NEW YORK NAA 1OHM/Taw i a at nv DIE FUNCTIONEN xen x oe aes ae a CENTRALNERVENSYSTEMS UND IHRE i PpHYLOGENES®. IT. ae : DIE FUNCTIONEN DES CENTRALNERVENSYSTEMS Pie yi ©) GN ESB VON De. J. STEINER, a. 0. Professor der Physiologie in Heidelberg. ZWEITE ABTHEILUNG: Poa Fulos-¢-He EK, MIT 27 EINGEDRUCKTEN HOLZSTICHEN UND 1 LITHOGRAPHIE, BRAUNSCHWEIG, DRUCK UND VERLAG VON FRIEDRICH VIEWEG UND SOHN. 1888. »Hieraus lasst sich einsehen, welche Methode in den Naturwissenschaften die fruchtbarste sein miisse. Die wichtigsten Wahrheiten in denselben sind weder allein durch Zergliederung der Begriffe der Philosophie, noch allein durch blosses Erfahren ge- funden worden, sondern durch eine denkende Erfahrung, welche das Wesentliche von dem Zufalligen in den Erfahrungen unterscheidet und dadurch Grundsiatze findet, aus welchen viele Erfahrungen abgeleitet werden. Dies ist mehr als blosses Erfahren und wenn man will, eine philosophische Erfahrung.“ Johannes Miller. (Handbuch der Physiologie des Menschen, Ba. Il. 1840, S. 522.) WoO nn by by DoE. Hs ist das erste Mal, dass in der physiologischen Literatur ein Titel erscheint, wie ihn diese Schrift tragt, in welcher von der phylogenetischen Entwickelung der Functionen die Rede sein wird. Das ist der gangbarere von den zwel Wegen, welche man beim Studium der Kntwickelung von Functionen einschlagen kann. Den anderen Weg, die Ent- wickelung der Functionen zu studiren wahrend der Ent- wickelung des Individuums (die Ontogenese) hat W. Preyer betreten '), aber die Schwierigkeiten, welche sich hier dem Experimente entgegen stellen, sind zum grossen Theil uniber- windlich und die Resultate wenig befriedigend. Wie aber nur das Studium der Entwickelung zu emem wahren Ver- stiindniss der Form gefithrt hat, so kann auch die Function nur vollig aus ihrer Entwickelung begriffen werden; eine Wahrheit, welche in unserer Zeit keines Beweises bedartf. Wir begegnen auf unserem Wege einer hoch entwickel- ten Wissenschaft, welche mit beispiellosem Erfolge Arbeit auf Arbeit thtirmt, um den Schleier zu liften, hinter wel- chem die Wahrheit ihr ernstes Antlitz birgt. Und der Geist, welcher der Morphologie den regen Kifer und die schépfe- rische Kraft eingeflosst hat, der fliesst aus jener Theorie, die sich an den unsterblichen Namen knitipft, nach welchem = 7 1) W. Preyer, Specielle Physiologie des Embryo. Leipzig 1883, VI Vorrede. sie heute der Darwinismus genannt wird. Aber merkwiirdig! wahrend die Darwin’sche Theorie auf physiologischer Basis ruht, folgte nur die Morphologie der neuen Anregung, die Physiologie aber stand von fern, um mit Bewunderung und vielleicht auch mit Neid die Fortschritte der Schwester- wissenschaft zu betrachten. Besten Falls wurde der neuen Lehre von dem einen oder anderen Lehrer der Physiologie in seer Vorlesung gedacht oder ein Lehrbuch der Physio- logie wihlte sie als Einleitung, aber Weiteres folgte nicht, denn physiologische Untersuchungen auf Grund der Ent- wickelungslehre traten nicht auf. Ks wird fiir den Geschichtsschreiber dieser Periode eine interessante Aufgabe sein, den Ursachen nachzugehen, welche die Gleichgiiltigkeit, theilweise sogar Feindlichkeit der Phy- siologie gegentiber dem Darwinismus verschuldet haben. Eine dieser Ursachen legt schon heute zu Tage; das ist der Umstand, dass die Physiologie im Allgemeinen, mit einigen Ausnahmen, glaubte, sich auf drei (Hund, Kaninchen, Frosch) oder wenig mehr Thiere, die wesentlich den hoheren Classen angehorten, beschranken zu sollen, wahrend man die iibrige Thierwelt der Zoologie tiberliess. Zwar giebt es in der Literatur eine Reihe von Arbeiten, welche sich ver- gleichend physiologische nennen, vornehmlich weil sie die Nothwendigkeit einer ausgedehnteren Wirdigung der Thier- welt begriffen, und sich sogar mit den Wirbellosen beschaf- tigt haben, aber sie fiihren den Namen zu Unrecht, da sie zu ,vergleichen* versiumt hatten, was doch allein diesen Untersuchungen den neuen Charakter gegeben haben wurde. Wie die Morphologie sich an die gesammte Thierwelt wendet, um die Gesammtheit der Formen kennen zu lernen, so muss auch die Physiologie alle Thierformen durchgehen, um die Krafte in ihrer verschiedenen Form erforschen und daraus das Bild des Lebens construiren zu. konnen. Aber _ Vorrede. Vil fiir die Physiologie ist die Losung dieser Aufgabe mit weit grosseren Schwierigkeiten verbunden, als jene waren, welche die Morphologie zu wiberwinden hatte. Beide miissen das heimathliche Laboratorium verlassen und die Thierfor- men an ihren Heimathstitten aufsuchen. Gentigte dem Morphologen ehedem am Meere, welches mit seimer uner- schopflichen Fille von Formen einen besonderen Anziehungs- punkt auch fiir den Physiologen bilden wird, ein bescheidener Raum mit Luft und Licht, wo er Mikroskop und die tibrigen nothwendigen Utensilien fiir seine Arbeit unterbringen konnte, so sind die Anspriche heute bedeutend gewachsen. Die Physiologie kann sich aber auch damit noch nicht zu- frieden geben, denn, da sie Leben und Gewohnheiten dieser Thiere unter den natiirlichen Bedingungen studiren soll, so muss sie, neben der regelmissigen Ausriistung eies physio- logischen Laboratoriums, tiber moglichst grosse und geeig- nete Raume verfiigen, in denen sie frei und unbeengt der Erfillung ihrer Aufgaben obliegen kann. Sie mag sich bei der Schwesterwissenschaft bedanken, wenn sie in den jetzt unentbehrlich gewordenen zoologischen Stationen einen Theil jener Mittel fiir ihre Arbeit sehen darf. Hat der Vorantritt der Morphologie auf solche Weise der Physiologie die Wege gebahnt, indem sie auf diese ebenso unerliasslichen als kostbaren Hulfsmittel der For- schung hinwies und dieselben dienstbar machte, so gewahrt sie ihr noch einen weiteren, nicht hoch genug zu veran- schlagenden Vortheil. Da die Morphologie inzwischen ein erosses Feld durchpfliigt und in dem Kampfe um die Wahr- heit eine gewisse Anzahl fester Punkte erstritten hat, so kann die Physiologie jene Erfahrungen benutzen, jede Kr- kenntniss verwerthen und manchen Irrweg vermeiden, wenn sle in steter Fiihlung mit der Morphologie fortschreitet. Denn sind auch die Wege, welche die beiden Disciplinen VIII Vorrede. gehen, verschieden, indem ihre Methoden eigenartig und jeder von ihnen besonders angepasst sind, so mtssen sie sich doch an jenem Punkte treffen, wo das Problem des Lebens zur Losung steht. Welche von den beiden Wissen- schaften aber tiber der anderen steht? Jede bedient sich der anderen und steht dann iiber derselben ‘). Unter diesen Gesichtspunkten habe ich die Arbeit tiber das Centralnervensystem begonnen, welches ganz besonders geeignet ist, daran die Entwickelung der Functionen zu verfoleen und welches bei seiner Bedeutung eine hervor- ragende Stellung im Organismus einnimmt. Als Resultat lege ich dem wissenschaftlichen Publicum die zweite Ab- theilung vor, welche die gesammten Fische behandelt, denen als einleitendes Capitel eme Untersuchung tiber die Func- tion der Flossen vorangehen musste, um die Verhaltnisse der Aequilibrirung und deren Innervation zu_ erforschen. Als erste Abtheilung bitte ich hierzu meine, vor mehr als zwei Jahren erschienenen Untersuchungen tiber die Physio- logie des Froschhirns zu betrachten, welche in der Folge kurz als ,Froschhirn* werden citirt werden. Hieran werden sich im Laufe der nachsten Zeit anschliessen die wirbellosen Thiere, die geschwanzten Amphibien, Reptilen u. a. Es war ein ausserordentlich einladender Gedanke, mit der Veroffentlichung zu warten, bis das Werk abgeschlossen sein wiirde. Indess ist das Ganze eine Arbeit auf Jahre hinaus, in denen man keinen Ruhepunkt finden wtirde, wenn die abgeschlossenen Theile nicht auch an die Oeffentlchkeit gebracht worden sind. Dazu kommt, dass unsere viel arbei- tende und noch mehr schreibende Zeit eimen solchen Auf- schub nicht vertragt — wollte sich der Autor nicht ofter um den sicheren Besitz lingst erworbener Thatsachen bringen. 