DIE FUNCTIONEN DES CENTRALNERVENSYSTEMS EE LOG Bes) EB VIERTE ABTHEILUNG (SCHLUSS) REPTILIEN, RUCKENMARKSREFLEXE, VERMISCHTES — = - a. \ ; Se : Abbildungen aus dem xylographischen Atelier von Friedrich Vieweg und Soh: in Braunschweig DIE FUNCTIONEN DES CENTRALNERVENSYSTEMS UND IHRE PEYReGHNE Si VON PROF. Dr. wep. J. STEINER VIERTE ABTHEILUNG (SCHLUSS) REPTILIEN, RUCKENMARKSREFLEXE, VERMISCHTES MIT 10 EINGEDRUCKTEN ABBILDUNGEN UND EINER TAFEL BRAUNSCHWEIG DRUCK UND VERLAG VON FRIEDRICH VIEWEG UND SOHN OD Alle Rechte, namentlich dasjenige der Uebersetzung ‘ vorbehalten Ts! 5 ae i Kinleitung.. Erstes Capitel: Das Centralnervensystem der griinen Hidechse. . . LF SF- SS SI SS. SP2 S72 LP2ST2 SP2 SP2 S22 ST2 SP Bee ee BOVE SOON STR wd ATenanner aes: QPMiPMeretts sy ao aw ys lee bes ere ew aoe McremGne Gass GTORSN IHS is: 6 woe wso ele « fe ee es ones (Amalyher der, VEusuChOy cre. ai oboe se ea) Aipteamune Cex: AWIsOMONNIENg: fof ok sm el Se wees BS) 6 ae Abirarune.des Mittelirns . 2 .s-.. . . © Abtragung der Decke des Mittelhirns aa Pee Abtragung desscanzenMitielhirms ))20 6 0.1.2. - Analyse der Versuche in den 38. 6 und 7 BDerso une des Kleinhirns. . Cy Os ee ee CA ek ta a Oe Om ere) Cr ey @ye.8)) e- 8) 6, 30) te. Vay 6) re (ele e ee Be meokeaiaen, zu dem Vorausgehenden.. . Beobachtungen am Riickenmark . INTIRLVOGa OCS VEENIOMOS): ©.) \.<.450 at ull ire 2s coh od ene vik eo orem es Kinseitige Abtragungen im Centralnervensystem ..-..... Aves G TOSS Hie tigmntes waved ey ia hale! ab vone’ah ie) shies fectogh oe subarea = Bip A WisGhennirny ccs, soca s-4) Ov aus Reds se) ate tn peng eee = Gh. Mirtitellitimigrerc! sh tse ays oP caress srt tint ee te. Sh encons a) Moe Dee Wlenminizrte: taf etre. 2 see oto, tants cdl op hom cee Cat ho, cee Spee Vo ehabonmdics Ahem Gall O LOG cme onmou! b Sudo. clo G clkC Zweites Capitel: Ueber die Reflexbewegungen des Riickenmarkes . eeeleee HISChG? «ye Hos 4 Er OR ace ek ee oe xe rts Roper een ACID NTTOH Ss ap teuect Mer is, cero vit «sede 4aeeet'ss Mote are re ee rere er PC CCH SON ceria ca a ely heey Sheol VII ers mi wale. et ie avon Sep ace OC mms SEOLMErUNOeM a eiys Us se non Sage cone Pe end §. 5. Vom Riickenmark der Saugethiere und der Vogel Drittes Gapitel: Aur Kritik und Abwehr is. 5... 1. « «5% 3 Wiertes Capitel:. Ohr und Gleichgzewicht: .: ..)..-..ss'.-: Fiinftes Capitel: Phylogenetische Betrachtungen und Schluss EKinleituneg. Das Studium der Functionen des Centralnervensystems der Reptilien ist wohl deshalb bisher zuriickgeblieben, weil Reptilien bei uns nur wenig zu haben sind. Von den drei grossen Gruppen sind die Schlangen an und fiir sich schon zum Versuche wenig geeignet, da ihre geistigen Functionen keine erheblichen und ihre Bewegungen sehr monoton sind; 4hnlich steht es mit den Schildkrdten. Die Kidechsen sind im Gegentheil bei gentigender Wiirme ausserordentlich lebhaft und zeigen eine Fille von Bewegungen, die der Beobachtung zahlreiche Angriffspunkte bieten. Aber unsere hiesigen Eidechsen, sowohl Lacerta viridis, wie L. muralis, pflegen keine ansehnliche Grésse zu erreichen und ihr Gehirn ist sO winzig, dass man sie zu ersten Studien kaum mit Vortheil wird verwenden kénnen. Nach Verabredung mit meinem Freunde B. Grassi, seiner Zeit in Catania, hatte ich mich im April 1886 dorthin begeben, um an der griinen Kidechse Versuche iiber deren Centralnervensystem zu machen. Es handelt sich um eine prachtvoll smaragdgriine Eidechse mit dunkel- blauem Unterkiefer (L. viridis) von etwa 0,42 m Linge, die in der »Pianura di Catania“ zu Hause ist, welch letztere aber gleichzeitig Hauptherd der schweren Malariaformen ist. Abgesehen von dieser frag- wirdigen Zugabe kann man Wochen und Monate in Catania verweilen, ohne auch nur eine einzige jener Eidechsen zu Gesicht zu bekommen, wenn man die Leute nicht kennt resp. ausfindig macht, welche den Fang dieser Eidechsen verstehen und betreiben. So habe ich in den Monaten April und Mai gen. Jahres etwa 150 Eidechsen erhalten und bearbeitet. Das Resultat dieser Arbeit hatte ich in Kiirze der Kénigl. Akademie der Wissenschaften in Berlin mitgetheilt, in der sie am 24. Juni verlesen worden waren 1). 1) J. Steiner, Ueber das Centralnervensystem der griinen Eidechse, nebst weiteren Untersuchungen tiber das des Haifisches. Sitzungsberichte der Koénigl. Preuss. Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Vorgelegt von Herrn E. du Bois-Reymond am 24. Juni 1886. 8S. 539 bis 543. Steiner, Centralnervensystem. IV. 1 2 Kinleitung. Als Arbeitsstatte konnte ich die Riiume des zoologischen Labora- toriums der Universitat Catania benutzen, das zu jener Zeit der Leitung von Grassi unterstand, dem ich dafiir, sowie fiir viele andere Gefiallig- keiten stets Dank wissen werde. Die Eidechsen wurden im Laboratorium in kleinen Kafigen ge- halten, deren Winde aus einem dichten Drahtgitter bestanden. Solcher Kifige muss man eine Anzahl besitzen, weil die operirten Thiere nur in geringer Zahl, nach der Grosse meiner Kifige, etwa nur zu zweien zusammengesetzt wurden, damit sie sich nicht gegenseitig anstossen und belastigen, wodurch das Resultat leicht beeintrachtigt wird, wie ich dies friiher beim Frosch schon besonders hervorgehoben habe. Um die Eidechsen zu fassen, bediente ich mich einer gerade vor- handenen Metallzange mit langen Armen, mit der man das Thier am besten am Rumpf mit nicht zu starkem Drucke fasst und an den gewiinschten Ort iibertragt. Hier diente diesem Zwecke eine gewohn- liche Glasglocke, die auf einem Teller stand und die mit Aetherdimpfen erfiillt wurde, um das Thier leicht zu itherisiren. Es hat sich nach kurzer Zeit dieses Verfahren sehr zweckmissig erwiesen, weil das Operiren das unbetaubte, sich heftig straiubende Thier viel mehr schidigte, als es das bisschen Aether thun konnte. War die Bet&iubung eingetreten, was sehr rasch folgte, so konnte ohne jede Assistenz operirt werden: Mit einer kleinen Knochenzange wurde die Schiideldecke abgehoben, mit einem kleinen Schwimmchen etwaige leichte Blutungen gestillt und nunmehr der betreffende Hirn- theil abgetragen. War die Operation beendet, so wurde die Schidel- decke in die Liicke wieder eingefiigt, wo sie gewohnlich hinreichend fest hielt. Die ganze Operation konnte in der Regel beendet werden, bevor der Aetherrausch voriiber war. Das operirte Thier kam in seinen Kafig und wurde dort ungestort, wenigstens fiir 24 Stunden, sich selbst tiberlassen. Die Abbildungen der Eidechsenhirne sind in natiirlicher Grdsse nach von mir angefertigten Praparaten ausgefiihrt und zwar stets in ihrer Lage im Schadel gedacht. Die Tafel zeigt unsere Eidechse in halber natiirlicher Grésse (aus Griinden des Formates) und in der Stellung mit erhobenem Kopfe und Schwanze, wie sie grosse Spriinge zu machen pflegt. 9 Tafel zu Seite Erstes Capitel. Das Centralnervensystem der griinen Hidechse (L. viridis). el. Anatomie des Gehirns. Wenn man das Gehirn der griinen Eidechse von oben her be- trachtet, wie es in der Fig. 1 gezeichnet ist, so wird man finden, dass es grosse Aehnlichkeit mit jenem unserer Siisswasserfische hat, z. B. mit Squalius cephalus. Man vergleiche die entsprechende Figur aus Hiocele Kleinhirn Mittelhirn x A ‘ ! ' ' \ I 1 i} ' ' ! 