchen dem Kleinen und unferer Reife gejapktin bin und ber, biß fie ihm ihr unter lebhaften Zuſpruch, aber doch Außerft

ehutfan auf den Schoß fette. Die Fremde es mochte eine Tante oder Patin fein befühlte.und unterfuchte das Kind, als ob es ihr zum Kauf angeboten würde. Atemlos ſah die Mutter zu.

„Nichwahr, Kernfleifch?” fragte fie.

Die andere nidte troden.

„Aber jo is er erft, feit mer ihm nichts Sießes mehr geben. Gelle, mei Herzchen, Bonbons fin Baba?“ (auf diefen Spruch, der noch viel wirffamer ift, wenn man fih die B in P verwandelt denkt, war fie beſonders ſtolz) „nee, nee, der Chunge nimmt nicht? nid an, wenn’ ihm nich Einer einzwingen dut. Der Doktor fagt, das wär ſei ganzes Glikk, daß mer ihm das Genafche un das Gefchlede abgemwöhnt hätten. Da derdran lag es ja bloß, daß er die Milch partout nicht nehmen wollte. Aber nu! Geben Se mal acht, Frau Tiggenpoch, geben Se mal act” und fie holte aus ihrem Korbe eine mit geftridter Hülle bekleidete Kinderflaſche „aber noch wollen mer fe ihm nich geben. Erft, wenn er mich nich mehr ſieht. Sonft fchreit er. Un wenn Sie hernach iber Land mit ihm fahre, dann das mwollene Heeschen da. Un morgen in Ihrer Marktbude beftimmt nichts Sießes, nichwahr, Frau Tiggenpoch? Un nachts kriegt er auch noch jei Fläſchchen. Gott, wie wird mir fein, heut Nacht

588 Ein falomonifches Urteil.

um drei. Na, 's iS ja nur für enne Woche. Aber mei Mann wollt’ erfi gar nid an her fommt noch Hadjee jagen. Gelle, mei Herzchen, mer geben Dich nich gern her?”

Und während fie jprach, lachten ihre Augen, ihre naſſen Augen, immer tapferer und immer luftiger in das Kindergefichtchen hinein; denn darin begann es zu zuden und zu arbeiten all died Getöfe um ihn herum, dieſes aroße, ftarre, gepußte Weib, auf deffen Schoß er jo artig figen bleiben ſollte ich ſah es deutlich: was den Kleinen Schelm am Schreien hinderte, war nur die Furcht.

Aber plöglich ging eine Veränderung mit ihm vor und jetzt jeßt lachte er zum erften Mal.

Ich weiß fchon, wann Kinder jo lachen und fo dabei anfangen zu firampeln: wenn fie den Vater kommen ſehen. Und richtig da haſtete ja audy ein berußter Bahnarbeiter durch's Gewühl und holte erft Atem, als er bei dem buntgewiürfelten Umjchlagetudh feiner Frau Halt machte.

„En Glikk, daß de daB da anhaſt,“ Teuchte er. „Sonft hätt’ ich euch nid gefunden. 's fin jo wie fo blo8 noch drei Minuten. Bor eins darf ich ja nid. Aber jet bring ih auch was zum Abfchied. Nee, nee, hab’ Teene Angſt nich“ jagte er auf einen bejorgten Blid feiner Frau „ze eſſen is es nir. Aber da, mei Kerlche, gieb emal acht, wie der Kikerikiki macht.“

Und er ließ einen Heinen Gummivogel quietichen und an einem Schnürden zappeln, bis zu dem Augenblid, in dem dad Abfahrtszeichen gegeben wurde. Dann erſt warf er dad Ding dem Kleinen in den Schoß.

Er und die Frau liefen noch eine Strede neben dem Zuge ber: „Nich wahr, das Wollhöschen? Un dann, bitte, bitte, nicht? Sießes! Er bat’3 denn gleich im Magen.”

So fuhren wir ab. Der Kleine ſchrie wie beſeſſen auf, ald er die Eltern nicht mehr ſah. Aber die fremde Frau blieb ganz ruhig dabei. Sie griff nur in die Taſche, brachte ihre Düte zum Vorſchein und wollte den Kleinen Unband eine die, überzuderte Mandel in den Mund jchieben.

Aber Sie wiffen, wer fie binderte.

Shnen brauche ich nicht erſt zu jchildern, wie ich auf fie eindrang.

„Geben Sie mir das Kind!” rief ih. „Geben Sie mir e8 fünf Minuten, und ich berubige es ohne alle Bonbons.“ .

Aber fie nahm gar feine Notiz von mir der Kleine Iutfchte ſchon an einer totgefärbten Zudermandel.

„Sroßer Gott,“ rief ich außer mir, „warum wollen Sie denn das Kind mit Gewalt Frank machen? Die Mutter hat Sie doch beichworen .— —“

„Ras für eine Mutter denn?” fragte die Fremde jcharf. „Die Frau da vorhin? Das ift ja nur feine Ziehmutter. Die Mutter bin ich.“

Still, ganz ftill, feßte ich mich wieder in meine Ede. Die Frau da vorhin, mit al ihrer warm forgenden Liebe nicht die leibliche Mutter? Mir war, als müßte ich mich vor meinen eigenen Kindern, die das alles mit angehört, jchämen. Aber fie faben ganz herzlich nach mir bin, und Annaliefe, die neben mir jaß, zupfte mich nach einer beimlichen Beratung mit Otto fachte am Ärmel.

„Die fremde Frau da lügt,” flüfterte fie werächtlich. „Die Andere war die Mutter. Die bat ihn ja fo Lieb.“

- Sch nicte ihr durch Thränen zu.

Da

Bäsagogifhe Seit- und Hfreitfragen.

Gertrud Bäumer.

aqhdrua verboten. ——

3 wäre intereſſant, einmal in der Geſchichte des geiſtigen Fortſchritts nachzu⸗

prüfen, auf welchem Wege kulturelle Fragen am ſicherſten und reinſten geldſt

werden. Ob es gut ift, wenn erft der Kampf ber Meinungen auf ber ganzen Linie heiß und erbittert getobt hat, ehe der Staat als deus ex machina die Er- fülung hernieberfteigen Täßt, oder ob ein gelafienes, konſtantes Nachgeben an bie Beit- bebürfniffe, wo immer fie laut werden, zu vollfommeneren Refultaten führt.

Wer die Schidfale, die die Mädchenſchule als Gegenftand ſolcher Meinungs: tampfe in effigie während der letzten Jahre durchmachen mußte, mit einigem Anteil verfolgt Hat, der wird ſich des Eindrucks nicht erwehren können, daß es ihr zum Heile gewefen wäre, wenn man ein wenig eher Ol auf die Wogen gegoffen hätte. In der langen Zeit des Forderns und Gartens find die Angriffe, wie das in der Natur der Sache liegt, immer heftiger geworden, haben die Wünfche fich auf der einen Seite immer weiter von dem Boden des pofitiv Möglichen in das Utopifche verloren, ift man auf der andern Seite immer zurüdhaltender und karger mit den Zugeftändniffen geworben. In dem Beftreben, das große Publikum von ber Reformbebürftigleit ber Mädchen: bildung zu überzeugen, hat man häufig genug nicht die wünfchenswerte Einficht, fondern ein blindes, bedingungslofes Mißtrauen gegen das ganze Inſtitut erzielt, .das einer Reform feinerfeits manches Hindernis in den Weg legt; und ber befannte Sat: „Ich kenne die Abfichten der Regierung zwar nicht, aber ich mißbillige fie”, dürfte genau die Stimmung fennzeichnen, in der man in manchen Kreifen dem Beginn der Reform von oben ber entgegenfieht.

Die entgegengefegteften Intereffen ftoßen aber auch eben auf diefem Gebiet zu= fammen. Da begegnet bie liebevolle Zähigkeit, mit der der deutfche Familienvater fein Idealbild des für fein Behagen zärtlich und unermüdlich beforgten, hauswaltenden Weibes fefthält, der Konfequenz, mit ber die „radikale Frauentechtlerin” das einzige Biel der Mädchenfchulreform in der vollen Übereinftimmung mit der Knabenerziehung fieht. Da begegnen die Forderungen der Lehrerinnen nad; größerer Beteiligung am gefamten Unterricht und am der Leitung ber höheren Mädchenfchule ben Berufs: interefjen der Lehrer, da kreuzen ſich bie berechtigten und unberechtigten Wunſche ber Laien mit ben unberechtigten und berechtigten Bedenken der Fachleute, da ſteht dem fozialen Leben und feinen immer fleigenden Anforderungen an bie Frau wohl das Dogma einer ultra:phufiologifchen Betrachtung, „das Weib müſſe ihrer natürlichen Beftimmung wegen gefund und dumm fein“, als bittere Ironie gegenüber. Was Wunder, wenn man in dem Hin und Her eines langjährigen Rampfes ſchließlich auf allen Seiten vergeffen hat, dad Gewünfcte an dem Möglichen zu meflen, wenn fchließlich jeder auf feinem Schein zu beftehen entſchloſſen ift.

Padagogiſche Zeit: und Streitfragen. 591

die Bewohner zu vertreiben und an Stelle des alten einen Neubau von Grund auf zu fegen, für deſſen Tragfähigkeit und Sturmfefigfeit wir doch noch Feine Sicherheit zu geben vermödhten. ö

Auf diefer Grundlage ftellte die ſehr zahlreiche Verfammlung, die an den Ver— handlungen über die höhere Mädchenfchule teilnahm, ihre Forderungen. Cie betonte im Gegenfag zu mander Xußerung, die aus den Reihen der Frauenbewegung laut geworden ift, daß bie höhere Mädchenfchule nach keiner Richtung Hin Vorbereitungs- anftalt für beftimmte Berufe werden dürfe, fondern daß fie ihre Aufgabe darin ſehen müffe, ihren Schülerinnen eine allgemeine Grundlage für die Erfülung ihrer fpäteren Aufgaben in Familie oder Berufsleben zu geben. Wil fie aber diefer Aufgabe den Anforderungen der Gegenwart entiprechend genügen, jo bebarf fie eines Ausbaus in doppelter Richtung, in der Richtung der Realfchule einerfeits, des Gymnafiums andrer⸗ feits. Ein folder Ausbau würde ſowohl innerhalb de Rahmens der beftehenden Schulen mit neun: und zehnjährigem Kurfus zu vollziehen fein, als auch über diefen hinaus zu einer Erweiterung des Kurſus auf zwölf Jahre führen, und zivar würde in diefer erweiterten Mädchenfchule nad dem fiebenten Schuljahr eine Gabelung ein= treten in Klaffen, die der Knaben-Oberrealſchule folgen und ſolche, die eine gumnafiale Bildung vermitteln. Da ein berartig fompliziertes Spftem nur bei großen Schul- törpern durchführbar wäre, bleibt die Mädchenfchule mit dem neunjährigen Kurfus für Mleinere Orte und einfachere Verhaltniſſe beftehen, doch müßte auch für fie eine Um: geftaltung infofern eintreten, als den realen Fächern ein größerer Raum gegeben, eine fremde Sprache fafultativ getrieben und Mathematit und fakultatives Latein in den Lehrplan der Oberftufe eingefligt werden müßte.

Das ift ein Entwurf in großen Zügen, der zunächft nichts weiter als ein Luft ſchloß ift und bei der Verwirklichung wohl die mannigfachften Modififationen erfahren wird. Die Schwierigkeiten eines ſolchen Ausbaus nad fo verfchiedenen Seiten find innerhalb der feften Organifation unferer Mädchenfchule viel größer als etwa in den viel Lofer gefügten englifchen Syftemen. Die Verfammlung war fi auch volllommen bewußt, daß der Weg zu dem fo aufgeftellten Ziel Schritt für Schritt über das zu⸗ nachſt Erreichbare führt, und wenn die Seftion für höhere Schulen, wie beſchloſſen wurde, dem preußifchen Kultusminifterium ihre Wünfche für die in Ausſicht ſtehende Reform der höheren Mädchenfchule zum Ausdrud bringen wird, fo wird fie ſich troß de3 weiteren Programms, das fie für ihre Arbeit aufgeftellt Hat, innerhalb der Grenzen des Erreihbaren halten.

Der Erfülung um ein wenige näher dürften die Forderungen flehen, bie für die Zehrerinnenbildung auf Grund der von Fräulein Schneider aufgeflellten Thefen erhoben wurden. Iſt doch der legte minifterielle Erlaf in Preußen über die Lehrerinnen- bildung für die Notwendigkeit einer vermehrten praktiſchen Übung, einer gründlicheren pädagogifchen Ausbildung entſchieden eingetreten. Daß diefe Forderung nur erfüllbar werden wird in dem Maße, als Mädchenfchule und Lehrerinnenbildung im Kultugetat etwas reichlicher bedacht werben, in dem Maße, ald der Staat die Frauenbildung ald eine nationale Angelegenheit behandeln lernt, Liegt auf der Hand.

Eine frittige Frage, über die die Meinungen auseinandergehen, ift die, ob die Lehrerinnen für die Volksſchule auf befonderen Anftalten ausgebildet werden, oder ob einheitliche Seminare für den Volksſchulunterricht und den Elementarunterricht an ber höheren Mädchenfchule zugleich vorbereiten follen. Die Referentin entichied ſich für

592 Wadagogiſche Zeit: und Streitiragen

den legten Weg. Er wird aus praktiſchen Gründen vielleicht auch zunächſt gewöhnliche bleiben, wenn ja aud vereinzelt ſchon Volksſchullebrerinnen-Seminare beſteben. Der Gedanke, von dem aus die Bollsichullebrerinnen ſelbũ die Frage anichen, der ibr Intereñe an der Leſung beitimmt, ift vor allem der, daß die Beil: ſchullebrerin im Unterschied zu der für höhere Schulen nicht eintach die Clementar: lebrerin it, der ein geringere? Minen, eine beſchränkte Zahl von Unterrichtäjächern genügt, ſondern dab ibr Beruf in feiner eminenten jezialen Bedeutung eine Summe ren ganz beionderen volkswirtichagftlichen, brgieniichen, jurittiiden Kenntniren erterdert, wenn er dieier Bedeutung entivrechend errüllt werden fol. Die Volksſchul⸗ lebrerin in nicht nur eine beiendere und etwa gar minderwertige Kategorie ter Gauung Schulmeiñer, ne in Trügerin einer umtarrenden ſozialen Aurgabe, für bie " gar nicht vieteirig und ſergialtig genug ausgeñattet werden farnn. Um tie Anerfenmung ibres Standes in dieſem Zinne fümpten die Volfaihullehrerinnen bi3 heut Es wir dringend wanichenswert, daß eine Reorganiſation der Lebrerinnenbiſdung ihren An: iprũchen gerecht wird

* *

As Tazesordnung unterer Generalveriammlung and noch ein drittes Them:, dus mh ng dee Gebiet io’ Fer Zeit- und Streitfragen gerechnet werben kann: „Die Krderripcoologie und die Sebreläne unierer Schalen?. Eine Zeurrage, die 3 ebenĩo ehr aut er aigereinen miiriductitiden NiStung des medernen Geißezleien! ergiedꝛ. a Re ein Proben Br witenitoititen Padagecit if. Der üdergeng von er normativen zur inNvidualitierenden Betrechtung, den wit iberss in Witintsat, Kant, Moral beebaten, bet af mm Gebiet emen Kr gegen Ertm und Weton erieiseführt, nen Auert, in dem Terdings De Sim die wüsrung gu Eiemebzen Ihnen Sonung und Lies, ia in ügmiten an name Alımdlıra der Arhrataelcht wird ala Die anize Worsıe 87 Smı inmtlı En non gas tra Beer meaniifen Rızırai I ja De Je: —— ron Ein Ken, rniäend und in Bier Dinar men, wir jede Kererci. anT art zmammun an drin arten dt si Vxtrieiz und mmantiretahmeni Ge faunminttte Iomrtung Br Sinmiriiisne br für ie „mem“ Iennzen wu Na S der zunım ÄÂWS[eQ =

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Architektur und Innendekoration. 593

Wenn id) von den Arbeitstagen des Allgemeinen Deutfchen Lehrerinnenvereins durch die kurze Überficht der pofitiven Daten ein Bild zu geben verfucht habe, fo fühle ich die Notwendigkeit, einen allgemeinen Zug, eine beftimmte Farbe, die erft das Charakteriftifche giebt, Hinzuzufügen. Der Allgemeine Deutfche Lehrerinnenverein hat ein ftarfes Perfönlichleitsgepräge. Er ift mehr als ein Fachverband, in dem nach mechaniſch regulierten Formen die Gegenfäge in Fachkreifen außgeforhten, die gemein- famen Anſchauungen berausgeftelt und gemeinfame Kundgebungen befchloffen werden; Imponberabilien, deren Weſen in den führenden Perfönlichkeiten liegen, in dem, was die Lehrerinnen über ihre Standesintereffen hinaus in dem Zuſammenſchluß fuchen, haben ihm eine beſtimmte geiftige Eigenart, eine befondere Färbung gegeben, die nicht in Sagungen und Refolutionen zum Ausdrud fommen fann.

Sie wird vielleicht am deutlichften in dem Gedanken, mit dem die Vorfigende die Generalverfammlung eröffnete. Sie Inüpfte an eine Erfahrung an, der Björnfon einmal Ausdruck gegeben bat: daß nämlich gerade die feinen Naturen im öffentlichen Leben zurüdgebrängt werden. Diefe aber follten die geiftige Führung haben. Sie ihnen zu fichern, fie zu. fügen, ihnen die Wirfensmöglickeiten zu ſchaffen, deren fie bedürfen, dazu dienen die Vereine. So lange der Allgemeine Deutfche Kehrerinnenverein diefen Gedanken feftbält, den Gedanken, daß er geiftige Werte zu bewahren und nugbar zu machen, nicht in erfter Linie Intereſſen zu vertreten hat, fo lange erfüllt er feine Aufgabe, fo lange ift er nicht nur eine äußere, fondern eine geiftige Macht.

u

Architektur und Innendekoration.

Anna Goehje -Bremen.

Naqhdruc verboten.

J.

ſährend die Malerei und die Skulptur das Werk ihrer Befreiung durch einen 74 notwendigen und gefunden Durchgangsprozeß durch die Schule bes Realismus bereits vollzogen Yaben, ftedt die deutfche Baukunſt noch recht tief in ben Banden eines falfchen Idealismus. Falſch, weil er immer noch von der äußeren Wirkung, von der Faflade ausgeht und da Heil in der Jmitation früherer Stilarten ſucht, wodurch man der Gegenwart das künftlerifche Dafein abipricht und fie der eigenen Ausdrucksweiſe beraubt. „Unfere beften Sachen find mehr oder minder getreue Reminiscenzen“, jagt Semper, ber berühmte Münchener Baukünftler, der ſchon in den fünfziger Jahren de verfloffenen Jahrhunderts gegen die Anficht zu Felde 309, „daß der Architekt jeder feiner Kompofitionen durch bie Wahl eines fogenannten biftoriichen Stiles eine Unterlage jchaffen müſſe“. Freilich mit bisher geringem Erfolg, denn noch immer werden unfere proteftantifchen Kirchen mit Vorliebe in gothiſchem Stil erbaut, obwohl er der Höchfte und eigentümlichfte Ausbrud des katholiſchen Kultus ift und wir durch die Art unferes evangelifchen Gottesbienftes, der nicht Meffe und ' Liturgie, fondern die Predigt in den Mittelpunkt ftelt, ganz andere Bebürfniffe haben. In unferen profanen Monumentalbauten greifen wir, und nicht immer mit Glüd, vorzugsweiſe auf die Renaiffance zurüd, wie denn z. B. auch auf der Parifer Welt: 88

Fu Acchirtckur und Innendekoration.

ausnelung das Deutihe Haus, dad die moderne deutiche Baufunft repräfentieren ſoll:e,

ein in nachgemachter Renainance prunfender und dabei einem „Berliner Bierpalst unbeimlich übneinder Bau“ asıreien in! Daß bei einem nur auf den äußeren Schein binzielerden Bauen manche fatale Vorkommniñe fattinden, it gewis. Recht übel it es Dabei einer alten deutichen Reichäitadt ergangen, die „os ein präctiges Mufeum in gotbiſchem Enl erbauen lieg. Als nun der ftattlibe Bau fertig war, umd men rit den Sammlungen der Kunſt und des Auniigewerbes einziehen weilte, da fiellte es rb beraus, deß feine Möglichkeit vorbanden war, die Gegentände richtig aufzuſtellen. Es musten unter anderem erit noch Rinde zwiſchen den Tteilern gezogen werden; und aud Dann nach batten die aufgeitellten Aunitwerfe und Wiäkcl jede Trerortion verleren. „E war eine Zeirfung“ jo wird der eriie Eintrud geichildert, „als babe man eine Kotofolemmore in den Kölner Tom gelegt”.

Übrigens it ein Sichanlebnen an früßere Stilarıen, ein Euden nad äußerer Wirkung beim Monumenta!bau immer nch am erien am Platze, da er reprälentieren tel. Urd wenn es bei einem Staatsgebaͤude den derrefienden Arditchten gelingt. Pie aösere Nertiientation einigermaßen mit innerer Zwedinägigfeit zu vereinigen, wein arche Unzulanglicdteiten vermieden werden, derart wie fie 3. B. bei ter Anlage ein:$ Vermaltungägebiudes vorgelommen find, wo ber Farıde zulich bei den meiiten der den Beamten dienenden Arbeitäräume die Fenñer fo tief gelegt waren, dab alles Lich den unzödisen Sdreisem ven unten in die Nasen nel io mollen wir getre! die Eriridiuna der Staatsbauten ibrem Edidial üserlsten, umiomeßr al wır beworregende Nüöntier genug beñtzen, denen es bereit: gelungen it, bei einer tcımerinen Beberrichung auer Stlarten berwortzgende Monumentalbauten ftilvol und smedräfig und Dabei mit Hervorkebrung eigner füntieriiber Individualität zu Ihaten.

Gin: anders liegt ie Sache Beim Frorungekiude, beim Wobrbaus. Gier bat Me rbeter’Se Yorale gar feinen Sinn, und ibre Berüdiorigung kann nur zur größten Unzatur und Sturrdrigteit rühren Am deutlichen zeigt ſich Das in ienen Sıädten, wo es bareriis:h Darauf enfommt, Etagentrebnungen berzuñeLen. Kat jedes

grötere Pozenanrıe * nebeus in Berlin, Dresden. stanfurt u. ĩ. w. in äüaßerlich zu

ener AT von it lieAem Rencivſancevalañ gefempelt. Im Innern find dieſe 1080 Fi3 3Zro Wart:ezsen dern in der Aegel mit ſchweren Stuäwanden. bocbverdachten Flügel⸗ itartn und zuriansczen, bunten Tareten Nferett, eine biae Grofß:buerei, die jedem nit rneren Verwen serarinaten Vertsen einen gebiimen Schauder erreat. Der unglückliche Üreer ba indeſen dem Geicrnad dei berreenten Baouunterntbners zu fügen; 13 2 Serm gms tür ion, Die gemieicien Räume nech eiserer Individualitaät zu ann, Dr er ji rt wor, wie Balder wieder beraus muß, um Bann in einer zen Dotnura foıne Anderungen von vorn zu bes: nen.

Kr Üsen Babe weire Nee uniereh rufen Tuhihums mit poliger Rube ur? Suredersit in Eiumen wobnen, Die ıbnen von irzend eincm Bauunternehmer mıör:.2na Brsenäie worden Yad, und im adgcmenen ft cr au Das ganze Moktiiar sur arer ziert . Die Es mir Meter Umgebung aut verttäst. Selbñ der Profeñor der aferie Torträae über Die Blütezei: Der italieniihen Renarifance, 2, midi mie un! Herrann Matbenus verichert —, wenn \ ae vun entcht, feine Ausnabme ven meinen gèanzuch auserhalb Der Kunt. wmanäerend, bar aber innerlih feinen

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Architeltur und Innendekoration. 596

an, daß fie in erfler Linie darauf zugefchnitten find, ein gutes Straßenbild abzugeben. Man falle fie einmal daraufpin näher ind Auge. Da_ift 3. B. ein Haus, das Erker und Türme auftweilt, bie feinen Sinn haben, weil fie weder bewohnbar find noch irgend eine Ausficht gewähren.

Auch die aus dem Süden übernommenen Balkone und Altane find häufig jo zwedwibrig wie möglich angebracht, fo daß man fie bei unferm rauhen Klima faft nur an zwei bis drei windfreien Sommerabenden benugen fann. Dabei wirken fie ftörend auf die Anlage der Feufter, wie denn überhaupt die Fenfter, wenn fie zunachſt in Nüdfiht auf die Faſſade angeordnet find, höchſt ungünftig die innere Raum: verteilung beeinfluffen. Wir follten doch endlich begreifen, daß es beim Hausbau einzig und allein darauf ankommt, die inneren Wohnbebürfniffe zu berüdfichtigen und die Äußere Geftaltung des Hauſes von der inneren abhängig zu machen. Woher kommt es, daß und die Bauten aus verfloffenen Jahrhunderten jo wohlthuend berühren? Weil fie in ihrer ganzen fachlichen Tüchtigleit zu und fpreden und ein Ausdrud der Bedürfniffe und des Geichmades ihrer eigenen Zeit find. Wollen wir aber diefen oder jenen ihrer äußeren Reize auf unfere Zeit übertragen, jo führt uns das nur zu den erwähnten Verfehrtheiten, zur Künftelei. Und in ber That ftehen unfere modernen Fafjaden mit ihren unmotivierten Renaiffanceimitationen aus Cement oder Sandftein faft durchweg tief unter der rein fachlichen Verzierungskunft uncivilifierter Völker, wie wir dies aus unfern ethnographiichen Sammlungen erjehen können. Die ganze Enttwidlung unferer Kultur geht auf Vereinfachung. So wie die Allonge: perrüde und das feidene Gewand dem ſchlichten dunklen Rod bat weichen müſſen, wie wir das fteife Ceremoniell früherer Gefellihaftsformen mit einer einfachen natürs lichen Redeweiſe vertaufcht Haben, jo müſſen auch nach und nad) alle Dinge, mit denen wir und umgeben, auch das Haus, ald Erweiterung unferer Perjönlichkeit, diefer Richtung folgen. Trachten wir bei dem Bau unſeres Haufes nicht mehr nach dem Echein, laffen wir dad Gebot der Sache malten! Gehorchen mir in der Kompofition einzig den Forderungen ber Zwedmäßigkeit und des Materials, jo wird ſich eine zeitgemäße häusliche Baukunſt ganz von felbft entwideln eine Kunft, bie ein Ausdrud unferer eigenen Zeit if, die unfer Leben, unfer Thun und Laffen repräfentiert und mit unferm Empfinden, unferer äußern Erfcheinung genau fo überein- ftimmt, wie jene alten Kunftformen, die wir mit Recht bewundern und mit Unrecht nachahmen, mit der ganzen Lebensweife der Zeiten, aus denen fie erwuchſen, übereins geftimmt Haben. Artis sola domina necessitas! Man wende nicht ein, daß man auf diefe Weife zu einem völlig unfünftlerifchen Hausbau, zum Nughaus der Bieder: meierzeit fommen werde. Ganz abgejehen davon, daß diefer Gedanke an und für ſich für den modern empfindenden Menfchen nichts Abfchredendes hat, da jedenfalls die Viedermeierzeit in ihrem Nicht = mehr = vorftellen = wollen als fie war, etwas ungemein Sympathifches hat und mit ihrem Sinn für einfache Zwedmäßigfeit uns näher Liegt als die Gothif und Renaifjance, jo wollen wir auch nicht vergefien, daß die Ent— widlung jenes bei uns ftellenweife als lächerlich; empfundenen Stiles jäh unterbrochen worden ift. Indeſſen wird jeder, der in ein Haus aus den erften Jahrzehnten des verfloffenen Jahrhunderts tritt, die Abficht des Erbauers, die Verhältniffe des Raumes fünftlerifch abzumägen, jehr wohltuend empfinden. In der Regel ſieht man ben Häufern ihren innern, wohnlichen und behaglichen Charakter ſchon von außen an. Höhe, Breite und Tiefe geben eine harmoniſche Gefamtwirkung.

Wie felten hingegen ift das bei den Häufern der folgenden Bauperiode erzielt! Die Verhältniffe ſcheinen Lediglich auf Zufälligfeiten zu beruben.

Freilich, wenn eine Proportionswirfung erreicht werben foll, jo gehört dazu die Möglichkeit, über den Bauplatz frei zu verfügen. Aber beim Einzelhaus fteht dem doc in der Regel nichts im Wege, und mit Freuden ift es zu begrüßen, daß es jegt wieder mehr Sitte wird, daß alle, die ſich eine eigene Heimftätte gründen wollen, mit dem dazu beauftragten Baumeifter ſich gründlich außeinanderfegen über ihre in- dividuellen Wünſche und Wohnbebürfniffe, eine Sitte, die hoffentlich mehr und mehr um ſich greifen wird.

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Son gun beſendrer Wicrigt ei in die Gets hung ter Fenferwand. Der nicht durchzus een ſogenannten Spiegeirreiler wünidt, 1süte ñch Har machen, de5 die übuden me enter De Enbeit des Zimmers —— a vret en Ganz abaeichen deren, 5 beim Iwei— eNT Dreitenrierionem albes Aurtelen und Eintizen von

nen Kuntwerten utonth in da ne in dem dorrilien ae ummustg wirken, wird augen durcd de Gerodab ir, die wentterzänte ſebt miedrig anzulegen, Je Mt: wur un —S anna cur Die Sun Ne gemoren, und dur? De Enzichung Serie arm Umd Ge ame Aytezzı 08 MWoritisrd unangeneba beeinzckt. Kur Die Lomize kenn de en greſes. dreites wenter erit entiotehend erhöhter Kentertan! gemärt, wird Ah fıner mehr an 2 Itmine Woburiume seriösen

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Architektur und Innendekoration. 597

Wenn es zu erreichen wäre, daß der Vermieter oder Verkäufer einer Wohnung (bezw. eines Wohnhauſes) diefe nur in den nadten vier Wänden ablieferte, und wir und feine lacherlichen und umbequemen Dekorationen aufzwingen laſſen mitßten, fo wäre damit ſchon unendlich viel erreicht! Gewiß ift die Bequemlichkeit und Gleich giltigfeit des Publikums vielfach felbft ſchuld an den jegigen deſolaten Zuftänden: bie ungemöütlichen Umzugstage follen möglichſt abgekürzt werben, man will feine unnötigen Scherereien haben und ſchnell wieder in Ordnung fein. Wer fih aber fei es u in noch fo befcheidenem Maße behaglih und individuell einrichten will, der mu! ſich Zeit dafür nehmen und ed vor allem lernen, fih um alle Dinge felbft zu kümmern. Die detaillierten Angaben und fpeziellen Wunſche des Beſtelletss wurden übrigens ein Außerft wirkfamer Sporm für den Handwerker fein, fobald er fich wieder daran gewöhnt hätte. IR es doch für jeden Arbeiter in jedem Beruf intereffanter, für Menfchen zu ſchaffen, die ihm Intereffe und Verftändnis entgegenbringen, als für ſolche, die feinem Thun und Wirken verftänbnislos und gleichgiltig gegenüber ftehen. Wenn wir erſt wieder ein künftlerifch erzogenes, nad Individualität und Eigenart verlangendes Publitum Haben, jo wird der künſtleriſch arbeitende Handwerker auch, ficherlich zur Stelle fein! An Talent und Tüchtigkeit hat e8 uns in Deutichland noch nie gefehlt, und es ift auch jegt fein Mangel daran; nur konnten bei der herrſchenden Tendenz der Nachahmung ſich die felbftändigen Begabungen nicht richtig enttwideln und wurden von den fchiwächeren Talenten, denen es von Natur leichter wird fich anzupaflen, überflügelt. Jetzt, mo die führenden Geifter in der Malerei und Skulptur wieder anfangen, auf das Kunftgewerbe Einfluß zu gewinnen, wird ſchon von felbft aud in biefer Beziehung eine merkliche Umwandlung vor fich gehen.

Unendlich viel ift in den letzten Jahrzehnten geſprochen und gejchrieben worden über die geiftige und künftlerifche Kultivierung unferes Voltes; jet endlich ſcheint die graue Theorie zu grünendem, blühendem Leben werben zu follen. Es mag nur noch einmal darauf bingewiefen werben, daß fchon Goethe, wie und Edermann aus feinen Gefprächen mit ihm berichtet, das moderne, neufchöpferifhe Prinzip in der Kunft der Wohnungsgeftaltung im Gegenfag zur Imitation und Altertümeleilucht energiſch bez fürwortet hat. „In einem Haufe,“ fagte er, „wo jo viele Zimmer find, daß man einige derfelben leer ftehen laßt und im ganzen Jahr vielleicht nur drei, vier mal hinein: kommt, mag eine ſolche Liebhaberei hingehen, und man mag aud ein gothifches Zimmer haben, fo wie ich es ganz hübſch finde, daß Madame Pandoufe in Paris ein chinefifches hat. Allein fein Wohnzimmer mit fo fremder und veralteter Umgebung audzuftaffieren, kann ich gar nicht loben. Es ift immer eine Art von Maskerade, die auf die Länge in feiner Hinficht wohl thun kann, vielmehr auf den Menichen, der ſich damit befaßt, einen nachteiligen Einfluß haben muß. Denn fo etwas fteht in Wider: ſpruch mit dem Iebendigen Tage, in welchen wir geſetzt find, und wie es aus einer leeren und hohlen Geſinnungs- und Denkungsweiſe hervorgeht, jo wird es darin be ftärfen. Es mag wohl einer an einem luftigen Winterabend ala Türke zur Maskerade gehen, allein wa würden wir von einem Menfchen halten, der ein ganzes Jahr ſich in einer ſolchen Maske zeigen wollte?” Diefe Worte find im Jahre 1827 von Edermann niedergefchrieben worden; meld’ eine tolle Zeit der „Wohnungsmasterade” liegt zwifchen damals und jegt! Erſt heute feheint die Zeit ſich zu erfüllen, in ber Goethes Geift wirklich Iebendig wird. Allmählich fcheint es und zu dämmern, daß, um mit dem großen Künftler-Philofophen Friedrich Niegiche zu fprechen, „Goethe eine Kultur bedeutet”, allmählid) ertwacht in ung ein wirkliches Kulturbebürfnis. Zunächſt unter den Künftlern! Sie find zuerft zu ber Erkenntnis gefommen, daß es ſich in der Kunft nicht um die Ausbildung einiger Luruserfcheinungen handeln darf, fondern, daß - es nötig ift, beim Nächflliegenden zuerft zu beginnen, bei der täglichen Umgebung: dem Haus, der Wohnung, dem Haudgerät.

Sorgen wir nun dafür, daß die junge Kunſtwelt, die es fih zur Lebensaufgabe geftellt hat, an dem Wiederaufbau des ſchönen, edlen Kunſthandwerkes mit zu ſchaffen, ein entgegenkommendes Verftändnis bei und finden möge Sichern mir ihrem Werke Lebensfähigfeit, indem wir nicht gedankenlos die Wandlungen der Mode mit:

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Trauermarſch. 59

die Form des Zimmer und die Verteilung der Thüren an. Doc follte man auch möglicäft vermeiden, mit dem Sofa eine Ede abzufegen, weil leicht ein toter Winkel entfteht, den Feine Stoffdraperien und fein Mafartbouquet zu beleben im ftande ift. Glüdlicherweife fangen dieſe legteren mehr und mehr an ins Schattenreich zu verfhwinden, wohin ihnen Hoffentlich bald alle fünftlich präparierten Topfgewächſe folgen werben.

Nicht energifch genug kann man gegen die Anhäufung von überflüffigem Kleinkram, den fogenannten Rurusartifeln, den Nippes und fonftigen undefinierbaren Galanteries waren zu Felde ziehen. In dieſer Hinficht Tönen wir viel von den Japanern lernen, deren ganzes Kunftgewerbe noch heute auf dem Beftreben bafiert ift, jeden Gegenftand, defien man ſich im täglichen Leben bedient, aus gutem Material anzufertigen und ihm eine geichmadvolle Form zu geben, ein Beftreben, das übrigens auch unfer deutiches Runftgewerbe früherer Jahrhunderte aufgewieſen hat, ala man die Grenze zwiſchen Gebrauchs: und Kunftgegenftänden noch nicht fo ſcharf gezogen hatte. Es war eben jeder Gegenftand dem Material entfprechend gebildet und mit einem Schmuck verſehen, der feine Gebrauchsfähigkeit nicht beeinträchtigte. Einfachheit, Natur und Poefie fo folte es auch bier heißen.

Ale Kunft muß im Haufe anfangen. Erft wenn wir gelernt haben, Schönheit von Geihmadlofigkeit in den Dingen unferer täglichen Umgebung zu unterfcheiden, vermögen wir zum nachempfindenden Genuffe aller jener wunderbaren Feinheiten zu gelangen, die jedes echte Werk der abjoluten oder hohen Kunft in ſich birgt.

Soll die Kunſt wieder das werden, was fie fein will und muß, eine echte Boll: kunſt, die den Armften und Geringften ſowohl, wie ben Reichen und Mächtigen beglüdt, fo müffen wir ihr entgegenfommen, ihr Herz und Haus Öffnen und damit beginnen, dem Kunſthandwerk ald der Alteften Bethätigung jedes Kunftfinnes wieder eine Stellung zu verfchaffen im Herzen der Menfchheit.

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Franermarſch. Hr Alosky.

&: hat eine Seele fich befreit;

Nun fchwingt fie in mächtigen Tönen. Und was fie fingt, das foll dein Leid Mit ihrer Sreiheit verföhnen.

Todtraurig laufcht dein wundes Herz.

Ihm klingt es wie Abfchied vom £eben;

&s hört nicht durch den dröhnenden Schmerz Den heimlichen Jubel beben.

€s hört nur fchmerzzerriffnen Klang, Nur dumpfes Schidfalshaffen. Und doch ift es füßer Bittgefang Um Ruhe und Schlafenlaffen.

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Der Einzige.

„Ja,“ halt die durchdringend laute Stimme der Schwaff zu ihm herauf. „Ich ſagte gleich auf dem Hinweg: Nach der Kirche geh ich zu der Frau Holzherr'n 'mal vor! Und das wollte ja die Emmy aud. Und nun müffen Sie uns ſchon ein Augen- blidchen annehmen, wenn wir und auch unter: wegs getroffen haben, liebe Frau Holzherr'n.“

„Bitte, bitte!”

Sie befomplimentieren fih an der Haus: thür und gehen in die befte Stube. Ein Weilchen hört er nichts, dann fallt die Stimme feiner Mutter durd) das Haus: „Fritz! Frigt"

Er ift unwillig, aber hinunter muß er doch. Es ift der Mutter fonft nicht recht.

„AG, der Frig! Nein, wie der fi) raus macht!“ ruft ihm die Schwaff entgegen, und die gelbe Schleife unter ihrem Kinn mwadelt fürmlid. „Der fol fih ſchonen müſſen? Der fol frank geweſen fein? Liebe Frau Holzherrn, Sie verwöhnen ihn bloß. Eie haben nur darum Sorge, weil er ber Einzige ift!”

Immer dies Berufen und Befprochen- werben! Fritz haßt es und ift doch ohn- mächtig dagegen. Emmy Roth trägt teure Federn, ein Kleid mit Golbligen befegt und legt ihre diden, mit neuen grauen Handſchuhen befleideten Finger recht ſichtbarlich hin.

Frau Wagner holt einen füßen Likör aus dem Silberſchrank; fie weiß, es ift altmodiſche Eitte, aber fie mag feinen Gaft ungelabt fort: gehn lafien. Und Minna Schwaff nimmt das Gläschen auch ganz huldvoll an.

„Man kann nod ein wenig Wärme ver: tragen, meinen Sie, liebe Holzherrn; nun, dann muß ich nachgeben!“

Ihr Mantel ift feit mindeftens zehn Jahren aus ber Mode, ihr Kleid kurz, plumpe Füße ſchiebt fie weit von fih auf dem Teppich hin. Aber es ift Würde und Haltung in ihr und jene Herablafjung gegen die einfache Frau, die Frig fühlt und die ihn ärgert.

„Nein, danke, danke”, ziert fih Emmy Roth, „Fräulein von Lehbach, unfre Penfions- vorfteherin in Hannover, fagte, wir follten das nicht. Für junge Mädchen —“

Das überhört die Schwaff, fie läßt fi das Glas zum zweitenmal füllen.

601

„Der Superintendent bat mal wieder fo ſchön geprebigt”, jagt Emmy zu Fri hinüber mit niebergefchlagenen Augen. „Vom barm⸗ herzigen Samariter!“

„Recht gut,“ fällt die Schwaff ein, „unſer alter Herr lann ſich ja noch immer hören laſſen. Wenn einen nur die Nachbarſchaft nicht beſtändig ſtören wollte. Der neue Forſt⸗ kandidat kam natürlich zu ſpät. Na, das kennt man ſoll auffallen. Und dann bin ich gewiß, der hat kein Wort von der Predigt gehört. Immer rumgegudt oben und unten, an unferer Seite und drüben. Wohlerzogene junge Mädchen beachteten das zu meiner Zeit felbftverftänblich nicht. Heutzutage —“

Die Hausthür fliegt mit einem fehnellen Rud auf, eine helle Stimme tut eine Frage, und dann fteht Emilie Zehſe im Zimmer, ‚ganz rot, luſtig, lachend.

„In der Staatsſtube“, fagt Tine „drüben halten die Herren eine Sifung. Ich babe fo ’n Klingen gehört, wie von Weingläfern Tag, Tante Wagner, id) hab’ was von der Mutter zu beftellen und mußte vorher bei Meyers vor. Haben die ein füßes, Meines Kind. Sechs Wochen! Die Schreipuppe hätte , ich mir glei mitnehmen mögen. Ja fo, Tag, . Fräulein Schwaff! Sind Ihnen die Eifen- kuchen neulich befommen? Ja fo, das darf ih nicht fagen. Emmy, fo'n ſchönes, neues Kleid? Da Fritz, auch ’ne Hand! Seh einer, hat der Blumen im Knopfloch!“

Sie ſinkt nah aM dem überftürgenden Geplapper in einen Stuhl. „Ad, du lieber Himmel!”

Mir geht es ganz gut”, fagt die Schwaff, ihre fpige Nafe hebend und die fcharfen, ſchwarzen Augen auf das hübſche Mädchen richtend, „ſchon allein darum, weil ich in allen Dingen mäßig und vorfihtig bin. Im Eſſen, in ber Bewegung und auch im Sprechen. Denn das wurde zu meiner Zeit den jungen Mädchen zuerft gefagt, daß fie nicht vor ältern Leuten vorher ſchwatzen follten.”

Emmy Roth lächelt und ficht nah Mile binüber.

„So!” antwortet Mile bloß und zupft Frig am Rod. „Sag’ mal, wer iS denn bei deinem Vater?”

Er flüftert ihr's zu.

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Der Einzige. 603

„Muß man, meine gnäbigfte Frau, bie „Mile bat echt,” fagt der Sohn bes ſchöne Gegend, die gute Luft und wie ih | Haufes. „Er ift nicht auf dem Boden, wo er heute in der Kirche merkte: Ein Damenflor ſich weiter entfalten fann. Man müßte fi Ja, das muß man.” | für ihm verwenden. Nur ber Eanitätsrat

„Ich bitte, ſchlichtweg Fräulein Schwaff“, ficht das ein. Vater nicht. Und wenn man fagt die ältlihe Dame. „Wir haben immer | ihm nicht hilft, fo wird er bie befte Zeit hier fehr einfahe und gebiegene Sitten hier in , verträumen und figen bleiben und heiraten und Blumerode gehabt. Nichts Neumodiſches.“ | Dorflinder Iehren, wie feine Vorgänger auch.“

„Bu Befehl meine zu Befehl . Sein Huften unterbricht ihn.

Fräulein Ehwaff!” | nd, lieber Frig! Sie ſprechen ja fo

Sie nimmt es gnäbig auf, daß er ihren _ UnbSie werben hier felber bleiben und heiraten? Namen fih fofort gemerlt. Er ift fehr ftatt: , Sie haben doch nit etwa auch abtrünnige lich, bat große, braune Augen, einen feinges | Gedanken und fehnen fi nad der großen, ſchnittenen Kopf, einen kühnen Schnurrbart, | bunten Welt, wie Mile Zehſe es von fid) be⸗ Iodiges Haar. Und auch fie muß finden, daß | bauptet.” ihn das Grüngrau prächtig Heidet. | Er anttoortet nicht, das ſchöne Mädchen

Emmy Roth fieht verlegen in ihren | aber ruft: „Thu ih auch! thu ih! Nah Schoß; ein fremder Herr ift ihr immer ein | erleben und fehen und was weiß ich, fehne großes Ereignis. Frau Wagner fieht mit | ih mid!” ie breitet halb ſehnſüchtig die ihrem ftillen, freundlichen Gefiht herüber; \ Arme aus, eine flatternde Betvegung iſt's. Der Mile lacht hell auf. Kandidat lächelt. „Einftweilen,” fagt er, um

„Na, wenn das ber Herr Superintenbent fi die Sympathien der Landdamen zu fichern, müßte, was feine Befucher für Nebenftudien | „it dies Blumerode aber body wunder⸗ machen!“ | ſchön!“

„Aber, das iſt doch am Ende gar nicht Fritz wird von feiner Mutter hinüber: zu vermeiden, mein —“ er unterbrüdt das | geſchidt, den Herrenbeſuch anzumelden; nad „gnädige” auch bier —, „mein Fräulein!” ein paar Minuten treten der Major und ber

„Oh, ein ernfter Wille!” antwortet fie ı Haudherr ein. und dreht ihr Bachftelzleinföpfhen. „Sein Unter Händefchütteln fagt ber: „Warum Sie froh, da wir Sie nicht eraminieren über denn bier? Drüben fteht Wein, und der Major Tert und Auslegung!” findet ihn nicht ſchlecht. Wenn Sie genug

Er drüdt die Hand gegen die Bruft. mit den Weibsleuten geſchwatzt haben —“ „Jedenfalls dankbar für alles wollte Aber der Forftmann lehnt dankend ab. fagen na, ift ja einerlei! Übrigens, man ! Mie verfhüchtert ſteht die Schwaff mit ihrer muß doch aud, fo zu fagen, beim Eingen , Begleiterin auf.

irgendwo hinſehn!“ Und da iſt's Fritz bes „Komm, Emmy! Nun tollen wir nicht obachtenden Augen, ala huſche auch ein leiſes weiter ftören!” Und dem Ohr ber Hausfrau Not über ihre Züge. | näher: „Nein, liebfte Frau Holzherrn, wenn

Mile ift ſchon bei etwas anderem: „Frig, | die Männer einen Frühfhoppen getrunfen mie heut der Kantor fang! Aber Appel | haben, das kennt man. In meinem Eltern- fpielte wieder Orgel, der reine Künftler. Schade | haufe, das wirklich auf einem vornehmen Fuß für Blumerode!“ ı geführt tourbe, durfte das nicht vorfommen.

„Wieſo?“ hebt fi Fräulein Schwaff aus Meine Mutter hatte fehr früh die Zügel in der Eofaede. „Das Befte ift einem doch die Hand genommen. Ic fomme ſchon bald gerade gut für den Heimatort.” mal mwieber, ganz alleine, zu einem Täßchen

„Aber er verfauert hier! Ja, ganz | Kaffee, ich habe fo viel zu erzählen. Ein gewiß. Der müßte in bie große Etabt, to | netter, artiger Menfch, der Kandidat. Wär man ihn fehäßt, wo er weiter kommt. Mit | ein Umgang für Ihren Frig mas?” einem Worte, er verfauert!" Ihre Augen „Ad, das glaube id faum. Der ift fo bligen. ſtill für fi hin!”

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Der Einzige.

Hofleben abgefpielt und das jegt in Beamten: wohnungen und Gefängniffe verwandelt ift. Das Wagnerfche Haus ragt über feine Nad- barſchaft hinaus. Troßig erheben fih drüben die Gewerke des Sägemüllers Neubauten. Note, aufpringlide Ziegel. Die Brennerei mit dem hohen Turm gehört auch dazu. Nur zwei Kinder, Sohn und Tochter recht drin figen die im Wohlitand. "Emmy Roth weiß nicht, wie's if, wenn man fi) ein paar neue Handſchuhe kaufen möchte und kann es nicht, wenn man Rnitterband auf den Hut nehmen muß, ftatt des beſſeren; bie orbinäre Säge- müllerin, die eine Magd geweſen ift, geht beute oft in Seide. Und ihre Mutter bügelt fih das einzige feidene Kleid von Zeit zu Zeit mit Pjeffermüngthee aus. Reifen können die, wann fie wollen. Eie gehn zwar nur immer, guter, alter Gewohnheit gemäß, nach Hannover fie würde in alle Weiten ſchweifen. Die Welt fehn! Was erleben! Ad! ein langgezogener, fehnfüchtiger Seufzer.

„Wohin ging denn der, mein Fräulein?

Blitzſchnell wendet fie fih um ber Kandidat, harmlos lächelnd, die weißen Zähne zeigend.

„Aber mein Herr!”

„Ja, ich will nur gleich geftehen: ich bin binter Ihnen bergelommen, ganz bewußt, ganz abfihtlih —“

„aber —“

„Schon von der Kirche her. Daß ih Eie dort betrachtete, haben Cie bemerlt. Bes trachten mußte, fagen wir, um ganz forreft zu fein. Was zwingend ift, unmittelbar, elementar, das darf man fagen? Was wollen Eie thun, als ganz klug und geduldig mid) anhören? Sehn Sie, nun ift dad Echmollen weg, Eie laden ganz allerliebft, Sie finden die jeige Eituation zum mindeften abfonderlih und werben Gnade für Recht ergehen laſſen?“

Glatt, ſchnell, mit wohlllingender Stimme ift das alles vorgebracht, und der Überfall ift fo abſonderlich.

Emilie Zehfe ift heiß getvorben vom Gehen, vom Fächeln der Frühlingsluft. Sie wendet dem Keden das Köpfchen zu und fagt ein wenig von oben herab:

„Davon habe ich Ihnen nun noch nicht den allergeringften Beweis gegeben, mein Herr!”

605

„Aber Sie werben’8.” Er geht immer neben ihr ber. „Mein Belenntnis iſt noch lange nicht zu Ende. Jh habe Sie neulich ganz flüchtig gefehen haben Eie biß jegt ein taltloſes Kompliment vernommen, mein Fräulein?” Er fieht fie mit großen, ſchmachtend erhobenen Augen an. „Seien Sie barmherzig, laufen Sie mid) nicht fo außer Atem. Hierher verirrt fih auch um biefe Stunde fein ges wöhnlicher Blumeroder, und bie paar Wald- arbeiter im Sonntagsftaat aus den umliegenden Dörfern werben Eie nicht zählen, die kennen Sie nicht!” Es ift ihr ganz unmöglich gemacht, in fein Geplauder nur das Geringfte einzu= werfen. Nur lachen Tann fie, immerfort laden.

„Alfo in der Kirche hoffte ih Sie wieder zu fehen. Und richtig. Ich kenne die Ges pflogenheiten Eleiner Orte. Dann ihnen nad, aus der Ferne. Sie traten in das Wagnerſche Haus. Waren Sie die Tochter des Holzherrn? Ich machte meinen Beſuch, das Übrige twiffen Sie, und diefe Veilden hier laſſen Sie fih demütigft darbieten!”

Sie fennt wenig Herren, feinen aber, der fo gewandt, fo Iuftig, fo unverſchämt ift. Und wenn fie auch verſuchen will, darüber empört zu fein, ganz bringt fie das doch nicht fertig. Sie macht nur eine abwehrende Be— megung gegen die Blumen hin.

„Mein Herr, ich muß Sie bitten,” ftammelt fie, gegen ihre fonftige Art befangen.

„Jetzt mich zu verlafien!” Er verbeugt fih. „Ich gehorche, mein gnäbiges Fräulein, weil ich felber fühle, daß ich Ihre Geduld ſchon auf eine zu lange Probe ſtellte. Aber ein Wiederfehn nehme ich mir balbigft als Belohnung für diefe Entfagung in Ausficht.”

Noch eine, weit tiefere Verbeugung, und dann ſchnellt er den fehrägen Abhang zu ben Gärten hinab und ift zwiſchen den Heden verfhtwunden, eh fie gewahren kann, mohin. Die Veilchen aber hält fie in der Hand.

Sie wagt nicht, fih umzufehen, fie hat ben Kopf gefenkt. Mit ganz langfamen, kleinen Schritten geht fie den Weg meiter. Cie hat etwas erlebt, etivad ganz Befonderes, hier in Blumerode.

Wer das gedacht hätte!

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Der Einzige

„Scaufter Pott fine”, erfcprodene Mädchen und reibt mit beiden Meinen Fäuften feine mafjerblauen Augen. Es hat ein braunrotes, kurzes, bertragenes Kleid an und bloße Beine und Füße. Ein paar flachablonde Zöpfehen hängen über ben Rüden.

„Großmutter, Großmutter!” wimmert es Hagend und drüdt die Schultern zufammen.

„Hu! datt giwt Wichſe!“ fagt ein langer Junge mit vergnügtem Grinfen. Die Frau sieht dem Kinde die roten finger von dem tbränennafjen Geſicht.

„So! oben bi den Koopmann Jenne wohnt fe? Weiß fchon! Was Haft denn aber bei den Mühlgraben zu thun?“ Cie droht leicht mit dem Finger. „Is das 'n Epielplat für lüttje Mäfens?” Dann mit einem Blid auf die Knaben, die nun ftill geworden find: „Wenn etwa ein’ von euch das Kind rein ger ftoßen hat paßt man Achtung, ich geh doch noch mal nad; dem Herrn Lehrer.”

„Ne! is nid) wahr!” fagt der Größte.

„Se hat auf einmal brin gelegen, Kopp oben, Kopp unnen.”

„Un’ ihr Deubelbande habt's ruhig ſchwimmen laſſen. Nu komm, nu follft'n warmen Schlud Kaffee kriegen.“

Das Mädchen hört auf zu meinen, - die Bengel ftoßen ſich mit den Ellbogen und zer= ftreuen fih, denn die beiden Männer da drüben find gefürchtet. Wen fie von Schreiern er: haſchen und ins Ohr fneifen, der fühlt's. Langſam und gewichtig ſchreiten die Nachbarn auf die Linde zu, an der die hilfreiche Harfe bereits wieder lehnt.

„Ja, ja, ja!” fagt der Holzherr zu einem Gedanken, den er nicht laut werben läßt.

„Meinſt de nich’, daß ich recht habe mit die Frauenzimmer?“ wirft der Sägemüller ſchmunzelnd Hin, „mir kennen fe doch.“

„Hm! ja! Was rechtzeitig an feinen Pla fommt, das is bewahrt.”

„Drum!“ Und wieder ift der Knopf von dem Rod des Freundes zwiſchen feinen dicken Fingern. „Mein' Emmy, das fommt ja aud nid" leer ins Haus. Un’ is anfehnlih, und benehmen kann fie fih aud.”

„Zu was hört was.” Wagner madt ein Zeichen über die Schulter nah feiner Frau

ftammelt das '

607

bin, die wieder mit dem Kinde erfcheint, das feine legten Thränen über einem Stüd Kuchen vergeffen bat, Tine hinter fih. Bis zu den Sitzenden Hingt die are, weiche Stimme:

„Nu' lauf mit'm hin. Gleich neben Kauf⸗ mann Senne. Sein Vater is gewiß inne und feine Großmutter aud. Sie fol’s ins Bett legen, bis feine Röde troden find, denn thät's nid’ ſchaden. Un’ das Umſchlagetuch bringft du wieder und hängſt's aufn Holzhaufen. Un’ du, Lüttje, fpielft nich” wieder am Mühl⸗ graben. Denn wenn du nod) mal drin an geſchwommen kommſt, denn kriegſte keinen Kuchen, denn giebt's was mit der Rute. Tine, ſeine Leute ſoll'n es aber nich' ſchlagen, das beſtellſt du mir!“ \

Tine nimmt das eingewidelte Kind auf den Arm und feßt fich flint und geſchmeidig in Bewegung.

Roth nidt. „Du, Wagner, deine Frau is eine die hätte fehle haben müffen. Die Tann da zwiſchen regieren. Meine konnt's nid, der war's immer zu viel. Um’ von unfern Sechſen find auch man die zwei geblieben und die find ihr auch rein über'n KRopf ſchon. Da kann fie jagen, was fie will. Ne, deine die nimmts mit'm ganzen Dußend auf!”

„Hm! Meinft du, Roth, wenn bei bir die Sechſe teilten und bei mir aud, das wär' fo'ne Sache. Na, denn hätte mein Junge den Eichberg nich” zu friegen, und ber ganze andere Krempel fäme auseinander. So was tönnte fein Menſch mit aniehn, oder wiſſen, daß es fo fäme, wenn er fort muß!”

Roth ftreicht über feine Stoppeln hin und ber: „Da haft du mal wieder mitten rin geſchoſſen ins Schwarze, alter Schüge. Darüber babe id nu noch nie nich? nachgedacht.“

Der Holzherr lächelt. „Wiſſentlich bift du ja aud nid’ nationalöfonomifh findeſt's man immer fo neben ber. Das muß aber ſchriftlich gemacht werden, daß beine Ländereien, die an meine im Holtenfamp ftoßen, mal ganz direft an die Emmy kommen. Das giebt denn ’n guten Landftrih, mas Zufammen- gehöriges.”

„Mach'n wir, Wagners Konrad. Un’ wennehr fol’3 denn ungefähr losgehn, wie haft du bir denn das gedacht?“

608

„Meinswegen alle Zage! den Eichberg habe.”

„Du, in drei Tagen id mein Geburtstag da ſeid ihr doch jedesmal ’n Abend da- geivefen.”

Wagner nidt. „Mir recht. Aber nichts den Frauensleuten vorher, das bitte ich mir aus.“

„Morgen! Morgen! Morgen! meine Herren und Gönner! Herr Holzherr, Herr Senator!“ Der Major Bürgermeiſter tänzelt über den Weg.

„Meine Herren, meine Herren! nun wird es Frühling an allen Enden.“

Langſam holt der Sägemüller ſeine Hand aus der Hoſentaſche. Er liebt es, ſolchen Leuten, deren geſellſchaftliches Übergewicht er fühlt, keine Conceſſionen zu machen.

„Denn wer'n Sie ja wohl nu wieder an alle Orte Bänke hinſtellen und das Ber: Ichönerungsverein nennen”, jagt ex mit feinem breiten Zächeln und tbut, ala mollte er pfeifen. „38 aber man bloß, damit die Liebespärchen denn 'n Aufenthalt haben! Geh’n Sie mid man damit. Garnichts bemwillige ih im Magiftrat rein feinen Grofchen for ſowas. Früher find auch feine Bänfe im Ort geivefen, auf dem Langhals fein Pavilliohn und aufm Orthöllen fein Ausfichtsturm und gelebt haben die Leute in Blumerode doch.”

„Aber die Fremden, Berebrtefter, Fremden!“

„Was gehn die mich an? Hat meine Säge— mühle nichts von! Brauch' ih nich!”

„Erlauben Sie!“ Der Major von Müller huſtet, als ſei ihm etwas in die Kehle gefahren.

Da legt ſich Wagners Hand auf die ſeine.

„Na, laſſen Sie man! Ich mach 'ne Wette, wenn bei dem reichen Sägemüller Roth Verlobung und Hochzeit is, dann ſtiftet er was, juſt dem Verſchönerungsverein. Wir werden uns noch ſprechen, Bruder Louis, was?“ Er ſchlägt dem Freunde gegen die Schulter. „Der is bloß ſo, mein lieber Herr Major, weil er nichts an die große Glocke hängen will. Was, Roth?“

„Brauch ich nicht!“ giebt der zurück, Herrn von Müller im Unklaren laſſend, was er nicht braucht. „Na morgen die Sitzung wird wohl ein bißchen ſtürmiſch!“ ſagt der Major,

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Der Einzige.

Jetzt, wo ih | „wenn mich die beiden Herrn nicht unternüten

in Sachen der Armenpflege. Denn daß b:: baarfträubende Zuftände, das muß zugegcken werden! Dies Armenbaus! Alt und Jung und Männlein und Weiblein unter einander Und a’ Mann dreißig Pfennig die Rock: Und Holz holen dürfen fie nit. Na, mann ſie's denn ftehlen, To ift das fein Wunder! Er ift febr eifrig und geftifuliert mit ten feinen Händen.

„Sb, nu fol mich einer bewahren, da fangen Eie jet auch mit an?” fragt te Sägemüller. „Das is doch nu immer io geivefen, und fein Supernbent und fein Paſiot bat was darinne gefunden.”

Der neue Bürgermeifter ſeufzt.

„Sie haben e3 eben gehn laflen!“

„Un' Sie woll'n dem Drtsjädel neu: Laſten aufbürden? Ne, braud ich nich!“

„Aber die armen Menſchen Dem ta: find die Armenhäusler am Ende dody aut!‘

Der Sägemüller lehnt ſich zurüd un ftredt die plumpen Yüße aus.

„Barum find fe arm? warum find je md’ rechtzeitig zu mwa8 gekommen?“

„Erlauben Sie, mein Berehrter, es ſind doch viele, ich babe mich genau orientiert, bi: unverfchuldet —“

„Ad was, glaub’ ich nich ! brauch ich nich

„Thatſachen, Herr Senator Thatjaken Iprechen!”

„Die will ich .gar nich” hören. Wer im Armenhaus iS, der is drinne. Un’ baſta damit“

„Wenn alle fo denfen —“

„Thun fie, thun fi! Was fol id? anders machen? Braud ih nid!”

„Herr Holzberr —“

Der hat fein meifes Lächeln. „Wit der Zeit, Herr Major. Auf einmal wirt man folhe Dinge nicht um. Fein langiam, mit es heißen! Sie fennen unfre Berbälmiiz, unfre alten Sacjfenköpfe und die Ehrfurdt vor dem Hergebrachten in folden —“ xꝛ lächelt fpöttifch, „Dingen nit. Der Sanitäts rat und ih haben - oft darüber geſprochen. Wir haben nur mit Privathilfe das Nörialte tbun fönnen. Nütteln an den Dingen ab, man fieht fo vieles!”

„Sa, was Wagner fagt, der hat ja m feine Wiffenfchaft in fo'n Sachen!“ fällt Reit

Der Einzige.

ein. „Der bat auch die Menſchen unterftügt. Hahaha! mande Frau mit 'nem blanken Dahler. Na ja! Aber Sie, Herr Major! bei Sie, ba fällt es mid von ben neuen Befen ein, bie alleweil gut fegen. Hinterher bleibt viel liegen, mander Staubhaufen! Hahaha!“ Herr von Müller beißt fi über den Vergleich in die Lippen.

„Eſſen Cie bei uns man erſt'n Scheffel Salz!“

Haarfträubend, geradezu baarfträubend, daß folhe Zuſtände exiſtiern“, eifert von Müller. „Und ‘die ganze Paria-Verachtung auf die Menfchen im Armenhaus. Wenn fie arbeiten wollen, es nimmt fie doch feiner. Und giebt jemand ben Kindern ein Stüd Brot, fo ift es mit dem verächtlichen Zufag: ein Armenhaustind. Außer der menſchlichen Geſellſchaft ftehn fie die Dorfverachtung und Beiſeiteſchiebung ift die allerhärtefte. Das babe ich bisher nicht gewußt, wirklich nicht. Den Zollborn laß ich jegt mein Holz ſchlagen. Darüber war meine Wirtin ganz empört, es tönnten doch beflere Menfchen auf ihren Hof Tommen. Armenhäusler wollte fie nicht IH frage Eie! ich bitte Eie, meine Herren!”

Der Sägemüller hat ein breites Lachen. „Kann ich die Frankſche gar nich’ verbenfen. Von meinem Grund und Boden muß mid) das Gefindel aud bleiben. Brauch' ich nid!”

Aber, wo ift denn da Abhilfe?”

Roth fteht auf. „Wenn Eie mal mit mol’n, ih babe neue Kutſchpferde, davon mögen Sie etwas verftehn. Mehr, wie von Gemeindeſachen!“ Der Aufgeforderte ſchüttelt dem Haushern bie Hand, zwinkert mit ben Augen und folgt dem Sägemüller.

Konrad Wagner figt noch ein paar Augenblide. Tine kommt haſtig zurüd; da fteht er auf: „Na, is ber Schaden gut?”

„Die alte Großmutter hat gefagt, der liebe Gott mußt's unferer Frau befonders lohnen.”

„Denn i8 gut. Was bift fürn appetitlich Mäten, Tine. Un’n Schatz haft wirklich noch nid?“

Aber, Herr Holjherr!”

Er faßt fie, ihr dicht bis an die Haus— thür folgend, unter das Kinn.

„Rüffen mußt nu aber auch bald Iernen,

609

du Flachslopp!“ huſcht davon.

Fritz hebt den Kopf, als ſein Vater in die Wohnſtube tritt. Der nimmt das Buch, in dem der Sohn lieſt, einen Augenblick empor, ſieht das Titelblatt an und legt es dann wortlos wieder vor ihn hin, geht ein paar Schritte hin und her, tritt ans Fenſter, wirft ein welles Blatt von dem Geranium zu Boden und ſagt: „Weißt du, daß ich Gut Eichberg gelauft habe?“

„Nein, Vater! Mutter haft bu es auch wohl nid” erzählt?”

„Was geht das MWeibsleute an? doch erft, wenn fie mit ber Wirtfhaft zu thun Friegen. Na, fagft bu denn nichts?“

„Es wird ein vorteilhafter Kauf fein; bu weißt ja, was bu thuft!”

„Haft Urſache dich zu freuen. mal drauf figen!”

„Vater!“ Fri fpringt auf und eilt auf ihn zu. „Vater das, das wäre herrlich! Eichberg! das fhöne Gut Vater id hab’ mir doch immer gewünſcht, Landmann fein du ſprachſt dich nur nie aus. Aber, mas id für mich allein ftubiert und gelernt babe, immer heimlih —“ Der alte Wagner fteht aufrecht, den Sohn weit überragend und auch nicht ein wenig mehr Wärme als fonft fommt in feinen Ton, obwohl er die Freube des jungen Menfhen aus den aufbligenden Augen fieht.

„Mein größter Wunſch, einen ftubierten Menſchen aus dir zu machen, kann ſich ja nicht erfüllen. Was bleibt mir denn über? Wir find ſchließlich alle fo ſchwach, mehr aus unfern Kindern machen zu wollen unb daß es ihnen befier gehn fol, als wir's gehabt haben. Ich babe mir mein bißchen Kenntniſſe allein er: werben müffen, auf eigne Fauſt Eichberg mit dem mittelalterlihen Schloß ja, da folft du nu figen. Die Mutter und id) bleiben bier auf dem Altenteil. Freilich, der Erſte, der da brüben was zu fagen bat, das bin doch ich.“

„Das iſt wohl ſelbſtwerſtändlich, Vater!“

„Ich!“ ſchwer und bebeutfam klingt das dur den Raum.

Vielleicht” Fritz ift ganz erregt „ers möglichft du es mir, noch vorbereitende Stubien

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Das Mädchen kichert und

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„os nun! Br men emiger um. Mn Erteir en Ds, fo aur ee en rl!”

st leg: jene durciidrigen enger auf ten Am 83 namliden Warne2.

„Veiter, id wer, tab tu daß ih —“ er itict, a3 müne er Ihrin bet cœHrien „du mich wobl anders mifıen Meine Kränklichkeit und deine geunte Narr Vater, es in aber doch nicht meine Schuld en trauriges Verbaengnis: Solch geiunte Eltern und fo 'n zerbrechlicees Kind —“

„Laß man!“ „Ich will aber ıFun, was ich kann. Ich

will ber Sanitätsrat meint ja auch id gelobe fir —“

„Ja, laß man, laß man. Bloß nice wie'n weichliches Frauenzimmer.“

Fritz ftreicht über ſeine Haare; er fühl es bitter, taß ſich der Vater nie finden laßt ſelbſt in dieſem Augenblick, der ibm Teiche Freude bringt und in dem er ſo voll Dank iſt, nicht. Er unterdrückt einen Seuẽzer und gebt nach ſeinem Bud zurück; ta ruit Konrad Wagner mit einer plotzlichen Wendung vom Fenſter her. „Ja Frauenzimmer. Junge, ſag mal, bhaſt du ſchon eins gem gehabt?“

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brad:e: „Mach tu ne keil!“

Er fat, Denn das Helfame Geipraf ‘2. su Ente su fein, mechamich nad Heiner F über Spolterebitzucht, aber über ul: Ein tanzt er Name Wile.

Konrad Nummer legt ſñich breit in: ir.

Ein zankendes Spatzenvolk ſtreitet nd > Nah. um einen Birnen Cr iſt neugiera, ©. iereiente Kerl der Sieger kein wire.

Das Rotbiche Anweſen, ein großes We haus an der Spitze der Müblenzic Schuppen, Veridiäge, Ställe und Hama. " nah und nach zu ſeiner jegigen Ausdeb! gelangt. Der Sügemüller but —e jrüfe und Gärten zugekauit. Jmi Käufer find mir Überbauung in cm z.' verwandelt; die Unreaelmäßigfeit tt 7” außen verdeckt mit einer freundlichen x: : mit großen Fenitern und ftattlidder Zur. Annern aber ſieht's deite bunter us, gebt Stuien auf, Stuten ab, bie 37

Der Einzige. 611

links liegen höher. Mit vergoldeten Tapeten, Spiegeln und glänzend polierten Möbeln betont das Haus feine Wohlhabenheit. Aber die lommen nicht viel zur Geltung, denn Über züge und Läufer und Vorhänge fpielen auch eine Rolle, und da in ben „ſchönen Stuben“ aus Furt vor Fliegen und Staub und aus: brennenber Sonne wenig gelüftet wird, ift ein dumpfer Geruch darin, der noch erhöht wird dur getrodnete Reſeda und Lawendel, bie in Mullbeuteln unter den Inhalt der Schub- laden und Schränfe gelegt find.

Ein einzigmal hat die Kammerjungfer ber alten Amtsrätin auf dem Gute, wo die Säge- müllerin in den Viehftällen diente, fie mit in die Geſellſchaftsräume genommen und ihr die Schränke gezeigt. Der Geruch von Lawendel, getrodneten Rofenblättern und Reſeda gehört zu ben feinften Sinneseinbrüden von Minna Roth und ift ihr ungertrennli von dem, was Reichtum bedeutet. Die Heinen Beutel fült fie regelmäßig zur Sommerszeit und verſenlt fie feierlich, und betritt fie die Räume allein, fo blähen ſich ihre Nafenflügel. Nun hat ſie's auch fo gut wie die Amtsrätin.

Hin» und Herlaufen, Baden, Braten, Räumen, Wegkramen und Hinftellen ift den ganzen Tag in der Sägemühle geweſen. Man bat bie heifere Stimme der Mutter Roth, die Zeit ihres Lebens wie erfältet geflungen, bald in ber Küche, im Oberftod ober in der Wohn- ftube keifen hören. Sie trägt einen Wollrod, eine Barhendnachtjade, deren Ärmel aufge: ftreift find und über den Haaren, die fie in ſchlichten Scheiteln an ben Kopf gelegt hat, ein weißes, leinenes Tuch. Das ift auch noch eine Gewohnheit aus ihrer Dienftzeit. Die Pflichten innerhalb der Wände des Haufes find ihr ſtets ſchwer zu bewältigen geblieben, und fie ift deshalb nie für Gaftlichleit zu ge— innen geweſen, bie ihre ertvachfene Tochter aber num energifch einführt. Recht oft müflen jegt bie grauen Überzüge von den Möbeln der beiten Stube genommen werben und der Hausfrau Hüte, Tücher und Eonntags- Heiber, die in berfelben die Lampen garnieren und an den Fenſterhalen hängen, ver= ſchwinden.

Fur ſich ſelber hat Emmy die Einrichtung eines behaglichen Mädchenzimmers im Oberftod

durchgefegt; blaue Cretonnemöbel, gleiche Vor⸗ hänge, ein zierliher Schreibtifh und ein weiß⸗ lackiertes Bett mit einem weißen Baldachin im Schlafgemach fie hat all das bei einer Banlierstochter gefehn und zum Mufter ges nommen erregen das Staunen und bie Bes wunderung ber Blumeroder jungen Mädchen.

„Hanne, daß mid der Braten nid’ ans brennt! Sette, laß mid feine Augen in bie Kartoffeln ftehn!” das find Frau Roths ftets wiederholte Mahnungen, während fie irgend eine Schüffel ober ein Gerät aufnimmt, um es wieder in den Weg zu fehen.

Das Wohnzimmer ift zugleich Gefchäfts- raum, die Leute fommen und gehn dort immer, die große Säge arbeitet dicht nebenan, und man hört das Wafler rauſchen. Darum ift ber Tiſch in der beften Stube gededt. Emmy hat es voll Herablafjung übernommen, ihn herzu⸗ richten, bedient von ber glogenden Jette, bie alles verkehrt legen will und ſich wundert, daß es des Beſuchs halber fo anders ift, ala fonft. Dabei beflagt Emmy lebhaft, daß fein befonderes Eßzimmer eriftiert, trotzdem ber Vater ſchon zweimal fein: „Braud ich nich!” über bie breiten Lippen gelaffen hat.

Er und fein Sohn fehn ihr zu.

Am enter fteht der Geburtstagstiſch; um eine Torte find fo viel Lichter geftedt, als Roth Jahre zählt. Auch das hat Emmy aus der Penfion eingeführt. Cie hat ein NRüdentiffen geftidt.

„PBantoffeln wären ihm lieber geweſen,“ hat der Vater gemeint.

„Verwöhnt die Männer zu ſehr,“ war bie Erwiderung der Tochter.

Sie hat zum Kummer der Mutter alles Silbergerät aus dem Glasſchrank geräumt.

„Das muß doch nu wieder gepußt werden,“ hat die Hausfrau gellagt.

„Recht haft du, Mutter,” hat der Sohn zugegeben. „Mir is’n Etüd Brot aufm gewöhnlichen Teller wahrhaftig lieber.”

Der Bruder Emmys, Oslar, hat das vote Gefiht der Mutter und bie Heinen, ſtechenden Augen des Vaters. In ihm findet da8 Vornehme auch wenig Widerhall. Er trinkt bereits viel für feine Jugend und hat öfter ſchon einen Rauſch heimgebradht. Aber er ift feinem Vater im Geſchäft eine Stütze

39*

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und der Mutter Lieblingsfind, immer an ihr zu tadeln findet. Schweſter Yräulein Kunigunde.

Er ſieht wenig nach den Schönen des Orts. Auf dem Schützenhof mit ein paar Dienſtmädchen tanzen, iſt eher ſein Fall, als den Bürgertöchtern höflich begegnen.

„Kümmere dich um deine Angelegenheiten“, ruft Emmy ſchnippiſch.

„J ne doch! ſieh mal!”

„Auf der Schule in Holzminden hätten ſie dir auch ein bißchen beſſeres Benehmen bei⸗ bringen können!“

„Ich bin mir grade recht, Fräulein Kuni⸗ gunde!”

„Ru zanken fie fih fchon wieder, bloß zwei Kinder und immer zanten,” klagt Yrau Roth, die hereingeftürzt kommt.

„Laß man, wenn alle Sechfe noch da wären, denn ginge es fchlimmer zu,“ wirft der Bater ein, der in Hembsärmeln ift und auf den Barbier wartet, Schmwartenbed, der ihm dreimal in der Woche allen Klatſch zuträgt. Und er denkt an die Äußerung des Holzherrn wenn Secdjfe teilen follten.

Frau Noth ift leicht gerührt, fie führt ben Bipfel der blauen Schürze an ihre Augen. „Ad, du mein Gott! daß du mid nu aud heute davon jprechen mußt, wo bein Geburt3- tag i8. Nu krieg ich es nich’ aus dem Sinne. Mein Kleines Hermännden und das nübliche Lotthen und Friße und Idachen und nu ſeh' ich fie vor mir, wie fie auf meinen Arm mollte, Idachen, noch zulest —” fie ſchluchzt.

„Ja, ja is gut!“

„Un' immer mein' ich, ſie is nich' recht behandelt. Un' die Klawittern is mit ihrem Kinde dazumal bei dem Schäfer in Jeliens⸗ berg geweſen, und der hat’3 gejund gemadıt. Roth'n, fagte fie immer, daß Sie ’nen ftubierten Doktor gehabt hat, was Verkehrteres konnte fie ja nid’ thun. Un’ das nagt an meinem Gemüte, dag werd’ ih Tag und Nadıt nic’ los.“

Emmy läuft hinaus und ſchlägt die Thür hörbar zu.

„Da haſt es! Fräulein Kunigunde is ungnädig!“ ruft Oskar und reckt ſeine Arme in die Luft.

weil er nicht Er nennt die

Der Einzige.

„Sie hat kein Herz for ihre toten kleinen Geſchwiſter, gar kein Herz,“ ſeufzt Minna Roth und trocknet mit einer energiſchen Bewegung ihre Thränen. „Ob man bloß Jette auch keine Augen hat ſtehn laſſen? Ich muß wahrhaftig mal nachſehn! Wenn man fo was ſelber ni’ thut! Auf wen i8 denn Perla?” Sie rennt hinaus und läßt die Thür offen.

„Drüben i8 es gemütlicher,” meint Oskar, ber in ausgetretenen Schuhen einen ſchlurrenden Gang bat. Und der Vater folgt ihm wortlos hinüber; er macht forgjam die Thür zu.

Das große Familienzimmer hat für viele Raum, da ftehn zwei Sofas, ein ledernes, ein ganz altes mit lauter fleinen Schubladen in ben Seitenlehnen, Schränfe, Stebpulte, Kommoden. Eine Thür führt direft über zwei Tritte bin nad) dem Mühlenraum, too es rauſcht und die große Säge ächzt. Uffnet fie fih, fo dringt der Geruch frifchen Holzes zugleich mit dem Waſſerdunſt ein.

„uff!“ madıt der alte Sägemüller. Dann wippt ein langer Menſch mit einer ſchwarzen Tafche herein. „Herr Eenator, hab’ die Ehre, Eie zu grüßen!” Ein Eeufzer. „Bitte Platz zu nehmen, Herr Senator. Sollen gleich be- dient werden. Ach, was is es for ne Welt, Herr Senator!” Und wieder ein langgezogener Seufzer.

„Was hat ſich denn begeben, Schwarten⸗ beck?“ fragt der junge Herr aus ſeinem Seſſel, in dem er langgeſtreckt liegt.

„Ih bitte Sie mit allem Reſpekt vor'm Herrn Senator! Begeben? begiebt fih denn ni’ immer was in der Politik? Is denn das nich’ grabezu greulih? Un’ die grünen Tiihe? Sa, da haben die Herrn gut figen! Politik und die grünen Tiſche!“

Schwartenbeck ſchlägt den Seifenſchaum, Roths dickes Geſicht ſieht ſchon über der Serviette heraus. „Habe ich nicht recht, Herr Senator?“

„Ja, wenn die da oben bei der Regierung ſo viel Laſt hätten, wie wir mit den Orts⸗ angelegenheiten!“

„Sage ich ja,“ ſeufzt der Barbier. „Alle Tage dreimal ſage ich: Leute, wie quält ſich zum Beiſpiel unſer Herr Senator Roth mit euren Sachen! Aber das Volk iſt ja zu

Der Einzige.

dumm, rein zu bumm! Unb um den Major thun fiel Ich bitte Siel ſo'n Austärtiger. Und läßt ſich nic’ rafieren! Seine Sade! Aber unfre Sachen, die kann er doch gar nich’ verftehn; is fein Blumenroder. Beileibe findet fih da fein Fremdländiſcher rein. Zum Bei- fpiel, das Holz hadt ihm der ſchiefe Schneider aus dem Armenhaufe, und mer trägt’3 in’ Holzſtall? die dide Reinfterzen, au aus dem Palaſt da oben! Frag ih Sie, Herr Senator, i8 das ein Beifpiel fürn Ort? Da find fo viel ehrliche Leute.” .

Der Gefragte Tann nicht antworten, Schwartenbed hat ihn bei ber diden Nafe gefaßt, e8 wird nur ein Schnaufen hörbar.

„Mir gefällt der Major!” fagt Oskar. „Er ift Teutfelig und macht mal'n Epaß!"”

„Sie find jung, jung, Herr Roth! Sie denken noch nich! viel an die Politif. Wiflen der Herr Senator denn ſchon, daß Bormanns ein Kalb haben mit zwei Köpfen? ber ganze Ort ift unterwegs nah dem Mirafulum! Ne, ih hab's nid’ gefehn! Wie ih in Göttingen ftubiert habe, was habe ich da nich” alles gejehn in Spiritus! Alles aus’m menſchlichen Leben, Herr Senator! Und die Witwe Großkurth fol ſich nächſtens verloben woll'n mit'm Witwer mit fieben Kinder aus Hainburg. Da geht denn auch 'ne Steuer: zahlerin fort. Un’ zufammgebradht wärn's. Ad, du meine Güte! fieben lebendige Kinder. Schneider Schwupp und Rinklebens, die haben ſich regelreht gehauen, und ber alte Amts— diener Finke ift wieder ganz voll, er rief eben lauter lonfuſes Zeug aus.”

„Da fol doch!” puftet der Sägemüller. Dslar lacht. „Wenn er einen fißen hat, denn i8 er zu komiſch, der alte Finke.”

Schwartenbed ftemmt ben Arm in bie Seite, fenkt das Meffer und wirft einen Blid gegen bie Dede.

„Un’ woher hat er's Geld? Vom Herm Bürgermeifter Major von Müller. Hat'n großes Trinkgeld gefriegt, teil er ihm ein paar Privatgänge beforgt hat. Ich frage, ih fage, ein Menſch, der zum Trinken neigt, Trinkgeld! Dan follte jagen, es wäre gewiſſer⸗ maßen ein Borfchubleiften! und ber Neben- menſch fol doch die arme, fünbhafte Kreatur wieder auf rechte Bahnen leiten.” Er fehüttelt

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den kleinen, grauen Kopf. „Kerr Senator, es iſt fo zu fagen es ift alles verehrt in ber Belt!“

„Hahaha!“ Der Sohn des Haufes ift ſehr vergnügt.

„Der Major hat Finken gewiß mal ſchräge ſehn woll'n ih fage ja, er is zu iomiſch!

„Ach, Herr Roth junior! Das käme mir grade ſo vor, als wie die frevelhafte That der Frau von Siegen. Sie hat den Kindern vom ſchiefen Schneider aus dem Armenhauſe neulich Torte geſchenkt. Ich bitte Sie, Torte! Und was hat ſie dazu geſagt: Die ſollten auch mal wiſſen, wie das ſchmedt!“

Dölar brüllt jetzt. „Famos, ganz famos!“

„Herr Roth, Herr Roth!”

„Wirklich famos!”

Da fprengt der allertieffte Seufzer faft die Bruft des Barbierd. Er ertibert nichts, padt feine Sachen zufammen, macht einen Kratzfuß, haucht: „Herr Senator, nu find Sie bedient!” und verſchwindet.

Emmy ift in ihrer Stube. Eie bat im Nebenzimmer zwei Kleider auf bie Stühle ge bängt und betrachtet fie aus der Entfernung. Blau oder rofa? Teuer find beide geweſen, das bleibt fi alfo glei. Aber, fie hat irgenbivo fagen hören, auch bie Farben der Kleidung müßten mit ber Cituation barmonieren.

Blau ift treu und rofa geht auf bie Liebe bin. Welche aljo, an biefem bedeutungsvollen Tage? denn was fich ereignen fol, hat fie längft erraten, wenn aud ihr Vater nichts gejagt hat. Er hat von ber Ermwerbung Eichbergs geſprochen und daß Fritz dort figen follte und daß der Holzherr allerlei Ders änderungen borhätte.

Wie der einzige Sohn von drüben und fie fo eigentlich von Mein auf von ihrem Vater als zufammengehörig ins Auge gefaßt find, das weiß fie doc. Der Holzherr hat nie zu feiner Familie davon gefprocdhen, Louis Roth aber oft zu dem Mädchen felber. „Das kann alles noch mal deine fein, mas Wagner’ is!” Wenn nicht ein Graf fam oder ein Baron, mas bisher nicht geſchehen war, fo fonnte fie „die Grafſchaft“ mit dem ſchwächlichen Frig ala Anhängſel felbftverftändlih annehmen.