1) C. Gegenbaur, Anatomie des Menschen. 3. Aufl. Leipzig 1888, §. 10. Vorrede. IX . Dass umgekehrt die Veroffentlichung nicht zu rasch folge, dafiir sorgt die Weitschichtigkeit des Unternehmens, die Schwierigkeit der Beschaffung und Ausnutzunge des Matte- rials, sowie das unaufhorliche Bestreben, nicht nur einzelne Thatsachen, sondern auch ihren Zusammenhang zu finden, was allein ein wissenschaftliches Ergebniss genannt zu werden verdient. Wenn trotzdem diese Abtheilung zu keinem grossen Umfang angeschwollen ist, so wurde dies dadurch erreicht, dass ich mich in der Darstellung einer moglichsten Kiirze befleissigt habe und da, wo literarische Notizen stehen mussten, dieselben nur soweit gegeben habe, als zur An- kniipfung, Bestatigung oder Widerlegung geboten war. Freund historischer Forschung habe ich mich viel um die Geschichte der Teleostier bemiiht, aber dieselbe hier aufzu- nehmen, schien mir ungeeignet, weil wir sie an anderen Orten schon vorfinden und ein grosser Theil der Thatsachen nunmehr tiberholt ist. Ganoiden, Selachier, Cyclostomen und Amphioxus beginnen aber erst heut ein Blatt in der Geschichte der Physiologie zu beschreiben. Bei der Vielseitigkeit dieses Unternehmens konnte es nicht ausbleiben, dass ich mehrfach auf Hilfe von aussen angewiesen war. Hierfiir an dieser Stelle meinen Dank auszusprechen, ist ebenso Pflicht als lebhafter Wunsch. So sage ich meinen ergebensten Dank zunichst dem hohen Ministerium der Justiz, des Cultus und des Unterrichts unserer Landesregierung, welches mir wiederholt (Frihling 1886 und 1887) ihren Arbeitsplatz auf der zoologischen Station in Neapel iiberwies. Ebenso an die K6nigl. Preussi- sche Akademie der Wissenschaften in Berlin, welche mir im x Vorrede. Jahre 1886 die Mittel zu der Reise nach dem Siiden ge-. wihrte. Besonderer Dank gebitihrt Herrn Professor Otto Bitschli, dem Director des zoologischen Laboratoriums unserer Universitat, der mit einer, nur dem wahren Ge- lehrten eigenén Liberalitat die mir dienlichen Riume seines Institutes 6ffnete, in dem die ersten wichtigen Versuche tiber die Knochenfische gemacht wurden. Auch mancherlei Anregung und Berathung hatte ich mich von seiner Seite zu erfreuen. Meinen Dank Herrn Privatdocent Dr. Bloch- mann, Assistenten des Laboratoriums, fiir vielfache Mithiilfe bei meinen Untersuchungen. Vielen Dank meinem Freunde Dr. B. Grassi, Professor der Zoologie in Catania, der seiner Zeit mit unermiidlicher Sorgfalt meine wissenschaftlichen Bestrebungen unterstiitzte. Hbenso danke ich dem Directorat und den Angestellten der zoologischen Station in Neapel, wo meine Wiinsche zu jeder Zeit und bei jedem Hinzelnen bereitwilligstes HEntgegenkommen zu finden pflegten. (Simmt- liche originale Haifischbilder sowie der Amphioxus sind das Werk des Sig. Merculiano, Zeichners der Station.) Endlich meinen Dank der bewahrten Verlagshandlung, welche, wie schon der ersten, so auch der zweiten Abtheilung dieser Schrift ihre vollste Aufmerksamkeit zuwendete. Heidelberg, im Marz 1888. J. Steiner. Vorrede Zweites SR SP LP SP SP) Sh LF LP = SRI SRL Qo ct SS) Sh LP SP SP SP Sf hp YOR wWpH Sh STIs SI) Sf Finftes 10. ili LON OE Abin: Seite é .V—xX Erstes Capitel: Ueber die Locomotion der Fische und die Function ihrer Flossen . 1 Capitel: Das Centralnervensystem der Knochenfische 11 Abtragung des Grosshirns 15 Analyse der Versuche. .. . 22 Abtragung der Decke des Mittelbiens 24 Abtragung des Kleinhirns . 2 FORE STOe ee IRS DEL SOULE OT cot nate Tee Mnalysdeder Verstche . iit. susie eee Hulu eatin faut, —.) 2 ees6 Abtragung der Mittelhirnbasis . 50 Das Ruckenmark : : 33 Analyse der Versuche im 6. ind 7. " Paragraphen aA 30 Capitel: Das Centralnervensystem des Amphioxus lanceo- PANGS ee hdis atic teaense 3 Historische Notizen. . ee 38 Matungeschrchtliche Notizen.:.)., . <3. SF nite 23h DAR a eee ee 40 Ein physiologischer Versuch 42 Analyse des Versuches : 44 Capitel: Das Centralnervensystem der Haifische . 45 . Kinleitende Bemerkungen . . 45 . Abtragung des Vorderhirns . 47 . Analyse der Versuche. . 50 . Abtragung des Zwischenhirns . 51 RPA DAly Se dese WOTSUGDIRS staMe cet SA ata ey he kw sd ac 52 . Abtragung des Kleinhirns . 52 . Abtragung des Mittelhirns. A. ean (__—— — Naturgeschichtliche Notizen. 41 heraus und entleeren denselben auf den Boden des Bootes. Liisst man diesen Sand durch die Hinde in ein bereit gehaltenes, mit See- wasser gefiilltes Glas gleiten, so findet man ihn, wenn man an rich- tiger Stelle fischt, von zahlreichen Amphioxen belebt. Bringt man davon eine Anzahl in eine flache Schale, deren Grund mit einer Lage dieses Sandes bedeckt ist, so verschwinden die meisten darin so, dass nur ihre K6érperenden, insbesondere das Kopfende, wie auch schon Joh. Miiller angegeben hatte, heraussieht. Einige wenige bleiben anscheinend leblos mit ihrer Breitseite auf dem Sande liegen, indess eine leichte Beriihrung weckt sie aus dem Schlafe. Sie stellen sich so auf, dass ihre Breitseite senkrecht steht und rasch entfliehen sie vor dem Reize, das Kopfende voran, wobei der Korper schlingelnde Bewegungen macht, an denen dieser Ko6rpertheil nachweisbar theil- nimmt. Horen sie auf, sich zu bewegen, so fallen sie wieder auf ihre Breitseite. Fiir die meisten Individuen endet die Bewegung aber damit, dass sie sich, mit dem Kopfe voran, in den Sand einbohren. Wenn aber, wie nicht selten zu beobachten, der Amphioxus sich irrt, wenn er statt mit dem Kopfe mit dem Schwanzende vorauseilt und mit diesem sich in den Sand einzubohren versucht, so missgliickt dieser Versuch jedesmal und kraftlos fallt er auf die Seite, bis der nachste Reiz ihn zu neuem Leben anregt. Bringt man die Amphioxen in ein kleines Bassin mit Glaswiinden, dessen Boden mit einer mehrere Centi- meter hohen Schicht von Sand bedeckt wird, so sieht man, wie uns Herr Dr. van Wijhe in Neapel aufmerksam machte, dass die Fischchen vielfach, fast senkrecht mit dem Kopfe nach oben, im Sande stehen. In dem beschriebenen Zustande der Ruhe und Unbeweglichkeit konnen die Thiere viele Tage lang verharren. Diesen geringen Leistungen entspricht auch eine grosse Anspruchslosigkeit in ihren Bediirfnissen: man braucht das Wasser nicht einmal tiglich zu wechseln, ohne dass sie darunter sichtbar zu leiden hitten, Ohne eigene Erfahrungen, wie und wovon diese Thiere sich er- nahren, ziehe ich vor, dariiber hier wortlich das einzufiigen, was Joh. Miller berichtet (1. c. 8. 84): ,W&ahrend der ganzen Zeit, dass wir die Thierchen beobachteten, haben wir sie nicht fressen gesehen, gleichwohl gaben sie immerfort Excremente von sich, die in langen Schniiren abgehen. Hieraus, wie aus anderen weiterhin mitzutheilen- 42 Ein Versuch. den Beobachtungen geht hervor, dass sie bloss von Infusorien und an- deren mikroskopischen Thierchen und animalischen Theilchen des Meerwassers leben, welche durch eine schon im Munde beginnende Wimperbewegung ihnen zugefiihrt und weiter bewegt werden.“ Aehn- lich schreibt Dohrn!): ,Durch das Agens der Flimmerbewegung und das Spiel der Cirren vor seinem aus dem Sande hervorstehenden Munde erzeugt er einen Wasserstrom, der ihm Diatomeen, Laryen, Infusorien, kurz Alles, was im Wasser umherschwimmt und klein genug ist, um in die Mundoffnung eingehen zu kénnen, zufiihrt.