1 | 1 1 1 1 1 Y V Nackenmark Vorderhirn Riechnerv Fig. 2. der Abtheilung ,,Fische“, S. 14, die ich hier daneben gesetzt habe, um zu sehen, dass dort ebenfalls nach eimander vorhanden sind: Riechnerven, Grosshirn, Mittelhirn, Kleinhirn und Nachhirn. Indess ile 4 Gehirn der Eidechse. fallt doch schon auf, dass das Grosshirn erheblich grosser ist, als das Mittelhirn, welches bei den Fischen auffallend gross ist, und meist ist das Kleinhirn bei der Eidechse sehr klein, fast so klein, wie bei den Amphibien (Frosch), wiihrend dieser Hirntheil bei den Fischen gerade ausserordentlich entwickelt ist. Wie gross in Wahrheit aber der Unterschied zwischen dem Gehirn der Eidechse und dem der niederen Thierclassen, den Amphibien und Fischen, sich darstellt, kann man erst sehen, wenn man das Gehirn im Profil oder in einem sagittalen Durchschnitt betrachtet. Ein Fig. 3. solcher Durchschnitt ist in Fig. 3 Hinterhirn Mittelhirn Vorderhirn Riechnery gezeichnet. ¥. ‘ i es Hier kann man vor allen Dingen sehen, dass der Eidechse ein Hirntheil mehr zukommt als dem Fischgehirn; dass der dort fehlende Thalamus opticus, der beim Frosche auftritt, bei der Eidechse von dem stirker ent- wickelten Grosshirne nunmehr so Y y iiberwuchert ist, dass man den- Nackenmark Zwischenhirn selben bei der Ansicht von oben nicht mehr zu sehen bekommt, ihnlich wie bei den noch hoher stehenden Gruppen, den Végeln und Siugethieren; dass man diesen Thalamus bei der Eidechse nur zu sehen bekommt, wenn man das Grosshirn entfernt oder wenn man diese Profilansicht betrachtet. Hiermit beginnt zugleich die Uebereinanderschiebung der einzelnen Hirntheile, durch welche das Gehirn der hoheren Vertebraten sich so sehr verwickelt. Endlich sehen wir bei seitlicher Ansicht des Lacertengehirnes im Grosshirn einen kleinen Einschnitt, welcher lebhaft an die Fossa Sylyu der Saugethiere erinnert (freilich mit entgegengesetzter Richtung). Ob es sich in der That um den Vorlaufer jener grossen Furche handelt, weiss ich nicht zu sagen. Was die Bewegungen der Eidechse anbetrifft, so médchte ich hier daran erinnern, dass sie bei geniigend hoher Temperatur nach dem Typus der Vierfiissler ausserordentlich rasch laufen, so dass es nur schwer gelingt, sie einzufangen. Weiter aber pflegen sie eine senk- rechte Mauer rasch in die Hohe zu laufen und andererseits aus be- deutender Hohe herunter zu springen, wobei Kopf und Schwanz erhoben und nach der Mitte des Riickens zuriickgebeugt werden. Hat man eine Eidechse in der Gefangenschaft vor sich, so kann man in dem lebhaften Auge die Aufmerksamkeit sehen, die sie den ‘ 1 ' ' 1 1 ' 1 1 f t L i 2 ¥ 1 i r L 4 ! ‘ ‘ ' ' A 1 v t 1% 1 t ‘ 1 i Abtragung des Grosshirns. 5 umgebenden Geschehnissen schenkt; bedroht man sie durch Geberden und Handbewegungen, so pflegt sie unter Augenzwinkern regelmissig zu entfliehen. Dies ist ein Verhiltniss, wie man es bei dem hoéher stehenden Vogel regelmissig findet, wiihrend der niedriger stehende Frosch, selbst bei wirmerer Temperatur, noch recht triage ist und auf die einfachen Reize, welche seine Netzhaut treffen, aus seinem Phlegma nur schwer aufzuriitteln ist. Beobachtungen in dieser Richtung fallen daher bei der Eidechse viel giinstiger aus. Man fiittert die Eidechsen zweckmissig mit blatta orientalis. §. 2. Abtragung des Grosshirns. Wenn man die Decke des Schidels abtriigt, so thut man gut, wie ich es bei den Fischen gethan habe, nach hinten die Verbindung nicht aufzuheben, sondern die Decke zu erheben und nach hinten iiber- zuklappen, weil man so relativ bequem die Decke in den Schidel wieder einpflanzen kann. Man trifft zunichst auf eine feine Hirnhaut, welche vorsichtig abzuldsen ist. Hierauf erfolgt die Abtragung des Vorderhirns, welche vorsichtig gemacht werden muss, weil unter dem- selben noch der Sebhiigel liegt. Ich habe die Vorderhirnabtragung am bequemsten mit demselben meisselformigen Instrumente, aber kleineren Kalibers, ausgefiihrt, wie es Fig. 5, 8S. 17, der ,Fische“ abgebildet ist: Das Instrument, welches an der hinteren Grenze des Vorderhirns senkrecht eingesetzt wird, wird sehr bald nach hinten gesenkt und zugleich nach vorwirts ge- schoben, wodurch der darunter liegende Thalamus verschont, waihrend das Vorderhirn abgetragen wird und in der Rinne des Meissels legen bleibt (vergl. Fig. 4). Nachdem die Schadeldecke reponirt ist, iiberlasst man das Thier vollkommener Ruhe. Wenn Alles festsitzt, findet man am nichsten Tage das Thier in normaler Fig. 4. Haltung, ruhig und unbeweglich dasitzend, die Augen geschlossen, oder dieselben von Zeit zu Zeit Offnend. Reizt man es durch Be- riihrung, so erhebt es sich leb- haft und macht ganz normale Ortsbewegungen, um indess bald wieder in seine Ruhe zu versinken. Wiederholt man die Anregungen, so beobachtet man, dass es furchtlos auf den Beobachter zuliuft und vor drohenden Geberden weder mit den Augenlidern zwinkert, noch entflieht; das lebhafte Augenspiel des normalen Thieres ist verschwunden. 6 Abtragung des Grosshirns. Setzt man dem in Bewegung versetzten Thiere Hindernisse in den Weg, z. B. senkrecht aufgestellte Brettchen, so liiuft es nicht dagegen, sondern umgeht dieselben ohne Ausnahme. Zu diesen und weiteren Versuchen war die in Fig. 5 abgebildete Vorrichtung recht niitzlich: es ist dies ein grosses, etwa thiirhohes Gitter von Metall, das auf der Terrasse gegen die Wand lehnt, wie man in der Figur deutlich sehen kann. Dasselbe ist so construirt, dass zwischen den Stiiben am Fussstiicke viele runde Oeffnungen bleiben. Wenn man das Thier nun gegen das Gitter laufen liisst, so yl ——— CSE JOON Lan an nL! KX KO Oe i AN Be \) Se Vas e MM RIK A | i OK wv hl Nil WamWa eee" aN wal raw oes RAR | | i ill : rae WS IO Z6 KS lit |: I7 ees Me eles % re A AAA oS ANAS \| om Vao’ OYYTY) So W g Hs ZN BR 7 a a4 3 WM ee ON yy, /, COO Oe SE / LIL OF LA Sf y, Vy Wf, fy) V4 y a) J / ‘ TS VA, fe stosst es niemals gegen die Stabe an, sondern liuft behende durch die Oeffnungen hindurch, gleichviel, ob man von der einen oder der anderen Seite ausgeht. Normale Thiere machen das genau ebenso. Klebt man den operirten Thieren die Augen mit Fischleim zu, so verfehlen sie die Oeffnungen und stossen hiufig genug gegen die Gitterstiibe an. Das Gitter pflegte so aufgestellt zu werden, dass es zwar selbst im Schatten blieb, aber doch in der Nahe der Sonne. Eines Tages setzte ich drei grosshirnlose Eidechsen aus dem Schatten heraus in die Sonne: nach kurzer Zeit geriethen sie alle drei in Bewegung und Abtragung des Grosshirns. 