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Blau? fie Tneift die Augen ein bißchen zufammen. Es fteht ihr gut. Bebeutet „treu. Na, das bißchen Gerede dabon gegen den Lehrer Dppel, der ihr zu Liebe Sonntags Einleitung und Finale ganz befonders jchön jpielt, das kann fie nicht dabei ftören. Im Ernft wird er fich das fo wenig gedacht haben, wie fie Roſa Liebe? glühende ift dunfel- rot, die wird es wohl mit Fri fo wie fo nicht werden. Die paar Briefe muß ihr Arthur Oppel natürli herausgeben, feine Tann er auch befommen. Er fchrieb ſehr ſchwungvoll, und fie ift vorfichtig gemefen. Das bat fie ſchon in der Penfton gelernt, als fie und Blanka Deden ſich mit den beiden Fändrich's zum Rendezvous beſtellten. Café Roby kein Menſch hat's gemerkt, am wenigſten die Penſionsmutter. War auch ganz harmlos; ein paar Küſſe auf dem dunklen Georgswall. Blanka Decken hat geſagt, man müßte ſeine kleinen, harmloſen Mädchenerinnerungen haben. Das wär' auch ein Recht gegenüber den Männern, die ſolch viele Rechte hätten. Und wie langweilig würde es ihr ohne das kleine Techtelmechtel mit dem Lehrer in Blumerode geworden ſein! Von morgen an kennt ſie ihn nicht mehr. Vater iſt nun allerdings kürzlich aufmerffam geworden, aber, was hat das noch auf fi!

Sie entſcheidet fih für blau abficht3- Iofer.

Das Haar ift kunſtvoll frifiert, fie ftreift den meißen Mantel ab, fieht mit Behagen die vollen Schultern im Spiegel der freche Leutnant Walter hat einmal ganz unbemerkt feine Lippen darauf gebrüdt bei einem Gartenfefte und dann ben befannten Refrain gefummt. Faſt hätte fie Luft, ſich felber zu küſſen.

Dann ſchlüpft ſie in das blaue Kleid, ſchließt es vor dem Glaſe, dreht ſich hin und her. Eine gute Figur. Nur neben Mile muß ſie nicht ſtehn, mit allen andern nimmt ſie's auf in Blumerode. Dieſe Mile hat ſo etwas

Ob ſie das von ihrer Mutter hat, dies gar ſo Handfeſte, die furchtbar geſunde Röte?

Vornehm iſt Frau Zehſe, fein das hat ſie Mile mitgegeben, das haftet ihr bei aller

Der Einzige.

Lebendigkeit an. Sie tritt mit der Fußſpitze wippend auf. Wenn Vater geahnt hätte, wie hoch er fich einmal brädte, fo würbe er Mutter wohl auch nicht juft beim Melleimer geſucht haben.

Laßt fih nicht ändern. Aber ift fie erſt felbftändig, dann fol fie fo wenig ala möglich daran erinnern. Die Leute folen Augen machen. Allerhand Schälchen, Käftchen, ein paar Photographiealbums liegen im Zimmer auf dem Tiſch. Sie ſucht dazwiſchen herum nach einem Armband und zwängt es auf das Handgelenk.

Vater iſt gut. Er erfüllt jeden ihrer Wünfche, wenn ſie's recht anfängt.

„Wird Ihr Vater au einwilligen?” bat ber ſchwarzäugige Lehrer gefagt. „Er ift ein reiher Mann. Er wird bart fein können!“

„Kommt Zeit Tommt Rat!”

Dieſes Huge Sprichwort fagte ihr der Heine Fähnrich, als fie ihn auch ganz naiv gefragt hatte, ob einmal feine hochadeligen Eltern in kommenden Sahren zu ber Ver⸗ lobung ihre Einwilligung geben mürben.

„Sie gehn aufs Ganze, kleine ſüße Emmy” und dann den Sprud. Da war fie allerdings fehr dumm, aber man lernt aus jedem Vorkommnis etwas. Der hübſche Fähnrich dachte damals fo wenig an irgend welchen Ernit, wie ſie jeßt bei dem Anſchmachten und Ermutigen des Lehrers. Uber es freute fie, menn er in ber großen Slirche, vor der verfammelten Gemeinde ganz allein für fie fpielte. Bon ihr wollte er gelobt fein bie dummen Leute! Ganz alleine von ihr.

Und auf eine Orgelfompofition ſollte ihr Name kommen als Dedifation. Sie batte dad in ESchaufenitern von Muſikalienhand⸗ lungen gejehn.

Wenn er nur erft einen Berleger haben würde. Dann die Blumenroder! Und Blanfa Deden, die jebt von einem Beamten mit ernftlichen Abfichten ſchrieb. Eie würde ſich alfo noch früher verloben!

Die heifere Stimme von Frau Roth ſchallt durchs Haus: „Emmy, fo komm doch endlich runter, Fräulein Schwaff is fchon da, und ich habe noch nich’ fertig werben können!“

„Natürlih!” Die Gerufene zudt verächtlich die Schultern, nimmt noch einmal von bem

Der Einzige.

durchdringenden Parfüm, das ihr Bruder nicht leiden kann, ſchiebt ein feines Tafchentud ein und ſchlendert die Treppe binab.

Fräulein Schwaff fteht in dem Hausflur, bemüht, Mantel und Tucd abzunehmen.

„a“, fagt Emmy, „dazu können Blume: oder Dienftboten nicht erzogen werben”; fie ift behilflich.

„Dane, dankte, Emmychen! Wo ift denn aud das Geburtstagslind?“ Sie holt einen Hyacinthentopf aus dem umhüllenden Papier hervor. „Drin! wir haben ja fein Eßzimmer, das wiſſen Sie. Meine Eltem —“

„Ach, Emmy, das bat hier doc niemand eigentlich!”

„Wir könnten's aber.”

Sie ftößt das Zimmer auf, in dem ber Tiſch gededt iſt. Ch die Schwaff eintritt, hält fie das junge Mädchen noch eine Sekunde zurück. „Du, id habe fo meine Gebanfen. Hat daB heute am Ende mehr zu ber deuten?”

„Beiß nich'!“

„Du? Wer tommt denn alles?”

„Do nur Wagners!”

„Du! der hat Eichberg gelauft. wenn ich das erlebte!”

„Sein Sie doch ſtill Mutter nein, lachen Sie nicht.”

„Emmy, Rosmarin und Euppenkraut, unfre Emmy wird bald Braut mas?“

„Das Tann ſchon fein. Ich möchte nicht mehr lange bier bleiben in der Wirtfchaft. Finden wird fi ſchon einer!” und fie lächelt frohmütig.

Dann Inirt die Schwaff vor dem Säge— müller und fagt ihm ein paar ſchwungvolle Worte von Freundfhaft und kommenden Freuden; ganz myſtiſch.

„Na ja, legen Sie die ſchönen Redens— arten da man hin, Fräulein Schwaff. Da muß ich ja aud 'ne Hyacinthe bringen, wenn Eie Ihren fünfundzwanzigften doppelt feiern!”

„Aber, Herr Roth, fo weit ift es noch lange nicht.”

„3b, machen Sie keine Wippen. Dazu: mal, als Sie geboren waren, ne, id) hab's neulih in dem Kirchenbuch gejehn. Lafjen Sie mal —“

„St! wo ift denn Ihre liebe Frau?”

Emmy,

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Emmy ift in das Schlafzimmer der Eltern getreten. „Mutter, fo mad doch! Willſt du wieder bie letzte fein?”

Frau Roth preßt ihre Fülle feufzend in die braunfeidene Taille. „Ad, wozu is das alles? Bloß man, daß man aus ber Ber quemlichteit raus muß. Dies i8 mich fo eng! Da krieg' ih noch ’n Schlag in.”

„Weil du di) immer fo gehn läßt; den ganzen Tag, immer!”

„Ad, for wen foll® ich mid denn ein- preflen. 'nen Mann hab ich gekriegt, ſechs Kinder auch. Ich bin ’ne Frau bei Jahren. Oslar fagt immer, ich hab's nicht nötig!”

„Oslar ift leider nad) dir gefchlagen; ich, Gott fei Dank, nicht. Dahin muß eine Sted« nabel. Richtig, Haft du ſchwarze Finger die mußt du erſt noch waſchen.“ Eie blidt prüfend über bie volle Geftalt hin. „Der Stoff ift fo ſchwer und bu fiehft dod nicht beſſer aus, als in einem Kattunfleide.”

„Seide i8 Seibel” ruft die Mutter gereizt.

„Kleider wollen getragen fein!” jagt Emmy gegiert und ftreiht an ber blauen weichen Wolle herunter. „Und benimm did nur auch anftänbig bei Tische!”

„Wenn mein Idachen noch Iebte, das hätte mich nid’ zu die großmäulige Hannoverfche geſollt,“ fagt die Roth, „das wäre jetzt fo

weit. Aber das hätt’ ich ni’ von mic gegeben, die hätt! mich nich’ gemeiftert, wie du.”

Emmy huſcht hinaus. Die Wagners find ſämtlich eingetreten und von ben Anweſenden, zu denen fih auch Oslar gefellt, begrüßt, dann kommt erft die Hausfrau mit wuchtigen Schritten und rotem Kopf aus dem Schlafs zimmer. "

„Da find Sie ja! Gu'n Abend. Ih muß man erft noch mal in die Küche.”

Fräulein Schwaff figt im Sopha neben Frau Wagner, Hinter beiden fteht ein fteiles Nüdenkiffen. Sie erzählt, wie es bei Gefell- ſchaften im Elternhaufe herging. „Water war fo gaſtlich. Wenn für mid nicht fo viel blieb, fo haben fremde Leute ihren Vorteil davon gehabt. Emmy wird einmal ein Haus zu führen verftehn. Sie hat den Blid für größere Verhältnifie. Ich nehme mich ihrer

616 Der Einzige.

gern an, lieber Himmel, die Mutter, na, und Männer find Männer.”

Der Holgberr muß erft feine Meinung über die Weinforten abgeben, die Oskar heran trägt; Roth verfteht nichts davon und der Eohn trinkt „alles”, mie er mit kurzem Lachen ſagt. Dann fett man ſich zu Tifche. Die Reihenfolge beftimmt Fräulen Schwaff.

„Jugend zur Jugend! Herr Fri und Fräulein Emmy. Sa, Herr Oskar Sie müfjen nun fchon in den fauren Apfel beißen und an meine Seite fommen.”

„Is egal! Wenn ic man ordentlich zu ejlen und zu trinfen kriege!“

Fritz fieht gut aus; es liegt etwas Strahlendes heute auf feinem Geficht, etwas Befreiteres in feinem Wefen. Und der ſchwarze Rock fteht ihm gut, und feine Mutter fieht ihn öfter an. „Mein unge ift doch hübſch.“

Emmy unterhält ihn, nachdem fie erit ein wenig ſchüchtern und verlegen gethban, mehr, ala er fie. Das bemerkt Antoinette Wagner auch; aber, ihr Fri ift immer zurückhaltend. Nur mit Mile geht’. Und das ift ja aud) die Rechte, denkt die Mutter und ift bald mit ihren Gedanken der beften Stube der Familie Noth entführt und träumt über den Kalbs⸗ rüden bin fi) nad Eichberg. Wenn fie das erlebt, ihren ungen da und die Mile! Sie fiehbt nah ihrem Mann binüber. Ein paar ganz verlorene Andeutungen bat er gemacht bon einer zufünftigen Hausfrau auf Eichberg. Lieber Gott! wenn fie den ungen glüdlic) fiebt, dann kann fo viel gut gemacht fein in ihrem Leben!

Da ftöpt Minna Roth fie an:

„So nehmen Sie doch auch an die Sohfe, Frau Nahbarn ?”

Sie muß zurüd, bier an den Tiih und nidt und ftimmt mit ein, ala Fräulein Schwaff den Braten lobt.

„Das Kalb habe ich auch ſechs Wochen bei die Kuh ftehn laſſen, da geht denn nichts drüber!“

„Brauch ih nich',“ ſagt der Sägemüller eben, „den Major feine neue Moden Stimm’ ih nid’ zu!”

„Wirſt dich wohl noch befinnen, Roth, baft allemal das Bernünftige gethan,” giebt der Holzberr zurüd. „Proſt auch!”

Ein grummelnded Brummen des Alten, ein vergnügte® Lachen bes Sohnes Roth. „Der Major das is fein Spaßverderber! Fräulein Runigunde, haft bu nid’ Luft, Frau Majorin zu werben?”

„Behalt deine dummen Wige für Dich!” ziihelt Emmy fcharf.

Oskar kneift feine kleinen Augen faſt ganz zu.

„Der kann ſich in Uniform trau'n laſſen, und denn ſpielt Oppel recht ſchön Dazu. Wär'n Hauptſpaß!“

Emmy wirft einen haſtigen, argwöhniſchen Blick hinüber, fie wird nicht rot, fie hätte es fonft gefühlt, und jagt zu Frig:

„Sp ift er nun mal! Immer dumme Ein= fälle!”

Frau Roth vergibt ganz, daß fie ben Ell⸗ bogen nicht aufftüßen joll; fie ruft mit einem Schmagenden Laut: „Die find immer wie Habe und Hund! Den ganzen Tag!”

„Broft, Alte!” acht der Sohn, Emmy wird diesmal glühend rot vor Zorn, bie Schwaff hat ihr modantes Lächeln um bie Mundwinkel, das fie jo gut kennt; fie ſchämt fih vor der mehr, als vor Fritz.

„Die Gabel ftedt!” Tagt ber Holzherr, „was nu eigentlich bebeutet, daß die Damen leben follen, woll'n aber auch man gleidy das Geburtstagstind mit babei thun! Sch Bin nit für lange Neben, damit’3 Eſſen nich’ falt wird. Hoch! hoch! body!”

„Son’ weitere fünfzig Jahr! ich hätt’ nicht3 gegen!” lacht Roth.

Oskar hält fein Glas vor bad Licht: „Die Damen!” dann iſt's bi zur Neige geleert, ſchnell ift’3 wieder gefüllt: „Der Alte!” und ebenjo raſch getrunken.

„Der kann's!“ ſagt der Sägemüller. „Beſcheid muß doch einer thun!“

Fritz hat mechaniſch angeſtoßen; was die um ihn her reden, hört er gar nicht, daß Emmy lächelt und ſchwatzt und daß er nicht viel zu ſagen braucht, iſt ihm angenehm. Wenn er die ſtattliche Geſtalt des Vaters ſtreift, der einmal über kommunale Sachen ſpricht, um den ſtets erſt widerſtrebenden und dann nachgebenden Sägemüller zu ſeinen An⸗ ſichten zu bekehren und dazwiſchen ein Scherzchen macht, das Fräulein Schwaff zum

Der Einzige.

Sachen bringt, fo geſchieht's mit einem ihm bisher unbelannten Gefühl aufquellender Dankbarkeit. Biel bittre Neben und ſchwere, grüblerifche, unglüdlihe Stunden hat er dem Manne doc wohl zu vergeben, manch gegnerifhe Empfindung. Nun wird alles gut. Und er meint, es beſchleicht ihn eine mitleivige Empfindung für den Hünen, er verficht es plögli, daß er juft mit feiner Kraftlofigfeit und Kränflicpteit nicht der Eprößling ift, den ein Konrad Wagner fih naturgemäß wünſchen mußte.

Die Hausfrau läuft ein paar mal hinaus und fommt dann mit erhigtem Geſicht wieder. „Es i8, daß fie mid) den Pudding ornd'lich umftülpen! Es is doch fein Verlaß auf die Mädchens!” Auch das große Ereignis ift vorüber; fie hat felber Butter und Käfe dienſt⸗ eifrig herbeigetragen, und Oslar macht eine beijere Sorte Wein auf und gießt ein.

„Me, zieren Cie ſich man nic’, Fräulein Schwaff, Sie haben ’nen ganz guten Fall!ꝰ

Der Sägemüller iſt ſehr luſtig.

„Mein Nachbar und Bruder Konrad hat noch 'n befondern Spruch auf ber Pfanne! Alle Gläfer vol, fag ih. Alle Gläfer!” Und er lacht dröhnend. „Nu paßt aber mal auf! Nu paßt auf.” Und er legt ſich weit zurüd gegen die knackende Etubllehne.

„Roth, nimm di doch in act!” ruft feine Frau, „du brichſt 'n noch ab.”

„Brauch' ich nid’, ich kann 'nen andern kaufen!”

Die Schwaff ſieht nah Emmy hinüber und hebt ganz verftohlen den Finger, dann hält es bie Tochter des Haufe für an: gezeigt, die Blicke ſchuchtern in den Schoß zu ſenlen.

„Nu! nu! nu!” lacht der Sägemüller, und Oslar hebt wieder prüfend, mit Freude an dem leuchtenden Echein, fein Glas gegen das Licht.

Antoinette Wagners Gedanken find bereits wieder weit ab, und Fritz' ſchlanke Finger fpielen mit der Uhrlette. Er hat einen Ent- ſchluß gefaßt. Gleih morgen will er mit dem Vater ſprechen, daß alles zum Abſchluß fommt. Er wird gefunden, allein fchon vom der Freude, dem Glüd, das fühlt er.

617

Liebe Freunde!” fagt der Holjherr, „Sie, Fräulein Schwaffen, thun ja auch fo gewiſſer- maßen, ald ob Sie mit dazu gehören und darum find Sie hier. Um’ denn aud, mo Sie gewefen find und was Sie mit erlebt haben, das kommt ’rum, und man braucht fein Angeigeblatt. Und fo haben Sie 'n Ver- glei mit der vielzüngigen Yama nicht zu ſcheuen!“

„Herr Holzherr!“ Sie iſt nicht ganz klar über die mythologiſche Andeutung, aber fie traut Konrad Wagner nie recht.

Sie wirft den Kopf zurüd und weiß nicht, ob fie lächeln oder böfe ausfehn fol. Sie ſetzt ſich einftweilen fteif hin und orbnet bie Schleife unter dem Kinn. In des Holzherrn Gefiht lachen alle Heinen Falten mit, und er zwidert mit den Augen, es freut ihn, daß fie fo unſicher da figt.

Re, fol 'n Kompliment fein. Und mas wir befchlofjen haben, mein Freund Louis Roth und id, das fann morgen der ganze Ort wiſſen. Eichberg habe ich gelauft, das is ſchon rum! Und warum habe ich es’ gelauft? Mein einziger Cohn foll drauf figen. Louis Roth fieht das mit ſcheelen Bliden an, denn die Waldungen, bie der dolle Nittmeifter noch nid’ verfloppt bat, die hätte er nun gerne abgeholzt. Wird aber auch fo noch feine Freude dran haben. Denn langjährige Freunde und Nachbarn, und in gleihen Ver- mögensverhältniffen wie wir find, haben wir noch was andre im Sinn —“

Hier blidt Emmy ſchräg an Fritz hinauf, dann zur lauernden Schwaff hinüber.

„Und nun kommt's. Wir wollen auf ein Brautpaar trinken!“ Mit einem plöglichen Erfchreden, die Augen weit aufreißend, ſieht Antoinette Wagner ihren Fritz an, der mit feinen Gedanken gar nicht da zu fein ſcheint. Sonſt müßte er ja rufen nein, fie aber es ift, als ob eine würgende Hand ihr nad der Kehle faßt. Allbarmberziger Gott! ein Stoßgebet will fih auf ihre zitternden Lippen drängen; nur das nicht, daß das jet Wahr⸗ beit wird, was fie fürchtet, was riefengroß, drohend auffteigt

Nein, nein! Es Tann nicht fein, fie träumt. Es ift alles nit wahr, fie ift hier nicht in Roths befter Etube, da ftehn feine

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Weinflaſchen, halten feine Hände Gläfer zum Anftopen bereit, fit nicht ihr einziger Sohn, fehn nicht gefpannte Gefichter hinüber nad dem Sprechenden, der ihr Mann iſt

„Auf ein Brautpaar woll'n wir trinken”, Hingt Wagners mächtige Stimme noch voller, „denn unfre beiden Kinder follen auf Eichberg figen, mein Fris und Roth's Emmy! Daß fie einmal zuſammenkommen follten, das haben wir lange jchon geplant! Und nun ift die Zeit da! Gebt euch die Hände, unfern Segen habt ihr! hoch, hoch, hoch!“

Sein und Roths Glas klingt hell zu=- fammen, Oskars Arm langt auch) ber.

„Vater!“ Noch weiter, noch angftvoller, al3 die Augen der Mutter baben fidh vie Fritzens geöffnet, auf den jebt nad) dem Ausruf die andern alle fehen. Tobesfahl ift fein Geficht, ein Zuden ift um feine Lippen, feine Arme find berabgefallen und feine Singer machen Frampfhafte Beivegungen: „Vater! Aber der fiebt nicht einmal nad ihm bin. Roths dide Turze Arme haben ihn gefaßt. „Bruderherz, das haft du gut gemadt. Ne, Bruderherz, nu haben wir das doch noch er: lebt!” Sagt er gerührt, und zwei fchmatende Küffe werden Wagner aufgedrüdt. „Dein Kind und mein Kind! Und wenn bei dir ’n Mädchen zu haben wäre, die Triegte mein Oskar, das wär’ aud gewiß!” Und dann zieht er das Taſchentuch, denn in folchen Augenbliden ift er ein mweichmütiger Menic.

„ne, ine!” ſchluchzt die Hausfrau, „das fommt einem ja jo über'n Hals, das haben die Männer wieder unter ſich abgemadt. Un’ wenn meine vier andern auch noch da wären,” fie ſchluchzt. „Frau Nachbarn, ne, was fagen Eie nur! Mich kommt es wirklich un: erwartet!“

Antoinette Wagner antwortet nicht, ſie hält ſich mit den zitternden Fingern an der Tiſch— fante und blidt ihren Eohn an. Emmy ift erwartungsboll fiten geblieben, endlich muß boh Fri ihr auch etwas jagen. Und jeßt fiehbt der Holzherr hinüber nach den beiden Hilflofen.

„Gebt euch die Hände!”

Mit einem Ruck fliegt Friend Stuhl zurüd, ein unartifulierter Laut, dann ftürzt er zu Boden.

Der Einzige.

„Mein Junge, mein Junge!” jammert dir Mutter und ift die Erfte bei ifpm und nimmt ben todesblaffen Kopf auf ihre Knie.

„Re Ohnmacht!“ fagt der Holzherr, jeinen Zorn gewaltfam unterbrüdend, mit zufammen: gezogenen Brauen. „Das if, mad man die berfeinerte Empfindung nennt. Wa, Enmin, denn nimm erjt mal mit 'n Ruß vom Schiwieger: bater fürlieb.”

„sa, aber —”

Wagner faßt ihren Arm und ziebt fie beran, und fie dulbet es mechaniſch.

„Sp zimperlihd und pimperlih wie ber glüdliche Bräutigam bift du nich’, mein Tochter! Lab man, das gefällt mir grade. Mas fol ich dir jchenten, Kind? wünſch dir was, mas Rechtes, nimm’3 wahr!”

Er fpriht das ſchnell, um fih und Den andern über das hin zu Belien, was ibm peinlich ift.

„sa, aber —“ ſpricht Roth feiner Emmv nad), während Oskar ſich auf feinem Stubl räfelt. „nen Hauptſpaß! ohnmächtig mie ne bleihjüchtige Sungfer! hahaha! So was!”

„Nerven! wohl die Freude?” fragt Die Schwaff und bat ihr liebenswürdigſtes Lächeln.

„Kann ich nich fehn,” jammert Minna Roth. „Wer Sehe gehabt hat und nur zmei behalten hat, wie ich!” und fie beginnt noch lauter zu ſchluchzen.

Emmy kämpft mit dem Ärger, fie ftreicht an ihrem Kleide herunter, neftelt die goldene Kette um die Finger und fagt: „Onkel Wagner, jeßt weiß ich wirklich nicht —“

„Wirſt dich Schon befinnen, mein Tochter. Es gilt! Na, Fräulein Schwaff, den hat feine Mutter zart erzogen, was? Ein Bräutigam, der in Ohnmacht fällt.“

„Emmy, du ſollteſt nach Kölniſchem Wafler ſehn,“ meint die. Und die Lippen zufammen: ziehend, geht die Braut hinaus.

„sa, ein freudiger Schreck,“ meint die Schwaff Iauernd, aber fte hat mit diefem leijen Antaften fein Glüd beim Vater von Fritz, fie verfucht jebt, der Mutter Hilfe zu leiften. Doc auch die wehrt fie ab.

„Es wird fchon gut! Das geht fchnell vorüber. Das ift noch fon’ bißchen Schwäche. Er Schlägt Schon die Augen wieder auf.

Der ‚Einzige.

Vater,” bittet fie dann mühſam und ver= ſchuchtert: „Laß uns beibe jegt nach Haufe gehn. Es iſt beſſer.“

„J was, mas, jetzt ſoll's erſt luſtig werden!“ ruft Roth, und Oskar ſtößt mit feinem Glafe auf den Tiih. „Bloß ord'ntlich trinken mußte, Frig, Mut in die Bruſt!“ Die Hausfrau kramt auf dem Tifche hin und ber: Da i8 ja noch die Torte, die kann mid) doch nich’ über bleiben!”

Alle Etimmen übertönt die feſte bes Holzherrn.

„Ja, bring’ dein Widellind ins Bett. Schlaf aus, mein Junge und hol dir morgen, wenn’3 feiner fieht, deinen Bräutigamd- kuß.“ Er fpaßt grollend, um nicht heftig zu werben.

„Morgen is aud noch'n Tag,” fällt der Sägemüller ein. Auf den Arm der Mutter gelehnt, wankt Frig hinaus. Die Schwaff folgt. „Meine befte Frau Holaherr —“

Da werden ihre Finger krampfhaft ums Hammert,

„Sprechen Sie nicht über den Vorgang, über gar nichts,” flüftert die erregte Frau. „Ich bitte Sie —“

„Was denlen Sie!"

Emmy ſteht am Treppengeländer.

„Die Eau de Cologne iſt wohl nicht mehr nötig?” fragt fie ſpitz.

„Bir gehn jet nach Haufe. Die Hike, die Menſchen es ift ihm zu viel geworben! Die Luft wird ihm gut thun!”

Fritz fieht nicht auf, fpricht nicht, er geht allein die Stufen hinunter. Als die Hausthür zufält, fommt Emmy herab.

„Run?“

„Ja —“ fagt die Schwaff, in biefem Augenblid ift fie foger ein bißchen ver— legen.

19

„Das nennt man ja mohl ein unter brocenes Opferfeft?” Emmy hat das Citat auch noch aus ber Zeit ber Leutnants⸗ ſchwärmerei.

„Argere dich nicht, Emmychen!“

„Pah! dadrum! Kommen Sie, die Torte ſchmeckt fo gut, und es ift nod viel da!”

„Du bift ein kluges Mädchen!”

Emmy zudt die Achſeln. „Ich braude doch feine Sorge zu haben! Und um ben!”

„Eichberg, weißt bu —“

„Baht“

Die drei Männer figen am Tiſch, wie fie eintreten, die Frau ift hinaußgegangen.

„Ih, da is ja mein Schwiegertöchterchen,“ ruft der Holzherr. „Komm ran, Kind! ber Stärkfte is dein Bräutigam nid’ vorläufig. Na, wenn du ’n erft in der Kur haft!”

Er zieht fie an feine Seite und ftreicht ihr übers Haar.

„Ja, meinft du denn, Konrad —“ Roth fommt nicht weiter.

„Was ich gefagt habe, das habe ich gefagt. Fräulein Schwaff, Sie werden niht um Dis⸗ kretion gebeten, in biefem Falle.”

„Herr Holzherr —“

„Ne, ne! Man rein in die Poſaune! was ich gefagt habe, Konrad Wagner! ftoß mal an, Schwiegertöchterchen. Was, das giebt ’n Ton! Frau Nittergutöbefigerin in spe!”

Emmy lacht.

„Sräulein Kunigunde, fannft did ja dann Wagner von Eihberg nennen!” lallt Dakar.

„So etwas habe ich noch nicht erlebt, Emmy,” flüftert die Schwaff.

„Was foll ih nun thun? die bittet mic, zu ſchweigen und der will, daß ich’3 erzähle. Was fagft du denn?”

„Mir ift es ganz egal! Wirklich. Pah!“

Echluß folgt.)

620

Auf vorgelchobenem Polten.

Voit

Belene Tange.

Nachdruck verboten. —E——⏑——————

a * .

ach moderner Methode oder in modernem Jargon behandelt man gern \ die joziale Entwidlung als einen Naturprogeß, der nach allgemein giltigen

an Gejegen die Maflen vorwärts fchiebt, zurüdhält, wandelt. Auch die Frauen: bewegung bat fich dieſe Auffaffung gefallen laſſen müffen. Sei es nun, daß man mit Treitichle „wie einft in den Zeiten der Sittenverderbnis des Altertums aus dem Schlamme ber Überbildung die Lehren der Weiberemanzipation auffteigen” fieht, oder daß man von ben Folgen der inbuftriellen Entwidlung, von der Vergefellfchaftung der Familienkultur Ipricht u. a. nı., folche Anſchauung bat es bewirkt, daß wir uns nicht mehr wundern, die Frauenbewegung überall, wenigftens in den erften Anfängen, zu finden, dab wir faum mebr das Bedürfnis baben.zu fragen: wem verdanken fie ihr Leben, ihre Entftehung?

Und doch, wenn wir genauer zujehen, zujehen mit der Fähigkeit, nicht nur das Was?, jondern auch dad Wie? diefer Erjcheinungen zu erkennen, jo fteht am Anfang, im Mittelpunft, ala Lebensprinzip des Ganzen, eine Perjönlichkeit.

Der eigentliche Nährboden der Frauenbewegung find die großen Städte. Taufend Umftände treffen dort zufammen, um ihre Notwendigkeit dringender erfcheinen zu laſſen, um Vorurteile zu vernichten, um Kräfte zu löſen, gemeinfames Handeln zu ermöglichen. Langſam das ift die allgemeine Regel verbreiten fih von dort her ihre Beitrebungen in die Provinz; um fo rafcher, je näher man dem Centrum ift, je zahlreicher von allen Seiten verbindende Fäden fich kreuzen. Aber diefe Regel Hat Ausnahmen. Und ſolche Ausnahmen weilen mit doppelter Sicherheit auf Perfünlichkeiten.

An der öſtlichſten Grenze unſeres Vaterlandes, in einer Gegend, die dem Kultur: . menjchen de3 Centrums immer noch als ein etwas dunkles Kolonifationdgebiet vor: Ichwebt, hat die Frauenbewegung einen Stüßpunft, eine Grenzmark im eigentlichen Sinne des Wortes; dieſe Grenzmark iſt in Tilfit, und die fie begründete, it Frau Marie Hecht.

Eine blühende Ortsgruppe des Allgemeinen deutjchen Frauenvereins, die einzige in Oftpreußen, ein umfafjender BZmeigverein des Haugsbeamtinnenvereins, deſſen Mitgliederzahl von 600 den vierten Teil aller Vereingmitglieder in ganz Deutichland ausmacht, zahlreich bejuchte Volfzunterhaltungsabende für Frauen, eine bon rauen geleitete Auskunftſtelle für Wohlfahrt3einrichtungen, eine Hausbaltungsfchule Frauen als ſtädtiſche Waifenpflegerinnen, Frauen mit Männern gemeinfam im Vorfland bes Vereind zur Unterbringung entlaffener Strafgefangener, im Komitee für Dolls: unterhaltungabende, deren Gründung der bes Frauenkomitees folgte, und zwar Frauen aller Konfejfionen, Berufsfreife und politifchen Richtungen, und fie alle nicht nur ald Nummern des Mitgliederverzeichniffes, fondern als felbitthätige Mitarbeiter: das find die glücklichen Vorbedingungen, die Tilfit heute für eine gejunde Weiterentmwidlung der jozialen Frauenarbeit aufmweift.

622 Auf vorgefchobenem Boften.

juchen. Ihre erite Vereinsgründung war ber Tilfiter Vehrerinnenverein. Die Anreaur: dazu eine negative Anregung freilich gab ihr die Generalverfammlung ti: Vereind für das höhere Mädchenſchulweſen in Berlin 1886. Die paffve Rolle, dir bie Lehrerinnen dort jpielten, legte ihr den Gedanken nahe, die Lehrerinnen ihre: Heimatſtadt zu einer geſchloſſenen Vertretung ihrer Berufsinterefien zu organilieren. Noch im Herbit desjelben Jahres rief fie den Zilfiter Lehrerinnenverein ins Leben. Für feine weitere Entwidlung war ihr Fräulein Margarete Poeblmann cin thatkräftige Mitarbeiterin; an fie ging im vergangenen Sabre auch der VBorftg über.

Sie arbeitete in derjelben Weife mit Frau Hecht Hand in Hand bei der mit viel größeren Schwierigfeiten verbundenen Begründung der „Vollsunterhaltunggaberde für Frauen und Mädchen” 1891, ein Unternehmen, das zuerjt als jozialiftiicher Tendenzen verdächtig einen wahren Aufruhr erregte, aber bald, von allen Seiten unterflügt und gefördert, fich jo kräftig entwidelte, wie es derartigen Beranftaltungen nicht feicht bejchieden ift. Als dann VBolfZunterhaltungsabende in größerem Maßftabe für Maänner und Frauen organifiert wurden, erjchien es jelbjtverftändlich, daß die beteiligten Männer die Frauen zur Arbeit im Vorſtande beranzogen.

Seit fünf Jahren arbeitet neben dem Lehrerinnenverein die gleichfall3 von Frau Hecht gegründete Ortsgruppe des Allgemeinen deutichen Frauenvereind, Ihr ſchönſter Erfolg ift die Anftellung von Frauen in der ftädtiichen Wailenpflege, um die im vorigen Winter die Ortögruppe, unterftüßt von jämtlichen Frauenvereinen Tilfit3 und don dem Königlichen Amtsgericht, beim Magiſtrat einfam. Das Amtsgericht motivierte feine Unterftügung mit der außdrüdlichen Verficherung, daß e3 die Anftelung von Frauen in der ftädtiichen Waifenpflege für die Stadt Tilfit für fehr wünjchenswert halte. Siebenzig Frauen batten fich für dag neuerfchloffene Amt zur Verfügung geftellt, 28 wurden in den 14 Bezirken der Stadt angeftellt, nachdem der Beichluß in Magiftrat und Stadtverorbnetenverfammlung einjtimmig angenommen war.

Die jeltene Einmütigfeit, mit der die Forderungen der Ortsgruppe von Publikum und Behörden aufgenommen wurden, ift der beite Beweis dafür, daß das Recht, fie zu ftellen, durch Leiftungen erworben war, ein Weg, der viel Gebuld und Aufopferung erfordert, den die Frauenbewegung aber nicht aufgeben darf, ohne ihre Grundlagen zu gefährden. Dieſe Einmütigfeit ift aber zugleich auch ein Beweis des Vertrauen, Das Frau Hecht in ihrer Vaterftadt genießt, in der fie ſchon als die Tochter des in allen Kreifen geliebten und geachteten Superintendenten Behr ein ganz bejonders feft gegründetes Bürgerrecht befigt.

Aber von der Wärme und Freudigfeit, die Marie Hecht in die Arbeit in ihrer Baterjtadt zu legen wußte, hat auch das weitere Vaterland einen Hauch gejpürt. Sie gehörte zu den 85, die in den Pfingittagen des Jahres 1890 in Friedrichroda ben Grundftein des Allgemeinen deutſchen LZebrerinnenvereind legten, fie gehörte zu den beliebteften Rednerinnen auf jeinen Verfammlungen wie auf denen bes Allgemeinen deutjchen Frauenvereind, deſſen Vorftand fie angehört, fie verfolgte mit reger perjön- licher Anteilnahme die Entwidlung des Bundes deutfcher Frauenvereine. Mit feltener Elaftizität Hat fie e8 verftanden, für ihren entlegenen Grenzpoften Fühlung zu halten mit allem, was auf dem Gebiet der Frauenbewegung an ernfter Arbeit geſchah; überallhin brachte fie die Überzeugung, daß da oben „bei den Eisbären“ übliche Wärme mit oftpreußifcher Bebarrlichkeit und Treue fich paart. >=

623

Die Hranenfrage anf dem Kongreß deutſcher Htrafanſtaltsbeamter.

Alire Salvmon.

Raqhdrua verboten.

ie deutſchen Kongreſſe und Verſammlungen ftehen augenblicklich anſcheinend

unter dem der Frauenbewegung. Was vor einem Jahrzehnt noch

allgemeines Aufiehen erregt hätte, beginnt allmählich zu einer gewohnten Er: fheinung zu werden. Die Männer der verichiedenften Berufskreife beichäftigen ſich auf ihren Kongrefien und Generalverfammlungen mit der Frauenarbeit; mit der Frage der Zulaffung der Frauen zu dem betreffenden Beruf oder ihrer Ausfchließung davon. Den Ärzten, Apothekern, Armenpflegern find nun auch die Strafanftaltsbeamten darin gefolgt.) War bei den erften derartigen Verhandlungen vorwiegend bie Furcht vor ber Konkurrenz der Frauen maßgebend, fam nur Tangfam der Gefichtäpunft zur Geltung, daß die Interefien der Frauen von ihren Gefchlechtögenoffinnen wahrgenommen werben follten, fo bricht fi num endlich aud in Männerkreifen der Gedanfe Bahn, daß dem Bedürfnis der Frauen nad vermehrten Erwerbsmöglichkeiten Rechnung getragen werden müffe.

In dankenswerter Weife wurde auch diefer Standpunkt auf dem Strafanftalts- kongreß von dem Referenten über „bie Frauenfrage“ zum Ausdrud gebracht. Vielleicht ift er damit einen Schritt weiter gegangen als ein meiblicher Referent an feiner Stelle gegangen mwäre, denn auf allen Gebieten fozialer Hilfsarbeit haben die Anhängerinnen der Frauenbewegung flet3 nur bie Intereſſen der Hilfsbebürftigen als Maßſiab für ihre Forderungen gelten laſſen. Auch die Vorfämpferinnen für die Zulaflung von Frauen zur Gefangenenpflege find von dem Gedanken ausgegangen, daß die Fürjorges thätigfeit und die Beauffichtigung der weiblichen Gefangenen die Mitarbeit der Frauen erfordere; fie find_fich flet3 bewußt geweſen, daß die Gefangenenpflege im Intereſſe der Gefangenen gefchaffen worden ift, nicht im Intereſſe derer, denen aus ber Pflege: thätigleit ein fegensreicher Beruf erwachſen könnte.

Die Frage, in wie meit den Gefängniffen und den Gefangenen durch bie Bejegung von Beamtenftellen mit Frauen gedient fei, ftand denn auch im Mittelpunkt der Kongreßerörterungen. Sie führte zu lebhaften Außeinanderfegungen über bie Befähigung der Frauen für höhere, verantiwortungsvolle Poften, die einen für bie Frauen immerhin günftigen Abſchluß nahmen und in denen eine im allgemeinen ver ſiandnisvolle Würdigung der Frauenbewegung zum Ausdrud fam. Dielen Umftand werben bie Frauenvereine bei ihren Beftrebungen um Zulaffung zum Gefängnisdienft ober auch zur Gefängnigmiffion zu nügen haben!

Auf der Tagesordnung bed Kongreſſes fland u. a. dad Thema: „Wäre es zwedmäßig, in Anftalten für weibliche Gefangene, abgefehen vom Arzte und dem Geiftlichen, ausfchließlich weibliche Beamte anzuftellen und einem männlichen höheren Gefängnisbeamten nur eine Art Oberaufficht in denfelben zu übertragen?” Der Referent, Strafanftaltsdireltor Fliegenſchmidt-Wehlheiden (Kaſſel), führte dazu aus, daß die moderne Frauenbewegung, deren Berechtigung nicht zu beftreiten fei, den mittelbaren Anftoß zur Erörterung diefer Frage gegeben habe. Die volle Würdigung, die er der Frauenthätigkeit in der Gefangenenpflege entgegenbringt, geht aus feinem Bericht hervor, der in einem kurzen Auszug zur Kenntnis weiterer Frauenkreiſe gebracht werben fol.) Herr Fliegenfchmidt erfennt an, daß die Beihäftigung mit der Lage

') Kongreß deutfcher Strafanftaltbeamter in Nürnberg, 31. Mai und 1. Juni 1901.

?) Der Bericht über diefe Ausführungen ift dem Fräntiſchen Kurier entnommen.

Die Frauenfrage auf dem Kongreß deutſcher Strafanftaltsbeanter. 625

Als Erfolg der Srauentpätigteit und der Frauenbewegung kann wohl aber die Oppofition des Direftord der Hamburger Gefängnisanftalten, Hauptinann Dr. Gennat, angefehen werden, dem bie Refolution zu eng gehalten fchien. Er verlangt die un⸗ bedingte Anftellung von Frauen für die Stellen des polizeilichen Unter: perfonals, der Auffeherinnen, Oberauffeherinnen, Hausmäütter, fowie thunlichſte Befegung aller andern Stellen, foweit befondere Vorbildung erforderlich ober vorgefchrieben, mit Frauen, die diefen Nachweis führen tönnen. Auf Grund langjähriger Thätigkeit an einer mit 450 Frauen bejegten Anftalt tritt er für möglichft weitgehende greigabe des Strafanſtaltsweſens für die Frauen ein, auch in Bezug auf die Direftoratsftellen, „die Frauen mindeftend ebenfogut ausfüllen würden wie Männer”. Er fehe keinen Grund, ber Frau der⸗ artige Stellen vorzuenthalten, „nachdem alle Behauptungen von ber geift en Inferiorität der Frau bisher unbewiefen geblieben, die Frau fich vielmehr in allen ihr freigegebenen Berufen bewährt habe’. „Die Leitung müffe der Frau in vollftem Umfange zuftehen, alfo ohne daß etwa noch ein männlicher Direktor feine fegnende Hand darüber halte.“

Herr Direftor Gennat ſcheint mit feinen Forderungen aber denn doch den fort: fchrittlichen Sinn der Strafanftaltsbeamten überfchägt zu haben. Sein Vorſchlag wurde zurüdgemwieen. Man darf ſich wohl fragen, wie e8 aufgenommen worden fein würde, wenn eine Frau den Antrag des Diretor Gennat in der Verfammlung geftelt hätte. Ob man nicht „ohne Debatte” über ihren Antrag zur Tagesordnung über: gegangen wäre! Der Mann, ber Kollege, erregte, wenn auch beftigen, h doch wenigſtens nur fachlichen Widerſpruch, der allerdings zum Teil als unhaltbar zurück⸗ gewieſen werben fonnte. Einer der Kongreßteilnegmer erklärte, daß es feinem Gefühl als Geiſtlichen und Angeftellten mwiderfireben würde, eine Frau als Oberin über ſich zu haben; andere halten die Frau nicht für geeignet zur Belegung des Direktorpoſtens, weil ihr die nötige phyſiſche Kraft fehlen dürfte. Nach längerer Debatte wurde ſchließlich die Refolution des Referenten, die aljeitige Zuftimmung fand, vom Kongreß angenommen, und mehr konnten die Frauen fchließlich nicht erwarten. Immerhin haben dieſe Verhandlungen über die Frauenarbeit im Gefängniswefen an denen feine Frau teilnahm und für die Intereffen ihrer Geſchlechtsgenoſſinnen eintreten tonnte auf dem Grundfag gefußt, daß die Bedürfniffe der _gefangenen Frau am beften von der Frau beurteilt werden fönnen, daß zur Beauffichtigung, Pflege und Beſſerung der weiblichen Strafgefangenen in weit größerem Umfange bie Hilfe der Frau herangezogen werden müffe. " *

*

Wenn die Frauen nun auch einerfeit8 gern und dankbar fold Eintreten für ihre Sache anerfennen werden, fo dürfen fie doch anderſeits nicht Köweigen, wenn aus Unkenntnis oder Übelwollen ihre Arbeit in falfchem Lichte datgeftellt oder ohne weitere Begründung abfälig Fritifiert wird. Leider it auch auf dem Strafanſtaltskongreß eine Außerung gegen die Anhängerinnen der Frauenbewegung gefallen, die um fo weniger unmiberjprochen bleiben darf, als fie von einem Manne gethan wurde, der verſchiedentlich Gelegenheit gehabt hat, mit Vertreterinnen ber Bewegung gemeinfam und aud fo viel befannt geworden ift erfolgreich zu arbeiten. Nach ben übereinftimmenden Berichten verfchiedener Zeitungen (3. B. des Berliner Tageblatts und des Fränfifchen Kurier) trat Geh. Ober:Reg.:Nat Krohne: Berlin für eine umfaffende Heranziehung der gebildeten Frauen zur Strafoollzugspflege ein. „Unter ‚gebildeten Frauen‘ verftehe er natürlich jene Frauen, die wiriſchaftlich, praftiih und ſozial vorgebilbet feien und bie dabei alle jene Sergenätugenben befäßen, die für den Umgang mit den Unglüdlichen unbedingt nötig feien. Dagegen möge Gott das Strafanftaltöwefen vor dem Zuzug jener Frauen bewahren, bie in der fogenannten ‚Frauenbewegung‘ ftänden.” Können denn Anhängerinnen der Frauenbewegung nicht wirtſchaftlich, praktiih und fozial vorgebilvet fein, ober ift ein Mangel an Herzendtugenden eine Begleitericheinung ber Frauenbewegung? Sollte es Herrn Gebeimrat Krone nicht befannt fein, daß die erfte Erlaubnis, die ber preußifche Juftigminifter Frauen zur Ausübung der Gefängnismiffton gab (einer Aufgabe,

40

626 Thackeray über Liebe, Heirat, Männer und Frauen.

die fih an Schwierigkeit ficherlich mit den Aufgaben des Gefängnisbeamten meñen fann), der Kommiſſion des Berliner Syrauenvereind galt, eines Wereind, Der durhaus „in der fogenannten Frauenbewegung fteht”, und daß dieſe Thätigkeit in Preußen fait augjchließlich von Frauenvereinen ausgeübt wird, die der Frauenbewegung angehören, ihr dienen, und durch fie für dieje ſchwierige Arbeit gewonnen und begeiitert worden find?

Herr Geheimrat Krohne erkennt zwar an, daß man in preußiichen Anftalten dir beiten Erfahrungen mit den angeftellten rauen gemacht bat; follte ex ſich vergemiliert baben, daß von diefen rauen feine der Frauenbewegung nahe fteht, durch fie auf den Beruf hingewieſen, durch freie Vereinsthätigkeit ihm zugeführt worden ift?

Die Anhängerinnen der Frauenbewegung verkennen gewiß nicht die großen Berdienfte, die die innere Milfion und der Evangelifche Diafonieverein fich Durch Die Einrichtung von Ausbildungsfurfen für Gefängnisbeamtinnen erworben baben; aber diefen Kurjen wird doc manche Anhängerin der Frauenbewegung zugeführt, Deren „loziales Empfinden” durch die Beitrebungen gewedt worden ift, die jeder Att von Frauennot, der mwirtichaftlichen, geiftigen und fittlichen, Hilfe bringen follen. Darum: muß die oben angeführte Bemerkung zurüdgewiejen werden.

Die Frauenbewegung fordert das Recht auf mühjelige, verantwortungsvolle Thatigkeit, das Recht auf Hilfgarbeit an den Hilfsbebürftigften. Was ihr davon Die Gegenwart noch vorenthält, wird ihr die Zukunft gewähren.

——M

Fhacheray Aber Liebe, Beirat, Männer und Frauen.

Überfegt von X. M. Schuliheis.

UM LTIENDTILITENG

Nachdruck verboten.

Mr. Brown an feinen Neffen Bob.

I Ilſo Bob iſt verliebt und erfährt an ſich das allgemeine Los. In dieſem Moment, mein lieber Junge, erduldeſt du die Leiden und Freuden, die Eifer- Or jucht und Schlaflofigkeit, das Sehnen und Entzüden, die rajende Verzweiflung und jauchzende Extaſe, welche die Leidenjchaft der Liebe begleiten. Im Jahre 1812 (da3 war vor meiner Verbindung mit deiner guten, jeligen Tante, die mir nie die oben angeführten Beunruhigungen verurfachte) Eoftete ich ſelbſt einige diefer Freuden und Schmerzen, die du nun erduldeftl. Ich kann mit dir fühlen, und dich bemitleiden. Sch bin jeßt ein alter Hahn, mit wankendem Schritt und zitterndem Krähen. Aber einft war ich jung und erinnere mich deutlich jener Zeit. Seitdem amavı amantes wenn ich zwei junge Menjchen glücdlich fehe, freut e8 mich, wie es mich freut, glücdliche Kinder beim Feenfpiel zu feben. Ich war der Bertraute vieler braven Jungen und der heimliche Zufchauer bei hundert kleinen Intriguen. Miß Y., ich weiß, warum Sie fo eifrig auf Bälle gehen, und auch, Me. Z., was Sie in Ihrem reifen Alter zum Tanzen bringt. Bilden Sie fich ein, Dir. Alpha, ich glaube, Sie gingen jeden Tag um 1/12 umfonft an die Serpentine, und daß id D’Mega nicht fehe, wie er in Notten Nom fpaziert? Alſo, mein lieber Bob, did bat ein Schuß getroffen. Wenn du den Gegenftand deiner MWünfche nicht erlangit, jo wird der Verluft dich nicht töten; das Fannft du mit großer Sicherheit annehmen. Wenn du ihn erlangft, fo ift es möglich, daß du enttäufcht fein wirft. Diefer Punkt tommt auch in Betracht. Aber, ob du triffft oder fehlft, ob du Glüd Haft oder nicht es thäte mir leid, mein guter Bob, wenn du diefe Krankheit nicht durchmachen folteft. Jeder Mann folte fich einigemal in feinem Leben verlieben. Man trägt

Thaderan über Liebe, Heirat, Männer und Frauen. 627

einen Gewinn davon, wenn e8 worüber ift, einen Gewinn im Unglüd, wenn du es mit männlichen Mut erträgft, einen um ſehr viel größeren Gewinn im Glüd, wenn du einen Treffer heimbringſt und ein gutes Weib obendrein! Ach, Bob es jteht ein Stein im Friedhof zu Fundal, beffen ih oft gedenke viel Hoffnung und Leiden: Ichaft liegt darunter begraben mit dem Liebften und Holdejten Geſchöpf in der Welt 's iſt nicht Mrd. Brown, die da liegt. Sie fchläft, nady ruheloſem Liebesfieber, im Marylebone- Totenader, die gute Seele! Emily Blenkinſop könnte Mid. Brown geworden fein, aber doc ſprechen wir von etwas anderem.

Du wirft natürlich einen guten Rat betreff8 deiner Angebeteten annehmen, mein lieber Bob. Das thut jedermann. Wir mwiffen, daß Liebende viel auf die Anfichten ihrer Bekannten geben und nie ihrem eigenen Kopf folgen. Nun, jo erzähle ung doch etwas von deinem Mädchen. Was für Eigenjchaften, Beſitz, Lebenzftellung hat fie? Sch fange feine Diskuffion über Schönheit an. Ein Mann fieht Schönheit oder Reiz auf feine befondere Weile. Sch will damit nicht jagen, daß häßliche Frauen fo raſch Männer befommen ala hübſche aber jo viel fchöne Mädchen find nicht ver: heiratet, und jo ſehr viele Häßliche find es, daß es unmöglich ift, eine Regel aufzuſtellen. Die arme gute Mrs. Brown war eine viel ftattlichere Frau als Emily Blenkinſop, und doch liebte ich Emilys Kleinen Finger mehr als die ganze Hand, die beine Tante Martha mir gab ich ſehe, wie die häßlichften Frauen einen großen Zauber über Männer ausüben kurz, ein Mann verliebt fich in eine Frau, weil es jein Schidjal ift, weil fie ein Weib if. Auch Bob ift ein Mann und mit Herz und Bart ausgeſtattet.

Sit fie eine geicheite Frau? Sch will dir nicht zu nahe treten, mein guter Junge, aber das Pulver baft du ja nicht erfunden, und ich müchte dich ganz gern einer Eugen Frau zufallen ſehen. Zu allen Zeiten bat man die Elugen Frauen ignoriert und ijoliert. Nimm 3. B. Shakeſpeares Heldinnen fie fcheinen mir alle jo ziemlich diefelben liebevoll, mütterlich, zärtlich u. j. w. Oder die Frauen Scott? und anderer Schriftfteller jeder jcheint dasſelbe Modell zu zeichnen wir verlangen meiſtens eine idealvollkommene Sklavin ein demütiges, lächelndes, Tinderliebendes, theemachendes, klavierſpielendes Weſen, die über unſere Wie lacht, auch menn fie noch ſo alt find, die uns in unjern Launen fchmeichelt und um den Bart geht und und durchs ganze Leben liebevoll anlügt. Sch konnte deine arme Tante niemals zu diefem Syſtem bewegen, obgleich ‘ich geitehen muß, daß ich ein glüdlicherer Mann gemejen wäre, wenn fie es verjucht hätte.

Es giebt viel mehr kluge Frauen in der Welt al? die Männer annehmen. Gewöhnlich verachten wir fie, wir bilden uns ein, fie denken nicht, weil fie ung nicht widerjprechen, und feien ſchwach, weil fie nicht kämpfen und fich gegen uns erheben. Ein Mann fängt erft an, die Frauen fennen zu lernen, wenn er alt wird; und id) muß fagen, meine Meinung von ihrer Weisheit fteigt täglich.

Wenn ich fage, ich kenne die Frauen, jo will ich damit fonftatieren, daß ich weiß, ich kenne fie nicht. Jede Frau, die ich je Fannte, ift mir ein Nätfel und ohne Zweifel auch fich ſelbſt eines. Sie feien nicht Hug, jagt ihr? Ihre Heuchelei ift mir ein ewiges Wunder und eine beftändige Übung in ber beften Art von Klugheit. Da fiebft du 3. B. eine beicheiden ausjehende Frau, vollflommen in ihren Pflichten, beharrlih in Hemdenknöpfen, ihrem Herrn gehorfam und bemüht, ihm in allem zu gefallen; fill, wenn du und er Politik oder Litteratur oder Quatſch dizfutiert, und zieht ihr fie in die Unterhaltung, jo fagt fie mit einem Lächeln volllommener Demut: „Ab, Frauen baben fein Urteil über folche Sachen, wir überlaffen den Männern Gelehrjamkeit und Politik.“ „Jawohl, arme Heine Poly”, jagt Jones und Flopft Frau Jones gutmütig auf den Rüden, „fieh du nach dem Haushalt, mein Herz; dag ift deine Sphäre, und das übrige überlaffe ung.” Vernagelter Schwachlopf! Sie hat dich ſchon längſt durchſchaut, mitfamt deinen Freunden, fie kennt eure Schwächen und unterftügt euch darin auf bunderterlei liftige Art und Weile. Sie kennt euren Eigenfinn und umgeht ihn mit außerorbentlicher Kunft und Geduld, wie eine Ameije auf ihren Wegen ein Hindernis umgeht. Jede Frau lenkt (manages) ihren Dann;

40 *

628 Thaderay über Liebe, Heirat, Männer und Frauen.

jeder Mann, der einen andern fo Ienkt, ift ein Heuchler. Ihr Lächeln, ibre Nat- giebigfeit, ihre gute Laune, die wir an ihr fo fchägen, was find fie alles ai bewundernsmwürbige Falſchheit? Wir eriwarten Achfelträgerei von ihr und erzieben re zur Unaufrichtigfeit. „Should he upbraid, Tl own that he prevail; say that ht frown, Ill answer with a smile“; was find das anders ala Lügen, Die wir von unfern Sklaven verlangen? Lügen, deren gejchidte Ausführung wir als tmeiblik: Tugenden verfündigen, rohe Türken, die wir find! Sch behaupte nicht, daß Die ſelig Frau Bromn mir je gehorcht babe im Gegenteil: doch würde e8 mich geiren:! haben, denn ich bin ein Türke wie mein Nachbar.

Da iſt zum Beijpiel deine Mutter. Wenn mein Bruder zum Eſſen Fommt nad einer erfolglofen Jagd oder nachdem er ſich die Rechnungen feiner Herren Söhne an: gejehen bat, fängt er natürlich damit an, fich gegen eure arme Mutter mürrijch zu zeigen und über das Hammelfleifch zu brummen. Was thut fie nun? Sie mag hd verlegt fühlen, aber fie zeigt es nicht. Sie fängt an zu fchmeicheln, zu lächeln, da: Gefpräh zu wenden, den Bären zu ftreicheln, und ihn in gute Laune zu verſetzen. Sie bringt ihn auf feine alten Anekdoten und fie und all die Mädel arnıe kleine Sapphiras lachen fih halb tot. 3. B. die Gefchichte von der Gans, Die in die Kirche geht, die dein Vater erzählt und die deine Mutter und Schweltern jo amüſiert, bis ich mich zulegt jo jchäme, daß ich kaum weiß, wohin ich bliden fl. Und Io erzählt er die Gejchichte einmal überd andere Mal, und deine gute Mutter figt dabei und weiß, daß ich weiß, daß fie ein Humbug ift, und lacht weiter, und lehrt die jämtlichen Mädel® auch lachen. Wäre fie dazu geboren geweien, einen Nafenring und Beinringe zu tragen, anftatt eine® Muffes und Kapothutes, und hätte fie eine dunkle Haut anftatt der weißen, mit der die Natur fie ausgeftattet, jo würde fie ſich nad dem Tode deine? braunen Brabminenvaters lebendig verbrannt haben; ja, fıe würde die Frauen irreligids genannt haben, bie fich gemweigert hätten, fih für ibre Herren und Meiſter braten zu laſſen. ch will damit nicht jagen, daß die felige Mrs. Brown fih für mich bätte verbrennen laſſen weit gefehlt: durch einen zeitigen Abzug wurde ihr der Gram erfpart, den ihre Witwenfchaft ihr zweifelsohne verurfacht haben würde und was mich betrifft, jo füge ich mich in biefen Schickſalsſchluß und babe nicht den geringften Wunſch, ihr vorausgegangen zu fein.

Sch hoffe, die Damen werben mir meine Bemerkungen nicht übel nehmen. Auch wenn ich dafür fterben jollte, muß ich doch befennien, daß man ihnen meiner Meinung nach nicht genügenden Spielraum läßt. In dem Handel, den wir mit ihnen eingeben, ziehen fie den fürzeren. Und da ein Arbeiter bekanntlich mehr zu Wege bringt bei Stüdarbeit als im Tagelohn und ein freier Mann mehr arbeitet als ein Sklave, ſo bezweifle ich, ob wir den größten Gewinn erzielen, indem wir unjere Frauen zur Sklaverei unter Gejeg und Sitte verdbammen. Es giebt Leute, die den Horizont Der Frauenpflichten auf menig mehr als die Küche bejchränfen würden, andere, die fte gern zu unferm Ergögen im Ballfaal fehen, wo fie ihre runden Schultern und weichen Locken zur Schau ftellen mögen wie man ja auch ein Pferd für die Mühle und ein andres für den Park bat. Aber in welcher Geftalt wir fie auch vorziehen, wir müflen.doch zugeben, daß die Frauen für uns erzogen werden, für ung arbeiten, für und glänzen, für uns tanzen und was nicht alles. Bor fünfzig Jahren würde e3 feinem Mann zur Schande gereicht haben, wenn er feinen Pudding oder Auflauf machen konnte, aber man würde unjern Müttern Unwifjenbeit in diefen Sachen zum Borwurf gemacht haben. Warum follten ich und du uns jett nicht fchämen, weil wir nicht unfre eigenen Stiefel machen, oder unſre Hoſen zufchneiden können? Weil wir etwas Beſſeres thun fönnen: wir nehmen Schufter und Schneider dafür und doch waren wir e8, die den Frauen Gejege gaben, den Frauen, von denen wir zu jagen pflegen, daß fie nicht jo viel Verftand haben wie wir.

Mein lieber Neffe, jegt, wo ich alt werde und diefe Dinge überlege, weiß id, welche die ftärkeren find, die Männer oder die Frauen, aber welche die Flügeren find, das zögere ich auszuſprechen.

——

Milchwirtſchaftliches Lehr- Fnftitut. Bon Hildegard Jacobi Raqhdrua verboten. Dur den zunehmenden Mangel an Arbeits: kräften in landwirtſchaftlichen Betrieben, fei es im Arbeiter: ober Beamtenftande, ift das Bebilrfnis, tüchtig geſchulte weibliche Kräfte einzuftellen, um fo lebhafter geworben. Und fomit bietet fih in dem landwirtſchaftlichen Berufe ein lohnender Erwerbszweig für das weibliche Geſchlecht und werben bie Stellungen als Milchwirtin ober Meierin, den Leiftungen entfprechend, gut bezahlt. Daß auch Frauen fich die erforderliche Schulung und bie notwendigen theoretiſchen und praftiichen Kenntniffe aneignen fünnen, dafür forgen eine An- zahl von Moltereien. Faft jede Provinz hat eine Moltereifchule. Das milchwirtſchaftliche Inftitut in Prosfau, Bahnftation Oppeln in Schlefien, unter der Direktion des Dir. Klein erfreut ſich durch feine vorzüglichen Lehrkräfte, gewiſſenhafte Lehrmethobe, durch das vortrefflih für ale Milchprüfungsmethoben ein: gerichtete Laboratorium und feine wertvollen Modell: fammlungen bed beften Rufes, weil bie bort er: worbene Ausbilbung eine äußerft vielfeitige ift. Das Inſtitut fteht unter dem Kuratorium de Prinzen Schönaich-Carolath, des befannten Vertreter® der Frauenbeftrebungen im Reichätag. In der Schranftalt werden alljährlich 3 Lehrkurfe abgehalten, einer für die Ausbildung männlicher, 2 für die weiblicher Schüler, von je dreimonatlicher Dauer. Damit für jeden Einzelnen ein möglichft gründficher Unterricht gewährleiftet fei, werben nur 6 Teilnehmer zugelaffen, alfo müflen die An- mefdungen ſchon lange Zeit vor Beginn bes Kurſus erfolgen; für den erften Meierinnenturfus vom 1. März, für den ziveiten vom 1. September an. Der Kurfus koſtet 20 Mark. Wohnung, Koft und Verpflegung wird vom Inſtitute auch gegen Veſahlung nicht getwährt, doch finden Schülerinnen für den mäßigen Preis von 1,50 Mark pro Tag Verfion im Haufe des Tireftord. Der Unterricht zerfällt in einen theoretifchen und einen praftifchen

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Teil. Der Direktor und feine Affiftenten über- nehmen bie Vorträge, unterftügt burch eine äußerft reichhaltige Fachbibliothet und bie umfangreiche Modellſammlung.

Lehrgegenftände des theoretiſchen Unterrichtes find:

1. Weſen und Eigenſchaften der Milch.

2. Entrahmungsmethoden, die Behandlung des Rahms, das Milchbuttern.

8. Das Buttern, die Bearbeitung ber Butter, das Aufbewahren und Berpaden berjelben.

4. Berkäfen der Milch, Fett: und Magerläfe, Deich: und Hartläfe, Sauermilchläfe und Butter: milchtaſe.

5. Verwertung der Magermilch, Buttermilch und Molken durch Verfütterung, durch Gewinnung don Moltkenbutter.

6. Prüfung der Milch nach den verſchiedenen Methoden.

7. Meiereibuchführung.

8. Verwertung ber Milch nad) den verſchiedenen Verfahren und der Meiereibetriebölchre.

9. Das Wichtigfte über Aufzucht, Haltung und Fütterung des Rindviehs.

Der praftifpe Unterricht erftredt fih auf folgende Gegenftände:

. Erlernen des Meltenz.

Derarbeitung der Milch auf Butter. Darftellung der Räfearten.

Handhabung ber Milhprüfungsapparate. Tabellenführung.

are»

Bei den praltifhen Arbeiten in ber Lehr: molferei müffen die Schülerinnen alle Handgriffe fo ange felbft ausführen, bis fie fih eine hin⸗ reichende Fertigteit angeeignet haben, aud bie Moltereitabellen müſſen fie zu führen gelernt haben.

Altoöchentlih finden regelmäßige Unter: ſuchungen der verſchiedentlich eingelieferten Mil: arten ftatt. Auch werden u. a. dort wertvolle Schweinefütterungäverfuche betrieben; bie babei gemachten wichtigen Erfahrungen fommen gleichfalls den Befuchern der Lehrkurfe zu ftatten.

Milchwirtſchaftliches Lehr- Infitnt. Bon Hildegard Jacobi Raddrud verboten. Durch den zunehmenden Mangel an Arbeits: träften in landwirtſchaftlichen Betrieben, fei es im Arbeiter: oder Beamtenftande, ift das Bedürfnis, tüchtig geſchulte weibliche Kräfte einzuftellen, um fo Iebhafter geworben. Und fomit bietet fih in dem iandwiriſchaftlichen Berufe ein lohnender Erwerbszweig für das weibliche Geſchlecht und werben bie Stellungen als Milchwirtin ober Meierin, den Leiftungen entſprechend, gut bezahlt. Daß auch Frauen ſich die erforberlihe Schulung unb bie notwendigen theoretiſchen und praktiſchen Kenntniffe aneignen können, dafür forgen eine An- zahl von Mollereien. Faſt jede Provinz hat eine Mollkereiſchule. Das milchwirtſchaftliche Inftitut in Prostau, Bahnftation Oppeln in Schlefien, unter der Direktion des Dir. Rlein erfreut ſich durch feine vorzüglichen Lehrkräfte, gewiſſenhafte Lehrmethobe, durch das vortrefflich für alle Milhprüfungsmethoden ein: gerichtete Laboratorium und feine wertvollen Mobell- fammlungen be3 beften Rufes, weil bie bort er- toorbene Ausbildung eine äuferft vielfeitige ift. Das Inſtitut fteht unter dem Auratorium des Prinzen Schönaid:Carolath, des bekannten Vertreters ber Frauenbeftrebungen im Reichätag. In der Lehranftalt werben alljährlich 3 Lehrkurſe abgehalten, einer für die Ausbildung männlicher, 2 für die weiblicher Schüler, von je dreimonatlicher Dauer. Damit für jeden Einzelnen ein möglichft gründficher Unterricht gewährleiſtet fei, werden nur 6 Teilnehmer zugelaſſen, alfo müfjen bie An: mefdungen ſchon fange Zeit vor Beginn des Kurfus erfolgen; für den erftien Meierinnenkurſus vom 1. März, für den zweiten vom 1. Septenber an. Der Kurjus koftet 20 Mark. Wohnung, Koft und Verpflegung wird vom nftitute auch gegen Bezahlung nicht gewährt, doch finden Schülerinnen für den mäßigen Preis von 3,50 Mark pro Tag Venfion im Haufe des Direltors. Der Unterricht

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Zeil. Der Direltor und feine Affiftenten über: nehmen bie Vorträge, unterftügt durd eine äußerft reichhaltige Fachbibliothet und bie umfangreiche Modellſammlung.

Lehrgegenſtände des theoretiſchen Unterrichtes find: 1. Weſen und Eigenfhaften der Milch.

2. Entrahmungsmethoden, bie Behandlung des Rahms, bad Milhbuttern.

8. Das Buttern, die Bearbeitung ber Butter, dad Aufbewahren und Berpaden berjelben.

4. Berfäfen der Milch, Fett: und Magerfäfe, Deich: und Hartkäfe, Sauermilchtaſe und Butter: milchtäfe.

5. Verwertung ber Magermild, Buttermilch und Mollen durch Berfütterung, durch Gewinnung von Moltenbutter.

6. Prüfung ber Milch nach ben verſchiedenen Methoden.

7. Meiereibuchführung.

8. Verwertung ber Milch nach ben verſchiedenen Verfahren und der Meiereibetriebölchre.

9. Das Wichtigfte über Aufzucht, Haltung und Fütterung des Rindviehs.

Der praltiſche Unterricht erftredt ſich auf folgende Gegenftände:

1. Erlernen ded Welten.

2. Berarbeitung der Milch auf Butter.

3. Darftellung der Käfearten.

4. Handhabung der Milchprüfungsapparate.

5. Tabellenführung.

Bei den praftifchen Arbeiten in ber Lehr: mofterei müffen die Schüferinnen alle Hanbgriffe fo lange felbft ausführen, bis fie fih eine hin⸗ reichende Fertigkeit angeeignet haben, aud bie Woltereitabellen mäffen fie zu führen gelernt haben.

Allwochentlich finden regelmäßige Unter: ſuchungen der verſchiedentlich eingelieferten Milch: arten ftatt. Auch werden u. a. dort wertvolie Schmweinefütterungsverfuche betrieben, die dabei gemachten wichtigen Erfahrungen kommen gleichfalls

zerfällt in einen theoretiſchen und einen praktiſchen ben Befuchern der Lehrkurfe zu ftatten.

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Anmeldungen zur Teilnahme find zu richten an die 1. Borfigende Fräulein E. Altmann, Soeft, Jakobyſtr. 3; auch find von dort die Programme zu bezieben.

Das Honorar beträgt für Mitglieder des Der: eind und der Ortsgruppen 5 Mark, für andere Teilnehmerinnen 10 Mar.

Etwaige Anmeldungen werben vecht bald erbeten.

Der „Kölner Berein für weibliche Angeſtellte“

befindet fih, wie ber ſoeben erjchienene britte Sahresbericht für das Jahr 1900 ermeift, in be: ſonders erfreulicher Entwidlung. Nicht nur die direkten Mitglieder, jondern auch die Kreiſe, bie weibliche Angeftellte beichäftigen, erfennen immer mehr bie ſegensreiche Wirkfamteit des Vereind an. Die von dem Berein angeftrebte beſſere foziale Stellung feiner Mitglieder wird hauptſächlich durch die Aneignung einer möglichft gründlichen Berufs: bildung jowie durch das Zuſammenwirken und den Zufammenfchluß aller direkt Beteiligten zur Hebung der Standeschre zu erreichen gefudt. Das Heim des Bereind ift mit 42 Penfionärinnen vollftändig und anhaltend beſetzt geweſen; dad Bebürfnis zu einer Ermeiterung liegt vor, aber die Mittel des Vereins geftatten dies vorläufig noch nicht. Die Mitglieder fanden bier auch Gelegenheit, fi an ben vom Verein eingerichteten Übungäfurfen in Turnen, Engliſch, Franzöſiſch, Geſang, Stenograpbie und Handarbeiten zu beteiligen; neu eingerichtet wurde ein Kurjus für franzöfiiche Stenographie, dem fpäter ein gleicher für engliſche folgen fol. Die zu Dftern 1900 in Köln eröffnete „Höhere Handels:

Trauenleben und Streben.

Ichufe für Mädchen“ ift baupsfächlih burd > Bemühungen des Vereins ind Leben gerufen were Da der Kurſus ein zweijähriger ift, find noch endgültigen Rejultate zu verzeichnen. Ted oc: rechtigen bie bis jegt gemachten Erfahrungen au 7 denkbar beiten Ausfichten auf das mit Spamnur: erwartete Schlußrefultat. Da die Schule ſtrens ır der für bie Aufnahme vorgefhriebenen Bedinzui: des Nachweifes der abgeihloffenen Bildung ceı:i zehnklaſſigen höheren Tüchterichule fe ſthält, war t: nit nur möglich, fh gang auf der Hohe x: feftgefegten Programms gu halten, fonbern bazı:!. in einigen Fächern noch zu erweitern und \. vertiefen.

Der „Frauenbund zum Wohle alleinftchende: Frauen und Mädchen zu Fraukfurt am Main“

veröffentlicht feinen 4. Jahresbericht für vu: Jahr 1901. Das Hauptintereſſe Des Vereire

wendet ſich der Verwaltung und weiteren ur geftaltung des von ihm errichteten Heims in >- Langeſtraße zu. Es befindet fih in erfreufider Entwicklung und ift nach Möglichkeit beftrebt, allen ftchenden und unbeſchützten Mädchen die Heim! zu cerjeben, fowie Durchreifenden und Stellunu fuchenden ein erwünſchtes Unterkommen zu bieten. Zu ſeinem Bedauern i ie der „grauenbundb” nic nicht in der Lage, felbfttbätigen Anteil an den größeren Beftrebungen für Srauenwohl und Frauen

vecht zu nehmen, dazu ift feine Mitgliederzatt 251 zu Hein und fein Einlommen zu gerina; doh war er auf ber IV. Generalverfjammtlung des „Bundes deutſcher Frauenvereine“ durch Die Bor ſitzende, Frau Rommel, vertreten.

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Frauenleben und -Streben.

Nachdruck mit Quellenangabe erlaubt.

* Bolitifcher Dilettantismus. Die „rauen: bewegung” vom 1. Suni bringt in ihrer Beilage für „Barlamentarifche Angelegenheiten und Gefeb: gebung” ein Schreiben an den Kriegsminiſter, von Frau Cauer, Fräulein Dr. Augspurg und Fräulein Heymann unterzeichnet, das an naiven Dilettantis— mug feinesgleichen fuchen dürfte. Auf Zeitungs: nachrichten bin, wonach europäilhe Truppen chineſiſche Frauen vergewaltigt haben follen von deutjchen Truppen ift nirgends die Rede fühlen fie fich fo quasi als Anwälte des beutjchen Volks berufen, den Kriegsminiſter wegen einer etwa möglichen Beteiligung deutjcher Soldaten an folchen Verbrechen zur Rechenjchaft zu ziehen. In autorita: tivem Tone mird eine Antwort auf die frage ver: langt: „Was ift von feiten der beutfchen Armee: verwaltung gefcheben, um fejtzuftellen, ob deutſche

| |

Soldaten und welche? an ſolchen Unthaten beteiligt gewefen find?” Dann beißt es wörtlich weiter:

„Sollen nicht diejenigen beutichen Frauen, weiche in Bezug auf unjere öffentlichen Angelegenheiten über der Sphäre der Gedanken: und Kritikloſigkeit jtehen, in jedem beimfehrenden Chinafrieger einen Zeilnehmer an derartigen Schändlichkeiten arg- wöhnen und follen fie nicht vorausſetzen müſſen, dag dem beutfchen Volkskörper von feinen leitenden Inftanzen die bedingungslofe Neaffimilation von Elementen zugemutet wird, die auf Grund ihrer Thaten bier zu Lande mit Zuchthauäftrafe zu be: Icgen fein würden, fo ift e8 bringend nötig, daß unfere M iitärjuftiz fih mit den angeführten Be- richten bejchäftigt, um auf Grund genauefter Nach- forſchung entweder das tieferjchütterte Zutrauen weiter Bevölferungstreife zu der Haltung unferer Truppen wieberherftellen zu fünnen ober die etwa begangenen Verbrechen burch ftrengfte Ahndung zu fühnen.”

Frauenvereine.

bezw. vervollftänbigt. jede volfftändige Schraube,

Die Schraube beſteht, wie aus Spindel und

Schraubenmutter, wozu noch ein Zahnring, eine ;

Feder unb ein Schalter fommt VDurch das ver: ſchiedene Zuſammenwirlen biefer Teile die Schraube für 3 Fälle verwenden: 1. Wenn man bie freie Beweglichkeit der Epindel nur während des Sihens aufgeben wil. 2. Wenn man für längere Seit einen unbetoeglicen Stuhlfig wünſcht, nachdem dieſer in die richtige Höhe ge: ſchraubt ift. 3. Wenn ein in allen Fällen bre barer Stublfig verlangt wird. Die Swedmäßigt der Vorrichtung wird jedem einleuchten. *

Naifer Wilgelm- Spende.

Mit befonderer

Nüdfiht auf die Bebürfniffe des Mlittelftandes mit .

beſcheidenem Einkommen gefchaffen, follte die Kaifer Wilhelm: Spende noch viel mehr ala es geichieht,

äßt fih

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ı zur Anlage von Erſparniſſen benußt werben. ' Durch die Möglichkeit, jederzeit bie Heinften Er- fparnifie bis zum Betrage von 5 Mark herunter fhon einzuzahlen, dadurch, daß feine Verpflichtung zu fortlaufenden, regelmäßigen Einzahlungen be: fteht, ift die Benugung ber fegensreichen Ein: richtung ben weiteften reifen freigeftellt. Die | Kaifer Wilhelm: Spende verfichert fowohl Jahres: ; renten ais Ropitafien. Die Verfiherung Tann nad) zwei Tarifen gefchehen, nämlich ohne ober mit Vor⸗ behalt der Rüdgewähr. Natürlid; ergiebt bie erfie Art der Verficherung höhere Renten und RKapitalien. Nacträglih Tann ein Vorbehalt der Rüdgerähr | nicht erhoben werben, es kann aber jeberzeit auf einen ſoichen verzichtet werben.

Nähere Auskunft erteilt und Drudfachen ver: ı fendet die Direktion, Berlin W., janer» | frage 85.

ar

Frauenvereine.

Der Berein „Jugendſchutz“

(Porfigende: Frau Hanna Bieber:Bochm) giebt eine neue billige Nußgabe ber ii vorbeugenden Sri von Profeffor Dr. med. 9. Herzen: „Wiffenfchaft und Sittlichteit“ heraus, nachdem die von dem Schweizer Verlag übernommene Auf: lage vergriffen if.

Der Rektor der Berliner Univerfität Brofefior D. Adolf Harnad hat zur neuen Auflage ein Vorwort an bie Stubierenden geichrieben, dad wir ai bedeutfame Kundgebung im Wortlaut folgen laſſen:

Vorwort zur neuen Auflage.

Kommilitonen! Eure Zutunft und ſie iſt bie Zukunft des Vaterlandes hängt von Eurer ſitt⸗ üchen Kraft und Geſundheit ab. Viele finftere Mächte bedrohen fie, aber die Gefahr, welche der Verfaſſer der nachftehenden Schrift Euch vor Augen führt, ift der größten eine. Ernft und ſchücht hat er fie Euch vorgeftellt, ohne Schleier, aber auch ohne Übertreibung. Cr wendet fih, indem er zur Selbftbeherrfhung und zum Aampf mahnt, an den guten Geift, der Euch eingepflangt ift und er ruft feine andern Bundesgenofien zur Hilfe ald Euch felbft. Ben fozialen Verpflichtungen wird in der Gegenwart viel gelprosen: feid gewiß, daß bie träftigfte foziale Leiftung ein reiner Lebenswandel ift. Er wird Euren Charakter ftählen, Cure Ge: finnung läutern und Gure Thatkraft fteigern. Das Beiſpici, welches Ihr gebt, wird für die Sittlichtkeit aller anderen Klaſſen ber Geſellſchaft entſcheibend fein, denn Ihr feid bie zufünftigen Führer. Mut ift die Tugend der Tugenden; aber Mut fließt nur aus innerer Freiheit: ter fich nicht felbft beherrfcht, bleibt immer Knecht.

Über den Anfängen unferer deutſchen Geſchichte fteht daS Zeugnis des Tacitus: „Sera iuvenum venus, eoque inexhausta pubertas. Nemo illic vitia ridet, nec corrumpere et corrumpi saeculum vocatur.“ Macht dieſes Wort enblich wahr! Die

Pflicht, die es einschließt, ift niemals fo gebieteriſch geiveien, wie auf ber geichichtlichen Stufe, auf ber wir und heute befinden. Das zeigt Euch Herzen in diefem Vortrag. Die Stunde ift da, aufzuftehen vom Schlaf, abzulegen die Werke ber Finfternid und anzulegen die Waffen bed Lichts. In biefer Rüftung werdet Ihr unüberwindlidh fein und das Baterland, die Menichheit aus innerer unb äußerer

Not befreien Helfen. D. Adolf Harnad, b. 8. Rektor der Univerfität Berlin.

Die Bildungövereine, Lehrervereine, Frauen: vereine und beſonders die Krantenfafienvorftände werden auf bie billige Ausgabe aufmerffam gemacht, welche bei gröhern Beftellungen fehr billig (100 Stüd = 10 Rart, 500 Stüd = 25 Mart, 1000 Stüd = 40 Wart extl. Porto, 1 Eremplar mit Porto 23 Pig.) durd das Vürcau des Vereins „Jugend: ans“, Berlin C., Raifer Wilgelmftr. 39, "verfandt wird.

Der Randeöverein Preußiſcher techniſcher Lehrerinnen

Hat in dieſem Jahre den erften Fortbilbungskurfus für Hanbarbeitölehrerinnen eingerichtet; diejer wird vom 15.—28. September in Bernburg ftattfinden.

Es werben Borträge gehalten werben über Pſychologie, Ethit und Pädagogik von Herrn Rektor Kraufe, Köthen. Über die Methobit bed Hand: arbeitdunterrichted wird Fräulein Mepel, Bernburg, ſprechen. Außerdem follen Lehrproben von ver: fhiebenen Lehrerinnen in Boltd-, Mittel: und Höheren Mädchenſchulen gehalten werben.

Herr Direltor Dr. Fride hat ſich freunbfichft bereit erklärt, an einigen Abenden Borträge zu halten, in denen er Rulturbilber derjenigen Länder giebt, die zu dem verfchiebenen Zweigen ber Hand⸗ arbeiten in beſonderer Beziehung ftehen.

An die Vorträge und Lehrproben follen fi Beſprechungen anſchließen.

Frauenleben und :Streben.

Wir können bie Frage nach dem Sachverhalt felbft hier ganz unerörtert laſſen, da nicht der ge: ringfte Grund vorliegt, anzunehmen, daß die deutſche Heeredvertwaltung nicht auch ohne bie Einmifung der Damen Cauer, Augdpurg und Heymann etwa vorgelommene Verbrechen ahnden würde. Was und bier zunädft angeht, das ift der unerhörte Tilettantismus, mit dem die genannten Damen ſich eine Kompetenz in Angelegenheiten anmaßen, die zu beurteilen fie augenſcheinlich völlig außer ftande find. (Gegen biefen Dilettantismus, der ungefcheut jede Domäne des öffentlichen Lebens ald Rebefportplag betrachtet, Haben alle Frauen, die in ernfter Arbeit ihr Bürgerrecht erringen tollen, Urſache, auf das energifchfte zu proteftieren. So tönnen fie am beften beweifen, daß fie thatfächlich in Bezug auf unfere öffentlichen Angelegenheiten „Über der Sphäre ber Gedanken: und Krititlofigleit ftehen”.

Im übrigen muß mit Befriedigung konſtatiert werben, daß mir es nicht mit einer Kundgebung irgend einer zur Frauenbewegung gehörenden Körper: ſchaft, fondern febiglih mit einer perſonlichen Erpeltoration der drei unterzeichneten Damen zu thun haben. Auf ifre Rechnung kommt dann auch bie unfreitoillige Komik in einzelnen Außerungen, die nur ber ernfte Gegenftand und verhindert, hier gebührend zu würdigen.

* Der anonymen Denunziation gegen Fräulein Dr. Tiburtius wegen Führung falſchen Titels, bie in ihrer völligen Haltlofigteit durch das in ber Märznummer der „Frau” veröffentlichte frei- fprechende Erlenntnis dargethan murbe, ift eine ganz gleichlautende Denunziation feitend des Herrn Profeffor Dr. Koßmann gefolgt. Sie richtet fih nicht nur gegen Frl. Dr. Tiburtius, fondern faft fämtliche Berliner Arptinnen und einen „Raturarzt” und Magnetifeur namens Geift, fo daß nunmehr am 21. Juni gegen „Geift und Genoſſen“ verhandelt wird. Auf den Ausgang der Verhandlung braucht man gar nicht einmal begierig zu fein. Es ſcheint nad ber ganzen Sachlage und dem vorhergehenden frei- ſprechenden Erlenntnis völlig ausgefloffen, daß eine Verurteilung erfolgt. Die eigentümliche Dent: weiſe aber, bie fi) darin befundet, daß Herr Profeſſor Dr. Aoßmann die Berliner Arztinnen, von denen er wiſſen muß, daß fie ein volles mediziniſches Studium abfolviert haben, mit einem Herrn zufammenftellt, bei dem dies augenſcheinlich nicht der Fall ift, möchten wir denn doch Bier feft: nageln. Über den Ausgang der Verhandlung, die leider erft nach Redaktionsſchiuß ftattfindet, berichten wir das nächfte Mal.

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Breisausſchreiben.

Der Berein „Srauenbilbung:Frauen- ftubium“ erläßt ein Preisausſchreiben zur Er— langung einer Propagandaſchrift für bie Frauenbewegung. Nach Art eined Katechismus ſollen in Frage und Antwort Entftefung, Ent: widlung, gegentoärtiger Stand unb Ziele der deutſchen Frauenbewegung kurz und Mar dargelegt erben. Der Preis, der 1000 Merk beträgt, tann ganz ober geteilt zuerkannt werden, wofür die Schrift Eigentum bed Bereind wird. Die Namen der Preiörichter werben noch befannt ge: geben. Sie find berechtigt, an bem von ihnen preiägefrönten Werke zweckentſprechende Anderungen vorzunehmen. Die Arbeiten find, mit einem Kenn: wort verſehen, bis fpäteftend 1. Februar 1902 an die Schriftführerin der Aommiffion "einzufenden; ein gefchloffener Briefumſchlag mit gleichem Kenn: wort hat Rame und Abreffe bed Verfafſers zu ent: halten. Die Mitglieder der Kommiffion find gern zu näherer Audfunft bereit.