“ So erscheint das Leben des Amphioxus als eine grosse Monotonie und ebenso monoton sind seine Bewegungen, die immer nur das eine Ziel verfolgen, zu entfliehen, wenn er gereizt wird. Nach Costa ist der Amphiorus gegen Licht empfindlich. §. 3. Hin physiologischer Versuch. Die Morphologie hat den Amphioxus, weil ihm das Gehirn fehlt, von allen iibrigen Wirbelthieren, den Schadelthieren (Cranioten), als Schidellosen (Acranier) abgesondert. Sein Centralnervensystem stellt einen gleichmassigen Strang dar, welcher am Kopfende etwas ab- gestumpft erscheint, indess sich hier der Centralcanal ein wenig er- weitert?) und an die Anlage eines Gehirns erinnert. Wir legen uns die Frage vor: Lasst sich beim Amphioxus ein Punkt nachweisen, welcher allen Bewegungen vorsteht, wie wir beim Frosch und dem Fisch gefunden haben, oder ist das nicht der Fall, d. h. ist hier wie dort ein allgemeines Locomotionscentrum vorhanden oder nicht? Um die Frage zu beantworten, wiirde es nothig sein, am Centralnervensystem des Amphioxus Versuche anzustellen, wie wir sie oben an den Fischen geschildert haben. Solche Versuche verbieten sich hier von selbst. Ich habe deshalb eine Methode in Anwendung 1) Ueber den Ursprung der Wirbelthiere und das Princip des Functions- wechsels. Leipzig, 1875, 8. 51. 2) R. Leuckart und Alex. Pagenstecher, Untersuchungen wtber niedere Seethiere. Miiller’s Archiv, 1858, 8S. 561. Ein Versuch. 43 eebracht, welche gegeniiber dem zarten Objecte etwas roh erscheint, indess ist eine andere nicht ausftihrbar und zudem hat der Erfolg iiber ihre Brauchbarkeit entschieden. Ich nehme einen Amphioxus auf die flache Hand, zerschneide ihn mit einer guten Scheere zuniichst in zwei Stiicke, ein Kopf- und ein Schwanztheil, lege beide Theile in das Wasser zuriick und iiberlasse sie einige Minuten der Erholung: wenn sie jetzt z. B. mit emer Mikroskopirnadel oder durch Beriihrung mit der Pincette gereizt werden, so fiihren beide Theile ganz regelma&ssige Locomotionen aus unter gleichzeitiger Er- haltung des Gleichgewichtes, und beide stets mit dem Kopfende voran. Hort die Bewegung auf, so fallen die Stiicke auf die Breitseite. (Auch hier kommt es, wie oben erwiihnt, beim unver- sehrten Thiere vor, dass die Bewegung mit dem Schwanzende vor- angeht.) Man kann den Amphioxvus auch in drei oder vier Theile zerschneiden: jeder dieser Theile macht unter den angegebenen Be- dingungen die Locomotionen. Ist die Erregbarkeit der Theile be- deutend gesunken, so hat man nur noéthig, sie in Pikrinschwefelsiure von mindestens ein Procent zu werfen, um die Stiickchen die schonsten schlingelnden Bewegungen ausfiihren zu sehen, denen allerdings in absehbarer Zeit ein jiihes Ende bereitet wird. Aber das Verfahren ist werthvoll, um Aufschliisse namentlich auch da zu bringen, wo der tiefe Stand der Erregbarkeit solche uns vorenthalten wiirde. Wir werden von dieser Methode spiter wiederholt Gebrauch machen. Obgleich dieser Versuch unter dieser Fragestellung das erste Mal angestellt worden ist, finde ich zufillig, dass etwas Aehnliches am Amphioxus schon einmal gesehen und beschrieben worden ist, freilich ohne jede Beziehung zu unserem Thema. In der Sitzung der Jenenser medicinisch-naturwissenschaftlichen Gesellschaft vom 10. December 1880 zeigt Hiickel unter Anderem auch junge Amphioxzen und sagt!): ,,Die jungen Amphioxen, von 1 bis 2 em Linge, waren vollkommen durch- sichtig und zeigten ausserordentliche Lebensfihigkeit; die abgerissene hintere Halfte eines Exemplars, aus deren Mitte die nackte Chorda dorsalis mehrere Millimeter weit vorragte, blieb tiber acht Tage am Leben und zeigte nach dieser Zeit (als ,partielles Bion“) noch leb- 1) Jenaische Zeitschrift f. Naturwissenschaften etc. Bd. XIV, 1880. Supple- ment-Heft I, 1881, S. 141. 44 Analyse des Versuches. hafte Bewegungen“. Da die Amphioxen, wie oben bemerkt, nur eine Bewegung, nimlich die Locomotion, kennen, so hat in jenem Falle auch Hiickel schon beobachtet, dass das Schwanzende des Thieres dieselben Bewegungen auszufiihren vermag, wie das ganze Thier sie zu machen pflegt. §. 4. Analyse des Versuches. Der beschriebene Versuch lehrt, dass einzelne Stiicke des Am- phioxus dieselben Locomotionen auszufiihren im Stande sind, wie das ganze Thier, woraus unmittelbar folgt, dass, theoretisch ausgedriickt, jedes Metamer die Function des Gesammtthieres wiederholt oder, was unseren Zwecken am meisten dienen wird: der Leib des Am- phioxus besteht aus lauter gleichwerthigen Metameren, worin implicite angedeutet ist, dass der Amphioxus nicht ein all- gemeines Bewegungscentrum besitzt. Vielmehr verfiigt jede Metamere iiber ein eigenes Bewegungscentrum und die gemeinsame Thatigkeit derselben, welche unter einander in zweckmassiger Verbindung stehen miissen, erzeugt die Locomotion des Gesammtthieres, Man hat den Amphioxus von manchen Seiten ein Riickenmarks- wesen genannt und ich habe diesen Ausdruck seiner Zeit wiederholt'). Nunmehr ist es mir zweifelhaft geworden, ob dieser Ausdruck richtig ist. Steht nimlich der Amphioxus an der Wurzel des Wirbelthier- stammes und sind die Cranioten aus Acraniern gleich oder Ahnlich dem Amphioxus hervorgegangen, so ist das Centralnervensystem des letzteren kein einfaches Riickenmark, sondern ein undifferenzirtes oder einfaches Centralnervensystem, aus dem sich phylogenetisch Gehirn und Riickenmark entwickeln sollen. Das Centralnervensystem der Cranioten wiirde dagegen als ein differenzirtes oder zusammengesetztes zu bezeichnen sein. 1) J. Steiner, Ueber das Centralnervensystem des Haifisches und des Am- phioxus lanceolatus ete. Berichte der Berliner Akademie der Wissenschaften. 1886, I, 8. 498. Viertes Capitel. Das Centralnervensystem der Haifische. are Einleitende Bemerkungen. Wer zum ersten Male das Gehirn des Haifisches sieht, wird mit Vergniigen dasselbe betrachten ob seiner Grosse und seiner giinstigen Lage fiir das Experiment. Aber die Grosse hat ihre Schattenseiten, denn es lassen sich unter diesen Verhaltnissen die projectirten Ab- tragungen der betreffenden Hirntheile, worauf ich grossen Werth lege, nicht in einem Zuge machen. Man miisste demnach ganz junge Fische wihlen, indess geht dies nicht an, weil das Gehirn sehr junger Hai- fische etwas anders configurirt ist, als in spaterer Zeit. Man wahlt am besten den Hundshai (Scylliuwm canicula), der bei 40 bis 50 cm Lange schon ausgewachsen ist — wenigstens lautet so die Angabe der zoologischen Station in Neapel — und ich habe an den vielen Exem- plaren, welche wahrend einiger Monate durch meine Hande gegangen sind, diese Angabe bestatigen konnen. Oder man wihlt, vielleicht mit noch besserem Erfolge, den Katzenhai (Scylliwm catulus) von derselben Lange, der zwar noch nicht ausgewachsen ist, da er die Lange von 11/, Meter erreicht, dessen Gehirn aber um diese Zeit schon iden- tisch ist mit jenem des ausgewachsenen Thieres. Indess ist der Katzenhai etwas seltener. Die Fig. 13 (a. f. 8.) zeigt dem Leser die beiden Haie in ihrer natiirlichen Umgebung. Die Resistenz dieser Haifische, besonders bei Operationen im Centralnervensystem, ist eine ganz beispiellose und _ iibertrifft bei Weitem jene des vielgeriihmten Frosches. Wahrend bei Ausschaltung 46 Haifische. der Circulation das Riickenmark des Frosches in der durchschnittlichen Temperatur von 15 bis 20° C. seine Erregbarkeit schon nach 1/, Stunde einbiisst, behalt das Riickenmark dieser Haifische die ihrige zwei Stunden und dariiber. Am resistentesten ist der Katzenhai, dann kommt der Hundshai. Der Sternhai (Mustelus vulgaris) steht den beiden weit nach; andere Arten habe ich nicht gepriift. Doch weiss Fig. 13, ich vom Dornhai (Acanthias vulgaris), dass er sich im Aquarium nur einige Tage halt, wie der Sternhai, wahrend die Scyllien bis zu einem Jahre und dariiber in den Aquarien aushalten. Bei der knorpeligen Beschaffenheit des Schidels und dem eigen- artigen Integumente, welches sich wie Leder nihen lisst, kann man die oben bei den Knochenfischen geschilderte Methode der Schiidel- offnung und Schliessung etwas abindern. Nachdem, wie oben, kiinst- liche Respiration eingeleitet ist, in welcher die Haifische sich so ruhig Vorderhirn. 