7 eine von ihnen lief gewandt auf das Gitter hin, dann an demselben in die Héhe und blieb dort stundenlang hiingen, genau so, wie wir das ofter bei normalen Eidechsen zu sehen pflegen. Aehnlich stieg eine andere grosshirnlose Eidechse, die sich in ihrem Kafig befand, an der Wand desselben in die Hohe und blieb dort stundenlang hingen. Durch welchen Reiz sie in Bewegung ge- rathen ist, war nicht nachzuweisen. Weitere Exemplare ohne Grosshirn pflegten, wenn sie in die Sonne gesetzt wurden, in Bewegung zu gerathen, den Schatten auf- zusuchen und dort wieder in Ruhe zu versinken. Willkirliche Bewegungen, d. h. solche, welche unabhingig von nachweisbar iiusseren Einfliissen ausgehen, haben wir nicht gesehen, ebensowenig wie eine spontane Nahrungsaufnahme. erfolgte. Der Vollstandigkeit halber médchte ich hier den schon friiher (Fische, 8S. 102) mitgetheilten Versuch wiederholen, dass Eidechsen, denen man die Decke des Grosshirns abtragt, sich verhalten, wie un- versehrte Thiere, d. h. sie fliehen, wenn man sie fangen will oder wenn man sie bedroht; sie trinken, mit der Zunge leckend, begierig Wasser und verschlingen spontan grosse Exemplare von blatta orientalis. Eines dieser Thiere ging sogar aggressiv auf mich los. Wenn man den vorderen Theil des Grosshirns, etwa ein Drittel desselben, abtriigt, so tritt keine Storung in den bisher beschriebenen Grosshirnfunctionen ein; jedenfalls wird aber das Geruchsvermogen aufgehoben, woriiber indess eine Priifung nicht ausfiihrbar war. Tragt man ebenso die hintere Partie des Grosshirns ab, so treten, wie vorauszusehen war, dieselben Stdrungen ein, wie nach totaler Abtragung. Wenn man das Grosshirn nur einseitig abtragt, z. B. rechts, so bleibt die willkiirliche Beweglichkeit des Thieres, soweit man sehen kann, vollig ungestort, aber auf Bedrohung reagirt es nur dann, wenn dieselbe von der rechten Seite her gegen das rechte Auge erfolgt; die Reaction bleibt véllig aus, wenn man auf das linke Auge zugeht: Das Gesichtsfeld des rechten Auges verhalt sich demnach so wie das des normalen, jenes des linken Auges wie das des Thieres, dessen Gross- hirn total entfernt worden ist. §3 3. Analyse der Versuche. Die Eidechse ohne Grosshirn nimmt weder spontan Nahrung zu sich, noch macht sie willkiirliche Bewegungen; es sind also diese beiden Functionen an das Grosshirn gebunden, ebenso wie wir es fiir den Frosch 8 Analyse der Versuche. gesehen haben!). Es scheint indess nicht das ganze Grosshirn yon dieser Function erfillt zu sein, es ist nur die Integritét der Basis nothwendig, da die Decke abgetragen werden kann, ohne dass jene Functionen schwinden. Endlich ist sogar, wie der Versuch lehrt, nur die hintere Abtheilung der Basis der Sitz dieser Functionen. Weiter findet man, dass diese Thiere sehen, da sie Hindernissen ausweichen; dagegen fliehen sie nicht mehr auf Bedrohung, wie die unversehrten Thiere, d. h. sie sind fiir keinen Fall blind, aber doch nicht sehend im gewodhnlichen Sinne, da sie weder die Menschen noch deren Drohungen fiirchten; Eindriicke, fiir welche sie die Erinnerung verloren haben diirften; sie erscheinen nach unserer heutigen Auffassung als seelenblind. Obgleich wir beim Frosch schon dasselbe gesehen haben, so eignet sich gerade fiir diese Versuche die Eidechse bei ihrer grossen Leb- haftigkeit und leichten Reaction fiir die Geschehnisse in ihrer Um- gebung, sehr viel besser, als der triigere Frosch. Andererseits scheint die eine Grosshirnhalfte zu geniigen, um die willkiirliche Bewegungsfreiheit zu erhalten, d. h. eine Grosshirnhalfte scheint, wenn man so sagen darf, fiir das geistige Leben des Thieres auszureichen. Ob dieser Schluss ganz zutrifft, erscheint fraglich, wenn man sieht, welcher Defect im Gesichtsfelde der einen Seite auftritt, wenn die gleichnamige Grosshirnhilfte abgetragen worden ist. In diesem Falle functionirt gerade jede Seite ganz vollstandig. Ohne Moglichkeit, die Frage hier zum Austrag bringen zu konnen, wollte ich auf diese eventl. nur scheinbare Differenz aufmerksam machen. Schliesslich wird sehr viel davon abhiingen, welche Ursachen man der willkiirlichen Bewegung zu Grunde legen darf. Dass mit der Abtragung des Grosshirns die Riechfunction ver- nichtet ist, folgt naturgemiss schon aus der damit verbundenen Zer- storung der Riechnerven, aber der Versuch mit Abtragung nur des vorderen Theiles des Grosshirns, womit allein schon die Zerstorung der Riechneryen verbunden ist, zeigt im Gegensatz zum Haifisch und in Uebereinstimmung mit dem Frosche die Erhaltung der Grosshirn- functionen. Wie sich das Gehor verhilt nach Abtragung des Grosshirns, ist von mir nicht untersucht worden, weil mir hierzu die Zeit mangelte und andere Verhiltnisse dringend einer Lésung bedurften; indess ist dies eine Aufgabe, welche bei den lebhaften HKidechsen wohl zu entscheiden ware. ‘) Mit den Einwinden, welche gegen jene Versuche gemacht worden sind, wollen wir uus an einer spateren Stelle eingehend beschaftigen. i Abtragung des Zwischenhirns. cD Dagegen ist fiir die Kmpfindungen der Haut mit Sicherheit zu folgern, dass sie nach der Grosshirnabtragung ungestért sein miissen, da die Thiere ohne jede Storung, wie im normalen Zustande, nicht allein hurtig den Weg und eine Mauerkante entlang laufen, sondern auch das schriig stehende Gitter mit seinen zahlreichen Oeffnungen, d. h. Unterbrechungen der Unterlage, in die Hohe steigen. Dieser letzte Versuch darf dem Balancirversuche beim Frosche wohl an die Seite gestellt werden. Wenn die grosshirnlosen Eidechsen, in die Sonne gebracht, in Bewegung gerathen und den Schatten aufsuchen, so diirfte dafiir die Erklirung ausreichen, dass der Sonnenstrahl als Wairmereiz wirkt, dessen Wirkung aufhért, wenn die Thiere den Schatten wieder erreicht haben. In unserem Falle befand sich der Schatten ganz in der Nihe. Es wire interessant, den Versuch so anzustellen, dass die Thiere ge- zwungen wiiren, in der Sonne zu bleiben, deren belebende Wirkung gerade fiir die Eidechse wohl bekannt ist. Uebrigens besteht eine gewisse Analogie zwischen diesen Ver- suchen und jenen beim Frosche, der ohne Grosshirn so rasch als moglich dem Wasser zu entfliehen sucht. 8. 4. Abtragung des Zwischenhirns. Die Abtragung des Zwischenhirns kann, da es vom Grosshirn iiberlagert ist, nur mit diesem zusammen ausgefiihrt werden, was so geschieht, dass man das Messerchen an der hinteren Grenze des Gross- hirns senkrecht bis auf die Basis des Schiidels einfiihrt. Wie aus Fig. 6 ersichtlich, wird man da- bei stets ein kleines Stiick des Thalamus stehen lassen, welches unter dem vordersten Theile des Mittelhirns liegt. Am Tage nach der Operation, ebenso wie in der folgenden Zeit, verhilt sich diese Eidechse voll- kommen unthitig. Wenn man sie anstdsst, so beginnt sie sich scheinbar normal zu bewegen. Nach zwei bis drei Schritten aber macht sie mit zuriickgebeugtem Kopfe und erhobenem Schwanze einen grossen Sprung, gerade wie es die gesunden Eidechsen zu thun pflegen, wenn man sie heftig verfolgt, oder wenn sie eine hohe Mauer herunterspringen. Nach einiger Zeit verfallt sie wieder in Ruhe. Zwingt man diese Eidechse, das Gitter hinaufzuklettern, so kriecht sie leidlich in die Hohe. Fig. 6. 