Marie 9. von Helldorff, Schriftführerin (Weimar, Aderwand 18). Fanny Boehringer (Mannheim). Dr. Anna von Doemming (Biesbaden). Dr. Richard Knittel (Karlsruhe i. 8.). Dr. Selma von Lengefeld (Weimar).

* Die Generalverfammiung des Vereins Sranenbildung Zranenftudinm, die vom 16. bi 18. Mai unter bem Borfig von Frau Hofrat Steinmann in Mannheim ftattfand, bot durch die rege Teilnahme von Mitgliedern aus allen Teilen Deutſchlands, durch die Verhandlungen und Vorträge ein erfreuliches Bild der kräftigen Ent wicllung des Bereind. In ber erften Berfammlung begrüßte Herr Bürgermeifter von Hollander ben Berein namens ber Stadt.

Er führte kurz aus, baß die nad; zweierlei Richtungen gehenden Beftrebungen bed Vereins, das Streben nad Bildungserweiterung und :Ber- tiefung unb Arbeit, melde bie Eröffnung neuer Erwerböbahnen zum Biel hat, anerkennenswerte und fozial begründete find. Erweiterte und ber: tiefte Bildung ift, was wir brauchen, fie kann auch ben Haudfrauen und Erzieherinnen ber Kinder nur nüglich fein. Aber auch bie zweite Thätigteit des Wereind ift eine wertvolle. Die Männer haben vielleicht die Individualität ber Frau nicht genügend getwürbigt. ud) Frauen find differenziert, aud fie ſuchen neue Bahnen, in melden fie ihre Individualität betätigen Tönnen, und das Non furrenzbebenten wiſchen Mann und Frau ift bei diefen Beftrebungen hinfällig. Je mehr Berufs: möglichteiten der rau offen ftehen, um fo geringer wird der Zubrang zu den einzelnen Berufen fein. Die Gefege der Natur aber und bie fozialen Be: dingungen werben bie rauen immer bahin führen,

„Ma“, ein Porträt von Lou Andreas; Salome. (Stuttgart 1901. I. ©. Cottaide Buchhandlung Nach.) Das Mutterfhaftsproblem Hat Lou Andread in ihrer neuen Erzählung be- banbelt, doc} gift e8 nicht Freuden und Leiden beö Nutterfeins, fondern bie vieleicht härtefte Prüfung des Mutterherzens: die Loslöfung der Kinder von ihr, das Entwachſen aus ihrer forgenden Liebe, dad Aufhören mütterliher Fürforge. Die beiden Töchter, die „Ma in hartem Ringen durchgebracht hat und benen fie daB Befte ihre Lebens und Herzens gegeben, find flügge geworben; bie ältere Hat bereit8 bie Umiverfität bezogen; Die jüngere, an der fie in doppelt inniger Liebe hängt, treibt «8 hinaus, halb Wiffensbrang, halb Liebesichnen. Und Ma gewinnt c8 über fi, aud) biefe Tochter ziehen zu laffen: das, nur daß bildet den Inhalt bed Buches. Eine eigene, ſchmerzliche Refignation ruht darauf. Und munberboll, in anziehender Eigenart ift ber Charakter der Ma geftaltet, und Aüberaus fein und einwandfrei ift die pſychologiſche Entwidlung. Zu fein vielleicht, denn es giebt auch da Grenzen. Der Gefahr, bie für ein Talent wie fie e3 ift, immer befteht, ift Lou Andreas in ihrem jüngften Werke ftärfer verfallen als in „Ruth“ und in „Aus fremder Seele”: ftellenweife mutet „Ma" arg theoretifch, erbacht, erklügelt an. Dan meint in einzelnen Abfcpnitten nicht einen Roman, ſondern einen Eſſay zu leſen. Dann aber finden fih auch wieder Szenen voller Leben, und lebendig ftehen einem fehließlich bie Geftalten vor Mugen, daß man fie leibhaftig vor fich wähnt, biefe blaffe, verängftete Ma mit dem tiefen, myſtiſch tiefen Frauenempfinden.

„Les Tolftoi und feine Bedeutung für unfere Kultur“ von Eugen Heinrich Schmitt. (Verlegt bei Eugen Dieberichs, Leipzig 1901. Preis brod. 5 Marl, geb. 6 Mark.) Das Buch zeigt einen intereffanten Berfub, die Glemente der Melt: anfhauung Tolfteis fowohl Hiftorifdh zu erklären, als philofophifd) zu entfalten und dadurch feine Stellung in der modernen Geiftegentwidlung und feine Bedeutung für bie Wege, die fie fünftig nehmen twird, deutlich zu machen. Wir [ernen die Verfönlichleit und bie Miffion Tolftois erfafien aus dem eigentümlihen Charakter der ruffiichen Kultur, die, nicht wie die des Weftend durch überlegene Traditionen gebunden, einen Bruch mit ber Ver: gangenheit leichter vollzieht, rabitafe Reformer naiver an bie Ausführung ihrer Gedanken treten Insbeſondere dient das Buch dem Nachweiſe, wie die Grundanfhauungen Tolſtois, die weniger Har in ihrer philoſophiſchen Ausprägung al8 viel:

. mehr in ihrer fittlihen Anwenbung Berportretin, zu dem fortgefchrittenen Naturertennen unſerer Zeit nicht etwa im einem beſchränkt theologiihen Gegenfag ftehen, fondern mwie fie gerabe, im Yıdıc diefes Erkennens ergänzt und zu ihren Konſequenzen gerahet, in ihrer ewigen Gültigleit und wahren

berlegenheit erſcheinen. Die philofophifche KXrint dieſes Nachweiſes läßt fid nicht in ein paar Sägen abthun. 8 fei nur gefagt, dag Telftoi auf deuiſchem Boden und fpeziell vom Stanbpunkt unic ver beutfchen Geiftesfultur noch feinen Interpreten wie €. 9. Schmitt gefunden hat.

Serbfunten‘. Neue Sprüde und Sinn gebichte von Frida Schanz. Bielefeld und Leipiig. (Verlag von Xelhagen und Klafing, 1901. Press 1,20 Dart.) Frida Schanz hat in befonberem Maße die Eigenfhaften ded Spruchdichters: eıme lebhafte, warme Lebensteilnahme, eine außerorbent: liche Leichtigkeit, für jeben Gedanken, jede Pe obachtung ein Gewand zu finden, und eine un gewöhnlih biegfame, eindrucksvolle Sprache. „Herdfunten“ ift die Sammlung genannt: bie milde, mohlthuenbe Gfut jener Weltbetrachtung. jener Stimmung, die für und in bem Begrifi deutſches Haus“ Liegt, weht dem Leſer aus biefen Verſen entgegen.

Zunge Seele”. Gedichte von Fritz Bord. @erlin, Gofe & Teglaff, 1901) Als Erftlinge- ſchöpfungen wird man bie Lieder der „jungen Seele“ leicht erfennen. ALS Erftlingafhöpfungen find fie gefenngeichnet durch eine geiofffe naive Beharrlichleit im Feſthalten und riieren ber einen Melodie und des einen Gedankengangs:

ungt. Kiche, junge Triebe

Sterben unter Froftespaud.” In einem Mangel an Fülle und Intenfität bes Erlebens ift dieſes ernfthafte Beſchauen und Wieder⸗ beſchauen des eigenen „verblutenden” Herzens be gründet. Dod verrät dann und mann ein träftigerer Ton, eine inbivibuellere Farbe, daß hie „junge Seele" auch tieferen Trunk aus hem Xebensbronnen gethan und tieferen noch thum wird; und dann möchte man wünſchen, daß cine ftrengere Auswahl der ganzen Sammlung das träftigere Relief gegeben, daB fie hätte haben Tönnen. An Bezug auf innere und äußere jrorm baben die Gedichte etwas Abgefchloffened, Fertiges; für Situation und Stimmung finden fie oft un gegwungen den glürlichften Auöbrud. Selten mır wirken bie Ausdrucksmittel kunſtlich unb un organife fo manchmal der abgebrodene Schlub:

Frauenleben und »Streben.

* Gegen das Schweizer Eherecht proteftierte, wie bie „Dohnmente ber Frauen“ berichten, der Yund Schweizer Frauenvereine in feiner in (Genf abgehaltenen Generalverfammlung. Nach Schweizer Recht hat der Wann ald „Haupt der chelichen Gemeinfchaft" die Ruyung des Vermögens Beider, aud des mitgebrachten rauenvermögens. Gegen: über biefem Spftem der Güterverbindung fprad) ſich der Yund einftimmig für die Gütertrennung aus. Eine längere Distuſſion wurde über die Vaterſchaftstlage geführt, die nad) Schweizer Zivil recht nur bis zum Ablauf von drei Monaten nad Geburt de Kindes eingebracht werben kann. Cine Rebuerin verlangte die Ausdehnung biefes Klage: techtes bis zum 16. Lebensjahr des Kindes. Iſt der Vater zahlungsunfähig, fo fol die Familie, eventuell die Yeimalögemeinde herangezogen werden. In der großen Kommiſſion, welche vom eidgenöſſiſchen Juſtizdepartement zur Beratung des Zivilgeſetzbuches ernannt wurde, figen auch einige Frauen. Es ift zu hoffen, daß fie das angeichlagene Thema in Auge behalten werben.

* Das Tommunale Wahlrecht der Frauen im Norwegen ift am 26. Mai nun doch Geſetz geworden. Das Lagthing, das, wie mir in ber vorigen Nummer berichteten, die Vorlage zurüd: wies, hat fie bei erneuter Beratung mit einer Stimme Najorität angenommen. Das Wahlrecht umfaßt alle Frauen, die ein Cinfommen von 300 Mark auf dem Lande, 400 Mark in der Stabt verfteuern, und bie verheirateten Frauen, beren Männer Steuern zahlen, im ganzen etwa 200 000 Frauen. Wie gejagt, ift bie Borlage von der konfervativen Partei eingebracht, um bei dem Inkrafttreten des allgemeinen fommunalen Wahlrechts durch Zulaffung der ſteuerzahlenden Frauen ihre Partei zu ftärten. Charatteriſtiſch für die Unwiſſenheit, die unfere großen Zeitungen immer noch in Sachen der Frauenfrage dofumentieren, ift die Bemerkung, mit der bie Kolniſche Zeitung die Notiz begleitet: „Ale Länder, die ſich bisher noch nicht von ber unreifen Frauenemanzipationg: mut ind Schlepptau haben nehmen lafjen, werben Norivegen mit größtem Vergnügen beglückwünſchen, daß es fih als Verſuchsſeld für Frauenftimmrecht hergiebt, und es bleibt nun abzuwarten, ob bie Frauen den wohlthätigen Einfluß ausüben werben, den bie Nechte erwartet.” Als ob es angefichts

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der Erfahrungen, bie in England feit Jahren mit dem munizipalen Wahlrecht der Frauen gemacht worden find, noch notwendig wäre, daß ſich ein Land al „Berfuchäfelb hergiebt“! Im übrigen kann man nur boffen, daß die wahlberechtigten Frauen noch in andern Dingen einen wohlthatigen Ein- fluß üben, als in Bezug auf die Intereffen ber Rechten.

* Ein Berein zur fogialen Hebung der Fran hat ſich vor einiger Zeit in Mailand unter der Zeitung von einer Reihe auf dieſem Gebicte oder Litterarifch fchon bekannter Frauen gegründet. Das Drgan biefe® Vereins ift die „Unione Femminile“, eine Monatsfchrift, die in Mailand (Via Pietro Verri 7) erfeint und nad ihrer erften Nummer zu urteilen eine ernfte und that: kräftige Propaganda für die Hebung ber itafienifchen Frau in intellettueller und fozialer Hinſicht eröffnen wird. In Deutfhland wird e3 von befonderem Interefie fein, daß Ada Negri zu den Mit: arbeitern des Blattes zählt.

* Totenfchen. Ada Chriften, bie befonders in Frauentreiſen bekannte Schriftftellerin und Dichterin, ftarb am 19. Mai in Wien im Alter von 57 Jahren. Sie hat in einem beivegten Leben voll Enttäufjungen und Leiden allen Schmerz er: fahren, der ein Frauenichidjal erfüllen kann; fie hat ihn doppelt bitter erfahren bei einem Leibenfchaft: lichen Temperament und einem fcharfen, rüdfichts: loſen Gerechtigleitögefühl. So erſcheint fie in ihren Digtungen, rucſichtslos ehrlid in Bezug auf ſich ſelbſt und die Gejellipaft, Heiß und ſtart in allem inneren Erleben, traftvol, oft hart, aber immer padend in der Sprache. Im immer ftärterem Maße kommt in ipren Gedichtſammlungen, von ben „xiebern einer Berlorenen” bis zu „Aus ber Tiefe” das ſoziale Noment zum Ausbrud. Es gehörte ihrem urfprüngliden Selbſt an, es find nicht äußere Lebensverhältnifie, die fie erft Ichren mit den Unterbrücten zu fühlen, denn dies fogiafe Moment erftartt in ihrer Dichtung unter ben äußerlich) glänzenden Berhäftniffen ihrer zweiten Ehe mit Adelmar von Breden. Ein langjähriges, ſchweres Lörperliches Leiden hat Ada Chriften der jüngften Generation vor ber Zeit entrüdt. Viel⸗ leicht wird ihr Tod fie wieder mehr in die Mitte derer ftellen, denen fie ihrer ganzen Perfönlichteit nad) doch verwandt ift!

„Me”, ein Porträt von Lou Andreas, Ealome. (SAuttgarr IWl. 3. G. Cottaſche Buchhandlung .) Tas Butterihaftsproblem bet Lou Andreas in ibrer neuen Erzählung be handelt, Doc gilt es nicht Freuden und Leiden des Mutterfeing, ſondern die vielleicht härteſte Prufung des Wiutterbergens: die Loeloſung ber Kinder von ihn, zus Entwachſen aus ibrer ſorgenden Liebe, dus Aufhoren muütterlider Fürſorge. Tie beiten

Tochter, die „Mu“ in hartem YHingen durchgebracht

hat und denen fie das Beſte ibres Lebens und Herzens gegeben, find flügge geworben; bie ältere bat bereits die Univerfität bezogen, bie jüngere,

an der fie in Doppelt inniger tiebe hängt, treibt |

es hinaus, halb Wiſſenedrang, halb xiebesichnen. Und Wa gewinnt «8 über fi, auch diele Tochter ziehen zu laffen: das, nur bag bildet ben Inhalt des Budyes. Kine eigene, ſchmerzliche Hefignation ruht darauf. Und wundervoll, in anziehender Eigenart ijt ber Eharakter der Ma geftaliet, und überaus fein und einwandfrei ift die pfuchologifche Entwiclung. >3u fein vielleicht, denn es giebt auch ba (rungen. Der Sefahr, bie für ein Talent wie fie es ift, immer befteht, ift You Andreas in ihrem Jüngften Werke ftärfer verfallen ala in „Huth“ und in „Aus fremder Seele”: ſtellenweiſe mutet „Ma“ arg theoretiſch, erbacht, erflüpelt an. Man meint in einzelnen Abfchnitten nicht einen Sloman, fonbern einen Eſſay zu leſen. Dann aber finden fich auch wieder Szenen voller veben, und lebendig fiehen einen ſchließlich Die (Meftalten vor Augen, daß ınan ſie leibhaftig vor fich wähnt, dieſe blaffe, verängftete Na mit dem tiefen, myſtiſch tiefen Frauenempſinden.

„Leo Tolftoi und feine Wedentung für unfere Kuültur“ von Eugen Heinrich Schmitt. (Kerlegt bei Cugen Diederichs, veipzig 1601. Preis broch. bh Mark, geb. 6 Markt) Das Buch zeigt einen intereſſanten Werfuch, Die Elemente ber Melt

anſihauung Tolſtois ſowohl hiſtoriſch au erklären, als philoſophiſch zu entſalten und dadurch feine ,

Stellung in der modernen Geiſtesentwicklung und ſeine Weder fur Die Wege, Die ſie kunftig nehmen wird, deutlich zu machen. Wir lernen Die Merſönlichkeit und Die Miſſion Tolſtoid erfaſſen aus drin eigentlichen Uhnralter Der mmllsschen Warlenen

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In einen W Erlebens ift beſchauen des gründet, T trüftigerer „unge Seel Yebensbronne Wird; amd d

Vücerfchau. Anzeigen.

verd. Die Form ift faft durchweg weich, biegfam ! und fein nuanciert. Und in Erfindung und Ge: ftaltung geigt ber junge Dichter viel Selbftändiges. | Er geht eigene Wege, nicht folde, die mit einer tühnen Schwentung von ber Heerftraße ab in un beianntes Sand führen, ſondern folche, die fie dann | unb wann Treuzen, zuweilen begleiten aber doch eigene Wege. Daß fie ihn an ein Biel führen werben, dafür bürgt vielleicht der Sinn, den ein Meines Gedicht der Sammlung audfpridt:

Broße Kräfte fühl (4 mein,

Tämme (daufeind, Gruben graben.

Kur zuweilen, wenn ber

Si fps je 14 ei

Dann vur&prüß ich mein Gefgid.

Und id) wäge meine Taten

Und ic) fente meinen Spaten.

Und ich fente meinen Bid .

nDie Natur der Fran.‘ Anthropologiſche Studien von ®. Jaekel. (Verlag von Martin Hildebrandt. Berlin 1900. Preis 3 Marl.) Aus einer Flut von gebrudtem Material, aus Hunderten von Schriften, philofophifchen, ethnoiogiſchen, kultu: hiftorifhen bis hinunter zu populären Unter: haltungdbücern und Schufcreftomathien hat bie Verfafferin Notizen, Thatfagen, Außfprüde zur Ertenntnis der Natur der Frau gefammelt und ftellt fie nun in diefem Bud) zufammen, in einer Fülle, daf einem ber Atem ausgeht beim Seien. ; Der Zwed ift, Material zur Märung der Frage | in möglichfter Reihhaltigteit beizubringen. Und diefer Bived ift mit einer ftaunendwerten Ausbauer, Gebuld und Belefenheit erfüllt, denn das Buch bietet eine wahre Schaglammer von intereffanten Daten und Urteilen.

Schlußfolgerungen freilich Tann man aus dem | Material taum ableiten. Dazu ftehen alle bie Einzelbeiten zu ſehr außerhalb ‚ihrer kulturellen Beziehungen; man tönnte ben faufend Beweifen, bie da für eine Sadje angeführt werben, zehn: taufend gegenüberftellen, bie dagegen ſprechen; auch ift von einer fritiichen Austwahl der Tuellen ganz abgefehen, und viele der angeführten Thatjadhen dürfen Yaum ald verbürgt gelten. Fragen wie die aufgeivorfene find, wenn überhaupt theoretiich, fo doch nur auf Grund umfafjender pſychologiſch⸗ pbyfiologiiper Erfenntni® zu löfen, die unfere

Wiffenfhaft nach ihrem heutigen Stande noch nicht gu geben vermag. Vielleicht wird aber eine fpätere Zeit einmal die in dem vorliegenden Buch geleiftete Vorarbeit fruchtbar m maden wiſſen.

Eindringens, dee

zuweiſi.

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„Diuter ber Weltſtadt von Wilhelm Bölfhe (Verlag von Eugen Dieberih®, Leipzig 1901). „griebrich®hagen“ hat der Berfaffer ald Lotalwori der Sammlung feiner Eſſays vorangeftelt. Wen biefes Wort nod) leinen 2otalton enthält, dem werben bie Eſſays einen Farbenglanz Bineinlegen. Sie haben eine feltene ‚interpretationafäbigkeit, biefe Afthetifer neuefter. ‚Fictung, „Afthetiter" den Namen legte die Überſchrift ber Sammlung nabe: „Gedanken zur äfthetifhen Kultur“. Er ift nämlid) eigentlich nicht zutreffend; „Rhifofoppen“, „Kritiker“, „Dichter“, „Effapiften“ feiner würde den Beruf, die Wirkungäieife diefer „Mobernften“ treffen. Sie find feine Fahmenfchen, fie mollen „Renſchen“ fein fchlechthin, Rulturmenfchen, nach allen Seiten Fühlfäden außftreden, von allen Seiten auf fi wirken laſſen, Eindrüde empfangen, ſich geftalten Laffen. In diefem Aufnehmenwollen, Verſtehenwollen entfaltet ſich ein feltener Reichtum des inneren Befiged, eine feltene Fähigkeit bes Schauend. Dazu kommt eine dewiſſe Kühnheit in der Wahl der Ausbruddmittel, die Bölfches Sprache ungemein fräftig, oft über: raſchend prägnant macht, aber fie allerdings auch der Gefahr ausfept, geihmadios, ja [hmülftig zu erben. Die Gefahr ift in diefem Bande jedenfalls beſſer vermieden, ald in ber zweiten Folge des „xiebeöleben in der Natur“. Aber Farben fprühen diefe Effags! Und wenn es dem Hiftoriter fpäterer Zeiten darum zu thun fein wird, bie werdende Seele des zwanzigften Jahrhundert zu belaufchen, in Wilhelm Bölſches „Hinter der MWeltftadt” wirb fie fi ihm mit befonderer Kraft offenbaren.

„Das Geſetz Über die Fürſorgeerziehnug Minderjäßriger” vom 2. Juli 1900, nebft den Ausführungöbeftimmungen vom 18. Dezember 1900. Erläutert von D.Noelle, Landgerichtsrat, Mitglied

| des Haufe der Abgeordneten. Siweite Auflage. (Berlag von Franz Bahlen,

Berlin. Kartonniert 3 Mart, poftfrei 3,10 Mark) Die auögezeichnete Arbeit de3 Verfaſſers ftügt fich auf feine Mitarbeit an dem Zuftandelommen bed Geſetzes bei ben Beratungen im Plenum und in ber Hommiffion des Abgeorbnetenhaufes. Sie wird, nachdem bie erfte Auflage fhon wenige Monate nach dem Erſcheinen vergriffen war, aud in der giveiten, unter Berüdfihtigung ber feitbem erfchienenen Literatur revibierten Auflage jedem außerorbentlich nüglich fein, dem das neue Geſetz neue Aufgaben

Aygienisches.

Die noch vielfah übliche Methode, Mund und Zähne nur mitteld Zahnpulver oder Zahnpafta zu reinigen, ift eine ganz verfehrte. Das heißt verfehrt, wenn man beabfichtigt, feine Zähne gefund zu erhalten. Und das, meinen toir, ift doc der Zwed der gangen Zahnpflege. Ber feine Zähne gefund erhalten will, muß fih unbe: ' dingt daran gewöhnen, Mund und Zähne mitteld einer antifeptiichen Slüffigteit zu reinigen. Die Babnreinigung mittel® Zahnpuiver ober Zahnpafta tann nie und nimmer die Zähne vor Berderben fgügen. Aus dem einfachen Grunde nit, weil | gerade diejenigen Stellen, welche am cehbejten an- ! faufen, wie Rüdfeiten der Badzähne, Zahnfpalten,

Zahnli den u u. |. w., bei der Zahnreinigung mittel Pulver oder Baftaı unbeheiigt bfeiben. Da fault «8 alfo ruhig weiter. Cine Flüffigteit dagegen Tann überall hinbringen, und wenn fie antifeptifch

"it, wirkt fie den zahngerftärenden Progeflen ent-

gegen. WS ein zuverläffig antifeptifch twirkendes Präparat ift in erfter Zinie das belannte Obol zu nennen. Die Afepfis (Freifein von Fäulnid und Gärung) de Mundes und ber Zähne ergiebt ſich beim Gebraude dieſes Mundwaſſers vornehmlich durch bie merfivürbige Eigenart des Dbolß, daß ed fi in die Zaßnfleifchfhleimpäute und in die hohlen Dame einjaugt, bier gewiſſermaßen einen anti: feptifchen Vorrat zurüdläßt, welcher no ftunben: Lang fortwirtt. Die Zähne werden durch regel: mäßige Obol:Reinigung vor Hohliverden geſchubi.

640

verfertigten Apparaten und um: geihulten Leuten, nad) enblofen Schwierigleiten und emormen Gelbopfern, gelang «3 ihm fchlieh- lich, regelrechte Vohrlocher von 120—130 m Tiefe bis in bie naphthaführende Schicht herunter: zubringen, dieſe zu verrohren, die Ropnaphiha dur Scöpfen zu Tage zu fördern, das gewonnene Gemenge von Naphtha, Waſſer, Sand u. ſ. w. in großen Holy: gefäßen medanifh zu trennen und jodie Rohnaphtha zugetvinnen, melde den Grundftoff für das wertvolle Heilmittel Naftalan ab: geben follte. Gortſetung folgt.) *

Originalrezept. Ein: gemachte, gebackene Mat: relen: KRochtauer 3 Stunden. 6 Rerfonen. 2 kg Matrelen merden gewaſchen und in zwei langen Filet® von den Gräten abgelöft. Man beftreut die Fiſche mit Saly und läßt fie eine Stunde liegen. Dann werben fie in Mehl, geihlagenem Ei und Beikbrot: Irumen umgedreht und in kochen: dem Fett 1), Stunde braun und gar gebaden. Die nun aus ber Pfanne genommenen Stüde legt man nebeneinander auf große Schüffeln und läßt fie abtüfen.

Dann werben die Matrelen in einem großen Steintopf lagen: weifemit Swiebelfceiben, Lorbe⸗ blättern und Pfefferlörnern ein: gepadt. Unterbefien hat man 2 1 gewöhnlichen Weineffig auf: gekocht, läßt denfelben vollſiändig erfalten, rührt 3—4 Theclöffel Maggivürze träftig darunter und füllt dies über bie Matrelen. Man bindet den Steintopf mit Pergamentpapier zu, ftellt ihn äinige Tage an einen Falten Ort und fann dann beliebig davon gebrauchen. M.v. B.

c „Die Fran“ kanu db die Poſt (Boftzeitungstifte ferner direkt von der ( handlung, Berlin S. 1-' Inland 2,30 TRR., nad)

Ale für die Mi eines Bamens an Die i u adreſſieren.

Anverlangt eing beigulegen, da w.

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642 Zur Kriminalität der Gefchlechter.

lichen Gefchlechtd. Als Durchfchnitt ergiebt fih, daß von 1000 Perſonen weiblichen Gejchleht3 rund 20, von 1000 Perfonen männlichen Geſchlechts 104 wegen Verbrechen und Vergehen verurteilt wurden.

| Leider fteht und feine derartige Statiftif andrer Länder zur Verfügung, um einen Vergleich anzuftellen; ein jolcher würde dieſem Beitrag zur Pſychologie der Gefchlechter erhöhten Wert verleihen. Aus dem aber, was Kulturgefchihten und Sittenbilder und zur Kenntniß bringen, dürfte e3 fein Fehlſchluß fein, anzunehmen, daß das Kriminalitätsverhältnis der Gejchlechter in den verſchiedenen Nationen nicht wejentlich variiert. Zugegeben, daß es unter den Männern mehr „rüftige”, pofitive, unter den Frauen mehr „ichmelzende”, negative Naturen giebt, zugegeben, Daß die Reibungsflächen, an denen der verbrecherifche Funke fich entzlindet, fich dem Manne gewaltſamer aufdrängen als dem Weibe, jo bleibt immer noch ein Reſt, die Größe des Unterſchieds iſt damit nicht völlig aufgeklärt. Auch darf nicht vergeflen werden, daß unfere Zeit mit ihren Arbeitsanforderungen, mit ihren Rampfanfprühen an bie Frau die fogenamnten negativen Naturen umzuwandeln beginnt, daß fie das Latente auslöſt und frei macht, und daß die Neibungsflächen auch für die Frau ſich mebren, feit fie nicht mehr allein ins Haus gehört. Diefes Schleifen, Weden, Umbilden, Nehmen und Geben der Zeit war anfänglich ein langjames, doch fteigert es fich bis zur Vervielfachung, je länger es fich bethätigt; jedes Jahr beweift es dem Sehenden. Trotz diejer Amwandlungen jprechen die legten fünf Jahre jener zehnjährigen Periode noch mehr zu Gunften der Frau und zu Ungunften des Mannes als die erften fünf Sabre. Die Frau betrat neue Gebiete, verließ fchügende Mauern, war auf fich felbit geftellt, mußte hinaus ins feindliche Leben, geriet in taufend neue Verfuchungen und doch verlor fie nicht, wa fie befaß. Sie mußte im Kampf ım das Dafein gleichen Schritt mit dem Manne halten, fie holte ihn vielfach ein, aber in diefem Punkte blieb fie zurüd, weil fie fich jelbft getreu blieb.

E3 müjjen der Frau alſo moralifche Dualitäten eignen, die mehr als negativen Wert haben, weil fie fich nicht auffaugen laſſen. Sittlichfeit ift nicht nur ein rocher de bronce, an dem fich bricht, was nad) Vernichtung ftrebt, fie ift eine Jchaffende Macht, ein Fruchtträger, wenn fie auch nicht nach Art der Intelligenz wirft. Ein? ihrer Elemente iſt das Verantwortlichfeitsgefühl, das ſelbſtſüchtige und felbftherrliche Iſolierung ausfchließt, und freiillig Gott und den Mitmenſchen mit in die Berechnung bineinzieht. Verdichtet fich fol ein Berantwortungsgefühl unter Beftrahlung der Intelligenz zu einem feften Kern, einem Prinzip, das ſelbſt Licht aufgefogen hat und eine Leuchtlraft befigt, die die Umgebung erhellend durchdringt, Jo wird es zur Melt: anfchauung.

Das Verantivortlichteitsgefühl, dieſes Urelement aller Sittlichkeit, das dem Selbft: erbaltungstrieb gleichberechtigt zur Seite ftebt, bereit fich ihm zu vermäblen, ift in den Frauen ftark geworden, das ift die pofitive moralifche Qualität, die fie einzujegen haben und die fie zu Gewinnenden macht, wenn man die Gefchlechter an dem unbeug— famen Maße der Kriminalität mißt, einem Maße, an dem fi) nicht drehen und deuteln läßt. Nach feinen Wirkungen zu fchließen, bat der Verdichtungsprogeß ſchon begonnen, -der es über das Individuelle, das Zufällige erhebt; die Frauen gelangen zu einer Weltanſchauung, einem feiten Prinzip. Das ift eine Stärkung des Pofitiven, denn mit dem Erkennen fchließt foldy ein Prozeß nicht ab, es ift die Vorftufe der Zweck— jegung, des beiwußten Eingreifens und Handelns zur Erfüllung des Zived®.

Mondnacht am Jugerfee. 648

Sehen wir fo langfam, weil ungepflegt, das Pofitive in der Frau fi) entfalten und Boden gewinnen, immer in Gefahr, der Luftzufuhr beraubt, wie ein Schädling niebergehalten oder gar vernichtet zu werben, fo regt ſich's wie Auflage in all den twägenden Gedanken, daß der Staat diefen Strebenden, diefen Tüchtigen, dieſen Ernte: verfprechenden fo gar nicht aus eignem, freiem und erfennendem Entjchließen bie Hand bietet.

Bir fünnen annehmen, daß die verurteilten männlichen Perfonen zum mindeften dem Staat fünf mal fo viel Loften wie die verurteilten weiblichen Perfonen. Werfen wir dieſes Plus und diefes Minus zu dem Plus und Minus für Schulen aller Art, dann fleigt uns etwas wie Schamröte ins Geſicht.

Wo bleiben die Fortbildungsfchulen für Mädchen?

Alle Lebensverhältniffe, man ftudiere nur die Verichte der Gewerbeaufſichts- beamten über die Fabrikarbeit der Frau, reden dieſelbe eindringlihe Sprache, aber nur die Gebundenen leihen ihr dad Ohr und verftehen fie.

Da liegt Land brad. Was der Wind an Samenförnern binauftrug, trägt reiche und gefunde Frucht; aber die das Saatlorn zu verteilen haben, hätten ein wenig weiter zu wandern von ihren vollen Speichern aus, und der Weg zeigt noch feine ausgefahrenen Gleife, er ift unerprobt. So benimmt fi die Gewohnheit wie eine Heilige, fie thront felbftficher in ftolger Unnahbarkeit.

er

Bonsnaht am Zugerſee.

Su ift die Nacht. Der alte Gaufler Mond Spielt auf dem See mit feinen gold'nen Tellern. Und dag zum Schein auch Klang den Laufcher lohnt, Schallt in die Nacht hinaus ein leifes Trällern, Schnalzende Sifche. Irrend' Sunkenjprüh'n.

Ein Schwärmen gold’ner Mücken auf den Wellen, Ein Gligern, Riefeln, Wandern und Derglüh'n,

Dem Tanz gleich abendtrunfener £ibellen.

Was fällt dort fchattenhaft ins £icht hinein? Das Spiegelbild des Nigikegels in den Fluten. Dort fehlummert Arth in Duft und Mondenfchein. In Gligern fanft zerrinnen dort die Gluten. Verwirrt ſchau' ich auf alle diefe Pracht, Geblendet wie vom Glanz vom heil'gen Grale. Wie eine große gold’ne Srüchtefchale

Erglänzt der See, ein Prunkgerät der Nacht.

Waurire von Sfern. ER 7 BR

41*

614

Allerlei Öharakterifiifhes zum Hortfhritt Ser Frauenbewegung.

Bon

Ile Erkart.

an

Nahdrud verboten.

WI) zum erftenmal über bie Zulaffung der Frauen zu den Univerfitäten und zu den

© willenjchaftlichen Berufen. Die deutfchen Frauen verbandelten über diefe Frage freilich jchon ſeit 25 Jahren, aber die deutjchen Landtage hatten „noch feine er: anlaffung gehabt”, fih damit zu befchäftigen. Als man eine Weile hin und her geftritten hatte, ob die Unterrichtsfommiffion bei der Vorberatung der Srauenpetitionen, mit denen man e3 zu thun Hatte, bejchlußfähig geweſen ſei oder nicht, wurde die ganze Angelegenheit jchließlich won ber Tagesordnung abgeſetzt. Man wollte dem Kultus: minifter erft Gelegenheit geben, einen für die Arztinnenfrage zuftändigen Vertreter zu Ihiden. Augenicheinlih war man erleichtert, den „heiklen“ Gegenftand noch einmal für ein Jahr ad acta legen zu können. Hatte doch in der vorangegangenen Sigung eine® der Kommijlionsmitglieder, als ganz gegen feine Erwartungen die Frauen petitionen ernfthaft verhandelt wurden, erzürnt feine Sachen zufammengepadt und das Zimmer verlaffen, weil es ihm zu „phantaftifch” wurde.

Verſchiedene deutfche Landtage, die biß dahin „Feine Veranlaffung“ dazu gehabt hatten, erwogen in jenen Tagen die Frage de3 Frauenftudiumd. Da ift manches Wort gefallen, das gleich dem der Mädchenfchullehrer, „das deutſche Mädchen müſſe gebildet werden, damit der deutfche Mann fich nicht Iangweile”, in den Annalen der deutfchen Frauenbewegung aufbewahrt zu werden verdient. Es fei durchaus über: füffig, meinte damals einer der Volksvertreter, den Wirkungskreis ber Frau zu er: weitern; er genüge vollfommen. Es handle fich nur darum, den richtigen Punkt in biefem Kreis zu finden. Gute Köchinnen 3. B. feien immer gefucht und gut bezahlt. Zuweilen wieſen auch Huge Gegner auf da Schredgejpenft des weiblichen Richters oder gar des weiblichen Parlamentarier® am Ziele ded Weges, den ahnungsloſe Gönner der Frauenbewegung zu befchreiten gedachten. Und diefer Hinweis verfehlte feine Wirkung felten. Aber aud) der Auzblid auf den Einzug der Frau in bie Univerfität und das gemeinjchaftliche Studium der Gefchlechter ftimmte bedenklich.

Kingsley bat einmal gelagt, jede neue Wahrheit erlebe auf ihrem Wege durch die Entwidlung der Menfchheit drei Phaſen. Zuerft jage man, fie fei falſch, dann, fie jei gegen die Religion, und jchließlich, jedermann habe fie fchon lange gewußt, fie jei ſelbſtverſtändlich.

Optimiften und die Frauen thun gut daran, optimiftifch über ihre Sache zu benfen finden heute ſchon Beiveife dafür, daß der Gedanke der Frauenbewegung

Allerlei Charakteriftifches zum Fortfchritt der Frauenbewegung. 645

in jenes dritte Stadium fberzugchen beginnt. Zuweilen gewinnen diefe Beweife über: zeugende Kraft auch für fleptifcher Urteilende.

In einer Verfanmlung des Vereins fludierender Frauen ſprach vor wenigen Wochen vor einem großen Kreis von Frauen und Männern, Studierenden und Gäften, Herr v. Gerlach über dad Thema: „Die Frau und das öffentliche Leben.” Schon der Charakter der Verfammlung möchte den Herren, die vor zehn Jahren die Frage des Frauenftudiund gar feiner ernften Behandlung wert hielten, überrafchend

. gewefen fein. Seit mehreren Semeftern ſchwankt die Zahl der Studentinnen an der Berliner Univerfität zwifchen 300 und 400. Ihre Anweſenheit in den Auditorien ift, wenn auch noch nicht formel, fo doch thatfächlich felbftverftändlich geiorben. Und allmählich Hat ſich zwifchen ihnen und den Studenten jene gefunde „Communion of Labow‘“, jene glüdliche „Gemeinfamkeit der Arbeit” entwidelt, die eine der erften Führerinnen der englifchen Frauenbewegung als eigentliche Biel ihres Strebens hinſtellt. Sie ift noch felten in Deutfchland, und man bat wohl behauptet, daß fie deutfchen Traditionen zu wenig entipreche, um überhaupt bei und im Verkehr ber Gefchlechter zum Ausdrud kommen zu können. Daß von vielen Studenten und Studentinnen dieſer neue, kameradſchaftliche Ton gefunden ift, mag für die künftige Entwidlung ber Frauenbewegung bedeutungsvoller werben, als manches einzelne Zugeftändnis der Gefeggebung. Es ift ein Fortfchritt jener inneren Entwidlung, bie der Veränderung äußerer Formen vorausgehen muß, die fich in ihnen erſt materialifiert. Zreilih, Heut wird man aus dem fröhlichen Genießen des werdenden Neuen noch oft genug zu der Erfahrung gewedt, daß noch recht viele nichts won dem wiſſen wollen, mas einem oft ſchon über das Diskutiertwerden hinaus als felbftverftändlich erſchien, daß die Frauenbewegung den Charakter eines Kampf ber Gefchlechter noch nicht verloren bat.

Man braucht nur an die drei Auflagen bes Buches über den phyfiologiichen Schwachſinn des Weibes zu denfen, oder an die Bemühungen bed Herrn Profeflor Koßmann, einer Bewegung, die er nicht aufhalten kann, wenigftend noch bier und da ein Heines Gewicht anzupängen. Das legte ift die auf feinen Antrag befchloffene Eingabe der brandenburgifchen Ärztefammer an den Reichstag, um die kürzlich erfolgte erfte taatliche Approbation von zwei Arztinnen, die auf Grund der Schweizer Maturität zugelaffen waren, womöglich noch rüdgängig zu machen.) 8 trifft fih ja, dag in denfelben Tagen die beiden erften deutfchen Mebdizinerinnen, die alle Borbedingungen rite erfüllten, die ftantlihe Approbation erlangten.

So fieht man wohl getroft all diefe Hemmungen an wie bie geftrengen Herten, die, wie jeder weiß, in den legten Tagen des Spätfrühjahrs nod einmal kommen müffen.

Ein andre aus jener Berfammlung erfdien noch mehr wie eine glüdliche Prognofe für die Zukunft. Der Vortrag behandelte die Frau und das öffentliche Leben oder, um die vorfichtigere Faſſung durch die prägifere zu erfegen „die ' Frau und die Politik.“ Vielleicht iſt es das erſte Mal in der Gefchichte der deutfchen Frauenbewegung, baß von einer aus ben verjchiedenften Elementen bunt und zufällig zufammengetvürfelten Verfammlung die Forderung des Frauenſtimmrechts als das feloRverftändliche Ziel der Frauenbewegung widerſpruchslos anerkannt, ja als ſolche

) ©. Frauenleben und :Streben.

646 Allerlei Charalteriftifhes zum yortfchritt der Frauenbewegung.

gar nicht einmal in die Diskuffion gezogen wurde. Wohl wurde von einer Zeur fonftatiert, daß ihre Erfüllung ſoviel Schatten= wie Lichtjeiten haben würde; daß dir: Erfüllung kommen müſſe, ftellte feiner der Diskutierenden in Zweifel.

Es ift für den Deutſchen gewiß leichter, an eine gelebrte Frau zu glauben, al an eine, die Politik treibt. In feiner Hinficht Hat der Deutſche ſein Frauenideal un: ſoviel unflarer Sentimentalität ausgeſtattet, als in bezug auf ihre Stellung zuu Baterlande.

Einerjeit3 Hat man von konfervativfter Seite immer wieder die deutſche Muttcr gepriefen, die in ihren Kindern die Liebe zum Baterlande, den Stolz auf feine Errungenfchaften in Krieg und Frieden, die Begeifterung für feine großen Männer weden und pflegen fole Man bat der Mäbdchenfchule eine „nationale” Grundlax: gegeben und verlangt, daß fie ihren Schülerinnen das Verſtändnis für die Aufgaben, die Kultur, die Entwidlung Deutfchlands erfchließen ſolle. Man erzählt ihren ven ben Frauen, die jelbjt mit in den Kampf zogen, und von den Fürſtinnen, die div Geſchicke ihres Landes zu überjeben und zu leiten verftanden. Und dann verlangt man von ihnen, daß fie fich jedes eignen Urteils begeben, fonfervativ mit dem fonfervativen Bater und dann womöglich Liberal mit dem liberalen Gatten denken, nie mehr ein felbjtändiges Intereſſe für die Kulturfragen ihres Vaterlandes befunden, jondern ſich damit begnügen, dem Gatten zu Saifer® Geburtstag die Ehrenzeichen anzufteden, die Kinder vaterländifche Lieder zu lehren und ihnen Schärpen zu nähen.

Es war charakteriftiich, daß man jeiner Zeit in der Tagespreffe da3 öffentliche Eintreten de3 Allgemeinen Deutſchen Frauenvereinz für die Flottenvorlage wohlwollend begrüßte, während man die Erklärung einiger Frauen gegen die Getreidgölle als etwas durchaus Unpaffendes und Unweibliches binftellte. Man will den Patriotismus der deutichen Frau in den Formen jener Zeit feithalten, da man den deutſchen Mann auch nur zu nationalen Pflichten rief, wenn es hieß, das Vaterland nach außen zu verteidigen, ihm aber feinen Teil an der Arbeit des innern Aufbaus gab. Dean vergißt, daß der Schwerpunkt der nationalen Aufgaben mehr und mehr auf da3 Gebiet der inneren Politik gerücdt if. Da müſſen auch die nationalen Intereſſen heute eine andre Nichtung nehmen, als zu der Zeit, da die deutiche Frau die Wagen: burg verteidigte und der Mann ihr das aufgezäumte Schlachtroß zur Brautgabe brachte, als ein Zeichen, daß fie jeine Gefährtin wie im Frieden, jo im Kriege fein ſolle. Die deutfchen Mädchen hören es in der Schule mit Stoß, daß die deutſchen Frauen zu fo hohem Dienft berufen waren, um nachher zu erfahren, daß fie heut: zutage nur die himmlischen Roſen ins irdifche Leben zu flechten haben.

Aber auch darin beginnt der Wandel, wenn auch erſt langſam. Und daß es jegt Schon Männer giebt, für die e3 auch felbftverftändlich ift, daß die frauen an der Kulturarbeit ihrer Nation ihren vollen, unverfürzten Anteil haben, daß die afademifche Sugend für diefe Forderung eintritt, wie es an jenem Abend geſchah, läßt die Zeit nicht mehr zu fern erfcheinen, wo die Frauenbewegung ihr Ziel: Communion uf Labour auf allen Gebieten erreichen wird. |

647

Bon

Palesca Jachel.

Radıprud verboten. u enn Friedländer fagt, daß zwar alle Darftellungen römischen Lebens unvoll: ftändig bleiben müßten, daß dies aber am meiften vom Leben der Frauen

elte, „von dem fich zufammenhängende Anfhauungen am ſchwerſten gewinnen laffen“, 0 hat er unzweifelhaft bis zu einem gewiſſen Grade recht; denn zu allen Zeiten wurde vom Manne das Frauenleben als etwas fo Unwichtiges betrachtet, da die bezüglichen Nachrichten in den Duellen aller Völker fich nur ganz zerflreut vorfinden. Dennoch wird der, der genauer zufieht, in den römischen Überlieferungen noch manches bisher Unbeachtete antreffen und nmamentlih folde Mitteilungen, die den bergebrachten Meinungen über bie der Heidin erwieſene Nichtachtung durchaus wiberfprechen. Allerdings fanden die Frauen Roms während der älteren Jahrhunderte gleich den erwachſenen Söhnen in der Mundſchaft; fie erbten nicht, Magten und verteidigten fi nicht, konnten verkauft und getötet werden. Aber dieſe Barbarei bedeutete nicht im mindeften eine Vergewaltigung durch den Starkeren, fondern fie berußte auf den Gefegen der Religion!), und fo lange der Ahnenglaube in Kraft land, richtete der römiſche Hausvater, von religiöfer Scheu gezügelt, vor den Augen der gefürchteten Ahnengötter?). Zudem feheinen mehrere Nachrichten, die eine ſehr hohe Achtung vor dem weiblichen Gefchlecht befunden, den Schluß zu fordern, es habe der Römer der älteften Zeit nicht anders als es für dem Inder und Hebräer bezeugt wird, das Gedeihen der Häufer von einer guten Behandlung der mater familias, der Haus: priefterin?), abhängig geglaubt. Nicht nur daß der ältere Cato, der bekanntlich gern altertiiimelte, eine uralte und heimifche Anficht ausgeſprochen haben dürfte, wenn er fagte: „Ein Mann, der feine Frau oder feine Kinder fchlägt, entweiht durch ruchlofe Hände das, was das Heiligfte und Geweihtefle in der Welt ift.“ Die Thatjache, daß während der erften fünf Jahrhunderte des Beſtehens der Stadt feine Eheſcheidung fattfand, ift ein Umftand, der, wenn man ihm mit verfchiedenen Gebräuchen vergleicht, nicht die Annahme zuläßt, er fei das Ergebnis männlicher Härte geweſen. Die Braut betrat nach einem alten Herkommen die Schwelle ihres neuen Heims mit den an ihren Bräutigam gerichteten Worten: „Wo du Hausherr bift, bin id; Hausherrin“; auch empfing die Hausmutter bis zum Untergange Noms von allen Familiengliedern, den Hausherrn miteingefchloffen, den Titel „Herrin“. Jeder Bürger Hatte den frauen bie von ber Gefelligfeit in feiner Weile ferngehalten wurden‘) auf der Straße auszuweichen, und es gab ein Gefeß, demzufolge jeder, der ſich leichtfertige Neden gegen eine Frau erlaubte, vor den Blutrichter geftellt wurde. Zu keinem häuslichen Geſchäfte waren die Frauen verbunden außer zur Anfertigung der Kleider. Eine Verherrlichung des weiblichen Gefchlechts, die mit dem Marienkultus auf einer Stufe fteht, zeigt fi in dem Inſtitut des Veftaprieftertums. Die Veftapriefterinnen befaßen viele und große, fie teilweife über die höchſten Beamten hinaushebende Vorrechte, als deren eined Plutarch erwähnt, daß fie noch bei Lebzeiten des Vaters ein Teſtament

') Zuftel de Coulanges, La cite antique. Paris 1874. ©. 97. ) ebenda 107. 3) ebenda 110. *) Friebländer, Darftellungen aus der Sittengefhichte Noms ... Leipzig 1862.

Die Römerin. 649

hatten frei ausgehen laffen, zur Steuer heran und verminderten die Zahl der befteuerten Frauen von 1400 auf 400.

Das Selbftgefühl der Cäfar-Bändigerinnen ging übrigens aus einer häuslichen Stellung hervor, die an Anſehen teilweife die der älteren Jahrhunderte überbot. Seit den punifchen Kriegen hatten die Töchter Roms mit Hilfe ihrer Väter es durchgefett, ſich durch Ehekontrakte eine Unabhängigkeit zu fichern, die fie oft genug über ihre Männer erhob.) Mit Ausnahme der Mitgift, die in die Hände des Mannes überging, behielt die Frau das freie Verfügungsrecht ſowohl über ihr eingebrachtes Vermögen als über das, was ihr fpäter dur Erbichaft aus dem Vermögen ihres Vaters zufiel. „Auf dieſe Weile ging ein ſehr beträchtlicher Teil des römischen Neichtumd in den unbefchräntten Befig der Frauen über.“ Der „Ichöne Profurator”, der Privatgeichäfts- führer der Frau, den der Ehemann als einen regelrechten Cicisbeo zu dulden und jogar mit Nüdficht zu behandeln Batte?), war fchon zu Ciceros Zeit eine Lieblingsfigur der Zuftfpieldichter und die von reichen Frauen gegen ihre Männer geübte Tyrannei fie follen ihnen bisweilen Geld gegen hohe Zinſen geliehen haben ein ftehendes Thema der Satiriker.?) Jeder Teil konnte die Ehe (öfen, und die Löſung gab beiden Teilen das Recht, ſich wieder zu verbeiraten. Daß von diefer Erlaubnis Gebrauch gemacht wurde, ift häufig genug gefagt worden; das außerordentlichite Beiſpiel der Art Führt Hieronymus an: er verfichert, daB in Rom eine Frau lebte, die an ben breiundzwanzigften Mann als deſſen einundzwanzigſte Lebensgefährtin verheiratet war. Man bat nun jehr viel Aufheben davon gemacht, daß mande Männer, obzwar fie in folchen Fall, uraltem Geſetze gemäß, ihr ganzes Vermögen einbüßten, ihre Che leichtfinnig und willkürlich trennten; nicht aber bat man das Leid und Unrecht in Betracht gezogen, das ebenſo oft dem männlichen Teil durch leichtfertige Löfung von Chen und Berlöbniffen zugefügt wurde. Sulia, die Tochter Cäfard, war mit Cäpio verlobt und follte ihm in wenigen Tagen angetraut werden; da hielt es plötzlich Pompejus für angemeffen, fie zur Gattin zu begebren, und er verfpradh, um den Unwillen des Bräutigams zu bejänftigen, diefem feine eigene Tochter, die dem Fauſtus, einem Sohn Sullas, zugejagt war.) Auguftus zwang feinen Stieffohn Tiberiuß, die Agrippina, die er liebte, zu verftoßen; auch erzählt man, es babe der Beraubte „großen Schmerz” über die Trennung empfunden, und als er der Gejchiedenen einit begegnete, fie mit jo „unverwanbdten und thränenvollem Blick“ verfolgt, daB man Sorge trug, fie ihm nicht wieder vor die Augen kommen zu laffen.’)

Noch find andere Berichte und zwar in großer Zahl, weit über die von Fried: länder angeführten Beifpiele hinaus, vorhanden, die zur Widerlegung der von Gibbon und fo vielen andern erhobenen Behauptung dienen, dem Römer fei zartfühlende, achtungsvolle Liebe etwas Unbekanntes geweſen. Der ältefte Bericht diefer Art ſcheint bie Erzählung von dem Vater der Gracchen zu fein, dem Gatten der berühmten Cornelia; er ließ von zwei in feinem Haufe gefangenen Schlangen das Männchen töten, das Weibchen freigeben, weil ihn ein Wahrfager bedeutet hatte, wenn jenes zuerit jeinen Tod fände, würde er, Gracchus, feiner Gemahlin im Tode vorangehen. Der Senator Cajus Plautius Numida bing mit jo großer Liebe an feiner Gattin, daß er auf die Nachricht von ihrem Tode fich mit dem Schwert durchbohrte und nachdem feine Hausgenofien, bie ihn überrafchten, die Wunde verbunden hatten, den Verband abriß.) Als Marcus Plautius, der nach dem macedonifchen Kriege mit dem Oberbefehl über die Bundesgenoflen-Flotte betraut worden war, feine Gemahlin Oreſtilla duch den Tod verloren hatte, ftürzte er fich neben ihrem Scheiterhaufen in fein Schwert; man legte ihn der Vielgeliebten zur Seite und verbrannte beide auf einmal.) Lepidus, ber befannte Triumvir, mußte fich infolge der Untreue leiner Gattin, da es das Geſetz fo gebot, fcheiden laſſen; aber er ftarb, wie

——

i) Juvenal VI, 210 f. Plutarch, Cato der Ältere c. 8. Legouvé, Histoire morale des ſemmes. Paris 1869. ©. 150. ?) Friedländer I, 273; 274 in Note. °) Lecky, Sittengeſchichte Curopad. Leipzig 1879. II, 254. *) Plutarch, Pompejus c. 47. ?) Sueton, Tiberiud c. 7. *) Valerius Magimus IV, 6,2. °) ebenda IV, 6,3.

Die Römerin. 651

zu eigen geweien find, jo gemährleiflen noch viele Berichte von direkter Art den geiftigen Standpunft der NRömerinnen als einen merkwürdig hohen. Es ilt bierbei nicht nötig, auf einzelne Geftalten zu verweifen, etwa auf die kluge Polla Argentaria, die Gemahlin de3 oben erwähnten Zucan, die im flande war, ihren Gatten bei feinen Arbeiten zu unterftügen, oder auf die Satiriferin Sulpicia, oder auf die in der Redekunſt hervorragende Lälia!), eine Tochter des Redners Lälius, oder auf Cornelia, die Mutter der Gracchen, deren ausgezeichneter Bildung und Er: ziehungsgabe man den Hauptanteil an der Trefflichleit ihrer Söhne zufchrieb, oder auf die jpätere Cornelia, die Gattin des Pompejus, die mit befcheidenem, fchlichtem Weſen und mit zärtlicher Liebe zu ihrem Gemahl eine gediegene SKenntniß der Ichönen Wiffenfchaften, Mufit und Geometrie verband und gewöhnt war, philo- fophische Schriften mit Nugen zu lefen.?) Gleichviel, welches Motiv Epiltet den Nömerinnen unterfchiebt er weiß mitzuteilen, daß fie fih mit dem Studium des platonifchen Staats befchäftigten.?) Nach dem Zeugnis de Juvenal der, beiläufig gejagt, die Männer für den verderbteren Teil des vwerderbten Rom er: Härt*) vermochten nicht wenige Frauen fich trefflich in der griechiichen Sprache aus— zudrüden, entwarfen al® Kläger und Bellagte die Gerichtgreden mit eigener Hand und nahmen e3 in der Kenntnid des Rechts mit den beiten Suriften auf; audy waren fie mit Gefchichte, Litteratur und Grammatit gründlich vertraut, ja nad dem Geſchmack und ehrlichen Bekenntnis des Scharfzüngigen viel zu jehr; denn „dent Manne muß Schniger zu machen erlaubt ſein“.“) Schon zu Dvids Zeit wurden Die Stüde Menanders in Mädchen: wie in Knabenſchulen gelefen, ®) und zumeilen lajen bie Mütter felber mit ihren Töchtern Homer und Birgil.”) Daß die Frauen „Verfe machten, griechifche und Iateinifche, war in einer Zeit des wuchernden poetifchen Dilettantismus natürlich und daß die Dichterinnen ſich gern mit Sappho vergleichen ließen, nicht minder. Machten fie nicht jelbft Gedichte, fo Eritifierten fie fremde”. *) Irrt Friedländer fich nicht, jo befaßen die Römerinnen „ehr gewöhnlich” die Fertigkeit, ' eigene Verſe oder die Gedichte andrer nach ſelbſt gejegten Melodien auf der Laute vorzutragen.*) Auf antiken Bildern ſieht man überrafchend Häufig Malerinnen dargeftellt; auch wird von einer gewiffen Sata, die lebenslang Jungfrau blieb, berichtet, fie Habe ſowohl mit dem Binfel ala mit dem Grabftichel Bildniffe ungemein ſchnell und fo vorzüglich berzuftellen verftanden, daß fie weit beffer bezahlt wurde als bie berühmteften Maler ihrer Zeit. 1%) Endlich ift es ein für den feeliihen Wert der Römerinnen höchſt ehren: voller Zug, daß Meinungsäußerungen wie die des Frauenhaſſers Cato, jobald bei öffentlichen Beratungen die echte der Frauen zur Sprade kommen, gewöhnlich zurücdgewiefen werden. Als Gato mit Bezugnahme auf dag Oppiſche Gefep tiber die „Unbändigfeit” der römifchen Weiber fich ereiferte, warf Lucius Valerius fih zum Derteidiger der Frauen auf und führte ihre Sache durch. Als Severus Cäcina den Frauen die in der Provinzverwaltung auftretenden Mißſtände zur Laſt legte, erfuhr er den heftigen Widerfpruch der Majorität, und Valerius Meffalinus antwortete: „Vergeblich wolle man dem Mangel an Mannheit bei den Männern einen fremden Namen unterlegen; e3 ſei doch nur de Mannes Schuld, wenn das Weib aus den Schranken gehe.“1) Als Metellus in feiner Rede über die Ehe die Frauen als ein notwendiges Übel bezeichnete, übernahmen ſofort mehrere Redner die Ehrenrettung des weiblichen Geſchlechts; fie erklärten, es rührten die libel der Ehe in den meiften Fällen von den Fehlern und Ungerechtigkeiten der Männer ber. !?) Sp blieben auch, wie Plinius überliefert, felbft diejenigen „Lärmreden” 3) Catos, in denen er die uralte und vielgepflogene 1?) Sitte anfocht, Frauen auf Gemeindeloften durch

) Duimtilian I, c. 1. ) Plutarch, Pompejus c. 55. ?) Epiltet, Handbüchlein der Moral. Überf. v. Stih c. 58. *) Juvenal II, 36 ff. 5) Juvenal VI, 455. °) Friedländer III, 275. ’) ebenda J, 265. 9) ebenda I, 290. ®) ebenda I, 267. 10) Plinius, Naturgefchichte. Stuttgart 1840. S. 4017. !') Tacitus, Jahrbücher. Über. v. Gutmann. IH, c. 1. '*) Gellius, Oeuvres complenen. Przis bei Garnier freres. I, c. 6. 19 Plinius, Naturgeſchichte 34, c. Id. 1) Fried: änder III, 168,

662 Die Römerin.

Standbilder zu ehren, ohne jeden Erfolg; man fuhr fort, deren in den Provinzen und in der Hauptfladt zu errichten, und e3 werden u. a. für Nom ein Standbild der Veſtalin Suffetia erwähnt, eines der Cornelia, drei Standbilder der Sibylle und ein Reiter Kanbbild der Clölia. Auch fuhr man troß Cato fort, den Frauen die größte Freibeit im Verkehr zu gewähren, jo baß fie, einerlei ob jung oder alt, ohne Begleitung im Theater, im Zirkus, in den Tempeln und bei Gaftmäßlern ericheinen burften Ja, man fuhr fort, den Frauen einen fehr häufig!) gelibten und oftmals recht günitigen Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten zu geſtatten. So trat Pulvia, die Ge— mahlin des Antonius, das Schwert an der Seite, den Helm auf dem Haupt, vor die von ihr gefammelten Legionen, hielt Anfprachen an die Krieger und verrichtete alle Gefchäfte eines Feldern. Tiberius ließ fih in allen Dingen von Antonia, der Teufchen Witwe des Drufus, leiten.) Als die Beſatzung von Caftra Betera im Jahre 15 n. Chr. die Nheinbrüde abbrechen wollte, weil dad Gerücht laut wurde, es fei das römifche Heer vernichtet und dasjenige der Germanen in vollem Anmarid begriffen, widerfegte fich Agrippina, die edle Gemahlin des Germanicus, dem Beginnen und ſah zu ihrer Freude bald darauf vier übel zugerichtete Legionen die Brüde befchreiten. Auch Weiterhin vertrat fie die Stelle ihres abweſenden Gemahls, indem fie die Mufterung über bie Geretteten abhielt, Kleidung und Verband fpendete und ihnen den Dank des Vaterlandes ausfprad.”) Daß die Kaiferinnen ihre Gatten auf den Kriegäzügen begleiteten, war elwas ganz Gewöhnliches; Cäfonia, die ſechſte Gr: mahlin des Caligula, pflegte im Soldatenrod neben dem Kaifer eingerzureiten. Von anderer Sinneart war Plotina, die kluge, ernfte, beſcheidene Gattin Trajans; fo oft der Kaiſer von einer friegerifchen Unternehmung in Anfpruch genommen war, führte fie die Negierungsgefchäfte. Und ſolche Negentichaft fteht nicht vereinzelt ba; auch unter felbftthätigen Kaifern nahmen die Kaiferinnen häufig an der Regierung bedeutenden Anteil.) Sogar Auguftus, einer der größten Staatdmänner aller Zeiten, ließ ſich oftmals von feiner Eugen Gemahlin leiten; ja, „man erzählte fi in Nom, daß er nie mit Livia ein wichtiges Geipräch führe, ohne ſich fhriftlich darauf vorzubereiten“. °) In den Provinzen ſah man vielfach die Gemahlinnen der Statthalter den Übungen der Truppen beiwohnen, fi unter die Soldaten mifchen, von Genturionen umgeben; fie beteiligten fih an den Geſchäften, und die Provinzialen mußten zwei Hofhaltungen ihre Aufwartung machen und hatten mitunter doppelte Erpreſſungen zu erleiden.) Vielleicht am deutlichſien charakterifiert den weitgehenden Einfluß, den die Nömerinnen ſich zu verfchaffen mußten, das Schlußwort der bereit3 erwähnten, von Gäcina gegen die Frauen gehaltenen Rebe: fie beherrfchten, „der Feſſeln ledig, Käufer, Gerichte und bereit8 auch Heere.“

) Ley a. a. ©. II, 254. 2) Flavius Joſephus, The Antiqnities of the Jews. Über!. v. Whiſton. London. XVII, c. 6. 3) Tacitus, Jahrbücher I, 69; vgl. Klemm, Die Frauen. Dresden 1859. III, 99. *) Zriebländer I, 288. 5) ebenda. 9 ebenda.

—>- der Sinzig >

Roman

von

G. Pelp.

Nachdrud verboten.

Aawinete Wagner ſchiebt das weiße Morgenhäubchen auf die blonden Haare; ſie hat die ganze Nacht nicht geſchlafen, immer angeſtrengt auf jede Bewegung von Fritz nach der angelehnten Thür hingehorcht. Er iſt merkwürdig ruhig geweſen, kein Stöhnen, Herumwerfen, Seufzen. Und welchen inner⸗ lichen Kampf wird er gekämpft haben! Ihr armer, armer Junge! Seinem Herzenstraum entſagen ſollen, das kann nicht leicht ſein, dem weichen Gemüt ihres Fritz gewiß nicht. Wie Ihwer wird es ihr ſchon, an die Etelle, wo die Tiebe, lachende Mile geweſen, Emmy zu ſetzen. Die wird ihr immer fremb bleiben. Sie allein hat's doch gejeben und mahr: genommen, was in dem jungen Menfchen vorging. Und foll nun aus fein. Reif ift über Nacht gefallen. Sie hat ihre leifen Thränen getrodnet, ihre Hände gefaltet. „Gott, gieb, daß er’3 hinnimmt und trägt, nad deinem Willen, was fein Vater nun einmal will!” und wieder Thränen und wieder die Bitte. Stunde um Stunde ift verronnen, jede hat die alte fchnarrende Standuhr auf dem Eftrihvorplag da draußen angezeigt. Wenn fie nur müßte, ob ihr Junge ge: ſchlafen hat.

Das Gefiht ift bla, das ihr aus dem Epiegel entgegenfteht, und dunkle Ringe liegen unter den Augen. Das Leben ift ihr ſchwer, jehr fchwer geweſen in all der Wohlhabenheit des Hauſes. Nun bat fie gemeint, es wäre ihr fchuldig geworden, daß es ihrem Einzigen gut geben müßte. Mber, da ift bald die Krankheit gefommen und bat ihn zu einem Eorgenfinde gemacht. Und nun?

Sie trägt ein graues Morgenfleid, einen

.IRANLUTTMUUG

(Schluß von Seite 619.)

Ichlichten, meißen Halsfragen und faßt nad) der fauberen, blauen Küchenjchürze mit dem frifchgebügelten Knid.

Der Tag ftellt feine Anforderungen wieder an fie.

„Bit du Schon auf, Mutter?” klingt es aus dem Nebenzimmer.

„Ja, mein Junge!” und fie unterbrüdit den Seufzer.

„Dann will ih auch —.”

Sie faßt nah dem Schlüſſelkorb und fommt an die Thür.

„Ad, nein doch, bleib man noch liegen. Erbol’ dich.”

„sb bin ganz Träftig.”

Sie geht hinein, zieht den Vorhang auf, daß die Sonne einfällt, und tritt dann an fein Bett. |

„Haft ſchlafen können?“

„Ganz gut.“

Sie verſucht zu lächeln. „Das iſt aber recht geweſen,“ meint ſie und ſtreicht ihm das volle Haar aus der Stirn und ſetzt ſich auf den Rand ſeines Bettes. „Und ein ſchöner Tag wird!“

„Glaubſt du das wirklich, Mutter?“ fragt er. „Ich meine, es wird wohl ein ſchwerer ſein!“

„Ach, mein Fritz, mein Fritz!“

Er richtet ſich auf, und wie ſie in ſein Geſicht ſieht, dünkt es ſie, als ſei ein fremder Zug hinein gekommen. Den einen Arm um ihre Schulter gelegt, mit der anderen Hand über ihre Backen ſtreichend, ſagt er: „Arme Mutter! Was für ein ſchweres Leben haſt du gehabt. Immer getragen, getragen, ge— tragen!“

654

Eie fieht zu Boden, auf das Mufter des Heinen Teppich bin, der vor dem Bett liegt Roſen und Tulpen.

„Mein Junge, das ift ja wohl das Los der meiften Yrauen. Es fteht in der Bibel fieh, das babe ich mir immer vorgehalten —“

„Wenn er dich gar zu fehr tyrannifierte.”

„Ad, laß das!“

Nun ftreichelt er ihre Kleinen, fleifchigen, verarbeiteten Hände.

„Der große, große Egoift!”

„Fritz, das liegt in den Männern, fie find die Herren, fie haben den Willen!”

Langſam fchüttelt der junge Menfch den Kopf. „Ih mil es dir gleich fagen, id füge mih nicht. Sch laſſe mich nicht mie eine Ware behandeln.”

„Fritz!“ Wie am geftrigen Abend ſieht fie ihn mit großen, erfchrodenen Augen an.

„Ich heirate Emmy Roth nicht!“

Set weiß fie, was das Fremde ift, das fie in feinem blaſſen Geficdht entdedt hat: Ein fefter Wille, der über Nacht über ihn ge= fommen it.

„Fritz!“ Sie rüdt ein wenig von ihm ab. „Mein lieber, lieber Sunge! Was foll dir denn anders übrig bleiben? Er will es doch nun einmal!”

„Und nun und nimmer gebordy’ ich!“

„Wegen Mile!” flüftert fie.

Ein rofiger Schein Tommt über feine Baden, und feine Augen glänzen. „Du weißt e3, daß ich fie lieb habe!“

„Ach, mein Herzensfritz!“

„Mile!” Eine Falte rüdt feine Brauen, die dunkler find als fein Haupthaar, faft ganz zufammen.

„Mile!“ Sein Mund zudt, er ſchlingt die Hände ineinander, und fie fieht, wie fich feine Iranfe Bruft hebt und fenft.

„Das wäre das höchſte Glück getvefen,” fagt er mit einem traumberlorenen Blick ins Weite. Dann blendet ihn der Sonnenftrabl, und er wendet den Kopf. „Und ich habe mir eingebildet, er verſtehe mich, als er mich fragte ad, Mutter, ob ich ſchon Eine gern gehabt.”

„Er fragte dich.” Sie weiß es beffer, was er gedacht hat. O, ihr guter, unfchuldiger Junge!

Der Einzige.

„Arme, arme Kinder!”

„Aber, Mutter, wenn ich fie mir aud nicht erfämpfen fann den Willen mit te andern thu’ ich ihm doch nicht.“

Eie ringt die Hände. „Hat er fden mal fein Wort zurüdgenommen? Tas noch Fein Menſch erlebt!”

„Daß ih mich nicht füge, Das wird ır erleben.“

„Darum ſollſt du doch Eichberg nur kriegen.“

Und ſie meint, es hebe ſich da aus der eindringenden Sonne heraus das alte graue Haus mit dem Turm, umſtanden von vielen Bäumen, mit dem freundlichen Roſengarten. den ſie immer angeſtaunt hat, wenn ſie bin kam. Die Blumeroder machen ihre liebſien Spaziergänge nach dort. Mile hatte ſie auf der Schwelle geſehen, an ben blanken Scheiben. zwiſchen den hoben Nofenftöden unb neben ihr den, der ihr einzig Gut und? Glück au der Melt if. ihr Sorgenlint.

Antoinette Wagner ftarrt hilflos wor Tid hin. „Mile giebt er dir nicht!”

„Das glaube ich felber niht. Aber —“

Zwei ſchwere Thränen rollen fiber da? Geſicht der Matrone.

„Die unglüdlid bin ich!”

„Warſt du's nicht immer, arme Mutter?“ Er legt feinen Kopf an ihre Schulter. „Neben einem Menſchen, den bu nicht lieb haben konnteſt.“

Eine ganze Weile iſt's ſtill in dem Raum, die Uhr vor der Thür holt aus und ſchlägt dann heiſer. Die Hähne krähen unter dem Fenſter, das Federvolk wartet auf die Haus— frau, die ihm um dieſe Zeit das Futter bringt.

Dann dreht fi) Antoinette Wagner herum und ficht ihrem Sohne voll ins Geſicht. „Lügen will ich nicht, mein Junge. Sch babe ihn aud) mal lieb gehabt. Bon Herzen. Nicht zuerft, da war ich ihm nur gut. Mir waren ja aud fo zufammengebradyt. Nach meinem Willen hatte midy Feiner gefragt. Dann plößlic) gingen mir die Augen auf für all das, was gut an ihm ift, und daß er fo Hug war und hoch ftand, und er behandelte mich aud gut. Und du kamſt auf die Welt! Sa, id babe ihn lieb gehabt und zu ihm aufgefchen

Der Einzige. 655

und babe ihm jeden Wunſch von den Lippen gelefen und ad), was hätte ich nicht noch tbun tollen und Lönnen.” Sie fdhmweigt, es jchüttelt fie, ald ginge ein Froſt über fie hin. „Aber, das wurde anders!”

„Mutterchen, Mutterchen, er wurde zu dem faltherzigen Egoiften! Nicht, das war's?“ Eie nidt, und dann find fie wieder beide ftill.

Das Schreien und Krähen draußen wird ungebuldiger; fie ſteht mechaniih auf. „Ich muß runter!”

„Dein Junge, mein Frib,” fie bittet mit weicher Etimme, „bedenl' dich noch.”

„Ich fürdte mid nit. Thuſt du es?“

„Warum follte ich's noch? nicht für mid). Dich, mein Zunge, dich —” fie ftoct, fie geht nad ber Thür und fagt von dort herüber: „Geh' ihm menigftend nich’ glei unter bie Augen.”

Zangfam find ihre Schritte auf dem Eſtrich⸗ boden, ſchwer auf der Inarrenden “Treppe. Wenn er fie nur nicht hört. Aber, da ift er fhon, er fteht in der offenen Hausthür, vor fih hinpfeifend. Seine breite, wuchtige Geltalt fült faft die ganze Öffnung aus, und er achtet den Windzug nicht, der über die Diele fommt. Die ſchwarzweißen liefen glänzen noh von der Feuchtigkeit, fie find eben ge- fäubert.

Der große Hund fteht neben ihm, und feine Hand ftreicht über feinen Kopf.

Sa, die Inarrenden Etufen haben fie ver: raten, er wendet ſich halb herum. Sie konnt's ja wiſſen, er ift auch immer pünktlich, die Uhr fann man nad ihm ftellen.

Ehe fie ihm guten Morgen fagen Tann mit einem fcheuen Blid in fein Geficht, ruft er: „Ra, mas macht das Mutterföhnden? aus: geichlafen? will's hoffen, muß ihn Sprechen.”

„Es bat ihn angegriffen, die Hibe, die Menfben —“ murmelt fie.

„Unfinn!”

„Sollteſt man erft rausgehen, Magner.”

„Natürlich! ich geh’ aber nich’ erjt raus! Sch will den Herrn Cohn erſt mores lehren. Schimpf und Schande war's, eine Undankbar- feit fondergleihen. Geſchämt habe ich mich.”

„Ah darım! Bor Rothe!“

„Du!”

Der Schlüffeltorb Hirrt leife an ihrem Arm.

„Lie find nid’ fo, Wagner. Die ver- gefien jo was! Sind ja aud beide nid’ davon ber.”

„So! Er ift aber jebt der Senator Roth und ein reiher Mann, und fie ift feine frau. Un’ in ein paar Monaten find Wir ver: ſchwägert.“

„Willſt du nich' wegen Fritz den Sanitätsrat anrufen, wenn er vorbei kommt?“

Er ſtampft mit dem Fuße auf. „Die ewige Wehleiderei! Nein!“

Die zweite Magd kommt mit dem Kaffee über den Gang. Er wendet ſich ab und geht in die Stube.

Frau Antoinette ſchließt die Speiſekammer auf, entnimmt verſchiedenen auf der Erde ſtehenden Behältern das Hühnerfutter, füllt einen Korb und ſtößt auch die untere Hälfte der geteilten Hofthür auf.

Gackernd kommt das Hühnervolk an⸗ geflattert, die Hälſe werden lang, die Flügel ſchlagen. „Nur Ruhe,“ ſagt ſie und geht erſt bis zur Mitte des Hofes, eh' ſie auszuſtreuen beginnt. Dann ſieht fie zu. Dasfelbe Spiel Winter und Sommer, ein paar mal am Tage. „Ruhe! Ruhe! Geduld!”

Ihr Junge, ihr armer Junge! und fie ift fo Hilflos. Aber pflichtgetreu blickt fie umher. Da find die Waflernäpfe nicht gefüllt, da ift nicht gefegt vor dem Entenftall.

„Tine! Tine!” ruft fie.

Wie das fchnattert und flattert; fie Bat ein paar Lieblingshennen, das bunte, in der Eonne glänzende Gefieder iſt auch Miles Freude. Bald muß fie wieder die Gluden fegen. Der Kleine, weiße Epit liegt drüben und wedelt mit dem Schweif; es ift ein ganz gewöhnlicher Schäferhund, den Frig aufgezogen hat. Sie bat ihn darum lieber ald den großen Zeonberger, der ihren Mann immer auf feinen Gängen begleitet. Sa, aber Tine ift doch fonft verläßlid. Eie ruft noch einmal.

Erft nah einer Weile fommt das andere Mädchen.

„Wo ift Tine?”

„Die i8 ja wohl ganz narrih —“

„Wie fo?“

„De fitt in de Kammer un’ hüelt.“

„zine? bijt auch wohl narrſch. Habt ihr euch gezanlt?“

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„Ne!“

„Was iſt denn los?“

„Na Hus will ſe!“

„Nach Hauſe?“ Frau Wagner giebt der Stehenden den Korb. „Die Enten kriegen noch und dann feg' und bring friſch Water.“

„Ja, ja!“ ſagt Hanne und ſchlurft mit langſamen Schritten nach dem Entenſtall und ſchiebt mit Umſtändlichkeit den Riegel zurück.

Viel Fragen iſt nicht die Sache der Frau; ſie geht nur ein wenig ſchneller als vorher.

„Morgen, Fru Holzherrn!“ ſagt der Knecht, der mit einer Trage quer über den Hof kommt. „Nu kümmt et aber!“

„Was denn?“

„'s Fräujohr!“

„Ja ſo! freilich. Nu kümm't!“

Neben der Mädchenſtube hinter der Küche iſt die kleine Kammer von Tine, Hanne ſchläft oben mit der alten Franken, die als Tagelöhnerin einen Gnadenunterſchlupf im Hauſe hat. Auch in der Küche hat die ordnende Hand von Tine bereits gefehlt. Die taube Franke ſitzt auf einem niedern Stuhl und putzt Meſſer.

„Morgen!“ An ihr vorbei geht die Haus- frau und klinkt mit fcharfem Drud die Thür der Mädchenſtube und dann die von Tines Kammer auf.

Konrad Wagner hat feine große Tafle noch nicht geleert, die Zeitungen, die ber Poftbote ibm durd das Tenfter gereiht, auch nur flüchtig durchblättert. Man fieht ihm die Mipftimmung an. Als feine Frau nad) einer Meile eintritt, giebt er feinem Stuhle einen Nud und fagt: „Schöne Wirtfchaft! Als ob feiner im Haufe wäre, laßt einen da allein figen.”

Sie ftelt den Schlüffelforb mit einer baftigen Bewegung hin und bleibt neben dem Sofa ftehen.

„Das vergißt du doch oft genug, daß du Frau und Kind im Haufe haft!”

Er fieht in die Höh, verzieht den Mund, ftreicht die Zeitung glatt. „Was fällt denn dir ein?“

„Auch ’mal die Wahrheit, Wagner!”

„Laß die Albernheiten, zu Spaß bin ich nid aufgelegt. Dafür hat dein Söhnen geſtern Abend geforgt.” Dann ſteht er auf, geht nach dem Fenſter, betrachtet das Wetter:

Der Einzige.

glas, twirft einen Blid nad der Ubr und hir zurüd an den Platz. „Er fol endlich runırı

| Tommen, ich babe mit'm zu reden.”

Die Fleine, zierliche Frau ſteht noch in der— felben Haltung, ihr feines Geficht hat cm fteinerne Ruhe.

„Wenn du etwa ein Etrafgericdht halten willſt, Wagner —“

„Dadrum werde ih dich grade fragen. Du baft'n verzärtelt, du —“

„Was ich gethan habe, iS jeßt einerlcı Eh Fritz kommt, habe ich mit dir zu fprecben

Er madt die geballte Hand, mit der auf den Tiſch Schlagen wollte, auf und zu, und läßt fie gelöft hängen.

In all den langen Sahren ibrer Ehe tritı die da zum erftenmal ihm feit und fide gegenüber. Er findet vor Erftaunen kaum Worte, dann ruft er: „Was ich gefagt habe, das halte ich ihr fennt mih. Davon keit: die Maus Fein Haar. Sch Heike Konrad Wagner. Wenn der Junge andere Gebanten bat, muß er fie fih aus'm Kopf fchlagen. Beltimmt is beftimmt. Un’ nu feß dich zum Donnerwetter bin!”

Sie jchüttelt den Kopf.

„Ich babe ganz etwas andred, Wagner —"

„Nu denn —”

„sh will über dich und mid mit dir Ipreben!” Und raſcher, wie fonft fallen dir Worte von den Lippen; „barüber, daß tu mich gekränkt haft, mit Füßen getreten, be— banbelt haft, wie'n Haustier, das man ein: mal bat ich kann's nich fo ſetzen aber mal habe ich doc in einem von beinen ge: lehrten Büchern was von Frauenwürde ac: lefen —”

„Du bift wohl —”

„sb bin vernünftig, Wagner, ganz ver: nünftig. Geheult babe ih nid’ und Wiber: worte auch nich’ gehabt, und dein Haus verforgt und unfer einziges Kind aufgezogen. Haft mir nie'n Bortvurf machen können —”

„Ra, alſo —”

„Aber, was die Frauenwürde bebeutet, was ja wohl fo viel is, wie die Achtung vor der, mit der man mal an den Altar getreten und fie zu ehren und lieb zu haben verfprocen bat das haft du bei mir mit Füßen ge: treten, rein gezogen in'n Schmutz. Die Yeute

Der Einzige.

haben mich erfi ausgelacht, und dann habe ich fie gedauert. Ich habe alles geſehen und alles gewußt, aber ich bin hin und ber gegangen und babe gethan, als wär' id dumm und blind. Ich Habe ja verfprochen gehabt, dab ich gehorfam fein wollte gegen meinen Mann!”

„Dummbeiten!” brummt er, „alte Sachen aufrühren! ein laſſen werben jegt alte Leute!” aber, er fieht fie nicht an.

„Ja, wir find alt neben einander geworben, Wagner jeber auf feine Art. Aber, ein älterer Mann, der an feine grauen Haare denkt, daß er fie in Ehren hält, bift du nid’ geworben.”

„Ru hör' auf!”

„Wenn id über Tine mit dir gefprochen habe.”

Lang gezogen „Ad fo!"

„Das junge Ding figt in feiner Kammer und meint und will fort. Es kann da nicht bleiben, fieht e8 ein, wo der Mann im Haufe ihm nacftelt.”

„Ah, Dummheit. Ich hab's erſchreckt diefe Nacht. Das is alles! Wenn man Iuftig nad Haus kommt!”

„8 alles —“ die Stimme der Frau wird leifer, „weil Tine an das gedacht hat, was es in der Chriftenlehre gelernt hat.”

„Meinswegen!“ Cr verzieht den Mund zum Pfeifen. „Wenn man mal an 'ne Kammer: thür Hopft —. Du haft ja fo ’ne ſchöne Nede gehalten. Du meißt doch —“

„Bas in diefem Haufe ſchon vorgegangen is! Jal“

„Das dumme Frauenzimmer foll fi nich’ haben und machen, daß es raus fommt!” ruft der Holzherr plöglich zomig. „Ich will's gar nid’ mehr fehn!”

„Sollſt's auch nich” Mann! Noch in diefer Stunde foll bad Kind fort.”

„Alfo!” Er dreht ihr den Rüden und will nad) feinen eitungen faſſen. Eie ift ihm unbequem; al die Jahre her hat er feine Heinen und großen Späße gehabt, und fie ift an ihm vorbei gegangen und bat ihn im Uns fihern gelafjen, ob ſie's gemerkt ober nicht. Sein Herrenredht, das hat er geltend gemacht in der Welt, das ift wahr und ging feinen was an. Heute fühlt er fih zum erftenmal befchämt; feine grauen Haare, ja! Und daß

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er wie ein junger Burfhe Dummbeiten gemacht bat mit dem ſchweren Wein im Kopf.

„Alſo ſchichs weg!“

„Es is dod der Anna ihr's —“ und wieder Ieifer, fi halb hinüber beugend, daß ihre Lippen faft fein Ohr berühren: „Anna, ber du 'ne Ausſteuer gegeben Haft und bie den Walbarbeiter Feiſt freien mußte in Sonn- burg. Die!” .

Konrad Wagner wiſcht mit der flachen Hand über feine Stirn, eine plötzliche Hitze überlommt ihn.

„Ich ich weiß nid"

„Wirſt di ſchon erinnern, Wagner. Die blonde, hübſche Anna! und der vertrunfene Kerl, der's nid” fo genau nahm, wenn er nur Geld ſah.“

Er fieht fie unſicher an, daß ihn das nichts angeht, möchte er jagen, kann's aber nicht.

„Sie war bis dahin, wo fie leichtfinnig wurde, gewiß aus Dummheit, Wagner, bei vielen von ben armen Geſchöpfen verrüdt das ja den Kopf, wenn wer nach ihnen gudt, der'n Herr i8 bis dahin war fie ’ne brave und willige Kreatur. Un’ hat's gebüßt! Grund: elend hat fie ber verfoffene Menſch gemacht; schauen hat er fie und hungern laſſen mit ihren armen Würmern!”

„Hm!“ feine Hände fnittern das Papier, er fharrt leife mit dem Fuße. Es überfonmt ihn zornig, er möchte mit einem Fluche bie Trage herausichreien, warum fie denn grade die Tochter von der blonden, hübfchen Anna, die er plöglih vor fich fieht, in fein Haus brachte, und kann's nicht. Und als läfe fie in feinem Herzen, fpricht fie weiter.

„Ich wollte das Kind nich’, die Tine, 's i8 ihre Ältefte! Aber der Lehrer, ihr Vor- mund, bat fo. Und hab's genommen und meinte e3 gut und wollte gut machen. Ja Wagner!” dann finft ihre Stimme.

„Hm!“ macht er, aber es ift ein ſtöhnender Laut.

Sie legt ihm die Hand auf die Schulter, und fo Hein bie iſt, er zudt doch darunter zufammen, als hätte fie Centnerſchwere.

„Kannft Gott danken, Wagner, daß bas Mädchen nid feiner Teihtfinnigen Mutter nachgeſchlagen is! Ich ich habe es auch getban —“

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„grau, Frau!” murmelt er und fällt gegen die Stuhllehne zurüd.

„Ja —“ Sie fett fih jeßt, die Hände im Schoß, den Blid auf ihn gerichtet.