47 verhalten wie die Knochenfische, schneidet man mit einem guten Messer direct auf die Mitte des Gehirns und setzt, wenn es sich um Abtragung des Vorderhirns handelt, einen Liingsschnitt von ent- sprechender Ausdehnung. Der Schnitt erdffnet, wihrend er durch die Haut und den Knorpel geht, die Schiidelhohle. In den Schnittcanal leet man zwei geeignete breite Haken ein, durch welche die Wund- rander aus einander gehalten werden, worauf man mit einem passenden Instrumente die Abtragung des Vorderhirns ausfiihrt. Ist dieselbe beendet, so legen sich, nach Entfernung der Haken, die Wundrander an einander, welche man nunmehr durch ein paar Nahte fest vereinigt und die Hirnhéhle vollkommen schliesst. Anfangs setzte ich auf diesen Schnitt noch eine Gelatinekappe (wie bei den Knochenfischen), aber ein so behandelter Haifisch wirft sich, ins Bassin zuriickgebracht, so- fort auf den Riicken und scheuert die Schideldecke so lange auf den Boden, bis die Gelatinekappe geldst ist. Ich liess dieselbe deshalb ganz fort; aber auch ohne diese behandeln sie ihre Kopfwunde nicht selten in gleicher Weise, bis sie allmialig sich in ihr Schicksal finden und dies Treiben aufgeben. Will man Operationen im Zwischen- oder Mittelhirn oder noch weiter hinten ausfiihren, so kommt man mit dieser Art der Eroffnung des Schadels nicht aus, weil man in Folge der zunehmenden Dicke des Schideldaches die Wundrinder nicht weit genug aus einander ziehen kann. Man legt deshalb mit einer festen Scheere hier einen aus Haut und Knorpel bestehenden Deckenlappen an, wie bei den Knochenfischen einen Knochenlappen, der nach hinten mit dem Korper in Verbindung bleibt. Nach Vollendung der Operation muss dieser Lappen sorgfaltig eingeniht werden, was natiirlich keine Schwierigkeit hat, da sich die Haut vorziiglich naht. §. 2. Abtragung des Vorderhirns. Die beiden Figuren 14 und 15 (a. 8. 48 u. 49), nach Originalen gezeichnet, zeigen das Gehirn von den beiden Haifischen Scylliwm catulus und Scylliwm canicula in ihrer natiirlichen Lage im Schidel. 48 Abtragung des Vorderhirns. Die Fig. 16 (a. 5.49) giebt die Bezeichnung der einzelnen Hirn- abschnitte. Wie man sieht, ist das Vorderhirn gegen das Zwischenhirn anatomisch nicht abgegrenzt. Ich habe die Abgrenzung durch die in Fig. 17 (S. 49) sichtbare punktirte Linie vollzogen und in dieser die Ab- tragung des Vorderhirns ausgefiihrt. Dieselbe war so gemacht worden, dass nach Eroffnung des Schidels, wie oben geschildert, ein passendes Messer in der Flucht jener Linie senkrecht in die Hirnmasse bis auf Fig. 14. Kopf mit Gehirn eines erwachsenen Katzenhais von€1!/, m Lange. den Grund -versenkt worden ist. Da das Messer in keinem Falle die seitlichen, im Knorpel steckenden Auswiichse der Bulbi olfactorii erreichen kann, so mag man mit dem stumpfen Haken von oben (siehe Fig. 7, S. 26) jene herausholen, was ohne] Miihe gelingt. Nachdem die abgetragene Hirnmasse aus dem Schidelinneren entfernt und die Abtragung durch directe Betrachtung der Hirnhohle verificirt worden ist, erfolgt durch Naht der Verschluss der Schidelwunde. Vorderhirn. 49 Die Abtragung des Grosshirns wird an eimem Katzenhai von ca. 1/,m Linge ausgefiihrt. Die Fig. 17 zeigt die geschehene Abtragung, der abgetragene Hirntheil ist durch eine punktirte Linie eingeschlossen. Der Fisch wird Hig, tos zuriick in das grosse Bassin zur Beobachtung gebracht, wo man sogleich constatiren kann, dass alle seine Bewegungen ungestort sind und jenen eines unver- sehrten Thieres genau gleichen. Nach eimigen Gingen lisst er sich auf dem Grunde nieder, wo er viele Stunden unbeweglich verharrt; vielleicht auch Tage, denn ich habe ihn ohne dussere Anregung kaum in Bewegung gesehen. Wir haben, analog den Ver- Kopf mit Gehirn eines erwachsenen Suchen an den Knochenfischen, Hundshaies von “/m Lange. weiter zu priifen, wie es bei un- serem Haifische mit der spontanen Nahrungsaufnahme steht. Diese Aufgabe ist hier niemals so einfach und demonstrabel zu losen, wie Fig. 16. Fig. 17. Nasenkapseln. Bulbus olfact. Vorderhirn, Grosshirn. Zwischenhirn, Sehhiigel. Mittelhirn, Lob. opticus. Hinterhirn, Kleinhirn. Nachhirn, Nackenmark. N. vagus. bei den Teleostiern, weil die Haifische, wenigstens alle diejenigen, welche man lebend in Neapel zu Gesichte bekommt, tagsiiber blind Steiner, Centralnervensystem. 4 50 Analyse der Versuche. sind. Ihre Pupille ist namlich auf einen haarfeinen Spalt contra- hirt, durch den kaum Licht in das Auge gelangen kann. In der That sieht man, dass die Haifische am Tage hiiufig an die Winde des Bassins anstossen. Bei Nacht aber offnet sich die Pupille weit, so dass sie, falls nur geniigend Licht vorhanden wire, miissten ganz eut sehen kénnen. Es wurde deshalb der grosshirnlose Hai in ein isolirtes Glasbassin gebracht, welches nachweisbar frei von essbaren Objecten ist, und in dasselbe von Zeit zu Zeit (eine, zwei, drei und mehrere Wochen nach der Operation) sechs todte Sardinen, das Lieb- lingsgericht unserer Haie, versenkt, welche iiber Nacht dort liegen bleiben. Die Sardinen werden nicht genommen! Die Beobachtungen wurden zwei Monate lang verfolgt. In einer anderen Versuchsreihe wurden mit dem oben beschrie- benen, sichelfOrmigen Messerchen beiderseits nur die Verbindungen der Bulbi olfactorii mit-dem Vorderhirn durchschnitten, die Bulbi in der Hirnhodhle belassen und letztere, wie oben berichtet, durch Naht verschlossen. Die resistenten Thiere leben viele Wochen, aber sie machen, wie ihre Genossen ohne Vorderhirn, deren Nachbaren sie sind, so weit man sehen kann, kaum spontane Bewegungen; sie bleiben unbeweet bei dem Eintritt von Sardinen in ihr Bassin und nehmen also ebenfalls spontan keine Sardine! Die Beobachtungen dauern sechs Wochen. Hingegen vermag die einseitige Abtrennung des Bulbus olfac- torius die spontane Nahrungsaufnahme nicht zu storen. Gus: Analyse der Versuche. Vergleichen wir das Resultat der Grosshirnabtragung bei den Haifischen mit jenem, das wir bei den Knochenfischen gefunden haben, so ergiebt sich der wesentliche Unterschied, dass jene ohne Grosshirn spontan keine Nahrung zu sich nehmen. Es wirden somit diese Functionen bei den Haien an das Grosshirn gebunden sein. Dieses Verhalten scheint sie den Amphibien an die Seite zu stellen, wo nach Abtragung des Grosshirns (Frosch) jene Function ebenfalls Zwischenhirn. 5l verloren gegangen war. Diese Gleichheit ist indess nur eine schein- bare, denn bei den Haien ist das Resultat der Grosshirnabtragung identisch mit der einfachen Abtrennung der centralen Riechorgane, bei den Amphibien hingegen stért die Durchschneidung der Geruchs- nerven nichts anderes als das Geruchsvermogen, Willkiir und spontane Nahrungsaufnahme aber bleiben dem Thiere erhalten. Ks legen also fiir die Haifische besondere Verhaltnisse vor, welche sich wesentlich von denen bei den Teleostiern sowohl als von denen bei den Amphi- bien unterscheiden. Wir ziehen es vor, auf diese Verhiltnisse erst im allgemeinen Theile niher einzugehen. §. 