10 Abtragung des Mittelhirns. Was die einseitige Abtragung des Thalamus anbetrifft, die eben- falls zusammen mit der gleichzeitigen Grosshirnhemisphire vorgenommen werden muss, so will ich hier nur soviel davon vortragen, als sich auf den Sehact bezieht: eine so operirte Eidechse verhalt sich so, wie wenn man ihr nur die Grosshirnhilfte abgetragen hatte, d. h. wenn man den Thalamus rechtsseitig abtragt, so flieht sie auf Bedrohung von der rechten Seite her, bleibt aber theilnahmslos gegeniiber der Bedrohung von der linken Seite. S$.) 0. Abtragung des Mittelhirns. Wie stets bisher, miissen wir auch hier gesondert abtragen die Decke des Mittelhirns und darauf erst folgen lassen die Abtragung des ganzen Mittelhirns. §. 6. Abtragung der Decke des Mittelhirns. Der Versuch ist technisch genau derselbe, wie bei Frosch und Fisch. Eine so operirte Eidechse verhalt sich sehr ruhig, flieht nicht auf Bedrohung, zwinkert dabei auch nicht mit den Augen, weicht aber Hindernissen aus; insbesondere kann man an dem Gitter beobachten, wie sie richtig in die Locher eintritt und niemals gegen die Stiibe lauft. Klebt man die Augen zu, so kann man, sozusagen als Controle zu dem vorigen Versuche, beobachten, wie diese Thiere gegen Hinder- nisse anstossen und am Gitter z. B. deutlich gegen die Stabe laufen. Hingegen pflegen sie ganz regelmiissig, wie es sehende Eidechsen thun, aus den hdher liegenden Punkten des Gitters sich auf den Boden herabzulassen resp. mit einer gewissen Vorsicht herunterzuspringen. Traigt man die Decke des Mittelhirns einseitig, z. B. rechts, ab, so flieht das Thier nur auf Bedrohung von der rechten Seite, verharrt aber in Ruhe, wenn man sich gegen seine linke Seite wendet. Die Beweglichkeit des Thieres ist, wie am besten aus dem Auf- stieg und dem Abstieg am Gitter hervorgeht, in keiner Weise gestért; ebensowenig treten Zwangsbewegungen aut. Fiigt man zu der Abtragung der Mittelhirndecke die Entfernung des Grosshirns, so ist das Resultat dasselbe wie nach Abtragung der Decke allein. are Abtragung des ganzen Mittelhirns. Das anatomische Resultat dieser Abtragung zeigt Fig. 7. Die Thiere bleiben, sich selbst iiberlassen, ganz ruhig; auf mechanische Analyse der Versuche. 11 Reizung machen sie ganz correcte Locomotionen nach yorwirts. Dass diese Kidechsen blind sind, ist selbstverstiindlich; ob sie im Stande sind, das Gitter in die Hohe zu steigen, vermag ich mit Gewissheit nicht zu sagen, da ich in meinen Notizen dariiber keine Bemerkung finden kann. Da diese Thiere ab und zu auch riickwirts gehen, wie ich es schon beim Frosche gesehen habe (s. Froschhirn, 8. 38 und 59), so ging ich, wie dort darauf aus, die Bedingungen des Riickwiirtsganges auch hier néher festzustellen. Sie sind hier einfacher als beim Frosch, denn die Abtragung der vorderen Hilfte des Mittelhirns versetzt die Thiere simmtlich und mit Leichtigkeit in die retrograde Locomotion. Die ganze Erscheinung ist bei der Eidechse viel klarer aus- gepragt als beim Frosch. Gelegentlich dieser letzten Versuche machte ich noch fol- gende interessante Beobachtung: Wenn ich die unversehrten Thiere mit emer Zange fasste, was ge- wohnlich am Rumpfe zu geschehen pflegte, so bissen sie hiufig in oder gegen die Zange. Eines der Thiere mit halbem Mittelhirn biss scheinbar gerade so in die Zange, wie es die normalen Thiere zu thun pflegen. Das Gesicht ist dabei natiirlich ganz unbetheiligt! Fig. 7. §. 8. Analyse der Versuche in den §§. 6 und 7. Wie nach den bisherigen Versuchen an Fischen und Amphibien zu erwarten war, miisste die Abtragung der Decke des Mittelhirns auch bei der Eidechse den Sehact stéren. Das ist zwar der Fall, aber doch in anderer Weise als dort, denn die Eidechse ist nicht voll- kommen blind, wie Frosch und Fisch, sondern sie ist in einen Zustand versetzt, den ich bisher nicht zu unterscheiden vermag von jenem, den wir bei Abtragung des Grosshirns gesehen haben, d. h. die Thiere er- kennen ihre Umgebung nicht mehr, weichen aber Hindernissen aus. Trotzdem muss ein Unterschied vorhanden sein, denn im Falle der Abtragung der Mittelhirndecke ist zweifellos das primiire Sehcentrum verletzt worden; im Falle der Abtragung des Grosshirns ist das anders, hier diirfte es sich nach unserem heutigen Wissen um einen psychi- schen Act handeln. Wahrend wir in letzterem Falle von Seelen- blindheit sprechen diirfen, miissen wir nach dem Sprachgebrauche der Augeniirzte jenen Sehdefect als Amblyopie bezeichnen. Es geht aus dem Versuche zugleich aber hervor, dass die Mittel- 12 Analyse der Versuche. hirndecke der Eidechse nicht mehr ausschliesslich das Sehcentrum enthalt, im Gegensatz zu Fisch und Frosch, sondern dass primiare Sehelemente noch in einem anderen Hirntheile gegeben sein miissen. Hierfiir kommt ausschliesslich der Sehhiigel, das Zwischenhirn, in Betracht. In der That tritt bei der weiteren phylogenetischen Ent- wickelung der Sehcentren die merkwiirdige Erscheinung zu Tage, dass beim Menschen das Mittelhirn kaum noch centrale Sehelemente ent- halt, dass vielmehr der Sehhiigel die wesentlichen Bestandtheile des primiren Sehcentrums in sich schliesst, worauf wir spiiter noch zuriick- kommen werden. Ein specieller Versuch hieriiber konnte nicht gemacht werden, weil man den Sehhiigel nicht isolirt abtragen kann, und in dem Falle, wo Sehhiigel und Grosshirn gemeinsam einseitig entfernt worden sind, war das erste Resultat kein anderes, als wenn das Grosshirn allein, oder die Mittelhirndecke allein einseitig entfernt worden waren. Die Versuche konnten demnach keine Aufklarung schaffen, die zu bringen wir nunmehr der Zukunft iiberlassen miissen. Nach unseren Kenntnissen tiber Frosch und Fisch konnte es nicht mehr iiberraschen, dass das allgemeine Locomotionscentrum iiber das Mittelhirn hinaus in das Nackenmark hineinreicht, so dass hieriiber an dieser Stelle nichts Neues zu sagen ist; leider sogar nur weniger gesagt werden kann, insofern als mir kein Versuch zu Gebote steht, der einen Schluss erlauben wiirde auf die sensiblen Elemente, welche in der Mittelhirnbasis landen. Dass dort und im Zwischenhirn solche landen, ist ganz gewiss und wird sich spater aus Versuchen mit ein- seitiger Abtragung dieser Hirntheile zweifellos ableiten lassen. Nur auf einen Punkt moéchte ich hier noch niher eingehen; Der bei der Eidechse am stirksten ausgepriigte Riickwiirtsgang, wenn man den hintersten Theil des Mittelhirns stehen lasst, und der ab und zu auch vorkommt, nachdem man das Mittelhirn vollkommen abgetragen hat, darf uns nicht veranlassen, von einem Centrum des Riickwarts- ganges zu sprechen, wie es eine zeitweise beliebte Methode ist, fir jede Bewegung ein besonderes Centrum zu construiren. Davon kann und braucht auch hier nicht die Rede zu sein, sondern es handelt sich in dem allgemeinen Bewegungscentrum um ein Centrum, eine Vorrichtung, die so angeordnet ist, dass die Elemente desseiben in beliebiger Weise combinirt beliebige Bewegungen zu erzeugen vermag. Die Art dieser Combinationen wird zum grossen Theile durch An- regungen bestimmt, welche auf verschiedenen Wegen von der Peripherie kommen (vyergl. hierzu Frosch, 8. 