„Antoinette!” jagt er nach einer Weile. „Weiß Gott, ich bin immer in der Be: ziehbung aber nich’ Schlecht, nicht ſchlecht das könnte einem doch —“

„Ja, ja!“

Dann ſpringt er auf und geht hin und her. Zuweilen giebt er ſich einen Ruck. Nun ſteht er plötzlih vor ihr. „Das is wahr, Antoinette, du haſt viel getragen!“

Sie macht eine abwehrende Handbewegung.

„Viel, was ich gar nich' wieder gut machen kann!“

„Ich will's vergeſſen, weil dich der liebe Gott vor der großen Sünde bewahrt hat —“

„Nich' gut machen —“

Da faßt ſie mit beiden Händen ſeinen Arm und umklammert ihn, und die Blutwellen gehen und kommen in ihrem Geſicht, und ſie iſt beinah heiſer vor Erregung.

„Doch, kannſt's auch gut machen, Konrad, mußt's. Mach' unſern Jungen nid’ un— glücklich —“

Sein aſchfahles Geſicht wendet ſich ihr zu, ſeine breite Bruſt arbeitet, er hat den Schrecken noch nicht überwunden.

„Was meinſt du?“

„Zwing' unſern Fritz nid” ſieh, er bat Mile lieb!“

„Was? was?“ Es wogt hinter ſeiner Stirn, es iſt ihm rot vor den Augen.

„Mile Zehſe! Un' er will keine andre, eh' geht er von uns, ſagt er. Un' er hat deinen Kopf, Konrad, das habe ich heute zum erſtenmal gemerkt.“

Er antwortet gar nichts, feſt die Lippen aufeinander gedrückt ſitzt er da.

„Geh raus, Wagner, geh’ in’ Wald. Da denfe nad); das thut dir immer gut.”

Er jagt nichts, aber er fteht gehorfam auf, fucht feine Müte, ruft den Hund und verläßt das Haus. Als fein Echritt verflungen iſt, faltet Antoinette Wagner ftill die Hände, dann gebt fie hinaus und. gudt über bie Hinterthür.

„Kriſchan, Spann’ och nen Wagen an.”

„Ja, Fru Holzherrn!“

Der Einzige.

„Aber, up de Stelle! hintere Porten!“

„Ja, Fru Holzherrn!“

Als er vorgefahren iſt, kommt die mu: mit Tine über den Hof.

„Nu fahr uns man nah de Iſenbabn. Kriſchan!“

„Ja, Fru Holzherrn!“

Als Frau und Magd nebeneinander ſitzen, ſagt die erſte: „Bleib man fo ba, Tine, immer reblid und Gott por Augen, und fieh zu, daß bu in feine Sünde willigit, wie’3 in der heilgen Schrift beißt.”

„Ad, Frau Holzherrn!“

„Sa, mein Tochter. Und folft nu nad Göttingen fahren und bei meine alten Yeut rummen bleiben, bis du'n ordentlichen Tienit baft. Un denkſt immer, baß ich Deine aut Freundin bin und daß du did) an mich wenden kannſt!“

„Ach, Frau Holzherrn, das thun Sie bed gewiß man alles, weil meine Mutter Sie fi treu gedient hat?“

„Sa, um die Mutter, da tbu ich ed ja wohl, mein Dochter.“

* * *

Un’ Bol’ vor de

Frit kommt herunter, fein Schritt ift jejter, feine Mienen find entfchloffen, er fieht um Jahre älter aus. Er findet das Wohnzimmer leer. Hanne räumt zwifchen den Kaffeetaſſen umber,

„Ad, jung Serr, dat is ja nu all wohl kolt!“ jagt fie und feßt jetzt erft die Kaffee: müte über die Kanne.

„Is gut!“

Er trinkt einen Schluck und ſchiebt Das Brot zurüd. Er bat feinen Appetit.

„sa fo, de Eier forn jungen Herm!“ meint Hanne, der die Handreihungen für Die Herrſchaft ungewohnt find.

„ein, nein!”

„Die Frau Holzherrn bat es mid noch eigend gefagt, ih ſollt' fe nich vergeflen, mo fie twegfubren, un bin nu doch drüber bin gekommen!“ Und Hannes faltiges, gelbes Geſicht grinft.

„Wegfuhr?“

„Mit die Tine, jung Herr! In' openen Kutſchwagen. Ne, da ſatt ſei drin, als ob

Der Einzige.

fe rin gehörte. Nämlich —“ fie ftedt beide Hände unter bie blaue Schürze und biegt ſich vor. „Tine is narrſch worden över Nacht. Un be ol Franlen meint, de Fru brögt fe in’t Irrenhus!”

Seine Mutter fortgefabren, ohne ihm davon zu fagen? Er fehüttelt den Kopf, er verftcht es nicht.

„In' Kutſchwagen mit de Fru Holzherrn!“ wundert Hanne weiter. „Wat blot de Lüt feggen, jung Herr! de Lüt blot!“

Sie padt das Geſchirr ein wenig wadelig zufammen, macht ein paar Schritte nad ber Thür und bleibt dort ftehen.

„Die Fru Muttern is zu gut, rein zu gut! So 'ne narr'ſche Cretur in'n Kutſchwagen!“

„Wo iſt denn mein Vater?”

nDe is ja wohl in’ Wald gahn.”

Tat, takt! ſchlägt's ans Fenſier, das ift des Eanitätsrats Stod.

Fritz ſpringt hin.

„Morgen! ih, da ſind wir ja! Un' ſiehſt doch ganz gut aus, mein Sohn! Drüben vor der Sägemühle hat mir die Schwaffin, die holde, aufgelauert und ganz geheimnisvoll zugeflüſtert, ich möchte nach dir ſehn. En' Anfall!” Er ſchüttelt den Kopf. „Ne, wart’ mal, id fomm rein!“

Als er im Zimmer fteht, und Frig ihm den grauen Hut abnimmt, fagt er: „Siehft aber gar nit aus ich meine, fo was Forſches haft du überhaupt noch nicht gehabt!”

„Ja, Herr Sanitätsrat, es kann ſchon ſein. Ich habe nämlich gefunden, über Nacht, daß ich alt genug bin, auch meinen Willen zu haben!“

„Sieh einer mal an!“

Fritz wird bald rot, bald bla.

„Nämlich, die Schwaff wird denn auch fhon —“

„Hat fie, mein Junge!”

„Ich thu's nicht, Herr Sanitäterat, ich lann's nicht.”

„Sieh mal an!” Und dann tippt er mit dem Zeigefinger gegen bie Herzgrube bes jungen Menfhen. „Wer ift denn die andre? denn fonft —“

„Ih babe Mile Zehſe Tieb, fehr lieb, Herr Eanitätsrat,” fagt er und hat babei feinen treuberzigen Augenauffchlag.

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„Ale Achtung, mein Junge,“ und der alte, vornehme Herr hat ein mohlgefäliges Schmunzeln. „Sa, wenn ich die Wahl hätte, die wär’ mir auch lieber als Heine, hubſche Frau, ald der Gelbfad da brüben!”

Fritz hat al feine Schüchternheit abgelegt.

„Emmy Roth! nie, nie!“

Der Arzt zudt die Achſeln. „Ja, mein Cohn, dein Vater ift aber der Holzherr Wagner mit dem fehr diden Kopf.”

„Herr Sanitätsrat, jet habe ich meinen Willen aud gefunden!”

„Na, denn man zu! Verſchreiben brauch’ ich dir da nichts. Wenn’? nur nicht hinter: ber fommt, mein Sohn. Mit deinem Vater ſchwatze ih gern, denn er ift ein felten kluger und für feinen Stand gebilveter Mann! Aber, mic mit ihm auseinanderfegen über mas ne, ber fann faugrob werben, und dann kennt er fih nit! Ja, dad mußt du nun wiſſen!“

Fri begleitet den Gehenden bis über die Schwelle.

„Schon' dich aud noch, men Junge! Nicht erhigen, nicht erfälten. Daß du ba geftem ohnmädtig geworden bift fon’ did, denn deine Kraft braucht du für bein Vornehmen. Die Mile, fieh mal! baft du denn, du Schwerenöter, auch fehon 'n Ruß von ihr weg?”

„Herr Sanitätsrat, fie weiß es doch noch gar nit!”

„Eo! fo!” Und er hebt feine behandſchuhte Rechte. „Na, denn will ich's ihr auch nicht verraten, was? Alfo die Mile und wenn's gut gebt, figt fie mal auf Eichberg. Was id) ihr gönne! Guten Morgen, mein Sohn!”

Er geht mit feinen feften Schritten und feiner tadellofen Haltung.

Fritz wandert durch das Haus; es ift fo leer ohne die Mutter. Kanne fehreit in ber Küche auf die taube Franken ein. Er mag jest nichts von Buchern willen. Über den Hof in den Garten. Da ift nun alles bunt von Frühlingsblumen, Vögel huſchen flatternd auf. Er gebt bis zu der Heinen Hinterpforte.

Auf dem Wege vor berfelben liegen Baum: ftämme. Ein Menſch hodt darauf.

„Morgen!“ kommt es dumpf zu ihm in die Höhe.

42*

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„Morgen! Na, Krade, guden Sie fpazieren?” „Kann fich unfereiner ja auch mal leiften!” fagt der Sigarrenarbeiter. „Ich babe Teine Beichäftigung mehr. Bin’n freier Menſche!“

„Was heißt denn das?“

„Rausgeſchmiſſen!“

„Ih doch!“

Kracke macht eine Fauſt. „Zu doll bin ich die! zu wild! wollten keinen Raufbold in die Fabricke! Nämlich Angeberei!“

„Angeberei?“

Der Menſch ſteht auf und ſchüttelt wieder die Fauſt. „Bei dem Holzherrn ſteh' ich doch lange nich' gut. Aber nu da is der fremde Oberförſter, der Kandidate, der uns drüben beim Langfaſt mal auseinandergeriſſen, den wilden Mann, Schierkopp und mich Meſſer hatten wir ja is wahr. Was ging's den an? Der hat'n Angeber gemacht in der Kneipe beim Herrn Grotefend, der jetzt die Fabrik hat. Un' nu krieg' wegen mein' Leumund gar keine Arbeit mehr! Un' nu ſitz ich hier und guck aus!“ Er grinſt. „Un' laure! Denn wenn ich'n mal erwiſche, den Grünrock, mal alleine Jetzt is er auch oben, bei die Herzogslaube!“

„Kracke, das werden Sie doch nicht! machen ſich ja unglücklich.“

„Is meine Sache! Wenn er mal alleine is und gut zu faſſen, ſehn Sie, denn —“ Er- macht eine ſtoßende Bewegung. „Wie du mich, ſo ich dich! So weit bin ich nu nachgerade.“ Er wirft den Kopf mit einer wilden Bewegung zurück. „So weit haben mir die ſchlechten Menſchen! So weit!“

„Sie haben wieder getrunken, Kracke!“ ſagt Fritz Wagner.

„Habe ich auch. Leugne ich gar nich! 's is Einzige, 's Einzige.“

Er hebt das verzerrte Geſicht zu dem hinter dem Zaun auf.

„Neulich hätt’ ich'n kriegen können. Ganz dichte bei war ich. Aber da war die lüttge Mamſell dabei, mit die er ſich da trifft ne, die wollt' ich den Schreck nich' anthun. Die ſagt immerſt fo freundlich gun Dag. Un’ jetzt ſind ſie wieder oben in die Laube. Er is über'n Heidufer hin und fie von die Papier: müble aus.”

„Was für ne Mamjell?“

Sie

Der Einzige.

„Die Steuerinſpekterſche ihr Mädchen mit die krauſen Haare!“

„Nein! nein!“

Daß Fritz ſein Geſicht weiß wird, wie die Blüten des Baumes über ihm, ſieht Krade nicht. Er lacht hell auf.

„Die Steuerinſpekter'ſche geht einem immer in’ Bogen aus 'm Wege. Die Olle! Aber ihr Mädchen, das is niedlid. Un’ das ba: der Grünrod auch gemerkt!“

„Ihr irrt euch wohl, Kracke!“

„Ich ne! Is nich!“ Er ſteht taumelnd auf, faßt nach ſeiner Mütze, die ihm entfallen, und lallt: „die oder ne andre! Is mich auch egal. Er ſoll ſich in acht nehmen, ſoll ſich —“ dann taumelt er am Zaun entlang ber Heden: ftraße zu.

Fritz wiſcht über feine Stim. Was dur Menſch fagt, der Trunfenbold! Wie fann er nur einen Augenblid das glauben?! Der bälı ja den Himmel für einen Dubelfad! ‘Der hat ja jhon das Delirium.

Mile fol den Oberförfterfanbibaten heimlich am Herzogenbufch treffen? Er müßte eigent: lich lachen.

Langſam zieht er den Riegel von der Prorte und tritt hinaus, die Thür anlehnend. Cr fiehbt nad) der Höhe. Wie lange ift er nidt dort geweſen, wo man fol ſchöne Ausfıct hat weit in die Ebene und auf die Bergfuppen. Und wie es da ſchon zu feinen Füßen fprießt. Er geht etwas weiter. Wie oft haben foldıe Bauhölger zu feinen milden Knabenfpielen gedient.

Mile träfe ih? Unfinn! Der verlogene Trunfenbold! Daß er ihm auch nur zu: gehört hat!

Und meiter, bi zum Damm! Er muß doch ſehn, ob der Fluß jebt viel Waſſer bat. Die Luft ift würzig, Scharf, windig iſt's aud. Ceine Haare fliegen. Er hat feine Mütze zu Haufe gelafien, heut denkt er nidt an bie alten Gemwohnbeiten. Bah, er wirb bald ihlimmerem zu trogen haben, feinem Water und feinem Willen.

Meiter über die Brüde, die fehr ſchwach aus ſchwankenden Brettern zufammengefügt it. Was man bier auch aufridhtet, um die Verbindung mit dem andern Ufer berzuftellen, das Hochwaſſer vernichtet alles. Und für einen

DE "W m

Der Einzige. 661

foliden, feften Bau ift bie Gemeinde nicht zu gewinnen. So bleibt es immer ?lidtwerk.

Die Höhe hinan! Er muß oft ftehn bleiben. Der Atem fehlt ihm, er feucht. Aber, fo gar nicht mehr weit vom Ziel. Nun möcht er doch hin. Mile follte? Wieder drängt ſich ihm das Wort Unfinn auf. Ja, warum geht er denn eigentlich hier Ihr nachſpuren? Be: wahre, das wäre eine Beleidigung, die er nicht einmal in feinen Gedanken begehen möchte. Es ift, weil er ſolche Unrube in fi) fpürt, das Haus fo unheimlich Teer jand. Er hatte gleich mit dem frifchen Entſchluß vor feinen Vater treten wollen. Nun gährt es in ihm. Es ift häßlich zu warten. Schwer, ſchwer wird's zu ſteigen. Aber er will! Er iſt jetzt auf dem Wege, ſich in allem durchzuſetzen, mit ſeinem Willen, mit feiner Kraft. Sie ſollen ihn nicht mehr bemitleiden und ausſpotten.

Oben! Keuchend blidt er hinab. Da liegt das Vaterhaus, ba ift der Fluß, die Ebene und das Schloß. Herzogsbuſch heißt ber ſchöne Wald, in dem eine uralte Laube mit einem Steintiſch und einer Bank darin fteht, ſchon länger als hundert Jahre all. Sonntags wandern die Blumerober hinauf. Manch heimlich Liebespaar fol fi dort treffen.

Mile follte? Nein, nein! Noch hundert Schritt ind Gebüſch hinein, dann kann er ſehen, daß er fi hat narren lafien von dem elenden Trunfenbold.

Nein, nicht darum geht er jetzt weiter auf dem ſchmalen Pfad, über dem die Tannen- zweige zufammenfchlagen. Wenn zwei bier durch wollen, fo müfjen fie fi) eng aneinander preflen.

Da ift ein geſchütztes Plägchen zum Aus- ruhen, benn bier fegt der ſcharfe Wind gar zu unbehaglic.

Wenn zwei hier zufammengehn! Er lächelt. Wenn erft ja, dann muß er mit Mile bier hinauf, juft an biefen Plab. Die füß wird das fein. Er fann jeßt fteigen, feine Kraftprobe hat er gemadt. Daß fein Herz Hopft, ganz wild, das ift nicht Schwäche, nicht Überanftrengung, das ift felige Freude.

Der Platz ift leer. Er ſetzt fih auf bie Steinbant, daß fein feuchender Atem ſich legen fol. Ein wenig ruhn. So ſtill alles bier. So himmlifh ruhig und verjhwiegen! Und

er faltet die Hände in einander. Hier kann man fi wohl glüdlih fühlen. Und es über: Tommt ihn eine fo felige Vorahnung.

Vogelgezwitſcher, ein ganz leifes Kniſtern, ihm ift, als vernchme er das Schwellen und Springen der Anofpen. Lange figt er fo. Wirklich wohl zu lange, denn ein Froftgefühl überlommt ihn nun doch. Er wird Hug thun, nun enblid) wieder hinunter zu gehn. Mit müben Füßen, ſchwerfälliger als empor, er empfindet doch die große, plögliche Anftrengung. Ob ihn häßliche Gedanken gequält hätten, wenn er nicht hinauf gegangen wäre? Aber Kraden muß er das häßlihe Lügenmaul ftopfen. Der fol ihm 'nur in den Weg fommen!

Am ſchwankenden Brüdengeländer muß er fih ein paar mal halten. Schwindel? Nicht doch das kann's nicht fein. Soll's nicht. Das hat er ja früher gar nicht gelannt.

Jenſeits des Stegs ſitzt der Cigarren: arbeiter und ſchlägt mit zwei Steinen gegen- einander, die Beine weit von ſich geftredt, das ftruppige Haar fteht um den Kopf.

„Mufit! Muſik!“ lallt er vor fih hin.

Krade!“ fagt der junge, ſchwächliche Menſch, „was ihr da vorhin gefafelt Habt Krade, ihr habt doch elend gelogen!”

„Muſid! Muflt! Un’ wenn er vorbei lommt, kriegt er 'n Stein an 'n Kopf, ber elende Maldläufer der!”

„Nehmt euch nur felber in acht, Krade! Wenn ihr aber noch mal den Namen von dem Fräulein in euer Maul bringt —“

„Bas? was hab’ ich?“

Frig ſchüttelt feine ſchmächtige Fauft feine Augen bligen.

„Was habe ich geſagt?“ Der Betrunfene lacht. „So, ach, die Lütt! Na, denn is es ’ne andere geweſen. Is mich doch ganz egal, mas für eine. Frauenzimmern bhu ich nichts. Aber der Grünſpecht. Der! der!”

Fritz wendet fih ab. Bon ſolch tierifch blödem Geſchöpf hat er fi} narren lafien.

Sein Bachſtelzchen! fein Bachſtelzchen! Er zieht die Pforte auf und fommt über ben Strich Wiefenland in die buchsumſäumten Gartenwege. Bachſtelzchen! Bachſtelzchen! fingt und klingt es in ihm, und er hat gar feine Furcht, mehr vor dem Vater, vor dem Kommenden, vor

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dem, was ſich jet erweiſen fol. Wenn er jtill fteht, Tann er das Geräuſch aus der Säge: mübhle hören. Er lächelt. Der gejtrige Abend liegt fo weit ab von ihm.

„Aber Fritz, Junge, fag bloß, two biſt du geivefen?” Seine Mutter ift drüben am Hof- thor und fchlägt die Hände zufammen.

„Allerwegen babe ich dich geſucht. Un’ ohne Mübe! Dreimal bin ich bis an bie Hintergafje getvefen. Un’ Vater bat ſchon zweimal gefragt.”

Er lächelt, er hält fich gerade, daß fie feine Mattigfeit nicht bemerft.

„Spazieren, Mutter! Warft ja aud aus: gefahren.”

„ah das!” Gie vermeidet, ihn an zufehen.

„und Bater habe ich auch vergebens ge- ſucht.“

„Der is doch im Holze geweſen.“

Sie ſchiebt ihren Arm unter den ſeinen. „Ausreißer, du!“

Ihre Fröhlichkeit, die ſo ungewohnt iſt, fallt ihm auf. Sie hat ihn heute Morgen gebrüdt, angſtvoll verlaflen.

„Hat dir die Fahrt gut gethan? Hanne - fafelte allerlei Tine —”

„Ad, Hanne! Tine hat nad) Verwandten gemußt Bater! ja zweimal hat er nad dir gefragt.”

Fritz Steht einen Augenblick ftil. „Ich hätt's jet fchon gelagt, wenn er da geweſen wäre.”

Da zieht Frau Antoinette feinen Arm ganz feit an fi und mit einem Flüſtern fommt’3:

„Sr is gut, weihmütig ich glaube, mein Junge, du triffft auf eine gute Stunde. Geh man, geh.”

„Halt du, Mutter?”

„rag nich'! Geh, mein unge!”

Wie er nun Über den Hof geht, mit der Hand die Haare aus der Stirn ftreichend, von der Anftrengung die Züge gerötet, ſteht fie unbeiveglid) in dem Eonnenfcdein, der fidh jegt über alles gelegt bat, in der Mittags: ftunde. Er blendet fie nicht einmal.

„Herr, mein Gott, mein Gott!” fagen ihre Lippen, ein Notruf ift’3 und eine Dankpreifung zugleich.

Der Einzige.

Kann e3 denn überhaupt noch voller Sonnen ichein in ihrem Leben werben?

Das gefättigte Federvieh kauert m hr warmen Strahl, ab und an wird ein gurrendi Laut hörbar, der Hund leckt ferne Pioten. eine graue, große Kate ſieht mit Den lauernder grünen Augen hinauf nah der Dachrinne, wo fih ein paar Vögel niebergelaffen haben Kriſchan pfeift drüben im Pferdeftall eine at gebrochene Melodie, er fann nur den Anfuns, dann mißrät ed. Dom Nahbarbofe beruk: ein FZlingender Laut, das Schärfen einc Schneidegeräts.

„Er iſt mein Gott, der in der Not —“ ja, der fchöne Vers aus dem alten Kirchen— lied. Sie nidt vor ſich bin.

Ihr Leben ift ein verfehltes gemefen, ic hat’3 immer gewußt; aber jet will ſie's nid: mehr glauben, um ben Jungen nicht. Wenn e3 für den bel wird, dann ſoll's mit dem bißchen Glück, das fie nicht hat kennen lemen, erfauft fein.

Sie ftelt eine Holzmulde, die umgefallen ift, aufrecht, fieht nach den Fenſtern der Hinter: zimmer empor. Sa, die müffen auch wohl wieder gepußt werden. Eo in der Eon, ba fieht man das. Tines Fortgehen mad ihr einen Etrih durch die große Wäſce Aber Hände, die fie erjegen, finden fich aud. Der Botenriefe ihre Tochter wartet ſchon lanac auf einen Dienft bei ihr. Eie ift fehr häßlich und zigeunergelb. „Tater“ nennen fie bir Nachbarn. Bor Tine bat fie lange Zeit feine hübfche Magd ins Haus gebracht. „Führe uns nicht in Verſuchung.“ Sie hätte das auch bevenfen follen. Und wie ihr eben cin Gedanke des Vorwurfs in die Seele Fommen will, hört fie Fritens rufende Stimme. Eine ihrile Empfindung, ein Durchrieſeln des Körpers von oben nad) unten, fie meint, ibn Füße merden plöglih ſchwer, wollen nid: von den WBlafterfteinen weg, auf benen fie ſtehen.

Bedeutet es etwas Gutes?

„Mein Herr und Gott!“

„Mutter, Mutter!“

Da beugt er ſich über die Hinterthür, ibr Fritz, ihr alles, und ſie hat ihn noch nie ſo hübſch geſehen, eiwas, wie Verklärung, ſie kann's nicht ausdrücken. Aber fie läuft, läuft

Der Einzige.

und dann fällt fie ihm um den Hals und darauf weint fie bellauf.

„Dh! ja, er war meichmütig und alles fol gut werden. Und Krifhan fol ihm den „Poladen” fatteln, er will raus. Laß daß er nicht warten muß.”

Er eilt über den Hof, fie bleibt an ben Pfoſten gelehnt, und die Thränen ftrömen ihr unaufhaltfam über das Gefiht. Waren das

Minuten! . .

„Nein, Mutter, id bin doch jetzt geſund und fräftig. Das muß nun aufhören. Schaff mir man. die Dinger aus den Augen!” hat Fritz gefagt, als fie ihm nach Tiſch Kiffen und Deden bringen will. Sie haben allein ge: gefien und jetzt aud ben Kaffee getrunten. Der Hausherr ift noch nicht von feinem Ritt zurüd gelommen. Und Fri hat bis jegt nichts erzählt. Die Mutter hatte kaum Zeit zu ſitzen, Leute haben zu fragen gehabt, auch die Schwaff ift herangehuſcht und hat mit Iauernden Augen umber gegudt.

„Nur nach dem Befinden erfundigen, meine liebe Frau Holzderrn!”

„Wir find alle munter, ganz munter!”

ie hat in ihrer Taſſe gerührt.

„Ein netter Abend war's. Geben fi) fo viel Mühe, die Rothe. Emmy ift wirklich ein prächtiges Mädchen!“

da, ja!“

„Nein, Herr Fritz, wie Sie da fo bla wurden!“

„Jetzt ſieht er anders aus,” hat die Mutter entgegnet.

„War ſchon wer von drüben da?“

„Nein!“

„Nein, wundert mid) aber fehr fogar.“

„om!“

„Doch nicht 'n bifchen beleidigt?”

Keine Antwort, Frau Antoinette hat plötzlich über das Wetter gefprochen.

„Nämlich, liebe Frau Holzherrn, ich habe noch gar nichts erzählt, trotzdem es ber aus: drüdliche Wunſch ihres Mannes war. Aber Sie Sie wollten es doch nicht gern. Und Frauen müfjen zufammenhalten.”

„Das is vernünftig von Ihnen geweſen.“

Mit etwas enttäufchter Miene ift das alte Fräulein gegangen.

„Nu is fie fo Hug, mie vorher,” meint Frau Wagner und ſetzt fi) ihrem ohne gegenüber, der den Ellbogen auf die Fenſter⸗ banf geftügt hat und in ben beginnenden Abend hinausſieht.

Wenn er nad Binsfelde is, dann fommt er nicht vor finfender Nacht nach Haufe.”

„Er ift lange nicht fo weit geritten!”

Weil er was los werden will, aus feinen Gedanten dann hat’3 das Tier unter ihm nid’ gut. Ad, einmal! Wir waren jung verheiratet, hatte er einen Streit mit meinem Vater. Da ritt er auch weg; über Gräben und Heden is das man fo gegangen. Und das Pferd hatt? ihm abgeworfen. Wie er nad Haufe kam, hat er's an bie Rüfter ges bunden und immer mit der Peitfche gehauen. Nich' anfehn konnt’ ich's. So mild is er nicht mehr!“ feßt fie mit einem Eeufzer hinzu.

„Und nu ſag's auch, Fritz.“

„Es war fo ganz anders, Mutter. Ich brauchte gar feinen Mut. Er fah mid an, du kennſt ja den Blid, ala ich hereinfam und fagte: ‚Die Reihe war nad meinem Sinn! Du wilft deinem Pater nich’ folgen. Das i8 dumm und unpraltifh. Meinft du, daß du ohne die andre nicht leben kannſt ?°“

‚Schr unglüdlih würde ih, Vater und eine andere, wie Mile, heirate ich nicht,‘ babe ich geantwortet. Dann kam wieder fo ein befondere® Anguden und er ftampfte mit dem Zuß auf. ‚Meinstvegen denn!“ Aber, tie ich mic) bedanken wollte, ſchüttelte er ben Kopf und nahın meine Hand nicht. ‚Das mad’ mit der Mutter ab. Und Krifchan foll den Poladen fatteln.‘”

Sie zieht feine Hand in bie ihre.

„Dos i8 ja nu einerlei! Ex hat's gefagt.”

„Wie ih ſchon die Thür in ber Hand hatte, rief er mir nad: Nachbar Roth thut mir leid. Du kannſt dir morgen deinen guten Rod anziehn und zu der Inſpeltorin gehn.”

„Siehft du! Und das thuft du!”

„Ad, Mutter, Mutter!” Es ift ein Qubelruf des Glüds. Und dann fagt er: „Was ihn nur fo umgeftimmt hat —“

„Is doch einerleit”

Sie faßt nad) einer Schere, die nicht auf ihrem Platz liegt und wirſt dabei einen Blid aus dem Fenfter.

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„Da kommt ja Mile!”

„Ach —“

Die Glocke der Hausthür klingelt bereits.

„Nu, mein Junge, braucht es nich' erſt Nacht zu werden, nu —“ und ſie geht hinaus, und er hört ihre weiche Stimme das Mädchen begrüßen. „Fritz iſt drin. Ich komme auch gleich wieder. Geht's Mutter gut? Is recht, mein Töchterchen. Leg man ab. Weißt doch Beſcheid, biſt zu Hauſe.“ Und dann büpft fie über die Schwelle, ſein Bachſtelzchen. „Na, mein Herr! Wie geht's uns?“ Sie ſieht hübſch aus in dem blauen Kleide, mit dem keck auf: geſetzten Bubenhut, den leuchtenden Augen, dem frifchen Rot und dem lachenden Mund über den bligenden Zähnen. „Wovon träumen wir denn, mein Herr?”

Er umfaßt ihre Heine Hand.

„Wenn du das mwüßtelt, Mile!‘

Sie fchnellt den Hut und den Fragen mit einem Wurf auf einen Stuhl und ſinkt auf den von der Hausfrau verlafienen Platz.

„Ach, das Leben ift ſchwer!“ ſeufzt fie.

„Das ſagſt du, Mile?“

„Ra, das Fann jeder jagen; ift doch nur ne Redensart, nich” wahr. Denn eigentlich ift es doch ſchön, fehr ſchön!“ Und ein glüd- ftrahlender Ausdruck liegt auf ihrem lieblichen Geſicht, der fie noch hübfcher madt. „Ach, mein lieber, alter Fritz, du, du alter Stuben- hoder! Wenn ich’3 dir doc) bloß jagen könnte, wie ſchön!“

„Was meinft du denn?‘ beugt er fich vor.

Lichtfunken ſcheinen aus ihren luftigen Augen zu fpringen.

„Die Welt, die Menfchen, ad, e3 giebt doch gute, prächtige, liebe Menfchen. Und der Frühling! Es ift fo herrlich jegt —“

Ernidt. „Sch weiß es! ich habe heute einen langen Spaziergang gemadt. Auf die Höhe!”

Uber fie bewundert ihn gar nicht, wie er doch erwartet bat. Ihre unrubigen Finger ipielen mit den wertloſen Ringen, die fie trägt.

„Nicht wahr, der Wald! ch möchte jett den ganzen Tag drin fein! Ad, auf den Ihönen Wegen!”

Er nidt wieder. Wenn fie wüßte, wo er an das Bachſtelzchen gedacht bat und tie. Unter den nidenden Zeigen, mo fie eng, ganz eng und verfchlungen gehen müjlen!

Der Einzige.

„Weißt du Schon, Mile, daß ter \.: Eichberg gelauft hat und daß ich's kriegen \v. Bewirtichaften!”

Sie nidt jetzt auch. „Das erzählt ſich is - der ganze Ort.”

„Hübſch, nicht wahr?“

„sein!“ ſagt fie.

„Du baft das Landleben ich meine, Tu. und Feld und die Tiere doch auch gem!

„Ib möchte —” fie wird rot und ſcla:

ein wenig „ich könnte meinetiwegen ga im Walde leben.” „So! ſiehſt du wohl.”

„Denn man glüdlih iſt?“ Eie wird ger.

eifrig. „Was hat man in ſolchem Neſt, 1. unfer Blumerode. fie Hatfchen doch fo viel. wohnt —”

„Doch mit einem Menschen, den man cn hat”, wirft er ein, denn jeßt ift feine I fangenbheit fort.

„Natürlich, das meine ich ja. Wie jeix ih —“ Sie ftodt wieder. „Ein Frauenzimmer fann doch nicht allein irgendwo haufen.“

„Nein, nein!” Und dann laden ſie bei: ſehr fröhlich.

Sie fpringt plötzlich auf, breitet die Ame von ſich und fagt: „Sch möchte tanzen.”

„Iſt doch fein Winter, Teine Ballzeit mehr!“

„Einerlei! mit jemandem, den ich gem babr.

Er darf nicht tanzen ob fie das ver: gellen hat?

„Tanzen, tanzen, ach wie jo ſchön! Wil das Fräulein tangen gehn? Sag mit wem, du böfer Wicht? Nein, ah nein, bag fag ich nicht!”

Und dann hebt fie die Finger und preis fie iveit voneinander.

„Das habe ich früher meiner Puppe ver- gefungen, und jeßt mir jelber!” Sie ladt übermütig. Ihre großen Augen ſchimmern, al die Fleinen, krauſen Locken fcheinen zu tanzen.

Das Gefiht an die Scheiben preſſend, blikt fie nach der Linde, und dann wendet fie fh um. „Was giebt's denn Neues in ber Welt. Erzähl’ mal!”

Er tritt hinter fie und richtet bie Blide auch nah der Gegend, wohin ihr Köpfchen jih dreht.

Kenn man alıı

Ich hab's ja lieb, akır.

Der Einzige.

„Das Alerneufte; fieh doch, drüben bei der Schulzeſchen ihrem Haufe geht der Herr Forftlandidat mit der Flinte und feinem Hunde.”

„Ach du! das feh ich doch felber!” Cie preßt das Geſicht nod einmal an das Glas. „Dumme Wie! Wenn du fonft nichts weißt! Warum madft du die eigentlich 3“

Er lacht. „Ein prahtvoller Hund!”

„Treff heißt er.”

So!"

„Er ift er fol fo gut abgerichtet fein, fagen die Leute!”

„Siehſt du, nun erzählft du mir ja etwas Neues.“

„Ah, was man fo hört! Die Blumerober befümmern fih doch um alles!” fpricht fie ſchnell.

„Freilich, um viel mehr, als ſie nötig haben.“

„Du, was ſoll das? Was willſt du damit fagen ?

Und mit einer blitzſchnellen Wendung dreht ſie ſich um und ſieht ihm ins Geſicht. Und alles lacht in dem ihrigen, fie iſt ſo lieblich. Jetzt droht fie ihm. Ihre Nähe, er kann ihren Atem fpüren, macht ihn ganz trunken vor Glüd. Er fängt die Hand.

„Zah mal!”

„Ad, du!“

Ein ganz Meines Ringen.

„Ich bin ftärker!” will fie fagen, ftodt aber dann. „Nein, du —“

Ja, er giebt die Meine Hand nicht frei, er hält fie ganz feſt.

„Mile dadrauf, auf den Finger fommt gewiß bald ein Verlobungsring!”

Sie erglüht. „Was du nicht ſchwatzſt!“

„Ich weiß es!“

„Woher denn?”

„Wärſt damit zufrieden?”

„Wie werd' ich das denn ſagen, du neu— gieriger Burſch du!“

Und dann biegt ſie das weiße Hälschen zurück und atmet haſtig, wie angeſtrengt.

„So biſt du doch ſonſt nicht geweſen, ich meine, daß du fo nedft!”

n Was fi nedt —“

Darauf hört fie nit. „Gud bloß, ber Treff kommt noch mal zurüd, als wenn er ſucht. Was wohl?“

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Ad, laß doch ber ift auf einer Fährte! Sag mir lieber von wegen dem Ring fehr Hein muß er fein, fo ein Fingerchen, fo ein Nichts! Laß, ih muß —“

„Nichts mußt du!” und fie will fid vergebens wieder frei machen.

Da geht fein Atem fchneller, fein Sprechen wird ein Flüftern. „Mile Eichberg! du folft mit hinausfommen und ih, Mile, ih geb morgen zu deiner Mutter und frage fie. Und dann, fol id dir dann den Ring bringen?”

„Fritz!“ halblaut, aber mit dem Tone bes Schreckens ruft fie es.

Das hört er nicht. „Mile, ich habe bi) immer ſchon fo lieb gehabt, lang ſchon, wie du noch ein Kind geivefen bift. Unb heute ift es zur Sprache gelommen! Sieh, ich wäre fort gegangen von Vater und Mutter aber, er bat feine Eintvilligung gegeben. Vorhin. Und nun, Mile —“

„Laß, laß doch!“ Und wie er fie ber: mundert, erftaunt freiläßt, weicht fie zurüd. Ganz weiß ift ihr Gefiht, und ihre Augen haben einen erfcpredten Ausbrud.

„Brig! Es geht nicht, Tann nicht fein es geht nit.“ Und dann beginnt fie leife auf⸗ zuweinen.

„Geht nicht?“ ſpricht er nach und taſtet nach der Stuhllehne, um ſich daran zu halten. „Mile ich habe doch denlen müſſen, daß du mir gut biſt. Wie wir miteinander geweſen find —“

„Bin dir ja auch gut, wirklih. Ganz ge: wiß!“ beteuert fie. „Aber ſieh mal an Heiraten, daran habe ich doch nicht denken fönnen. Du warft immer frank und im Zimmer und fieh, ih ac, wie konnt' ich das denken!” Und fie verzieht vorwurfsvoll den Heinen Mund.

„So thu's jegt nur Gernhaben gehört dazu und bag —“

Sie ſchüttelt den. Kopf. „So nicht, Fritz, fo nicht. Ich mweiß beftimmt, es geht nicht. Kann nicht fein!”

„Kann nicht fein? Weil?"

ie wiſcht mit der Hand über die Ede des Tiſches.

„Weil ih! Ad, Fritz du darfſt es aber noch niemandem fagen, mußt verſchwiegen fein. Es darf’3 noch feiner wiſſen. Sieh, ih habe mid) doch von dem andern küſſen laſſen und

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ihm verfprochen,” und fie fängt an zu fchluchzen. Helle Thränen rollen über ihre Baden und während fie das Tuch hervornimmt: „Sieb, fein Wort muß der Menſch halten! Nicht wahr das muß man?”

„Ben Bedmann, ven Forftfandibaten?” fragt er mit ganz heiferm Ton.

„Woher weißt du?”

Er antwortet nidt. „Dem bift du gut, auf den willft du warten? Dem bift du anders gut wie mir. Ja dann, dann —“

„Ad, fei mir doch nicht böfe, Fritz, wir bleiben immer gute freunde! Ganz gewiß!”

„Wir bleiben!” Er wendet fih ab und macht ihr den Weg frei. Und fie kommt tiefer hinein ins Zimmer.

„Willſt du nicht, Fri?”

Er ift ſtill. Sie fieht nad) ihm bin, trodnet die legte Thräne, geht nad) ihren Sachen und fagt: „Daß du böfe bift, nichts mehr von mir wiſſen millft, ift nicht recht.” Und fie nidt troßig mit dem Kopf. „Denn kann ich auch gehn.”

„Er wird aud) wohl warten oben, bei der Herzogslaube. Wenn der Abend Tommt, da iſt's —“

„Woher weißt du das? Das?“

Mit raſchem Griff hat ſie den Hut auf und den Mantel umgeworfen. „Es geht doch dich eigentlich nichts an!“ und dabei tritt ſie zornerfüllt mit den kleinen Füßen auf.

„Meinſt du?“

Schwapp! ſie ſchlägt die Thür, die Haus— glocke giebt nur einen halben, bimmelnden Ton; ihre Tritte erklingen unter dem Fenſter. Und nun fort, ganz fort.

Es geht ihn nichts an! Fritz ſetzt ſich es geht ihn nichts an. Und fort iſt fein Bachſtelzchen gemwippt, fort, für immer.

Frau Antoinette hat ſich allerlei im Haus zu ſchaffen gemacht, in der Küche und im Keller ift fie geiwefen und auf den Boden ge: ftiegen. Nirgends ließ es fie lange. Die Zeit will gar nicht hingehen. So ift fie denn auch in den abenddämmernden Garten ge: gangen, wo es fie fröftelt. Ohne Tuch, leicht: finnig, das ſieht fie felber ein. Aber, einmal wird’3 nicht gleich ſchaden. Sie muß doch den Kindern da drinnen Zeit günnen. Die Stunde fommt nie mieder, das weiß fie, fühlt

Der Einzige,

fie. _ Weiß fie nicht aus Erfahrung, aber ihrem Fritz fühlt ſies nach das ift eine eigen: Sache um Mutter und Kind; immer Ningt's in ihrem Herzen, iva3 den Jungen bewegt. Und nun fol es glüdlich werden, ihr Eorgen: und Angftfind, nun wird alles gut und ihr Lebensabend ſchön, friedlich.

Gegen den Abendhimmel hin heben ſich die Äſte und ſprießenden Knoſpen und die Nadelhölzer fein ab. Schön iſt's rings um, ſie meint, ſie habe es noch gar nicht ſo geſehen. Müde, verzwitſchernde Vogelſtimmen. Sie muß an müde Kinder denken, die man in ihr Bettchen legt und deren Eleine Mäulchen eben noch lallen. Und es ift fo warm in ihr, das Herz jo weit. Geben will fie, viel mehr als bisher, Thränen trodnen, wo fie fan. Denn der liebe Gott hat doch nun alles gut gemacht Dankerfüllt ift ihre Bruft. Es ſchlägt vom Turm. Sie zählt. Eo fpät [don dann fann fie auch hineingehen. Dann ift gemefen ztvifchen ihnen, an mas fie allein nur ein heilige Recht haben, das Ausfprechen über ihre jungen, glüdlichen Gefühle. Und leichtern Schrittes als gewöhnlich gebt die zierliche Frau

So ftill iſt's, ſonſt hört man immer die beiden, Miles Lachen Hand in Hand werden fie fiten. Noch ein ganz flüchtiges Zögern vor der Zimmertbür.

„Ra, nu fol id) wohl —“

Das Halbdunkel über dem Raum läßt fie im erften Augenblid nichts unterfcheiden. Dann fieht fie, daß Frigens Kopf ſich aus der Eofa: ede emporhebt.

„Fritz allein!” ftößt fie ganz verwundert hervor.

„Ja, Mutter, allein!” Und wie ein Schwankender fommt er auf fie zu und legt den Kopf gegen ihre Schulter. „Mile, weißt du, die fann mich nicht gern haben, die bat einen andern lieb. Den fchönen, gefunden Forftlandidaten weißt du!”

* * *

Neben der Uhr, deren Schlagwerk ab: geftellt ift, auf dem Vorplatz, fteht Antoinette Wagner und ficht zu den Arzt auf, befien hohe Geftalt fie weit überragt.

„Nein, Herr Sanitäterat, tbun Sie das nich' beichönigen Sie nichts. Ich kann es

Der Einzige.

wiſſen, muß es. Ich babe fo viel in meinem Leben getragen! Wozu fol ih wien Kind behandelt werben?”

„Liebe Frau —“

„Ihm haben Eie doch gewiß die Wahr: heit gejagt, gleich nach dem fehredlichen Blut: ſturz!

„Er iſt doch ein Mann!“

Ein bittres Lächeln zieht über ihr blaſſes Geſicht.

„Das is er wohl! Ein rechter Mann, der über feine Frau fortgegangen is. Immer! Aber an dem Sterbebette, da will ich mein Recht. Denn das is es, Herr Eanitätd- rat!”

Und der Arzt, der gewohnt ift, ale Fragen und Einmifhungen fonft in feiner herriſchen Art Fury abzuſchneiden, nidt und fagt: „Befler werben Tann er nicht, die Hoffnung ift vor= über!”

Eie ftößt einen qualvollen Seufzer aus.

„Eben war er noch bei Bewußtſein. Ich ftreichelte ihm und fagte: ‚Weißt du denn, wer bei dir iß, mein Junge? Da flug er bie Augen groß auf und fah mid an: ‚,Jawohl Mutter! Aber dann hat er fie wieder zu: gemacht und liegt ftil, ganz till! Ich möchte feine Minute von feinem Bett weg nur Ihnen das fagen wollt’ id, als ich Sie tommen ſah. Und ich babe wohl recht? Lange Zeit —"

Ein Niden nur.

Eie ſchreit nicht, fie macht Feine Beivegung.

„Ich danke, Herr Sanitätsrat!”

Er faßt nad ihrer Hand und brüdt fie teilnehmend, das ift man fonft aud nicht an ihm gewohnt.

„Sehn Eie, daß Wagner er giebt ben Einzigen hin und er thut fid) Gewalt an. Mehr als wie ihm gut iſt.“

„Den Einzigen,” fagt die Frau. „Nun hat’s ihn ereilt, nun iſt's da!” Und plögli greift fie in ihre Kleider über der Bruft, als beengten fie die.

Daß es der Einzige blieb, das hat er ja gewollt das ift es ja geweſen. Wie ich den Jungen im Arm hatte, fagte er: Das is nu für alle Zeiten genug. Dem fein Erbe fol nicht verkürzt werden! Und ging hin den andern nad.“

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Eie lehnt ſich zurüd und fieht wie in weite Fernen. „Ich hatte das Kind! Meinen Jungen und das war mein Glüd neben der ſchmachvollen Behandlung aber, wenn der Kleine nach Geſchwiſtern verlangte und mit ihnen fpielen wollte, tie andre Kinder das that mir weh!”

Die Lippen des Arztes prefien fich feſt zuſammen, er weiß nichts zu antivorten.

„Ein Mann verfteht das wohl nid ich will aud nid, daß Sie mich bedauern. Aber einmal babe ic) es doch ausfprechen müffen. Und Sie, Eie haben ja auch immer fo'n be= fonderen Menſchen in ihm gefehen! Wenn er jegt von dem Schlage hart getroffen wird, inwendig, da wird er fi) wohl noch ganz mas anbres fagen!” Dann macht fie bie Thür auf und läßt den Arzt borantreten. Das Bett ift von einem Stellſchirm gegen das zu belle Sonnenlicht gefhügt. Konrad Wagner figt am offenen Fenfter.

„Er ſchläft!“ fagt er leiſe aufftehend zum Doktor hinüber.

Bord fieht auf das weiße Gefiht in den meißen Kiffen, faßt nad der ſchlaffen Hand und ſchüttelt langſam den Kopf. „Er wacht nicht wieder auf!”

Kein Laut lommt über die Lippen der Frau.

„Mutter, Mutter!” ftöhnt Konrad Wagner und will fie mit einer plöglichen Bewegung an fich ziehen. Da wehrt fie ihn ab.

Ihre Hände find gefaltet, fie fprict in ihrem Herzen.

„Mein Einziger!” murmelt der Mann und fintt auf einen Stuhl. Dann fehüttelt es ihn.

Sie ſtreicht über das Haar ihres Lieblings, über feine Hände, die ſchmalen Wangen. Co viel Friede ift in dem ftillen Gefiht. Den Mann, vor dem ber fanfte Junge und fie gegittert haben, den fieht fie gar nicht.

Langſam geht der Arzt hinaus, die Treppe hinunter. Es ift volle Maienfreude in ber Natur. Schwartenbeck, der Barbier, bienert, an der Linde ftehend.

„Herr Sanitätgrat, wenn man fragen barf, mie fteht’3 um den Patienten?”

„Der hat feinen Doktor mehr nötig!”

„D, der arme Herr Holjherr, o jemineh!“ und Schwartenbed winkt die Schultzeſche und

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Kracke heran, die drüben an ber Hausede fteben.

„zeute, foeben thut mir Herr Sanitätsrat zu willen, daß es mit'm jungen Wagner vorbei is. Ganz, wie ich geſagt babe! Keine Ausfiht, habe ich gefagt. Der Sit der Krank⸗ “beit war tief. Sa, unfereiner! Un’ nu will ich gleih mal in die Sägemühle ftürgen und denn Me, das is nu’3 Allerneufte!” Und er wirft feine langen Beine und ruft im Davonlaufen: „Das is'n Schlag für den Holzherrn!“

Kracke ſieht die Schultzeſche an. „Ja, reiche Leute können ſich's ewige Leben auch nich kaufen!“

„u der Einzigfte, der Allereinzigſte!“ ſagt die Schulte’fche.

„Denn kann de Holzherrn ja ein’ von bie DiePfche ihre aptieren, das ftimmt ja ganz gut!” grinft der Bummler.

„Schandmaul!“ fagt die Schulge’fche.

An der nächſten Ede trifft der Sanitätsrat auf den Bürgermeifter, ber ihn ftellt.

„Ergebenfter Diener, mein Freund und . Gönner; ganz ergebenfter! Sie ſehen mid) an 4 .

„Sind jo patent!”

Der Heine Herr fuchtelt mit dem Spazierſtock.

„sn der Eägemühle Beſuch machen. Der alte Herr ift jet feltfam nacdhgiebig meinen Vorfhlägen in Gemeindeſachen gegenüber. Da beißt’ warm halten, fchlau fein! Hahaha!“

„So! fo!”

„Lächeln fo auf Ihre Art, mein Aller: verehrtefter! Na ja, was werden fann man foll nichts verſchwören. Eehen Sie, der junge Roth, lieber Kerl, der bat mir zu ver: ftehn gegeben, daß nämlich, eine allerliebfte junge Dame, Fräulein Emmy, habe fie fennen gelernt.” Er ſchwingt das Stöckchen durch die Luft. „Und Adel und Titel und Stellung immerhin iſt man doch fein Greis in den Augen vernünftiger Mädchen.”

Der Sanitätsrat zieht „Ra, denn: gratulor!”

„Ganz foweit iſt's ja nicht. nicht iſt, kann werben!”

Den Etodgriff am Kinn, geht der alte

eine Grimaffe.

Mag aber

Der Einzige.

Herr weiter. Onkel! Onkel!“ rufen ein vaat Arbeiterlinder. Er zieht eine Düte mi Bonbons heraus und giebt in jedes ber it ihm entgegenftredenden dicken Patſchhändchen ein paar Stüde. „Onkel, mich auch!” ker: es von anderen Heranfpringenben. „Ih, It mal an! Gefindel, ihr!”

Und brüben beim Eingang in den Piart. garten kommt ein Paar auf ihn zu, Der er: fandidat, Mile Zebfe führend.

„Bottseindonner! So öffentlich 2” frauı er und bleibt drobend ftehen. „Denn von

dem heimlichen Zufammengelaufe wußte ſchon

ganz Blumerode.”

„Darum, Herr Eanitätsrat, babe ich meint Verlobung publiziert,“ entgegnet Der jtattlide Menſch ſchneidig.

„So! Ja!“

„Onkelchen, Tein Glückwunſch?“ ſchmeichelt Mile und duckt das Köpfchen.

„Manchmal ift der Menſch zu ſowas nid aufgelegt.” Er befommt plöglih einen jch ernften Ton und wirft fich in die Bruft. „Tas Mädchenvolf iS ja nun mal fol Uniform und grüner Rod find immer fhöner. Bon Ihnen“ und er tippt dem hübfchen Menfhen auf die Bruft, „will ich hoffen, daß Sie fein Wind— hund find, wie fo viele Ihresgleichen. Ein ander Städtchen, ein ander Mädchen!”

„bo, Herr Sanitätsrat!

„Sa, ich erlaube mir das zu fagen! Ter grobe Bord heiße ih! Is mir ganz genau bewußt. Die bier is ſo'n kleiner Liebling von mir, troßbem fie ſo'n flattriges Geſchöpfchen i8. Die verfteht mich ſchon. Na, denn alle zur Beruhigung der lieben Einwohner verlobt. Werbe zur Mutter fommen und ihr meine Viſite machen. Ins eine Haus fommt Trauer, ind andre Freude. Fritz hat's nun über ftanden —“

„Ad, Onkel!” und Miles Augen werben feucht.

„Ja, das Leben forgt für Abmechjelung, das is mal fo. Alſo der is fein Wind: hund? weißt's gewiß!”

„Wir haben ung doch fo lieb, Onkel!“

„Denn man zu!” Und mit ballenden Chhritten geht er meiter.

A

Harn Homerville.

Alice Bouffet.

Racdrud verboten. 8 keiner Zeit ſind Weſen und Sein der Frau, ihre Natur und Eigenart ſo ſehr zum Gegenſtand der Beobachtung und Forſchung gemacht worden, wie in unſeren Tagen. So lange man die genialen, durch Wiſſen und Können hervorragenden Frauen als vereinzelte, ſeltene Typen der Gattung hinſtellen konnte, bie feinen merk⸗ baren Einfluß auf ihre Gefchlechtägenoffinnen übten, blieben die herrſchenden Anschauungen über die weibliche Hälfte der Menfchheit und deren Wertung ziemlich unverändert. Das 19. Jahrhundert hat nach diefer Richtung hin einen immer ftärfer bervortretenden Wandel geichaffen; feine frühere Epoche hat ß viel bedeutende Frauen aufzuweiſen, die Pfadfinder für ihr Geſchlecht geworden find. Die beginnende geiftige Mündigkeit der Frau, ihr Heraudtreten an die Offentlichleit mit dem vollen Bewußi⸗ fein der ihr eignen urfprünglichen, der Nutzbarmachung hartenden Kräfte, bebeutet einen Markflein auf dem Entwidlungswege ber Menfchheit.

Unter den Frauen ber Neuzeit, die ihre Begabung und Kraft mit Erfolg dem Dienfte ftrenger Wiflenfchaft gewidmet haben, nimmt die Britin Mary Somerville wohl den erften Rang ein. Da ihr Leben und ihre umfafiende Thätigkeit auf mathematifchem und naturwiffenfchaftlichem Gebiet in Deutichland bisher ziemlich unbeachtet geblieben ift, fo fol in folgendem eine kurze, überfichtlihe Darftellung besfelben verfucht werden, auf Grundlage des Buches, das im Jahre 1873, etwa 12 Monate nad) dem Tode der gelehrten Frau, erfchienen ift: „Personal Recol- leetions from early life to old age of Mary Somerville with selections from her correspondence by her daughter Martha Somerville.“ (T,ondon, John Murrey Edit.) Das Wert umfaßt 376 Seiten, die den „Erinnerungen“ entlehnten Auszüge find von der Herausgeberin mit kurzem verbindenden Text verfehen. Sie ift, wie es in der Einleitung heißt, nicht ohne Bedenken, nur dem dringenden Anraten werter Freunde folgend und geleitet von der Sewägung, daß „einige Mitteilungen über einen fo hervorragenden und herrlichen Charakter” nicht ohne Intereſſe für die Mit und Nachlebenden fein können, an diefe Aufgabe heran: getreten. Dem Sinne der Verftorbenen entiprechend, find Mitteilungen privater Natur aus ihrem Leben und ihrer vertraulichen Korreipondenz von ber Veröffentlichung ausgeichloffen worden. Die eingefügten Briefe von berühmten Männern und Frauen beziehen fich faft ausfchließlih auf Mary Somervilles wiſſenſchaftliche Werte.

* J

Mary Fairfax wurde am 26. Dezember 1780 in dem ſchottiſchen Landflädtchen Jebburg geboren, im Haufe ihres Onkeis und fpäteren Schwiegervater Dr. Thomas Somerville, der daſelbſt länger als ein halbes Jahrhundert hindurch das geiftliche Amt eined Rektors verwaltete. Die Somervilles entfiammten einer alten, zur ſchottiſchen Ariftofratie gehörenden Familie; des Rektors Gattin und Mary Mutter waren Schwetern. Mary8 Vater, Wiliam Fairfax, trug einen Namen, der buch Lord Fairfax, Anführer des Parlamentsheeres gegen Carl I., Hiftorifch geworden iſt. Er diente in der englifchen Marine, zeichnete ſich ruhmlich aus in der gegen die Holländer fiegreich außgefochtenen Seeſchlacht von Camprebuin, erlangte infolgebeflen die Ritter:

670 Mary Somerville.

würde und ftieg allmählich bis zum Range eine® PVizeadmirals; als folcher iſt er nach 67jähriger Dienftzeit geftorben. Der Wohnfig der Familie, die während der or langen Abweſenheit des Vaters fehr zurüdgezogen und mit geringen Mitteln lebte, befand ficb in einem Kleinen Küftenorte der Graffchaft Fife, Burntisland, wo Marv mit zivei Brüdern unter Obhut der Mutter in glüdlicyer Freiheit heranwuchs. In ihren „Erinnerungen“ giebt fie von beiden Eltern eine kurze Charakteriftil. Ter Bater war ein fchöner Mann, tapfer und von vornehmer Sefinnung, ein vollfummener Gentleman, äußerlich jotwobl wie im Charakter. ung und mit geringen Schul— tenntniffen ausgerüftet, war er in den Dienft getreten, hatte aber durch Lektüre fein Willen, durch viele Reifen und Erfahrungen im Berufsleben feinen Geſichtskrei⸗— erweitert. Bon der Mutter jagt Mary, daß fie nicht hübſch, aber von vollendeter Feinbeit in der Erfcheinung twie im Benehmen geweſen ſei. Sie war nachfichtig und gütig gegen ihre Kinder, die völliges Vertrauen zu ihr hatten; fie war eine jebr fromme Frau, die Bibel bildete neben den Zeitungen fait ausfchließlih ihre Lektüre. Sie befaß einen gefunden Verſtand und bediente fich mündlich wie jchriftlich einer fraftuollen Ausdrucksweiſe.

Burntisland, damals eine Heine ftile Hafenftadt in malerifcher Umgebung, bet dem in fich gefehrten, finnigen Kinde von früh an jene Eindrüde, die ihre Liebe zur Natur wedten und für alle Zukunft befeftigten. Die Vögel interejfierten fie insbeſondere, fie beobachtete ihren Flug, ihre Gewohnheiten und kannte bald alle einheimischen Arten; fie wußte „auch ihre Lieblinge gegen Nachftellungen zu jchügen und ift im ſpäteren Leben bei manchen Anläflen energifch für den Schu der Tiere eingetreten.

Marys erſtes Leſebuch war die Bibel, dann kam der Katechigmus an die Reibe, deſſen Lehrjäge fie nur ſchwer ihrem Gebächtniß einzuprägen vermochte, weil fie ibr unverftändli waren. Im übrigen ließ man fie bis zu ihrem achten Jahr ziemlid wild aufwachlen, dann begann fie an den häuslichen Gefchäften teilzunehmen uud Intereſſe für Biicher, die ihrem Alter angemefjen waren, zu befunden. Der um dieſe Beit heimkehrende Vater hielt fie zu vermehrter Beichäftigung an und forgte dafür. daß fie nach vollendetem zehnten Sabre in ein Mädchenpenfionat nad) Muſſelburg geichiett wurde, un wenigſiens fchreiben und vechnen zu lernen. Das Maß an Willen und Können, das dazumal in Schottland für ein Mädchen aus guter Familie aus: reichend befunden wurde, eritredte fich He weit über die Elententarfächer Hinaus, und die Methode des Unterrichts fcheint höchſt fchwerfällig und unerjprießlich geweſen zu fein. Der plögliche Übergang von der gewohnten Freiheit zu einer nach jeber Richtung fühlbaren Beſchränkung unter pedantiicher Vormundfchaft wurde von Marp jehr bitter empfunden. Ihr Geift erwachte indeffen mehr und mehr; als fie nad einem Sabre heimkehrte, benubte fie fortan jede Stunde, die ihre häuslichen Pflichten ihre übrig ließen, um Shakeſpeare zu Iefen, fowie Gejchichte und etwas Latein zu treiben; letzteres ohne eigentliche Nachhilfe.

Der Sternenhimmel erregte fchon früh ihre Aufmerkjamfeit, fie verbrachte heimlid mandje Stunde an dem nad) Süden gelegenen Fenfter ihres Schlafzimmers, um mul Hilfe eines Himmelsglobus die Sternbilder kennen zu lernen. Übrigend mußte ſchon früh die Erfahrung machen, daß ihre Vorliebe für Studien im Kreife der Familie und ber Bekannten mißbilligt wurde, und troß ihrer Jugend empfand fie es bereit? ala eine Ungerechtigkeit, daß es den Frauen, die Wiſſenstrieb beſaßen, vermehrt fein jollte, ihn zu befriedigen.

ALS vierzehnjähriges Mädchen verbrachte Mary einige Sommermonate in Jebburg bei ihren Verwandten; fie erzählt, daß fie nie in ihrem Leben glüdlicher geweſen fei, al? zu jener Zeit. Ihre Tante war eine liebensmwürdige Frau, vol Heiterkeit und Wib, auch befjer belefen als die Mehrzahl der Damen ihres Standes. In dem Onkel, Dr. Somerville, fand Mary zum eritenmal einen Freund, der ihren Durft nach Wiſſen verftand und billigte.e Auf langen Spaziergängen, die fie in den frühen Morgenftunden mit ihm unternahm, machte fie ihn zum Vertrauten ihrer Beflrebungen, und er lieb ihr feinen Beiltand, indem er täglich ein bis zwei Stunden den Virgil mit ihr lad und durch ernfte Gefpräche ihren’ Geift förderte. Über das Leben im Pfarrhaus,

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defien reizvolle Umgebung und den Verkehr mit den gleichaltrigen Roufinen finden ſich anziehende Schilderungen aus Marys Feber.

Der näcfte Beluch galt dem Onkel William Charter in Edinburg, in befien Haus man nad anderer Richtung bin auf ihre Ausbildung bedacht war: fie wurde in eine Tanzſchule gefchidt. Doch fühlte fie fich bei diefen Verwandten viel weniger beimifch; in bezug auf die Gegenftände, die fie intereffierten, mußte fie fih Schweigen auferlegen, daher fand man fie verfchloffen und antiebensmirbig. Die Wohlerzogenbeit junger Mädchen gewöhnlichen Schiags wurde ihr häufig als Vorbild Hingeftellt.

Die große politiiche Bewegung, die damals, von Frankreich ausgehend, immer weitere Kreife zog, beichäftigte lebhaft die Gemüter, und Mary wurde auch ihrerfeits davon ergriffen. Innerhalb der Familie und im Belanntenfreife gingen die Anfichten weit auseinander, Liberale und Konfervative befehdeten fich mit Leidenſchaft. Die vft maßlojen und ungerechten Angriffe gegen den Liberalismus veranlaßten das junge Mädchen, fih auf_feiten des Tegteren zu flellen, von Jugend an hatte ihr Geift gegen Bedrüdung und Torannei fih aufgelehnt, fo trat fie auch Bier für die Freiheit ein, wobei ohne Zweifel der tiefe Unmwille darüber mitwirkte, daß alle Gelegenheiten zu wiſſenſchaftlicher Ausbildung, die den Männern fo reichlich geboten wurden, ihrem Geſchlechte verfagt blieben. Denn fie felbft war von dem brennenden Ehrgeiz erfüllt, ſich nad) irgend einer Richtung hin auszuzeichnen und fühlte in fi, daß die Frauen fähig feien, einen höheren Platz in der Schöpfung einzunehmen, als den, der ihnen damals eingeräumt wurde. Übrigens bat Mary die damals eingefogenen freien politifhen und religiöfen Anfichten ihr Leben lang bewahrt; fie war jedod nie republikaniſch gefinnt, vielmehr hat fie eine bochentwidelte Ariftofratie flet3 für not⸗ wendig erachtet, um ein Volk zu regieren und ed auf eine höhere Rulturftufe zu heben.

Nach ihrer Rückkehr von Edinburg wurde Mary als eben erwachſene junge Dame in das gejellichaftliche Leben von Burntisland eingeführt. Sie fand wenig Vergnügen daran, empfing aber merkwürdigerweiſe bei einer Polen Gelegenheit den erften Anftoß zu dem großen Studium ihres Lebend. Beim Durchblättern einer Modenzeitung fiel ihr Blid auf eine algebraifche Aufgabe, deren Zeichen ihr fremd und unverftänblich waren; von nun an ruhte fie nicht, bis fie den Schlüffel zum Verfländnis jener Wiſſenſchaft fand; es gelang ihr nach einiger Zeit, ſich Elementarbücher für Algebra und Geometrie zu verichaffen; doch Fonnte fie zunächſt ohne meitere Anleitung nur wenig daraus lernen. Außerdem trieb fie Griechiſch, las den Xenophon und teilweife den Herodot; mehrere Stunden bed Tages wurden dem Klavierfpiel gewidmet. Im folgenden Winter fiedelte die Familie nach Edinburg über, wo Mary raftlos weiter arbeitete und ben Kreis ihrer Studien durch Aufnahme des Italieniſchen erweiterte fowie durch den Beſuch der neu eröffneten Malakademie für Damen, die von einem tüchtigen Landſchaftsmaler namens Nasmyth geleitet wurde. Durch diefen Lehrer wurde Mary auf Euflid „Elemente der Geometrie” bingewiefen, die er ihr als Grundlage, nicht nur ber Peripeltive, fondern auch der Aftronomie und aller mechanifchen Wifjen- ſchaften bezeichnete. Es gelang ihr jedoch erft im folgenden Jahre, durch Vermittlung eined jungen, für ihren Bruder engagierten Hauslehrers das fehnlichft gewünschte Werk zu erhalten. Die Bedeutung der Algebra und Geometrie wurde ihr nun zwar erklärt, aber der Philologe war nicht imflande, ihr Anleitung zum Studium biefer Fächer zu geben; fo blieb fie, wie bisher, auf ihre eigenen, wenig fruchtbaren Bemühungen angewielen, und mit tiefer Niedergeichlagenheit empfand fie oft, daß der Erfolg in keinem Verhältnis zu dem Aufwand an Zeit und Anftrengung fland.

Edinburg war zu der Zeit noch die wahre Haupiſtadt Norbbritanniens, der Mittelpunkt des geiftigen Lebens; bie meiften ber angejehenen fchottifchen Familien piiegten den Winter dort zu verleben. Das Theater, an dem vortrefflihe Künftler wirkten, übte eine große Anziehungskraft, obgleich das unter den ftrengen Kalviniften dagegen herrſchende Vorurteil noch keineswegs erloſchen war. Die Familie Fairfar batte jedoch in diefem Punkt, wie in manchen andern, freiere Anfichten; Mary befuchte daher oft und gern die Vorftellungen, namentlich wenn Shakeſpeares Werke auf die Bühne Tamen. Die bedeutendflien damaligen Schaufpieler waren moralifch unantaftbare

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und daher bochgeachtete Perfönlichkeiten; Mary nennt u. a. die berühmte Mira Eibbon:, mit der fie in jpäteren Jahren in perfönliche Berührung getreten if. Unter dem Schuß einer möütterlichen Freundin (da die eigene Mutter in Abwefenbeit ihre: Gatten von der Gejelligkeit außer dem Haufe fi fern Hielt) befuchte Mary aus Gefellichaften und Bälle; fie liebte den Tanz, und fie verfertigte ſelbſt Die einfachen, weißen Balllleider von feinem indifchen Mouffelin, die den Anforderungen damaliger Zeit genügten. Weber diejen, nicht allzubäufigen Vergnügungen verlor fie jedoch nır ihren Hauptziwed aus den Augen; die frühen Morgenftunden maren regelmäßig dem Studium, die fpäteren der Mufil gewidmet, außerdem malte fie fleißig und entwidelte ihre fünftlerifchen, gar nicht unbedeutenden Anlagen zur großen Freude der Mutter.

Manche der Litteraten und Gelehrten Edinburgs waren mit den Fairfax befanıtt; Mary kam öfter mit ihnen in Berührung, doch Feiner wurde auf ihre ernfte willen: Ichaftlihe Richtung aufmerkſam. Ihre Beicheidenheit und eine aus den einfanz ver: lebten Kinderjahren berfiammende Scheu verhinderte fie, mit ihren Sntereffen irgendivie bervorzutreten; es war ihr fchon peinlich, Gedanfen oder Meinungen im größeren Kreife laut zu äußern, geſchweige denn eine führende Rolle in der Unterhaltung auf fih zu nehmen.

Die Außere Erfcheinung bed eben erwachlenen Mädchens war jehr harmoniſch: unter Mittelgröße und zart gebaut, Fräftig und leicht in der Bewegung, hatte fie einen Heinen Kopf, üppiges braunes Haar, ein angenehmes Gleichmaß der Züge, glänzend: Augen mit intelligentem Ausdruck und einen Fehr Thönen Teint. In fpäteren Jahren ſprach fie einmal fchergend ihr Bedauern darüber aus, daß niemand fie gemalt babe, folange fie noch jung und hübſch gewejen; die Anmut des Ausdrucks und die ihr eigene, durchgeiftigte Schönheit hat fie jedoch durch ihr ganzes Leben bewahrt. Eine in Rom von Meifterhand modellierte Büfte, die alternde Frau bdarftellend, deren Abbild dem Titelblatt der „Memoirs‘ beigegeben ift, legt Zeugnis dafür ab.

Im Sabre 1804 Tam ein entfernter Verwandter, Mr. Samuel Greig, Rommilfionär der rujfiihen Marine, nach Burntisland; er wurde als Vetter mit fchottifcher Ball: freundfchaft aufgenommen, und nach einiger Zeit hielt er um Marys Hand an. Dir Eltern gaben ihre Einwilligung unter der Bedingung, daß er nicht nach Rußland zurüdtehre; er bewarb fi) um den Poſten eines ruflifchen Konfuls in Zondon, den er erhielt, und bald führte er die junge Frau in fein bortiges Heim. Es ift Taum anzunehmen, daß von ihrer Seite eine tiefere Neigung zu diefem Mann beftanden babe,. da eine Hauptbedingung zu geiltiger Harmonie zwifchen beiden fehlte. Mary wußte, daß er weder Verſtändnis noch Intereſſe für irgend einen Zmeig der Willen: Ihaft beſaß, daß fie alfo von ihm feinerlei Förderung ihrer Beftrebungen erwarten fonnte; zudem begte er eine fehr geringe Meinung von den intellettuellen Fähigkeiten des weiblichen Gejchlechtt. Es mögen wohl baupttächtid Bernunftgründe das treibende Motiv zu dieſer Heirat gewejen jein. In den „Erinnerungen“ ift wenig über dit erfte Ehe gelagt, die jchon nach drei Jahren durch den Tod Samuel Greigs gelöft wurde, Mary bat überhaupt jelten davon geiprochen. Sie benugte im Anfang ihre? Londoner Leben? die Stunden des Alleinjeind zur Fortfegung ihrer Studien, bis Mutterpflichten einen Zeil ihrer Zeit in Anfpruh nahmen. Der gefellige Verkehr bejchränfte fich zumeift auf einige ruffifche Familien, die der jungen Frau ſympathiſch waren, bejonderd die Komtelle Woronzow, Tochter des ruffiichen Gefandten, die Patin ihres Alteften Sohnes wurde, der den Namen Woronzow erhielt.

Bald nach der Geburt des zweiten Knaben, ber fpäter im Kindesalter ſtarb. tehrte Mary als Witwe in dad Haus ihrer Eltern zurüd. Da fie fehr ftill Ichte, blieb ihr neben der Sorge für die Kinder genügende Zeit zu wiſſenſchaftlichen, in®: bejondere mathematifchen Studien. Nachdem fie ebene und ſphäriſche Trigonometrie und Kegelichnitte, jomwie Ferguſons Aſtronomie gründlich vorgenommen Hatte, machte fie ih an Newtons Buch über die mathematische Grundlage der Naturwiflenfchaften, „Prineipia“ genannt. Die Schwierigkeiten, auf die fie bei der Durcharbeitung dieſes Wertes ftieß, konnte fie nur langjam und nad) eorelor de Bemühungen tieferen Ein: dringens bewältigen. Nachdem fie mit Wallace, Profeſſor der Mathematik in Edinburg,

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unbefümmert darum, daß man fie für ercentrifch und thöricht Hielt; das letztere info: fern, als man der Anfiht war, daß fie ihre Zeit und ihre Mittel beffer darauf ver: wendet hätte, ein behagliches gejelliges Leben zu führen.

Außer Wallace find noch drei Männer zu nennen, die als Begründer und Herauögeber der gerade damald auf ihrer Höhe ftehenden „Edinburgh Review“ bie Träger des im beften Sinne modernen Geifteslebend in Schottland waren: Henrv Brougbam, Sidney Smith und Profeffor PBlaifair, mit denen Mary in Verbindung ftand, und von denen der erftere einen hervorragenden Einfluß auf ihre fpätere willen: Ichaftliche Laufbahn gehabt bat.

* *

Mary Greig hatte in den Jahren ihrer Witwenſchaft mehrere Heiratsanträge erhalten und zurückgewieſen. Im Frühjahr 1812 ſchloß ſie den Ehebund mit ihrem Better, Dr. William Somerville, und von dieſem Zeitpunkt an wurde ihr Leben in breitere, beiwegtere Bahnen gelenkt. Sie gab und genoß das Glüd einer harmoniſch geftalteten Häuslichleit und fand fich getragen von der Liebe und Verehrung eines Gatten, der ihrer eigenartigen, bedeutenden Begabung die Wege ebnete, ihr jede mögliche Förderung zu teil werden ließ. Dr. Somerville war der ältefte Sohn des Rektor? von Jedburg; ſeit der Vollendung jeiner Studien bis zum Zeitpunkt feiner Heirat Hatte er als Militärarzt im Kolonial- und auswärtigen Departenıent fait immer auf Reifen und in den britiichen Kolonien fich befunden. Er war zugegen geivefen bei der Einnahme des Kaps der guten Hoffnung burch die Engländer im Sabre 1806 und war der erjte Europäer, der (mit Lebensgefahr) in dad Land jenfeits des Dranjefluffes vordrang, was zu zahlreichen Beobachtungen von willenfchaftlichem Sintereffe führte. Später brachte der Dienft ihn nad Kanada. Nach feiner Rückkehr in die Heimat wurde er zunächſt an die Spite des Militär-Medizinalamts in Schott: land geſtellt. Das junge Paar nahm feinen Wohnfig in Edinburg.

Dr. Somerville bejaß feine eindringende Gelehrſamkeit, aber er war in vielen Fächern mohlunterrichtet, verfügte über ein gelundes Urteil, eine gut entwickelte Intelligenz und viel Weltkenntnis. Seine klaſſiſche Bildung war ebenfo tüchtig wie jeine Kenntniffe in mebreren naturwiffenfchaftlichen Fächern, namentlich in ber Botanil und Mineralogie. Er war großmütig, Hilfabereit und aufopfernd, wo immer fid) Anlaß dazu bot, und wurde feiner trefflichen Charaktereigenſchaften halber Überall gefchäßt.

Die Ehe beider war eine ſehr glüdliche, da fie fi vollkommen ergänzten; er würdigte völlig die ausgezeichneten Eigenfchaften feiner Frau, war ftolz auf ihren Befig und erkannte rücdhaltlos ihre geiltige Überlegenheit an. Bon den Schwieger: eltern wurde Mary mit großer Liebe als Tochter aufgenommen, beide begten Längit den Wunfch, diefe Verbindung fich vollziehen zu fehen. Der Rektor hatte die Nichte, die in feinem Haufe geboren war, von jeher wie ein eigenes Kind betrachtet und ibren Entwidlungggang mit väterlichem Anteil verfolgt; er zollte ihren ungewöhnlichen Gaben und ihrer außgereiften Perfönlichkeit die vollfte Bewunderung und Anerlennung-

Ermutigt durch ihren Gatten, jeßte Mary nach der Verheiratung das Studium des Griechijchen fort, unterftügt von einem jungen Mann, der als Lehrer ihres Sohnes Woronzow und als Sekretär des Doktors ihr Hausgenoffe war. Dad Studium der Geologie und Mineralogie trieben beide Gatten gemeinfam; fie legten dabei den Grund zu ihrer jpäteren wertvollen Sammlung von Mineralien.

Zu den älteften Freunden der Somervilled gehörte Walter Scott, deijen Wohn: fig Abbot3ford nicht fern von Jedburg lag; das junge Ehepaar unterhielt ebenfalls freundfchaftlichen Verkehr mit dem gaftlichen Haufe des Dichters, den eine gewenfeitige berzlihe Sympathie mit Mary verband. Scott war damals noch nicht der befannte Verfaſſer der „Waverley Novels“, die feinen Ruhm dauernd begründen jollten, aber nur zu bald lagerten fich die dunklen Schatten um ihn, die feine letzte Lebenszeit getrübt Haben.

Nach vierjährigem Aufenthalt in der jchottifchen Hauptitadt wurde Dr. Somerville als Mitglied der Medizinal:Armee-Kommifjion nach London verjegt, wo man ihn zu:

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gleich mit der Leitung des großen Militärhofpitals in Chelſea und mit der Infpeltion der gleichartigen britiihen Anftalten betraute. Beide Amier hat er bis 1838 verwaltet. Innerhalb diefer 23 Jahre entfaltete Mary ihre größte wiſſenſchaftliche Thätigkeit; obwohl fie biß dahin noch feine größere Arbeit veröffentlicht hatte, war der Ruf ihrer Gelebrfamteit ſchon in weitere Streife gedrungen; es wurde ihr leicht, da das geſell⸗ Ichaftliche Leben Londons einen bemerkenswerten Aufſchwung genommen, mannicfade wertvolle Beziehungen anzufnüpfen. Durch Profeffor Wallace wurde fie bei Wilhelm Herfchel eingeführt; mit ihm und namentlich mit feinem einzigen Sohn John, derzeit noch ein Züingling, ift fie durch Bande herzlicher Freundichaft lange verbunden geweſen. Mit Wilhelms Schwefter und treuer Gehilfin Karoline, der fpäter, gleich ihr ſelbſt, die für Frauen feltene Auszeichnung zu teil wurde, als Mitglied in die Fönigliche Aftronomifche Gefelichaft aufgenommen zu werben, wurde fie dagegen nicht bekannt.

Das Haus der Somervilles in Hannover Square, nahe den wifenfSaftligen und Kunftinftituten der Hauptſtadt, bildete bald einen Mittelpunkt für den Verkehr der gelehrten Welt; dort erfchienen unter andern auch die beiden franzöfifchen Aſtronomen Arago und Biot, die zeitweilig zu Etudienzweden auf englifchem Boden tweilten, um der Frau zu huldigen, die fi mit dem Hauptwerk ihres groben Landsmannes La Place, der „Mecanique Celeste“, bekannt gemacht hatte und nad) feinen eigenen Worten die einzige Frau tar, die feine Werke verftand.

Während eines bald darauf folgenden Aufenthalts in Paris fanden Mary und ihr Gatte die gaftlichfte Aufnahme im Haufe Aragos, defien Liebenswürdigfeit und univerfelle Bildung ihr einen bedeutenden Eindrud machte. Er führte fie zu La Place, der ihr fein neueftes Werk: „Systeme du Monde“ mit eigenhändiger Widmung überreichte. Mit beredten Worten fehildert Mary die Stunden anregenden und heiteren gejeligen Beiſammenſeins im engeren Kreife der berühmteften Forſcher jener Tage, zu denen außer den Genannten noch 2a Grange, Bouvard und Poinfot zählten; auch Alerander v. Humboldt war anweſend, die Zeit des Konſulats und des erften Kaiſerreichs mar die glänzendfte Epoche der phyfifalifchen Aftronomie in Frankreich.

Marys Intereſſe wandte fi) aud in Paris der Kunft und dem Theater zu; fie beiwunderte Talma und bie beiden Hauptvertreterinnen ber tragifchen und der Beiteren Mufe Mies. Duchenois und Mars; aber ald große Verehrerin Shakefpeares Tonnte fie fih mit den gefünftelten Formen der franzöſiſchen Tragödie nicht befreunden.

Während ihres nachfolgenden kurzen Aufenthalts in Genf lernte Mary den Botaniker de Candolle kennen, mit dem fie fpäter in briefliche Verbindung trat, um feinen Rat betreffs tieferen fpftematifchen Eindringens in die Botanik zu erbitten; fie betrieb ihre weiteren Studien in diejer Richtung nach feiner Anleitung.

Auf einer Schweizerreife im folgenden Jahr erkrankte Mary an einem hart: nädigen Fieber, wodurch fie jo geſchwacht wurde, daß Dr. Somerville einen Winter: aufenthalt in mildem Klima für nötig erachtete. So lernte fie zuerft Italien kennen, daB ihr im Alter eine ziveite Heimat werden follte; fie weilte in Venedig und Florenz, danach längere Zeit in Rom. Die Werke der Skulptur, von denen ſie einige der ſchönſien ſchon in Paris gefehen, zog Mary denen der Malerei vor, wobei vielleicht ihre Vorliebe für die griechiſche Kunſt und Sprache mitwirten mochte. Die Bekannt: Schaft mit Thorwaldfen und Canova gehörte für fie zu den intereflanteften Begegnungen in Rom. Die erhebenden Eindrüde, die ihre feingeftimmte Seele dort empfing, wurden noch bereichert durch öftere vollendete Mufifaufführungen, denen fie bewohnte. Nach kurzem Aufenthalt in Neapel und Umgebung kehrte die Familie im Frühling 1818 nad England zurüd. '

Ein Heiner Kreis aufblühender Kinder, drei Töchter und ein Cohn, umgab jegt das Ehepaar. Mary war eine forgfame, pflichttreue Mutter, die das Gedeihen ihrer Kinder nad) jeder Richtung bin förderte, fie gab ihnen felbft einigen Unterricht und nahm eine franzöfifche Bonne, fowie fpäter eine deutſche Erzieherin ins Haus, um den Kindern Gelegenheit zu geben, bie verbreitetften modernen Sprachen ſchon früh ſich anzueignen. Sie felbft hatte die Unkenntnis bezw. die mangelhafte mündliche Be: herrſchung derfelben zu oft als flörendes Hemmnis empfunden. Ihre eigenen

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Arbeiten wurden troß der häufigen Unterbrechungen, an denen es im häuslichen Leben nicht fehlte, mit der Ausdauer und Beharrlichkeit fortgefegt, die in Marys Charafter lag. Ihr Hauptaugenmerf war fortan auf die gewaltig fortjchreitende Wiſſenſchaft der Geologie gerichtet; die daraus rejultierenden ganz veränderten Anſchauungen vom Alter des Erdkörpers riefen ſowohl in den Reihen der Theologen als auch fonit in wielen ängſtlichen Gemütern lebhaften, zähen Widerfpruch hervor. Als Mary nach einigen Jahren ihre Werk über „Phyſikaliſche Geographie” veröffentlichte, in dem die Ergebniſſe der neueften geologifchen Forſchungen niedergelegt waren, wurde jogar von der Kanzel der York-Kathedrale unter Nennung ihres Namens gegen fie gepredigt.

Sn einem Leinen Kreife von Gelehrten, der fi abends oft im Somerpillejchen Haufe zufammenfand, wurden die wiffenjchaftlichen Fragen von Bedeutung lebhaft bisfutiert; man machte Experimente und ftellte aftronomilche Beobachtungen im Garten an. Einer der Herborragendften Teilnehmer war der Mathematiker und Aſtronom Dr. Young, der zuerſt die Theorie von den Lichtwellen aufitellte und beren Richtigfeit zu beweifen fuchte. Seine Vorlefungen, die veröffentlicht wurden, bildeten eine und: grube wertvolliten Materiald für Mary Studien. In diefelbe Beit fiel eine andere willenichaftliche That, die den Ausgangspunkt epochemachender kosmiſcher Entbedungen bildete. Dr. Wollafton fand bei Beobachtung des Sonnenfpeftrums fieben dunkle, dasfelbe kreuzende Linien; er begab ſich fofort zu Mary Somerville und twiederholte das Experiment vor ihren Augen; fie erhielt von ihm. ein kleines Prisma, das aus Frauenhofers Werkitatt in Münden ftammte, jenes Mannes, deſſen Anteil an ber Ausgeftaltung der von Bunſen und Kirchhoff erfundenen Methode der Speltralanaliic genugfam befannt if. Als Tochter eine Seemannes verfolgte Mary mit großem Intereſſe und nicht ohne Sachfenntnis die großen Entdedunggreifen, die unter Leitung von Franklin und Buchan nad der Oftküfte Grönlande, und von Roß und Paren nach Baffinsbay unternommen wurden. Als der lebtere ſich anjchidte, feine britte Neife anzutreten, wurde Mary aufgefordert, die Schiffe zu befichtigen, deren Aufenft zweckmäßige Ausrüftung, die auf dreijährigen Aufenthalt im Arktifchen Meer berechnet war, ihre Bewunderung erregte. Nach Rückkehr der Expedition benachrichtigte man die Samilie, daß eine im hohen Norden gelegene, mit ewigem Schnee und Eis bebedte nel den Namen „Somerville Island“ erhalten habe.