4. Abtragung des Zwischenhirns. Um das Zwischenhirn abzutragen, lege ich an dem vorderen Ab- hange des Mittelhirns einen senkrechten, bis auf die Basis reichenden Schnitt an und entferne alles vor diesem Schnitte liegende Mark. Die Fig. 18. Figur 18 zeigt genauer, als die Beschreibung es kann, vo yc was entfernt worden ist. (Dieser, sowie die folgenden ' Versuche betreffen den Hundshai.) Da diese Abtragung die Zerstorung der Nn. optici einschliesst, so miissen solche Thiere blind sein; man hat daher von der Priifung dieses Sinnes von vorn- herein abzusehen. Bringt man einen so operirten Hai- fisch in das Wasser, so schwimmt er vollkommen normal; es ist durchaus keine Storung in seinen Be- wegungen zu sehen. Aber man bemérkt, dass er nach einiger Zeit, die kiirzer zu sein scheint, als bei einem Fische, dessen Vorderhirn allein abgetragen war, sich irgendwo in einer Ecke oder an der Wand feststellt, dort die laingste Zeit stehen bleibt und wenigstens innerhalb der beobachteten Zeit nur auf Reizung zu Bewegungen iibergeht. Weiteres konnte nicht beobachtet werden: Die Stérung ist also nur geringfiigig. 4* 52 Kleinhirn. §. 5. Analyse des Versuches. Die Storungen als Folgen der Zwischenhirnabtragung sind in der That nur gering und bestehen nicht sowohl in Storung der Bewegungen selbst, als in einem Mangel an Antrieb zur Bewegung. Daraus folgt, dass in dem Bewegungsapparat selbst nichts gestort worden ist, son- dern nur in dem zu Bewegungen anregenden Apparate, d. h. da der Wille nicht in Betracht kommt, kann es sich nur um Anregungen handeln, welche yon der Peripherie kommen, indem ohne Zweifel die Beriihrung mit dem bewegten Wasser eine Erregungsquelle darstellt. Daraus wiirde zu folgern sein, dass in dem Zwischenhirn ein Theil der centripetalen Erregungen landet, welche durch die Beriihrung mit dem Wasser erzeugt werden. Das ganze Verhalten dieses Haifisches erinnert an den Frosch mit abgetragenem Zwischenhirn, wenn er sich im Wasser zu bewegen hat. Auch dort keine Bewegungsstorung, son- dern nur Mangel an Anregung zur Bewegung. Einen priicisen Beweis dafiir werden wir bei der Darstellung der Zwangsbewegungen noch zu sehen bekommen. §. 6. Abtragung des Kleinhirns. Der Reihenfolge nach wiirden wir jetzt zur Untersuchung der Functionen des Mittelhirnes zu schreiten haben. Da dasselbe aber bei simmtlichen MHaifischen mehr oder weniger von dem Kleinhirn so iiberragt wird, dass die Abtragung des Mittelhirns kaum ohne Lision des Kleinhirns durchzu- fiihren ist, so miissen wir zunichst die Leistungen des letzteren kennen. Das Resultat dieser Abtragung, welche sich mit Scheere und Pincette ausfiihren lasst, giebt die Fig. 19 wieder. Stérungen sind nach Abtragung des Kleinhirns nicht zur Beobachtung gekommen. Decke des Mittelhirns. 53 Seay Abtragung des Mittelhirns. Wie ein Medianschnitt lehrt, haben wir an dem Mittelhirn des Haies ebenfalls Decke und Basis zu unterscheiden, wenn auch die Hohle hier eine kleinere ist, als bei den Knochenfischen. A. Abtragung der Decke des Mittelhirns. Bei unserem Haifische, Scylliwm canicula, tiberragt das Kleinhirn die Mittelhirndecke nur so weit, dass man ersteres mit dem stumpfen Haken nach riickwarts ziehen kann, um die Decke vollkommen frei zu bekommen. (Bei Mustelus wird man damit nicht auskommen, sondern das Kleinhirn, wenigstens zum Theil, vorher abtragen miissen.) Auf diese Weise hat man die Mittelhirndecke vollkommen zugiinglich gemacht und tragt sie genau, wie bei den Knochenfischen geschildert worden ist, mit der Scheere ab. Die Operation macht hier so wenig Schwierigkeiten wie dort und der Erfolg ist, was zuniichst die Beweg- lichkeit betrifft, ebenfalls der gleiche, wie bei den Teleostiern: Die Be- wegungen bleiben ganz normal. Nun aber wissen wir von den Knochen- fischen, dass die Mittelhirndecke Sehcentrum ist und konnen wohl vyoraussetzen, dass es bei den Knorpelfischen ebenso sein konnte. Auf die Sehfunctionen kann aber bei den Haifischen, wie oben bemerkt worden ist, nur bei Nacht gepriift werden. Ich begab mich daher des Abends zwischen neun und zehn Uhr in das Laboratorium, setzte dort in ein mehrere Meter langes Bassin zwei Haifische, denen die Mittel- hirndecke abgetragen worden war und ebenso zwei unversehrte Hai- fische. Nachdem wir constatirt hatten, dass siimmtliche Fische in gleicher Weise weite Pupillen haben, wurden passende Brettchen in das Bassin so hineingestellt, dass sie gerade auf der Bahn der Be- wegung eines markirten Fisches standen. Ausnahmslos wichen die unversehrten Fische dem Hindernisse aus, wihrend die operirten Thiere dagegen schwammen und hiufig recht heftig anstiessen. Daraus folgt, dass die Mittelhirndecke hier ebenfalls das Seh- centrum enthalt und dass sie keine Function bei der Bewegung besitzt. 54 Basis des Mittelhirns. B. Abtragung der Basis des Mittelhirns. Die Abtragung, welche mit einem passenden Messer der obigen Form (S. 31) ausgefiihrt wird, hat hier keine Schwierigkeiten, weil die Athemnerven gegen die nach hinten gelegenen Kiemenspalten ver- laufen. Nur die eine Schwierigkeit bleibt hier, wie iiberall, bestehen, Fig. 20. dass man namlich leicht asymmetrische Abtragungen wooo, mit ihren Folgen erhalt, wovor man sich nur durch . ° * 4 Uebung einigermaassen schiitzen kann. Die geschehene Abtragung zeigt die Fig. 20. Ist die Abtragung ge- macht, so iiberlasst man den Fisch 1/, bis 1 Stunde der Ruhe. Wenn man ihn nach dieser Zeit wieder- sieht, so liegt er in normaler Stellung auf dem Boden und ganz regelmissig athmend, aber spontane Bewe- gungen macht er niemals. Reizt man ihn nun mecha- nisch durch Druck auf den Schwanz, so macht er ganz gute und regelmiissige Locomotionen in horizon- taler Richtung, nach aufwarts und nach abwiarts. Diese Bewegungen sind vollstiindig quilibrirt, so lange er sich z. B. in der horizontalen Ebene bewegt; sobald er aber die Bewegungsebene wechselt, nament- lich wenn er aufsteigt, verliert er leicht das Gleichgewicht und kommt auf den Riicken zu liegen, Legt man diesen Fisch auf den Riicken, so zeigt er deutlich das Bestreben, sich wieder auf die Bauchseite in seine normale Lage um- zukehren. Wenn es ihm auch nicht in jedem Falle gelingt, die Bauch- seite zu gewinnen, so macht er doch stets alle Anstrengungen, sie zu erreichen; erst die Ermiidung scheint seinen Bestrebungen ein Ziel zu setzen. Dagegen will ich mit Bestimmtheit behaupten, dass das Wasser allein auf seine Bewegungen nicht mehr anregend wirkt, dass er zu Locomotionen nur mehr durch kiinstlichen Reiz zu bewegen ist; ein Verhiltniss, welches bei den Knochenfischen dasselbe ist, hier aber in Folge der giinstigeren Verhiltnisse mit mehr Sicherheit hervortritt. Nach 24 Stunden waren die Erscheinungen die gleichen. oo or ou Nackenmark. 8. 8. Abtragung des vordersten Theiles des Nackenmarkes. Man legt den Schnitt, welcher den vordersten Theil des Nacken- markes abtragen soll, direct durch den hinteren Abhang des Klein- Fig. 21. hirns, ca. 1/. cm hinter dem Beginn des Nackenmarkes, “sso wie es Fig. 21 zeigt. Ist die Durchschneidung ge- lungen, was nicht immer der Fall ist, worauf man naturgemiiss aber alle Sorgfalt zu verwenden hat, so sieht man die Athmung des Fisches ruhig weiter gehen, aber die Bewegungen haben aufgehort. Selbst . auf mechanische Reizung des Schwanzes_ erfolgt keine Locomotion, sondern nur allgemeine Con- traction auf dem Platze ohne Locomotion. Nach 24 Stunden ist das Bild dasselbe geblieben. §. 