56, und Fisch, 8. 36). Eine interessante Erscheinung nach Abtragung des Zwischenhirns der Eidechse ist das Auftreten desselben Sprunges, den man bei normalen — Abtragung des Kleinhirns. 13 Eidechsen hiufig sieht, wenn sie heftig verfolgt werden. Da das Zwischen- hirn niemals vollkommen abgetragen worden ist, so bleibt zu erwigen, ob nach totaler Abtragung der Sprung nicht nur noch gelegentlich auf- tritt und seine Regelmissigkeit an den Rest von Zwischenhirn gebunden ist, der wegen seiner Lage unter dem vordersten Theile des Mittelhirns nicht abgetragen werden konnte. Es kommt mir vor, dass der Sach- verhalt der gleiche ist, wie wir ihn in dem Verhiltniss von Riickwiirts- gang zu hinterem Mittelhirn kennen gelernt haben. (Uebrigens glaube ich heute, dass man mit etwas mehr Musse, als mir s. Z. in Sicilien zu Gebote stand, doch wohl eine vollstiindige Abtragung des Zwischen- hirns erreichen kénnte; natiirlich aber stets in Gemeinschaft mit dem Grosshirn.) 8. “9: Abtragung des Kleinhirns. Die Verhaltnisse des Kleinhirns der Eidechse haben viele Aehnlich- keit mit jenen beim Frosche, wo das Kleinhirn eine schmale Leiste ist, die den vordersten Theil des Nackenmarkes iiberbriickt. Die Abtragung erfolgt mit der Bajonettscheere. Irgend eine Storung ist danach nicht beobachtet worden, wenigstens keine groben Storungen. Ob nicht trotzdem feinere St6rungen vorhanden sind, ist nicht ausgeschlossen, aber unsere Methoden zur Priifung von denselben Eindriicken z. B. sind so wenig ausgebildet, dass das gleiche Urtheil alle unsere Untersuchungen iiber das Kleinhirn von Fisch, Frosch und Kidechse in derselben Weise trifft. Die giinstigen Bedingungen des Gleich- gewichtes, wie sie bei Frosch und Eidechse vorhanden sind, reichen zur Erklarung nicht aus, denn beim Fisch, wo die Bedingungen fiir die Erhal- tung des Gleichgewichtes schwierige sind, haben wir deutliche Stérungen desselben nach Abtragung des sehr reichen Kleinhirns ebenfalls vermisst. Es sieht so aus, als ob die Function des Kleinhirns nur beim Menschen mit Erfolg zu studiren wire, wo wiederum die Schwierigkeit besteht, dass man warten muss, bis es dem Zufall gefillt, ein wirklich neues, zur Verwerthung geeignetes Experiment anzustellen. Wenn die Hidechse mit halbem Mittelhirn in die den Rumpf fassende Zange beisst, so steht diese Leistung relativ auf gleicher Stufe mit dem Frosche, der allein im Besitze seines Riickenmarkes den auf das Bein aufgetriufelten Siuretropfen ganz geschickt abtupft. Sis 20: Abtragung des vorderen Theiles des Nackenmarkes. Wie beim Frosche, so wird auch fiir die Eidechse festgesetzt, dass die Kleinhirnleiste die Grenze fiir das Nackenmark abgeben soll, 14 Beobachtungen am Rickenmark. das hier abgetragen ist resp. hier abgetragen werden kann, ohne die Athmung zu schadigen. Macht man die Abtragung in dieser Weise, so hort alle Locomotion auf und es erfolgen auf Reizung der Hautoberfliche die bekannten Reflexbewegungen. Diese Beobachtungen sind ein bis zwei Tage nach der Operation angestellt worden. Sd. Bemerkungen zu dem Vorausgehenden. Wie bei dem Frosch und dem Fisch reicht nach diesem Versuche das allgemeine Bewegungscentrum in den vordersten Theil des Nacken- markes, das auch, wie schon friiher bemerkt, mit der Basis des Mittel- hirns eine anatomische Einheit bildet. §. 12. Beobachtungen am Ruckenmark. Wenn man einer frischen Eidechse den Kopf so abschneidet, dass man bei letzterem das Nackenmark belassen hat, so wird der restirende Rumpf nach den bisherigen Beobachtungen keine Locomotion machen, was der Versuch in der That bestiitigt. Trigt man nun ganz grob mit der Scheere von dem Rumpfe nach und nach Stiicke von 1 bis 11/,cm ab, so tritt etwa in Beginn der hinteren Halfte des Rumpfes die merkwiirdige Erscheinung auf, dass das Hintertheil, welches etwa aus Becken, hinteren Extremititen und dem Schwanz besteht, an- scheinend spontan, regelmissige Bewegungen ausfiihrt, deren Charakter als Locomotion, wie sie das ganze Thier macht, durchaus anerkannt werden muss. Periphere Reizungen der Oberflaiche pflegen an dem enthaupteten Thiere keinerlei Ortsbewegungen zu erzeugen, aber bringt man dasselbe in ein Pikrinsiurebad von 2 bis 3 Proc., so beginnt auch hier die Locomotion. Dieser Versuch gelingt regelmissig und ein Versagen ist niemals vorgekommen. Beobachtungen iiber die Reflexthitigkeit des Riickenmarkes werden an einer spiteren Stelle mitgetheilt werden. 8. 13. Analyse des Versuches. Man pflegt die wohlberechtigte Vorstellung zu haben, dass die Leistungen eines Thieres sich um so mehr verringern, je mehr es seines Centralnervensystemes beraubt wird. In dem obigen Versuche tritt aber umgekehrt eine Mehrleistung auf, welche von einem geringeren Analyse des Versuches. 15 Theile des Riickenmarkes ausgeht. Anzunehmen, dass der vordere Theil des Riickenmarkes eine Hemmung ausiibt auf den hinteren Theil, der seine Thitigkeit zu entwickeln beginnt, wenn er von dem vorderen Theile losgelost ist, muss abgelehnt werden, da diese Hemmungs- thitigkeit ihrerseits erst wieder in Function getreten wire, nachdem das Gehirn entfernt ist, was doch sehr unwahrscheinlich aussieht. Die Erkliirung ist vielmehr folgende: Wir wissen jetzt, dass das primitive Riickenmark (Haifisch) aus lauter locomobilen Metameren besteht; dass im Laufe der phylogenetischen Entwickelung das Riicken- mark diese Function der Locomobilitat allmilig mehr oder weniger ein- biisst, indem es dieselbe nach vorn an das Gehirn abgiebt, und zwar sind es die vordersten Metameren, welche ihre Function zuerst abgeben, genau so wie bei der phylogenetischen Verkiirzung der Riickenwirbelsiiule die vorderen Riickenwirbelelemente zuerst ausfallen, nicht die hinteren. So haben bei der Eidechse die vorderen Riickenmetameren ihre Locomo- bilitaét vollig verloren, wihrend die hinteren Metameren sie noch be- sitzen. Indess sind dieselben durch den einfachen mechanischen Reiz, der von der Peripherie kommt, zu locomobiler Thitigkeit nicht mehr anzuregen. Erst der Schnitt der Scheere, welcher das Riickenmark selbst trifft, ist ein Reiz, stark genug, um die locomotorische Thiitig- keit des hinteren Riickenmarksabschnittes auszuldsen. Aber auch die Pikrinsiiure wirkt von der Peripherie her, ganz ebenso, wie wir es beim Aal und bei dem Neunauge gesehen haben, wo die locomobilen Fihig- keiten des Riickenmarkes erst durch sie wieder erweckt wurden (vergl. Fische, 8. 