Die gute Gefellichaft Londons hatte zu jener Zeit eine Menge talentvoller, geilt: reicher ‘Berjönlichkeiten aufzumweifen: Rev. Sidney Smith, Rogers, den Dichter Thomas Moore, den Hiftoriker Macaulay, Will, Spencer, Campbell, Sir James Madintofh u. a. bildeten den erlefenen Kreiß, den die Somervilles um fich verfammelten. Bezeichnend für den Geift, der, von den Wirten ausgehend, die Gejelligkeit im Haufe beberrichte, ift der Ausſpruch Marys in ihren Aufzeichnungen darüber: Manche unferer Yreunde hatten ſehr ausgeprägte und ſehr abweichende religiöfe Anfichten, aber mein Mann und id ließen und niemal3 in eine. Kontroverje ein; wir hatten eine zu hohe Achtung vor der Gemillenzfreibeit, um den Meinungen der einzelnen zu nahe zu treten, und jo baben wir mit Perfonen der verichiedenften religiöfen Standpunkte in herzlicher Freundſchaft gelebt. Ebenfo Habe ich mich in meinen Büchern ſtets rein und ausſchließlich auf wiſſenſchaftlichem Gebiet gehalten, ohne das religiöfe je zu berühren. Marys eigene Auffaffung von den höchſten Fragen des Lebens wird beleuchtet durch eine Nußerung, antnüpfend an die mathematifch=technifchen Konftruftionen ihres Freundes Babbage: „Nichts bat mir einen jo überzeugenden Beweis von der Einheit der Gottheit geliefert, wie dieje rein geiftigen Begriffe von der Lehre der Gleichungen und von der Größen: lebre, die den Menjchen gewährt worden find und die in dem erhabenen allumfaflenden Geifte von Ewigkeit ber beftanden haben müfjen.”

Das glüdliche, ſorgloſe Leben in Hannover Square fand einen traurigen Abſchluß. Die lange Krankheit und der Tod der älteften Tochter des Haufes, eines Kindes von ungewöhnlicher Begabung, verfeßte die Familie in tiefe Betrübnis. Außerdem wurde fie durdy große Vermögensverlufte, verfchuldet durch die Unredlichkeit einer Perſon, der man unbedingt vertraut batte, in die Notwendigkeit verjegt, das Haus in dem bar: nehmen Stadtviertel aufzugeben und nad) Chelſea zu ziehen, wo Dr. Somerville über

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eine mit feiner ärztlichen Stellung am Hofpital verbundene Amtswohnung ver: fügte. Diefe Verſetzung in eine unfreundliche, ungefunde Gegend, weit entfernt von den Familien, die ihren Umgangskreis bildeten, war für Mary ein empfindliches Opfer, das ihr ftet3 fühlbar blieb, weil fie während der Jahre des dortigen Aufenthalts geſundheitlich viel zu leiden hatte. Uebrigens bot fi ihr alsbald Gelegenheit, neue interefjante Bezichungen anzufnüpfen, u. a. mit Lady Byron und deren Tochter Ada. Mary ift mit der Frau und Tochter des Dichters in lebendlanger Verbindung geblieben; die legtere ſchloß fich ihr Herzlich an und trieb auf Marys Rat nicht ohne Erfolg mathematifche Studien. Ihr fpäterer Gatte, Lord King, war ein Kollege und Freund von Woronzow Greig. Eine zweite, warme Freundichaft verband Mary mit der Schrift: ftellerin Maria Edgeworth; beide Frauen haben während fiebzehn Jahren Iebhafte Korrefpondenz mit einander geführt. Mary rühmte den ungemeinen Zauber ihres Briefftils und fügte hinzu: „ficherlich find die Frauen den Männern im Brieffchreiben überlegen“.

Nach der Nüdkehr von einer Reife durch Belgien und Holland, die Dr. Somerville mit feiner Frau im Frühjahr 1827 unternahm, wurde der letzteren durch Lord Broughams Vermittlung eine ebenfo überrafchende als ehrenvolle Aufforderung zu teil, die ihrem ferneren Leben und Schaffen einen neuen ftarfen Impuls verlich. Die „Geſellſchaft zur Verbreitung nüglicger Kenntniffe” wünſchte die Ausarbeitung einer popular⸗wiſſenſchaftlichen Darftellung von La Places „Mecaniyue Celeste‘, die auch den Ungelehrten die Bedeutung, den Wert und ben wejentlichen Inhalt dieſes berühmten Werks in faßlicher Weile nahebringen follte. Die Löfung diefer Aufgabe, mit der Mary Somerville auf einftimmigen Vorfchlag des Vorftandes der genannten Gefelichaft betraut wurde, war infonberteit geeignet, den Beweis zu erbringen, ob es möglich fei, den mit der Differential: und Iniegralrechnung nicht vertrauten Laien bis zu einem gemwiffen Grade Einblid in die mathematifchzaftronomische Wiſſenſchaft zu eröffnen. Nach mandyerlei Bedenken und unter der Bedingung, die Sache geheim zu halten, und der andern, daß die Arbeit in Fall des Mißlingens in aller Stille vernichtet werde, beſchloß Mary, den Verſuch zu machen. Die Ausführung erforderte eine beträchtliche Zeit, denn fic mußte bon neuem die Erfahrung machen, daß die Frau nicht das Recht ungeftörter Ruhe bei geifliger Arbeit für fich in Anſpruch nehmen tann. Sie war au zu rüdjichtövoll gegen die Beſuche, die zu ihr kamen, um ſich ihnen zu entziehen, außerdem fonnte und wollte fie um ihres Mannes willen die Gefelligfeit nicht zu fehr einſchränken. Mary befaß in hohem Grade die Fähigteit der Konzentration; wenn fie mit einem fchwierigen Problem bejchäftigt war, jo bemerkte fie nicht8 von dem, was um fie ber vorging; wurde fie unterbrochen, fo erledigte fie ſchnell und ohne Ungebuld, was man von ihr verlangte (dies galt namentlich für die Nachhilfe bei den Aufgaben ihrer Kinder), und durch lange Schulung darin geübt, ſetzte fie alsbald ihre Arbeit fort. Im großer Spannung erwartete fie das Urteil über ihr vollendete Werk, und es machte fie wahrhaft glüdlich und ſtolz, daß es in bohem Grade günftig ausfiel. Einer der berufenften Kritifer, Sir John Herichel, teilte ihr im Worten voll ehrender Anerkennung mit, daß fie den in ihr Können gefegten Erwartungen vollauf entſprochen babe. „Fahren Sie fo fort”, fchrieb er, „und Sie werden ber Nachwelt ein Andenken ungewöhnlicher Art hinterlaffen, oder, was Sie vielleicht höher ſchätzen als Ruhm, Sie werden ein fehr nügliches Werk vollbracht Haben.” Sir John war Marys treuefter und befter Freund, auf deffen Meinung fie vor alen anderen Wert legte; fie ſchätzte ihn ala Menſchen wie als Gelehrten gleich Hoch, er hegte für fie die größte Bewunderung und Hocachtung, erwies ihr ftetd ritterliche Ehrerbietung und übte zugleich offene und freimütige Kritik an ihrem Schaffen, die fie ihrerfeitö bereitiillig und dankbar aufnahm. Auf feinen Nat wurden einzelne Partien des Buches zur Erzielung geößerer Deutlichkeit und Ausführlichleit einer Umarbeitung unterzogen für die Ausgabe, die eine populäre jein follte, während die urfprüngliche Faſſung für den Gebrauch wiſſenſchaftlicher Streife beftimmt wurde. Diefe Teilung erwies fich als notwendig, denn die Verfafierin ſetzte bei dem Lefer zu viel voraus; fie konnte und wollte indefjen nicht, um das Verftändnis zu erleichtern, die Präzifion der wiſſenſchaftlichen Terminologie aufgeben.

Marb Somerville. 6

Sie vereinigen Gaben und Errungenfchaften männlicger Art mit der feinften und beicheidenften Weiblichkeit. Ich weiß in der That von feiner Frau, ich möchte fagen, von feinem menfchlichen Weſen, das foviel Erfolg und Beifall Hinnimmt, ohne in die Schwache der Eitelkeit zu verfallen.“ Brewſters Urteil ift in die Worte zufammen- gefaßt: „Das Vuch giebt eine Mare und gedrängte Überfiht ber allgemeinen Grund: lagen und vornehmiten Thatjachen der phyſikaliſchen Wilfenfchaften unter Benugung faft ſamtlicher meuen Entdedungen, die noch nicht ihren Weg in populäre Werte geiunden haben. Der Stil ift einfach, Mar, energifh und, wo es fid um Beziehungen auf großartige Erſcheinungen der Sinneswelt handelt, hebt die Sprache ſich zu ergreffender jeredtſamkeit.“

Die Verbreitung von Mary Somervilles Schriften in den Vereinigten Staaten hatte zur Folge, daß ihr auch von dort her Ehrenbezeugungen zu teil wurden. Die Geographiſche Geſellſchaft von New-NYork und bie P —ES Geſellſchaft von Philadelphia „zur Verbreitung nüglicher Kenntniſſe“ ernannten fie zu ihrem Mitglied. Perſonliche Beziehungen zu einigen ber bebeutendften Männer der neuen Welt wurden von Mary fehr geihägt; das galt befonderd von Wafhington Irving und dem Dichter Longfellow. In Bezug auf Iegteren bemerkt fie: „Das Welen und die Erfcheinung eine berühmten Mannes entfpricht nicht immer den Vorftellungen, die man fi von ihm gebildet hat, in diefem Fall aber wurden meine Erwartungen weit übertroffen.” Kongfelotos gewinnende Manieren wie feine Unterhaltung machten auf fie ben günftigften Eindrud.

Der Plan zu ihrem bedeutenden Werk über „Phufitalifche Geographie” beſchäftigte bereits Marys Denken, als eine lange und gefährliche Krankheit ihres Mannes fürs erfle ihre Zeit und Kraft in Anfpruch nahm. Die Notwendigkeit, für den Winter ein warmes Klima aufzufuchen, führte die Familie wiederum nach Stalien, wo fie in der Folge mit einigen fürzeren Unterbrecjungen ftändigen Aufenthalt nahm, da Dr. Somervilles Gefundheit dem heimifchen Klima nicht mehr ftandhielt. Der erſte Winter wurde in Rom verlebt, wo Kunft und Natur, fowie ein Kreis interefjanter Menſchen während diefer und mancher nachfolgenden „saison‘ das Leben für Mary äußert antegend und genußreich geftalteten. Sie hatte nun endlich die Freiheit erlangt, ſich ungeftört und ausgiebig mit ihren wiſſenſchafilichen Arbeiten befchäftigen zu können. Durch neue Verbindungen mit Fachgelehrten, fowie durch eigne Beobachtungen und Forfchungen in der für ihre Zwede beſonders geeigneten Landſchaft, gelangte fie allmählich in den Befig jenes umfallenden Materials, deſſen fie bedurfte, um das genannte Werk auszuführen. Während ihres Aufenthalt in Florenz im folgenden Winter würdigte der Großherzog Leopold von Toskana fie feines bejonderen Wohl: wollens; fie genoß u. a. den Vorzug, Bücher aus feiner großartigen Privatbibliothet entleihen zu dürfen, ein Umftand, der ihren Studien ſehr zu ftatten kam. Florenz bot überhaupt weit mehr litterarifche und wiflenfchaftliche Hilfsmittel als Rom. Mary Ernennung zum Mitglied der dortigen Akademie für Naturwiffenfchaften war der Anfang zahlreicher Ehrungen gleicher Art, die ihr in ber Folge feitens anderer gelehrter Körperfchaften in verjchiedenen Städten Italiens zu teil wurden.

Der nach den Jahreszeiten wechſelnde Aufenthalt führte die Familie des öfteren ſowohl in die intereffanteften Städte und Drtichaften Oberitaliend, als aud dem Süden de3 Landes zu. Mary lernte alle Städte, die fie befuchte, beffer kennen, als die Mehrzahl der Ausländer; denn überall boten ſich ihr fait ungeſucht nügliche und angenehme Beziehungen zu den bervorragendften einheimifchen Familien, ſowie zu den gerade anweſenden Fremden von Bedeutung. Sinige Briefe aus dem Jahr 1843 an ihren Sohn Woronzow Greig geben fehr anmutende Schilderungen von dem in Venedig verlebten Sommer und von Ausflügen nach Ferrara, Perugia u. |. m. Während der Reifezeit rubten die wiflenfchaftlichen Arbeiten, dagegen beſchäftigte Mary fich oft und gern mit Aufnahme von Skizzen nach der Natur. Die alte Neigung zur Malerei und bie Fähigkeit, fie auszuüben, blieben ihr biß ind Alter treu. Im Sommer 1844 teifte Mary in Begleitung eines alten Freundes auf einige Monate nad) England, wo fie zunächft in ber Familie Sir John Herfchels gaftlihe Aufnahme fand. Die

680 Mary Somerville,

vielfeitigen hohen Geiltesgaben dieſes Mannes, fein eminentes Willen, fein lieben: würdiger Charakter erfüllten fie von neuem mit größter Beiwunderung, und fie freute fich der fruchtbaren Anregungen, die fie im Verkehr mit ihm während dieſes Bei— fammenfeind wiederum empfing. Ein Befuh in ihrer fchottiichen Heimat und in Edinburg, der eine Fülle alter Erinnerungen und neuer Eindrüde hervorrief, endlich das Wiederſehen mit dem Sohn und der Schwiegertocdhter in London, das ihrem Verweilen auf Heimifchem Boden einen befriedigenden Abſchluß gab, Tieß fie erfriſcht und gefräftigt zu den Ihrigen zurüdfebren.

Unter den Arbeiten, mit denen Mary während des folgenden Winters in Rom beichäftigt war, verdient ein Erperiment bejonderer Art erwähnt zu werden. Sie unterfuchte die Wirfung des Sonnenſpektrums auf den Saft gewiſſer Pflanzen und . anderer Subftanzen; ein Bericht über die gewonnenen Ergebniffe, den fie am Herſchel fandte, wurde von diefem mit großem Intereſſe aufgenommen und der „Königlichen Geſellſchaft“ vorgelegt. Er beglüdwünichte die Freundin in warmen Worten dazu, daß ihr vergönnt geweſen fei, in einem jonnigen Klima wertvolle Unterfuchungen folder Art anzuftellen und fügte hinzu, daß dieſelben ein weites Feld fchöner und lohnender Forschungen erichließen würden, weil fie ahnen ließen, „daß das Sonnen: ſpektrum eine Welt von Wundern birgt, die noch der Entbüllung harten“.

Als Mary während eines jpäter wiederholten Aufentbalt3 in Schottland ſich anjchidte, die „Physical Geography“ in Drud zu geben, erihien Humboldt: „Kosmos“. Ihr eriter Impuls war, die eigene Arbeit zu vernichten, aber ihr Gatte bielt fie davon ab, und auf den Rat fachverftändiger Männer wurde fie dennod veröffentlicht. Das Werk fand eine fehr günftige Aufnahme, und al® Mary nadı längerer Zeit ein Eremplar der zweiten Auflage dem Verfaſſer des „Kosmos“ zu: Ihicte, erhielt fie ein überaus anerfennendes und jchmeichelhaftes Schreiben von Humboldt. „Ich kenne Fein Werk über phyſikaliſche Geographie in irgend einer Sprache, das dem hrigen zu vergleichen wäre”, heißt e8 in feinem, vorm Juli 1849 aus Sansſouci datierten Brief, und er ermutigt fie zu einer Erweiterung desfelben. „Sie allein wären imftande, die herrliche Litteratur Ihres Landes durch ein voll: jtändiges Tosmologifches Werk zu bereichern, gejchrieben mit jener durchſichtigen Klarbeit, jenem erlefenen Gejchmad, der alles, was aus Shrer Feder ftammt, auszeichnet.” Er wünfcht, daß die himmliſchen Spbären, in denen fie ebenſowohl heimifch, wie in den irdifchen, durch fie in einem Gefamtiwerf zur Darftellung gelangen möchten. Eine gleich rühmliche Beurteilung fand das Bud) durd) den von Mary hochgeſchätzten, ihr perjönlich bekannten Phyſiker Faraday, der namentlich hervorhob, daß er demfelben mandje wertvolle Belehrung verdante.

Der Krieg zwiſchen Ofterreih und Sardinien verzögerte die Rückkehr der Somervilleg nach Italien; fie gingen, um rubigere Zeiten abzumarten, tm Herbft 1848 nah München, wo fie den Winter verlebten. Seit 1822, da Mary mit ihrem Gatten eine Rheinreife unternommen, die fie bis Bonn führte, hatte fie nicht wieder auf deutſchem Boden geweilt. Eine furze Notiz aus ihrem Tagebuch über den Münchner Aufentbalt erwähnt wenig mehr al3 den Bejuch der Eaffiihen Muftlabende im Odeon; doch ſcheint fich ihr das Verſtändnis für die größten Werke alter deutjcher Tonkunſt nicht in dem Maße erjchloffen zu haben, wie für die italienische Mufit. Als die Familir Ende des Jahres 1849 italienischen Boden wieder betrat, nahm fie zunächit längeren Aufenthalt in Turin, wo fie im Haufe Cavour Wohnung fand. Die Belanntichaft mit den beiden Brüdern, insbeſondere mit dem Grafen Camillo Cavour, Stalien? größtem Staat3mann der Neuzeit, war für Mary von großem Intereſſe; fie feierte ihn in begeifterten Worten und beklagte feinen frühen Tod als ein nationales Unglüd, deſſen Nachwirfungen fich noch lange fühlbar machen würden. In Florenz, wohin fıe mit den Ihrigen zurückgekehrt war, wurde fie Zeuge der Entthronung der Oflerreichiich: Lothringifchen Dynaſtie, die Tänger als ein Jahrhundert über Toslana geberrict batte; fie begrüßte diefe Wendung der Dinge mit vollem Verſtändnis für ihre geichichtliche Bedeutung. Als Tochter eines freien Volks, getreu den liberalen Grund: jäßen, die fie feit ihrer Jugend gehegt Hatte, galt ihr das Streben der Italiener nad)

Mary Somerbille. 681

Befreiung von fremdem Joch als gerecht und felbftverftänblih. In den Briefen, bie Mary während de3 Zeittaumd vom Mai 1859 bis Juni 1861 an ihren Sohn in London richtete, nimmt die Politik einen breiten Naum ein. Cie zweifelte nie daran, daß die Sehnfucht aller Patrioten nach einem geeinten Italien fi erfüllen werde; und als es ihr vergönnt war, den Tag zu erleben, an dem Victor Emanuel in Rom, der neuen Hauptftadt des Königreichs, einzog, da flimmte fie vol Begeifterung in den Jubel ein, den dieſes denfwürdige Ereignis hervorrief. Die nahen Beziehungen der Somervilles zu den leitenden Polititern in Toskana und Piemont, zu Ricafoli, Menabrea, Minghetti u. a. trugen nicht wenig bazu bei, ihr Intereſſe an allen äußeren und inneren Vorgängen im Lande zu erhöhen.

* * *

Im Juni 1860 ſtarb Dr. Somerville nach kurzer Krankheit; in dem glücklichen harmoniſchen Familienleben entſtand dadurch eine ſehr fühlbare Lücke; aber ſo tief die so jahrige Witwe dieſen ſchmerzlichen Verluſt auch empfand, ihre Lebensenergie wurde doch nur vorübergehend dadurch beeinträchtigt. Sie beſaß noch eine verhältnis: mäßig große törperliche und geiftige Spannkraft. Die treue Pflege ihrer beiden Töchter erleicyterte ihr die herannahenden Beſchwerden des Alters und machte ihr die häusliche Vereinfamung meniger fühlbar. Mary jagt von ſich in jener Zeit, „daß die Ausdauer und Willenskraft der Jugend noch einmal in ihr aufgelebt fei”, als fie den Entſchluß gefaßt, eine neue, ihre legte größere Arbeit zu unternehmen. _

Das vervolllommnete Mitroftop hatte während des legten Dezenniums eine biß dahin unfichtbare, ungelannte Schöpfung in der Luft, im Wafler, auf der Erde, den Menſchen vor Augen geführt; die Struktur der Pflanzen und Tiere war auf das genauefte unterfucht worden, die mit dem eleltriſchen Licht angeftellten Experimente hatten zu Entdedungen von weittragender Bedeutung geführt. Mary, die alle Fort: ſchritte beftändig verfolgt hatte, ſah ein neue, weites Feld vor fi, und fie wünſchte ihre früheren Arbeiten, indbefondere „The connexion of Physical Sciences“, zu er- gänzen und abzufchliegen durch eine überfichtliche Zufammenftellung der wichtigften Ergebnifje auf jenen Forichungsgebieten. Das auf optifche Unterfuchungen geftügte Werk erhielt den Titel: „Molecular and Microscopie Science“, fie gab ihm als Motto den Ausfpruch des 5. Auguftin: „Deus magnus in magnis, maximus in minimis.“ Während des Winterd 1861—62, den fie in Turin verlebte, wo die nötigen Hilfsmittel zu diefer Arbeit am reichlichften vorhanden waren, wurde diefelbe begonnen. In den Vormittagsftunden, die fie im Bette verbrachte, pflegte Mary, troß ihrer zitternden Hände, vier bis fünf Stunden anhaltend zu ſchreiben. Ihre noch ungeſchwächte Sehkraft geftattete ihr, den feinften Drud zu leſen, jo daß fie ohne Hilfe arbeiten konnte. Das Werk wurde aber erft 1869 in zwei Bänden in London veröffentlicht; es findet fi in dem vorliegenden Material keine Erwähnung der Aufnahme, die ihm zu teil geworden, Mary felbft fagt fpäter darüber: „EB mar ein großer Mißgriff meinerfeit8, dieſes Buch zu fehreiben, und es reut mich, es gethan zu haben. Auf dem Gebiet der Mathematik, auf dem meine eigentliche Begabung liegt, hätte ich etwas Nugbringenderez ſchaffen können, wenn ich mic) ausfchließlich jenem Studium gewidmet haben würde, um fo mehr, da eine neue Ara für dieje Wiſſenſchaft angebrochen war.” Dieſes ftrenge Urteil über die_ eigenen Leiftungen ift bemerkenswert angeſichts der befannten großen Erfolge, die fie in ihrer litterarifchen Laufbahn errungen.

Als Mary von langer, bei ihrem hoben Alter nicht unbedenklicher Krankheit genefen war, wurde fie durch einen Beſuch ihres Sohnes und feiner Gattin erfreut; fie verlebten gemeinfam einige Wochen in Florenz und in Epezia, dann trat das Che: paar die Nüdreife an. Es war ein letztes Wiederſehen geweſen, Woronzow Greig ftarb plöglich im Herbft 1865. Die innigfte Geiftesgemeinfchaft hatte ihn ftet3 mit der Mutter verbunden; fo.verfiegte für fie mit feinem Scheiden eine Quelle ungetrübter Lebensfreude; doch trug fie diefen neuen Verluft mit der ihr eigenen ruhigen Würde und Kraft, in der Überzeugung, daß die Zeit nicht mehr fern fei, da der Tod fie mit ihren vorangegangenen Lieben wieder vereinigen werde.

Mary Somerville. 688

begierde des jungen Mädchens erwedt hatten, welche die an ber Außerften Alterägrenze fiebende Frau vorzugsweile befchäftigte, indem fie nicht nur mit den neueften ein= ſchiagigen Werken ſich bekannt machte, ſondern auch die Löfung algebraifcher Probleme erfolgreich unternahm. Außerdem mar fie bis zu ihrem legten Lebenstag mit der Revilion und Erweiterung einer vor Jahren geichriebenen Abhandlung über „Theory of Differences“ beſchaftigt. Daneben las fie ihre Lieblingsdichter Dante und Shafefpeare, auch die moderne Belletriftit wurde nicht verfchmäht. In Erwägung diefer und aller Umftände ift es begreiflih, daß Mary fih vollkommen glücklich fühlte, glüdlicher noch, als in den Tagen der frifchen fröhlichen Jugend; ihrem Ende ſah fie mit volllommener Faffung entgegen, obwohl es ihr ein fchredlicher Gedanke war, „daß ihr Geift ganz allein in eine neue unbelannte Eriftenz übergehen ſollte“. Dur ein gütiges Geſchid blieb fie von jeder Vorahnung des Toded verſchont; er nahte ihr im Schlaf; in den erften Morgenftunden des 29. Novemberd 1872 erlofch fanft und ſchmerzlos ihr Leben.

* * *

Einige Züge, die dad Weſens- und Charafterbild von Mary Somerville zu ver: volffändigen haben, mögen ben Abſchluß bilden. Sie war von tiefer und aufrichtiger Neligiofität erfüllt, die alle ihre Gedanken und Handlungen beeinflußte. Die Formen und Lehrfäge des kirchlichen Belenntniffes hatten für Re geringe Bedeutung, daher vermochte fie auch die moderne Weltanschauung, wie fie als Ergebnis einer fort: geichrittenen Wiffenfchaft ſich herausgebildei, mit ihrem criftlihen Glauben durchaus in Einklang zu bringen. Sie hat fi nie gefcheut, neue Ideen oder Theorieen ernitlich zu prüfen, ſelbſt wenn fie mit ihren früher gehegten Überzeugungen nicht überein- ftimmten. Sie hatte ein heiteres, fanguinifches Temperament und war flet3 geneigt, mehr bei den Lichtfeiten als bei den Schatten des Lebens zu verweilen. Beicheiden und anſpruchslos faft bis zum Übermaß, zeigte fie ftet3 das größte Intereffe für die Leiftungen und Entdedungen anderer und jorgte für die Verbreitung fremden Ruhmes, während fie um ben eigenen nie im minbeften bemüht war. „Das wahrhaft Be: deutende an ihr”, fo urteilt W. de Reumont!) nach wiederholt empfangenen perjönlichen Eindrüden, „war das feltene Maß der Beherrichung des großen Gebietes der Natur: wiffenfchaften, von deſſen Teilen feiner ihr fremd blieb, während fie in den meiften völlig zu Haufe war.” „Unter allen ihr gegollten Huldigungen blieb fie fich immer gleich, einfach und ohne Spur von Prätenfion, gleichſam unbewußt ber ihr allgemein zuerfannten hohen Stellung. Man konnte lange mit ihr verkehren, ohne zu ahnen, daß fie auf den Höhen des Wiffens ftehe. In ihrem Auftreten war fie ſehr beſcheiden; ihre Unterhaltung hatte —* Glanzendes, ihre Schüchternheit hatte von Jugend an ihre Teilnahme an lebhafter Unterhaltung in weiteren Kreiſen behindert. Ihre Lieblingsftudien waren zudem von ber Art, daß fie fich für ſolche Unterhaltung weniger eigneten. Obgleih in verſchiedenen Fächern gründlich unterrichtet, Hatte ihr Geift außerhalb der mathematifchen Fächer wohl Klarheit und Präzifion, aber weder Tiefe noch Originalität. Ihr Urteil über Menſchen und Dinge wurde mehr duch Wohl: wollen und eigene innere Harmonie, als durch fcharfes Erkennen der Charaktere und Ermeffen der Umftände bedingt. In der Erſcheinung, in der ganzen Haltung und in den Anſichten fprach ſich die ruhige, einfache Lebensanfchauung und Milde aus, gezeitigt durch überwiegend wohlthuende Erfahrungen eines von Leid und Verluften nicht verfchonten, aber trogdem reich beglüdten Lebens.“

) „Sifterifches Taſchenbuch“ 1877.

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686 Mutter Maria.

hört zivar neuerdingd wohl behaupten, daß die ftudierenden Frauen fi in Gegenſat zur Frauenbewegung ftellten, man hört offen über ihren Undank ber Frauenbewegung gegenüber Klagen. Wenn an biefer Klage etwas Wahres fein follte, jo muß mindeſtens ein mildernder Umftand geltend gemacht werden. Die heutige Frauenbewegung hat in ſich felbft ein dilettierendes Element zu befämpfen, Frauen, die kraft ihrer Eigenſchaft als „Frauenrechtlerinnen“ plöglih alles zu verftehen glauben, was mit Frauen irgendwie zufammenbängt, und die ſich daher in vieles mifchen, was fie nicht über: jehen können und was fie nichts angeht. Sie haben den ftudierenden Frauen meh: als einmal ernfte Schwierigkeiten bereitet, und die energifche Zurüdweilung ſolchet Einmifchung ſeitens der Studentinnen, wie fie ſowohl bei der Angelegenheit der Halliſchen ') Kliniziften, wie beim Fall?) Behrendt in Berlin erfolgte, war völlig geredt: fertigt. Im übrigen aber ift jede ftudierende Frau ein Produkt und ein Faktor der Frauenbewegung. Sie dient ihr, fie mag wollen oder nicht, durch ihre Arbeit. Gerade jegt ift für die deutjche Frauenbewegung der Zeitpunft da, wo fie ihre Berechtigung, die jo lange nur durch Neden behauptet iverden konnte und behauptet werben mußte, mehr und mehr durch Thaten beweifen kann und muß, und eine tüchtige Ärztin, eine Philologin, die fich Lediglich in ihre Studien vertieft, eine fähige Oberlehrerin, ein Armen: und Waijenpflegerin, eine Fabrikinfpeftorin kann ihr eine weit feftere Stüte werden, als eine Berufs: Frauenrechtlerin, die ohne Rückſicht auf das hiſtoriſch Ge: wordene ganz Deutfchland über Nacht „reformieren” möchte.

Und darum noch einmal ein Glüdauf auch der Frauenbewegung, die in biejen Tagen neue Beweisfräfte in Geftalt fähiger, tüchtiger Arbeiterinnen gewonnen bat.

I MEr—

Mutter Maria.

Ton G. 3. Rleft.

Nachdruck verboten.

„Willſt eine Weisheit? 's ift fo Menfchenart!” „Ich Schau und ſchweige.“

a8 find Worte, die bezeichnend für das Schidfal der Bühnen: Dichtung „Mutter

Maria” ?) von Ernft Rosmer find, die bei ihrer Aufführung durch dad Deutſche

Theater in Berlin (19. Mai d. 3.) von Publitum und Preffe mit Stimmen: mehrheit abgelehnt wurde. Die Ablehnung läßt ſich am Ende begreifen, wennſchon vielleicht in der verfloffenen Saifon fein ziveites Stüd vor ung getreten ift, im dent joviel ernftes, heißes Wollen, ſoviel fchönes, ftarkes, reiches Können fich geoffenbarl haben. Es ift nichts Kleines, Geringes, was und die Frau, gefchenft Bat, die fid Ernft Rosmer nennt. Aber wer fi) in die ftile Duntelheit des Zuſchauerraumes feßt, um auf der Bühne das Spiel des Lebens an fich vorübergleiten zu lafjen, der begnügt fich felten nur mit dem Schauen und Schweigen. Dffenbarungen, die dem Zufchauer dad Schweigen aufzwingen, find felten in unfrer modernen Litteratut. Und fo fucht er denn, aus einem natürlichen und gefunden Inſtinkt heraus, eine

1) f. 6. Jahrg. Heft 8 der „Frau.“ 2%) f. 7. Jahrg. Heft 6 der „Frau.“ ) Berlin 1900, S. Fifcher Verlag.

Mutter Maria. 687

„Weißheit”. Ja, das ift num eben mal fo Menfchenart. Der er läßt ſich's gern gefallen, aus des Tages Staub und Nüchternheit ind Land der Märchen zu teilen, die in ihrer unbefangenen Selbfiverftändlichkeit und Anfpruchelofigfeit und für Augen- blide den lieben, unweifen Kinderglauben wiederfchenten. Aber jolche Märchen werden heut nicht mehr geichrieben. Wir können’s eben nicht.

Ernft Rosmer bat fein Märchen dichten wollen, obſchon fie wohlbekannte Märchengeftalten um ſich verfammelt hat. Den jugendtrunfenen königlichen Menſchen, dem alle Thale der Erbe zu eng find und der ausftürmt, das Unfaßbare, Erbenferne fih zu eigen zu maden. Die Bergfee mit goldenen Haaren und filbernen Füßen, die durch die Liebe Menfch wird und mit ihrer thränenſchweren Seele nicht mehr den Weg zurüdfindet von der Erde in ihr luftiges, leidloſes Reich. Den uralten Einfiedel, der in feiner naiven Frömmigkeit, in feiner humorvollen Weltweisheit gleich dem getreuen Edart die Verirrten auf den ſchmalen, fchlichten Weg weiſen möchte und endlid den Tod, der in den legten Jahren Stanımgaft auf unfern Bühnen ges worden ift und dem wir armen Sterblichen nachgerade wohl ohne allzu großes Grauen ins Auge bliden müßten —- fo fehr zeigt er ſich als einer, der ziemlich gemütlic) und lang mit fi) reden läßt.

Diefe Geftalten hat Ernſt Rosmer zu einer fymbolifchen Dichtung vereinigt, bie üiberquillt von leuchtendfter Poefie, von zartefter, kräftigſter Schönheit, in der fa aber nicht ohne Mühe der leitende Gedanke finden und fefthalten läßt.

Der Tod kommt zum Einfiedel, der aber keineswegs geneigt ift, dem ſchwarzen Gefellen zu folgen. Er Hat nod ein Lebenswerk zu vollenden ein Glaubens: denkmal das Bild der Gottedmutter, aus einem Felſenkoloß gemeißelt; und der Tod läßt ihn jein Dafein weiter friften. Er fällt dafür den jungen Bergjäger an, der im Rauſch der Früblingskraft an den beiden vorbei in die Wolfen binaufftürmt, die weiße Bergſchweſter zu fallen und in Liebe zu fi zu zwingen. Das gelingt dem Jäger, doch er büßt feine Schöpferluft mit dem Tode. Der goldene Gürtel, den er der Geliebten entrifien hat und in feiner erftarrten Hand feſthält, zieht die Berg⸗ ſchweſter nieder aus ipren freien Regionen ind Reich der Menſchen. Schon hält die Erde fie, die Seele erwacht in ihr, und fie Hört den erften Ton des uralten, zwingenden Mutterliedes. Sie ift Menfch geworden, und an der Hand bed Todes fteigt fie hinab, ihr leidvolles Erdenwandern anzutreten und den Kampf mit dem finfteren Gefährten aufzunehmen. In kalter Nacht, im wilden Winterwind, einfam, audgeftoßen, ringt fie ihn in allgewaltiger Mutterliebe nieder und bringt ein Kind zur Welt, das fie droben in der verlafienen Hütte des Vergjägers hegt. Der Einfiedel fteht ihr bei mit Rat und That. Er forgt für fie und möchte fie zu Gott befehren. Doch trog ihrer leidenfchaftlichen, fehmerzfreudigen Mutterfchaft drängt in ihr das ehemalige Ich, der alte Naturtrieb auf. In lodender Sommernadht geht fie mit den einftigen Schweftern, die kommen fie zu holen, hinauf in den Eißpalaft zum Geiftertang. Aber auch das alte Sein hat nicht mehr volle Macht über fie. Ermattet und friedlos fehrt fie in ihre Hütte zurüd. Dort bat in der Nacht der Tod das verlaffene Kind gewiegt und hat ihm die rote Mohnblüte zu Häupten gelegt. Mutter Maria’3 Kind ift tot.

In tagelangem, ohnmächtigem Jammer, mit „ausgeweintem Menfchenherzen”, er: fämpft fie ſich wieder die alte Geifterkraft. Sie ringt um den Schatten ihres Kindes, dem fie durch ihre gefpenftiiche Gewalt den Weg zum Himmel wehrt, den fie zu fi niederlodt. Aber der ruheloje Schatten weicht vor ihr zurüd, bie ihm eine Fremde ift: „Du bift Stein dort ift meine Mutter” und wendet ſich von der Lebenden zum fteinernen Marienbild. Und in der Bergſchweſter vollzieht fich die legte, höchſte Wandlung. Die göttliche Liebe fiegt, fie giebt ihr Kind dem Himmel. Und der Tod nimmt fie, die fih durch das Staubgewand des Menfchentums zum Königsmantel der Göttlickeit Hindurchgerungen hat, in feine Arıne.

Eine Fülle von Motiven drängen ſich in der Dichtung, die aber mit einer nicht ganz wegzuleugnenden Unflarheit aneinandergereiht find. Ein Hohelied der Mutter: liebe ein Schweftergruß von Weibe zum Weibe eine in Tönigliches Gewand

588 Die Blumenſchlacht.

gekleidete Bitte Forderung vom Weib zum Mann oder einfach fchlichtiweg eu Zotengedicht alle jchimmert, wie das Licht aus dem Opal, aus der Gabe, dic Ernft Rosmer und bietet. Man läßt am beiten jeden den Kommentar zu foldir Dichtung in fich felbft fuchen. Finden wird jeder etwa® mancher viel. Es liegt nun einmal leider in der Kunft unferer Zeit, daß fie und durch viel graue Neflerion, durch viel grüblerifche Symbolif den Weg zur Schönheit erfchwert.

Ein fo außergewöhnlich ſtarkes Talent, wie Ernft Rosmer, wäre wohl aber dazu berufen, zu zeigen, daß es die Mittel entbehren kann, mit denen die „Vielen und Kleinen” arbeiten, daß es fich von der Driginalitätzfucht, von der tupifchen Furcht vor allem Einfachen, Schlichten, Grad: und Neinlinigen freimacen kann. Wer folde Sprachkraft beit, wer ſo tiefe Poeſie der Seele zu geben bat, der ift und bleibt im einfachiten Gewand am fehönften und am größten.

Die Blumenſclacht.

Bon

Charles Folen. Autorifierte Überſetzung von Wilhelm Thal.

⸗—⸗

Nachdruchk verboten.

D. junge Romanfchriftfteller Francis |! nur der eine Wunſch feiner Lieben in dir Donnel wanderte in Nizza an ber Paliſſade Erinnerung, er möge fih ruhen, neuc Kritı entlang, die auf der Promenade den Platz | fanımeln und fi zerftreuen. Won alliu

des Blumenfeltes abjchnitt,; und tief atmete er die friſchen Düfte des Tazurfarbenen Meeres, über dem ein leiter, von der Sonne in opale Töne getauchter Nebel fchiwebte. Er freute fih, Baris beim erften Frühlingshauch verlafien zu haben und bierher gefommen zu fein, um feine Phantafie anzuregen und im Zauberfeft des Frühlings neue Eindrüde zu fammeln. Zange war er vor der Ausgabe zurüdgeichredt, denn er empfand Gewiſſens— biffe, den Verbienft feiner Winterarbeit egoiftifch in einem Seebade zu verichiwenden, während feine Mutter und feine beiden Heinen Schweſtern fih in ihrem beſcheidenen fünften Stockwerk der Rue Grenelle mit dem Notmwendigiten begnügen mußten. Mutter und Schweltern aber hatten ihm erflärt, man lebe dort unten von Eonne und Maccaroni und fchlafe auf den Marmorjchivellen der Paläfte. Und von al diefen Spiegelbildern, mit denen fie ihn blenden wollten, blieb ihm mit tiefer Rührung

ftarfer Anftrengung krank geworben, vor boffnungslofer Liebe erſchöpft, gab er endlich ihrem Drängen nad), denn er fühlte, daß ei ausharren und ſich fchonen müßte. War cr doc) feit dem Tode feines Vaters ihr einzig Beſchützer. Eo reifte er denn ab, doch tu: Herz fehnürte fi) ihm zufammen, daß er fen Lieben nicht mitnehmen fonnte.

Und nun fpielte fich hier wirklich alles beinah fo feenhaft ab, wie es feine Mutter und feine Heinen Schweſtern ihm borgefpiegelt hatten. Er war auf feine Sournaliftenfreifart: gereift und hatte in der Nähe ber Rhede— promenabe, in einer breiten Straße, zu br Scheidenem Breife ein Zimmer zu ebner Erde gefunden, deffen Fenfter unter Roſenſträuchem faft verſchwand. Schon am Tage nad jeint Ankunft Schrieb er in einer mahren Leni freude an einer Erzählung, füllte mühelos Seite auf Eeite, ohne von der Erinnerung an diefe Miß Elfa gequält zu werben, die MM

Die Blumenſchlacht.

ihn zu bübfch, zu reich, zu oberflächlich war und ihn den ganzen Winter hindurch mit ihrem flirt gequält hatte. "

Ein langer Monat war nunmehr in biefem Früblingsfefte, das ihm ein blauer Himmel bereitet hatte, verfloſſen. Mit ungetrübter

Kindesfreude ſah er wunſchlos die vornehmen ,

Damen vorüberwandeln, die fih nah den Tribünen drängten. Den Blumen, die fie mit ihren langen Pliſſeehandſchuhen in dichten Sträußen hielten, entftrömte berauſchender

Duft. Der lodte zärtlihe und heiße Münfche. .

Doch der ſcharfe, kräftige Meereswind fegte dieſe galanten Düfte ſchnell hinweg.

Francis ftelte philofophifche Betragptungen |

über bie elegante Menge an, die, um fi

Bouquets ins Geficht zu werfen, ſich zwiſchen

ſchlecht gezimmerten Bretterwänden, unter erſtickend heißen Zelten, die noch dazu die herrliche Ausſicht ſperrten, zuſammendrängte. Genoß er nicht unentgeltlich das einzig wahre und ſchöne Schauſpiel? Er ging an den Eintrittsſchaltern auf und ab, nicht nur, ohne ſeine kärglichen Mittel ſchmerzlich zu empfinden, nein, er lächelte ſogar bei dem Gedanken, daß

dieſer Aufenthalt in Nizza, ohne fein Budget

zu belaſten, ihm noch geſtattete, einen kleinen, unerhofften Schatz mit nach Hauſe zu bringen, den Lohn feiner Arbeit, die ihm fo leicht ge: worden war. Er trug diefe Heine Summe wie einen Fetiſch bei fi, und doch waren es nur fieben Louisdors, die er im bem feidenen Gürtel verborgen bielt, den ihm feine Heinen Schweſtern geftidt hatten. Nicht um fi gegen die Verfuhung zu ſchützen, den hellen

Kleidern zu folgen, fondern in ber innigen

Befriedigung eines guten Bruders und guten Sohnes, der er ftet3 geblieben war, ging er

feine lieben Pläne nod einmal durch: Ein j

Xouisdor für ein Tafelgeded, ein Tiſchtuch und zwölf Servietten aus abgefanteter Leine= wand mit ruſſiſchem Mufter, blau in rot; ein

weiterer Louisdor für einen Käfig mit zwei . Infeparables, nad) denen die Heinen Schweſtern fo großes Verlangen trugen, ohne daß fie es '

twagten, dem Wunſch je Worte zu leihen, und den ganzen Reſt für einen Wintermantel für die Mama, einen warmen, molligen, gefütterten

Mantel, denn ihr mit grauem Eichhörnchenfell

gefütterter Nabmantel, den fie fchon feit

888

| zwanzig Jahren trug, war zu fehr aus der Mode und ſah zu fläglih aus! Und er ftellte fich die Freude bei feiner Nüdfehr vor. Er lächelte bei diefem füßen Traum, als eine helle Stimme, eine twahre Glodenftimme, an

| fein Ohr flug:

H „Her Francis! ...

! Zufall!”

Gleichzeitig figelten ihm einige Blumen: ftengel das Ohr; der junge Mann blidte ſich um und fagte:

„Wie, Sie, Miß Elfat ... D, teure Miß Elfa!”

Und vor diefem unter den Blumen lächelnden Blumengefiht, vor diefer in der Sonne gligernden goldenen Haarfülle, vor dieſem jungen Mädchen, das in bem Zauber ihrer weißen und rofa Gazelleiver wie eine rofa= weiße Elfe erfhien, empfand Francis ein wonniges Herzllopfen, jenen feinen Rauſch, der ſich bei dem lebhaften Flirt des Winters feines ganzen Weſens bemädhtigt hatte.

„D, meld’ hübſcher Zufall!” wiederholte Miß Elja mit jenem fremdländiſchen Accent, der ihren Mund fo niedlich erjcheinen ließ. Dann legte fie ihre feine Hand auf den Arm des jungen Mannes und fagte bittend:

„Mein Vater hat Migräne... Eie werden fein Tidet nehmen ..... Kommen Sie ſchnell, tommen Sie mit meinem ®etter Gib und mir mit!”

Francis bemerkte nun hinter ihr einen großen, ſchönen, blonden, jungen Menfchen, der ebenſo wie fie mit Mimofen, lieder, Nelten und Narcifen beladen war. In fieber: hafter Aufregung ftellte Miß Elſa die beiden Männer einander vor und zog fie in noch größerer Aufregung hinter fi drein. Als die Billets fontrolliert waren, huſchte das junge Mädchen fchnell zu den referbierten Plägen, von denen zwei in der erften Reihe und einer dahinter tar.

„So, vorn und neben mir,” fagte fie zu ihm, ohne fih Zeit zum Sehten zu laſſen; „wir werben plaudern, und ich werde glüclich : fein... O, fehr glüdlih! Gib wird hinten bleiben; er wird damit zufrieden fein... und wenn er nit zufrieden ift, fo thut das aud weiter nichts. Jetzt ſchnell, Gib, geben | Cie mir fenell alle Blumen ber... da

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D, welch' reizender

690 Die Blumenſchlacht.

fommen die Mackinſons in ihrem Landauer ... ih mil Blumen nad ihnen werfen!”

Als der Wagen näher fam, grüßte man fih, lachte und rief fih an; dann flatterten Blumen dur die Luft, eine buftende Schar erhob fich, Kelche und Golbbolden wogten hin und ber. ieberhaft, zitternd, beraufcht ergriff Elja die Nelfen, den Flieder, die Veilchen, die Nofen mit vollen Händen und ftreute fie mit verſchwenderiſchem Leichtfinn toll umber. Wenn man den Angriff erwiberte, dann fchloß fie unter dem Blumenregen die Augen fie eine ſchwache und furchtſame Echtwimmerin, bie ihre Gefährtinnen mit Schaum befprigt baben. Als der Landauer fern unb ber Blumenhagel vorüber war, wandte fie fich zu Francis und erflärte mit Iufligem Lachen:

„Ich babe alles auf einmal fortgetworfen und habe nun gar nichts mehr!”

Dann zeigte fie mit fieberhafter Aufregung auf ihre leeren Hände und fügte Hinzu:

„Da ift die Kalefche der Stubs ..... Den Stubs muß ich auch viel Blumen werfen... . D, Francis, my dear, verſchaffen Sie mir Blumen, aber bitte gleich!”

Ein Junge, der ihren Kummer bemerft hatte, ſchlich zwiſchen die Wagen und hob einen Korb mit Anemonen und SHeidelraut zu ihr empor. Sie ftieß einen Schrei kindlicher Freude aus:

„Dante, boy ... O, good boyl „... Francis, geben Sie dem Boy fchnell Geld, foviel Geld, ala er haben will!”

Sie fagte das ganz natürlid, wie fie es zu ihrem Vater oder zu Gib gejagt hätte, ohne ſich im mindeſten ihres unbefcheidenen Verlangen? bewußt zu werden. Als die Kaleiche der Stubs in ihre Nähe gelommen war, wurde fie unter einem Sturzbad von Blumen begraben, mährend Francis den Jungen fragte:

„Wieviel Tojtet der Korb?”

„Zwanzig Francs,“ fagte der Kleine, ben die Bemerfung der Miß Elfa Ted gemadıt hatte.

Francis hielt es für unnüß, zu handeln, während die Anemonen des ungen fchon nad allen Windrichtungen flogen. Er fuhr mit etwas zitternder Hand nad) dem Seiden⸗ gürtel und zog einen feiner armen fieben

Louisdors hervor, mährend er mit einem tiefen Seufzer und einem kurzen Anfall von Melancholie dachte:

„Da verſchwindet die Heine ruſſiſche Tiſch— decke mit den rotblauen Stickereien mit einem Schlage!“

Als der Junge fortgelaufen war, richtete er ſich wieder auf, und als er ſich wieber in der bezaubernden Nähe von Miß Elfa ſah und fie fo hübſch und glüdlich Tächelte, va verfpürte er das Herzklopfen tieber, und ber feine Raufch bemächtigte fich feiner von neuem. Als dann die Kalefhe der Stubs vorüber: fuhr, machte fie Francis mit ſchmollender Miene leife Vorwürfe:

„O, my dear, Sie hätten mehr Blumen nehmen müflen.... Ich babe keine mehr, und jest Tommen die Madinfond wieder zurüd!"

Und ala der Junge, von dem erften, guten Geſchäft entzüdt der Kleine erriet, wie ſchwach der junge Mann den Bitten dieſes Ihönen Fräuleing gegenüber war mit einem neuen Korbe erſchien, neigte fie ſich zu ihm bernieber, nahm ihn und befahl:

„Rod mehr Blumen, Boy! Bringe nodı mehr, immer mehr, foviel du haft... .“

Und nun eröffnete fie gegen den Lanbauer ein Feuer mit Mimofen, mährenb Francis mit noch ftärfer zitternder Hand, immer langfamer und noch linkiſcher ala vorhin einen zweiten Louisdor aus dem Seidengürtel zog Mit gepreßtem Herzen fagte er ſich:

„Diesmal fliegen die Heinen Inſeperables in die Luft!”

Er blidte fi um, und plögli war es ihm, als wenn alle diefe in Weiß, Blau, Rofa und Lila gelleideten Frauengeftalten bei den aus den eriten Yrühlingspflanzen aufs fteigenden beraufchenden Düften toll würden; es war ihm, als mären fie alle von einer wüſten Luft befeflen, zu verſchwenden und zu vergeuden; doch nicht Blumenkelche und -Dolden warfen fie in die Luft, fondern Gold: und Silberftüde, die in ben Staub, unter die Magenräber und unter die Pferbehufe fielen. Dann richteten fi die Augen des jungen Mannes auf die Heinen, feinen und weißen Hände der Miß Elfa, die nervös Blumen und immer mehr und immer Blumen aus dem Korbe nahmen. Und diefe Eleinen, vorigen

Die Blumenfhlcht.

Hände erfchienen ihm plötzlich recht boshaft, und es war ihm, ala ſchidten fie fi an, ihn zu paden und zu kratzen, wenn fie feine Blumen mehr in dem Korbe fänden. Unb von neuem tauchte der Junge mit zivei neuen Körben auf. Francis dachte daran, daß es jeßt nicht mehr die Tiſchdede mit den blau: roten Stidereien var, die da verſchwand, daß nit die Meinen Vögelchen davonflogen, fondern daß e8 ber gute Wintermantel, ber fo heißerfehnte Wintermantel feiner armen Muster war, den bie zierlichen, gierigen und nervöfen Finger der Miß Elſa padten, zer: riffen und nach allen Winden hinftreuten, und das fehnürte ihm das Herz zufammen.

Im Augenblid, da fie den Arm nad den Körben auöftredte, umſchloß er mit brutalem Griff ihre Finger und zwang fie, ihn anzu= fehen. Sie war über die tiefe Traurigkeit, die in den großen Augen des jungen Mannes ſich abfpiegelte, höchlichſt betroffen, doch da fie ihn nicht verſtand, fo fand fie fein Wort der Erwiderung. Er fah fie wie beim legten Mal mit einem Blid unendlicher Zärtlichkeit und tiefen Bebauernd an und fagte ftodenb, zögernd, fo fanft er nur konnte:

„Miß Elfa, wollen Sie mir geftatten, den Platz an Ihrer Seite... . Ihrem Vetter Gib zu überlaſſen ?“

Bewegt ſtammelte fie:

„Barum wollen Sie den Platz Gib ab» treten? Warum denn?”

Francis rief feine ganze Energie zu Hilfe und verfeßte ſchnell, um aud die Kraft zu finden, feinen Sat auszuſprechen:

„Beil... ich nigt genug Geld befige, um alle diefe Blumen zu bezahlen.”

Es lag in Miß Elſas Augen ein Ausdrud von Schred und Verwirrung, dann zeigte ihr Geficht einen leifen Schimmer von Traurigkeit und Rührung. Cie machte eine haftige Ans frengung, um zu überlegen und einen ernſten Gedanfen feftzuhalten, der ihrem Köpfchen entfliehen wollte. Doc es war das zu ſchwer und zu ernft für ihr Meines, leichtſinniges und oberflächlihes Him. Und fo murmelte fie

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denn in dem unangenehmen Bewußtſein einer peinlihen Lage, im Unbehagen über einen läftigen Zufall, in ärgerlihem Ton: „Ad, wie ftörend das iſt! ... mie ftörend das ift!”

Doch ſchon ward fie von einem Glödchen- Hingeln abgelenkt, blidte nad der andern Seite, und die Verwirrung, die ſich noch eben in ihren blauen Augen gemalt hatte, ver⸗ ſchwand auf der Stelle. Ein Jasminregen, der mit buftendem Tau auf fie fiel, betäubte, beraufchte fie, und fie rief mit zitternder Etimme:

Die Stubs! ... Ad, die Stubs kommen Schon wieder zurüd!”

Unruhig wanderte ihr Blid von Francis’ Augen zu dem leeren Korbe. Eie erinnerte ſich der Worte, die er eben geſprochen hatte und fdien, wenn auch nicht zu begreifen, fo doch wenigſtens alles zu ahnen, was biefes tapfere Geftänbni® an verlorenen Hoffnungen enthielt, und welche unüberfteiglihe Mauer es zwiſchen ihnen aufrichtete. Doch das war nur wie ein Blig; fie ſtieß einen vefignierten Seufzer aus und fagte: „Nun gut, ja, ja... Dann treten Sie Gib Ihren Platz ab! ... Und Eie, Gib, fehnell, ſchnell, bezahlen Cie dem Boy die Körbe! Da, da find ja bie Stubs!"

Und mährend Gib, der fi ftets ihren Launen fügte und wohl wußte, daß er früher ober fpäter doch immer heranlommen würde, in bie erfte Reihe rüdte, wanderte Francis, bevor Miß Elfa noch Zeit hatte, fih um: zuwenden, Iangfam dem Stranbe zu.

Jetzt, da er wußte, baf feine arme Mama den Mantel trogbem belommen würde, über ließ er fih, nod im berauſchenden Banne der lieblichen Erfdeinung der einlullenden Er- innerung an Miß Elfa. Doch feltfam! Seht war ihm nicht mehr, ald komme der Wind herb, friſch und fräftigend aus dem unend⸗ lichen Weltenraum, jegt glaubte er, er wehe von ber Frühlingserbe, von den Drangen- bügeln, und fein Hauch fdien ihm ſchwüle ! Wärme und dumpfe Zärtlichkeiten mit ſich . zu führen.

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Ragdrud mit Duellenangabe erlaubt.

* Die 21. Generalverfammlung des All- gemeinen Deutfchen Frauenvereins findet vom 29. September bis 2. Oktober d. I. in Eiſenach ftatt, unb mit biefer wird wieder ein öffentlicher Frauentag verbunden fein.

Der Borftand ladet feine Ortögruppen und Ziveigvereine, die Mitgliedvereine bed Bundes deutſcher Frauenvereine und alle Frauen, bie in der Frauenbewegung ftehen und Intereffe dafür haben, herzlich dazu ein.

Das fpeziele Programm wird rechtzeitig in den „Neuen Bahnen”, der „Frau“, bem „Gentraf- blatt des Bundes deutſcher Frauenvereine” und in den Eiſenacher Tagesblättern befannt gemacht werben.

Ein Lofallomitee, deſſen Vorfigende Frl. Hedwig Bender, Marienthal 5, ift, hat freundlichft die Vorarbeiten in Eiſenach übernommen.

Anmeldungen für SFreiquartiere, Privatlogis und Hotel® nehmen gütigft entgegen bie Mit: glieder des Lokallomitees: Frl. Anna Roßhirt, Emilienſtr. 11 und Frl. Augufte Wünfhmann, Emitienftr. 4.

* Der Broze gegen die Berliner Ärztinnen, laut Anklage „wider die unverchelichte Tiburtius, die unverehelichte Bader” ꝛc. (vgl. die vorige Nummer), ift durch Freifpregung der Ärztinnen entſchieden, ſoweit die Anklage ſich auf die Angabe ihres Titel im Adreßbuch ftügte, weil bie Anklage innerhalb dreier Monate nach der Veröffentlichung des Adreßbuches hätte eingereicht werden müffen. Bon den Angeklagten wurde nur Frl. Dr. Bluhm zu drei Mark Strafe verurteilt. Frl. Dr. Bluhm hatte ſich nämlich auf ihrem Schilde bezeichnet als „Dr. med. Agnes Bluhm, praktiſcher Arzt, appro: biert in der Schweiz”. Alle diefe Angaben find richtig, was aud das Gericht nicht beftreitet. Aber nad der Gewerbeordnung fol ſich niemand als Arzt bezeichnen bürfen, ber nicht in Deutich- land approbiert ift. Nun ſchließt zwar die Angabe auf dem Schilde: „in der Schweiz approbiert" jeden Irrtum aus, Frl. Dr. Vluhm hat ihr Schild,

ehe fie es anbringen ließ, von ber Polizei appro bieren laſſen, und als fie vor 5 Jahren wegen der felben Sache ſchon einmal denungiert wurde, ſtellte bie Staatsanwaltfaft felbft das Verfahren ein. Das alles hinderte jedoch nicht, dag man diesmal an dem Buchftaben des Geſehes fefthielt.

Ein dem Prozeß nicht nur zeitlich, ſondern aud fachlich paralleler Vorgang fpielte fich in ver Ärztelammer für Brandenburg-Berlin in ven felben Tagen ab. Die Voſſiſche Zeitung berichtet darüber (Nr. 293):

Letter Gegenftand der Verhandlungen ift Die „Zu: laffung von Perjonen mit ausländiſchen Reifezeun niffen zu den mebizinifchen Stubien und Prüfungen“. Der Berichterftatter Prof. Koßmann (!) geht ven der Thatfahe aus, daß zwei weibliche Kandidaten der Mebigin, die eine von der Brüfungäfommiifion in Freiburg, bie andere von der Kommiffton in Halle die Approbation als Arzt erhalten haben Beide haben zunächft nicht das reichadeutfche Heite zeugnis eines humaniſtiſchen Gymnaſiums, jondern nur bie ſchweizeriſche ſog. Fremdennaturität für das Studium ber Nebizin, der Zahnheutunde und ber Pharmazie. Diefe fchmeizerifche Waturität ftehe aber nach bem Urteile aller Fahmänner weit unter ber beutfchen Reifeprüfung auch eines Real- gymnaſiums. Tie Kenntniffe, bie verlangt werden. find etwa diejenigen, die der deutſche Sekundaner

Die Anertennung dieſer Maturität für bie Melbung zur reichöbeutfcgen ärztlichen Staate prüfung ftehe im ſchroffſten Gegenfage zu den Beftinmmungen ber deutſchen Prüfungsordnung für Arſte Sodann aber fei ben beiden Meibluhen Kandidaten noch eine andere in ber Prüfungs ordnung nicht borgefcehene Dergünftigung zu til geworden. Vorgeſchrieben fei, daß nur derjenige zur ärztlihen Staatsprüfung zugulaffen ift, der nach beftandener Borprüfung vier Halbjahre bie Kliniken einer reich&beutfchen Univerfität befuct Hat, die beiden weiblichen Nanbibaten haben Biel Verpflichtung aber gar nicht erfüllen fönnen. Bun ihnen die deutſche Approbation erteilt wurde, fe fei dies ohne die Beachtung ber geſetlichen Bor ſchriften, alfo gegen das Gefeg, geſchehen. Es müffe vor allem Einſpruch dagegen erhoben werden, daß ausfchliehlid zu Gunften einiger Frauen von den Veftinmmungen über die ärztfihe Prüfung ab gegangen werde. Zu beanftanden jei, daß nich genügend vorgebildete weibliche Berfonen als Galt bhörerinnen zugelafen werden. Wan verlange von

Frauenleben und »Streben.

den ftubierenden rauen die volle Maturität, aber man fchreibe fie auch ordnungemäßig ein. Tr. Koß: mann beantragt, daß die Kammer beichliehe: ben Minifter zu erfucen, zu beranlafien, daß PBerfonen mit ber ſchweizeriſchen Naturität aud) nicht aus: nahmsweiſe zum Studium der Medizin an beutichen Hodjihufen zugelaffen werben; nict-ummatritu: lationsfähige Perſonen follen zum Beſuche der Kliniten nicht zugelafien werden, weil andernfalls der Unterricht geftört und der Kurpfuſcherei Bor: ſchub geleiftet wird. Außerdem foll eine Eingabe an ben Heichstag gerichtet werben, daß unterfucht werde, ob die Erteilung ber Approbation an die beiden weiblichen Kandidaten nicht ungefeplich war und daraufhin die Approbationen nicht zurüdzu: ziehen find. In der Befprebung wird betont, daß die Nrptelammer nur das Recht getvahrt wiffen wolle. Gegen bie Anträge ſprechen ſich (eheimrat Dr. uefter unter SHimwei® auf die Übergangs: verhältnifie, und Dr. R. Lennpoft, dieſer wegen

des üblen Eindrudes, den die Beſchlüſſe in der

Cfientlicheit machen würden, aus. Die Kammer nimmt die tokmannfepen Anträge an.

Dan kann nicht eben fagen, daß bie Umſtände zu Gunften der in ber Berfammlung aufgeftellten Behauptung ſprechen, man wolle nur das Recht wahren. Zum Glück ift ja bie Frauenbewegung in der age, über dieſe Ichten Heinen Sinderniffe vor dem Ziel nun zur Tagesordnung überzugehen.

* Über die Zahl der weiblichen Medizin: fndierenden hat Profeſſor Eulenburg eine Um— frage bei den deutichen Univerſitäten veranftaltet. Die Refultate veröffentlicht er in der Deutichen mebizinifchen Wochenschrift. Bon den reichsdeutſchen mebizinifhen Fatultäten hat nur die Münchener ihre Mitwirkung bei ber Umfrage verfagt. Tie Fatultäten zu Niel und Tübingen verhalten ſich negenüber der Zulaffung der Frauen zum Medizin— ftubium „ganz oder überiviegend ablehnend“. Weibliche Mebizinftubierende find nicht vorbanden: außer in Kiel und Tübingen noch in Erlangen, Gieken, Göttingen, Greifswald, Nena, Marburg, Rofted, Würzburg. Die meiften Hörerinnen der Medizin hat Berlin, nämlich 25 (4 reichsdeutſche und 21 Ausländerinnen). Es folgt mit 24 (2 In— länderinnen, 22 Ausländerinnen) Leipzig, dann mit 18 (10 immatrifulierten und 4 Hörerinnen ohne Reifezeugniffe aus dem Teutichen Reiche und 4 Ausländerinnen) freiburg i. Br, daran fchlicht ſich mit 12 Mebizinhörenden Halle an, von denen die 3 Imländerinnen mittlerweile bie Approbation als Arzt erlangt Haben; bie 9 Ausländerinnen

ftammen aus Rußland. Heidelberg hat 6 inländiſche

eingefchriebene Medizinftubierende, die alle die Reife.

prüfung abgeleat Haben. It 2 einheimifche Mebizin-* hörerinnen weifen die medizinifchen Fakultäten in Breslau und Straßburg auf. Schließlich ſtudierte nod in Konigoberg cine reichedeutihe Dame, die in ber Schweir die Neifeprüfung abgelegt und in

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Bern promoviert hat. Bon den beutich:öfterreichifchen Fakultäten hatte Gray 2 Hörerinnen, beide In: länberinnen, außerben mehrere Hofpitantinnen in einzelnen Xorlefungen. In Prag ift eine aus: landiſche Gafttörerin. Innebrud Bat feine weib- liche Medizinftubierende; über Wien fehlen die An- naben. Von den ſchweizeriſchen Fakultäten hat Bern im Sommerbalbjahr 1901 nicht weniger als 189 weibliche Studierende der Medizin, darunter ift nur eine Reichsdeutſche; aus der Schweiz find davon 6, aus Ejterreich, Dänemark, Nordamerita je 1, hingegen aus Rußland 180. Yaufanne bat 61 weibliche Medizinftubierende, fämtlih Aus: fänderinnen; Zürich hat im ganzen 85 weibliche Mebiginftubierende, darunter aus der Schweiz ®, aus dem Deutfchen Reiche 12, aus andern Ländern 64. Über Bafel und Genf waren Angaben nicht zu er: langen. Die Umfrage hatte zum erften Ziele feft: zuftellen, welcher Zugang zum Studium ber Heil: kunde zunächſt durch bie Zulaflung von Mädchen und Frauen zur ärztlichen Staatsprüfung zu cr: warten iſt. Insgeſamt ftubieren zur Zeit 52 weib- liche Reichsdeutſche (39 auf reichöbeutichen, 13 auf ſchweizeriſchen Univerfitäten) die Heiltunde. Nur diefe kommen als zufünftige vollwertige Mit: beiverber ber männlichen Arzte in Deutſchland in Betracht. Tie Gefamtzahl der deutſchen Ärzte be- trug nun 1900 27374, der bevorjtchende Zuwachs würde ſich danach auf "/ss. das ift auf 0,19 v. H. des jegigen Beftandes an Ärzten befaufen.

* Die Befhäftigung von rauen bei der Staatseiſenbahnverwaltung hat nad) befriedigend

: ausgefallenen Verſuchen aufs neue eine weſentliche

Erweiterung erfahren, indem bie königlichen Eifen: babnbirettionen ermächtigt werden find, in den größeren üterabfertigungäftellen weibliche Berjonen bei der Anfertigung von Fracht, Koll: und Schalter: tarten, Avifen, bei der Führung von Nachnahme. Büchern, Anfertigung von Monatsrechnungen und Einbeiferung von Tarifen zu verwenden. Ferner ſollen zur Bebienung von Schreibmajchinen für bie Nanzleiarbeiten bei den Eifenbapnbireltionen an Stelle anderer Ranzleikräfte cbenjall® weibliche Perfonen angenommen werden. Abgeichen von Schrantenwärterinnen kommen jetzt bei der Staats: eifenbahnverwaltung für bie Belchäftigung weib⸗ licher Perſonen vier Vienftziveige in Betracht: 1. Fabrlartenausgabe, 2. Telegraphen. und Fern. ſprechdienſt, 3. Güterabfertigungäbienft und 4. Harz feibienft bei den Eiſenbahndirettionen. Zum Nacht. dienft dürfen meibliche Perfonen nicht herangezogen werben. Nach ſechsmonatlichem Probedienft erfolgt entweder die Entlafjung ober die diätariiche Ve: ſchäftigung und Tereidigung im aufßeretatsmäßigen

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Beamtenverbältnig mit monatlich im vorauß zahl barem Gehalt von 720 Mark im eriten, 780 Mark im zweiten und 900 Mark im dritten Sabre. Während der Beichäftigung im Probebienft wird eine Tagedvergütung bis zu 2 Mark gewährt.

* Frau Maria Gubitz, eine um das Berliner Vereinsleben hochverdiente Frau, feierte am 13. Juli biefes Sahres ihren 70. Geburtätag. Wenn die tiefe Wahrheit bes Pſalmworts, „wenn es köſtlich geweſen ift, fo ift e8 Mühe und Arbeit geweſen“, fih in einem Frauenichen bewährt bat, jo war es bag ihre.

Frau Maria Gubit, geb. am 13. Juli 1831 zu Berlin, die Zrägerin eined in ber Kunft: und Litteraturwelt Berlin hochgeachteten Namens, hät es verſtanden, dieſem Namen eigene Bedeutung zu geben. In Reichtum und Wohlleben herangewachſen, ſtand ſie, mit 26 Jahren verwitwet, der ſchweren Aufgabe gegenüber, für ſich und ein einige Wochen nach des Vaters Tode geborenes Töchterchen den Kampf ums Daſein aufzunehmen. Und dieſer Kampf war in ber Mitte des abgelaufenen Jahr⸗ hunbertö fchwieriger, bornenvoller als er, dank den Errungenfchaften der Frauenbewegung, heute ift. AU die neu. erfchloffenen weiblichen Erwerbsgebiete waren gebildeten Frauen vor 4, ja 3 Jahrzehnten noch verichloffen. Das Unterricht: und Er: ziehungsgebiet bot ihnen die faft einzige und darum überfüllte Ermwerbögelegenbeit.

Mutig nahm die junge Mutter den Kampf ums Dafein auf, erfolgreich focht fie ihn durch, und bie geftählte Kraft, den geweiteten Sinn, das klare Auge für die Nöte und Gebrechen der Gefchlecht2- genoffinnen, Löftliche, ibeale Errungenschaften dieſes Kampfes, ftellte fie in den Dienft ihrer Mit ſchweſtern und barüber binaus in ben der All: gemeinbeit.

Nah Tängerem Aufenthalt in England nad der Baterftabt Berlin zurüdgelehrt, nahm Frau Gubitz an al den Bereindgründbungen, die das Jahr 1866 fo bedeutſam in ber Bereindgejchichte Berlind machen, thätig teil. ALS im genannten Jahre ber Letteverein zur Schaffung von ver: mehrten Ertwerbögelegenbeiten für bie rauen und Töchter ded unvermögenden Mittelftanded und zu ihrer Vorbildung für neue Erwerbögebiete gegründet wurde, war fie eine der erften, die die Bedeutung der neuen Gründung für das meibliche Gefchlecht erfannte und Zeit und Kraft in ihren Dienft ftellte. Gine wie treue, unermübliche Mitarbeiterin Frau Maria Gubitz der Gründerin der Volksküchen in Berlin, Frau Lina Morgenftern, von An: fang an bis zum heutigen Tage ift, weiß biefe zu Ihägen, auch wurde ſchon in einem Artikel ber

Frauenleben unb :Streben.

„Frau“ darauf hingewieſen. Dem Berein zu: Speifung armer Kinder, ber feit 26 Jahren ſegens reich wirkt, gehört Frau Gubig ebenfalls Teit feiner Begründung an. Der Verein zur Unterftüßung Heiner Handwerker und Fabrilanten Bat fie zum Dank für langjährige treue Mitarbeit an feiner Darlehnskaſſe zu feinem Ehrenmitgfiebe erwählt. Die deutſche Gejellichaft für ethiſche Kultur, ber Erziebungsbeirat für ſchulentlafſene Waifen, ter Kinberfchugverein, alle biefe in fo hohem Gratt fogial wirkenden Vereinigungen zählen fte zu ifren thätigen Mitgliedern, trogbem fie bei deren bem letzten Jahrzehnt angehörenden Grünbungen den in einem "höheren Lebensalter fand, in bem ſonſt Frauen es für ihr Recht halten, nur ihren eigenen Sinterefien zu leben. Wie Har und unbeſtechlich der Blid der Siebzigjährigen ifl, weiß aud ber Kaufmänniſche Hilfsperein für weiblide Angeſtelltt zu ſchätzen, für den fie mit Zalt unb Umſich Recherchen beforgt, wenn Unterſtützungsgeſuche se ftellt werden. Dem Komitee für daB Kaifer und Kaiferin Friedrich-Kinderkrankenhaus gehört fie ſen feiner Begründung an, eine Auszeichnung, bie von der Wertfhähung zeugt, bie bie in allen Wohl fabrtSbeftrebungen fo bewährte Frau genießt. Im ihrem unermüblichen, meift in ber Stille geübten Wirken gerecht zu werben, müßten alle rauen: und Wohlfahrtövereine ber Reichshauptſtadt auf; gezählt werben, benn faft allen ſteht fie in irgend einer Weiſe nahe, aber einem als nur zählendes und zahlendes Mitglied.

Daß fie bei ihrer Geiftesrichtung ihr thätigee Intereſſe beſonders den fpeziellen Frauenbeftrebungen zumendete, braucht faum betont zu werden. Seit Gründung des Allgemeinen Deutichen Frauenvereins. des Bundes Deuticher Frauenvereine, des Vereins zur Förderung bes Frauenerwerbs durch Obft- und Gartenbau, der erften deutſchen unb Berliner Lehrerinnen-Bereinigungen fördert fie in ihrer ftillen, nicht eigene Ehre fuchenden Weiſe beren Bellre bungen birelt und indirekt. Es ift gewiß noch im Gedächtnis aller Beteiligten, wie fie geholfen hat, dem im Sabre 1896 in Berlin tagenden inter: nationalen Frauenkongreß die Stätte zu bereiten, wie fie den viclen fremben Teilnehmerinnen ein freundliche Beraterin und Führerin war.

Die von fo vielen verehrte Frau wolle biele Heine Skizze ihres Wirkens als Dankeszoll bin: nehmen von einer ber vielen, die Anregung MM gleihem Thun und Streben von ihr empfangen haben. Möchte fie, in das achte Jahrzehnt ihred Lebend tretend, noch weiter wirken können ale eine der rauen, die bie „Ssrauenbemegung” zu Ehren gebracht. In der Stile wirkend, hat ſie geholfen, Großes zu ſchaffen. A. B.

Frauenleben und Streben.

* Die Zahl der Waifenpflegerinwen in Berlin ift in den legten zwei Jahren um B1 geftiegen. Sie betrug am 1. Januar 1899 397, am 1. Januar 1901 488. Tie Zahl der (Gemeinde

wwaifenräte, benen noch feine Frauen eingegliedert |

find, ift von 68 auf 54 gefunten.

* Die Co-Education nimmt auch bei uns in Deutſchland langfam aber beitändig zu. Das führende Land ift Baden, wo kürzlich aud bad sroßherzogliche Gymnaſium von Konftanz ſich entiloffen hat, Mädchen als Schülerinnen auf: zunehmen. Eine Heine Duartanerin machte ben Anfang. Aber aud in Hannover hat bie Ober: prima des Gildemeifterfhen Realgymnafiums feit Oſtern einen weiblichen Schüler.

* In Heidelberg promovierte Anfang Juni Miß Neena aus Reiw:Nork unter Profeſſor Thode und errang das Präbifat cum laude. Ais Haupt: fab hatte fie Aunſtgeſchichte gewählt, ald Reben: fächer Archäologie und deutſche Litteratur. Ihre Tiffertation: „Die Anbetung ber Könige in ber todeaniſchen Malerei”, in der fie durch grünbliche Stubien in Florenz und Rom ganz neue (Hefichte: puntte eröffnen konnte, ift von dem Berlag von Seig. und Mündel in Straßburg in bie Serie „zur Kunftgeichichte bed Auslanbes” aufgenommen, worin fie in erteiterter Form noch diefen Herbſt aur Ver: öffentlichung gelangen wird.

* el. Helene Stöder promovierte kürzlich an der philoſophiſchen Fakultät von Bern auf Grund einer Arbeit über „Wadenroder und bie Kunfttheorien des 18. Jahrhunderts“.

* Das Doppelheim zu Paris, 21 Ruc Brochant, das zugleich beutfche Lehrerinnen und Dienſtmadchen Obdach gewährt, ift ſchon früher einmal Gegenftand Ichhafter Kontroverfen geivefen. Es werben ſich noch viele unfrer Leferinnen ber Thatfache entfinnen, baf in den BOer Jahren ein Aufruf eines Frl. Lamprecht erſchien zur Be: gründung eines Lehrerinnenheims und -Vereins in Paris. Sie legte den Grund zu einer Gelb: fammlung. Die von ihr gefammelte Summe über: gab fie dem deutſchen Prediger zu Paris. Dieſem gelang «8, ber Heinen Summe durch eifriged Werben im Vaterland grofe Beträge zuzugeſellen; leider ließ er fich aber dazu bewegen, enigegen der ur: ſprünglichen Abficht, dad Heim für Lehrerinnen auch Dienftmäbden (in Frantreich betanntlich Bonnen genannt), unter einem Dach, wenn auch in getrenntem Raum zugänglich zu machen. Gewiß war den deutſchen Dienftmäbchen cin Heim im fremden Land zu gönnen; es verriet aber wenig

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Kenntnis deſſen, was bie beutiche Lehrerin in Frankreich brauchte, wenn ihr fozialer Abftand von den Dienftmäbchen fo wenig markiert wurbe. Die Zranzöfin ift ohnehin fehr geneigt, auf ihre Er: zieherin, zumal auf die beutfche, herabzuſehen.

Des weitern entnehmen wir einem Bericht von Fel. Helene Adelmann auf ber Bonner General: verfammlung über die Stellenvermittlung bed AU: gemeinen Deutfchen Lehrerinnenvereina, deſſen Zweigverein der Parifer ift:

Die beutfchen Lehrerinnen in Frankreich, die in der Berbindung ber Stellenvermittlung für Lehrerinnen und ber für Dienftboten, wie fie cin: gerichtet worden, Gefahr für ihre Stellung int fremden Lande fahen, fehlofien fi vor 10 Jahren zuſammen und erreichten, daß die Stellenvermittlung für fie im „Doppelpeim“ aufgehoben und dem Vorſtand des Pariſer Yehrerinnenvereind überlaflen wurde. Gie hat feitbem, wie Sie aus unfern Verhandlungen erſehen Eonnten, in ber fegens: reichſten Weife gearbeitet.

Nun fäht e& dem Borfigenden des Heims, einem noch ziemlich neuen und jungen Herrn Paftor ein, neben der im Doppelheim feit feiner Gründung beftchenden Gtellenvermittlung für Dienſtmädchen wieder eine für Vehrerinnen gu eröffnen. Die Ber: eine in Paris und England haben cbenfo dringend wie höflich gebeten, man möge bavon abftehen, und auf die Bitte der beiden Vereine hat fi) unfer Vorſtand des Allgemeinen deutſchen Lehrerinnen: vereins gleichfalls mit derſelben Bitte an Herrn Paſtor Anthe gewandt. Der Herr Paſtor hat es nicht einmal für nötig gehalten, dem Vorſtand des Allgemeinen beutihen Lehrerinnenvereind zu ant: orten. Uns bfeibt nun nidt® übrig, ald einig und feft zufammenzuhalten. Mag e3 ben Frangöfinnen gefallen, fih ihre Lehrerin im Dienft- botenheim zu fuchen. Wenn wir und in biefem Haus nicht finden laffen, müflen fie zu uns kommen. Wir haben ba® Keft in ber dand. Zeigen wir denen, bie unfre Beftrebungen nicht verftehen ober nicht verftehen wollen, daß wir gewilit find, die deutfche Fahne im Ausland hoch zu halten und der beutichen Lehrerin zu ihrem Recht zu verhelfen, ſoweit es in unfern .Rräften fteht.

Unfer franzöfifcher Schweſterverein hat ſich ge: nötigt gefehen, vorläufig Lehrerinnen, bie im Doppelheim wohnen, nicht unter feine Mitglieder aufgunehmen unb au placieren, und bemüht ſich, ihnen gute frangöfifhe Penfionen nachzuweiſen. Erleichtern wir ihm nad Kräften biefe feine Ber

* mühungen; gründen wir einen Leihfonds, aus dem

folchen Lehrerinnen burdh zinäfreie Darlehen ge: bolfen werben Tann, bie den höheren Preis (die Differenz ift etwa 20 Fres. monatlich) folder frangöfifchen Penfionen nicht zu zahlen im ftanbe find. Unfer Borftand ſchlägt Ihnen vor, dem Parifer Verein für dieſen Zwed 1000 Mast zu bewilligen. Meine (freundin, Frl. Bohnenberger aus Stuttgart, Mitglieb des englifgen Lehrerinnen: vereind, erbietet ſich gleichfalls, 1000 Mark bei: zuſteuern.

Statt der beantragten 1000 Mark bewilligte die Generalverfammlung 2000 Mark. No eine Anzahl Heinerer Summen famen bazu, ſo baß ber

696 Frauenleben und :Streben.

Berein binnen kurzem in der Lage fein wirb, ber nach frankreich Tommenden, mit knappen Gelb: mitteln verſehenen Lehrerin bie Wartezeit zu er: leichtern.. Der Allgemeine beutfche Lehrerinnen: verein, die größte weibliche Berufsgenoffenichaft Deutfchlandg, hat in diefer Angelegenheit ben Be- weis geliefert, wie notwendig ſolche Berufsgenoſſen⸗ ſchaften ſind und. wie wichtig ſie gegebenenfalls auch für die im Ausland lebenden Berufsgenoſſinnen werden koönnen.

* jiber den Prozeß der Baronin Dr. Poſſanner wegen Verweigerung des Wahlrechts für die Ärzte— fammer berichten die Dokumente der Frauen (Nr. 7):

Beim Verwaltungsgerichtshof ſtand am 18. Juni bie Frage in Verhandlung, ob weibliche Ärzte, die Mitglieder der Arztelanımer find, auch das. aktive und paffive Wahlrecht in den Kammern befigen, und man bat dieje prinzipielle Frage zu Gunſten der Frauen, die ſich dem ärztlichen Berufe gewidmet haben, entſchieden. Anlaß zur Enticheidung vieler Trage giebt eine Beſchwerde, welche Frau Baronin Dr. Gabriele Poffanner wegen Verweigerung des aktiven und paffiven Wahlrechtes in der Arztekammer gegen eine Enticheidung des Miniftertums des Innern an den Berwaltungsgerichtäbof erhoben hat. Frau Baronin Dr. Gabriele Poſſanner, der einzige weibliche praftiiche Arzt in Wien, wurde, obwohl fie Mitglied der Wiener Arztelammer ift, bei den im Borjahre ftattgchabten Arztefammer: wahlen in die Wählerlifte nicht aufgenommen; fie rellamierte ordnungsgemäß beim Magiftrat, wurde aber abgewieſen, da fte weder das aftive noch paſſive Wahlrecht für die Gemeinde bejike. Auh die Rekurſe an die Statthalterei und das Minifterium des Innern - wurden abgewicien. Rah einftündiger Beratung erkannte der Ber: waltungsgerichtäbof, es werde in Stattgebung der Beſchwerde die angefochtene Enticheidung des Minifteriumd des Innern al® unbegründet auf: gehoben.

Die Entſcheidung des Verwaltungsgerichtöhofes ift eine felbftverftändliche. Eine Hutmacherin darf in ihrer Genoſſenſchaft mitreden. Eine Arztin foflte dag nicht dürfen? Das Sntereffantefte an diefer Verhandlung waren bloß die unbegreiflichen Entfcheidungen des Wiener Magiftrated, der Statt: balterei und des Minifteriumg!

* Zum Dr. phil. der Univerfität Wien wurde am 19. Sul d. Is. Frl Emma Ott promoviert.

* Die erfte Franenpromotion in Prag war die Fürzlih erfolgte von Frl. Marie Babor zum Dr. phil.

* Die erfte öffentliche medizinifche Doltor- prüfung einer Frau in Holland fand am 5. Juli statt. Frl. Marie des Bouvrie promovierte an ber mebdizinifchen Fakultät von Amſterdam mit Auszeichnung. Sie wird im Herbſt die

Affistentin des Profeſſor Treub, der ein eifrigtt Förderer der Frauenſache in Holland äft.

* Das politifche Frauenwaßlrecht in Belgien ift jegt durch ähnliche Perbältniffe einen Schrin vorwärts gerüdt, wie fie kürzlich dem kommunalen Mahlrecht der Frauen in Norwegen aum Sicege verholfen haben. Auch dort ift, wie die Frankfurte: Zeitung berichtet, Die Frage aufgeworfen werten auf Grund der neuerdingd wieder lebhafter auf. genommenen Agitation der radikalen Parteien um Einführung des allgemeinen Stimmrecht. Tir Antrag der Nabilalen wurde zwar mit einer ziemlich ftarfen Majorität abgelchnt, aber ter Verlauf der Debatte zeigte doch, daß ber Sieg ber radilalen Forderungen nahe bevorftünde. Angeſicht⸗ biefer Gefahr bat nun die klerikale Preife di Forderung aufgeitellt, bei Einführung des ul: gemeinen Stimmrehtd® auch ben Yrauen Bad Stimmrecht zu geben. Die Gründe für diein Vorſchlag find durchſichtig; man braucht nur daran zu denken, wie bie klerikale Partei in Oſterreich die rauen für ihre Wahlagitation zu lancderın verftanden bat. Borläufig aber mag es Sid auch darum gehandelt haben, die radikalen Parteien unter fih zu Spalten. Thatſächlich nämlich war man unter biejen geteilter Anfiht in der Frage, vor allem eben wegen der Gefahr, daß durch dus Frauenftimmrecht die klerikale Partei eine grebr Stärkung erfahren würde. Im Generalrat der Arbeiterpartei Fam die Frage kürzlich zur Ber handlung. Bon den Gegnern wurde auf diele Gefahr hingemwiefen, von den Freunden des Frauen ſtimmrechts den aber entgegengehalten, daß felbit wenn bie politiicde Emanzipation der Frau vor läufig eine Stärkung des Klerifaliamus nach ſich ziehen würde, dieſe Wirkung doch bald durch die politifche Erziehung, die bie Frauen in der Aus übung des Wahlrecht? erhalten, überwunden fein würde. Es gelang, die Gegner bed Frauenftimm: rechts zu überzeugen und bie Annabıne ber folgenden Refolution durchyufegen:

„Der Generalrat erinnert die Gruppen und Mitglieder ber Arbeiterpartei an bie früheren Befchlüffe betreffend die politifche Gleichheit beider (Sefchlechter und erfucht fie, die Agitation unter den rauen mit dem größten Nachbrud au betreiben.

* Eine Frauenapotheke in Petersburg wurde kürzlich eröffnet, deren geſamtes Perſonal bis auf den zweiten Provilor aus Frauen beficht, Die erfte „Frauenapotheke“ in Rußland ift auf Initiative von Frl. Leßnewski begründet worden, ber erſten

| und biöher auch einzigen Frau, die den Grab eince ruſſiſchen Mag. pharm. beſitzt.