9. Analyse der Versuche im siebenten und achten Paragraphen. So schwierig es war, bei den Knochenfischen ein allgemeines Bewegungscentrum in Theile zu verlegen, welche hinter dem Mittel- hirn liegen, so deutlich tritt die Thatsache beim Haifisch hervor, dass wir in den vordersten Theil des Nackenmarkes das all- gemeine Bewegungscentrum zu postiren haben. Aber auch weiter kénnen wir folgern, dass dieses Centrum das einzige Loco- motionscentrum des Korpers ist, da die sichtbaren Storungen, welche nach Abtragung des Mittelhirns auftreten, zuriickzufiihren sind auf den Ausfall yon sensiblen Elementen, welche jenem Centrum An- regungen zu Bewegungen tibermitteln. Was diese sensiblen Elemente betrifft, so sind es vor Allem, was hier am Haifisch sehr deutlich hervortritt, die Anregungen, welche durch den Contact des Wassers mit der Hautoberfliiche hervorgerufen werden und welche die nichste Ursache der Schwimmbewegungen 56 ; Rickenmark. darstellen. Die Zerstorung der diese Anregung vermittelnden Elemente macht auch das Schwimmen aufhoren. Weiter sind es aber auch die Muskel- und Gelenkgefiihle, welche tiber das Gleichgewicht des Thieres wachen, deren Centralstation wir in der Mittelhirnbasis zu suchen haben. Indess mit der Einschrinkung, dass es wesentlich die mehr complicirten Faille der Aequilibrirung sind, wie sie bei den Bewegungen in wechselnden Ebenen nothwendig werden, welche ihr Centrum im Mittelhirn finden. Hingegen miissen in den weiter riickwirts gelegenen Theilen, also zunichst im Nackenmarke selbst, Muskelempfindungen landen, da unsere Fische, allein im Besitze des Nackenmarkes, noch aquilibrirt schwimmen, wenigstens so lange sie in einer Ebene schwimmen und das Bestreben zeigen, das Gleichgewicht wieder zu gewinnen, wenn sie es verloren haben. Unverkennbar besteht hier wieder eine grosse Aehnlichkeit mit dem Verhalten beim Frosche!). Hiermit war meine Arbeit beendet, welche sich zunachst nur die Aufgabe gestellt hatte, wie beim Frosche, die Functionen des Gehirns zu studiren. Auch liess der letzte Versuch beim Haifisch nicht ver- muthen, dass in seinem Riickenmarke vom Frosche abweichende Ver- hialtnisse vorhanden wiren. Erst als ich bei Versuchen an der Eidechse auf sehr merkwiirdige Erscheimungen im Verhalten des Riickenmarkes stiess, fiir welche ein Verstiindniss nur durch Unter- suchung des Haifischriickenmarkes zu erwarten stand?), zog ich auch dieses in den Bereich meiner Untersuchungen. §. 10. Das Ruckenmark. Man nehme einen kraftigen, recht lebhaften Haifisch der oben angegebenen Linge, schneide ihm ausserhalb des Wassers mit einem Schnitt, etwa in der Hohe der Brustflossen, den Kopf ab und setze nunmehr den kopflosen Rumpf in das Wasser zuriick, so beobachtet !) Froschhirn, 8. 38. 2) J. Steiner, Ueber das Centralnervensystem der griinen Hidechse nebst weiteren Untersuchungen iiber das des Haifisches. Sitzungsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften, 1886, I, 8. 541. Ruckenmark. 57 man mit nicht geringer Verwunderung, wie dieser Torso anscheinend vollkommen normal und mit hinreichender Aequilibrirung sich durch die Fluthen bewegt. Auf diese Weise durchschwamm er das mehrere Meter lange Bassin und kam erst an der Glaswand zum Stillstand. Umgedreht legte er denselben Weg nochmals in umgekehrter Richtung zuriick u. s. w., ein Experiment, welches man je nach der Vitalitat des Thieres viele Male wiederholen kann, Dieser Grundversuch ist in Neapel an Scylliwm canicula und Mustelus vulgaris Ende Mai und Juni 1886 aufgefunden worden. Auf der Naturforscherversammlung in Berlin habe ich ihn in der Sitzung der physiologischen Section am 23. September 1886 an einem kriiftigen Scyllium catulus machen kénnen, und im Friihling 1887 habe ich ihn in Neapel an einer jungen Squatina vulgaris wiederholt. Wir haben allen Grund anzunehmen, dass man diesen Versuch an allen Haifischarten ausfiihren konne. Derselbe Versuch bekommt eine etwas andere Form, wenn man den Schnitt nur durch die Wirbelsiiule (incl. Ritckenmark) fiihrt und dic klaffende Wunde durch einige Niihte wieder schliesst. Bringt man diesen Fisch in das Wasser, so athmet er vollkommen regelmiissig und bewegt sich anscheinend normal durch die Fluthen, obgleich der Kopf gewissermaassen nur als todte Masse an dem Rumpfe hiingt und ihn in seinen Bewegungen hindert. Wenn man nicht weiss, was mit diesem Fische geschehen war, so wird man ihn bei oberflichlicher Betrachtung fiir einen normalen Fisch halten: so weit kann die Tauschung gehen. Solche Fische sind 24 Stunden am Leben erhalten worden. Es ware hierbei noch zu bemerken, dass die decapitirten Fische entweder hoch oben auf der Oberfliiche schwimmen und, miide geworden, einfach auf den Boden sinken oder aber, dass sie meistens unten am Boden ent- lang sich bewegen. Man sieht nur selten, dass sie im Wasser auf- zusteigen versuchen. . Man kann sich mit der Anlegung dieses Schnittes dem Kopfe so- weit nihern, ohne dass die Locomotion des Rumpfes vernichtet wird, dass in mir Bedenken aufstiegen, ob die obige Angabe tiber das Ver- schwinden der Locomotion nach Abtragung des vordersten Theiles des Nackenmarkes wirklich dem Sachverhalt entspricht, oder ob ich nicht vielleicht dort das Opfer einer Tiuschung geworden war. Da man sich aber bei Beurtheilung der Region des Centralnervensystems obne 58 Analyse der Versuche. Blosslegung desselben leicht tiuscht, so machte ich eine Reihe von Versuchen, in denen nach Blosslegung vom Nackenmark und an- grenzendem Riickenmark in dieser Gegend Schnitte angelegt wurden, um den Sachverhalt genau zu priifen. Es zeigte sich die Richtigkeit meiner friiheren Beobachtung und die Sache ist die, dass, wenn man sich mit den Schnitten vom Riickenmark her dem Nackenmark nihert, Locomotionen sicher noch von dem Rumpfe gemacht werden, so lange die Querschnitte sich unterhalb des Vagusaustrittes aus dem Nacken- marke halten. Gelangt man mit den Schnitten iiber die Austritts- stelle dieses Nerven, so verschwindet die Locomotion (der Vagus als solcher hat mit der Sache natiirlich nichts zu thun, er bietet sich nur bequem zur Grenzbestimmung dar) und um so sicherer, je mehr man sich davon nach dem Kopfende hin entfernt hat. Es ist also innerhalb des Nackenmarkes eine Zone vorhanden, welche sich etwa durch den Vagusursprung abgrenzt, innerhalb deren Schnitte durch seine ganze Breite die Locomotion aufheben. Die Locomotion beginnt aber wieder, wenn man sich mit den Schnitten dem Riickenmark nithernd den Vagusursprung erreicht oder iiberschritten hat. Schneidet man endlich den Haifisch glattweg in zwei Theile, so macht, wie wohl vorauszusetzen war, der Schwanz in gleicher Weise Locomotionen, wie der Rumpf. Besonders sei hier hervorzuheben, dass die Locomotionen des geképften Haifisches- mit vollstindiger Aequili- brirung geschehen und man deutlich beobachten kann, wie er stets das Gleichgewicht der Lage sucht und findet, wenn er es durch An- stossen an die Wand oder dergleichen Zufiille verloren hat. Saeiile Analyse der Versuche. Nachdem wir oben den Nachweis geliefert zu haben glaubten, dass die Haifische ebenso wie die Knochenfische nur ein allgemeines Be- wegungscentrum besitzen, finden wir jetzt, dass neben jenem Locomo- tionscentrum auch im Riickenmarke der Haifische zweifellos eine ganze Reihe von Locomotionscentren vorhanden sind, ja dass wahrscheinlich sogar jede Metamere des Riickenmarkes mit einem Locomotionscentrum ausgestattet ist, Jos Analyse der Versuche. 