68 bis 70), wahrend die einfache mechanische Reizung der Korperoberfliche ebenfalls versagt. Der Pikrinséureversuch beweist zugleich, dass von einer yom Kopfe ausgehenden Hemmung nicht die Rede sein kénne; man miisste denn annehmen wollen, dass der periphere Reiz die Hemmung iiber- wunden oder durchbrochen habe. Mehrere Jahre nach dieser ersten Publication hat Hr. H. Martin in der Pariser biologischen Gesellschaft einen Versuch mitgetheilt, welcher dem meinigen nahesteht. Er betiubt eine Eidechse z. B. mit Chloroform, und findet, dass, wenn er nunmehr irgendwo den Schwanz abschneidet, der letztere, obgleich er vollkommen unbewegt war, in Bewegung geraith ,immédiatement et spontanément ... . mouvements semblables & ceux que produit la queue dans la marche d’un de ces reptiles non mutilé“. Neben gewissen Vorstellungen iiber die Wirkung der Anisthetica glaubt der Autor, dass vom Gehirn eine Hemmung ausgeht, welche nach Abtrennung des Schwanzes vom iibrigen Korper aufhért und die ,Autonomie* des ‘Schwanzmarkes 16 Fortsetzung. heryortreten lisst!). Einige Wochen danach bestitigt Hr. R. Dubois jenen Versuch von Martin und beweist, dass der Schnitt durch das Riickenmark es ist, welcher die Bewegung auslést. Er lasst bei einer betiubten Eidechse eine Stelle des Schwanzmarkes mit Hiilfe von Aethylchlorid durchfrieren und macht an dieser Stelle eine Durch- schneidung des Schwanzes, welcher unbewegt bleibt. Durchschneidet er aber tiefer unten, so bewegen sich beide Schwanzstiicke; das terminale stirker als das andere 2). Was an diesen Versuchen fiir uns interessant erscheint, ist der von Dubois gefiihrte Beweis, dass der Schnitt ins Mark der die Be- wegung auslosende Factor ist, sowie zugleich der Nachweis, dass von einer centralen Hemmung keine Rede sein kénne. Im Jahre 1895 hat Hr. J. v. Tarchanoff aus St. Petersburg ebenfalls in der Pariser biologischen Gesellschaft gelegentlich seiner Versuche an enthaupteten Enten, von denen wir spiter noch reden werden, auch einen Versuch an der Eidechse mitgetheilt, der hierher gehort 8). Kr berichtet auf S. 457 seiner Abhandlung: ,Mais le lézard présente sous ce rapport un grand intérét, car apres la section de la moelle ¢pimiere au-dessus du renflement lombaire, il donne tout de suite des mouvements périodiques de la queue, des mouvements de pendule dans le plan horizontal, qui continuent des minutes enticres, puis s’arrétent pour recommencer de nouveau etc.“ Dubois reclamirt die Prioritit dieses Versuches bald darauf fiir sich; mit welchem Rechte, mag man aus dieser Darstellung entnehmen ‘). Endlich hat im Verlaufe dieses Jahres Hr. Pompilian im Labo- ratorium von Ch. Richet in Paris genau dieselbe spontane Schwanz- bewegung nach yolliger Abtrennung des Hintertheiles beim Triton beobachtet °). Mein Versuch aus dem Jahre 1886 ging aber sehr viel weiter, denn in dem oben citirten Berichte an die Akademie der Wissen- schaften in Berlin aus dem gleichen Jahre, 8. 541, hatte ich wortlich Folgendes gesagt: Wenn man den Kopf (der Eidechse) véllig ab- schneidet und mit der Scheere von vorn nach hinten Stiicke des ) H. Martin, Sur les mouvements produits par la queue du lézard, aprés anésthésie. Compt. rend. hebdomad. d. 1. Société de Biologie. Paris 1893, p. 854. *) Raph. Dubois, Sur les mouvements de la queue coupée du lézard anésthésié. Compt. rend. hebdomad. d. 1. Société de Biologie. Paris 1893, p. 915. *) J. de Tarchanoff, Mouvements forcés des canards décapités. Ibid. 1895, p. 454—458. ') R. Dubois, A propos de la communication de M. Jean de Tarchanoff sur les mouvements forcés des canards décapités. Ibid. p. 528—529. *) M. Pompilian, Automatisme de la moelle du triton etc. Ibid. 1899, p. 573. ——— ee HKinseitige Abtragungen. 17 Rumpfes von 1 bis 1!/, em abtriigt, so stésst man etwa im Beginn der hinteren Hialfte des Rumpfes auf die merkwiirdige Erscheinung, dass der iibrige Theil, also etwa Becken, hintere Extremititen und Schwanz, anscheinend spontan regelmissige Bewegungen ausfiihren. Was an diesen Bewegungen aber am meisten iiberrascht, das ist der vollige Charakter von Locomotionen.“ Das will heissen, dass das Hinter- thier so fortschreitet, wie es das unversehrte Thier zu thun pflegt. Dass ich mehr gesehen habe, als meine Nachfolger, liegt zweifellos an den giinstigen Verhiltnissen, unter denen ich gearbeitet habe: frisch gefangene Thiere und untersucht unter dem heissen Himmel Siciliens bei einer Temperatur von 23 bis 24° R., bei welcher die Erregbarkeit der Thiere offenbar eine sehr vollkommene ist. Als ich neulich den Versuch hier wiederholte, bekam ich ebenfalls nur die Schwanzbewegung zu sehen, Daher konnten meine Nachfolger die Bewegung als eine Orts- bewegung nicht erkennen, worin allein der Weg zum Verstiindniss angebahnt ist. Aber trotzdem waren sie principiell der gleichen Ansicht wie ich, dass es sich bei diesen merkwiirdigen Bewegungen des Schwanzes um einen vorgebildeten, etwa automatischen Mechanismus handelt, dessen Auslésung erst durch den direct auf das Mark ein- wirkenden mechanischen Reiz erfolgt. Welcher Natur aber diese auto- matischen Mechanismen eigentlich sind, das musste ihnen angesichts ihres unzureichenden Versuches und der Unkenntniss meiner Versuche am Haifische durchaus entgehen. S. 14. 3 Hinseitige Abtragungen im Centralnervensystem. Wir werden hier in der bisherigen Weise einzelne Theile des Centralnervensystems einseitig abtragen und die Folgen dieser Ab- tragung zu schildern haben. Letztere geschieht in der Regel in der vorgeschriebenen anatomischen Linie. Wo davon abgewichen werden muss, wird es besonders erwihnt werden. A. Grosshirn. Die rechtsseitige Abtragung des Grosshirns fiihrt zu der oben schon beschriebenen Erscheinung, dass Bedrohungen, welche aus der linken Seite des Gesichtsfeldes herkommen, wirkungslos_ bleiben, wahrend von rechts her die gewohnte Einwirkung stattfindet. Dagegen sind reine Stérungen in der Bewegungssphire, insbesondere Zwangsbewegungen, nicht beobachtet worden. Steiner, Centralnervensystem. IV. bo 18 Fortsetzung. B. Zwischenhirn. Die einseitige Abtragung des Zwischenhirns wird regelmassig zu- gleich mit der des Grosshirns gemacht, wobei noch zu bemerken ist, dass dabei von jenem ein ganz kleines Stiickchen im Kopfe verbleibt, wie wir es bei der doppelseitigen Abtragung auch haben machen miissen. Macht man die Abtragung auf der rechten Seite, so tritt gleich danach eine Bewegung nach der linken Seite ein, die mehr Kreis- bewegung, nicht Uhrzeigerbewegung ist, deren Vorhandensein nicht mit Sicherheit festgestellt werden konnte. Untersucht man am niachsten Tage, so findet man die Bewegung ganz geradlinig, ohne jede Tendenz zur Kreisbewegung. Dagegen macht das Thier in Pausen die gleichen Springbewegungen, wie nach totaler Abtragung des Thalamus, nur scheinen die Pausen etwas grosser zu sein. Vergleicht man dieses Resultat mit jenem beim Frosche, mit dem allein ein Vergleich moglich ist, da nur dieser ein Zwischenhirn besitzt, so findet man eine yvollkommene Gleichheit insofern, als diese Zwangs- bewegung nach kurzer Zeit voriibergeht, wieder ablauft, also wohl nur eine Reizerscheinung darstellt (vergl. Frosch, 8. 