Frauenvereine.

Totenſchau. Am 22. Juni ſtarb in Tübingen eine der erften Borlämpferinnen ber Frauenbewegung, Frau Mathilde Weber. ihr Wirken hat eine eingehende Würdigung in einem früheren Jahrgang ber „Frau“ gefunden. Es fei hier nur noch einmal darauf hingewieien, daß fie es ift, der die deutſche Frauenbewegung ven erften entfchiedenen Fortſchritt auf dem Gebiet ver: dantt, auf dem fie ſich heute der erften Errungen: ſchaften erfreut, auf dem Gebiete des mediziniſchen Frauenſtudiums. Es iſt in vielen Fällen kein Ber: dienſt, unter den erften zu fein, die für einen ort: ſchrin eintreten, nur dann iſt es ein Verbienft, wenn hinter einer ſolchen Agitation eine Berfön: lichteit fteht, die ihr cine Wirkung ſichert, und eine Arbeitölciftung, der cine Beweiokraft für

Ihre Bedeutung und |

er

! bie Reife und den Ernft des Forderns innewwohnt. | MS der deutiche Reichstag die Frage bed mebizi: niſchen Frauenftubiums vor zehn Jahren zum erften | Mal crörterte, da konnte der Abgeordnete Ridert den Bedenken gegen die „Emanzipationägelüfte” die Frage entgegenhalten: „Kennen Zie bad Buch von Mathide Weber: Arztinnen für Frauentrankheiten? Kennen Sie die Frau ſelber?“

Darin, daß fie eine vollwertige Perfönfichteit in den Dienft der Frauenfache ftelte, liegt das ber ſchloſſen, was wir Mathilde Weber verdanken, liegt bie Schwere des Verluſtes, den ihr Tod für une bedeutet. Co lange bie Frauenbewegung diefen Wertmeffer für ihre Arbeiterinnen fefthält, wird das Gedächtnis von Mathilde Weber in ihr lebendig bleiben.

—E

Frauenvereine.

Der Landeöverein preußiſcher Bolloſchul⸗ lehrerinuen

bat eine Petition bei dem Miniſter für Handel unb Gewerbe und bei den Rultusminifter eingereicht. Die_erfte Mmüpft an die am 1. ftober 1900 in Kraft getretene Gewerbeordnungsnovelle, die in $ 120 Gemeinden und Kommunalbehörden dad Recht zu: ſpricht, den Fortbildungszwang aud [ weibliche YHanblungsgehilfen einzuführen. Ta das Beifpiel Wicdbadens und die in andern großen Städten eingeleiteten Verhandlungen zeigen, daß die Städte von biefem Recht Gebrauh machen werben, da andrerſeits zum Unterricht an dieſen an die Volksſchule anfchliekenden Fortbildungsſchulen die Volksſchullehrerinnen in eriter Linie berufen find, fo richtet der Verein an dem Unterrichts: minifter die Bitte: 1. Eine hohe Königliche Staatöregierung wolle

durch Errichtung faatlicher Hurfe zur Aus:

bildung von SandelBichulfehrerinnen dem vor: .

liegenden Bebürfniß genügen und 2. zuglei) den preußiichen volts ſchullehrerinnen durch befonbere Einrichtungen die Möglichleit der Teilname an dieſen Kurfen gewähren. Damit die Ausbildung der Handelsſe Ichrerinnen eine gründliche werbe, bittet der Verein a) die Ausbilbungäzeit auf mindeftend ein Jahr hemeſſen zu wollen, b) die Kurfe an eine Univerfität anzugliedern; c) mo cine Handels⸗ hochſchule gegründet wird, die Bulaffung ber Xehrerinnen verfügen zu wollen, d) nad Schluß der theoretifcpen Ausbildung die dreimonatliche

a

Einfihtnahme in den Geihäftägang eines fauf:

männifchen Betriebeö anzuordnen; e) die geivonnene Ausbildung durch eine Prüfung abfdliegen zu wollen.

Da die materielle Lage ber Vollsſchullehrerinnen Erfparnifje für Stubienzwede nur in geringem Umfange möglich macht, fo bittet ber Berein,

Stipendien zur Unterftügung für die Teilnehmerinnen diefer Kurfe auöwerfen zu wollen.

Die zweite Petition an den Aultusminifter enthält die Bitte um Errichtung ftaatlier Kurfe zur Ausbildung von Fortbildungsfgul: Iehrerinnen. Für bie Art biefer Ausbildung fpricht der Verein folgende Wünfche aus:

ALS Unterrichtsfächer follen gelten: Piychologie und Methobil; SKulturgeldichte, Bolswirtfpafts: lehre und Gefepeöfunde; Geſundheitslehre mit befonderer Berüdfichtigung der Kinberpflege; haus: wirtſchaftlicher Unterricht mit Bethätigung in der Küche, ald Wahllurſe Schneidern und Mäfchenähen. Der Verein erbittet ferner: eine Zeitdauer der Rurfe von einem Jahre; die Errichtung der Kurfe in einer Univerfitätöftadt, damit die Teilnehmerinnen

zusleich Borlefungen an ber Univerfität in den | von ihnen bevorzugten Fächern hören können; ! die Bewilligung von ftaatlihen lnterftügungen während ber Teilnahme an den Kurſen, damit diefe jeder begabten und ftrebfamen Boltzjchul: lehrerin auch thatſächlich zugänglich find. | Die Bereind: Zeutralftelle für Rechtsſchutz (Leiterin Frl. Dr. jur. Marie Raſchke) ift am i 1, Oftober 1900 in® Lehen getreten, um eine Ber: bindung aller derjenigen (rauen: Vereine und Vereins Unternehmungen herbeizuführen, welche bazu dienen, den Frauen Rat und Hilfe in Rechtsfragen ! und Rechtöftreitigteiten zu getvähren.

Turdh ftatiftifhe und milfenfhaftfiche Ber- arbeitung der Erfahrungen und Refultate der ber Bentralftelle amgeglieberten Iotalen Nechtafhug: | vereine will biefe

a) der Öffentlichfeit die Notwendigkeit des Rechtöiguges durch Frauen für Frauen und den Segen, den biefe Einrichtung einer großen Anzahl von Frauen gebracht hat, vor Augen führen (An: regung zur Bildung neuer Rechtsſchutzſielien),

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b) durch Hinweiß auf etwaige Ungleichheit in ber Rechtiprechung und wiflenfchaftliche Erörterung biefer letzteren Einfluß auf bie Rechtſprechung nach der Seite des Rechtsbewußtſeins der Frauen bin gewinnen.

Hierdurch ſoll ſich die nationale Rechtsſchutz⸗ ftelle zu einer fo zu fagen juriftifchen Stätte erweitern, von der aus das Mitwirken der Frauen bei der Geſetzgebung des Reiches vorbereitet wird.

Die Zentralftelle erläßt einen Aufruf an bie: jenigen Nechtöfchugvereine und -Stellen, bie ihr noch nicht angeſchloſſen find und bittet fie, fich bis zum weiteren Ausbau der Bentralftelle bedingt anichließen zu wollen, indem fie fich eventl. nur verpflichten, der Zentralftelle alle 3 oder 6 Monate ihre Erfahrungen auf dem Gebiete bed Rechts- ſchutzes ſowie den Verlauf ihrer Bermittelung bei Rechtsſtreitigkeiten mitzuteilen. Der Bericht müßte die Angaben enthalten:

a) in welchen Fällen Rat oder Hilfe eingeholt worden ift.

b) welche Fülle gütlich beigelegt oder durch

außergerichtlichen Vergleich erledigt worden find, ß 8 welche Fälle dem Gericht überwieſen worden ind. In lehrreichen Fällen, wie Alimentations-Ehe⸗ ſachen, Lohnſtreitigkeiten, Schadenserſatzklagen ꝛc. müßte, wenn es irgend angängig iſt, der Ausgang des Prozeſſes der Zentralſtelle mitgeteilt, d. h. ihr eine Abſchrift des Urteils mit Thatbeſtand und Entſcheidungsgründen auf ihre Koſten eingeſandt werden. Zu dem Zweck wäre die Klientin zu erſuchen, eine Abſchrift des Urteils vom Gericht zu verlangen und der betreffenden Rechtsſchutzſtelle zu übergeben.

Da ſelbſt der vorgeſchrittenſte Rechtsanwalt nicht in allen Rechtsfragen die Rechtsanſchauung der vorgeſchrittenen Frauen teilt, empfiehlt der Aufruf, daß ſich die Leiterinnen der Rechtsſchutz⸗ vereine und :Stellen in Rechtsfragen, die in das Gebiet des Familienrechts fallen, im Zweifel an bie Leiterin der B:8.:5telle, Berlin SW., König: gräßerftraße 88, wenden, die laut Programm in ſolchen Fällen gegen Einfendung von 1 Mark (in Briefmarken für die Kaffe der Zentralftelle) ein: gehend ſchriftlich Auskunft erteilt.

Dad Programm der Vereins: Zentralftelle für Rechtsſchutz ift in Heft 2—6 der „Zeitichrift für populäre Rechtskunde“ abgebrudt.

Der Letteverein

(Dorfigende Frau Elifabeth Kaſelowsky) zeigt in feinem 28. Jahresbericht für das Jahr 1900, daß er in den altbewährten Bahnen fortjchreitet. Bei der von der erwählten Baulommilfion ausgefchricbenen Konkurrenz für den Neubau eines Vereinshauſes find 6 BPreife verteilt worden. Den erften Preis erhielt Herr Baumeifter Schulz, in Firma Schulz & Schlichting, der beauftragt wurde, feinen Plan aus⸗ zuarbeiten. Es ift jedoch noch nicht möglich gewefen, die Pläne fomweik fertig zu ftellen, um fie ber Behörde zur baupolizeilichen Genehmigung ein: reihen zu können. Der Berein hofft jedoch, noch im Laufe des Sommers den Grunbftein legen zu fönnen und ben Bau entſprechend zu fördern. S. M. der Kaiſer bat 50000 Mark aus bem Dispofitionsfonde zum Bau des Haufes bewilligt. Das Vertrauen bed Publikums zu bem Verein ift

Frauenvereine.

fo groß, daß alle Klaſſen bis zur äußerfien Grenv der Aufnahmemöglichkeit gefüllt ſind, und toi namentlih in ber Handelsſchule, ber Kochſchoun und ber pbotographifchen Lehranftalt Schülerinnen zurüdgemwiejen ober auf einen fpäteren Termin verwiefen werden müflen. Neue Kurſe ſind ım laufenden Jahre nicht eingerichtet tworben, jedes ift eine Buchbinderei-Lchranftaft ind Auge getar:. und ber Berein bofft, mit der Einrichtung bıda Lebranftalt mieber einer größeren Anzahl ven Mädchen und Frauen einen lobnenden Erwerb- zweig zu eröffnen.

Der Rechtsfchugverein für Franen“ im Dredden

bat im Laufe bed Vereinsjahrs 1900 18 Ti glieder: und öffentliche Verſammlungen abgebalten, außerdem einen in Gemeinfhaft mit der hieſigen Abteilung Frauenbilbung : Frauenſtubium veran ftalteten Vortraggabend. Die vom Berein unter nommene Enquäte in der Strobhutnäherei ıft ſower zum Abſchluß gelommen, daß mit ber Sichtung und Zufammenjtellung des gefammelten, zieml:t reichhaltigen Materials begonnen werden konnt: Die Rechtsſchutz-Geſchäftsſtelle des Vereins wurd. in 792 Fällen in Anſpruch genommen. Bon dm die Sprechftunde auffuchenden (yrauen waren tir heiratet 569, unverheiratet 228. Bon befonderem Intereſſe iſt das im vergangenen Jahre erketit Verlangen verlobter Berfonen nad Ebevertrügen mit Ausschluß der ehemännlichen Nupnichung un? Verwaltung am Frauenvermögen, ſowie die Anfrage verbeirateter Frauen, wie bie Ausſchließung ver Nubniekung und Verwaltung nad geichlofiene Ehe zu bewirken fei. Als erfreuliche Thatfache it ferner das dankenswerte Entgegenfommen der Be hörden zu erwähnen, mit benen bee Berein in Verbindung zu treten Gelegenheit hatte. Mit x fonderer Freundlichkeit berüdfichtigten bie Herren Vormundichaftsrichter und die Poligeiorgane, aud die Spitzen bderfelben, die an fie geftellten Anliegen und Anfragen. Die Auskunftsſtelle für Wohl fahrtseinrichtungen ift in biefem Vereinsjahr dem zweiten feit Beftehen berfelben von 119 Berfonen gegen 60 im borbergegangenen aufgefucht worden.

Der Berein Berliner Dienſtherrſchaften und Dienftangeftellten

will bei feinem praktiſchen Zufammenarbeiten ben Hausfrauen und Dienenden zunächft ben tielem Hfundenen Schäden der Stellenvermittelung entgegen treten. Bekanntlich bat der Verein bereitö cınem gut funktionierenden eigenen unentgeltfiden Stellen: nachweis für feine Mitglieder eingerigtet Ti Gefchäftäftelle ift Potsbamerftr. B3c, nachmittage von 3—7 Uhr geöffnet.

Der Stabtbunb ber Vereine für Armenpfen und Wohlthätigleit zu Fraukfurt a. M.

(BVorfigende: Frau Profeffor Edinger) ift ver zwei Jahren aus dem Bebürfnid hervorgegangen. alle in ber Wohlfahrtäpflege thätigen Organe IM gemeinfamer Arbeit zu vereinigen. Er bemübt fih, eine Zentral: und PVermittlungäftele zu ſein für alle diejenigen Vereine und Private, bie auf dein weiten Feld der fozialen Hilfsarbeit that

Frauenvereine.

find. Eeinem Charakter entſprechend läßt es ſich der Stabtbund angelegen fein, eine möglichft große Zahl von Namen folder Familien in feinen Alten zu befigen, melde jemals bie öffentliche ober private Wobftpätigleit in Anfprucd genommen haben. Hierdurch ift er im ftande, einen großen Bruchteil der an ihm gerichteten Anfragen andrer Vereine oder Privater zur Zufriedenheit ber Fragenden zu beantworten. Weiterhin bemüht er fib, auögleihend und vermittelnd thätig zu fein bei der Organifierung von Weihnachtöbeiherungen fowie bei den Beftrebungen zur Beichaffung eines Sommeraufenthaltes für Kinder unb Erwachſene. Turd) Aufnahme von Meldungen und Pergleichung von Liften ift ed dem Stabtbund gelungen, hierin günftige Nefultate zu erzielen. Er barf ſich rühmen, daß durch feine Vermittlung cine größere Anzahl von Doppelbefcherungen vermieden, und dafür andern Familien, bie noch von feiner Seite her bebadht wurden, etwas zugeivenbet worden ift. Nicht minder fegendreih waren feine Bemühungen betr. bie Sommerpflege von Schultindern und im Beruf ſtehender junger Mädchen. Durd feine vermittelnde Beihilfe konnte eine nicht geringe Anzahl Erholungäbebürftiger der Wohlihat eines mehrwöchentlichen Lanbaufenthalteöteifhaftig werben. Ein großed Verdienft erwarb ſich der Stadt: bund außerdem noch durch bie Lerausgabe bed Sand: und Nachſchlagebuches „Die private Fürforge in Frankfurt a. M.“ Dasjelbe enthält eine genaue und praktiſche Zuſammenſtellung der in der Stabt beftehenden gemeinnügigen SBeranftaltungen und ift für alle diejenigen, die fih mit MWohlthätigkeit und Armenpflege befaflen, von wirklich gro|

Nugen. CB ift begreiflich, daß die fi über ein fo weites Feld erftredende Thätigkeit des Vereins einer großen Anzahl von Arbeitöfräften bedarf. Es ift daher von Anfang an das Beftreben des Stadt: bundes geivefen, möglichft viele freiwillige Si träfte heranzuziehen, ta® ihm auch gelungen ift. Tantbar blidt er auf eine große Zahl von frei willig mit ihm Arbeitenden, und es iſt erfreulich zu konſtatieren, daß das Intereſſe und die Liebe zur fozialen Hilfethätigkeit immer weitere Kreiſe der befferen Gefellichaftätlafien erfaßt. Cine Menge junger Mädden arbeiten im Tienit des Stabtbunded auf ben verfchiebenften Gebieten. Befonder® bevorzugt wird dad Erie len von Rad): biffeunterricht an durd Krankheit ober mangelnde Begabung zurücgeblicbene Schultinder; aber aud) die Befuche bei Armen und Kranken. Die Arbeiten aur SHeritellung von Blindenſchrift, ſowie bie Hilfe in Kinderſchule, Kindergarten, Kinder: bert und jlidfurs werden eifrig, betrieben. Auf der diesjährigen Generalverfammlung bes Bundes wurde über eine Cingabe des Stabt: bunbes an ben Magiftrat der Stadt Frankfurt, betreffend die Einführung des Sauähaltung unterrichte® in bie oberfte Klaffe der Vollsmädche ſchule in Tebhafter Debatte verhandelt. Aus der: felben ging hervor, dafı die große Mehrheit der Schulmänner dem Antrag nicht günftig geftinmt gegenüberfteht, während alfe auf fozialem Gebiet Arbeitenden von der unbedingten Notwendigkeit einer obligatorifhen hauswirtfchaftliden

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Die beiden Parteien einigten ſich ſchließlich dahin, daß bie Eingabe gemacht werben follte und die Lehrer ihre Yuftimmung zu einer probeweifen Ein⸗ führung des betr. Unterrichteö geben würden.

Die hauswirtſchaftliche Fortbildungsſchule des Vereins Fraueuwohl zu Königsberg i. Pr. veröffentlichte ihren 7. Jahresbericht für bie Zeit von Dftober 18989— 1900. Ihre Maieftät die Naiferin Friedrich hat das Proteftorat über die Säule übernommen. Es wurden ſtets circa 30 Mädchen in ben verfeiebenften Siveigen ber Haußwirtfchaft mie: Kochen, Waſchen, Plätten, Schneidern, Mafchine: und Wäfchenähen, fowie auch in Deutich, Rechnen, Haushaltungdhunde, Zeichnen und Turnen unterrichtet. Zum Teil nehmen bie Mädchen nad vollendetem Kurfus Stellen an, zum Zeil aber verwerten fie auch die erworbenen Fertig: feiten im eiterlichen Haushalt. Der Magiftrat hat die bieherige Subvention von 300 Wart auf

600 Mark erhöht.

Der Berei

zur Gründung eines Mädchen: muafiums in Münden veröffentlicht feinen 7. Jahresbericht. Ta bie wiederholte Gingabe ded Vereins an das Agl. Kultusminifterium um bie Genchmigung zur Er⸗ richtung eines Mädcengumnafiums abfehlägig be: ſchieden worden war, machte fi) in der 8. ordent⸗ lichen und einer fpäter einberufenen außerorbent: lichen Sauptverfammlung das Verlangen nad) Errichtung von gumnafialem Privatunterricht geltend. Die betreffenden Anträge wurben aber mit geringer Majorität abgelehnt, da der Verein an feinen Grundfage fefthielt, nur ein ftaatlich genehmigtes Bolgymnafium mit dem Rechte auf Ablegung ber Abiturientenprüfung errichten zu wollen, wenngleich er der Einrichtung von Privatunterricht auch fym- pathiſch gegenüberftehe. Im Laufe des Sommers fünbigte derr Rektor Sidenberger bie Errichtung von gumnafialem Privatunterricht für Mädchen unter feiner Zeitung an und ftellte im Januar den Antrag, fein Unternehmen durch Gewährleiſtung von greiplägen bezw. Schulgeldnachlaß an be: bürftige Schülerinnen zu unterftüen. Bit biefem Gefuh mar der Borftand nicht einverftanden, einigte ſich aber fpäter mit verrn Reltor Siden: berger über bie Bedingungen, unter welchen ber Verein bereit fei, feine Kurfe als ſolche zu unter: fügen. Danach leitet Herr Sidenberger biefelben für das laufende Schuljahr unter feinem Namen und nah dem von ihm feftgefeßten Lehrplan, während der Berein da gefamte Soll und Haben für da laufende Schuljahr übernimmt. Eine Er: neuerung des Zertraged für das nachſte Schuliahr ift vorbehalten. Bis dahin follen die Beriehungen des Vereins zu dem Unternehmen durch den Vor— ftand, fpäterhin durch ein aus Bereindmitgliedern beftehendes Kuratorium wermittelt werben.

€3 wurden 12 Borftandd: und Ausſchuß · figungen abgehalten und im inter ein Cheius von 6 Vorträgen de Herrn Dr. Grafen von Du Moulin-Edart, Profefjor an der techniſchen Goch:

Aus: ! fhule, über die „Franzöſiſche Revolution“ ver:

bildung unfrer weiblichen Jugend überzeugt find. ı anftaltet. Auferbem fanden 4 Kitglieberabenbe ftatt.

2 ep

700

Eine Reihe von hervorragenden deutſchen Künftlern, Litterarhiftoritern und Gelchrten ver: öffentlicht den nachftehenden

Aufruf.

Am 8. September d. 3. vollendet, fo Gott win, Wilhelm Raabe zu Braunſchweig fein ſiebzigſtes Lebensjahr.

Seit beinahe einem halben Jahrhundert haben fi) Taufende und Abertaufende an ber Gemüts: tiefe und an dem Gedanfenreichtume der Dichtungen Raabe's erfreut und erbaut; doch wie er felbft alle Zeit fill feined Weges gegangen ift, fo haben ibm aud feine Leſer bisher nur in der Stille danken tönnen. Um jo näher liegt e8, daß jetzt, da feines Lebens Feierabend naht, alle, bie auß bem köft: lichen Borne feined Humors fo oft Erquidung und neuen Lebensmut geihöpft Haben, fi) einmütig in dem Gedanken zufammenfinden, dem Dichter aud) vor der Welt ihren Dank darzubringen.

Zür eine folde Ehrung glauben die Unter zeipneten eine Form gefunden zu haben, bie der Verfönlichteit des Dichters und ben Wünfchen feiner Verehrer gleicherweife entiprechen würde.

Es ift ein oft beflagter Mangel, daß es noch immer am einer Gefamtausgabe der Werke Raabe's fehlt, fo daß es wohl nur wenigen vergönnt ift, fie alle zu befigen. Giner folhen Gelamtausgabe ftand und jtcht das Hinberniß entgegen, baf die Verlagrechte auf Raabe’8 Schriften nicht in einer Hand vereinigt find. Durch Befeitigung biefes Dinberniffea ciner Gefamtausgabe die Wege zu ebnen und bem Dichter an feinem fiebzigften Ge: burtötage das Verfügungsrecht darüber in bie Hand zu legen, ift der Plan, zu beffen Ber: wirkung fi) bie Unterzeidhneten zufamınen- gefunden haben.

Sie wenden fih hiermit an alle, die Wilhelm Raabe kennen und Lieben, mit der Aufforderung, die zu bem bezeichneten Ziwede erforderlichen Mittel feibft und durch Verbreitung diefes Aufrufes in ihren Kreifen aufbringen zu helfen.

Für den Fall, daß fic) die Verhandlungen mit den beteiligten Verlegern zerfchlagen follten, erbitten ſich die Unterzeichneten die Befugnis, den Ertrag der Sammlung zur Ehrung des Dichter8 aud in

einer andern, feiner würdigen Form zu ber: |

wenden. Beiträge nimmt entgegen: Direktion der Diskontogeſellſchaft, Berlin, Herr Sigmund Schott, Deutiche Effekten: und Bechfelbant, Frankfurt a. M,

Herr Bankdireltor Paul Walter, Hz ſchweig Hannoverſche Simpothefenbant, Bra: ſchweig.

Mitteilungen jeder Art und Anmeldungen '= der Feier in der Stabt Braunſchweig am &. Zu tember 1901:

Feftverfanmlung morgens 11%/. Ubr, Fefteffen nachmittags 4 Uhr, werden letztere Bis zum 15. Auguſt *

Händen des Nechtdanwalts und Notard Louu Engelbrecht in Braunfchtveig erbeten. „Das Ehepaar Orlow“. Bon Marin

Gorki, deut von A. Scholg. (Berlin, Brun und Paul Caffirer.) Ein Buch von Marim Merk zur Hand nehmen, das heit nicht, wieder einmal einen andern neuen Schrifiſteller unter di Fingern haben, den man auf Wollen und Können Bin betrachten, betaften und prüfen mag. Ce kait Leben vor ſich fehen, um fi fühlen lelendut Zehen, in dem eine ftarfe, umendfiche, weit Seele wohnt bie Secle des ruffifchen Boltit Nicht der Schriftfteler tritt einem aus_diekı Buche zuerft, am Fräftigften und greifbarften en: gegen, fordert den hrenplag fir fi, fondern dir Menfch, der Ruffe. Und wen des Dichters arte Stammesbrüber noch nicht gelehrt haben, das Full zu achten und zu lieben, über beffen Seele für un immer noch ein Schleier liegt, die tief, weit. unbegrenzt und voll Schtwermut ift wie ber Mutter hoben, aus dem fie ihr Sehen faugt, und in bern Schoß unbetannte Riefengebilde no falummern ber findet an Marim Gorfi'3 Hand tur Weg, der in die Tiefe diefer Seele führt.

Der Schuſter Orlow in ber erften Lüngerer Erzählung des vorliegenden Bandes berlün! die flaviiche Raſſe in ihrer urfprünglicen, nd unvermifcpten und ungebändigten Eigenart. © lehrig gefhmeidig, fähig, alle Einbrüde empfangen, alle Formen anzunehmen, ein un fehulter Geift, ein Teidenfcpaftlicher Charakter, weit und gutberzig, immer mit trüben, unllaren, [hw«T- mütigen Empfindungen ringenb, mit dem dumpfer Gefühl fortwährender blinder Empörung, das fit in Trog, Boöheit und Gehäffigkeit Luft mabt Ein Mann mit ftarken Lebenstrieben, der doch det Leben nur irgendwo „weit weit ba drehen fluten hört ein Dichter, den bie Erbe, auß N’ er beraußgetvachfen ift, umerbittlidh feftbätt. Ti neben die rau, bie meitaus —3 de reprodultive Natur, bie eben, weil fie die mindt

Bücerfhau. Anzeigen.

ftarfe Perfönlichkeit if, den Weg aus den engen Kreis ihres Ich heraus findet. Es folgen dieſer Erzählung noch drei Stizzen, alle aus dem Leben der Enterbten, Seimatlofen. Vielleicht kommt hier dem Leer wie mir

fo nebenbei ber Gedanke, mie wenig bei und in ;

Deutſchland grade auf dem reizvollen Gebiet ber Stigge geleiftet wird. Man nehme einmal bie meiften unfrer Skizzen! Faft alle baufchen fie nur

einen einzigen Gebanten eine einzige mehr ober '

minder gute Pointe, einen Ballaft von jentimentaler Lyrit und wortreicher Betrachtung auf und bie Wenfben find Figuren Schatten ohne feite Form ohne dieſſch und Blut! Dagegen 5. 8. Raupaffant Tſchechow u. a.!

Auf zwei brei Seiten, ohne großen Apparat, opme ein überflüffiges Wort, ein ganzes Drama, das fih in ſcharfen Umriffen vor und entwidelt! Und bier Warim Gorti. Chme Zuthat, ohne Sentimentalität, ohne verftimmende Abfichtlichteit, in ber unbelümmerten feflellofen Art des Wander: ‚gefellen, der unbeſchwert von Befig über die Erde dur das Dafein ftreift, erzählt er feine Heinen Erlebniffe. Welch ein Hauch zartefter Poefic, rührenden Humor8 über diefen Menfcen! flder Rolaſcha der „Gefallenen“, bie hungernd, obbadh: 108, geihlagen, auögeftoßen, in echtefter Frauengüte noch Teoft für dem ebenfo hungrigen, elenden, armfeligen Jungen findet! Über dem einfältigen, gutmütigen, ewig betrunfenen Mifchla, der aus ber unfichern Tänmerung feiner Philoſophenſeele heraus

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der alten Betſchweſter das geſtohlene Silberſchloß gurüdbringt! Über ber abftoßenden, verfonmenen Terefa, die in ihrer taftenden Sehnfucht nad} einem

: Menfejen der „für fie da ift“, fid einen Freund

erfindet Aber wozu weiter rühmen? Derartige Bücher find da, um gelefen zu werden. G S. fett.

„Die foziale Stellung ber Sranfen- pflegerinnen“ von Schwefter Elifabeth Storp (Tredben, im Selbftverlag, KRaigerftr. 29). Die Xerfafferin giebt in dem Schriftepen einen Überblid über die (Jehalt8: und Werforgungsverhältniffe der in interfonfeffionellen Vereinen organifierten Kranten. pflegerinnen und fnüpft baran Vorfchläge zur Befferung diefer Berhältnife. Wir werden in diefer geitfeprift auf biefe außerordentlich wichtige Frage noch zurüdtommen und empfehlen vorläufig das Schriften von Elifabeth Storp allen Inter: effierten zur Kenntnisnahme.

Eine internationale Bibliothek zur Zrauı frage von feltenem Umfange und jeltener Reich: haltigteit Hat Dr. Aletta Jatobs in Amfterdam geihaffen. Gin Hatalog diefer Bibliothek ift unter dem Titel: La femme et lo feminisme im Ber: lage von 2. Giard et E. Briered, Paris, er: fhienen. Er wird jedem, der die Frauenbewegung der verſchiedenen Länder ftubieren will, cin iwert: volles bibliographifdhes Hilfsmittel fein.

Schöne Fütze und ſchöne Zähne find bie wichtigften Schmudattribute de Menfchen. Während man aber mit den häßlichften Platt: und Plump⸗ füßen kerngeſund fein und fi} körperlich fehr mollig fühlen Tann, haben häßliche Zähne fehr häufig lörperlice Yeiden, namentlich Verdauungaftörungen im Gefolge. CS ift geradezu lächerlich, daß fo viele Nenichen, die fortwährend über Magen:, Kopf: feomerzen oder verdorbenen Magen Hagen, lieber allerhand Mirturen und Magenfchnäpje vertilgen, als die Urfahe diefer Yeiden zuerft in dem liegenden, nämlid) in ber Belchaffenbeit ihres Kau: apparates zu ſuchen. Man bedente doch: Schlecht: gelautes Effen wird ſchlecht verbaut, und nur das, mas mir verbauen und ordentlich verbauen, ernährt und, nicht das, was wir effen. Mit fchlechten Zähnen ift aber eine gute Verdauung undenkbar. An einer ricptigen Verdauung hängt die Gelundgeit und an die (Sefundfeit ift unfer 2eben, find erft bie Lebensgenüffe gelnüpft. Die Erhaltung und

Vflege unferer Zähne ift alfo immens wichtig, und ;

€& ift hoc) Bebauerlich, daß «8 immer noch Menfehen

giebt, die in ihrer allgemeinen Bequemlichkeit ihre :

Zähne dahinmodern laffen. Solde Leute find einfach) Verbrecher an fich felbft. Tiefe Bequemlid): teit_ift um f> unverzeihficher, ais und bie moberne Wiſſenſchaft hemifche Mittel zeigt, mit deren Hilfe jeder fein Gebiß in gutem, minbeften® in feiblich guter Zuftande erhalten kann.

Freilih muß man ein wirklich zuverläſſiges Mittel anwenden. Zahnjeife oder Rulver, wie das noch vielfach üblich

Das einfache Puhen mittels ,

ift, hat gar feinen gwed. Das fann man daran fehen, daß viele Leute, die ihre Zähne täglich mit Pulver oder Pafta reinigen, doch ſchadhafte Zähne haben. Ja häufig werben bie Zähne durd Puder ober Pafta nod mehr verdorben; denn altalifhe Zahnfeifen machen die Zähne mit der Zeit brücjig, und dur) das tägliche Bugen mitteld Zahnpulver ober Pafta wird die Zahnglafur angegriffen und dünn. Abgeſehen aber von dieſen ſchädlichen Nebenwirkungen können Zahnpulver ober Paſten ſchon deshalb die Zähne nie und nimmer vor Verderben ſchützen, weil ja gerabe diejenigen Stellen, die am cheften anfaulen, wie Rüdfeiten der Bad- zähne, Zahnfpalten, Zahnlüden u. f. w. bei dem Bugen “mittels Pulver ober Pafta unbchefigt bleiben. Da fault e8 alfo ruhig weiter. Will man feine Zähne vor Fäulnid und Verderben frei, alfo gefund erhalten, fo kann bad nur durch den Ionfequent täglichen Gebrauch des flüffigen Bahnantifeptitums Tdol erzielt werden. Tiefer dringt beim Spülen überall Hin, in die hohlen Zähne ſowohl wie in die Zahnfpalten, an die Rüd: feiten ber Badenzähne u. f. w. Obol ift, wie neuer: dings twieberholt tiffenfehaftfih nachgewiefen, unbedingt allen anderen befannten Zahnreinigunge: mitteln weit überlegen, weil ed, ohne die Zähne aud nur im geringften anzugreifen, ftundenlang im Munde fortwirkt, nod lange nachdem man fid den Mund obolifiert bat. Man beginne alfo mit

einer fonfequent täglichen Runbpflege mittels Diol. Viele werden dann dankbar unferer gebenten.

Anzeigen, 708

» » W. Moeser Buchhandlung, Berlin. » »

Demnächst erscheint:

Dandbuch der Hrauenbewegung

herausgegeben von Helene Lange und Gertrud Bäumer.

Mitarbeiter:

Für Deutschland: Alice Salomon, Marie Stritt, Anna Pappritz, Ottilie Hoffmann, Dr. Robert Wilbrandt, Lisbeth Wilbrandt.

Für das Ausland: Emilie Benz, Marie Bessmertny, Ersilia Majus Bronzini, Biee Cammeo, Maria Cederschiold, Auguste Fickert, Kirstine Frederiksen, J. Gatti de Gamond, Alexandra Gripenberg, Marianne Hainisch, Anna Hierta-Retzius, Martina Kramers, Gina Krog, Jane Scherzer, Martha Strinz, Dr. phil. Caroline Michaelis de Vasconcellos, Professor Dr.

Wyehgram u. a. BEE BEE l. Teil.

Die Geschichte der Prauenbewegung in den Kulturländern. I. Teil.

Die Geschichte der Prauenbewegung und der sozialen Prauenthätigkeit in Deutschland auf ihren einzelnen Gebieten. Il. Teil. Der Stand der Prauenbildung in den Kulturländern. IV. Teil. Die deutsche Prau im Beruf.

Jeder ca. 20—25 Bogen starke Band ist einzeln käuflich. u

Das vorliegende Buch ist auf deutschem Boden der erste Versuch, eine Über- sicht über das ganze Gebiet der Fragen und Bestrebungen zu geben, die man in den Namen Frauenfrage und Frauenbewegung zusammenfasst. Es soll angesichts der grossen Unkenntnis, die in weiten und einflussreichen Kreisen über Ursprung. Ziele, Umfang und Bedeutung der Frauenbewegung herrscht, Aussenstehenden die Möglichkeit geben, sich an der Hand einer objektiven, wissenschaftlichen Darstellung über Geschichte und Stand der Frauenbewegung eingehend zu orientieren. Es soll allen, die in der Frauenbewegung arbeiten, zu einem gründlichen Studium der ein- schlägigen Fragen und der in Betracht kommenden Arbeitsgebiete. sowohl in Bezug auf Beutschland als auf das Ausland, die Hand bieten. Die Herausgeberinnen hoffen damit einem Bedürfnis enigeı enzukommen, das weder die propagandistische Litteratur, noch die wissenschaft chen Darstellungen der Frauenbewegung durch Aussenstehende befriedigen können.

Der Verlag wird die Ausstattung des Werkes in jeder Weise würdig und gediegen gestalten.

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Berantiortig für die Rebattion: Helene Lange, Berlin. Beriag:

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706 Kaiferin Friebri +.

blieb das nicht aus. Eine Frau mit felbftändigen politiichen Anfihten, die Nat“: dem Thron, in der Bismardichen Aera! Die Prinzeß Royal von England, bie weitblidender Bater jchon als Halbes Kind mit in dad Parlament genommen bat:: um ſich nachher von ihr die Dispofitionen der gehörten Reden geben zu laſſen ur: ihr politifches Urteil allmählich zu bilden, am preußilchen Hof! Was dann die neunundneunzig Tage ihr brachten, was bie befannte Zeitung? bee damals an ihr gejündigt bat, bat fih ihr unauslöfchlich eingegraben, ohne ihren ftarfen Geift brechen zu können.

Ein vornehmer Geift ift fie geweien, und mit vornehmen Geiftern liebte fie es. ſtille Zwielprache zu halten. Weder Salonphiloſophie noch vberflählide Roman: litteratur, die den „Gebildeten” jo bequeme Gefprächsgegenftände liefern, Hatten tr etwas zu jagen. Sie liebte Geifter, mit denen fie zu ringen batte, die nicht gelelen, fondern ftudiert fein wollten, die ihr inneres Selbft mit aufzubauen im flande waren.

Aber es ift völlig unmöglich, auch nur andeutungsmweile bier die Grenzen beftimmen zu wollen, innerhalb derer dies überreiche Geiſtesleben ſich bewegte, unmöglich, auch nur flizzierend den Gang eined Lebens verfolgen zu wollen, ba, in feinem äußeren Verlauf jedem befannt, in feiner reichen inneren Außgeftaltung fo viele ungehobene Schäge birgt, die noch der Wünfchelrute eines feinfinnigen Interpreten barren. Uns ſteht fie in erfter Linie als Frau nabe, und ber erfte Artikel unjeres Blattes aus der Feder von Georg von Bunjen hat ihr gegolten. Er bat die That: ſachen gruppiert, die Außerlich von ihrem Anteil an Frauenarbeit und Frauenbildung in Deutjchland zeugen. Mir bleibt der Verfuch, zu zeigen, welder Geift dieſen äußeren Zeugnifjen ihre Geftalt gab, mie es thatſächlich um ihre innere Stellung zur Frauenbewegung ftand, über die jo manche Tageszeitungen, die eine „Beichäftigung“ mit der Frauenfrage jchon an fich für ein leichtes Brandmal halten, jo viel Unver: ftandene? und Mißverftändliches beibringen.

Ihre Auffaffung der Frauenbewegung wurde, wie das ja auch faum anders fein Tann, in ihrem Grundzug durch ihre eigene geiftige Entwidlung beſtimmt. Durd ihre wiflenfchaftlichen Studien und durch die ihr fo reichlich gebotene Möglichkeit, tiefere Einblide in foziale Fragen und ihre weitverzweigten Bufammenhänge zu gewinnen, ſowie durch ihren praftifchen Blid würde fie fich im ftande gefühlt haben, wenn dad Schickſal ihr die äußeren Möglichkeiten gegeben hätte, im Kulturleben die: jenigen Kräfte beftimmend zur Geltung zu bringen, die nur ber Frau eigen find. Und fo konnte fie fih auch eine kulturelle Wirkjamleit der Frauen im großen nur durch allfeitig gebildete PVerfönlichkeiten denken. Die Vorbedingungen bazu zu fchaffen, das ſchien ihr die nächlte Aufgabe der Frauenbewegung; an diefem Punkte würde fie jelbft eingejegt haben, wenn Kaifer Friedrich, der bier ganz eines Sinnes mit ihr war, eine längere Herrfchaft befchieden gewejen wäre. Als nach feinem Tode der Katjerin ber Wunfch ausgeſprochen wurde, der Trauer um ihn irgend einen bleibenden Aus: druck zu geben, da äußerte fie in feinem wie in ihrem Sinne: „Wie märe eB, wenn man einige feiner Ideen verfuchte zur Ausführung zu bringen? 3. B. das Inſtitut für die Erziehung der Frauen die Klinik für Halskrankheiten die Arbeiter: wohnungen um Berlin das Beftalozzi: Fröbel: Haus?”

Ein Inftitut für die Erziehung der Frauen das war ber Gedanke, ber fie jelbft Jahre lang beichäftigte und zu dem fie Pläne entwarf und entwerfen ließ. Sie dachte es fich als einen Kompler von Anftalten, in denen die Gelegenheit zu jener

8

aaiſerin Friedrich +. 07

allfeitigen Ausbildung ber weiblichen Perfönlichkeit geboten werben follte, mit der für fie die Löfung ber Frauenfrage vor allem verbunden war. Nicht ala ob alle alles lernen follten, Wiſſenſchaft und Kunft, praftifche Hausführung und Kindergärtnerei, Krankenpflege und foziale Hilfsthätigkeit, aber das räumliche Nebeneinander follte jeder die Möglichleit des Einblids in die Sphären gewähren, die in ihrer Totalität die gefamte Kulturarbeit der Frau umfaßten, follte die gebildete Frau vor ber ihr fo oft anhaftenden hausfraulichen oder gelehrten Einfeitigfeit in gleicher Weife bewahren.

Man mag über die Zwedmäßigkeit und Ausführbarfeit diefes Planes denken wie man will, für fie war er harakteriftiih. Im ihm glaubte fie die Möglichkeit gefunden zu Haben zur Verwirklichung ihres Frauenideals eines gefunden Ideals. Sie ift nicht dazu gefommen, diefen Gedanken auf feine Durchführbarkeit hin prüfen zu können. In einzelnen Schöpfungen fah fie einen Teil ihrer Ideen ſich verwirklichen. Wer fie verwirklichen half, wer auf gleichem geifligen Boden mit ihr fland, dem gab fie nicht „hohe Proteltion“, fondern die lebendig wirkende Anregung geiftiger Mitarbeit. Ihre Beziehungen zu Henriette Schrader, Hedwig Heyl, Ulrike Henſchke, zu den Vorfteherinnen der unter ihrem Schuß ftehenden Anftalten, zu allen, die arbeitend ihre Ideen verkörpern halfen, ruhten auf einer Gemeinfamleit der kulturellen Intereſſen, die ihren fchönen, rein menfchlichen Ausdrud in den Stunden fand, da fie den Kreis diefer Frauen zu gegenjeitigem Gedankenaustauſch um ſich verfammelte.

Eine vornehme geiflige Kultur, praktifches ſoziales Verftändnis und die haus— frauliche Dispofitionsfähigfeit und Tichtigfeit, die vor dem Beherrſchtwerden durch bausfrauliche Sorgen bewahrt, dad war ihr bie vor allem notwendige geiftige Grund» Tage, durch die ihr die Gefundheit der wirtſchaftlichen und rechtlichen Entwidlung der Frauenbewegung am beften gefichert erfchien. Von diefen Prämifen ausgehend, hat fie die Konfequenzen der Frauenbewegung: den Einfluß der Frauen auch im öffent— lichen Leben zur Geltung zu bringen, zu Ende gedacht. Denn daß auch bei uns dort Frauenforge und Fraueneinfluß not tue, mußte. der praltiſche Blid der Tochter Englands ſchnell genug erkennen.

Aber ihre Hiftorifche Bildung war zu tiefgründig, um fie nicht die Gefahr des Dilettantismus, der notwendige Stufen überfpringen will, deutlich erkennen zu laſſen. Und obwohl fie die Notwendigkeit einer vernünftigen Propaganda nicht verfannte fie hat jelbft einem Frauentag de3 Allgemeinen Deutfchen Frauenvereins beigemohnt fo war ihr doch jede auf Augenblidserfolge gerichtete Reklame, jedes Vorwegnehmen legter Ziele um der demonftrativen Wirkung auf unreife Maſſen willen, ald eine un— wurdige Charlatanerie erſchienen. Sole Richtung lehnte fie durchaus ab.

So war ihr Eintreten für die Frauenbewegung vol ficheren, vornehmen Ver— trauen auf die unfehlbar wirkende Macht der kulturellen Kräfte der Frau, die fie helfen wollte zu befreien.

ALS Kaifer Friedrich Gemahlin mußten die Zeitungen zu fagen wird fie in die Weltgefchichte eingehen. Der Weltgefchichte, die aus Fürftengallerien mit Schlachtenbildern im Hintergrunde befteht, wird fie nichts bedeuten. In die Kultur= geſchichte aber wird fie eingehen als felbftändige Perfönlichkeit, als bie erfte Fürftin, die ihren vollen Einfluß für die Frauenbewegung einfegte, zu einer Zeit, in der die Acht weiter Kreife noch ſchwer auf ihr laſtete. Helene Tange.

RER

45*

708

Sisheis Schafe. —I>

Skizze

von

Frida Sıhany

Nachdruck verboten.

—— —7z

ID ie froh war bie junge rau, als fie | Strafe, Prügel. Die Mutter hatte fie ver:

in dem großen Garten mit den vielen Lilien- beeten aus ihrem Traum erwachte!

Sie fah fih verwundert um.

So war alles nicht wahr?

Nicht wirklich ihre Angft, ihre Schluchzen um Lisbets zerriffene Schuhe?

Graufig hatte fie geträumt. Ihr fchöner, guter Mann war geftorben, die Leute hatten feine lieben Bilder meggeholt und alle ihre herrlichen Sachen; die Freunde hatten fie nicht mehr gefannt; in ein fchredliches Vorftabthaus, wo die Armut unterfroch in bundertfacher Ge- ftalt, hatte fie mit ben drei verwöhnten Lieb⸗ lingen ziehn müflen. Sie hatte Geld verbienen folen und fonnte nichts. Mit Sprachftunden hatte ſie's verſucht; aber der Hals war ihr immer fo troden vom vielen Weinen, bie Bruft that ihr weh, und fie hatte fo große Angft vor ihren: feden Schülern. Und die Kinder wurden immer bläfjer; der Winter fam. Lisbet mußte in die Armenfchule gehn. Aber dann konnte fie fie nicht mehr fchiden. Lisbet huftete die ganze Nacht. Es regnete, regnete. Und Lisbets Schuhe waren zerriffen, fo zerriffen, daß der Schufter fie nicht mehr flicken gewollt.

Da kam der Höhepunkt ihres Traums. Gie hatte an ihrer Kleinen Mädchen Betten geſeſſen und mit ihren fieberglübenden Händen die drei paar Falten Füßchen erwärmt, bie Kleinen waren dabei eingefchlafen, aber Lisbet hatte in wilder Angft die zarten Hände ge- rungen. Sie mußte morgen in die Schule, fie mußte, mußte; zu Haus bleiben wegen der zerriffenen Schuhe konnte fie nit. Wenn fie nit fam, befam fie am andern Tag

tröftet: fie wolle Rat fchaffen; fie folle gehn. Da fchlief fie ein; und die Mutter faß dann bei der Lampe und hatte bie gerriffenen Schube in der Hand, und ihr Elend fief auf fie nieder wie eine Bergeslajt. Sie mußte nicht aus noch ein; fie fchrie in ihrem Innern nach ibrem Mann, um Hilfe für ihre Kleinen; fte ſchrie, ohne daß fie die Lippen bewegte, ftumm und doch fo fchrill und lau, bis auf einmal das Wunderbare geſchah, bis der glühende Reif zeriprang, ber feft um ihre Stirn gelegen, bis fte fanft fiel, hinabglitt, wohl viele hundert Klaftern tief unb dann erwachte.

Da ſtand ſie in dem Liliengarten.

Ja, an die Lilien auf dem Felde hatte ſie ja in ihrem entſetzlichen Traum eben noch gedacht. Es war, als ob ihr jemand mit goldiger, ſonniger Stimme das Wort zuriefe, auf das fie ſich ſeit ihrer Kindheit nicht mehr befonnen, das Wort von den Lilien auf dem Feld, die nicht arbeiten und nicht fpinnen und die doch ſchöner bekleidet find ala König Salomo in feiner Herrlichteit.

Und nun um fie ber lauter foldye weiß: goldene Blumenkelche. Sie befann fich einen Augenblid. Kennft du denn das alles? De dunfle Traum wollte noch einmal die Hand nach ihr außftreden; eine Bifion von weinenden Kindern, fchreienden Nachbarinnen und einem großen Blutfled auf der Diele ftieg vor ihr auf; aber da ſchwang ſich auf einmal eine Lerche aus den Lilien, body hoch auf, und fchmetterte in zitternder Luft: „Sehet bie Vögel unter dem Himmel an! Sie fäen nict, fie ernten nidt . . .“

Liebets Schufe.

Der furdtbare Traum war nun ganz ver⸗ geffen. Sie fuhr fi mit der Hand über bie Stim; da mar’, als fiele auch das legte Band, und fie wußte nun, ja, fie mar unter den Lilien, daheim, in dem Garten, über dem in blauer Luft die trillernde Lerche fang. Sie mußte es genau, denn eine Stimme tönte an ihr Ohr; deren bloßer Klang fagte ihr: „Ya, du bift bier daheim, denn bier bin ih!"

Da kam eine Beruhigung über fie, füßer als alle Wonnen, die fie je gefühlt; von weitem hörte fie nun aud feinen Tritt; da ſah fie fhämig-felig an ſich herab und fah, mie ihr meißes Gewand die weißen Blüten ftreifte. In Weiß hatte er fie immer fehen wollen! Hatte fie nicht eben ein häßliches, altes Trauerfleid getragen? Nein, nein alles ftrahlte an ihr. Und mit feligem Schrei flog fie ihrem Mann entgegen, zwiſchen den Lilien fam er daher, mit dem ruhigen Schritt, mit ausgebreiteten Armen, mit dem Götterläheln ber Güte, das ihm immer eigen war.

D, ausruhn an feiner Bruft! Es tar, als thue ihm etwas weh an ihr, denn er fah fie fo eigen, fo mitleidig an. Und ihr Atem ftodte. Waren fie nicht taufend Meilen und taufend Jahre getrennt geweſen, mußte fie ihm nicht erzählen von jenem Grauen, das fie durchſchaudert, von ben tiefften Qualen ber Menfhenbruft?

Sie konnte fih nicht mehr befinnen, was es war. Er tar ja bei ihr, er umfing fie feft. Sie fann und fann. Da burdyzudte es fie. Klein⸗Lisbets zerriffene Schuhe fielen ihr ein und was fie um beretwillen für Angft gelitten. D Wohlthat, es ihm zu fagen, ihm alles zu Hagen!

Aber er fhüttelte den Kopf, als ob fie Märchen erzähle. „Was willſt du?” fagte er und küßte fie innig. „Du bift ja bei mir, und die Kinder find ja hier!”

Und da floß ihr Herz faft über von Sonne. Denn die Kinder famen gefprungen, um die Ede des weißen Haufes herum, das mitten in den Lilien ftand. Ihre blonden Haare flogen, ihre blauen Augen ſchimmerten und

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glängten. Weiße Kleider trugen fie, tie immer in ber Sommeräzeit. Und an ben Heinen Füßen trugen fie goldene Schuhe. Damit flogen fie leicht wie der Sommerwind, tänzelnd wie Sonnenftrahlen, über den lichten Sand. Sie flogen an der Mutter Hals und dann an des Vaters Bruft, führten einander dann an den Händen und gingen vor ben Eltern ber, die Heine Maria in der Mitte zwiſchen der zaͤrtlichen Dorothea und ber ernften, verftändigen Lisbet. Ganz ruhig, ganz ſicher ſchwebte nun das Glüd über den Lilienbeeten.

Nur einmal noch fuhr's wie eine Natter hervor, das alte, ſchwarze Grauen.

Einen kurzen Moment lang war bie junge Mutter wieder aus dem Garten verfloßen. In buntgewürfelten Kifjen lag fie, in einem Eifenbett, zwiſchen vielen anderen im Kranken⸗ haus. Ein bleiches, ftrenges Frauenantlig beugte fi} über fie, und die namenlofe Angft fchrie aus ihr:

„Schweſter, find meine Kinder verforgt? Hat Lisbet ganze Schuhe?”

Feſt und ruhig, wie eherner Glodenklang, lam die Antwort:

„Seien Sie ganz getroſt, liebe Frau! Ihren Kindern geht's gut. Alle drei haben neue Kleider und Schuhe bekommen.“

Da nickte fie verklärt. Ach ja, goldene Schuhe! Nun wußte fie'3 wieder! Und nun wollte fie es merken, und nichts follte ihren Frieden mehr ftören im Garten mit den Lilien, die nicht fpinnen und forgen.

* D *

Drei Tage fpäter ſchritten drei Meine Mädchen in Waifenhausfleivern in ber auf: geweichten Kirchhoferde hinter dem Sarg ihrer Mutter ber. Nur die Schweſter, bie ihre Mutter gepflegt, und der Paftor ging mit ihnen. Regen fiel. Es ging fich ſchlecht auf den ſchmalen Seitenwegen zwiſchen den Hügeln. Die neuen, harten Lederſchuhe brüdten bie zarten Füßchen. Aber es war doch gut, daß die Schuhe fo hart und derb waren.

Denn fie follten den langen Weg durchs Waiſenhaus ins harte Leben gehn.

BI

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Hranemarbeit in der '

Alire

Rachdruc verboten.

lerwärts giebt es noch Frı Induſtriearbeiterin feinen E Induſtrieſtädte aufwuchſen darüber zu orientieren. Nicht nur nur Zeitungen und Zeitfchriften rei umzufegen verfteht: auch unzählige verknüpfen das Leben der Induftei Konfumentinnen. Ganze Induftrien, beihäftigen außfchließlich oder größ die Frau und wird auch von ihr mann bezahlt. Vom Gejchmad wird die Arbeit der produzierenden bier wie auf allen Lebensgeb Vorderhaus und Hinterhaus läßt ſich zwiſchen Xillenviertel und Arbeiterv Zu den Lurusinduftrien, di Abfaggebiet ſich hauptſachlich auf 9 von Bijouteriewaren, die in Pforzh bergifihen Drtfchaften unter ftarker foeben erfchienene Schrift „Die fo; berüdfichtigt daher auch insbefondı Arbeiterichaft; das Intereſſe für bi Arbeitsgebiete behandelt, auf dem Q die Natur des Gewerbes, durch Sit aufnehmen. Um fo lehrreicher ilt es, zwifchen den Geſchlechtern Platz gr Arbeit, die ſich aus ber befonder die nur durchbrochen wird, wo ei Sefehtechtägenoffen nicht teilen, ohn dadurch erleidet. Yon anderen ähnl daß fie die Verhältniffe eines abgefd Wirtfchaftsgebietes, ſowie aud) eine Unterfuchungen fi in ber Regel über das ganze Land verbreiteten beachtenswert, daß die Monographis bearbeitet und von der Badiſchen Fa dafür, daß in dem Staat ber vorge erftattung zu den Aufgaben der darüber: „Die Zeit, welche den Fa

M Die foziale Lage der Pforzheimer Fabritinfpektor Fuchs. Karlsruhe. Ferd.

Frauenarbeit in der Pforsheimer Bijouterieinbuftrie. 711

der übrigen Aufgaben verloren geht, wird reichlich aufgewogen durch das tiefere Eindringen der Auffichtsbeamten in die Arbeiterverhältnifie, ganz abgefehen von dem Nugen, den eine genaue Kenntnis und das Bekanntwerden dieſer Dinge für den Arbeiter felbft bringt.“

Die wirtfcaftlichen Verhältnifie ber Pforzheimer Gegend find durchaus abhängig von der Entwidlung der Bijouterie-Induftrie als Pauptfächlicher oder einziger Erwerböquelle; feine andre bebeutende Induſtrie beſchränkt fih auf ein fo enges Gebiet, wie die badifche Schmudwarenfabrifation, die mit 15 000 Arbeitern die dritt⸗ größte Induftrie Badens ift. Unter 14 152 in den Fabriken der Gegend befchäftigten Bijouteriearbeitern find 4944 Frauen, und zwar 796 Arbeiterinnen unter 16 Jahren und 1443 verheiratete Arbeiterinnen. Die allgemeine Annahme, daß die Teilnahme der Frauen an einer Imduflrie befonderd groß ift, wo die Löhne der männlichen Arbeiter nicht zum Unterhalt der Familien ausreichen, trifft Hier nicht zu. Mehr noch als in andern Induſtrien bat ſich der Prozentfag weiblicher Arheiter mit dem Aufblühen des Gewerbes vergrößert, und Hand in Hand damit ging eine Verbefferung ber Arbeitöbedingungen. „Gerade die in dem legten Dezennium verhältnismäßig hoch⸗ geftiegenen Löhne der Arbeiterinnen fcheinen biefe auch noch als Ehefrauen in die Fabrik gelodt zu haben, nachdem bie gefegliche Feftiegung des elfftündigen Arbeitätages doch auch eine übermäßige Ausnügung der weiblichen Arbeitskraft im einzelnen Fall unmöglich gemacht hatte. Geordnete Verhältniffe und fleigende Löhne laffen weit mehr die noch vielfach brachliegende Arbeitskraft von Mädchen und Frauen für die Induftrie nugbar werden, als lange Arbeitszeiten und niedrige Löhne, welche bie Maſſen zur Außerfien Bebürfnislofigleit erziehen, aus der herauszukommen fie oft gar nicht einmal das Beftreben zeigen. Erſt ein gewiſſes Maß befferer Lebenshaltung erwedt weitere Bebürfniffe und zieht auch die legte Kraft zur probuftiven Thätigkeit heran.” Fuchs glaubt, daß eine weitere Verkürzung ber Arbeitszeit auf 9 Stunden einen vermehrten Eintritt von Frauen in die Fabrik herbeiführen, aber auch bie Schäden befeitigen oder vermindern würde, die unter dem jegigen Syſtem für Familie und Kindererziebung aus der Frauenarbeit erwachien.

Wie die Arbeiter, fo machen auch die Arbeiterinnen faft regelmäßig eine mehr: jährige Lehrzeit durch. Die Fabritanten durchziehen geradezu die Gegend, um die Eltern zu bewegen, ihre Rinder in die Lehre zu ſchicken. Es pflegte nämlich in den legten Jahren ein beftändiger Mangel an Arbeitern und Arbeiterinnen zu berrichen, aller: dings mit Ausnahme der ftillen Zeit, die gewöhnlich in den Hochjommer fallt.

Um die Schwierigfeiten des Saifonbetriebs zu fiberwinden, haben die Unter: nehmer ſehr wechſelnde Arbeitzeiten eingeführt; von 6 Stunden in ber ftillen Zeit herauf bis zu 13 Stunden in Perioden des guten Gefchäftäganged, und den Arbeiter ſchutzgeſetzen iſt energiicher Widerftand sutgegengejegt worden. Der in bdiefen Der: bältniffen begründete Mißſtand für die Arbeiter wird noch dadurch erhöht, daß die Lohne der Arbeitszeit proportional find und namentlich jlingere Arbeiter ſich ſchwer an eine wirtichaftliche Verwendung fo unzegelmäßiger Einnahmen gewöhnen. „In ber Zeit der gefüllten Börſe verfagt man fich feinen Lieblingswunſch, um in der Zeit des Xeerftanded nachher zu darben. Es bringen biefe Umftände eine gewiſſe Unficherheit in die Eriftenz, Neigung zum augenblidlihen Genuß, nicht aber Streben nad tulturelem Fortichritt wird Bervorgerufen, eine Erfcheinung, die überall bei Saifon- arbeitern hervortritt.”

Es wird dann auch in der Pforzheimer Gegend, nicht nur von Fabrifanten, fondern auch von älteren, gefeßten Arbeitern allgemein über die Zügellofigleit der Jugend geflagt. Nirgends in Baden ift die Unfitte des Blaumachens fo verbreitet und fo ausgeartet wie in der Bijouteriefabrifation. Biel Schuld daran tragen aller: dings mande Fabrifanten, die das Blaumachen in der ftilen Zeit nicht ungern fehen. Ein Geſchäftsinhaber, bei dem nod am Dienstag die meiften erwachſenen Arbeiter fehlten, erklärte das entfchuldigend damit, daß in der letzten Zeit viele Überftunden gemacht worden wären. „Die Kirchmweihen der um Pforzheim herum gelegenen Drte bieten den äußeren Anlaß, um die Tage von Sonntag bis Dienstag dem tollſten

Frauenarbeit in ber Pforzheimer Bijouterieinbuftrie. 713

ber phyſiologiſchen Bilanzen, daß häufig eine unzwedmäßige Verteilung ber Nährftoffe ftattfindet, die auf Unkenntnis über bie zur Emäßrung notwendigen oder wünjchend- werten Stoffe zurüdzufüßren iſt. In einzelnen Fällen geht das natürliche Beſtteben zur Erhaltung ber Arbeitskraft zu weit. Das fteigende Einfommen wird häufig nur zur Verbefferung der Ernährung benugt, und bie Befriedigung andrer Kufturbebürfniffe oder die Sicherung der Zukunft, die oft neben ausreichender Ernährung fehr wohl möglich wären, werben nicht ins Auge gefaßt. Dazu trägt auch viel der ftarfe Glaube an bie fräftigende Wirkung des Atodote (in Form von Wein und Bier) bei, der ganz allgemein bei Frauen und Männern verbreitet if, und der oft zu einem Alkohol verbrauch führt, der 10—15 Prozent der Gelamthaushaltungskoften verichlingt. Daneben treten andre Bebürfniffe bei den Vijouteriearbeitern und ihren Familien ganz zurüd. Außer bei den unverheirateten Arbeiterinnen, die einen großen Teil ihre Verdienſtes für Beihaffung von Put ausgeben, verſchwinden die Beträge für Kleidung und Hausrat volftändig Hinter den Sonntagsausgaben, die neben Wohnung und Ernährung einen beträchtlichen Poften ausmachen. Die mangelnde Befchaffung not wendiger Gebrauchögegenftände wird aber anfcheinend nicht empfunden. Fuchs fagt darüber: „Diefe Erſcheinung lehrt deutlich, daß tro& aller Fortichritte der Kultur in einer nicht einmal ſchlecht bezahlten Arbeiterfchaft das Bedurfnis nach Gegenftänden, die das Leben angenehm und behaglich machen, noch fchlummert. Den Arbeitern müflen Be: dürfnifje erft noch erwedt werden, die kulturell höherftehenden Klaſſen längft zur Ge: wohnheit getoorden find. Das Erwachen ſolcher Bedürfniffe und der lebhafte Wunfch, ihnen zu genügen, wird für die Arbeiter ein wirkſamer Anfporn zur Vervollommnung ihrer Leiflungen fein; er wird fie befähigen, einen immer fteigenden Anteil am Volks⸗ einfommen zu erringen, vermöge deſſen fie als zahlungsfähigere Käufer unferer Induftrieprodufte auftreten Lönnen, als das heute noch der Fall iſt.“

Über die erft in den legten Jahren Umfang gewinnende Hausinbuftrie, die faft ausfchließlih Frauen beichäftigt, ift ein abfchließendes Urteil noch nicht zu geben; Fuchs glaubt, daß ihr Beftehen wefentlih davon abhängen wird, ob die Mode dauernd ein Abſatzgebiet für leichte Ketten (fogenannte Meterfetten) aus unechtem Metal Ichafft, da andrer Schmud faum in der Haußinduftrie herzuftellen ift. Die ſchnelle Ausdehnung diefes Syſtems führt er einerſeits auf die fteigende Entwidlung der Bijouterie-Induftrie zurüd, die aud die legte verfügbare Kraft in Anfpruch nehmen mußte, andrerfeits auf den Wunſch ber Induftriellen, die Beichräntungen der Schuggefeßgebung und die Laften des Verſicherungszwanges zu umgehen.

Fuchs bringt vielfache Anregungen und Vorſchläge zur weiteren Ausgeftaltun der Schuggefeßgebung, auf die einzugehen im Rahmen dieſes Artikels nicht mö, Nie) iſt. Lehrreicher noch find für die Frauen die Betrachtungen über das Nulturs niveau der Arbeiterbevölferung, die eine Mahnung für Befigende und Nichtbefigende enthalten. Es gilt nicht nur, den Arbeitern fürzere Arbeitäzeit und höhere Löhne zu ſchaffen; dieſe find nur Mittel oder follten e8 werden zu dem Zived, ihnen zu befferer —e und höherer Kultur zu helfen. An den Frauen biegt es, die Konfequenzen folcher Betrachtungen zu ziehen. In ihre Hand ift es gegeben, auf eine richtige Verwendung des Einkommens und der Mußeflunden Bin= zuwirlen; die Arbeiterin kann bei jachgemäßer Verteilung der einzelnen Ausgabepoften den größtmöglichen Vorteil aus dem Familieneinkommen ziehen. Die befigende Frau mit gefchultem Intelleft Tann ihr aufflärend darin zur Seite ftehen; fie fann ihr zu dem Glauben an den Wert der materiellen Güter den neuen Glauben an ideelle Werte bringen. Die einzelnen Arbeiter und Arbeiterinnen mögen nur einen geringen Einfluß auf die Erhöhung ihres Lohnes ausüben können; aber fie können einen Teil davon für materielle Genüffe gröbfter Art hingeben, oder ihn „zur Verfeinerung des Lebens

und Find Veredlung feines Inhalts benügen. Nur die volllommene Ausnügung des Gegebenen befähigt und berechtigt zur Erringung von Größerem.”

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müffen, „daß mit ganz vereinzelten Ausnahmen

meteorologifchen Beobachtungen feine Rede fein Für

fängen der menfchlichen Kultur, jo führte der Redner Hirten gany beſonders eingehend das Wetter betrachte auch die eriten natürlichen Wetterzeichen feftgeftellt t für gewifle Wetterregeln zur Vorausbeſtimmung der A erbten fih von Geſchlecht zu Geſchlecht fort und ha heutigen Tag erhalten. Eine große Anzahl unjrer fc fo das Erbftüd aus frühefler Vorväterzeit fein, dan Bronzezeit auf den Sümpfen Europas feinen Pfahlba Roden fein Stüdlein Aderland dem Urwald entrang um 4000 vor Ehrifti ein mwohlgeordneter Betrieb von W und Voraudberechnungen ihrer Folgeericheinungen, mie

Forſchungen zur Gewißheit gemacht haben. Spyitematif das Wie der Wettererfcheinungen fanden auch bei d. ftatt. Ariftoteles bat fchon ein Buch fiber Meteorolog das Wieviel, alfo „quantitative” Unterjuchungen, fchein hundert nach Chrifti, und zwar in Paläftina ausgeführ erftenmale der Regen gemeſſen. Die Miſchna, die

bildet und die dem Leben und Gebrauch angepaß ftelt, überliefert ung noch den Betrag der Frühregen, maßgebend ift, nach unfrer Rechnung nämlich 54 Ce Meffungen in derſelben Gegend und für dieſelbe Per ergeben, jo gewinnen wir daraus den interejlanten Sch der Negenfälle in Baläftina während zweier Yahrt ändert bat.

Diefe quantitativen Meſſungen ſtehen allerdings ſind wioder Marnmualt..-

Wetterlunde und Wetterkünder. 716

von Witterungsnotizen in den Kalendern werben allgemein üblich, und am Ausgange des 15. Jahrhunderts tritt Meteorologie bereit? an der Wiener Univerfität als Lehr: gegenftand auf.

Die erperimentelle Meteorologie hat ihre Wiege zu Florenz, wo fie um die Mitte bes 17. Jahrhunderts zur Ausbildung gelangte, und in Stalien find auch zuerft Barometer, Thermometer und Regenmeffer für die Zwede ber Meteorologie zur An: wendung gelommen. Ende be3 17. Jahrhundert? wurden regelmäßige inftrumentelle Beobachtungen bereit in allen Nulturländern nicht bloß Curopas, fondern auch Afrikas, Aſiens und Amerikas vorgenommen und die wichtigften Grundlagen für eine wiſſenſchaftliche Wetterkunde feftgeftelt. Im 18. Jahrhundert wurde die erfle ſyſtematiſche Drganifation gefchaffen und im 19. greift zum erftenmale die ftantliche Fürforge ein, die fi in der Errichtung und Unterhaltung von meteorologiſchen Stationen, mit allen Inftrumenten der Neuzeit ausgeftatteten und von erften Forſchern geleiteten Wetter: und Seewarten äußert.

Wir haben heute erkannt, daß nur die allerforgfältigften, fyftematifch über den ganzen Erdball ausgeführten und mit einander verglichenen Beobachtungen der Vorgänge in der Atmofphäre uns einigermaßen zuverläffigen Aufihluß über die Verhältniffe geben können, von denen die Witterungszuftände an beflimmten Orten und zu beftimmten Zeiten abhängig find. Aufs genauefte werden an unzähligen Stellen Entflefung, Fortbewegung, Schnelligkeit der Winde und Stürme beobachtet und berechnet, die Verſchiedenheiten des Luftdruds, der Temperatur und des Waſſerdampf⸗ gehalts gemefjen, die Wolfen von ben tiefften Nimbus: und Cumulus- bis zu ben höchſiſen Cirruswolken, die mehr ala 10 Kilometer hoch gehen, in ihrem Laufe verfolgt, wird bie Atmofphäre noch weit darüber Hinaus, jet bereit3 bis zu 14000 Meter Hoch durch Regifirierballons auf ihre Temperatur, ihren Feuchtigkeits- gehalt, die Stärfe und Richtung der in ſolcher Höhe herrſchenden Luftftrömungen u. ſ. w. bin unterfucht, werben bie verborgenften Meeredftrömungen berüdfichtigt, bie ja, wie dad vom marmen Golf: und dem falten Polarſtrom bekannt ifl, einen ungemeinen Einfluß auf Klima und Wetter haben. Auf Wetterfarten wird tagaus tagein ber BWitterungszuftand, wie er ſich aus den Beobachtungen nicht nur auf meteorologifchen Stationen, fondern auch auf den Schiffen herleiten laßt, gewiſſenhaft verzeichnet, werden bie Linien vermerkt, die die Orte gleichen Luftdruds (Iſobaren) und bie gleicher mittlerer Temperatur (Jfothermen) verbinden. Und wenn alle dieſe Beobachtungen auf den einzelnen Stationen gemacht find, werden fie fofort nach den Zentralftationen telegraphiert, verglichen, zufammengeftelt, für Deutſchland ift e8 die Seewarte in Hamburg und dann hat man wohl ein ſchönes Material beieinander, um allerlei Wahrfcheinlichkeitsfchlüffe auf die möglichen Wind: und Wetteränderungen ber nächften 24 Stunden zu ziehen. Und menn man fi mit der mehr ober minder großen Wahrſcheinlichkeit begnügt, die immerhin fo groß ift, daß gegenwärtig bereits 80 Prozent der von der Hamburger Seewwarte außgegebenen Wetterprognofen zutreffen von den vom Dbfervatorium in Wafhington, der Zentralftation für Nordamerika, auf ein bis zwei Tage im voraus berechneten Wetteranfagen follen fogar über 90 Prozent zutreffen, wohl nicht allein, weil e8 von mehr als Hundert Stationen Nordamerikas und der Antillen telegraphifch aufs befte und ſchnellſte bedient wird, fondern mehr noch, weil der Golf von Mexiko, der Wetterwinkel Nordamerikas, die Luftfirömungen recht gleichmäßig beeinflußt, jo daß die Witterung dort immer eine gewifle Stetigkeit hat

716 Metterlunde und Wetterkünder.

jo fann man wohl auch jagen, daß das Problem des MWetterfündens, iwenigfien der Vorausſage auf die nächften 24—48 Stunden, einigermaßen gelöft if.

Neuerdings noch bat Prof. Dr. van Bebber, der eifrige Meteorologe ber Hamburger Seewarte, die Vorausfage des Wetterd auch auf längere Zeit durchaus für möglich und_notwendig erklärt. Er fucht, wie das auch Prof. Hellmann getban, einer befriedigenderen Löfung der Frage, als es bisher möglich war, daburch bei: zulommen, daß "er in der Wiederkehr ähnlicher Witterungdverhältniffe eine gewiſſe Periodizität nachzumeifen beftrebt if. Es müſſen ſich Gefegmäßigfeiten in der Auf: einanderfolge und im MWechjel der Witterung innerhalb längerer Zeiträume, Monate und Jahreszeiten auffinden laffen. So ftellt er fünf Hauptiwettertopen für Europa auf, deren Dauer und Wandlung er zu berechnen verjucdht bat. Im Durchfchnitt fann man annehmen, daß eine Wetterlage höchſtens drei Tage anbält, fürzer, wenn das Hocdrudgebiet über Deutfchland felbft lagert, länger, wenn es ſich weſtlich oder nördlich befindet. Höchſt jelten überjchreitet eine Wetterperiode die Dauer von zwei Wochen. Solcher langen Perioden bat van Bebber in dem Zeitraum von 1876—1895 nur zwölf verzeichnet.

Daß die Häufigkeit der Gewitter eine gewiſſe Periodizität, und zwar eine ſolche von durchfchnittlich 26 Tagen, aufweilt, haben Profefior v. Bezold und die beiden ſchwediſchen Forſcher Eckholm und Arrhenius feftgeftellt.

Mehrjährige Wärme- und Kälteperioden haben Brückner und Hellmann ermittelt, und zwar kleinere Perioden von 9—15 Jahren und größere von einer durchſchnittlichen Dauer von 36 Jahren. Jedenfalls ift damit dargethan, daß es eine müßige Epielerei unferer Kalendermacher ift, wenn fie noch immer des biedern Langheimer Abtes Mauritius Knauer (1612—1664) „hundertjährigen. Kalender” abdruden, wodurch der Glaube erweckt werden fol, als gäbe ed eine au2gerechnet Bundertjährige Periodizität der Witterunggerjcheinungen.

Solange nicht alle die Hundert und taufend Umftände, die bei ber längeren Vorausbeſtimmung des Wetter mitjprechen, rechnungsmäßig aufs forgfältigite in Be⸗ tracht gezogen werden fünnen, wird das Prophezeien eine recht unfichere Sache bleiben. Das ift 3. B. der große Irrtum auch von Leuten wie Falb, daß fie glauben, ein einzelner Faktor, wie der ja immerhin mögliche, dann aber gewiß nur ſehr minimale Einfluß des Mondes beberriche alle übrigen fo, daß es genüge, Dielen einen Faktor in Betracht zu ziehen, um die Wetterprognoje nicht nur für Tage und Monate, nein fürs ganze Jahr mit unfehlbarer Sicherheit zu fielen. Bor kurzen bat fogar ein Rufe, N. A. Demtſchinsky, ein eigenes vierjprachiges Journal gegründet, das auf Grund der Theorie vom Einfluß der Mondanziehungstraft auf die Geftaltung des Metter® „genaue Prognofen des Wetter und der atmoſphäriſchen Erſcheinungen“ auf beliebige Zeit, mindeftens aber einen Monat im voraus, zu Nug und Frommen aller von der Witterung abhängigen Berufsmenjchen aufftelen will. Als ver: allgemeinerungsfähig kann noch nicht einmal die neuerdings von Hazen für die nord: amerifanifche Küfte beobachtete Thatfache gelten, daß dort 70,5 Prozent der Gewitter auf die Flutzeit und nur 29,5 Prozent auf die Zeit der Ebbe entfielen. Denn Hellmann bat auf der Inſel Föhr inzwilchen feftgeftellt, dab von 209 während einer zehnjährigen meteorologifchen Beobachtungszeit notierten Einzelgewittern 103 auf das fleigende und 106 auf da3 fallende Waſſer kamen, „von einer ausgeſprochenen Vorliebe der Gewitter für die Flut danach feine Rede fein kann“.

Wetterkunde und Wetterkünder. 717

Beſcheiden wir uns alſo bis auf weiteres bei der Vorausſage auf ein bis zwei Tage, die ſchon nugbar genug wäre, wenn fie auch nur mit annähernder Sicherheit einträfe. Für ſolche Wetterprognofen auf 24 Stunden bat neuerdings die Regierung in ber Provinz Brandenburg eine fehr dankenswerte Einrichtung getroffen. Die von der Hamburger Seewarte an das Berliner Wetterbürenu täglich telegraphiic über: mittelten Berichte vervollſtändigt dieſes unter Berüdfichtigung örtlicher Beobachtungen zu täglichen Wetterprognofen, die es fofort früh morgens an das Haupttelegraphenamt übermittelt, und dieſes drahtet fie noch während der Vormittagsftunden weiter an ſamtliche Telegraphenanftalten der Provinz. In deren Schaltervorraum oder am Poft- haus gelangen fie zum Aushang, zur allgemeinen Kenntnis der Bewohner, insbeſondere der landwirtſchaftlichen, die fich in ihren Arbeiten danach richten fünnen. Wer biefe Wettertelegramme zu fi ind Haus gebracht haben will, Tann fi darauf abonnieren und befommt fie je nach Wunſch durch den gewöhnlichen Briefträger ober auch durch Eilboten zugefhict, gegen einen billigen Monatsbetrag. Immerhin kann ber Landwirt, der ja meift felber ein halber Wetterprophet ift, feine eigne aus Erfahrung und liebevoller Naturbeobachtung gefhöpfte Prognofe daran ftändig Tontrolieren. Someit er fie fi) felber auch nur aus rein meteorologifchen Elementen bildet, ift es zweifellos fiherer, fich auf das ihm von den Wetterwarten gelieferte Material zu ver: laffen, als auf die ihm geläufigen Anzeichen, etwa ob die Sonne Har untergeht, mit oder ohne glühendes Abendrot, ob der Mond einen Hof hat u. f. w.

Freilich bat der Landwirt, der Förſter und Jäger und fonft jeder in und mit der Natur Lebende außerdem noch eine große Anzahl anderer Anhalte, bie zuweilen noch viel zuverläffigere Wetteranfagen geftatten als alle meteorologifchen Beobachtungen. Da find in erfler Reihe die Tiere, die oft merkwürdig unfehlbare Wetterpropheten find. Natürlich denkt man gleih an den Laubfroſch im Glafe, wenn von Wetter: propheten unter Tieren die Rede ift. Das Unglüd ift nur, daß das arme Kerlchen im bierzu beliebten Einmacheglaſe meift in fo unnatürlicher Verfaſſung fi befindet, daß es eher alles andre ift als ein verläßlicher Wetterprophet. Iſt in dem Glafe nichts meiter als auf dem Grunde etwas Waffer und daraus emporragend eine Heine Leiter, wie das beinahe ftet3 ber Fall, fo ift gar nicht davon bie Rebe, daß ber Froſch gutes Wetter anzeigt, wenn er auf das Leiterchen Mettert, fchlechtes, wenn er ins Waller taucht. Vielmehr wird er ind Waſſer fleigen, wenns ihm oben auf dem unbequemen Gerüft zu unbehaglich geworden, und umgekehrt. Wil man vom Laubfroſch wirkliche Wetterprognofen haben, fo halte man ihn in einem großen Glasbauer oder einer Kifte, deren Boden auf einer Seite mit Moos bededt ift und auf der andern Seite ein genügend großes Waflergefäß enthält. Dann Tann man ficher fein, dab bad Tier nur dann ind Waffer geht, wenn Regenwetter im Anzuge ift.

Der Schlammpeigler oder Wetterfiich, der vielfach zu demfelben Zwed im Zimmer: aquarium oder Goldfifchglafe gehalten wird, kundet dadurch Regenwetter oder Gewitter an, daß er an bie Oberfläche kommt und unruhig umherſchwimmt, während er fi fonft ruhig am Grunde des Waſſers hält. Vollends wenn er Schlamm und Sand aufzumühlen beginnt, kann man auf Sturm und Ungewitter rechnen.

Apotheker haben die Beobachtung gemacht, daß die für mebizinelle Zwecke in einer Flaſche gehaltenen Blutegel bei guten Wetter ſtill und zufammengefrümmt auf dem Boden liegen, bei herannahendem Regen an die Oberfläche kommen und bei Wind lebhaft hin⸗ und herſchwimmen. Im Winter liegen fie bei Harem Froft am Boden,

ig an Bäumen und Mauern. Wenn Hühner bei bei Ställen zulaufen oder ſich unter Heden, Schuppen, Regen bald auf. Bleiben fie aber im Regen ruhig ein jogenannter Zandregen; es lohnt ihnen gewifjerma Naßwerden zu fehügen, wenn ed doch tagelang ſi drohendem Regen mit großem Gefchrei ind Feld ober mit den Flügeln. Kehren Zauben in raſchem Fluge i wieder ausfliegen, jo find jchwere Gewitter im Anzug: Bienen. Kehren Tauben ungewöhnlich ſpät aus bei Hühner noch nad Beginn der Dunkelheit Futter ſuchen Tage ein dauerhafter Landregen ein. Desgleichen iſt Katze ibre Toten ledt, fich über die Ohren jtreicht u wenn Fuchs und Wolf jchreien; wenn die Maulwürfe die Waſſervögel maſſenhaft un Land geben; wenn die aufluchen und nabe über feine Fläche ftreichen; wenn db. in Scheunen oder unter Dächer flüchtet; wenn der ®: und knarrt; wenn der Fiſchreiher vom Waſſer aufflie niederläßt; wenn der Storch jeine Jungen zudedt. Lailı Gewitters die Vögel in ihren Beichäftigungen nicht itörı gerade md, jo zerteilt fih das Wetter, bevor es ber für kommenden Regen ift es, wenn der Hund Gras fan Verdauung bulber, wenn er zu viel Fleiſchnabrung zu dad Bedürfnis nach Vegetabilien empfindet.

Schöne Tage folgen, wenn Die Fledermäuſe am Unter den Inſekten nnd Viebbremien, Fliegen und Amei dringen in! Zimmer und techen wütend, wenn Reger jummen frärtiger als font, Die Ameiſen tragen in grofe zu Net und verichliegen die Lecher. Daß es ſchön E wenn „die Müden ſpielen“, it allbbekannt.

Mit zu den verläßlichken Wetterrrondeten gebö Kreusirinne rebt langſam und order tt

Wetterkunde und Wetterkünber. 719

fie das Netz durch Einziehen von Fäden zu lichten, fo fommen Winde, um fo fchneller, je eiliger fie diefe Arbeit ausführt. Schwere Stürme und Unwetter folgen, wenn das Netz zerriffen außfieht, während die Spinne am Ende eines Fadens oder gar außer: halb des Netzes figt. Geht fie dann ind Net zurüd und beginnt die Ausbeſſerung, fo kann man auf gutes Wetter Hoffen, wenn's augenblidlih auch noch jo ſchlecht aus— fieht. Eine charakteriflifche Anekdote erzählt M. Dankler, dem wir diefe Zufammen- ftellung von Wetteranzeichen feitend der Tiere verdanken, bei diefer Gelegenheit: „Im vorigen Sommer machte ih mit einer Anzahl Naturfreunde und Forſcher einen botanifchzentomologifchen Ausflug in die Waldgebiete der holländifchen Grenze. Alle Teilnehmer erjchienen im leichteften Sommeranzuge und Strohhut. Nachdem ich einige Kreuzfpinnen meines Gartens befucht, die eilig ihre Gewebe Fichteten, nahm ich Regen: mantel und Schlapphut mit und erregte dadurch großes Gelächter. Nachmittags gegen drei Uhr aber begann ein Unmetter, wie lange feines erlebt war, und ald wir nad) einftünbigem Marfche ein Haus erreichten, befanden ſich alle Genoffen in einem wirklich erbarmungsvollen Zuftand. Alle find feitdem aufmerkſame Beobachter der Spinnen geworben.“

Im Winter muß man die Hausfpinne beobachten. Baut fie bei kaltem Wetter ihr Gefpinft in die Nähe des Fenfterd, fo wird bald mildes Wetter eintreten; ftarfer Froft dagegen, wenn fie fih aus den Fenfterwinfeln entfernt und fi nad dem Dfen anbaut. Beim Eintritt naßfalter Witterung zieht fie vor den Eingang ihre Gewebes Fäden, die fie bei herannahendem heitern Wetter wieder entfernt. Spinnt fie eine Anzahl Fliegen ein, ohne fie gleich zu verzehren, fo deutet das ebenfalls auf fchlecht Wetter. Auf andauernd gutes ift zu fchließen, wenn fich viele fleißige Hängefpinnen zeigen.

Sogar auf die Jahreszeiten weiß Dankler feine Beobachtungen auszudehnen. Ein frenger Winter ift zu erwarten, wenn Gänfe und Hafen im Herbft recht fett und ſtark befiedert, reſpektive behaart find, beögleichen wenn Eichhörnchen und Erd⸗ nager große Vorräte anlegen und die Waldameifen ungewöhnlich große Haufen von Tannen: oder Kiefernadeln anhäufen.

Als befonders bewährte Wetterpropheten in den Alpen nennt Arthur Achleitner die Ziegen, die zur Hochſommerzeit ſchon flundenlang vorher das Kerannahen eines Wetterfturzes wittern, in auffallender Haft die Höhen verlaffen und unter das fchügende Dach des Geißerd flüchten. Ferner den Kolkraben, deſſen dumpfer Ruf allemal bei einem feltfamen Flimmern der Luft und bei auffallender Unbeftändigkeit des Windes ertönt; fein „Krrof, Krrok“ ift eine Warnung vor Schneefturm oder Lawinengang und wird felbft von Gemfen beachtet und verftanden.