59 Wenn auf der einen Seite an dieser klaren Thatsache nicht zu rithren ist, so kénnen wir auf der anderen Seite sehr wohl fragen, ob die locomobilen!) Elemente des Riickenmarkes, wenn sie mit dem all- gemeinen Bewegungscentrum des Gehirns organisch verbunden sind, zu selbstiindiger Aeusserung dieser ihrer Fahigkeit herangezogen werden oder ob sie nur Unterthanendienste zu leisten haben, jener fiihrenden Metamere des Gehirns; d. h. sind die beiden Bewegungsapparate, mit denen wir es zweifellos hier zu thun haben, einander coordinirt oder ist der eine dem anderen subordinirt. Wir werden beweisen, dass das Riickenmark dem Gehirn subordinirt ist und dass die locomobilen Leistungen des Riickenmarkes, so lange es mit dem Gehirn verbunden ist, physiologisch nicht in Betracht kommen. Schon die Thatsache, dass nach Abtrennung des vordersten Nackenmarkendes das Riickenmark immobil wird, lehrt seime Ab- hingigkeit vom Gehirn, und es sind unter normalen Verhiltnissen allein die dem Riickenmarke vom Gehirn zugetragenen Erregungen, welche die locomobile Thitigkeit jenes Theiles regeln. Diese Erre- gungen werden durch den mechanischen Reiz des Schnittes ersetzt, wenn wir die locomobile Thitigkeit auf Schnitt anscheimend spontan hervorbrechen sehen. Jene Zone des Nackenmarkes aber, deren Durchschneidung keinerlei Locomotion giebt, enthalt offenbar eine oder mehrere Metameren, welche ihre locomobilen Fahigkeiten ganz verloren resp. an das allgemeine Bewegungscentrum abgegeben haben, ihnlich wie es im Riickenmarke der Knochenfische und des Frosches siimmtliche Metameren gethan resp. erlitten haben. Die Abhangigkeit der Bewegungen des Riickenmarkes von dem Gehirn tritt noch auf- fallender dann hervor, wenn wir dem Haifische eine von der geraden Linie abweichende, namlich eine krummlinige Bewegung vorschreiben und wir dann sehen, dass das Riickenmark diese Bewegung fortsetzt, selbst, nachdem wir ihm jene Erregungsquelle durch Kopfung des Thieres genommen haben. Die ausfiihrlichen Versuche dieser Art werden spiiter folgen. Hier nur so viel, dass dieser Versuch das be- weist, was wir oben aufgestellt haben, dass das Riickenmark dem Ge- 1) Um einen kurzen Ausdruck zu haben, wollen wir die Fahigkeit der Loco- motion mit ,Locomobilitat’ und das zugehérige Adjectivum mit ,locomobil* be- zeichnen. 60 Analyse der Versuche. hirn subordinirt ist, woraus ganz direct die Existenz des allgemeinen Locomotionscentrums im Gehirn sich, ableitet. Diese subordinirte Stellung gegenittber dem Gehirn verurtheilt die Locomobilitit des Riickenmarkes zu kiinftigem Untergange. Davon ganz unabhingig ist eine andere Folgerung, welche aus unserer Theorie iiber die Erhaltung des Gleichgewichtes fliesst: Weiss naimlich der Rumpf des Haifisches, wenn er ohne die Fiihrung des Kopfes seine Schwimmbewegungen macht, dieselben im Gleichgewicht auszufiihren, so miissen im Riickenmarke auch die der Aequilibrirung dienenden Muskel- und Gelenkempfindungen ihre Centralstation finden. Es ist jetzt an der Zeit, die Frage zu erodrtern, welche Ver- vollkommnung in der Organisation mit dem Auftreten des allgemeinen Bewegungscentrums erreicht wird. Entsprechende Beobachtungen fiihren zu der Ansicht, dass die Thiere mit allgemeinem Bewegungs- centrum in allen Ebenen sich bewegen und die Bewegungsebene mit Leichtigkeit zu wechseln vermogen, wiihrend Thiere ohne jenes Centrum die Bewegung in ein und derselben Ebene bevorzugen und der Uebergang in andere Ebenen ihnen erschwert zu sein scheint, obgleich derselbe nicht vollkommen ausgeschlossen ist. Jenes ist bei jedem normalen Wirbelthiere zu sehen, dieses beobachtet man _ bei Amphioxus und geképften Haien (Weiteres s. S. 92 und 93). Finftes Capitel. Das Riieckenmark der Rochen. Die nahe Verwandtschaft, in welcher Haie und Rochen zu einander stehen (die Morphologie hat sie bekanntlich zu der Gruppe der Plagiostomen vereinigt), musste den Wunsch rege machen, auch das Nervensystem der Rochen zu priifen. Aus Griinden, die spiiter hervor- treten werden, kniipft sich das wesentliche Interesse bei den Rochen an das Verhalten des Riickenmarkes, um so mehr, als man bei der — zum Verwechseln grossen Aehnlichkeit des Gehirns der Haie und Rochen fiir das Gehirn beider Classen gleiche Function voraussetzen kann, ; Daher ging ich, nach einigen mehr gelegentlich am Gehirn an- gestellten Versuchen, welche, wie vorausgesetzt, nichts Neues lehrten, sogleich zur Untersuchung des Riickenmarkes iiber. Von den Rochen, welche mir in Neapel zu Gebote standen, wihlte ich den Zitterrochen (Torpedo oculata), obgleich die Entladung seiner Organe dem Experi- mentator manche Unbequemlichkeiten verursacht. Indess lernt man rasch, diesen aus dem Wege zu gehen, wihrend man dagegen die grosse Annehmlichkeit eintauscht, einen Fisch zu haben, der gegen operative Kingriffe sehr resistent ist und dessen Haut sich gut einschneidet und naht. Es handelt sich also um einen Versuch, der nur bezweckt, das Riickenmark vom Gehirn zu trennen. Diesen Versuch so anzustellen, wie beim Haifisch, nimlich den Rochen einfach zu decapitiren, hielt ich nicht fiir gerathen, weil man dabei die hauptsachlichsten Muskeln, welche der Locomotion dienen, quer durchschneiden wiirde. Nur die 62 Rickenmark der Rochen. Durchschneidung der Wirbelsiule in irgend einer Hohe zu machen, was ja immer am bequemsten ist, war bedenklich, wenn man den Verlauf der Riickenmarksnerven nicht genau kennt, welcher in Folge der eigenthiimlichen Korperform und besonders wegen der Lage der elektrischen Organe vom gewodhnlichen Modus etwas abweichen kann. Ich habe deshalb den ganzen Plexus brachialis priparirt und mich iiberzeugt, dass die Durchschneidung nur hoch oben unmittelbar am Nackenmarke gemacht werden muss, wenn nicht die obersten Spinalnerven unter der Botmiissigkeit des Nackenmarkes, d. h. des allgemeinen Bewegungscentrums, verbleiben sollen. In solchem Falle wiirde der Versuch falsch sein. Bei einer frischen Torpedo eréffne ich den Wirbelcanal und trenne das Riickenmark vom Gehirn genau oberhalb des ersten Spinalnerven. Die Wunde wird durch Naht der Haut gut geschlossen und der Fisch in’s Wasser gesetzt: er athmet ganz regelmissig und macht auf Reiz Schwimmbewegungen. So operirte Rochen befanden sich nach drei Wochen noch sehr wohl, worauf die Beobachtung, als ohne weiteres Interesse, aufgegeben wurde. Zu den Schwimmbewegungen ist Zweierlei zu bemerken: 1. Die Rochen ohne Gehirn schwimmen niemals so andauernd und so aus- giebig wie die Haie, und 2. sie halten sich wihrend des Schwimmens wesentlich auf dem Boden. Was den ersten Punkt anbetrifft, so mache ich darauf aufmerksam, dass auch -die unversehrten Rochen - keine Schwimmer sind von der Gewaltigkeit, wie die Haifische. Was -den zweiten Punkt anbetrifft, so haben wir dieselbe Erscheinung auch schon bei den Haifischen besonders angemerkt. Alles dies ist augenblicklich hier belanglos; worauf allein es an- kommt, ist, dass das Riickenmark der Rochen volle Loco- mobilitét besitzt. Sechstes Capitel. Das Riickenmark der Ganoiden. Wenn ich mich hier vorliufig auf die Untersuchung des Riicken- markes beschrinke, so geschieht das aus mehreren Griinden. Zunichst, und das ist der wesentlichste Grund, kénnen wir mit Zuversicht vor- aussetzen, dass das Gehirn der Ganoiden sich principiell in seinen Functionen dem Gehirn der Selachier und Teleostier anschliessen wird. Nur das Verhalten des Grosshirns kann zweifelhaft sein und hier miissen specielle Untersuchungen gemacht werden, aber die Er- érterung der phylogenetischen Entwickelung dieses Hirntheiles wird in einer spateren Abtheilung erfolgen, wohin ich deshalb auch die Unter- suchtng des Grosshirns der Ganoiden yerlegt habe. Das musste um so mehr geschehen, als die Beschaffung des Materials seine besonderen Schwierigkeiten hat. Selbstverstiindlich kann es sich fiir uns nur um Knorpelganoiden handeln, da die Knochenganoiden in Europa gar nicht vorkommen. Was jene betrifft, so sind es besonders der eigentliche Stér (Acipenser sturio) und der Sterlett (Acipenser ruthenus), welche fiir uns in Be- tracht kommen. Der erstere, welcher eine Linge von 3m erreicht, lebt im ganzen Atlantischen Meere, im Mittelmeere, in der Nord- und Ostsee, von wo er zur Laichzeit in die Fliisse aufsteigt. Der Sterlett, von 1m Lange, gehdrt ausschliesslich dem Gebiete des Schwarzen und Kaspischen Meeres an; er steigt von dort auch in die Donau auf, so dass einzelne Exemplare bei Wien und selbst Regensburg gefangen werden. 