84). Dass bei der Eidechse die Uhrzeigerbewegung nicht vorhanden zu sein scheint, ware principiell schwerlich ein grosser Unterschied. Aber es ist ausserdem noch moglich, dass sie bei zahlreicheren Versuchen, als ich iiber diesen Gegenstand gemacht habe, noch gefunden werden konnte. Mir schien die Sache von keiner so erheblichen Bedeutung, um darauf mehr Zeit und Material zu verwenden, als dringend néthig war. (Uebrigens diirfte der Unterschied schon auf der verschiedenen Methode des Operirens beruhen: die Eidechse wird dtherisirt und ist unmittelbar nach der Abtragung nicht zu untersuchen; dagegen wird der Frosch ohne Aether operirt und die Uhrzeigerbewegung erscheint nur unmittelbar nach der Operation; kurz darauf an ihrer Stelle Kreisbewegung, die hier, wie dort, nach Stunden vollig verschwindet.) Cc. Mittelhirn. Dass die einseitige Abtragung der Decke des Mittelhirns keinerlei Storung in der geradlinigen Bewegung des Thieres erzeugt, haben wir oben schon bemerkt. Macht man die Abtragung bis auf die Basis, d. h. also, trigt man das Mittelhirn einseitig vollstiindig ab, so folgt ausnahmslos Kreisbewegung nach der unverletzten Seite, die dauernd ist und nichts Anderes, d. h. dieselbe Erscheinung, welche wir auch bei Frosch und Fisch gesehen haben. Fortsetzung. 19 D. Kleinhirn. Wie beim Frosch ist auch hier die einseitige Abtragung des Klein- hirns von stérenden Folgen in der Bewegung nicht begleitet. E. Nackenmark. Man macht die Durchschneidung kurz hinter dem Kleinhirn; man erhalt hier ebenfalls Kreisbewegung nach der gesunden Seite, welche von Rollbewegungen nach der operirten Seite unterbrochen wird. Macht man den Schnitt nur durch den erhodhten Wall, der Ahnlich wie beim Frosch vorhanden ist, so iiberwiegt die Rollbewegung; event. sieht man fast nur diese. Schnitte in tieferen Abtheilungen des Nackenmarkes sind nicht gemacht worden. Man sieht in dem Resultate eine vollstindige Uebereinstimmung mit dem Frosche. Und schliesslich besteht auch darin eine Uebereinstimmung, namentlich mit dem Fisch, dass, wenn das operirte Thier nicht sehr kraftig ist oder keine sehr lebhaften Bewegungen gemacht werden, die Rollbewegung ofter ausbleibt; aber rasch erscheint, wenn es gelingt, das Thier zu kraftigeren Bewegungen anzuregen. Es folgt hieraus, dass die so interessante und wichtige Gruppe der Zwangsbewegungen in den drei Classen Fisch, Amphibien und Reptilien in genau der gleichen Erscheinung auftritt. Zweites Capitel. Ueber die Reflexbewegungen des Riickenmarkes. Die gesetzmiissigen Beziehungen, welche zwischen den die Haut treffenden Reizen und den darauf folgenden Bewegungen des Riicken- markes bestehen, sind von KE. Pfliiger in seiner beriihmten Schrift »Ueber die sensorischen Functionen des Riickenmarkes, Berlin 1853“ niedergelegt worden, die Jedermann bekannt sind. Er hat daselbst eine Anzahl von Regeln aufgestellt, die als ,Reflexgesetze* in der Physiologie volles Biirgerrecht geniessen. Seither sind von diesen Regeln einige Ausnahmen gefunden worden von Gergens, weiter von Osawa und Tiegel, welche sahen, dass entgegen der Pfliiger’schen Erfahrung eine gekopfte Schlange sich ganz unzweckmissig in die gliihende Kohle hineinbewegte, die man ihrem Leibe niiherte, wihrend der Aal unter den gleichen Bedingungen sich von dem gliihenden K6rper entfernte!). Eine weitere Ausnahme ist von Luchsinger mitgetheilt worden, welcher fand, dass bei Tritonen und Eidechsen Kitzeln des einen Vorderbeines eine Reflex- bewegung des diagonalen Hinterbeines erzeugt. Dieser Reflex soll seine Ursache in der trabformigen Locomotion dieser Thiere haben 2). Als ich im Jahre 1886 in Neapel angefangen hatte, mich mit dem Nervensysteme des Haifisches zu beschaftigen, konnte es mir nicht entgehen, dass das Riickenmark desselben aihnliche, aber doch noch viel giinstigere Verhiltnisse darbot, als jenes des Aales, um an dem- selben analoge Reflexversuche anzustellen und eventuell etwas tiefer in mancherlei Fragen einzudringen. Diese Versuche, sowie weitere, welche an anderen Thieren an- gestellt worden waren, sind bisher nirgends veroffentlicht worden, nur eine einzelne Notiz findet sich in meinem Grundriss der Physiologie an der Stelle, wo die zweckmiissigen Reflexbewegungen des Riicken- markes vorgetragen werden 8). | 1) Osawa und Tiegel, Beobachtungen tiber die Functionen des Ricken- markes der Schlangen. Pfliger’s Archiv, Bd. 16, 1877. *) B. Luchsinger, Ueber gekreuzte Reflexe. Ebenda, Bd. 22. *) J. Steiner, Grundriss der Physiologie. Achte Auflage 1898, S. 393. Reflexbewegungen bei Fischen. Sh Fische. Die Versuche am Riickenmarke des Haifisches (es waren stets nur Hunds- oder Katzenhai) wurden genau analog den Versuchen Pfliiger’s am Aal an- gestellt, d. h. der Hai wurde gekopft, der Rumpf an einem Haken vertical auf- gehiingt, eine brennende Kerze mit der Hand verschiedenen Punkten der Ober- fliiche geniihert und die eintretenden [///// Bewegungen beobachtet. Ich werde in Folgendem nach meinen Notizen iiber eine Anzahl dieser Versuche berichten und will nur zur Orientirung bemerken, dass unser Haifisch, wie in Fig. 8 zu sehen ist, zwei Brustflossen, zwei Bauchflossen, eine Analflosse und zwei Riickenflossen besitzt 1). Versuch I (22. April 1886). Haifisch, 45 cm lang, frisch geképft und sofort untersucht. Man halt die Flamme unter die Schwanzspitze: letztere schlagt erst nach rechts, dann nach links aus. Man halt die Flamme seitlich dem Rumpfe zwischen den beiden Riicken- flossen erst rechterseits, worauf der K6rper sich nach links convex kriimmt, bald darauf aber nach rechts, d. h. zuerst weicht er der Flamme aus, darauf aber neigt’ er sich in die Flamme; der Vor- gang ist genau umgekehrt bei Naherung des Lichtes an die linke Seite. Das Resultat ist genau dasselbe, wenn man die Flamme in der Hohe der oberen oder ') Fur den Leser, welcher Haifische nicht aus eigener Anschauung kennt, habe ich einen Hundshai in halber natiirlicher Grésse abbilden lassen. Die Képfung geschieht unterhalb der Brustflossen. \ \ S N NN \ N meet \ Wien 22 Fortsetzung. unteren Riickenflosse seitlich anbringt, d. h. die gereizte Rumpfstelle entfernt sich erst von der Flamme, um sich bald darauf derselben zu naihern event. in dieselbe hineinzugerathen. Der Versuch, welcher 15 Minuten gedauert hatte, wird hier ab- gebrochen und absichtlich erst nach 2 Stunden wieder aufgenommen; er zeigt Folgendes: Man hilt die Flamme unter die Schwanzspitze: keinerlei Bewegung. Man nihert die Flamme seitlich dem Rumpfe zwischen den beiden Riickenflossen und zwar rechts: der Rumpf entfernt sich von der Flamme; man bringt die Flamme auf die linke Seite: der Rumpf ent- fernt sich wieder von der Flamme, d. h. hier erfolgt auf den einseitigen Reiz nur eine und zwar stets zweckmissige Bewegung. Das Resultat ist genau dasselbe, wenn man die Flamme seitlich zwischen: Brust- und Bauchflosse anbringt. Zweiter Versuch beginnt eine halbe Stunde nach Kopfung. Man halt die Flamme unter die Schwanzspitze: der Schwanz schlagt erst nach links, darauf nach rechts aus. Die Flamme steht seitlich zwischen den beiden Riickenflossen erst rechts: der Rumpf entfernt sich von der Flamme, um sich bald darauf der Flamme zu nahern. Die Flamme steht links: der Rumpf schlagt erst in die Flamme, bewegt sich dann aber nach der anderen Seite. Gleiches Resultat an anderen Stellen des Rumpfes. Dritter Versuch wird an einem