Sonft achtet der Alpler noch auf das Gligern der Sterne und auf ſchwitzende Felſen, die namentlich bei Neumond ftundens, felbft tagelang vorher jähen Witterungs⸗ wechſel und warmen Südwind anfünden.

Aber auch eine Pflanze hat er, die ſchon einen halben Tag vorher einen Wetter: ſturz verfündet. Das ift die Stroh: oder Wetterbiftel (Carlina). Ihre Blütenköpfe find von einer bichtblättrigen Hülle umgeben, deren innerfter Blattkreis ftrahlenförmig enttwidelt ift und aus zungenfürmigen weißen ober gelben, ſtark hygroſtopiſchen Blattchen befteht, d. h. fie biegen fich bei hohem Feuchtigleitägehalt der Luft über die Blüten herüber, während fie bei trodner Luft ftrahlenförmig nach außen ftehen. Bor dem nahenden Wetterfturz fchließt fie alfo ihre Strahlenblätter. Ahnliche Hygroflopifche,

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I Sagesandrad.

=. G. van Bouluygs. Autorifierte Überfegung von R. Speyer.

Ragyprud verboten.

uf dem Dorf in der Niederung herrſcht ungewohntes Leben. Angſtliche Augen ftarren nah dem Signalliht dort oben, das in der Ferne gegen das büftere Gewölk zittert. Als es dunkel ward, ift es da drüben aufgeflammt, auf dem hohen Turm des Etäbtchens, weithin fihtbar.

Aus den Kellern und Unterwohnungen der großen Gehöfte wird aller Hausrat und Proviant auf den Schultern zuſammengeſchleppt und in bie oberen Wohnungen geſchafft. Die reihen Bauern geben mit weithin ſchallender Stimme ihre Befehle, unterbroden von dem lauten Gebrüll des in feiner Ruhe geftörten Viehes. Wer keine hochgelegenen Ställe hat, treibt feine Kühe und Pferde auf die Hügel und bebedt die ſchutzloſen Tiere mit. Kleidern und Deden. Weit über die Nieberung brauft der heftige Wirbelmind in toller Jagd, fegt zwiſchen Häufern und Ställen umber, treibt Inarrend die Flügel der Windmühlen, beugt die Wipfel der Bäume und fchlägt offenftehende Thüren und loſe hängende Lufenfenfter zu.

Nleine Leute, Arbeiter, laden ihren ganzen Hausrat auf Heine Handwagen und Karren; können fie bei Höherwohnenden fein Unter= fommen finden, fo ziehen fie hinüber zur Stadt, die einzige Kuh und ein paar medernde Biegen vor ſich her treibend, die unter dem Regen erfhauern, ber auf ben breit ge ſchwollenen Kanal nieberbrauft.

Unter den Flüchtlingen fein Murten, kein Fluchen. Etwas wie dumpfe Refignation ift über die Armen gelommen, die Hoffnung auf beffere Tage und ein Leben dort oben, wo ber helle Schein des Signals erglänzt. Unverwandt bliden fie darauf bei ihrem ärmlihen Aufzug

auf der Landftraße. Hin und wieder bleibt einer ftehen und lauſcht mit borgebeugtem Haupt, und fragt den andern, ob er fein

Glodengeläut hört, feinen Alarmſchuß? Dann geht es raſcher weiter dem Städtchen zu.

Sept ift e8 Iebhaft in den fonft fo ruhigen Straßen. Auf dem Marktplag vor dem Wirts⸗ haus brängen fi den ganzen Abend über Neugierige zufammen und arten auf bie Berichte. Zwiſchen der Telegraphenftation und dem Gaftzimmer, in dem einige Leute aus bem Deihamt figen, laufen die Boten unaufhörlich bin und ber. Unaufhörli kommen Geftalten aus ber Gaffe neben dem Rathaus, mit hohen, fotbefprigten Etiefeln und einer Laterne in der Hand; fie berichten über den Pegelftand und werben, bevor fie in dem Wirtshaus ver ſchwinden, ängſtlich ausgefragt.

„Wie ſteht's? Noch mehr geftiegen? Wie iſt's jetzt?“ Und einige laufen die Strafe hinauf, um felbft zu fehen.

Der Wind, der wie an den Tagen vorher beftändig an Heftigfeit zunimmt, rüttelt an den Laternenpfählen, läßt die Scheiben erflirren und die Gasflammen fi ängftlih Duden oder wie erfchredt emporfahren; jeßt jagt er heulenb die Straßen entlang, an den Häufern empor und mirbelt um bie Giebel und Schornfteine. Das ftöhnende Achzen bes hoben, breiten Turms ift ftraßenweit hörbar.

In den Häufern bericht Unruhe. Jeden Augenblid gleitet ein breiter Lichtſchein aus einer geöffneten Hausthür auf bie feucht: glänzenden Pflafterfteine. Schatten huſchen an den erleuchteten Fenftern ber Wohnungen vorbei.

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.. yupro IYUEH INS Geſtcht, ſickern aus ihrem Bart. Sie ftehen und warten.

Und inter dem Pegel, binter den plumpen Schiffsrüumpfen unfihtbar der Etrom, der wütend anftürmt gegen alles, was ihn in feinem Lauf hemmt, gegen den tobenden Norweftwind, der jede Nacht mit ihm kämpft, während die gewaltigen Stimmen mie urfräftige Kämpfer einander brohend entgegenheulen.

Am Ufer fchäumt braufend das Waſſer.

„Seit Mittag wieder acht Zoll mehr,” dernimmt man murmelnde Stimmen, „und in Köln wieder von neuem geitiegen. Es ift ſchlimm für die Niederung, daß fie den Deich drüben verftärft und die Schleufe gefchlofien haben.”

„an Velddonk find alle Mann an ber Arbeit. Sie fürdten, daß er fich ſenkt.“

„Die Deihe werden faul. Den ganzen Winter über fein Froſt. Und das Toben vom Wind jede Nacht!“

„'s dauert zu lang’!

Tas Mailer ift nur nod einen halben Meter vom Deichrand entfernt, und als ein Wächter mit feiner Laterne erfcheint, wird auf dem gelben Wafler ein Rand von an— gefpülter Lehmdeicherde fichtbar. Die Laterne fladert auf, der Mann klettert über den Deich und verfchivindet in der Straße.

Auf dem Markt noch größere Unruhe, noch beftigered Durcheinanderreden, noch dichteres Zufammendrängen.

Grauen Atem aus den Nüftern jagend, mit fliegenden Flanken ſteht ein Pferd. Dice

Echhmarban-.-

en wiſſen fi Der Dei es in dei Der Worte m zweiräder ein Zeiche Dann gre weicht zur Noch Wagenger Echmei aus einer dem Markt Die fta aufgeladen. „Es kör gebraucht n vollauf zu t Sogleich „Du a Und nod) ei Die Bu auf. „Vorwär Die aus, und I mit einer Säufen bi Tenften läßt. Die fün

CK TI, Li

Tage danbruch

Flüchtlingen, hören fie Kindergeſchrei und das Medern der Biegen.

Es wird gerufen und gefragt.

ua, es ſteht ſchlecht.“

„Sie ſagen, es wäre ſchon durch.“

„Bot"

Es erfolgt feine Antwort mehr.

In das Gebränge kommt ein Handwagen mit einem alten Mann darauf, quer vor das Pferd. Und das Pferd plöglih zum Stehen gebracht, bäumt fi auf.

Derbes Fluchen auf dem Wagen und ängftlihes Wehflagen auf dem Heinen Ge: fährt.

Der Wind trägt die Laute raſch fort. Der Weg ift ſchon wieder frei. Nun rumpelt der Karren weiter.

Dorus blidt hinaus in die Dunkelheit. Eie find bald am Deih. Mit Mühe ftedt er fi eine Pfeife an, und hodt in einer Ede des Wagens nieber.

Die Männer fangen an ſich zu unterhalten, ab und zu mit ber Hand an die Stim fahrend, fobald ein Winbftoß über ben Wagen fährt. Das Pferd erflimmt Schritt für Schritt den Deih. Das Geſchirr knarrt bei dem feften Anziehen.

„Meinetwegen Tönnte es noch vierzehn Tage dauern.“

Meinetwegen auch draußen nichts zu thun.“

Dann zu Dorus, der ſchweigend verharrt:

„Du ſchlenderſt auch ſo müßig umher.”

Dorus nidt und bläft feine Pfeife weiter an.

Der Bauer bat feine Arbeit mehr für ihn, alles, was im Haus gefchehen konnte, ift vollendet, und wegen der Waſſersnot ift das Land noch nicht zu bearbeiten.

Das Pferd, das in dem Licht der Laterne fihtbar wird, fchleppt fi im mühſeligen Trapp weiter, und der Wagen rumpelt über den hohen Deich, Hinter den gleichmäßig auf ſchlagenden Hufen her. Hin und mieber ift der Drud des Windes fo gewaltig, daß das Pferd kräftig nach linls gehalten werben muß.

Die Männer boden ſich Hinter die Säde.

Dorus bleibt auf dem Seitenrand figen und verfucht ſich umzuſehen.

Überall tieffte Dunkelheit. Cr hört die dürren Zweige der Nußbäume am Weg-

s giebt doch

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faum Inadend gegeneinander fahren, aber er fieht fie nicht.

Und in ber breiten, formlofen Dunkelheit dahinter allerlei fremde Klagelaute, oft vers {lungen von dem beulenden Toben des Windes. Nun peitfcht der Regen über Waſſer und Land und fehlägt feine großen Tropfen gegen bie Karre.

Dorus kennt den Fluß. Sein Bater ift Fiſcher, und als Junge hat er zu Zeiten Nacht für Nacht im Boot zwiſchen den Lachsnetzen getrieben. "

eine Augen find an die Dunkelheit ges wöhnt, aber jegt kann er doch zwiſchen Waſſer und Land keine Trennung ſehen. Alles ſchwarz in ſchwarz. Ganz in ber Ferne ein paar aufs bligende Lichtfünlchen, mehr nicht. Drüben erben fie wohl aud nicht ruhig ſchlafen ...

Innerhalb des Deiches und weiter hinauf fieht man Lichter in der Nieberung. Das Land liegt tief, fein Wunder alfo, daß bie Menſchen im Angft leben bei dem hohen Waſſer. Noch einen halben Meter höher, und

fie ertrinfen alle erbarmungslos, wie bie Mäufe, wenn fie ſich nicht bei Zeiten in Sicherheit bringen.

Wie eine Warnung leuchtet das Notfignal nod immer body oben vom QTurm, ſtundenweit in der Runde fihtbar.

Ein Geräuſch .... immer näher und näher Der Huſſchlag eines raſch trabenden Pferdes. Es naht, e3 ift ſchon bicht daneben.

Es wird zum Schritt gebracht, und eine Stimme ruft aus dem Wagen:

„Sind's die Säde? Raſch vorwärts. Ein Loch wie ein Keller!”

Dann verllingt der Huffchlag in der Richtung des Stãdtchens. Der Fuhrmann läßt die Peitſche Hatfchend auf das Pferd fallen.

Vlöglih aufſchredend, trabt das Tier ein paar Sekunden lang raſcher, verfält aber bald wieder in feine trottende Gangart.

Nach einigen Minuten fehen fie erleuchtete Fenſter aus der Dunkelheit auftauchen. Eie nähern fih dem Werwolf, Fährhaus und Herberge zugleich.

Durch die geöffnete Thür fällt ein breiter

Lichtſtrahl auf den Deich, in dem ſich Menfchen I Hin und ber beivegen. 46*

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Die Waflerwarte bat bier einen Poſten. Die Stimme eines Rottmeiſters, der eine Laterne hochhaltend, von der andern Eeite des Deiches ankommt, ruft gegen den Wind an:

„Wie viel Mann?“

„Fünf.“

„Ich muß zwei hier haben. Hundert Schritte weiter fängt es an zu rutſchen. Werft ein paar Säcke ab.... So. Sand haben wir bier gleich daneben liegen. ’3 ift noch nicht arg, aber wir müſſen es im Auge be- halten.“

Dorus und ein andrer junger Burſche waren flugs vom Wagen gelprungen. Gie werden wohl bier bleiben.

„Und nun, vorwärts, marſch! Zu Velddonk it Not am Mann.” Der Kutfcher zieht die Leine an. Das Pferd greift aus. Nüttelnd Ichiebt der Karren ab, fie hören ihn noch an der Schöpfitelle vorbeifahren, den Querweg entlang, wo nur die Laterne, einem Irrlichtchen gleich, ſichtbar ift.

„Eine böfe Nacht, Jungens,“ brummt der Mann mit dem Olrod und den hohen Stulp- ftiefeln. „Jeder ein paar Säde auf den Rüden und dann mit. Halt! Kommt einen Augen- blick mit ’rein.”

Das kleine Gaftzimmer, das fie mit ihren derben Eohlen auf dem fnirfchenden Sand betreten, ift voller Betroleumsgeruh und Tabafzqualm.

Der Nottmeifter beftellt etwas bei der Wirtin.

Der Gaftwirt, ein altes Männden, fibt jtumpffinnig an einem Tiſch und antwortet auf jede Frage über den hohen Wafferftand:

„sa, ja, es ift mir als wenn's gejtern wär’, die Sylut von 60... .”

Die Außenthür wird wieder aufgerijlen, und ein fräftiger Mann mit hohen, kot⸗ befprigten Stiefeln fett die Xaterne nieder, Ihüttelt die Regentropfen von ſich ab und brummt:

„Roh drei Zoll mehr!”

Ein junger Menſch mit bleihem Geficht und einer Brille, fit rauchend am Tiſch unter der Lampe, legt feine Zigarre nieder, nimmt die Feder von dem neben ihm ſtehenden Tintenfaß, ſieht nach der Uhr und fchreibt etwas auf eine Liſte. Dann legt er die Feder

Tagedanbrud.

wieder bin, laufcht auf da8 Rütteln Des Sur: an den Fenften, nimmt enen Sclud ur. einer bampfenden Tafle und ftedft feine Jiaım mit bebaglicher und wichtiger Miene miete

" Brand.

Wieder das dumpfe Geräufch von Pferde hufen.

Die Wirtin öffnet bie Thür, und der mai. Schein der Lampe fällt auf die Beine em: Schimmels und die Stiefel eines Reiters.

„Die iſt's oben?”

Sie halten’S noch, ak:: e3 fommt jede Stunde etwas dazız.“

Er nimmt ein paar Papiere, Die ibm von bem Schreiber zugereicht werben, ſteckt fie in feine Tafche, zieht die Zügel an, und vor

wärts trabt das: Pferd in die Dunkelbeit hinein.

„Vorwärts nun, Jungens,“ ruft der Rottmeiſter.

Ein paar Säcke auf der Schulter, erklimmen ſie den Deich, ſich mit aller Kraft gegen den heftigen Wind wehrend. Sie ſehen nichts, als das erleuchtete Stückchen Damm dirk: vor fih. Wie eine Mauer umgiebt fie die Duntfelbeit.

Jetzt hat's aufgehört zu regnen. Hoch oben im dichten Gewölk ein Spalt, der ſich von Minute zu Minute mehr verbreitert. In dem Riß werden Sterne fihtbar.

Die Männer bören das Klatſchen des Waſſers dicht neben fih. Sie können ten Strom nicht fehen, aber es ift, ala fühlten fie in dem Boden unter fih den gewaltigen Andrang des immer weiter vorbrängenden, einen Ausweg juchenden Waſſers.

Dorus läuft mehanifh Hinter feinem Vordermann ber. Zumeilen muß er jtillftehn, wenn der fcharfe, von Nordweſt nach Nordoſt umfchlagende Wind ihm den Atem raubt.

Das Knirihen der Schubfohlen auf dem Sand geht vollftändig verloren im Toben des Windes und dem Toſen des Waffers, dad hin und wieder heftiger gegen cin Hindernis antreibt.

est kommen fie an einen Eandhaufen auf der inneren Deichfeite. Einige Säde füllen fie halb an, binden fie zu und fchleppen fie dann einige zwanzig Schritt weiter, imo der Rottmeifter feine Laterne niedergejeht bat.

Tagesanbruch.

„Das Loch iſt größer geworben. Schiebt ein paar Säde vorſichtig her; nicht zu weit.“

Beim gelben Fladerfchein ſieht Dorus, wie fih in der Deichfpige ein balbfreisförmiger Zirkel von der dunkelbraunen, aufgewühlten Erde abhebt. Er ftedt feinen Spaten hinein, es ift noch nicht tief.

Der bineingefhobene Sad verſchwindet aber doch.

Noch einer.

Vorfihtig halten die Männer den Sad mit dem Spaten auf, aus Angft, er könnte vom Deich abrutſchen. Er bleibt in gleicher Höhe des Deichrandes liegen. Nun fteden fie etwas Erbe hinein zum Ausfüllen und ftampfen fie mit den Füßen feft.

„So“, fagt der Rottmeifter, „wenn er nun von unterwãrts nicht wieder fortgeſchwemmt wird, wird er fhon aushalten. Aber ciner muß dabei bleiben.”

Dorus ftedt feinen Epaten in den Deich zum Zeichen, daß er hier bleibt.

„Dann gehen wir höher herauf. Aber halt, es könnte bier anfangen zu rutſchen. Da!” und babei reichte er Dorus eine Heine metallne Pfeife. „Wenn du nicht allein damit fertig toirft, ſchwenke nur mit der Laterne und pfeife. Wir bleiben in Gehörmeite. Hier ftehen noch ein paar Säde, und wenn's not thut, ift bei der Witwe Vermazen auch noch Hilfe zu befommen.”

Er weiſt auf ein paar Lichtfleden in einiger Entfernung.

„Schön, Meifter!”

Die beiden Männer verſchwinden.

Zuerft fieht Dorus noch den Lichtſchein einer Laterne, dann weiß er fih allein.

Warum ift er eigentlich mitgegangen?

Er weiß es felbft nicht.

In den legten Tagen ift er ſchon immer berumgelaufen ohne Arbeit, den Deich auf und ab, bat nach dem Waſſer gefehen, geſchwatzt und dann mal eine Stunde lang dem Vater beim Negefliden auf dem Boden geholfen.

Es ift ihm ziemlich gleih, was er treibt, wenn er nur etwas zu thun hat... ..

Ob's gefährlich ift, hier fo allein auf dem Deich zu ftehen?

Ihm ift’3 gleich. Gleichgiltig ſieht er nad)

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dem geflidten Deichrand und fühlt den Wind um feinen Kopf faufen.

Das Leben wird es ja wohl nicht koſten, wie's aud wird. Und felbft dann! Was madt ihm das?

Eben hält er die Laterne hoch. Der Sad liegt nicht mehr in gleicher Höhe des Randes. Es mühlt darunter. Cr ftampft mit dem Fuß, ſchlägt mit dem Spaten darauf, um ihn beſſer zu verftopfen.

Dann bleibt er mit beiven Händen auf den Epatenftiel gelehnt ftehen und ftarrt in die Dunfelheit. Schwarz, ſchwarz überall.

Immer das elende Gefühl, ſobald er allein ift und immer der Wunſch nad Alleinfein.

Er fann es noch immer nicht verſchmerzen ...

Vierzehn Monate ift er im Dienft geweſen, und in ber Zeit ift e8 geſchehen.

Wie fonnte fie nur fo fein? ...

Seine Schwefter hatte ihn mohl fchon früher gewarnt, aber er fonnte es nicht glauben. Daß fie ſo ſchlecht fein konnte! Er war doch fo gut zu ihr geweſen. Wenn er aus dem Dienft fam, wollten fie heiraten. Er ftedte den Spaten tiefer in ben Sand.

An dem Sonntag Nahmittag im Haag... . In der ſchwarzen Nacht fieht er alles Har.

Er faß mit ein paar Kameraden auf einer Bank unter den Bäumen vor der Wilhelms⸗ taferne. Ein Iebhaftes Hin und Her von Spaziergängern auf der Menritölade. Da trat der Briefträger in den Hof. Einen Augenblid fpäter ftand er an den Baum gelehnt und las einen Brief feines Vaters: er wolle es ihm jeßt nur fehreiben, da er es fonft darch einen andern erfahren würde. Es wäre ein öffentlicher Skandal, Hanne hätte mit einem andern angebandelt und nun wäre fie fo weit.

Es drehte ſich ihm alles vor den Augen, er lehnte fih mit dem Rüden fefter gegen den Stamm, da er fürdtete umzufallen, fo ſchwindelig war ihm. Der Giebel der Kaferne, die hohen Bäume, feine Rameraben, alles im dichten Nebel.

Und wieder lad er biefelben Worte und Zeilen und dann noch einmal.

’8 war doch nicht möglich! Cie, fie mit einem andern! Cr hatte noch einen Brief von der vorigen Woche, alles lieb und gut.

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nach dem andern Brief, ihrem Brief, zer⸗ knitterte das Papier, zerriß es, und ſtampfte die Papierfetzen in die Erde, als wollte er die Erinnerung an ſie vernichten.

Aber wieder fing es in ihm an zu fragen, zu rufen: Großer Gott, wie iſt es nur möglich, und die Betäubung, wie durch einen unvorhergeſehenen Schlag, ward nun zur Pein, zur wilden, heftigen Pein, die an ſeiner Seele fraß, wie eine bösartige Krankheit.

Das ging ſo Tage lang.

Zuweilen wußte er ſich nicht zu helfen und vergaß alles in ſeinem Dienſt, bekam Verweiſe und Strafe.

Dann ließ er ſich durch ſeine Kameraden verleiten, mehr Schnaps zu trinken, als ihm gut war.

Auch ging er an einem Sonntag Abend mit einem Mädchen aus dem Haag, das ihn früher ſchon immer angeſprochen hatte. Aber das half alles nichts.

Hanne, Hanne... gebalten.

Dort oben Waren die Sterne wieder verſchwunden, und der Himmel eine winzige, büftere Drohung.

Als er ausgedient hatte, Städtchen zurüd.

Bei feinem alten Meifter, bem reichen Bauer, hätte er gleich wieder Arbeit befommen. Aber es war nun alles anders gemorden. Wie oft hatte er früher, wenn er des Nachts auf Wade Stand, Pläne gefchmiedet und

Er bat zuviel von ihr

fehrte er ing

wus U CE mutwillig in war.

Der Nadıi die Herbftmon Arbeit, mit ti und er arbeite tobmübde nad) ! durdhichlief. 2

Das Ärgfi ließ er fih w zur Kegelbahn auf das E hr und ließ ſich Spiel verleiten Manchmal hal fühlte er fih n Dann ging il der Gedanke d batte thun för doch ficher, de hatte... I ein Kerl gewe! zubringen wuf werden, wenn mußte doch im

So gingen

Eines Aben ſich auf einen hörte er ihren und Schweſter

. Er bo: etwas bon „Tat

Er ftand au

Tagedanbruch.

Und aus ihrem Mund kam es dann Wort für Wort, daß Hanne dieſe Nacht entbunden fei.. . daß ſie's fehr ſchwer gehabt hätte daß das Kind tot fei... und daß fie...

Reiter, weiter,” fagte er heifer.

Er konnte felbft kaum fprechen.

Es ftände ſehr ſchlecht mit ihr, fie thäte nichts als phantafieren und fohreien.... .

Dann bielten fie wieder inne.

„Und und fie haben bier ſchon zweimal erzählt, daß fie immer nad) bir ruft.”

Er fühlte, wie ihm ein alter Schauer über den Rüden riefelte und ſtand dann ba wie betäubt, mit ftarren Augen.

„Ich hätt’ es bir gar nicht fagen tollen,” begann feine Mutter twieder.

Sie blidte ihm ' erftaunt an, als er antwortete.

n’8 ift gut, ich werbe gehen!”

Und fo war er in die Straße gegangen, die er monatelang gemieben hatte, in bas Häuschen, in das er früher täglich kam.

Hannes Mutter war bei feinem Eintritt erſchredt zufammengefahren, hatte ihn fragend, erftaunt angeblidt, aber er Fam ihr zuvor:

„Hanne hat nad) mir gefragt?”

„Ja, Dorus, aber nun ſchläft fie” mit einer Bewegung des Kopfes auf die Bett: ſtelle deutend, „ſchon feit zehn Uhr. Den ganzen Morgen über bat fie nur bon bir gerebet.”

Dorus ſah fi) in dem Heinen Stübchen ratlos um und wußte nicht, was er fagen und ob er gehen ober bleiben follte.

„Es ift hübſch von dir, daß du gelommen bift, Dorus,“ begann die Mutter in meiner: lihem Ton. „Sa, ja, e8 ift doch folde Heimfuhung für uns!”

Sie wiſchte ſich mit dem Handrüden über die Augen und wies auf eine Heine Wiege in einer bunfeln Ede hinter der Thür.

„Am Abend bringen fie den Heinen Sarg.”

Dorus bleibt unfdlüffig ftehen, feine zitternde Hand hatte die Stuhllehne ums Hammert.

„Wenn's jetzt wenigſtens dabei blieb... es ſteht ſehr ſchlimm. Aber willſt du ſie jehen?”

Er hatte feinen Willen. Er machte ein paar leife Schritte und ftand nun neben ber

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Mutter am Bett, die den Vorhang behutſam zurüchſchlug.

Erſt ſah er nichts, und dann hob ſich im Halbdunkel ein bleiches Geſicht von den Kiſſen ab... dunkle Augenhöhlen, ſchwarze Haare.

„War das die Hanne?“

Die Mutter ließ den Vorhang fallen.

„Ja, ja, es ift zu ſchredlich,“ klagte fie, während er ſtill zurüd zur Thür ging. „Aber hübſch ift e8 von bir, Dorus. Sie ift jung und ſtark, vielleicht Tommt fie doch noch dur, und wenn fie wieder nad) dir fragt, will ich dich rufen laſſen ... Ach ja, fie hat es fo fhmwer gehabt. Das Mädel ift bitter geftraft . .. das kann ich dir fagen.”

Dorus ſchauerte, weil er die Berechnung aus biefen Worten herausfühlte. Ex erwiderte fein Wort und ging nach Haufe.

Am folgenden Tage hörte er, daß Hanne geftorben fei.

Große Tropfen ſchlagen ihm ins Geſicht. Er muß die Augen in dem plöglihen, heftigen Regen, der klatſchend auf den Fluß niebergeht, feft zufmeifen und fi) umdrehen.

Nun fieht er wieder einen Lichtſchein ſich nähern, und allmähli löſt ſich eine Geftalt aus dem Dunkel ab.

„Die ftehr 3?"

Der Mann blidt auf die ſchadhafte Stelle. „Stromauftwärts fteigt das Waſſer nicht mehr. Ih gehe nach dem Werwolf und werde ab und zu mal nachſehen.“

Er ftößt mit dem Fuß gegen die Sand» fäde. Bei jeder Bewegung gligern die Tropfen

an bem Öltod wie Tautropfen. Er holt feine Uhr heraus. „'s ift nun bald zwei... Ich werde

fehen, daß ich dich in ein paar Stunden hier ablöfe.”

Dorus nidt und murmelt etwas. Ihm ift alles gleich.

„Run bu weißt, wenn bir etwas paffiert ...“

Er geht mit dem Klatfchen der Stiefel im Moor davon, jagt noch etwas, wovon Dorus nur noch das Wort Laterne verfteht.

Der Regen läßt nah... er fühlt nur noch vereinzelte Tropfen an feinen Wangen. Bei der Unterhaltung hat er gefpürt, daß er

Tagesanbruch.

die Taſche und ftedt fie zwiſchen die Zähne. Schrill tönt der helle Klang in dem bumpfen Braufen, aber er wundert ſich nicht, daß ihn niemand hört. Wie ein ohnmächtiger Schrei wird der Ton in die Niederung getragen und geht dort verloren.

Er bat mit feiner Laterne geſchwenlt und, bie Pfeife zwifchen die Zähne geflemmt, ſchrille Töne ausgeftopen. Nun fchleppt er einen Sad dit an den Rand der Böfchung, wo ſich dem Waffer jegt fein Hindernis mehr in den Weg ftellt. Während er den Sad mit großer Anftrengung weiter ſchleppt, bünft es ihm, als ftiege die Laterne, die ſeitwärts fteht, langfam empor; und es bauert ein paar Selunden, bis es ihm zum Betwußtfein fommt, daß er mit dem Sad und allem ſinkt.

Sein Herz klopft fehneller vor Schred, und dann pfeift er fo ſchrill und lang, daß ihm die Zähne von dem heftigen Zittern wehe thun. Er fühlt feine Füße feftgellemmt, müht ſich vergebens, fie aufzuheben, ftredt die Arme aus, um einen Halt zu finden... Gott fei Dank, jetzt fühlt er wieder fefte Erbe unter fi! Nun arbeitet er Fräftiger, in der Meinung, fi aufpeben zu können, er breitet feine Arme aus, fpannt feine ganze Muskelkraft an. Aber es ift, als würden feine Beine feftgefogen im naſſen Schlid, und der Boden, auf dem feine Hände einen Halt zu finden meinten, weicht dem Drud feiner gefpreizten Finger.

Er fieht die Flamme feiner Laterne langſam höher und höher fteigen.

Er fühlt, wie das Wafler dur feine Kleider zuerft an feine feitgebannten Beine, dann an feine Kleider oberhalb der Hüften dringt und fühlt, daß er beftändig tiefer rutfcht.

Wird er bier feinen Tod finden und auf dieſe Weife?

Hier erftiden?

Der Wunſch zu leben und ſich zu befreien, läßt ihn noch einmal feine Arme ausbreiten und den Verſuch machen, nad etwas zu greifen, woran er fi feſthalten ann, läßt ihn die Kraft finden, um feine Beine in der lot ſchweren Klammer zu beivegen; und einen Augenblid hält er ſich auf derfelben Höhe, das Licht von ber Laterne in derſelben Ent: fernung ſchräg über fih. Alle feine Musteln find zur äußerften Willenskraft angefpannt,

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und der Schweiß Stim.

Dann aber fängt das Licht wieder an zu fteigen,.. langſam, quälend langfam, und er weiß, daß das Erftiden immer ‚näher kommen und fi) feft um feine Kehle legen wird.

Nah diefer äußerften Anfpannung fommt eine dumpfe Ruhe über ihn.

Er kann nicht mehr. So weit wie möglich hält er die Arme ausgebreitet und fühlt das Waſſer fhon an feiner Bruft. Sonft aber thut er nichts mehr.

Die Todesangft ift vorbei... .

Das Toben des Windes, das Klatſchen des Regens um ihn ber wirken wie eine Betäubung.

Eifige Kälte dringt ihm, langfam vom Rüden auffteigend, bis an den Naden.

Er hat feine Vorftelung mehr von ber Wirklichkeit, er gerät in eine Art von Traum- zuſtand ...

Ein wunderliches Durcheinander von Wahn⸗ vorſtellung und Wirklichkeit.

Hanne... die Kaſerne ... der Weg ... Kirſchen . . . Sommerabend ... Laden... Schwatzen ...

Daran klammert er ſich Schwatzen Stimmen.

Und nun erwacht er zum Bewußtſein durch ein berbes Geräuſch.

„Greif’ doch zu, es ift dicht neben dir.”

Er fühlt etwas an feiner halberftarrten rechten Hand. Langfam umfängt er ed mit feinen Fingern. Nun weicht die Betäubung mehr und mehr. Die linke Hand führt er zur rechten und nun umllammern fie beide das Tau.

„Run, nur langfam gut fefthalten. Zieh’ nur mit, Marie!”

Dorus fühlt ziehen, ziehen... und langfam entlommt er dem moorartigen Boben, ber ſich an feinem Leib feftgefogen hatte.

Kannſt du noch halten?”

„Ja!“

„Paß auf, Marie, nicht zu nah heran, halt den Fuß auf dem Brett! Nun langfam ziehen! Sieh fo... nun eine Hand... Marie die andre... . noch einmal ziehen... du bift fteif geworden, Freundchen.”

Mehr und mehr mitarbeitend, ift er enblich fo meit, daß er ohne Hilfe auf das Brett

tropft ihm von der

Tagesanbruch.

Aber ſie weigert ſich. Sie kann das Wachen ſehr gut vertragen. Sie hätte es anfangs des Winters oft thun müſſen.

Das iſt der Anfang eines Geſprächs in kurzen Sätzen, mit langen Zwiſchenpauſen, wobei ſie nicht von ihrer Arbeit aufblidt und Dorus ab und zu die Augen ſchließt.

Vater und Mutter ſind ihr kürzlich am Typhusfieber geſtorben. Ja, darum iſt ſie in Trauer. 's war eine ſchwere Zeit geweſen. Wohl zwanzig Nächte hatte fie gewacht. Manchmal waren ihrer dreie geivefen, die den Vater im Bett zu halten fuchten, wenn er rafend wurde im Fieber. Und ihre Mutter, die zuerft frank war, ift eines Nachts, als die Schweſter wachte, aufgeftanden und auf den Deich binausgelaufen. Sie hatten fie am Außendeich auf den Steinen liegend gefunden vierundzwanzig Stunden fpäter war fie tot. Vater war viel länger Frank geivefen. Zuerft dachte ber Doktor, daß er ihn durchbringen twürbe. Aber nad) vierzehn Tagen wurde es je länger, je ſchlimmer, und in ber vierten Woche war's mit ihm zu Ende.

Eie erzählte das fo ruhig, daß Dorus, der immer lauſchte und nur hin und wieder etwas fagte, ftil vor ſich Hinbrütend fie beim Klang diefer leifen Stimme plötzlich anſah ... Sie blidte eben von ihrer Arbeit auf, und in ihrem ganzen Gefiht, in den braunen Augen, um ben ftrengen Mund lag eine ftille Er- gebenbeit.

Wieder ftand fie auf und trat an ben Dfen, um bie trodnenden Kleider umzuhängen, fo ernft in ihren Trauerfleidern und fo leife aufs tretend.

„Alſo Ihr feid hier noch nicht lange?“

Rein.”

Als ihre Eltern geftorben waren, mußte die ganze Geſchichte auseinander. Das ging nit anders. Es mar noch ärger, als fie gedacht hatte. Es war eine große Hypothel darauf. Und fo war fie dienen gegangen, wie ihre Schweſter. Es war wohl eine große Um- mwälzung für fie, aber was follte man thun? s war Gottes Wille.

Nun fehweigen fie.

Dorus fieht, wie der Kopf mit den glatten Scheiteln fih immer tiefer über die Lampe beugt; er fieht, wie fie ruhig weiter arbeitet.

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Er fühlt großes Mitleid. Was giebt es doch für Kummer in der Welt! ... Und plötzlich fommt etwas tie Ehrfurcht über ihn. Wie fie da fo ruhig fagte: „'s war Gottes Wille.“ Er dachte an ihr Leben bier in ber Küche, dicht neben dem Deich, Tag für Tag, allzeit dasſelbe ..... Und wie ganz anders es damals war, als ihre Eltern noch lebten.

Und darüber nachdenkend, hört er nichts anderes, als das Heulen des Windes im Dfen, das Tiden der Uhr und das leife Ziſchen der Lampe, und er fällt langfam in Schlummer.

Dur) das Herunterbrüden ber Thürklinke, das Öffnen und Schließen der Thür wird er wach. Gijs tritt, bis zur Hälfte mit Schlid beſchmutzt, triefend naß ins Zimmer.

Mit einem tiefen Atemzug fällt er auf den Stuhl nieber.

„Das war 'ne Quälerei !”

Er hat den Rottmeifter im Fährhaus gefunden mit noch einem Mann. Alles war nach Velddonk, um zu helfen, und fie zu dreien hatten's fertig gebracht. Zulegt war nod ein Mann von der Wache dazu gefommen.

Marie war aufgeftanden, hatte Brot aus dem Kaften genommen und fing an, für alle zu fehmieren. Gij mit vollen Baden und brummte unaufhörlih vor fih Hin. 's mar doch fein Halten, wenn's Wetter fo bleibt. Der Deich ift überall faul. Sie hatten noch über den Kanzliften laden müſſen, der mit feinem Negenmantel und feiner Brille auf der Nafe nachſehen gekommen war und faft hinein ſchoß.

„Der von der Wacht ſagte, daß es die letzten beiden Stunden gefallen wäre .... hohe Zeit .... Seht mal meine Hofen .... fteif vom Schlid.“

Zu Dorus: „Wenn du dad Zeug da aus: ziehſt, zieh’ ich's an.”

Dorus ift aufgeftanden. Jede Bewegung thut ihm meh, fo fteif if er geworben. Er unterfucht feine Kleider am Dfen. Sie find troden. Er nimmt fie über den Arm und geht dann zur Scheunenthür, an bie andre Seite der Küche.

„Du brauchſt di meinettwillen nicht zu eilen“ ... ruft Gije, der noch kauend, mit vollem Mund, über einer breiten Schale Kaffee figt.

Tagesanbruch.

Wieder blidt Dorus auf Marie, in deren bunfelbraunem Saar etwas wie Gold glänzt, und in deren bleichen Zügen es farbig aufflammt.

Eie fteht ruhig emft und blidt in bie Niederung auf eine hohe Pappel in der Ferne.

„Dort ift es?“ fragt Dorus.

Sie nidt, den Blid unverwandt dorthin richten.

Er will noch etwas fagen, aber er weiß nicht was. Doch das Schweigen wird ihm noch fchwerer.

„Kommft du wohl mal in die Stadt?”

„Ja, Sonntags zum Kirchgang.“

„Kennft du dort niemand?”

„Rein.“ „Nun, dann fomm’ doch mal mit beran. Vater und Mutter werben es ficher

fehr gern mögen.”

Er nennt die Straße.

Sie blidt ihn nun forſchend an, als ſchwanke fie.

„Das will id wohl thun ... geh’ ich wieder heim.”

Dorus ftredt ihr feine Hand Bin und hält die ihrige, die fi innen rauh anfühlt, feft umflammert.

„Ich danke auch, ich danl' aud recht ſchön.“

Raſch geht ſie zurück, die Stufen herauf. Ihre ſchwarze Jade verſchwindet hinter der Scheune.

Dorus blidt fih um.

Der Wind ift viel ſchwächer geworben.

Ruhig gleitet die riefige Wafjermafje auf dem Deih entlang, tiefe Furchen bildend und bei jebem Hindernis jäh auffprigend.

An dem Uferrand fieht man, daß das Waſſer gefallen ift.

und nun

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Dorus fchreitet der Richtung des Städichens zu, vorbei an dem Fled, an dem num noch ein Mann die Wacht hält, und wo er wenige Stunden vorher fiher den Tob gefunden hätte, wenn fie ihm nicht zu Hilfe gelommen wäre.

Er hatte geglaubt, gleichgiltig gegen das Leben geworben zu fein. Wie hatte er im Tobesangft gerungen! ..... Wie dankbar ift er für feine Rettung gemwefen. Wie dankbar iſt er Marie! ...

Nun tritt das Waſſer zurüd, der Frühling kommt, die Mühlen drüben in ber Ferne follen die Pfügen aus der Niederung auffaugen. Dann tommen weiter oben Acker und Wiefen dampfend im Sonnenfdein, um wie alljährlich bebaut und abgegraft zu werden. Dann zieht er des Morgens, je nady der Jahreszeit mit Harfe und Spaten und Eichel auf dem Rüden, um zu arbeiten bis zum fpäten Abend... .

Vereingelte, ſchneeweiße Wolfen treiben gen Südweſt, und mie in ein großes Beden flutet das Eonnenliht in den tiefen Polder.

Nun fängt das Arbeiten wieder an in Wetter und Wind ... Tag für Tag.

Und dann des Sonntags?

Einen Augenblid twieder dad Weh der Erinnerung.

Einen Augenblid wieder der Anblid des wachsbleichen Gefihts auf dem ſchwarz be ſchatteten Kiffen.

Aber dann verfcheucht er das Bild wieder durch den Gedanken an das andere, ftillzernfte Geſicht, mit den wundervollen Augen.

Auf dem Deich in der Tiefe glänzt unter dem hereinbredienden Tageslicht ein Strahl neuertoachender Hoffnung, viel verheißender Zukunft.

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Fredrikha Bremer.

Bu ibrem Bundertfien Geburtstag. Bon

Maria Raſſow (Bremen).

Nachdruck verboten.

RR dem Mimen, jo fliht auch dem Romanfchriftiteller die Nachwelt bäufig

feine Kränze. Keine Gattung der Poeſie veraltet jo jchnell, wie der

Roman; wie Kein ift die Ausleſe der Meifterwerfe auf biefem Gebiet, die ſich Dauernde

Sugend bewahren, wie riefengroß die Mafje auch der beifällig aufgenommenen, wiel

gelefenen, die eine verhältnismäßig kurze Lebensdauer haben; und tauchen bie Werke in die Vergeſſenheit unter, fo ziehen fie meift den Verfaſſer mit fich binab.

Nicht anders ift es der ſchwediſchen Schriftitellerin Frebrifa Bremer und ihren Romanen in Deutichland ergangen. Ihre bei uns einft recht beliebten Bücher führen beute ein ungeflörtes Dafein in Leib: und andern Bibliothefen, und das Vergeſſen bat fich wie eine dicke Staubjchicht über fie gelegt. Und wir wollen fie da in Frieden ruhen laſſen! Die heutige Zeit jchäßt ihr gefühlvolles Pathos, ihren harmloſen Humor nicht mehr. Aus dem bei feinem Erfcheinen in fieben Sprachen überfegten „Haus“ bon 5. Bremer jcheint mir Beute ein Moderduft entgegenzufchlagen, und welches moderne Mädchen würde von den Schidfalen der Nina, Petren, Rofa gerührt? Dielen Geſchöpfen der Bremetichen Pbantafie fehlt das Leidenjchaftliche Temperament, das in George Sands Frauengeftalten pulfiert (werden übrigen? die Werke der genialen Franzöſin nicht heutzutage auch mehr erhoben als gelejen?); es fehlt ihnen die unver: welfliche Frifche, die George Eliot ihren Heldinnen einzubhauchen verftand.

Hätte F. Bremer nur ihre Romane der Welt geichenkt, jo wäre ed aud an ihrem hundertſten Geburtstag ungerechtfertigt, ihrer bier zu gedenken. Aber fie war mehr als eine Durchichnitt3:Unterhaltungsschriftitellerin für Damen; viel größer als ihre litterariiche war ihre joziale Bedeutung; und die Beitrebungen, die fie durch ihre Bücher verfolgt, find nicht veraltet, fie beben fie hoch empor über viele zeitgenöffiiche Konkurrentinnen der Feder und geben ihr wohl Anjpruch auf einige Zeilen der Erinnerung auch bei un.

In ihrem Baterlande ftand und fteht F. Bremerd Andenken hoch in Ehren. Wie Hoch, zeigt eine geiftuolle, feinfinnige Biographie, in der vor wenig Jahren zwei ſchwediſche Schriftftellerinnen in gemeinfamer Arbeit der Vorfämpferin der Frauen; bewegung im Norden ein Denkmal gelegt haben. (Fredrika Bremer. Biografisk Studie af S. L—d Adlersparre och Sigrid Leijonhufvud. Stockholm 1896.) Sn zwei ftarfen Bänden werden F. Bremerd Leben und Schriften beſprochen, und wenn man auch beim Leſen empfindet, daß Pietät und Dankbarkeit bei der Schilderung „einer ber edelften meiblichen Perfünlichkeiten, die die Gefchichte der ſchwediſchen Kultur während des 19. Jahrhunderts aufzumeilen hat” (Bd. I. S. 7), manchmal bie Feder geführt haben, jo ſchweigt doch die Kritik nicht, und das Geſamtbild fimmt ganz mit dem überein, das mir einft durch mündliche Erzählung von Belannten ber bedeutenden Frau gegeben wurde. Eine große Anzahl bisher ungedrudter Briefe baben die Biographinnen eingeflochten und bei der Auswahl befonders den Brief: wechfel Fredrikas mit dem Gelehrten Böklin berüdfichtigt, ihrem Freund und Lehrer, der zuerft ihr Sehnen nach wirklich willenichaftlicher Bildung befriedigte und ihr, als fie ihn im Zwieſpalt mit fich felbft, im Ringen nad Klarheit über Gott und Welt fennen lernte, bilfreih mar, fich zu der inneren Harmonie durchzukämpfen, die fie jpäter in jo hohem Grade auszeichnete.

%. Bremer war 30 Jahre alt, als fie Böklin näher trat, und eine ſchwere Jugend lag hinter ihr. Für den äußeren Beobachter allerdings jchien ihr Leben glatt und glüdlich verlaufen zu fein. Am 17. Auguft 1801 in Abo in Finnland geboren, gehörte

Fredrita Bremer. 787

Mangel an Selbftvertrauen am eigenen Talent gezweifelt hatte, ſah plöglich, daB auch fie in der Welt etwas leiften Tönne und bekam wieder Lebensmut. Der im folgenden Jahre eintretende Tod des Vaters Löfte die häuslichen Ketten, und bald darauf lernte fie durch Vermittlung ihres Schwagers in Chriftiansftad den ſchon erwähnten Rektor Böllin fennen, mit dem fie hinfort bis zu ihrem Tode im regften geiftigen Verfehr blieb. Da diefer Verkehr hauptſachlich brieflicher Natur war, kann man Fredrifas Werdegang Schritt für Schritt verfolgen. Jubelnd und dankbar läßt fie fi von dem Gelehrten in fein Gebiet, die Philofophie und Theologie, einführen. Doch folgt fie ihrem Führer nicht blind, religiöfe Kontroverjen, naturphilofophifche Debatten find Häufig in den zahlreichen Briefen. (Im Jahre 1834 wurden allein 96 gewechſelt.) Ihr reicher Geift entwidelte fih mit bewundernswerter Schnelligkeit, und neben den Studien tritt das eigene Schaffen mehr und mehr in den Vordergrund. Aus dem überfehenen Altlihen Mädchen entpuppte fi, nun ihm ein Platz an der Sonne vergönnt war, eine feine, weibliche Perfönlichkeit, und Männer, wie der große ſchwediſche Hiftorifer und Dichter Geijer, wie Tegner und Anderfen traten in freundfcaftliche Beziehungen zu ihr. Ihr Lehrer Böllin begehrte fie zur Gattin, aber da fie nur Freundichaft für ihn empfand, lehnte fie feinen Antrag ab, und nad} kurzer Störung blüßte die feltene Freundſchaft weiter.

Man merkt F. Bremer Nomanen an, daß ihrem Leben die große Leidenſchaft gefehlt hat; die erotifche Seite ihrer Erzählungen ift häufig die ſchwächſte. Ihr Talent lag in der frifchen, Humorvollen Schilderung des fehtwebiligen Familien und Alltags: lebens, wie fie und äbnlih der liebenswürdige Erzähler Hedenſtjerna heute in mobernerer Form bietet. Hier war fie originel, und ihre feine Beobachtung auf biefem Gebiet, der gemütvolle Ton ihrer Schreibweife gewannen ihr die Herzen, an einem Zufag von Sentimentalität wurde fein Anftoß genommen. Aber den Boden der Wirklichkeit durfte fie nicht verlaſſen, die romantiſchen Epifoden, bie fie gern ein- fliht und die uns heute zum Teil rührend unwahrſcheinlich vorfommen, fanden ſchon damals feine ungeteilte Bewunderung. Der Einfluß der Romantifer, von denen Fredrika befonderd Jean Paul verehrte, ift hier nicht zu verkennen.

So ſehr F. Bremer nach künftlerifcher Vervolikommnung ftrebte, die Kunft blieb ihr nicht Selbftzwed. Bereits in ihren erften Schriften findet man die Keime ihrer fpäteren Beftrebungen. Schon 1833 fchreibt fie, daß die leuchtende Laufbahn der Frau von Stael fie nicht lode, fie wünfde vielmehr eine Schriftftellerin zu werden, in deren Schriften Mutlofe und Belümmerte, beſonders ihres Geichlechts, ein Wort der Aufmunterung und des Troftes finden möchten. Was die Leferinnen denn auch zuerft fanden, war Fredrikas tiefes Empfinden für die „gebundenen Seelen” unter den Frauen, d. 5. folde, die, wie fie felbft einft durch Verhältniffe und Vorurteile beſchrankt, die geiftigen Kräfte nicht entwideln können. Und fie blieb nicht beim Mit- gefühl ftehen! Noch halb unbewußt, ohne polemifche Abficht, betonte fie, erhob fie die Debeutung ber Frau. In der Gefcichte der Edla fchon, in den „Töchtern des PVräfidenten” (1834), erkannte Böklin fpäter ihr Bemühen, „eine wahrere und tröftlichere Auffafjung der Stellung der Frau zum Manne und zum Menjchenleben hervorzurufen, als die, welche in den alten Vorftelungen von Adams Rippe liegt”. In ihrem Roman „Das Haus“ ließ fie ſich zuerft mit klarem Bewußtfein von der Tendenz beeinfluffen, die allmählich dad innerfte Motiv ihrer Wirkjamfeit wurde: die Befreiung der Frau. Im „Haus“ ift e3 die Unverheiratete, das ältere Mädchen, für das fie eintritt. Sie ſchrieb, während fie an dem Buche arbeitete, an Böllin: „Bisher find die Penaten echt befchränkte Götter geweſen; Leben und Luft von Millionen Frauen find unter ihrer frommen Tyrannei verwelft, und von Millionen welfen fie zu diefer Stunde.“ Sie fuchte neue Wirkungskreife für die Frau, Kunſt, Wiffenfhaft und Induſtrie hätten ja aud) ihre weiblichen Seiten, fie befämpfte die Anficht, daß die einzige Be: ftimmung ber Frau die Verheiratung fei und fand es verlegend für ihr Gefühl und ihre gejunde Vernunft, daß die ganze Bildung, das Weſen fogar der Frau darauf zugeſchnitten werben folle, daß fie für den Mann paſſe. „Sollte nicht,” ſchrieb fie damals in einem Briefe, „jede Frau (wenn möglich) fo gebildet werden, daß fie felbftändig beftehen und wirken fönnte ohne Rüdlicht auf Che? Wie viel freier und

edler würde die Ehe dann werden!“

Fredrila Bremer. 739

Sentimentalität ausgeftattet. Die Berechtigung aber der darin enthaltenen Forderung konnte troß alles Zeterns nicht dauernd Gektitten werben, unb welcher Triumph war es für die Verfaflerin, als zugeftandenermaßen ihr Roman zu einer baldigen Ein— führung der weiblichen Mündigkeit verhalf!

Viel heftiger noch als die eben erwähnte Forderung wurde bie zweite ber in „Hertha“ vertretenen, die ber höheren Ausbildung der Frau, angefochten. Vielleicht, gab man zu, könnte eine etwas beffere Schulbildung gewährt werden, nun ja, etwas mehr Religions: und Litteraturunterricht, aber was verlangte biefe F. Bremer! Sie beanfpruchte in „Hertha”: „Die Möglichkeit einer Erziehung und Selbftbeftiimmung, bie der männlichen gleich if. Offnet, der Frau Schulen und Lehrfäle, die ihr Gelegenheit geben, ſich felbit und ihre angeborenen Anlagen kennen zu lernen; und eröffnet ihr dann die Wege, dieſe Anlagen ungehindert zu entwideln, da fie fonft für fie und für den Staat ein totes, vergrabenes Bund bleiben. Nehmt die alten Schranken hinweg; fort mit aller Meinmütigen Furcht; hegt das großherzige Vertrauen zu Gott, daß Er fein Werk leiten und bewahren fann.” Bir lächeln heute, wenn wir in den von den Biographinnen mitgeteilten Kritifen Ausdrüden der tiefften Entrüftung, der vor⸗ nehmſten Geringihägung begegnen über folche Forderung und dann baran benfen, daß feit dreißig Jahren junge Schwebinnen die Hochſchulen befuchen, daß Stodholm die erfte Univerfität in Europa war, die in unferer Zeit eine weibliche Lehrkraft (Sonja Kowaleweky) berief.

Die Bahnbrecherin aber wurde geihmäht, und bie große Allgemeinheit in Schweden hielt lange Zeit die Verfafferin der „Hertha“ wirklich für das ercentrifche, überfpannte, unmeiblihe Geihöpf, als das ihre Gegner fie darftellten. Allerdings, wer ihr näher trat, wurde fchnell eines befferen belehrt. Milde blidte ihr Auge aus den unſchönen aber vergeiftigten Bügen, fchlicht legte ſich das Haar um bie Fat zu hohe Stirn, und eine weiße Haube vollendete den Eindrud anſpruchsloſer Einfachheit. So fehen wir fie auf Büften und Bildern, nur eins macht eine Ausnahme und zeigt fie ung in full dress; dieſe altväteriiche Eleganz von Sammet und Spigen war gewiß ihr Hofgewand, wenn fie ber verwitweten Königin Amalia Karolina von Dänemark oder ber Königin von Griechenland aufwartete, bie ihr beide fehr geneigt waren. Frute doch König Georg von Griechenland F. Bremer bei ihrem Aufenthalt in

then feine eigene Yacht zur Reife nach den Inſeln zur Verfügung.) Sie hatte nichtö geiſtreich Sprüßendes, diefe Heine, zurüdhaltende Schwedin, und fein pifanter Reiz umgab fie und ihre Vergangenheit; fie nahm die Menichen nicht im Sturm, aber wie feſſelnd und anregend wirkte fie, wohin fie auch Fam, durch ihre feine Weiblichkeit und ihren originellen Geift! So ſchildern fie und Longfellow und Hawthorne und ähnliches fagt George Eliot von „the great little authoress".

Ruhig und unbeirrt durch die heimifchen Anfeindungen ging die alternde Schrift: ftellerin ihren Weg weiter und zeigte in einem neuen, weniger eingreifenden Roman „Bater und Tochter“, wie trefflich wiſſenſchaftliche Bildung und echt weibliche Pflicht erfüllung fich vereinigen laſſen; fie plante eine „Aurora“, in ber fie ihr deal der Zufunftäfrau zeichnen wollte. Teils hinderten längere Reifen, deren Erfahrungen fie in mehreren Bänden nieberlegte, die Ausführung, teild veranlaßten ihre umfafjende philanthropifche Wirkfamfeit, deren Spuren man nod heute in Stodholm verfolgen Tann, und die großen Anfprüche, die nahe und ferne Freunde an ihre Zeit und ihre Sympathie machten, den Aufſchub diefer Arbeit. So war „Aurora“ ungefchrieben, als in den legten Stunden des Jahres 1865 das warme Herz ber ſchwediſchen Schrift ftellerin erfaltete.

Aber Hatte F. Bremer ihr Ideal nicht mehr mit der Feder ſchildern können, was fie für feine Verwirklichung gethan hatte, mar mehr. Durch Arbeit und Beifpiel bat die „erfte Fürfprecherin im ſchwediſchen Lande für die neuzeitliche Auffaffung der Frau“ unendlich viel dafür gewirkt, die Iphigenienklage über das Frauenſchichal des unnügen Lebens, über die enge Gebundenheit des weiblichen Glüds verftummen

zu machen. Er

47*

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Die Fran im Spiegel der modernen franzöfifehen itteratur.

Von

Anna Brunnemann.

Nachdruck verboten. un

IN äbrend die germanifche Frau in ben legten Jahrzehnten mit Vorliebe ibr | 1) Seelenleben zeichnet und unabhängig vom Mann zunädft ihre Individualität, ihre Forderungen ans Leben, und dann erft ihre veränderten Begriffe von Liebe und Ehe zur Darflelung bringt, zeigt die Franzöfin die Bedürfnis fo gut mie ‚gar nidt. Wir Haben in Frankreich zwar eine Emanzipationsbewegung, doch macht fie nur langfame Fortichritte und zieht vorzugsweiſe ertreme Geifter in ihren Bann: kreis, jo daß Häufig mit viel Lärm weit über das vernunftgemäß Mögliche hinaus⸗ gegangen wird. Wir hören die Feminiftin in öffentlichen VBerfammlungen viel über Politik, Stimmrecht, Sozialismus, Anarchie, Freigeiiterei und freie Liebe deflamieren von den inneren Wandlungen und intimen feelifchen Forderungen, von der gefteigerien Geiftigkeit des Weibes, das gelernt bat über fich felbft hinaugszubliden, erfahren wir nichts. Das einzige weibliche Seelendofument, das als beachtenswert in der modernen franzöſiſchen Litteratur vorhanden ift, find die Aufzeichnungen der Rujfin Marie Baſhkirtſeff, deren gejchmeidiges Anpaffungsvermögen fich die jcharfe, wunderbar feine Analyfierungsmethode des Goncourt zu eigen machte, die aber dad jüngfte Tarifer- tum nur von der phantaftifchen Slavin reflektiert fchildert, nicht das Seelenleben einer ftreng mit dem wirklichen Leben rechnenden Franzöſin vor uns erfteben läßt. Wie fi) die franzöfiiche Frau Zu dem modernen Ideenfond verhält, ob ein Weib der Zukunft zum Segen oder zum Fluch ihrer-Nation erftehen wird, die Frauen⸗ litteratur läßt dag nicht erkennen. Sollen wir die Urſache dazu in geiltiger Indolenz, in prüder Zurüdhaltung oder aber in einem Gutheißen des gegenwärtigen Zuftandes Juchen? Dem erften widerjpricht die alte Kulturüberlegenheit der Franzöfin, ihre geiflige Bedeutung, die fie zu allen Zeiten beſeſſen. Die Paſſivität der beichränfteren, in Pfaffenhand befindlihen und allenfall3 prüden Frauen fommt bier, wo e3 fi um litterarijche Produktion Handelt, nicht in Betracht, und eben dieje il, wenn nicht frömmelnd und für Badfiiche beftimmt, genau nach männlichem Vorbilde jeder Prüberie bar. Bliebe alfo nur das völlige Zufriedenfein mit dem übrig, was als beftebenbe Thatjache gefchildert wird. Offenbarungen über das Weib geben uns in Frankreich nur die Männer, und ihre Belenntniffe laffen an Mannigfaltigfeit und Deutlichkeit nichts zu wünſchen übrig. Auf der großen Spiegelfläche jener franzdfiichen Litteratur, die augenblidlih für die Weltlitteratur in Betracht kommt, erfcheint das Weib trot taufenderlei Varianten in feinen Grundlinien immer als ein und dasjelbe: als berrichende Sflavin, ein minderwertiged, aber reizvolles, kluges und deshalb triumphierendes Geſchöpf.

Die Frau im Spiegel der modernen franzöfiichen Litteratur. 741

Neun Zehntel der franzöfifchen Romane, Novellen und Dramen find Pariſer Sittenbilder; fie behandeln Dreiedsverhältniffe, aus dem Konflikt zwiſchen Sittengeſetz und Leidenfchaft hervorgegangen. Das fo finnlich angelegte franzöfifche Volt ſchließt die Ehe aus taufend Vernunftgründen, nicht aus Liebe. Da nun aber die Frau für den Franzoſen die flärkfte Anziehungskraft befigt, muß einerſeits das niedere erotifche Verlangen, andrerfeit® bie wirklich edle Glücksſehnſucht tiefe Konflikte herbeiführen, und biefe find dem franzöfiichen Schriftfteller die intereffanteften. Die übrige Litteratur, die fi mit dem Werdegang des Mannes, feiner Stellungnahme zu den Fragen und Aufgaben feiner Zeit beichäftigt, die ftofflich wertvollere, krankt an der zu weit: gehenden Bedeutung, die das Weib auch hier in allen Lebensverhältniffen einnimmt. Man Iefe „education sentimentale“ von Guftave Flaubert, mit nüchterner Wahrheitsliebe und fouveräner Ironie wird hier geſchildert, was die Frau für einen Durchſchnittsfranzoſen bedeutet. Sie iſt die „Alümeufe“, die in die Speichen feines Glucks- und Lebensrades eingreift, daß es ſich vafcher dreht und fchneller verbraucht.

Selbftverftändlich läßt er fich frühe ſchon von ihren Sphinzaugen faszinieren und fucht ihr Geheimnis zu ergründen. Seine Erfahrungen plaudert er mit Vorliebe aus: der Naturalift brutal; der Piychologe mit raffiniert erfünftelter oder nüchtern wiffenfchaftlicher Methode; der Dekadent ftimmungsmalend, äſthetiſierend.

Wenn Zola in feiner Neigung zur Vergrößerung, zur Steigerung der Alltags: erfcheinungen ins Ungeheuerliche Weibtypen ſchuf, die an die Vifionen eines Felicien Rops erinnern, fo hat fich feine Auffaffung allmählich von roher Animalität zu einem Typus verfeinert, der dem altgermanifchen Frauenideal nahe kommt, dem der Eräftig gefunden, fländig Leben gebenden und Leben erhaltenden Mutter, die noch fo ziemlic) Inſtinktmenſch ift und nichts andres fein will (vergl. „Paris“, „Fecondite“). Zola ift der einzige, der dies zwar recht elementare, doch normal geſunde Ideal aufgeftellt hat. Einen Blick weiter in den Naturalismus, und das pathologifche Gebiet thut ſich auf. Anormale Fälle werden mit objektiver Wahrheitsliebe gefchildert, „mal Equilibrees“, detraquees“, „nevrosdes® find es in ungezählten Scharen von ber Marquife bis zur Dienftmagd (3. B. die „Germinie Lacerteux“ von Goncourt). Bon der Meifter band Flauberts ſehen wir die unbefriedigte Frau der Provinz gezeichnet: „Madame Bovary“. Dant einer verberbten oder verftänbnislofen Umgebung erregen folche Frauen ihr Gefühlsleben, ihre Nerven auf immer ungefundere Weife, und die zunehmende Willenlofigleit macht fie im Fortgang der ziwingenden Ereigniffe zu ſehr komplizierten, abgefeimt böfen Geihöpfen, gegen die Satirifer, wie der kraftvolle Dramatiker Henri Becque nunmehr ihren Haß fchleudern und fie, die Trägerinnen der Sitte fein foltten, den vollkommenſten moraliſchen Nihilismus ausfprechen laſſen (Becque: „la Parisienne“). Neben den gefunden und kranken Inſtinktmenſchen tritt beim Naturalismus ein dritter Typus, der bewußt handelnde weibliche Vampyr auf; mir finden ihn in feiner roheſten Form bei Zola, ungleich verfeinerter bei Maupaſſant, der ihn in feinen fpäteren Arbeiten bereits als Piychologe und mit der Sonde bed Forſchers in der Hand ftubiert.

Es ift die Frau als befländige Dual des Mannes, weil fie, zu überzivilifiert, zu verfeinert, die Kraft der echten Leidenfchaft verloren Hat und nur noch Senfationen will, ohne irgend welche veredelnde Verpflichtungen auf fih zu nehmen.

Diefer Typus fcheint dem Heutigen Schriftfteller der weitauß interefjantefte zu fein. Bon folhen Frauen geht auß, was ewig von neuem reizt und anfpornt, was

Die Frau im Spiegel der mobernen franzöſiſchen Litteratur. 743

Nur Daudet, Paul Bourget in feinen fpäteren Werken und Edouard Nod fehen kraft ihre warmblütigen Dichtertemperamentes das echt Tragifche in dem Konflikt zwiſchen Pflicht und Liebe; die Folge davon ift eine lebensvolle Darftelung fittlicher Fragen.

Bei Rod ſtilles Verbluten und fchließliches DVerfteinern, weil dem Leben fein Inhalt geraubt wurde („Le silence“, „lesRochers blanches“), äußere und innere Sühne („la Sacrfüce“), gewaltfame Löfung durch Selbfimord („Dernier Refuge*). Bon Schuld und Strafe auch bei Bourget („Terre promise“). Die legteren gehen nicht wie Daubet zu Werke; fie legen mit Forfcherleidenfchaft die fubtilften Seelenregungen bloß und ſchildern nur das Weib in feiner höchſten Entfaltung und Verfeinerung. Seine Be— ziehungen zum Mann werden immer vergeifligter, Tomplizierter, und doch bleibt es dasfelbe, was fhon Benjamin Conſtant in feinem auf ſcharfer pſychologiſcher Beobachtung beruhenden Roman „Adolphe”, der traurig bedillufionierenden Geſchichte einer erfaltenden Leidenſchaft, ſchilderte: Werführerin oder Opfer ded Mannes, von ihm, durch ihn lebend. Wir fehen es nur als Geliebte, nie als Gefährtin oder Mutter. In keinem Lande hat die Frau eine größere Rolle gefpielt als in Frankreich, niemal3 war fie fo fireng wie etwa die deutſche and häusliche, private Leben gebannt; wenn fie nur wollte, konnte fie ihre Intelligenz, ihren Arbeitötrieb frei bethätigen, und kaum in einem Lande ift fie, ob auch Gattin und Mutter, fo eriverbsthätig wie hier. Wie viel Treffliches Hat nicht ſchon die norbifche Frau dank ihrer Bewegungsfreiheit und ökonomiſchen Unabhängigkeit gewonnen! Der männerfeindlihe Zug, den bie extremfte Emanzipation mit ſich brachte, ift bereit3 überwunden, und dad Ideal eines Weibed der Zukunft wird aufgeftellt: „eine ſtark ausgeprägte menfchliche Individualität, die Solidaritätsgefühl und Geſellſchaftsintereſſe befigt und doch bie volle Offenbarung des tief Weiblichen if.“ ') Nie tritt uns die franzöfiiche Frau als Menſch und um ihrer felbft oder, wie in hiftorifchen Momenten, um hoher Ziele und Aufgaben willen entgegen. Ganz felten fehen wir fie als Mutter und dann nur als überzärtliche Hüterin, nicht Erzieherin des Kindes, oder als blind verehrte Heilige.

Iſt Ibſen ganz ohne Einfluß geblieben? Wenn wir nach einer Aufführung ber „Nora“ Bemerkungen wie „das ift ſinnlos“ vernehmen, fo giebt das zu denfen. Eine franzöfifche Nora würde, wenn fie überhaupt möglich wäre, entiveder a la „Frou-frou“ 2) mit dem erften beften Mann davongehen, oder aber ihr verlogenes Cheleben aus Utilitätsgründen weiterführen, Hellmers Heine Schwächen ausfpüren und über ihn triumphieren, ihre verratene Zärtlichkeit als Affenliebe auf ihre Kinder übertragen niemal3 aber würde ihr beifommen, fih nunmehr zum Individuum zu erziehen. Wir haben keine NoraBelenntniffe oder nur entfernt Ähnliches in der franzöfifchen Kitteratur. . b

Dennoch Hat der nordiſche Revolutionär an ein paar männlichen Gewiſſen gerüttelt. Einige junge Schriftfteler bliden tief hinein in die heuchleriſchen geſellſchaftlichen Zufände und finden, daß es neben Beherrſcherinnen des Mannes noch viel mehr Frauen giebt, denen daB Courtifanen= Temperament fehlt und bie die Literatur gefliffentlich überfieht, wie fie das reine junge Mädchen überfieht. Diefe Frauen, die fi traditionsgemäß in die Vernunftehe mit dem Mann

) Bel. Ellen Key: Das Weib der Zukunft. Eſſays S. 29. %) Bergl. Meilhacs gleichnamige „Comedie*.

7144 Die Frau im Spiegel der modernen franzöfifchen Litteratur.

„qui veut faire une fin* gezwungen und jelbft um die befcheidenften Glückshoffnungen betrogen jeben, befigen feeliiche Verfeinerung genug, um edle moralifche Forderungen aufzuftellen und unter ihrer Nichterfüllung unjäglich zu leiden. Kühn und energiſch ergreift Paul Hervieu, ein talentvoller Dramatifer, Partei gegen die gefegmäßige, lieblofe Unterdvrüdung de Weibeg. „Les Tenailles“ und „la loi de I’homme* behandeln die unglüdlichen Ehen Frankreichs. Seine Heldinnen find feine „feinmes incomprises*, hyſteriſch oder jenjationsfüchtig, nur in ihrem Innerſten verwundete und zu trauriger Lieblofigkeit verdammte Frauen, die nach einmaligem, verzweifeltem Auf: bäumen nur nod) elender werden. Noch furchtbarer ift die Anklage, die Jules Caſe in feinen Roman: „La Vasalle* der Gefellfchaft mit ihrer heuchleriſchen Doppel: moral entgegenschleudert. Eine echte Lebensgefährtin will bier die junge, geiftig und feinfühlig veranlagte Gattin werden, doch ihre guten Vorfäge fcheitern an der egoiftijchen Noheit des Gatten, der fie nicht verfteht, ſich anderweit zerftreut und fie ſchließlich, moralifch vernichtet, in die Arme eines ungeliebten Bejchügers treibt.

Hier gewiffermaßen ein Fortſchritt: das fchonungslofe Enthüllen eines Not: ftanded. Der männliche Autor aber, der den Schrei des gemarterten Weibes nad geläutertem Cheglüd ertönen läßt, zeigt ung niemals defjen Verlangen nach ſich felbit. Wo es halb unbewußt emporfeimt, wird e8 bald durch das noch ftärkere Anlehnungs- bebürfnig erftidt; gejunde, rettende Heilquellen im ebeljten inneren des Weibweſens jelbft werden nie aufgetban; nach unficherem Klopfen am toten Stein ift Dumpfe Verzweiflung oder das Anklammern an den erften beiten Strohhalm der gewöhnliche Ausgang. Während fich die germanijche Frau mutig auf fich jelbft ftellt oder ſchweigend duldet und dabei noch rettet, tröftet und vergiebt, fehlen der Franzöſin, wie fie und geichildert wird, die ficheren Grundlinien zu einem Weſen, das fich mit frei erbobener Stirn, ſtolzem Ichbewußtſein und ſtarkem Pflichtgefühl einer nütlichen Aufgabe Hin: giebt, der Gejellichaft, dem Mann Achtung abnötigt und fi) jo von äußeren Sklaven: banden und den noch gefährlicheren inneren Sallitriden befreit.

Soweit die Schriftfteler und die wenigen Schriftftellerinnen, die es ihnen nach— tbun. Von Seiten der übrigen Frauen fein Proteft, feine maßvolle Kundgebung ihres Suchen: nad ſich ſelbſt, Fein freies über fich Hinausdeuten nach einem veredelten Frauentypus, der das Leben als heilige Kulturaufgabe betrachtet und das Arbeiten an der Erhöhung der eigenen Würde als Grundbedingung zur Erhöhung der Menjcen: würde anfieht.

Die Taufende von Frauen, die mit fchmweigender Tapferkeit im Joch der Arbeit gehen und die große Schar der Genießenden find anfcheinend mit ihrem Los zufrieden, ‚Ihre Schwächen werden ja zumeift als Vorzüge angefehen, und die Bedeutung, bie ihrem Gefchlecht von jeher in dem alten Kulturlande zuerkannt murde, giebt den Klugen unter ihnen immer neunundneunzig Chancen, über den Mann zu triumpbieren, unbefümmert darum, ob fie mehr zerjtören als aufbauen.

——6 Re

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Butter und Kind in der Heimarbeit.

Erich Stobuy. Nachdruc verboten. -

Motto: Uns ihres Leibes Frucht und Gegen, Bon ihrem Arm befhügt vor Rot, Ihr Kind und ftart und gut zu geben Das ift der Mutter erft Gebot.

In allen Diskuffionen über die Schädlichfeit der Heimarbeit fpielt bei der Frage

F Abihaffung oder Reform das Argument, daß man die „Mutter nicht von ihrem Kinde trennen dürfe,” ein far unüberwindliches Hindernis. Haben die Bejaher der Abſchaffung die Schädlichkeit derfelben felbft bis auf dem Tipfelchen über dem 3 bewiefen, es nüßt ihnen nichts; fie müffen, gleich Siſyphus und den fozialdemofratifchen „Unnaturen“, mit ihrer Arbeit wieder von vorn anfangen; fie müflen von neuem be: weifen, von neuem überzeugen, um bon neuem auf der Höhe angelangt, wieder in bie Tiefe zu ftürzen; denn es ift unnatürlich und unmenfchlich, herz⸗ und gewiſſenlos, bie Mutter von ihrem Kinde zu trennen.

Diejer Werdegang bat fich bisher fo oft wiederholt, daß es endlich einmal an der Zeit fein dürfte, dieſes Argument auf feinen wirklichen Wert zu unterfuchen und den Kern auß der Schale zu fhälen. Es dürfte nachzumeifen fein, wie weit wahre und echte oder falſche Mutterliebe auf der einen Seite, Flunkerei, Böswilligkeit oder praltiſche Brauchbarleit auf der andern Seite, die Antvendung dieſes Arguments be: Dingen ober geboten erfcheinen laſſen. Aber auch die Stellung, des Kindes, ala bes eigentlich Leidenden und die der Gefelfchaft dürfen wir nicht vergeſſen. Wir müflen uns fragen, toie fich die Geſellſchaft jelbit, auf Grund ihrer anerkannten oder freien Moralanfhauung zu der Thatfache ftellt, daß ein großer Teil der in der Heimarbeit erzogenen Kinder, als erwachſene Menfchen, an phyſiſchen ober pſychiſchen Defekten leiden, fich felbft zum Verdruß, der Gejellichaft zur Scham. Wir werden und fragen müffen, ob nicht auch eine Mutter, wenn die Intereffen der menſchlichen Gefelfchaft und ihres Kindes dad geboten ericheinen laffen, den Trennungsichmerz zu tragen hat. Wer möchte bei einem Krebögefchtvür und dies ift die Heimarbeit am Gefellichafts: törper dem Arzte die Operation verbieten? Iſt es nicht beffer, den Schmerz zu ertragen, al fiech und mund durchs Leben zu gehen? Diefe Fragen an der Hand der in der Heimarbeit herrſchenden Verhältnifie kurz zu beantworten, fol der Zived diefer Zeilen fein.

Stellen wir zunächſt einmal die Verhältniffe, unter denen in der Heimarbeit gelebt, oder vielmehr vegetiert wird, an einem Beifpiel feſt. ine eheverlaffene Frau mit zwei Kindern im Alter von zwei und fieben Jahren bewohnt eine Heizbare Stube. Sie näht Jacketts biligfter Sorte. Das Ausfertigen wird beim Zwiſchenmeiſter bes forgt. Preis pro Rumpf 0,40—0,55 Marl. Ein Bett, eine Wiege für das Jungſte, ein altes Spind und Komode, ein Tifh, zwei Stühle, etwas Küchengerät und ein Dfen mit Kocheinrichtung bilden die Ausftattung. Am einzigen Fenſter fteht die Näh- maſchine, daran die Frau arbeitet. Die Gardinen haben eine undefinierbare Farbe angenommen. „Ich kann fie nicht wajchen, ich habe feine Zeit, ich kann nicht einmal meine Kinder waſchen,“ fagt die Frau, ohne gefragt zu werden. Sie felbft empfindet nur zu ſehr das Niederbrüdende ihrer Umgebung. Wenn die Saifon vorbei iſt, wird ja alles fauber gemacht. Die Kinder aber, die Fpmugig und zerriffen auf dem Fuß: boden fpielen, find den ganzen Tag fich felbft überlaflen. Die Sense nad ihrem Verdienſt beantwortet die Frau wie folgt: „Ich bin auf die Sachen ſehr eingearbeitet; 6—7 Rümpfe ſchaffe ich den Tag, auch 8 habe ich fchon fertig bekommen; freilich,”

Mutter und Kind in der Heimarbeit. 7147

in die Schule, jo haben fie zwar feine Lernergebniffe dem Lehrer, dafür aber einen reichen Schag von in ber Nacht gefammelten Erfahrungen ihrer Nachbarſchaft mit: zuteilen und bilden jo geradezu eine Peſtilenz für die andern Kinder. Und nun ihr perfönliches Verhältnis zur Schule! Durch fortwährenden häuslichen Unfleiß bleiben fie dem verftändigen Lehrer ein ftetes, wenn auch bemitleideted Sorgenfind. Aber nicht alle Unterrichtenden wiſſen den befonderen Verhältniffen folcher Kinder Rechnung zu tragen. Demütigungen mannigfacher Art bleiben ihnen daher jelten erfpart. Und doch vergißt gerade ein Kind, das wenigſtens zum Teil für ſich felbft zu forgen meint, die am ſchwerſten.

Aus diefen Berhältniffen Heraus erklärt fi auch zur Genüge das leidige Schwänzen der Schule. Diefe Zeit erfegt dann wenigſtens zum Teil ben verlorenen Nadmittag, den andre Kinder zum Spiel freihaben. Auch wird ja in der Schulzeit, und das ilt die Hauptfache, fein Geld verdient. „Immer nur arbeiten und nie fpielen madt aus Hans einen dummen Jungen“, dies gilt natürlich auch von biefen Kindern. Die Folgen all diefer Verhältniffe liegen auch Mar auf der Hand und follen hier kurz regiftriert werden. Die alleinftehende, verwitwete, gefchiedene, oder von ihrem Mann getrennt lebende Arbeiterin, mit oder ohne Kinder, iſi nicht in der Lage, ſich regelrecht zu ernähren. Sie alle können von bem, was fie verdienen, nicht leben. Armenunterftügung, Proftitution oder körperlicher Verfall ift ihr Los. Ich habe nicht den Mut zu unterfuchen, welche pfuchiichen Gründe es find, die dieſe bedauernäwerten und meiner vollen Überzeugung nach an ihrem Elend unfchuldigen Menſchenkinder der Proftitution in die Arme treiben. Unter den gegebenen Umftänden fcheint es mir mehr als gewagt, von „kühler Berechnung“, „Leichtfinn” und „Benußfucht” zu reden. für mich, der ich über praftiiche Erfahrung in Nähftuben und Heimarbeits- betrieben verfüge, ift der Weg zur Proftitution weder der der Berechnung und Genuß⸗ ſucht, noch der des Leichtfinns! Für mich liegt er im ganzen Syftem und nur in ihm begründet. Und num eine Frage: Iſt eine der Proftitution verfallene Mutter zur Erziehung ihres Kindes geeignet? Glaubt irgend jemand, daß in der Hausinduftrie und Heimarbeit erzogene Kinder nicht wiſſen, was die Mutter ihut? Herr Dr. Wilbrandt ſchreibt im Juniheft diefer Zeitichrift: „Witwen mit Kindern, die der Kinder wegen zu Haufe arbeiten, richten fich dabei zu Grunde; denn für fi und die Kinder genug zu verdienen, ben Haushalt und bie Kinder zu beforgen, das überfteigt bei ſolchen Lohnen jede menschliche Kraft.” Nur bei „ſolchen“ Löhnen? Angenommen, die Löhne der Heimarbeiter ftiegen bis zur Höhe der Werkſtatt- und Fabrifarbeiter; ift es nicht au dann noch „unnatürlich”, von der Frau neben einem vollgefchüttelten Maß an Tagedarbeit, Lohnarbeit —, die Erhaltung der Wirtfhaft und die Pflege ber Kinder zu verlangen? Und bie Kinder, um bderentwillen die Mütter bei diefer Arbeit bleiben, werben mit zu Grunde gerichtet, denn die Mutter, fieberhaft arbeitend, behält für ihre Pflege und Erziehung feinen freien Augenblid. Verwahrlofung und Schmug ift trog aller Aufopferung der Erfolg. Verwahrlofung und moralifher Schmug iſt der Erfolg auch bei den ül rigen Aeinftehenden! Dem brauche ich nichts Binzuzufegen. Und in Jammer will man Kinder belaſſen? Was ſoll denn hier aus ihnen werden? Glaubt man vielleicht, daß dieſe entſetzliche und entnervende Armut, aus ber es fein Entrinnen giebt, die Willenskraft eines „Garfield“ und „Lincoln“ gebiert? O nein! Sie gehen daran zu Grunde. Von früheften Kindesbeinen an keine Wartung und Pflege, kein Geld zu geſunder Nahrung, feine Luft, keine Bewegung, fo fallen dieſe Erdenwürmer neben al dem andern Ungemach der englifchen Krankheit anheim, die fie zwar nicht gleich zum Tode, aber oftmals für ihr ganzes Leben zum Siechtum verdammt. Ohne Wiffen und Bildung, ohne Liebe und Kraft zur Arbeit, die ihnen von jeher eine nie verfiegende Duelle der Dual war, ohne Verſtandnis für bie Zufammenhänge bed Lebens, lieblos und herzensroh treten fie hinaus ins Leben; von vornherein durch die DVerhältnifie präbeftiniert für Arbeitshäufer und Gefängniffe. Eine lebendige und gewaltige Anklage gegen alle die, die fie werden ließen, was fie find!

ber al diefem Jammer, all diefem Elend thront unberührt von allem bie Mutterliebe! Sie heißt alles ertragen, alles erdulden. Was fehadet es auch, wenn

748 Mutter und Kind in der Heimarbeit.

das Kind Frank, ſchwach und verwahrloft ift? Die Mutter Hat e8 nur nod lie: und iſt um jo weniger bereit, fih von ihm zu trennen. Was fchadet ed, wenn td: Mutter durch die übermenfchliche Anftrengung zu ihrer und ber Kinder Ernährung ;: Grunde geht und ftirbt? Sie ftarb ja im Beifein ihrer Kinder! Mögen fie dam zu fremden Leuten, dann in eine Anftalt fommen, fie trifft feine Schuld; fo lange e: ihr irgend möglich war, bat fie mit ihnen gelitten, mit ihnen gehungert und bie Aus Übung ihrer Pflicht mit dem Tode bezahlt. O, es find liebe, herzensgute Leute, die dir Mutter nicht von ihrem Kinde trennen wollen! Denn daß es einen vernünftiger Dienjchen, eine vernünftige Mutter giebt, die ihr Kind lieber frank und verwaßrloft Bei fich bebält, als daß fie es in eine gut geleitete Anftalt giebt, erſcheint mir unmöglich! Und dann noch eind: giebt nicht die Verſorgung ihres Kindes auch der Mutter mehr Kraft ımd Nahrung? Kann fie fich nicht leichter dem Ringen ihrer Berufsgenoffinnen nach Ver— beflerung ihrer wirtjchaftlichen Lage anfchließen? Kann fie dann nicht zur Werkftatt geben und den Schmuß aus ihrem ohnehin ja Schon jo engen Heime fchaffen? Aber abgejeben von diejen fragen: wird fie fich auf diefe Weife die Liebe ihres Kindes nicht fiherer erringen und erhalten fünnen und ihm zur Seite ftehen, wenn e3 des mütterlichen Rates am bringenditen bedarf, im Lebensernſt? Und andrerfeit3: bleibt ihr benn, während ſie ich um die notdürftigfte Erhaltung des Lebens müht und quält, auch nur Die gerinuite Zeit, dem Kinde Liebed zu erweilen? Iſt fie nicht gezwungen, jede ſelbſt erfüllbare Bitte des Kindes abzumweifen, weil es für fie eine Störung bedeutet? Sit fie nicht geradezu oft gezwungen, ein barjches Weſen zur Schau zu tragen, da3 ind, das fie umarmen will, von fich zu weiſen? Mird fie nicht öfter, als e8 gerecht ift, zur Züchtigung greifen? Wird ihr nicht manchmal der unglüdfelige, aber erflärliche Gedante kommen, daß es befier wäre, fie hätte nie geboren? Daß die Laft, die fe zu tragen bat, fie zu erdrüden droht? Und das Kind? Liebt das Kind die Mutter, weil fie Mutter beißt? O nein! Das Kind liebt den, der ihm Gutes erweiſt, es beſchenkt und wieder liebt. Es ift anhänglich an die, die es verftehen und auf feine Wünſche eingehen. Die pietätwolle Achtung und Verehrung der Mutter an ſich fommi viel jpäter, die Liebe aber will erworben fein. Man muß unter der in folchen Ber: hältniffen aufgewwachjenen Jugend gelebt Haben, um zu willen, daß fie Die Mutter jelten ander als jeden andern Menſchen auch bewerten. Was babe ich denn von meiner Mutter, wenn ic) den ganzen Tag arbeiten muß, ift das traurige Eco ihrer Kindesrede. Die foziale Frage ift eine Magenfrage, aber die Kinderliebe ift e3 auch. Wenn die Kinder groß find und nicht leiften, was man von ihnen verlangt, wen Hagen fie an? Die Eltern, die Mutter. Und wenn die Mutter aus faljcer Liebe und thörichter Verblendung nicht alles that, was in ihren Kräften ftand, um förperliche® und geiftige® Siehtum vom Kinde fernzuhalten, dann mit Redt. Hierher aber gehört vor allen Dingen auch dad Tragen des Trennungsfchmerzes. Die menjchliche Gefellichaft hat Fein Intereſſe an geiftig oder körperlich Kranken. Ihr Streben muß in erfter Linie darauf gerichtet fein, ihre Mitglieder ſtark und arbeitsfroh in jeder Hinficht zu geftalten. Sie bat in diefem Sinn fein Intereſſe an Krankenhäufern, Aſylen, Gefängnifjen, Arbeits: und Zuchthäufern. Sie hat in: folgedeffen auch fein Intereſſe an wirtfchaftlihen Erfcheinungen, die diefen heute notwendigen Übeln Snjaffen zuführen. Zu diefen twirtichaftlichen Erfcheinungen aber gehört vor allen Dingen die Heimarbeit! Ihre vollftändige Abſchaffung ift daher unter allen Umftänden eine ernfte und dringende, eine im Intereſſe der Menfchheit abjolut gebotene Aufgabe. Über den Weg diefer Abfchaffung, über die Art und Schnelligkeit kann man geteilter Meinung fein, über die Notwendigkeit an fich wohl faum. Die Werkjtätten können und follen fo befchaffen fein, daß ein jeder in ihnen arbeiten kann. Auch die verheirateten Arbeiterfrauen, die am Tage ein paar Stunden freie Zeit zum Verdienen haben, können in die Werkftatt gehen. Sind fie zu Haus, von den Kindern umgeben, jo arbeiten fie an einer Arbeit von 56 Stunden ben ganzen Tag, bis ſpät in den Abend Hinein; in der Werkſtatt aber find fie in 5 Stunden fertig, gehören ihrem Mann und ihren Kindern wieder. Die Kinder können in bieler Zeit in Anftalten vielleicht nach „Sröbelfcher” Art gewartet und erzogen werben.