64 Ruckenmark der Ganoiden. Da im Bereiche der zoologischen Station von Neapel leider keine Store vorkommen (nur im Gebiete des Adriatischen |Meeres werden Ende Mai und Juni einige gefangen), so wandte ich mich nach Ham- burg, wo, wie eingezogene Erkundigungen ergeben hatten, in den Mo- naten Mai bis August taglich 50 und mehr grosser Store lebend auf den Markt kommen. In der Pfingstwoche dieses Jahres sah ich denn an der Stérhalle von Hamburg diese Riesen von 2 bis 3 m landen: Wie sie dann weiter entblutet und durch Schlag auf den Schidel ge- todtet werden, wie man ihnen die Bauchhohle aufschneidet, um die Ovarien behufs der Caviargewinnung zu entnehmen und sie endlich zur Raucherung anatomisch zerlegt wurden. Da war reichlich Mate- rial, um sich iiber die einschliigigen anatomischen Verhiltnisse zu orientiren, aber physiologische Versuche lassen sich an diesen Riesen aus leicht ersichtlichen Griinden nicht machen. Um kleinere Stére bis zu 1/, m zu bekommen, bedarf es der Er- laubniss der Regierung, welche mit Sorgfalt die Schonung der jungen Thiere itiberwacht. Nachdem dieselbe eingeholt war, erhielt ich einige kleinere Exemplare von ca, 30 bis 50 cm, an denen ich nur die Frage zu entscheiden hatte, ob das Riickenmark Locomobilitat besitzt und sich verhalt, wie jenes der Selachier oder ob es sie verloren hat gleich dem der Teleostier. Bei kiinstlicher Respiration durchschneide ich dem Stor hinter den Brustflossen durch die ganze Dicke der Muskulatur hindurch das Riickenmark, ohne die Leibeshéhle zu erdffnen, nahe mit Faden die Wunde wieder zu und setze den Fisch, dessen Kopf an dem Rumpfe nunmehr nur noch als todte Masse hiingt, ins Wasser: er athmet ganz regelmissig und macht vollstindige Locomotionen, mit denen er sich aber wesentlich auf dem Boden hilt und nur wenig in die Hohe aufsteigt. Waihrend er sich bewegt, erhalt er sein Gleichgewicht, aber wenn er zur Ruhe kommt, fallt er leicht auf die Seite und bleibt haufig in dieser Lage legen. Nachdem der Fisch in diesem Zustande zwei Tage gelebt hatte, holte ich ihn aus dem Wasser und schnitt nunmehr, um den vyollen objectiven Beweis zu liefern (obgleich ich keinen Zweifel hatte), den Kopf vollig vom Rumpfe: der Torso machte dieselben Loco- motionen. Ganoiden. 6 Ou Wir- sehen demnach: Das Riickenmark des _ Stoéres besitzt die gleiche Locomobilitait, wie jenes der Selachier}). 1) Ich nehme hier gern Gelegenheit, dem Director des naturhistor. Museums zu Hamburg, Hrn. Prof. Al. Pagenstecher, auf dessen Institut die geschilderten Versuche ausgefiihrt wurden, fiir die Aufuahme in dasselbe meinen verbind- lichsten Dank zu sagen. Ebenso dem Assistenten des Instituts, Hrn. Dr. v. Brunn, der mich mit Unermiidlichkeit in meinen Bestrebungen unterstiitzte, Steiner, Centralnervensystem. 5 Siebentes Capitel. Das Ritickenmark der Petromyzonten. Von den Petromyzonten (Neunaugen) habe ich untersuchen konnen 1. Ammocoetes branchialis (Querder), die Larve von Petromyzon Planeri; 2. Petromyzon Planeri selbst und 3. Petromyzon fluviatilis. Jene beiden stammten aus der Murg bei Gernsbach im Schwarzwalde!), dieses aus dem Neckar, welcher uns in dem protrahirten Herbste des vorigen Jahres reichlicher Neunaugen bot, als in irgend einem anderen Jahre. Bevor ich in die Schilderung meiner Versuche eintrete, mochte ich einige auf eigener Beobachtung fussende biologische Notizen vor- aussenden, weil wir sie spiiter brauchen werden. Diese Daten sind theilweise schon bekannt, in einigen Fallen aber ist ihre Richtigkeit bestritten worden. Shale Biologische Notizen. Man brachte mir einen Eimer, dessen Boden bis zu halber Hohe etwa mit Sand bedeckt war, tiber welchem einige Centimeter hoch Wasser stand mit dem Bemerken, dass in diesem Gefiisse die gesuchten Fische sich hefainden. Es herrschte idyllische Ruhe in dem Gefass, welche durch keinerlei Thier gestort wurde. Als ich aber mit der 1) Ich moéchte diese Gelegenheit benutzen, um Hrn. Gewerbelehrer Zimmer- mann in Gernsbach meinen verbindlichsten Dank auszudriicken fiir seine freund- lichen Bemiihungen um die Beschaffung dieser Fische. Neunaugen. 67 ganzen Hand durch den Sand fahrend denselben aufwiihlte, da he- lebte sich die Scene und in rascher, schlingelnder Bewegung huschten kleine Fischchen durch das Wasser, um bald wieder in dem Sande zu verschwinden oder platt auf demselben liegen zu bleiben. Man sieht Fischchen von 6 bis 15 und 12 bis 15 cm Linge; die ersteren sind die Ammocoetes, die letzteren die geschlechtsreifen Petromyzonten, woraus man ersehen kann, dass Larven vorkommen, welche grdsser sind, als die entwickelten Thiere; eine Thatsache, welche der grdsste Kenner der Neunaugen, Aug. Miiller, ebenfalls schon beobachtet hat: ,,Die Querder sind nicht selten grésser, als die Neunaugen“ !). Wenn so die beiden Thiere nicht durch ihre Linge unterschieden werden kdnnen, so besitzen sie doch anderweitige Charaktere, welche ihre genaue Bestimmung und Unterscheidung modglich machen: Jene haben eine gelbliche Farbe und sind augenlos, diese haben den bliu- lich schimmernden Metallglanz und besitzen deutliche Augen. Vor Allem besitzen die Querder aber noch keinen Saugmund, wahrend wir denselben bei den Petromyzonten schon vorfinden. Daher kénnen sich die Larven, wie auch v. Siebold gegen Rathke hervorhebt, niemals ansaugen und die oft an ihren Kiemen beobachtete rothe Farbe kann nicht vom Blute der Thiere herrithren, an welche sie sich sollten an- gesaugt haben. Was den Saugmund von Petromyzon Planeri betrifit, so scheint mir das Thier wenig oder-gar keinen Gebrauch davon ge- macht zu haben: ich habe wenigstens niemals gesehen, dass es sich so regelmassig, wie das Flussneunauge, an feste Gegenstiinde ansaugt; im Gegentheil, es hegt im Sande vergraben oder ruht mit semer Breit- seite auf demselben. Um mich indess von der Leistungsfahigkeit des Saugmundes zu tiberzeugen, driickte ich das Neunauge mit dem Munde gegen die Glaswand und sah es an derselben haften. Aber nicht lange und bald liess es die Wand fahren und wandte sich wieder dem Sande zu. Was weiter die Querder betrifft, welche ich 14 Tage lang in meinem Bassin beobachtet habe, so miisste ich iiber ihre Lebensweise eigentlich das wiederholen, was schon beim Amphioxus gesagt worden ist: so sehr sind sie darin einander gleich. Beide machen schlangelnde 1) Aug. Miller, Ueber die Entwickelung der Neunaugen. Vorlaufige Mit- theilung. Joh. Miller’s Archiv, 1856, 8. 334. 5* 68 Neunaugen. Bewegungen, mit denen sie sich eiligst in den Sand einbohren; der Ammocoetes sogar so tief, dass weder Kopf- noch Schwanzende hervor- guckt, wie beim Amphioxus. Ist kein Sand in dem Gefiiss vorhanden oder gelingt es dem Ammococtes nicht, sich einzubohren, so legt er sich, wie der Amphioxus, auf die Seite, eine Lage, welche fiir ihn, wie fiir den Amphioxus auch, eine zweite Gleichgewichtslage bildet. Ich habe ferner, wie beim Amphioxus, im meinem an