Über Eheverträge. 749

Sie werben in biefen Stunden, die für fie Freude und Erholung bedeuten, die Mutter nicht vermiffen. Zu Haufe aber wird es rein und fauber fein. Ich gedenke dabei auch der Mütter mit Kindern im erflen Lebensjahr, die fozufagen nur wahrend ber Zeit, in ber das Kind fchläft, arbeiten können. Muß es für die wenigſtens geftattet fein, im Haufe zu arbeiten? Ich beftreite auch dieſes! Die VBefeitigung der Heimarbeit wird die Löhne ber in Werkitätten Arbeitenden Heben unb fichern. Sept trägt die Öffentliche Armenpflege einen großen Teil der Unterhaltungsfoften der Heimarbeiterinnen; diefe Koſten kommen den Unternehmern zu gute. Mit Befeitigung der Heimarbeit hört das auf. Eine Menge Unterftügungsfräfte werben frei werben, die hier verwandt werden können, verwandt zum Segen des Kindes und der Mutter. Es ift zuzugeben, daß das Problem damit noch nicht gelöft if, und viele Zwifchenfragen ihrer Erledigung harten. Eins aber ift fiher: wo ein Wille ift, da ift ein Weg! Die Erledigung diefer Frage bat meine® Erachtens von dem Grundſatz auszugehen, ob der mit der Abſchaffung der Heimarbeit erzielte Nugen größer ift als der Schaden. Ich antworte: Taufendmal größer; er ift fo groß, daß ber Schaden daneben verfchwindet; ganz abgejehen davon, daß er ja überhaupt nur für eine Übergangszeit in die Erſcheinung treten fann. Bisher bat jede große, der Menichheit und Menichlichkeit dienende Anderung des Beftehenden das Leid einzelner bedingt; man hat fid) davon mit Recht nicht abichreden laſſen und foll es auch Hier nicht thun.

Zum Schluß noch einmal die Frage: „Darf man Mutter und Kind voneinander trennen, wenn die Intereſſen der Mutter, des Kindes und der Gefellichaft es er- fordern?” „IR es graufam und umnatürlich, wenn hierbei feitens des Staates Zwangsmittel angewandt werden?” "Auf die Gefahr Hin, zu den „Unnaturen“ zu gehören, beantworte ich die erfte Frage mit Ja die andre mit Nein —.')

BB

Über Shevperträge.

Bon Helene Vöhnk.

Ragprud verboten. ann nn

uf der Verfammlung bes Bundes Deuticher Frauenvereine zu Dresden im

Dftober v. 3. hat der Dresdener Rechtsſchutz-Verein den Antrag geftellt, „ber

Bund wolle in eine umfaffende Agitation für eine allgemeine Einführung von Cheverträgen bei Eheſchließungen eintreten“. Es dürfte im Anfchluß an dieſe für bie Frauenwelt fo überaus wichtige Forderung den Leferinnen und Lefern der „Frau“ von einigem Intereſſe fein, dab im fchleswigsholfteinifchen Adel von alteröher Ehe: verträge üblich geweſen und geblieben find bis auf den heutigen Tag. Mit der Drdnung des Graflich Broddorff-Ahlefeldtſchen Familienarchivs beichäftigt, find mir eine ganze Anzahl folder Dokumente durd die Hände gegangen, bie ben Namen Ehepalten, Chefliftungen, Eheverträge oder Ehebriefe führen.

Obwohl nach den Landeögefegen, dem gemeinen Sachſenrecht, das auf dem Lande giltig, die Gütergemeinfchaft ſchon an und für ſich ausgeſchloſſen war, jo wurden die Eheverträge doch für mötig erachtet, „im Zalle die Eheleute ihr domicilium mutieren und fih in Gegenden nieberlaffen jollten, wo eine allgemeine ober befondere Gutergemeinſchaft eingeführt fein möchte”.

1) Bei der Entſchiedenheit, mit der bie Sozialpolitit für bie Heimarbeit der Frauen eintritt, um der Familie die Mutter zu erhalten, erſchien es mir zur Klärung ber Frage geboten, auch die Er: fahrungen eines unter diefem Spftem Aufgewachſenen mit heranzuziehen. 98%.

750 Über Eheverträge.

Die Eheverträge, von Mitte des 18. Jahrhunderts an nur auf geitempelt.n Papier giltig, waren im 15., 16. und zu Anfang des 17. Jahrhunderts Pergamen‘ urkunden mit den angehängten Siegeln des Brautpaares ſowohl, ala min de ſtens zweirt Eltern, gewöhnlich des Vaters und der Mutter der Braut, in deren Haufe Verlobung und Cheftiftung vollzogen wurden, oder wie man damals fagte, die Ebeberedun: stattfand. Im Laufe de 18. Sabrhunderts find die Dokumente meift in fir. in Octavis Trium Regum, d. 5. in der Woche nad) ben Heiligen drei Rönigen, au®: geftellt, wenn zur fogenannten Umfchlagszeit der Adel und die wohlſituierte PUrgerliche Bevölkerung des Landes die hauptjächlichiten Jahresgeſchäfte abzumwideln pflegten.

Die Eingangsformel bleibt fich durch die Jahrhunderte ziemlich gleich und lautet mit einigen Abänderungen oder Zujägen gemöhnlid: „Im Namen ber bepligen um: zeribeilten Dreyfaltigkeit, jey Hiermit offenbahr fund und zu willen Sedermännialidsen, infonderheit denen, jo daran gelegen, daß nach Gottes des Allmäcdtigen ſonderbaren Schidung un Providence zwilchen dem Hoch: un Wohlgebormen Herrn (es folat der Name des Bräutigamd und feiner Eltern mit allen Titeln und Würden) ın einem und der Hoch: und MWohlgebornen Jungfer (auch wohl Fräulein) (es folat der Name der Braut und ihrer Eltern) am andern Theile, nad vorher wehlüber: legtem guten freyen Willen dem großen Gott zu Lob und Ehren vor benannter behyden Perſohnen Wolfabrt, Heyl und Gedeihen, auch beiderjeit3 Familien noch weiter zu befeftigender Freundichaft und Verbündniß einer Chriftlichen befländigen unb aummwider: ruflichen Ebeftiftung nachgelegtermaßen abgeredet, behandelt und geſchloſſen worben:

„Nachdem vorgedadter . . . ſich umb die wollgeborne Sungfer ... . beb dero Herr Vatter und Frau Mutter gebührlich durch feinen Herrn Batter und Frau Mutter umwerben laßen, auch Perſöhnlich diefelbe zu feiner Chriftlichen Ehegemahl begebret, worauff die Jungfer Braut auch Ihres ohrtes Shrer Herkvielgeliebten Eltern willen und gubtachten fich gebührend untergeben, und in die von Ihrem Liebften gefchebene anwerbung condescendiret, alß ift Shm . . . von dem Herren Vatter und Frau Butter Ihre Herbgeliebte Sungfer Tochter... . im nahmen der Allerheyligſten und Hoch— gebenebeyten Dreyeinigfeit, dahin Chlich zugeſaget und verfprochen, ich einander alle ebeliche Liebe, Treue und Affection auf ihre Lebenszeit zu beiweilen und dabev un: abläffig zu beharren, auch ihren Eheſtand dergeftalt zu führen, wie es Chriſt-Adelichen Chegenoßen geztemet und twollanftehet, wozu der barmherzige Gott, als Stifter des heiligen Eheftandes, Ihnen Seinen mildreichen Seegen ertheilen und alle Wollfahrt und

Glückſeligkeit gnädiglich verleihen wolle, wie denn diefe abgeredete Ehe durch prieiter: ie an nach Landesüblicher Sitte oder Chriftlihem Gebrauche vollzogen werden ſoll.“

Der Zeitpunkt der Hochzeit ift felten angegeben, gemöhnlich ift „demnächſt eheſtens“, „baldmöglichit” oder „angängig” geſetzt.

Von diefen erbaulichen Betrachtungen und Vorfchriften gebt Punkt 2 direft auf das Materielle, die Mitgift der Braut über. Sie beftand in der landesühlichen adligen Ausſtattung an „Kleidern, Kleinodien, Gold und Perlen, wie auch Kiſten und Kiftenwaren, Betten und Bettgewand, Zinn, Kupfer, Meſſing, Schränfe, Spiegel, Tiſche, Stühle und was des Hausgerät3 mehr”, und den Brautjchatgeldern, bie Fllen über 10 000 Reichöthaler, nach unferm Gelde etwa 50 000 Mark betrugen. Die Brautſchatz⸗ gelder wurden entweder in der erflen auf die Hochzeit folgenden Octavis Trium Regum, alias SKieler Umjchlag, 6.—15. Januar, ausgezahlt oder in Obligationen übertragen, wobei dann ein landesübliches Einlager abgehalten wurde. Das heißt, einer der nächften Blutsveriwandten der Braut mußte ſich an dem verabredeten Orte und Tage in Haft begeben, bis die Schuldverjchreibung perfelt und in aller Form übergeben war.

Gegen dieſe Mitgift verfprach der Bräutigam feiner zukünftigen Gemahlin ein Leibgedinge, das meilt mit der Summe des Brautfchaßes Torrefpondiert, und wenn et Beamter war, fo mußte er, jeit Errichtung der General-Witwenfaffe zu Kopenhagen um die Mitte des 18. Jahrhunderts, fich verpflichten, feiner zukünftigen Gemahlin durch eine, feinen Einfünften entjprechende Einlage, eine Wittwenpenfion zu fihern. Die Quittunſ

Über Eheverträge 751

wurde der Braut vor ber Vermählung überreicht, Später, d. 5. zu Anfang des 19. Jahr⸗ hunderts, mußte fie dem kopulierenden Prediger vorgezeigt werben, wie die Plöner Trauregifter nachweiſen.

Außer Leibgedinge und Witwenpenſion war ber ablige Bräutigam noch gehalten, feiner Braut eine Morgengabe und ein jährliches Nabelgeld „zu ihrer Kleidung und willfürlihen Dispofition“ zu verfprechen.

War die Braut elternlos und Erbtochter, fo wurbe dem Bräutigam vorgefchrieben, daß er auf die Verwaltung der Güter, reſp. des Geldes, allen Fleiß zu legen babe und nichts ohne Genehmigung feiner künftigen Gemahlin befchließen folle.

War die Braut dagegen bei einem der vier adligen Nlöfter (Preetz, Itzehoe, Ueterjen oder St. Johann vor Schleswig) eingefchrieben, jo hatte fie ihre Erbportion und Dotem ſchon zum voraus empfangen und der Bräutigam konnte feinen Braut: ichag erwarten. „Rlofter-Zungfern, wenn fie befreyet werben, können feinen Dotem fordern, dody wird ihnen der Hauptftuhl gereichet, damit fie bei der Einkleidung be gabet“, Heißt es in einer landgerichtlichen Entfcheidung vom Jahre 1604. Indeſſen gab der Vater aus „freundmwilliger Gefinnung gegen feine herzgeliebte Tochter“, wenn er leidlich bemittelt war, doch meiftens einen Brautichag, was dann natürlich in dem Berlaffungsbrief von dem neuvermäßlten Paar entſprechend gewürdigt und hervorgehoben wurde.

Ein meiterer, ſehr wichtiger Punkt der Chepaften ift die Ablöfung der fogenannten Haubenbandsgerechtigkeit. Nach Iandezüblichem Gebraud und Herkommen hatte die adlige Witwe dad Recht, nach dem Tode ihred Mannes „Jahr und Tag, als nemblih ein Jahr, ſechs Wochen und drey Tage in feinem vollen Gute befigen zu bleiben, und alle Aufflünfften und Habungen deſſelbigen Jahrs darauszuheben“. „Darzu konnte fie”, nach der revidierten Landgericht3:Crdnung von 1636, „nehmen alles Haußgerath, jo nicht Regel oder Erdfeft if. Item Wollen un Linnewandt, alles geihlagen Silber un Gold zum halben Theile fo ihr Mann un Sie in ftehender Ehe mit einander gezeuget un machen haben laſſen. Imgleichen alle fahrende Haab, Ochſen, Kühe, Pferde, Schaffe, Schweine, Gänfe, halb, wes übrig aber vom Haußgerathe, Gold, Silber, Bücher, Kleinodien, Tapezieren un Deden, fo fie nicht zufammen gezeuget, un dem Mann von feinen Eltern un Freunden an= geerbet um gegeben, bafjelbige alles foll den Kindern un Erben allein bleiben un die Frawen barinnen nicht Erben, wie auch imgleichen an den reifigen Pferden, Harnifh, Wagen un Wahren, Büchſen, Gelhüg, Pulver, Bücher un mas hierzu geböret, folches folget billih den Erben, wie auch all bahr Geld fo auff Brieff un Siegel geweſen, damit fol die Wittwe nichts zu Ichaffen haben, das ander gehöret ihr halb, fo dar befunden, wie aud da der verftorbener Ehemann bahre Gelder ftehen gehabt un nachgelaſſen, welche nicht auf Siegel un Brieffen geweſt, fondern von den Zinfen oder der Güter Einkünfften erhoben, ob er diefelbe glei auff Rente zu belegen vorhabens, aber vor feinem tödtlihen Hintritt nicht hätte aufgethan, ſeyn diefelben unter der Wittiben un Erben halb un halb zu theilen. Wenn aber der verftorbener Ehemann fein Guth Hinterliefle, hat die Wittibe an ftatt des Jahr Hebung von den Gütern deſſelben Jahrs Zinfe von deſſen freyen Geldern zu genieffen, des Mannes Ketten un Slenodien behalten die Erben, dargegen behält die Sram alle ihre Guldenen Ketten, Gulden un Silber Gefchmeide un Slenodien, die Morgengabe, fo der Mann ihr geben, gehöret der Frawen. Darzu nimmt fie ihr Heyrath Guth, fo fie dem Manne zugebracht mit der Segenvermachung und Zugabe des Mannes, es fey Geld oder Erbguth, jo ihr zum ibgebing verfchrieben um vermacht ift. Dedgleichen alle Ketten, Klenodien, Kiften un Kiftenwahr, jo ihr von ihrem Vater um Freunden gegeben un angeerbet ift, daſſelbige alles gehöret einer Frawen vom Adel nach ihres Mannes Tode zu ihrer Fräwlichen Gerechiigkeit und Huvenbande.“

Statt dieſer Gerechtſame aber ſetzte der Bräutigam feiner künftigen Gemahlin im Ehevertrag eine beftinunte Abfindungsfumme aus, „dagegen Sie fih der Hauben- banbeägerechtigkeit in Faveur derer aus dieſer Ehe Borhandenen Kinder begiebt“.

752 Über Eheverträge.

Im Falle aber feine Kinder verbanden fein würden, bliben ber Frau : adligen Witwe fompetierenden jura refervieret. Und ſchließlich behalten jit ausdrüdlich Die Befugnis vor, „einander durch teftamentmiige Anordnung r.: zu benefizieren”, wie e3 denn auch wohl vorfam, daß die Ebepaften ganı : wurden. „Wir zu Endesunterzeichneten Eheleute haben zwar vor el. unferer Heirath mit einander Cheverträge errihte. Da wir indeſſen glüdlichften und vergnügteften Ehe mit einander leben und bei Der Ungue:: Dauer des menjchlichen Lebens, nichts ſehnlicher wünſchen, als einander alle Gute, Toviel nur in unfern Kräften Steht, zuzumwenden, jo bat dieſe Betrac:: beivogen, unter Aufhebung der eingangsermwähnten Ehepalten und WBorausicz allerhöchften Confirmation ein wechjelfeitiges Teſtament zu errichten“. | Die Schlußformel der Cheverträge bat wieder eine gewiſſe flereotuv: | „Dbiges alles feft und treu und unverbrüchlich zu halten, au demfelben in ken: | und Wege, unter welchem Praetert und Vorwand es auch geſchehen Fönnte, ı | entgegen zu bandeln, jo verzeihen und begeben der Herr Bräutigam, die x. Braut und deren beiderjeitige Eltern aller und jeder dawiber zız machenden €: | und Exeptionen, als der argliftigen Überrebung, daß die Sache nicht recht wert: | oder jelbige anders beredet und beichloffen, al3 wie fie bier beihrieben, ber Frl. über die Hälfte, Wiedereinfegung in vorigen Stand, ſammt aller andern Aust. und Behelffen, nebjt der befannten Regul, daß ein gemeiner Verzicht nicht gelt: : fein bejonderer vorhergegangen, zu malen dieſen alten, wie felbige bereit erdae. oder durch Menjchen Wig Fünfftig noch erfonnen werben mögen, Site für Eu Ihre Erben auf? bündigfte und die Fräulein Braut an Eidesftatt, hierdurch ren. und, zu Fellhaltung obiger in der Abficht und Krafft eine® unmwiberruflid: bündigften Contracts bejchriebenen und, nad) vorhergegangener reifen Überlegung, : bedächtlich und freiwillig gejchloffenen Ehe-Pacten, bei Verpfändung Ihrer geſa— Haab und Güter und bei Halt: und leitung eines Landesüblichen Einlagers S:: Ihre Erben verbinden. Alles getreulich und fonder Gefährbe Uhrkundlich fin Ehe⸗Pacten geboppelt, doch eines Innhalts ausgefertiget, unterjchrieben und mi: angebornen adligen Betfchaften befiegelt.” Es folgt das Datum oder Gegebu | Ort, Jahreszahl und Monatstag, oder, wie ſchon oben erwähnt, daß viel bi In Octavis Trium Regum.

Nach vollzogener Ehe und Auszahlung des Brautſchatzes ftellten bie m“ | Neuvermählten dem Vater der Braut einen Berlaffungs- oder Verzichtbrief ar dem zunächſt über den Empfang ber Brautfchaßgelder und der Mitgift zu und dann auf die wäterliche und mütterliche Verlaſſenſchaft Verzicht geleiftet ur „Wir... urtunden und befennen hiermit für uns, unjere Erbnehmer und fonften männiglichen, denen diefer Verlaffungs- und Verzichtbrief zu ſehen und zu fein: fommt, daß wir von unjerm berzgeliebten Herrn, respective Batter und Sam vatter vermöge der von uns auffgerichteten Cheftiftung die verſprochenen Yraullt“ gelder und was Sonften an Kleinodien, Goldt un Perlen, wie auch Kiften un RN wahre u. ſ. w. volles Genüge empfangen haben und ihn biemit quit, frey, los und ki Iprechen, wogegen wir, ebenfalls nach obberührter Eheftiftung einen genughafften t beftändigen Verzicht thun auf die väterliche um mütterliche Erbſchaft, es fei an 1a oder fünftigen, liegenden und fahrenden Gütern, aller Nominibus und Actionibis. " gehen aus auf Zinfen, geldt und gülde, wie das alles Nahmen bat un zukünftig babe mag, nicht3 außbeichieden u. |. w.“ Be

Mit der Verzicht: oder Verlaſſungsurkunde zugleic) wurde der Leibgedingebr ausgeſtellt, eine Vollſtreckung des in den Ehepakten gegebenen Verſprechens und nike Beitimmung über die Leiftungen des Ehemannes und die Ablöfung ber Haubenband⸗ gerechtigkeit.

Auch dieſe Dokumente waren in älterer Zeit auf Pergament, fpäter a geftempeltem Papier gejchrieben und zählen mit dem Ehevertrage unter bie ih!

Familienurkunden.

753

Die Roggenmuhme.

Eine Stizze

von

C. v. Dornau.

Raderud verboten.

Kısı und dunfel liegt der ſchweigende Wald da. Die bochjtämmigen Buchen ver— ſchränken oben ihre Zeige feier undurch⸗ dringlid, und nur vereinzelt, wie Golbtropfen, riefeln Sonnenftrahlen durch das Dichte Blatterdach, leuchten auf dem Teppich von dunfelgrünem Moos, der den Waldboden bebedt, und malen filberne Reflere auf die glatten, weißen Stämme. Draußen aber herrſcht die volle, ungebändigte Mittagsglut. Eie liegt auf dem Kornfelde, das in gelben Wogen fi) unüberſehbar ausbehnt. Die vollen Halme neigen ſich mit leiſem, geheimnis⸗ vollem Raufchen, die bunten Blumen dazwiſchen glühen frembartig mit fübländifher Farben: pracht, und der Himmel liegt über der Fläche, tie eine ungeheure Schale von blauem Kriftall, die hernieberfchmelzen möchte auf die glühende Erde

Auf dem ſchmalen Pfade, der mitten durch das Kornfeld führt, gehen ein Mann und ein Mädchen. In lebhaftem Geſpräch waren fie neben einander auf dem ſchattigen Wald⸗ wege dahingeſchritten, ſeitdem fie das einfame Oberförfterhaus tief drinnen im Forſt verließen. Jetzt geht fie ſchweigend vor ihm her zwiſchen den engen, golbgelben Wänden, die fie von der ganzen übrigen Welt zu trennen fcheinen. Drinnen im Walde war fie Fräftig ausgefchritten, und er hat im ftilen beivundert, wie ruhig und gleihmäßig dies Waldkind atmete, trotz des raſchen Ganges. Nun geht fie unwill⸗ kürlich Tangfamer in der fengenden Hitze —. Eie trägt feinen Hut, fondern hat nad Art der Landleute ein großes, weiße? Tuch um den Kopf gebunden. Darunter hängen bie ftarfen, ſchwarzen Zöpfe hervor, und wenn fie

den Kopf zur Seite wendet nad einer Blume oder einem Vogel, fieht er das feine Profil, das fih in bräunliher Tönung von dem weißen Tuche abhebt. Er hat gelernt, jedem Zuge in dieſem leidenſchaftlich geliebten Antlig nachzuforſchen, und er fieht jegt, daß fie in ernfte Gedanfen verfunfen ift und tagt nicht, fie darin zu ſtören. Auch auf ihm liegt's wie ein Drud. Sie hat etwas Un— heimliche, diefe große Stille, dies Ruhen der Natur in der flirrenden, gleißenden Sonnen: glut. Er atmet tief auf und geht rafcher, um feine Begleiterin wieder einzuholen. Der ſchmale Pfad verbreitert fih ein wenig, fo daß er von neuem neben ihr gehen kann.

Eie ift ftehen geblieben und ſieht ſich lächelnd nah ihm um.

„Welch wunderliches Gefühl mich mand= mal überkommt, wenn ich jo ſtill in der Mitte ſommerzeit durchs Korn wandle!“ fagt fie mit einem leichten Seufzer und fpricht damit genau das aus, was er eben felbft empfunden hat. „Solte man nicht denken, irgend etwas Geheimnisvolles, Gefpenfterhajtesmüßte plötzlich da vor einem auftauchen? Und tie viele Leute haben auch ſchon an ſolchem Tage wie heute die Roggenmuhme gejehen!”

Sie hat ganz ernſthaft gefprochen. bleibt lächelnd ftehen.

„Die Roggenmuhme? Wer ift denn das?“ fragt er.

„Wiſſen Sie das nicht, Herr Profefjor?” ruft fie erftaunt. „Und fammeln doch Volts- märden und alte Sagen? D, dann werde ih Ihnen diefe bier erzählen! Die müſſen Eie kennen lernen.”

„Gut!“ erwidert er heiter; „bereichern

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&

754 Die Roggenmuhme.

Sie meine Kenntniſſe! ich babe ſchon viel bon Ihnen gelernt,“ feßt er erniter hinzu. Eie ſetzen jebt nebeneinander ihren Weg fort, und das Mädchen erzählt mit fanfter, gebämpfter Stimme das uralte Märchen von der Noggenmuhnme, dem WMittagsgefpenft: „Sie erjcheint nicht wie andre, ehrbare Geipeniter, die willen, was fie ihrem Etanbe Ihuldig find, um Mitternadt, in alten Gemäuern, auf dem Kreuzwege oder dem Kirchhof nein, nur zur Beit der Kornreife, an fo dunftig beißen, erftidenden Sommer: tagen wie diefer, und nur in der Mittagszeit, wenn die Sonne am höchſten fteht, taucht bie Roggenmuhme aus dem Ührenfelde auf. Wenn der ahnungslofe Wanderer durch das reife Korn geht, fo wie wir bier, fieht er fie plöglich vor ſich; doch wenn er näher tritt, verſchwindet fie wieder zwifchen den wogenden Ühren. Meiftens erfcheint fie in Geftalt einer alten, bäßlichen Frau, und immer be- deutet ihr Anblick Unheil für den, ber fie er- blidt. Sieht fie aber wie ein fchönes, junges Mädchen aus, fo droht ihm ein Unglüd, das ihm bis ans tiefite Herz gebt, und er wird Schmerzen tragen bis zum Tode!”

Die Erzählerin hat mit großem Ernft ge: ſprochen; jetzt aber fliegt ein fchelmifches Lächeln um ihren Mund. „Bon uns in ber Oberförfterei bat fie noch feiner zu ſehen be- fommen, aber die alte Waldhütersfrau behauptet, ihr einmal begegnet zu fein; fie hat wie ein böfes, altes Weib ausgeſehen mein Bruder meint, fie bätte gewiß in einen Cpiegel geichaut, die brave Frau Mohr und nad: ber iſt ihre befte Kuh geftorben!”

Der Profeffor lacht mit feiner Gefährtin, dann fieht er fie jchalfhaft an und fagt mit fcheinbarem Ernſt: „Fräulein Gerda, wiſſen Sie wohl, daß ich neulich die Roggenmuhme gejeben babe?”

Das junge Mädchen fährt zufammen und fieht ihn ängftlih an. „Treiben Eie feinen Scherz damit!” warnt fie, „wann follte denn das geſchehen fein?”

„Bor acht Tagen, grade an dem Tage, an dem ich zu Ihnen fam! Eie wiflen, daß Ihr Bruder mir den Wagen zur Bahn gefickt hatte, für mid) und mein Gepäck. Aber id) erzählte Ihnen noch nicht, wie mic) unterwegs

eine unbezwinglihe Luft anwandelte, Die ftaubige, heiße Landſtraße zu verlaſſen, Ihrem alten Gottlieb meinen Koffer anzupertrauen und zu Fuß zum Haufe meines alten Freundes zu pilgern. Der brave Gottlieb ſah zwar auf, ala ob ihm mein Wunſch unbegreiflih erfchiene; aber er wies mir boch treulih den Meg, Der von der Chauſſee abbiegt, über die große Wieſe und dann durch ein Kornfeld führt,

bis er nach einer Viertelſtunde Ihren ſchönen,

fühlen Wald erreiht Unb feben Zie,

Fräulein Gerda, in dieſem Kornfelde ſah ich

dann das Geſpenſt! Es ſah freilih gar nicht

wie ein ſolches aus!“ unterbridt er fih felbit

auflachenb.

„Eondern?” fragt Gerda angjtvoll.

„Sondern wie ein großes, fchlanfes, ſchönes Mädchen in einem meißen Kleive! Urplöglich, lautlo8 tauchte es auf bem fchmalen Pfade vor mir auf; in der einen Hand trug e3 einen Strauß von Feldblumen, in der andern hielt e3 Scheinbar deutlich Tonnte ich's nicht erkennen, die ganze Erfcheinung dauerte auch feine halbe Minute einen offenen Brief ober etwas Ähnliches. Sehr profaifh und zugleich ungewöhnlich für ein Gefpenft, was? Ich mar unwillfürlih fteben geblieben, um die liebliche Erjcheinung nicht zu ftören. Du erzitterte die Luft plöglid) von Glockenllängen, bie jedenfalls von der Welfinger Dorflirde herrührten. Die frommen Töne verfcheucten wohl den weißen Epufegeift; er fubr zufammen und verſchwand plößlich ſeitwärts, fo ſchnell und lautlos, mie er aufgetaucht! Als ich eiligft die Stelle erreicht, wo ich ihn foeben gejeben, war nicht mehr rings um mich, als die gelbe, raufchende Einſamkeit!“

Der Mann erzählt lächelnd, Beiter, ſchein⸗ bar gänzlich unbelümmer. Aber fein Bid haftet dabei forfchend auf dem Schönen, braunen Antlig an feiner Seite. Er fieht, wie eine tiefe Nöte es überflutet, fein Herz beginnt ftärfer zu fchlagen, und unwillkürlich jtodt er. Sie aber fragt baftig: „Und was geſchah dann?”

„Dann Fam ich zu meinem alten Freunde, und er empfing mich mit offenen Armen und führte mich) in das liebe, gemütliche Haus mit den vielen Hirſchgeweihen an den Mänden, den grünen Kachelöfen und den altertämlichen,

Die Roggenmuhme.

geichnigten Möbeln —. Wie wir aber noch im allerjhönften Fragen und Erzählen waren, öffnete fih die Thür, und auf der Schwelle erſchien mein Mittagögefpenft, meine Roggenmuhme, im weißen Kleide, mit ben Felbblumen in der Hand, und mein alter Gerhard ergriff diefe Hand und fagte zu mir: ‚Dies, Oswald, ift meine liebe Heine Schwefter Gerda, mein Gausmütterhen, mein Sonnen: fchein!“

„Und dann gab das Gefpenft Ihnen bie Hand und benahm ſich völlig, wie ein gefittetes Fräulein aus dem neungehnten Jahrhundert!” vollendet Gerda lähelnd. Tadelnd fährt fie fort: „Sie haben mir zuerft einen rechten Schred eingejagt; das war nicht recht bon Ihnen!”

„Würden Sie denn um mid bangen, wenn mir ein Unglüd widerfahren follte?” fragt der Mann neben ihr mit einem Beben in der Etimme, dem er vergebens Halt zu gebieten verfucht.

Sie fieht ihn freimütig an: „Gewiß!“ fagt fie ruhig. Dann blidt fie träumeriſch grabe aus und rebet leifer: „Ich möchte gern Sie und alle guten Menſchen glücklich fehen fo glüdlich, wie ich's felber heute bin! Doch bier find wir am Ziel!” unterbricht fie ſich felbft und zeigt auf eine Heine Anhöhe, die ſich vor ihnen aus dem Kornfelde erhebt. Ein großes Hünengrab iſt's, wie es viele hier zu Sande giebt. Cine verwitterte, alte Eiche krönt den Hügel; unter ihrem Schatten winkt eine grüne Raſenbank. Wie eine Dafe liegt das fühle, fchattige Plägchen in der gelben, fonnendurchglühten Fläche, die es umgiebt.

Gerda ift vorausgeeilt, Oswald folgt ihr langfam. Das Blut Mopft ihm in den Schläfen, und ſchweratmend drüdt er einen Augenblid die Hand aufs Herz tie leichten, frohen Gemüts ift er vor einer Woche hier hergefommen, zu dem alten Univerſitäts⸗ freunde, dem herrlichen, großen Menfchen mit dem reinen Kinderherzen! Aus dem Treiben der Großſtadt hat er fi) hinausgeflüchtet für eine kurze Woche in biefe köſtliche Walds einfamteit, ahnunglos, daß fein Geſchick ihn bier erwarte. Aus großen, dunklen Rätfele augen hat es ihn angeſchaut und fein ganzes Weſen und Sein in unlöglihe Bande gefchlagen.

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Morgen ruft ihn die Pflicht fort, aber er tann, er will nicht gehen, ehe er nicht verſucht bat, den wundervollen Schatz zu heben, den das einfame Forfthaus für ihn birgt. Dft ſchon bat fi in den letzten Tagen das Geftänbnis auf feine Lippen drängen tollen. Und immer bat er es nicht gewagt. Wenn zrifhen all bem heiten, herzlichen Geplauder plöglich ihr Mund verftummie und bie großen Augen fo meltenfern, fo ſehnſüchtig blidten, als fähen fie etwas, das weit, weit von ihnen fei dann hatte fein Herz gebebt und feine Stimme gejittert. Und dann hatte fie ihn wieder fo ruhig fragend angefehen, und ber Mare Kinderblid hatte ihn verwirrt gemacht, ihn, den weltgewandten Mann, den erfahrenen Menſchenlenner!

Geſtern Abend, als ſie alle drei im Mondenſchein unter den großen Buchen vor der Hausthür faßen, die beiden Männer rauchend und Jugenderinnerungen austaufchend, mährend bie Hunde bes Oberförſters zu Gerdas Füßen lagen wie hatte fie da ernft und ſchweigſam bagefefien, die Hände gefaltet, das Köpfchen an des Bruders Schulter gelehnt! Und ald der Überförfter dem lauſchenden Freunde erzählte, wie fie feit der Eltern Tode ihm alles fei: die bravſte, forgfamfte Meine Hausfrau der Welt, die Freude, das Licht feines Lebens da ftanben plöglic große Thränen in den wundervollen Augen, fie hatte ſich aufſchluchzend auf des Bruders Hand gebeugt und fie gefüßt, und dann ar fie aufgefprungen und ins Haus zurüdgeeilt.

Und heute früh! Wie rofig, wie glücklich ſah fie aus, als fie die beiden Männer am Frühftüdtifh begrüßte! Sie huſchte hinaus, häuslichen Pflichten nachzugehen, und ber Freund fagte behäbig fhmunzelnd: „Gerda ift feit deiner Ankunft fo heiter, fo blühend wie feit Jahren nicht. Sie ließ in letzter Zeit öfters den Kopf ein wenig hängen; bie Einfamteit hier war ihr doch wohl manchmal zu groß. Ich bin auch um ihretwillen froh, daß du hier bift, mein alter Junge; fchabe, daß es fo bald fehon ein Ende hat aber du Zommft bald mieber, gell?” Damit hatte ihm der prächtige, harmloſe Waldmenſch einen träftigen Schlag auf die Schulter verfegt und war bröhnenden Schrittes hinausgeeilt.

EC

756

Mit Bligesfchnelle gleiten all diefe Er: innerungen an dem geiftigen Auge ded Mannes vorbei, während er langjam die mäßige Ans höhe emporfteigt. Gerda ſteht oben und fieht ihm freundlich Tächelnd entgegen; fie bat das weiße Tuch abgenommen und fächelt ſich Kühlung damit zu. Eine leichte Brife hat fich aufgemadt und weht das ſchwarze Loden- gekräufel von ihrer Etirn, unter der die dunklen Augen wunderſam leuchten. Der Mann, der jegt an ihre Eeite tritt, weiß, daß die nächſten Minuten über fein Geſchick entjcheiden werden. Trotz der unfäglichen Erregung umfaßt fein Auge mechaniſch alles, was ihn umgiebt bis aufs Eleinfte. Noch nad langen Sahren wird er mit peinlicher Genauigkeit das grüne, Ichattige Fleckchen Erde vor fich jehen, das hohe, ſonnendurchglühte Korn ringsum, dort den langen, dunklen Streifen des Waldes am Horizont, und weit, meit im Oſten, funfelnd und fprühend im reinjten Blau, den Silber- jpiegel des Meeres.

Mit einem Blick hat er das alles in fidh aufgenommen, da hört er ein leijes Auf- ſchluchzen neben ſich. „Gerda!“ ruft er tödlich erfhroden. Sie ift in die Aniee gefunfen, die gefalteten Hände hat fie aufs Herz gepreßt, und ihre thränenumflorten Augen haften mit einem unbefchreiblichen Ausdruck auf dem leuchtenden Meeresitreifen.

„Ich danke dir! o, ich danke dir!” haucht fie, die Arme nach der fernen See augftredend. „Du bringft ihn mir wieder! Du giebit ihn mir zurüd! du liebes, fchönes Meer o, ivie ich dich Tiebe! Und wie ich ihn liebe!” Ihre Stimm ſenkt fi, heiße Thränen fallen aus ihren Augen auf den Nafen nieder.

Oswald ift hinter ihr auf die Rafenbanf getaumelt; ein würgender Schmerz fchnürt ihm die Kehle zu, kalte Schweißtropfen jtehen auf feiner Stirn, und feine Hände Trampfen ſich zujammen.

Er bat fo wonnevoll geträumt, jäh und fürchterlich ift dag Erwachen.

Gerda hat fi erhoben und leiſe neben ihn geſetzt. Schüctern legt fie die warme, fleine Hand auf feine eisfalte Nechte, und mit gefenkten Augen bittet fie demütig: „Verzeihen Sie, daß id) fo maßlos mich gezeigt! Was müſſen Sie von mir denken? Es Tam. über

Die Noggenmuhme.

mid, ich weiß felbft nicht, wie! O, Bedenten Eie, was alles ih durdlebte in biefen Iangen, bangen Sahren! Hier war's, wo er Damals Abſchied von mir nahm, und beim Abjchien fagten wir uns, daß mir uns lieben. Am nächſten Morgen mußte er an Borb feines Schiffes. Und dann drei Sabre in fernen Gewäflern, in Sturm und Fieber, n Kampf und Not! Willen Eie, was das heißt, jem Liebſtes da draußen zu willen, jahrelang, auf dem großen, furdtbaren Weltmeer? Als er damals fortging, dachte ich, ich Fünnte es nicht ertragen. Wie oft habe ich bier geſtanden, und zur See binübergefhaut, unb die Hände gerungen und geflebt: ‚Bringe ibn mir wieder —.‘”

Ihre Stimme, die zuletzt leidenſchaftlich erregt geklungen, bricht, und fie lehnt kindlich vertrauend, wie ſie's beim Bruder ge— wohnt, den Kopf an ihres Gefährten Schulter und ſchließt die Augen.

Der Mann neben ihr ſitzt regungslos da, er beißt ſich die Lippen blutig, um nicht laut aufzuſchreien, und das Schmerzgefühl, das ibn erfüllt, raubt ihm faft die Befinnung. Nur dag eine weiß er ganz klar und wieberbolt fih’8 immer wieder: Gerda darf nie erfahren, was fie dir zu Leide getban! Kein Schatten fol in ihr Glück fallen

„Und nun fehrt er zurüd!” fährt Gerda leife, mit gefchloffenen Augen fort; „in wenigen Tagen ift er bei mir! Grabe vor einer Woche, als Sie zu ung kamen“ bier zudt Oswald zujammen „hatte ich feinen Brief erhalten von der legten Außenftation; heute kommt dag Schiff in Kiel an, und dann nimmt er Urlaub und geht zu meinem Bruder —“

Der Mann erträgt es nicht länger; er Ipringt haftig auf und dreht ihr den Rüden; feine Augen ftarren verzweiflungsvoll ins Meite. Wäre Gerda nit fo völlig erfüllt von dem wundervollen Gefühl reden zu dürfen über das, was ihr ganzes Sein ausmacht, jo entginge ihr gewiß fein verftörtes Mefen nicht. Sp aber fragt fie nur, wie aus einem Traum ertvachend: „Was it Shen?”

„Ich denke an Ihren Bruder!” fagt er, mühfam die Zähne auseinanderbringenb.

Ein trüber Ausdrud überfliegt ihr Geficht. „Mein armer Bruder!” fagt fie gedankewoll.

Die Roggenmuhme.

„Jetzt muß er es doch erfahren! Es wird ihm ſchwer jallen, mich fortzugeben Und doch ift die Hauptſache beim Liebbaben, daß man das Glüd des andern über das eigne ftelt Er wird auch glüdlih fein über unfer Glüd! Und Sie, fein liebfter Freund, find nun mein erfter, mein einziger Vertrauter!” Ein warmer Schein bricht aus ihren Augen.

Oswald hat fi) umgewendet und ficht fie an; fie ift zu jung und zu unerfahren, um den tiefen Leidenszug zu verſtehen, der plötzlich in feinem Antlig liegt. Er nimmt ihre Hand in die feine und fragt liebevol: „Drei Jahre baben Eie geſchwiegen und alles allein ge— tragen, Eie tapferes Kind?”

„Sollte ih den .Bruber mit all meinen Qualen und Ängſten belaften?“ fragt fie ernfthaft zurüd. „So habe ih ihm die drei Jahre über feine Sorgen zu maden brauchen, fondern nur Freude; das war doch ein wenig Überwindung wert!”

Er fieht in das junge, tapfere Gefiht und gelobt fi, ihrem Beifpiel zu folgen. Cie bat ihn gelehrt, was „die Hauptfache beim Liebhaben“ ift; er will ſich nicht von ihr be— ſchämen laſſen. Er dent an ben braven, ehrliden Freund, der num aud ein großes Liebesopfer bringen muß, und fein Herz wird weit. Diefe einfachen, graden Waldleute mit dem treuen, feſten Einn follen nie wiſſen, was ihn ihre Gaſtfreundſchaft gefoftet hat; feinen Wermutstropfen will er in ihren Freudenbecher gießen! Er zicht Gerda neben fh auf die Bank nieder und zwingt fi, rubig und gleihmäßig zu ſprechen. Er ſetzt ibr auseinander, wie fie fih mit dem Bruder ausfprechen, ihm alles geftehen fol, ehe ihr Verlobter wie ſchwer das Mort über feine Lippen geht! kommen fann. „Gehen Sie jetzt gleich zu Gerhard,” bittet er; „ſagen Sie ihm alles, bereiten Sie ihn vor und

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laſſen Sie ihm dieſe Tage über Zeit, fih Bineinzufinden. Wollen Sie das?“

Sie hat ihn mit großen Augen nachdenklich angefeben. „Sie haben recht!” fagt fie endlich. „IH will thun, was Cie mir raten. Dann wird fi alles zum Guten fügen!”

„Ich aber werde Eie jetzt gleich verlaſſen,“ fährt Oswald fort. „Bei einer folhen Aus— ſprache ift jeder dritte überflüffig ftörend. Widerſprechen Sie mir nicht!” bittet er, ala fie Miene macht, ihn zu unterbrechen. „Ich gehe fofort von hier aus übers Feld bis zur Waldchauſſee; von ba ift mir ber Weg zum Bahnhof mwohlbelannt. Sie aber fagen meinem alten Gerhard, weshalb ich mich fo ohne Sang und Klang fortftehle. Es ift nun einmal Gottliebs Schikfal" er zwingt ſich zu einem Lächeln „daß er nur mein Gepäd, nicht mid; felber kutſchieren darf. Und nun gehen Sie, Gerda, gehen Eie zu Ihrem Bruder, und Gott fegne Sie!”

Er hat fih erhoben und ftößt bie legten Worte haftig hervor. Mit innigem Dantes- bli reicht Gerda ihm beide Hände und fieht ahnungslos in fein blafjes Antlig. Ihre ganze Seele ift erfüllt von dem Gebanten an bie Unterredung mit ihrem Bruder

Nebeneinander gehen fie beide den Abhang binunter; dann ſcheiden fie. Das Mädchen seht gebanfenvoll weiter. Da, wo der Weg eine Biegung madıt, wendet fie fih noch ein mal um und winkt ihm ftumm zu. Er über: windet fi, ihr freundlich, ermutigend wieder zuzuniden. Noch wenige Selunden, und fie ift verſchwunden. Die goldenen Wogen haben fie verfhlungen, wie einen Traum, eine Ers ſcheinung aus andrer Melt. Nichts ift mehr da, ald das raufchende Kom, bie brennende Sonne und ber unbarmberzige, blaue Himmel

Er aber weiß, daß er „Schmerzen tragen muß bis zum Tode“.

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Die Koh: und Hauswirtihafts-Lehrerin. Nachdrud verboten. u

Es mird über die Ausbildung der Hand: arbeitö«, Geiverbe- und Fortbildungsſchullehrerin viel debattiert und geſchrieben, und das hat ben erfreufichen Erfolg gehabt nicht, die nad} biefer Richtung an den Staat geftellten Forderungen er: füllt zu ſehen, dazu gehört eine längere Zeit meitgehendfter Erwägungen, wohl aber einen größeren Teil ber Standesangehörigen auf ſich aufmerffam gemacht, ihn aufgerüttelt und ihm die Einſicht vermittelt zu Haben, baf man zunächft ſich ſelbſt helfen muſſe, wenn einem geholfen werben fol. Man beginnt in weiteren Kreifen die alte Prüfungsordnung von 1885, 1886 und 1867 dem Geift nach aufzufaffen und auszuführen, und bie Gewerbe- und Fortbildungsſchullehrerin zweck entſprechender, einheitlicher und namentlich päba: gogifcher auszubilden, indem man abgegrenzte und verlängerte Kurſe einrichtet und bei der Aufnahme forfättiger auswäßlt.

Von der Koch- und Hauswirtſchafts-Lehrerin und ihrer Ausbildung ſpricht man inbes entweder garnicht oder ſtets als von etwas Fertigem, Selbſt. verſtandlichem, über das nachzudenken nicht von Nöten ift. Und doch berricht gerade hier eine unheilvoile Unklarheit einerfeits und Unzufriebenheit mit den Leiftungen andererfeitd.

Frau Hedwig Hehl, Berlin, gebührt das Ber: bienft, bie häusliche Arbeit, die lange Zeit als Afchenbrödel weiblicher Thätigteit galt, wieder zu Anfehen und Ehren gebracht, fie zu einem aus: gedehnten Lehrgegenftand erhoben und dadurch geadelt zu haben. In ihrem „AB C der Küche“ tritt fie bahnbrechend für die Durchgeiftigung auch der Heinften, aber darum nicht minder wichtigen Arbeiten des täglichen Lebens ein, zeigt, daß zu nuß: und fegenbringender Tätigkeit in Küche und Haus ein gebankenfofes Abgerichtetfein, ein mechaniſches Ausführen der nötigen Handgriffe und Verrichtungen nicht mehr genüge, daß vielmehr allem Thun, felbft dem ſcheinbar unbebeutendften,

Überfegung, Nachdenti Wirkung voraufgehen dazu auch umfafiende anders bie rau im | gemäß erfüen fo. Der Lehrgegenftar fanden ſich die Lehr Frau Heyl die einfü richtete im alten Pr Schullüche und damit ftätte ein, die fie zu Caffel, fpäter auch in Städten nahm man ftanden eine Anzahl Geltung verſchafften, handenen Bedürfnis « ertannte bie Wichtigk gemäßer Ausbildung öffneteim November 181 und Gewerbeſchule fi nur ein Seminar für 9 fondern auch ein folches Lehrerinnen. Es war noiwendiger, als nur werden konnte, unabh private und pekuniãr in den Vordergrund zu ſachlichen Standpunkt Es ware verfehlt, in der Virtuofität in taffinierter und Loft! dafür kann man bei au wenn man ihrer bei Kochfrauen in Anfprı punkt liegt vielmehr novize für die Anford zu äußerfter Sparfamt Gewöhnung zu einfich wobei ber praftifche vermögen entividelt ı gefördert werden folk Kenntniffe und pral dem erzichlihen Mon

Erwerböthätigfeit.

denn ergiehlich Lchrenlönnen fordert eignes reiches | Wiſſen und Verſtehen. Die Unterweifung im Kochen, Baden, Einmaden, verfhiebenfter An: wendung, Miſchung und Konfervierung der Rahrung: mittel, prattifcher Verwendung von Reften u. f. m. muß einen breiten Raum im Lehrplan einnehmen, und Henntnis und Beurteilung der Rohmaterialien nad) Beſchaffenheit, Nährwert und Preis muß ge: geben und davon ausgehend bie Aufftellung, Be: rechnung und Ausführung von Speifefolgen für die verfhiedenften Lebende: und Einnafmeverhältniffe geübt werben.

Um zur felbftänbigen Führung einer Häuslichteit oder einer Anftalt zu befähigen, dürfen Rechnen und Bugführung nicht fehlen, und ba bie Thätigteit der Kochichrerin ſich nicht nur auf das Hoden fondern auf auf die hauswirtſchaft⸗ lien Arbeiten wie Waſchen, Plätten, Fliden, Stopfen und ale zur Aufrechterhaltung ber Crbnung und Reinlichteit des Hauſes gehörenden Verrichtungen erftredt, find auch dieſe der Aus: bildung einzufügen.

In die theoretifchen Unterweifungen find Aüchen: chemie, Ernährungs: und Geſundheitslehre, Schul: hygiene einzubeziehen und um bei Hleineren oder größeren Unglüdsfällen fehnelle ſachgemäße Hilfe leiſten zu fönnen, aud die Abfolvierung eines Samariterfurfud zu verlangen. Außerdem wird zur Bildung des Schönpeitäfinne wie zur Übung | von Auge und Sand, zu praktifcher Ausführung des | Anrihtens, Trandierens und Garnieren® auf dad Zeichnen Wert zu legen fein.

In diefer Weife find die Fünftigen Lehrerinnen mit Wiſſen und Fertigfeiten auszurüften, die fie in | ausgedehntem oder beicränftem Maße ihren der: einftigen Schülerinnen weiter geben follen. Aber felbft dieſes leiſten und andere lehren Lönnen find zwei grundverſchiedene Dinge, deshalb ift als ı Hauptſache für jede Lehrthätigkeit die pädagogifche ı Schulung zu bezeichnen, die bie wichtigften Gebiete der Pſychologie, der Erzichungs: und namentlich ber Unterrichtöfchre zu umfaffen Hat Lehtere muß zunãchſt theoretiſch zum Verſtandnis gebracht und unter Aufficht einer tüchtigen Seminarlehrerin in einer Übungöfchule praktiſch geübt werben.

Zur Erreichung des vorgeftedten Zieles bedarf es felbftverftänblich ſowohl einer längeren Aus bildungszeit abgefürpte ober gar nach Wochen zähfende Ausbildungen Können nur für beftimmte

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Totale Bebürfniffe im engften Rahmen und dafür präbeftinierte Perſönlichkeiten in Betracht kommen als auch eines Schülerinmenmaterials, das beftinmte Vorausſehungen erfüßt.

Der Beruf ftellt gleich hohe Anforderungen an den Körper wie an ben Geiſt; es ift fomit ein reiferes Alter für die Aufnahme in dieſen Kurfus zu fordern, als für Kandidatinnen andrer techniſcher Seminare, deren Ausbildungsziele weder fo weit⸗ greifende noch fo viel Umficht forbernde find. Wie für jede Lehrtätigkeit kann aud bier nur eine gebiegene, gründlihe Schul: und Allgemein: bildung genügen unb bie zu erfprießlicher Aus: übung bed Erzieherinnenberufes notwendige Geduld und Ausbauer, praftifh:wirtfgaftliher Sinn, ent: widelte® äfthetifches Gefühl und Hingebungs: fähigkeit an den Beruf müffen mit einem gefunden widerſtandsfahigen Körper verbunden fein. Das ift nicht fowohl im Interefie der auszubildenden Lehrerinnen felbft als auch von meittragendfter Bedeutung für die Frauenbewegung als foldhe, deren Erfolg mit den Leiftungen ber beruflich wirkenden Frauen fteht und fält.

Wir fordern viel von ber Rod: und haus: wirtſchaftlichen Lehrerin aber micht mehr, ala bie gebildete Frau in einem Beruf erfüllen kann, den fie nad Begabung und Neigung gewählt Hat. Das Bewußtſein, durch bie wirtfchaftlidhe Erziehung und Bildung bes weiblichen Gefchledhts mitzuarbeiten an der gefunden Entwicklung voll: wirtſchaftlicher und fozialer Fragen, bie Frau zu befähigen, Mittelpunkt des eigenen Hauſes, die träftig leitende oder helfende Hand in fremder Familie zu fein, wird ihr volfte Befriedigung gewähren.

Aber nicht mur der idealen Vorzüge, die diefem Berufe eignen, ſondern auch der realen Außfichten, die er bietet, foll hier gedacht werben. Die Befoldung und Niteröverforgung ber Ko: und Haus: wirthſchafts· wie auch ber Gewerbeſchullehrerin an ftaatlichen oder mit Staatdunterftügung geſchaffenen und geführten ftädtifchen Gewerbe: und Haus: haltungsſchulen ift der ber feftangeftellten wiflenfchaft: lichen Lehrerin höherer Schulen mindeftens gleich. Durch bie wirtfchaftliche Gleichftellung ift auch bie fogiafe gegeben, und fo wird biefer Beruf den mehr prattiſch beanlagten gebildeten tüchtigen Frauen eine nad) jeder Richtung befriedigende und geficherte 2ebenäftellung bieten.

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NRagbrud mit Duelenangabe erlaubt.

* Zur Beifegung Ihrer Majeftät der Kaiferin Friedrich haben der Bund Deutfcher Frauenvereine, der Allgemeine deutſche Sehrerinnenverein, ſowie der Verein deutſcher Lehrerinnen in England Kränze geſchict. Der Kranz des Bundes beutfcher Frauen: vereine trägt die Inſchrift: „Ihrer Majeftät, der Kaiſerin Friedrich, der Hohen Befchügerin bon Frauen: bildung und Frauenarbeit in dankbarem Gedenken ehrfurchtsvoll der Bund beutfher Frauenvereine”; der Kranz des Aug. d. Schrerinnenvereind: „Ihrer Majeftät der Kaiferin Friedrich, der unvergeßlichen Hohen Freundin feiner Beftrebungen in bankbarer Verehrung der Allgemeine deutſche Lehrerinnen: verein“; der Rrany bed englilden Bereind deutſcher Lehrerinnen: „I. M. der Kaiferin Friedrich in Liebe und Dankbarteit ber Verein deutſcher Lehrerinnen in England“,

* Die Gymnafialkurfe für Frauen zu Berlin eröffnen im Herbſt einen neuen Kurfus. Aufnahme⸗ Bedingung ift der Nachweis der vollen Bildung einer Höheren Maädchenſchule. Meldungen find an den Bertreter der beurlaubten Leiterin, Herrn Brofeffor Dr. Wychgram, Kgl. Auguftafchule, Berlin S.W., Kleinbeerenſtraße 16—19, zu richten (Sprechftunde 12—1).

Einen meuen Jahrgang eröffnet aud das Städtifhe Mädchengymnaſium in Karlsruhe. Auskunft über das Gymnaſium wie über das mit dem Gymnaſium verbundene Internat erteilt Frl. Dr. Gernet, Karlsruhe i. B., Redtenbacher ftraße 16.

* Der Gewerkverein der Heimarbeiterinnen für Stfeider- und Wäſchekonfeltion zählt zur Zeit in Berlin 629 Mitglieder, darunter 96 aufer: ordentliche. Auf die Nordgruppe entfallen 325, auf die Zühgruppe 108, auf die Oftgruppe 100 Mit glieder. In Bielefeld, Breslau und Stuttgart find vorbereitende Schritte zur Gründung von Orts: gruppen gefeheben. Der Gewerkverein, deſſen Vor: figende die Gräfin Vermftorff ift, hat bereits eine Begrabnislaſſe errichtet und ermöglicht den Mit:

gliedern den billig Das Organ des | erfcheint zunächſt Antrag des Dr. Arbeiterfchuggefellie der Heimarbeiterir DVerliner Vereins n

* Das NRigor Fakultät zu Berlin Montgomery cu tar orientaliſche u Differtation behant Hammurabis.“ | Beatrice Edgel dortigen Univerfität

* Der Berline haberinnen von licher Bedienung Voſſiſchen Zeitung liche Polizeipraſidi betreffend bie Au Volizeiverorbnung Regierungsrat Dun mit dem Verein alle material von Gru Verein möge die die ſich in den Lol tommen ließen, ben der Aufforderung u Stellung weder in ſchaffen. Sollten dieſer Aufforderung das Königliche Poli Vermittlertongeffion erfannte Regierungt wenn bie Aufhebu den Proftituierten d geftattet, gefordert der Verein bie br Unterftühung in mindeften® eine Um

Frauenleben und «Streben.

von 1892 in Ausſicht ftellen zu bürfen. Es follten in Zutunft die Animier: und Sihvorſchriften nicht mehr ſo ſcharf durchgeführt werden und die poligei: liche Revifion höheren Beamten und nicht mehr, wie jegt, Schupleuten in Zivil übertragen werden. Die polizeilicherſeits notwendigen Recherchen würden fib in Zufunft au auf die Bars und Chanıbres fepardc® außdehnen.

Ob diefe Bemühungen, fo lange noch den Zu: ftänden im Kellnerinnengewerbe auf anderm Wege fo viel Vorſchub geleiftet wird, viel Erfolg haben werben, bleibt abzuwarten.

Als erfic etatömäßige Reallehrerin ift Srl. Dr. Gernet an der Gymnafialabteilung ber hößeren Mähdenihufe in Karlsruhe angeſtellt worden.

* Bier Abitnrientinnen entließ das Mädchen: avmnaſium in Karlsruhe. Mit ihnen beftanden zwei privatim vorbereitete rauen das Cramen. Alle ſechs werden Medizin ftudieren.

* Zu Mannheim wird eine Oberrealſchule für Mädchen mit Genchmigung des großherzoolichen Oberſchulrats errichtet werden. Die Schule wirb mit ber höheren Mädchenfhule in der Form ver bunden werben, daß von ber vierten Klafſe an Paralleltlaſſen nad dem Lehrplan der Oberreal⸗ ſchule Hinaufgeführt werben follen.

* Für den nadjfolgenden Aufruf Hoffen wir auf das rege Intereffe unſeres Leferinnenkreifes.

Aufruf! An die deutſchen Zrauen!

Am 9. Mai 1905 wird ein Jahrhundert ſich vollenden, feit Friedrich Schiller in voller Schaffens: traft vahingegangen ift. Wie fein Hundertjähriger Geburtötag 1859 zum nationalen Fefttag für das ganze deutſche Volk geworben, fo foll aud fein bunbertjähriger Todeötag zum denkwürdigen Weihe⸗ tag fich geftalten.

Deutfche Frauen! Dem Dichter, der die höchſten Ideale fittliher Kraft in feinen Frauengeftalten verförpert hat, wollen wir frauen ein Denkmal errichten.

Ein Denkmal nicht aus Marmor und Erz, ein Liebeswert ift «8, zu dem wir Sie einladen. Geit am 10. November 1859 von Major Serre durch die Schiller-Lotterie der große Fonds der Schiller: Stiftung gefehaffen wurbe, Haben ſich die Anfprüce an benfelben von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gefteigert. Die ungeheure Enttwidlung ber Preffe hat bei dem Aufſchwung unferes nationalen Lebens Heerfcharen

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geiftiger Arbeiter gefordert, und bie Schiller-Stiftung Tann die Fürforge für die bei aufreibenber geiftiger Arbeit invalid gewordenen Gchriftfteller und Schriftftellerinnen und beren Hinterbliebene nicht mehr allein bewältigen.

Und fo ergeht denn die Bitte an alle deutſchen Frauen, ſich zu einem großen Berbande zufammen: zufepließen, beffen Eingelglieder an allen Drten, wohin unfer Aufruf gelangt, DOrtögruppen bes Schiller: Berbandes bilden follen.

Der Sciller:Berband beutfcher Frauen widmet ſich der Aufgabe, bis zum 9. Mai 1905, dem hundert: jährigen Tobeötage unfere® großen nationalen Dichters, durch Veranftaltungen, Aufführungen, Sammlungen, Preisausſchreiben und freitillige Gaben der Schiller: Stiftung neue Mittel zuzu: führen.

Friedrich Schillerd Wed: und Mahnruf glauben wir zu vernehmen, wenn mir Sie auffordern, denen hilfreiche Hand zu leihen, bie in feinem Geifte ſich mühen, damit „das Gute wirke, wachſe, fromme“. Laſſen Sie und feinem Wed: und Mahnruf folgen, um ben geiftigen Arbeitern im Sinne unferer Zeit fagen zu können: „Werft bie AÄngft de3 Irdiſchen von euch!"

Der Zentral: Borftand Leipzig. Frau Dr. Frida Braſch. Frau Profeffor Dr. 9. Credner. Frau Dr. Henriette Goldſchmidt. Frl. Dr. Agnes Goſche. frau Dr. von Hafe. Frau Profeflor Dr. A. Köfter. Frau Kapellmeifter Profefior A. Nickiſch. Frau Präfident Dr. von Deplfdläger, Excellenz. Frau Ober Reichsanwalt Dr. Ol ſShauſen. Frau Profeſſor Karl Reinecke. Frau Baurat Dr. Thereſe Roßbach. Frl. Augufte Shmibt. Frau Profeffor Dr. Th. Schreiber. Frau Profeffor Dr. Meta Boltelt. Frau Rechtsanwalt Dr. Elfe Wildhagen. Frau Geh. Rat Prof. Dr. Lotte Windſcheid. Fe. Dr. Käthe Windſcheid. Frau Geheimrat Profeffor Dr. W. Wundt.

Der Verwaltungsrat der deutſchen Schiller: Stiftung in Weimar begrüßt freudig dad Unter: nehmen beutfcher Frauen, ber Scjiller-Stiftung neue Mittel zuzuführen und begleitet ben Aufruf an bie beutfcgen Frauen mit ben beften Wünfchen für reichen Erfolg.

Dr. Freiherr von Gleichen-Rußwurm, Vorfigender. Staatöminifter Dr. Rothe, Excellenz, Borfigender : Stellvertreter.

ur uwzjipiysie ZUpJLENTINNEN, entſandt worden.

* Eine Petition um Zulaffung ber Frauen

zur Bormundihaft haben mehrere öfterreichiiche

Frauenvereine dem Juftizminifterium eingereicht. Ta die Behörden häufig Schwierigfeiten haben,

URN MI: Louvre, bie I verleiht, erbieli für eine Arbe vie et ses od en Suisse.“

geeignete Berfönlichleiten für die Uebernahme der : voller Beitrag

Vereine.

Die erfte Öffentliche Lefchalle in Verlin, dic feiner Zeit von der „Deutichen Gefellichaft für Ethiſche Kultur” errichtet wurde, ift, wie wir aus dem 6. Sahresbericht entnebmen, in Laufe des Jahres 1900 von 100 000 Berfonen befucht worden, d. b. von 5000 mehr ald im vorangegangenen Jahre, trogdem die Stadt Berlin in demfelben Jahr vier neue ftädtifche Lefehallen eröffnet hat. Es beftehen in Berlin nunmehr 8 Öffentliche Leſe— ballen, 6 ftädtifche und zwei private. der Lefehalle find ftet3 gefüllt, zumeilen überfüllt; die Durchſchnittszahl der täglichen Beſucher war an Wochentagen 283, an Sonntagen 304. ln gefähr zwei Drittel der Befucher lafen Zeitungen und Zeitjchriften, ein Drittel Bücher, 35 Prozent der gelejenen Bücher waren wiſſenſchaftliche Werke. Aus diefen Zıblen gebt hervor, daß dic Yefchalle einerfeit3 als eine Stätte der Erholung, der Sammlung und edler Unterhaltung für viele gedient hat, denen im eigenen Heim die Gelegenheit dazu fehlt, außerdem aber den Benutern der willen: Ichaftlichen Abteilungen und der zahlreichen Fach— blätter Bildung, Belehrung und Förderung ihres Erwerbslebens gebracht hat. Eine wichtige Neuerung ift im Laufe dieſes Jahres eingeführt worden. Seit dem April bat die Verwaltung begonnen, auch die teilmeife Benutung von Büchern außer: halb der Lefehalle zu geftatten, und zwar find hauptfächlich wiſſenſchaftliche Merke dazıı nemähtt

Die Räume

angeſtellten

|

geben werden anftaltete die V baltungsabenbe, mufilalifchen ur wurde.

Der „Schw entfaltet, wie d eine äußerft viel vermittlung mun 1764 Stellenoff alle Arten vor in Berichtsjahres 1 833 durch ſei Erkundigungen 746 Antworten zügliche, teils bef der Generalverſo das 10jährige des Vereins an Vermittlung die und dieſelbe jeii eine Brämie vor 5 Jahren verbdı 235 Fr. für Die Klinik des Bere 136 Berfonen

mubsalban an.„«“!R.

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Hunger. Von Clifabeth Dauthendeh. (Scufter ' fih in Taten und Wirtfichteiten umfepen lichen.

und Loeffler. Berlin 1901.)

In einer Art modernen Märhenftild wird und die Gefchichte zweier Frauenfeelen erzählt, die am Mangel ded Einen, was not thut der Liebe zu Grunde gehen. Wie in ihrem Buch „Das neue Weib und feine Liebe” vertritt die Autorin auch Hier bie Anficht, daß es den Mann nicht giebt, ber die tmiürbige Ergänzung der feelifh zarteren und feineren Frau wäre. Daß er für fie nit reif ift baß er ihrem Hunger Steine ftatt Brot bietet. Es ift hier nicht der Ort, auf biefe Behauptung näher einzugeben. Möge man darüber benfen, wie man wolle fidjer ift eins: fügt man ſich be: rufen zu fämpfen, fo fol man zuvor feine Waffen prüfen. Blinde Dreinfauen tbut oft mehr Schaben als Nugen. Ich Habe bie vollfte Sympathie für jede imputfive Xußerung eines warmen, lebendigen

verzend. Aber wer mit feinen Teibenfgaftlicen

lagen und Anlagen ernft genommen fein toill, muß fi vor allzuviel Übertreibung, Unwahrſchein⸗ ligpleit und Ungerechtigteit hüten. Daß die Heldin des vorliegenden Buches auöfgliehli nur von den alfergemeinften Schmugnaturen umgeben fein foll daß bie vier Männer, die einen Pla in ihrem 2eben haben, alle geradezu Außbünde von Robeit und Riebertradht fein follen —, daß fie feldft in ſoich fhauberhaften Sumpf zu einem Gefchöpf von ſoich Leuchtender Reinheit erblüht, das freilich neben bei eine ungemein ſtark entwwidelte Sinnlichkeit zeigt das alles klingt denn doch ein bißchen gar zu fabelhaft. Die aufbringliche Abficht verftimmt fehr. Auch würde ein einfadherer, Harerer, nicht fo ganz und gar an dem arg mißbrauchten Niekiche ver: bildeter Stil, etwas weniger Schwüle und Schwilftig- feit und bofteriiche Ayrit dem Büdjlein fehr zu mwünfchen fein.

Liebe. Bon Mathieu Shwann (Eugen Diederichs Verlag. Leipzig 1901.)

Dap alle Männer in der Theorie wenigftend nicht ganz fo f&hlimm und Bartherzig find, wie Elifabeth Dauthendey es uns glauben machen lafjen till nicht ganz unfähig aller feinern und kom: pligierteren Seclenregungen, zeigt das borliegenbe populär-philofophiige Werk, das in einer Reihe von Iofe aneinander gefügten pfychologiſchen Stigen und ziemlich lang ausgejponnenen Betrachtungen das Weſen der wahren Siebe in jeberfei Geftalt darthun will. Man ift durchaus einverftanden mit dem ichönen und guten Grundgedanten bed Ber: faflerd; ab und zu taucht vielleicht der Gebanfe auf, wie ſchön es fein müßte, wenn alle die Worte

Das Buch ift übrigens von dem in dieſer Hinſicht rühmlichft befannten Berlag Diederichs äußerft geihmadvoll ausgeftattet.

Die Halben. Roman von Emil Jeanot Frei: here von Grotthuß. (Greiner u. Pfeiffer. Stutt: gart 1901.)

Der Kampf gegen Lüge und Vorurteil gegen Feigheit und Blindgeit gegen alle Haldheit im Menden und in der menſchlichen Geſellſchaft die Thema wird immer intereffteren, weil es nie erfchöpft wird. Der Kampf wird ja immer ein unaußgefochtener bleiben. Um fo ernfthafter wenbet fi} die Spmpathie benen zu, bie biefen enbfofen Kampf auf irgend eine Weile aufnehmen. Und diefe ernfthafte Sympathie muß man aud der ehrlichen und guten Meinung des Verfaſſers ent: gegenbringen. Im übrigen ift der Roman als Kunftwert und ald Tendenzroman nicht eben geglüdt. Die Figur des Gelden bleibt dem Leſer fremd und unglaubhaft. Cr ift wahr und ehrenhaft und ver: abfäumt die nädjfte, natüclichfte Prliht feiner Braut und deren Vater feine Vergangenheit Har: zulegen. Cr ift Mug und enorgiſch und glaubt allen Ernfted mit einem Nomitee, wie ter Ber: faffer e8 fehildert mit Karifaturen feine hochſtrebenden Pläne für ſoziale und geiftige Reform verwirklichen zu Fönnen. Das find unlößbare Widerfprüde. Auch mit dem feltiam taftenden Ghriftentum des Helden wiffen wir nicht? anzu fangen. Am beften gezeichnet unter all dieſen Menichen, bie eniweder ziemlich blutlos oder als Übertreibungen wirken, ift Klara, die Braut bed ‚Helden, in ihrer Großftabtpflangennatur. G. N.

„Rechtsbücher für dad deutfche Volk’. Her: ausgegeben von Dr. jur. NarieHafchke. 2. Band. Die Soungeerziehung nad) der im Anfchluffe an dad Bürgerliche Geſetzoͤuch erfolgten Neuregelung burdh bie Sandeögefege. Bon Dr. Franz v. Eiözt, Brofeffor, und Frieda Duenfing, stud. jur. (Berlin 1901, Drud unb Berlag von E. Ebering) Der 2. Band der von Dr. jur. Marie Rafehte herausgegebenen Rechtöbücher, die als Beilage zu der von ihr geleiteten „Jeitſchrift für populäre Rechis lunde · erſcheinen, bietet in ber Arbeit von Profeſſor dv. Liszi und Frieda Duenfing einen Bei: trag von außerorbentlicher aktueller Bedeutung. Die fehr Mare und überfichtliche Anordnung bed Stoffes macht die Schrift auch für den Laien ver ftändlich.

meinen. Aber fie können die Verantwortung für ihr Handeln nicht frei und ftolz auf ſich nehmen, fie find abhängig von den Menſchen, unter denen fie leben müſſen, fie müfjen verbergen, verichweigen, heucheln. Und bad Heucheln hilft ihnen nichte. Das Alttagsleben ift ſtärker als ſie; Richard Volkmar hat ſich ſelbſt die Möglichkeit abgeſchnitten, ſeine beſte Kraft, das, aus dem er fein Recht zur Überſchreitung toter Geſetzze ableitete, im Leben zur GGeltung zu bringen. Der Kampi, den er auf: genommen, gebt über feine Kraft; fein Weib Ticht es und verläßt ibn, um ibm den Weg in die Ge: ſellſchaſt zurüd freizumaden. Ihre That wird zugleich eine innere Erlöfung für in. Zcin Leben Ichrt ibn, daß er mit dem Anfpruch an größere perfönliche ‚zreibeit das Recht verwirkte, ein geiftiger Führer zu fein. Tas ift der Gang und bie Motivierung der inneren Entwicklung. Das äußere Tineinandergreifen des Geſchehens ift freilich nicht immer ganz geglüdt.

„zer Tom zu Königöberg” Ein Tentmal der geichichtlichen Entmidlung Altpreußend von v. Froſt, Nönigöberg (Verlag von Bernb. Teichert). Tie febr verdienftvolle Arbeit unirer einbeimiichen Echrijtitellerin führt den Yeler an der Dand ber (Heichichte des alten Tomes in Die intereilante (GGeſchichte des Preußenlandes cin. Tie Ur— bevölferung mit ihren heidniichen (Sebräuchen, die Kroberung des Landes durch den Teutichen Urden, die Erbauung der Burgen und ZSchlöjier, die Antiedlung der Nitter auf der Höbe Turwungfte, dem jegigen Nönigeberg, bildet die Kinleitung, es

Berfaflerin mi: Tom ein Tea Chriſtentums, und nationalen bald 600 Ja geftattete Wii des jehigen C Borgins einge Zeile feine?

geit und bie Herzogs Albre dad Bud. Hi itellung verbin Heinen Schrif Buch außerorde ibm an zablrei

Briefe ar Nlara Billcı und Yeipzig 1%

Man darf fi der veritorbene dieſe Hinterlaſſ friichen, freien geben. Tieie Zpanien werde ibrer Unmittelb einer durch ihr ſeele ſind auch Jahrzehnte zur aegenmwärtig. 1 Bud!

hygienisches.

Fin guter Rat für Magenleidende: Ein Arzt äußerte kürzlich: Ach traf wiederholt Patienten, welche ſich die ſchwerſten Magenübel, wie Krebs, Geſchwür u. ſ. w. u. ſ. w. eingebildet hatten, und heilte ſie einfach dadurch, daß ich fie zum Yahn: arzt ſchickte, ihre zähne in Ordnung bringen ließ und ihnen dann eine gründliche Mundpilege mittels

werden.

Wir gegen Magenle nur, daß Diele Zähne bervorg: halb jolgerichti durh eine ve Wichtig iſt, dal und mit einer a werde. Tie i

Rleine Mitteilungen.

Die Stellenvermittiung des deutichen Lehre:

rinnenvereing wird mit dem 1. DE

Allgemeinen

tober ihre Zentrale von Yeipzig, Hoheſtr. 35, nah Berlin W., Gulmitr. 5, verlegen. felben Räumen wird der A:

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gemeine deutſche Zebrerinnenverein _

jein Bureau einrichten.

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Ill. Tie Berarbeitung der Rohnaphtha auf veredeltes Heilöl. Gortſchungy Uns inter- eſſiert hier das ſchwere Ol, das als Träger der durch die Deſtillation

Kleine Mitteilungen. Anzeigen.

765

Allgemeiner deutscher Prauenverein.

Programm

21. Generalverf ammlung

und bes damit verbundenen Irauentages som 29, September bis 2. Oktober 1901 in Eiſenuch.

Ale Sitzungen und Berfammiungen finden im Saale ber

„Erholung‘‘ Ratt und find öffentlic.

Sonntag, den 29. September, abends 8 Ahr:

Vegrüßung der Gäfte und zwangloſes, gefelliges Berfimmenfein.

fonzentrierten ſpezifiſchen Seil: -

wirkung, wie Jäger durd) au®: gedehnte Berfuche feftitelite, in feiner andern Rohnaphtha cent: halten ift. ferner, daß dieſes Öl, nachdem nahezu 60 %/, anderer Beltand: teile ausgeſchieden, die berühmte ſtark fchmerzftillende Heilkraft in weit intenfiverer und wirkſamerer Form entbielt, wie er urfprünglich erwartet batte. Seine in großem Maßſtabe bei der eingeborenen Bevölferung ausgeführten Ber fuche hatten fo glänzende Erfolge, daß die Yeidenden bald von weit und breit zulammenftrömten. Aber Jäger begnügte ſich damit nob nicht! Er wollte ein pharmazeutiſches Produkt ſchaffen, das allen an ein ſolches zu ſtellenden Forderungen voll ent

Jäger, konſtatierte

ſprach und das ſelbſt bei offenen Wunden ohne Bedenken angewendet

werden konnte. Nach langwierigen

Verſuchen, die auf Veredelung des Dles gerichtet waren, fand er

ein Verfahren, welches das DI einem gründlichen Reinigung: prozejle unterwirft. Dieſes Ber: fahren ift Jägers eigenfte Er- findung. Eine Befchreibung bee: felben müſſen wir uns verfagen, da heute ſchon verschiedene aus Betroleum: und WVaſelinerück— ftänden hergeftellte, dem Naftalan zwar äußerlich ähnliche, ſonſt aber wertloſe Schmieren als „Naftalan:Erfaß” in den Handel gebradht werden. Diefe Nach: abmungen find billig und fchlecht, es kann daher vor ihrem Gebrauche nur dringend gewarnt werben.

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1. 3.

. Bericht von Arüulein Anna

. Wahl der Kaſſenreviſorinnen.

. Bericht Über bie Berliner Hauspflege. e Kafieubericht, erftattet duch die Kaffiererin Fräulein . Bericht der Kaflenreviforinnen und Erteilung ber Decharge durch die Nerfammlung. . Wahl tes Xoritandes.

2outag, den 30. September, morgens 9'/, Ahr:

. Beridt über die zweijdhrige Wirkſamkeit deö Vereins (Oktober 1599—1901), er:

ftattet durch die Vorfigende: Fräulein Augnfte Schmidt, Veipzig.

. Verichte zweier Urtsgruppen Über ihre Rechtsſchutſtellen:

a) Hamburg, Frau Julie Siabotn. b) Frankfurt a. M., Fräulein Marie Bfungft

. Referat von Fräulein Lina Helm, Nurnberg: „Über Gründung von Heimftätten

iur Förderung der —— lum über den „Verein zur Förderung des Frauen⸗ erwerbs durch Obſt- und Warıenbau.”

Dienstag, den 1. Oktober, morgens 9', Ahr:

. Antrag des Vorftantes über Anderung des 1. Abfchnittes von K 2% der Statuten,

An Stelle der jegigen ‚yaflung fou es beißen:

& 2a.

Befreiung der Berufsarbeit der Frau von allen ihrer Entfaltung entgegens ftedenben Hinderniſſen.

br Belebung des Intereſſes fir hauswirtſchaftliche und gewerbliche, wiifens fbaftliide und kinftlerifhe Ausbildung des weiblichen Geſchlechtes.

e) Förderung der thätigen Anteilnahme an den kulturellen und fozialen Arbeiten unfrer zeit.

d) Forderung der Rechte der Frau im privaten und Öffentliben Neben.

. Antrag des Boritandes und der Ortsgruppe Frankfurt a. M.:

„Tie Kaſſenreviſorinnen find In der vorhergehenden (eneralverfammlung zu wiblen und follen ibr Amt ver der nädften Generalverfammlung verfehden. Es follen zumeift Leipziger Mitglieder zu diefem Amte gewählt werden.”

Vortrag von Frau Elsbeth KUrnkenberg: „Anitation in der Frauenbeivegung“.

Mittwoch, den 2. OfXtoder, morgens 9',, Ahr.

(Abteilung des Berliner Frauenvereins) Johannes Brandftetter.

Verſammlungen des Frauentages: Montag, den 30. September, abends 7'/, Ahr:

. Begrüßung durch den Herrn Dberbürgermeifter Dr. won Fewſon. . Xortrag von . Vortrag von Frau Marie Het, Tilfit: „Die Frau in fommunalen Amtern“.

rau Gelene von Forfter, Nürnberg: „Arauenbeiwegung”.

Dienstag, den 1. Okttober, abends 7'/, Ahr:

. Vortrag von Fräulein Alice Salomon, Berlin: „Ronfumentenmoral und Käufes

rinnenvereine“.

. Vortrag von Fraulein Bertrud Bäumer, Berlin: „Moderne Erziehungsprobleme“.

Mittwoch, den 2. Oftoßer, nachmittags 4'/, Ahr:

von Fräulein Vertha Pappenheim, Frankfurt a. M.: „Zur Sittlich- leitsfrage“.

Vortrag von Frau Marie Stritt, Dresden: „Die deutiſchen Vereinsgeſeze und die rauen“.

Der Borflaud Des Allgemeinen dentſchen Frauenvereins. Augufte Schmidt. Denriette Goldihmidt. Delene Lange. Jobanna Brandfletter.

Emilienftraße 4, und

Dr. Rätbe Windfcheid. Lonife Pace. Marie Bet. Belene von Sorfter.

Nah der Mitteilung des Ortsausſchuſſes haben Iczplein A. Wünſchmann, räulein A. Roßhirt, Emilienſtraße 11, gütigft die Ber»

« mittelung von Wohnungen übernommen.

Anzeigen. 7167

» # W. Moeser Buchhandlung, Berlin. + +

Demnächst erscheint:

Handbuch der Hrauenbewegung

herausgegeben von

Helene Lange und Gertrud Bäumer.

Mitarbeiter:

Für Deutschland: Alice Salomon, Marie Stritt, Anna Pappritz, Ottilie Hoffmann, Dr. Robert Wilbrandt, Lisbeth Wilbrandt.

Für das Ausland: Emilie Benz, Marie Bessmertny, Ersilia Majus Bronzini, Bice Cammeo, Maria Cederschiold, Auguste Fickert, Kirstine Frederiksen, J. Gatti de Gamond, Alexandra Gripenberg, Marianne Hainisch, Anna Hierta-Retzius, Martina Kramers, Gina Krog, Jane Scherzer, Martha Strinz, Dr. phil. Caroline Michaelis de Vasconcellos, Professor Dr. Wychgram u. a.

0 -—_—

Die G6eschichte der Brauenbewegung in den Kulturländern. Die Geschichte der Brauenbewegung und der sozialen Prauenthäfigkeit in Deutschland auf ihren einzelnen Gebieten. der Stand der Prauenbildung in den Kulturländern. Die deutsche Frau im Beruf.

Jeder ca. 20—25 Bogen starke Band ist einzeln käuflich. 4

Das vorliegende Buch ist auf deutschem Boden der erste Versuch, eine Über- sicht über das ganze Gebiet der Fragen und Bestrebungen zu geben, die man in den Namen Frauenfrage und Frauenbewegung zusammenfasst. Es soll angesichts der grossen Unkenntnis, die in weiten und einflussreichen Kreisen über Ursprung, Ziele, Umfang und Bedeutung der Frauenbewegung herrscht, Aussenstehenden die Möglichkeit geben, sich an der Hand einer objektiven, wissenschaftlichen Darstellung über Geschichte und Stand der Frauenbewegung eingehend zu orientieren. Es soll allen, die in der Frauenbewegung arbeiten, zu einem gründlichen Studium der ein- schlägigen Fragen und der in Betracht kommenden Arbeitsgebiete, sowohl in Bezug auf Deutschland als auf das Ausland, die Hand bieten. Die Herausgeberinnen hoffen damit einem Bedürfnis entgegenzukommen, das weder die propagandistische Litteratur, noch die wissenschaftlichen Darstellungen ‘der Frauenbewegung durch Aussenstehende befriedigen können.

Der Verlag wird die Ausstattung des Werkes in jeder Weise würdig und gediegen gestalten.

768 Anzeigen.

in der Wärme zu verlieren. Pariser Weltausstellung 1900 Aud bier kam Jäger hi —* Von der Internationalen Jury wurden den langtierigen und mannigfaden Pi P} Zerfuchen und Berbefferungen Singer Nähmaschinen

zum Ziele. Scliehlic gelang

, dem Dfe bi Son hut 8 Frogent einer eigen GRAND PRIX

H e . f höchste Preis der Ausflellung, guerfannt. „artigen Seifenmaffe bie getwünfchte der * ur Die Nät ſchi der Su €o. für den familien» Ronfiftenz zu geben, und bamit | Mniten [SE CURLU Amedt ner art war nach einer zehnjährigen, mühe: ' verdanten ihren Beltruf ber mujtergiltinen Ronferuftion, vollen und zielbewußten Arbeit das vorügliten a und —V weige on jeher alle deren Sabritate aussen Ba Pure .. Fe KRoftenfreier Unterricht in d. modernen Kunftftiderel. ſich in ber Fabrik eine große Singer @s. Nähmafdinen Act. Geſ. Hamburg.

Anlage zur Herftellung von Zint: blechdojen und stiften zum Wer- fande des fertigen Produkte be: findet, fo glauben wir in Kürze alles erwähnt und damit den geneigten Lejer mit ber Geſchichte und Entftchung des Naftalan, das ihm ein treuer nie fehlender

Berlin, Kronenstr. II = Lalpzig

States Mädchengymnasium und Internat, Karlsruhe.

Hausfreund werben foll, genügend Schulgeld S1 Mk. Jährl. Pensionspreis für Internat 600 Mk. Jährl. befannt gemacht zu haben, um Auskunft: Frl. Dr. Gernet, Karlsruhe i. B., Redtenbacherstr. 16. ihm Vertrauen zu bemfelben ein: zuflößen. Gortſehung folgt.)

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hat man 60 g Butter mit 50 g Wichtig für jede Mutter Meht gelb gedämpft, giebt "/m 1 ist der Milchthermoph«

füße Sahne und fo viel Fiſch wafier dazu, daß es eine runde, zum vielstündigen Warmhalten der —A sine Feuer,

fänige Sauce wird. Man fügt

u nach Untersuchungen des Director: Salz, Pfeffer, 1%, Theelöffel Hamburg, Professor Dr. Dunbar, die in Ye —F

Maggitwürze, den Saft einer Bakterien vollständig ahgeiötet werden, und die Mitch

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Unverlangt eingefandten Manuſkripten if das nötige Rüdporte beignlegen, da andernfalls eine Rückſendung nicht erfolgt.

Werantmortig für die Mevatrion: Gelens Lange, Berlin. Berlag: M Mosfer Bughanblung, Berlin & ED. Noefer Vugdruderei, Berlin 8.