Schwanzstiicke gemacht, das die zwei Riickenflossen, die Bauchflosse und die Analflosse enthilt. Man halt die Flamme unter die Schwanzspitze: dieselbe pendelt abwechselnd nach rechts und nach links. Halt man das Licht seitlich, so kriimmt sich der Rumpf erst concay, darauf convex gegen die Flamme. In gleicher, bald regelmissiger, bald unregelmissiger Weise wiederholten sich die folgenden Versuche, deren Schilderung hier weiter zu geben, wohl iiberfliissig wire. Es zeigt sich sonach, dass beim decapitirten Haifisch, entgegen der alten Erfahrung beim Aal, die Reizung des Rumpfes durch Licht nicht eine, sondern zwei auf einander folgende entgegengesetzte Bewegungen giebt, so zwar, dass der Rumpf sich erst von der Flamme entfernt, um sich ihr bald darauf zu nihern (gelegentlich tritt auch das Um- gekehrte ein!). Doch vermag man beliebig das Resultat des Haiversuches in genau das des Aales umzuformen, wenn man das Haipraparat geniigend lange Zeit (hier etwa 2 Stunden) hingen lisst; eine Aenderung, die Fortsetzung. ; 23 wohl darauf zuriickzufiihren ist, dass die Erregbarkeit des Riicken- markes mit der Zeit wesentlich gesunken ist. Da meine bisherigen Bemiihungen im Wesentlichen darauf ge- richtet waren, beim Haifisch dasselbe zu sehen, was man fiir den Aal . seit Pfliiger kannte, so concentrirte sich meine Aufmerksamkeit stets auf den Punkt des Rumpfes, wo die Flamme, der Wirmereiz, ein- wirkte, d. h. aber auf eine beschrankte Stelle. Als ich aber nach einer Reihe von Versuchen begriffen hatte, dass beim Hai doch ganz andere Resultate zu Tage treten, so erweiterte ich meine Beobachtung, indem ich sie gleichzeitig auf den ganzen Rumpf ausdehnte. Hierbei machte ich die ganz allgemeine Erfahrung, dass, wo auch immer der Wiarmereiz angebracht wird, eine Bewegung an der Reizstelle beginnt, die sich tiber das ganze Priparat wellenformig . fortpflanzt. Hiermit werden die Versuche am Haifisch geschlossen. An der Hand dieser Beobachtungen habe ich in Heidelberg es unternommen, den Pfliiger’schen Aalversuch, der ja allgemein Vor- lesungsversuch geworden ist, nochmals etwas genauer zu _priifen. Hierzu war vor Allem aber noéthig, eine etwas genauere Methode in Anwendung zu bringen, da der Pfliiger’schen Methode der Mangel eigen ist, dass durch die brennende Kerze eine gut localisirte Wirkung eigentlich ausgeschlossen ist, wihrend der Wirmereiz an sich ent- schieden ein Vorzug bleibt. Ich benutzte hierzu das Sonnenbildchen, indem von einem Heliostaten ein Lichtbiindel auf ein Linsensystem fiel, das mir gestattete, auf den Aalrumpf ein kreisrundes Sonnenbildchen von ca. 5mm zu werfen. Die Methode leidet nur an der Unbestiindigkeit der Sonne! Es waren im September einige giinstige Sonnentage, wo ich nach einander eine Reihe von Versuchen machen konnte: An dem geképften ‘ Aale, der wie tiblich senkrecht aufgehingt war, konnte ich mit Be- stimmtheit sehen, wie namentlich bei recht erregbarem Thiere an der Stelle des Rumpfes, wo das Sonnenbildchen auffiel, erst eine Con- cayitit und bald darauf eine Convexitit auftrat. Letztere geht indess rasch verloren und zwar von oben nach unten, d. h. wenn sie z. B. in der Mitte des Rumpfes nicht mehr vorhanden ist, kann sie doch noch gegen das Schwanzende hin dargestellt werden. Genau die Hohe am Rumpfe zu bestimmen, wo die Doppelbewegung unter dem Einflusse des Sonnenlichtes beginnt, habe ich bisher unter- lassen, aber ich habe Grund zu der Annahme, dass sie am vordersten Theile des Rumpfes nicht vorhanden ist, worauf ich spater noch zuriickkommen werde, unter gleichzeitiger Angabe einer Methode, um jene Bestimmung noch auf anderem Wege auszufiihren. 24 Reflexbewegungen bei Amphibien. Wirft man das Sonnenbildchen auf die ‘iusserste Schwanzspitze, so wendet sich dieselbe regelmiassig vom Reize ab; ein Pendeln, d. h. ein Ausschlag nach der Seite des Reizes, wurde nicht beobachtet, wozu indess zu bemerken ist, dass die Versuche an der Schwanzspitze immer erst einer Versuchsreihe am Rumpfe folgten. Ob ein Pendeln des Schwanzes nicht etwa eintreten wiirde, wenn man zuerst die Schwanz- spitze untersuchte, bliebe in der Folge noch zu untersuchen. Ende October hatte ich Gelegenheit, ein Neunauge (Petromyzon fluviatilis) dem gleichen Versuche zu unterwerfen, nur mit dem einen Unterschiede, dass ich statt des Sonnenlichtbildchens wieder das Kerzenlicht verwendete: Das gekopfte Neunauge hangt frei vertical, ich bringe die Kerze an die Schwanzspitze, welche sich sogleich von derselben entfernt, aber zugleich pflanzt sich eine wellenformige Bewegung durch den ganzen Rumpf bis zum Kopfende hin fort, d. h. das Resultat ist gleich dem beim Haifisch und abweichend von jenem des Aales. Sh Be Amphibien. Den Versuchen an Fréschen, wie wir sie aus den friiheren Ver- suchen der verschiedensten Autoren kennen, habe ich auch nach Reizung mit dem Sonnenbildchen nichts Neues hinzuzufiigen. Anders gestaltet sich der Versuch bei den Salamandern, zunachst bei Salamandra maculata. Derselbe wird so gekopft, dass der restirende Korper nur Riickenmark enthilt; das Priiparat wird senkrecht auf- Fig. 9A. Fig. 9B. gehingt und nun auf die Seite desselben das Sonnenbildchen auf- geworfen. Wir wahlen zunichst einen Punkt am Rumpfe, der un- mittelbar oberhalb der hinteren Extremitiiten legt. Das Resultat ist folgendes: Die gereizte Stelle kriimmt sich concav, gleichzeitig erhebt sich der rechte Hinterfuss, wie um zu wischen, ohne aber den Reizpunkt zu erreichen, und endlich kriimmt sich der Schwanz selbst so im Bogen, dass seine Convexitiit nach der Reizseite liegt. Das Priparat erhalt ein Aussehen, wie es schematisch in der Figur 9A ausgedriickt ist. (Das Kreuzchen bezeichnet die Reizstelle.) Das meiner Ansicht nach Neue an diesem Versuche wire die Fortsetzung. 25 Thatsache, dass der Reiz nicht nur, wie wir es beim Frosche sehen, eine isolirte Bewegung erzeugt, sondern dass auch der Fuss und vor Allem auch der Schwanz an dieser Bewegung theilnimmt, und zwar nicht passiv, sondern activ. Damit will ich sagen, dass die Bewegung des Schwanzes nicht passiv durch die Erhebung des Fusses bewirkt wird, sondern activ durch innere Vorginge. Handelte es sich nur um eine passive Erhebung des Schwanzes, so wiirde derselbe schwerlich einen Bogen machen, wie oben beschrieben worden ist, sondern er wiirde in toto gehoben werden. Ein besserer Beweis liegt aber in dem weiteren Versuche, wenn man das Sonnenbildchen auf die Mitte des Rumpfes wirft. Man erhilt dfter ein Resultat, wie eben beschrieben, fiir die tiefer unten gelegene Rumpfstelle, aber einige Male tritt nur die Concavitit an der Reizstelle und die Wischbewegung des Fusses ein ohne jede Aenderung in der Lage des Schwanzes, d. h. in dem oben beschriebenen Versuche hat der Schwanz offenbar activ an der Bewegung theilgenommen. Besonders bemerkt sei, dass die beschriebenen Bewegungen un- mittelbar dem Eintritt des Reizes folgen. Von diesen Grundversuchen giebt es manche Variationen, von denen einige hier aufgefiihrt werden mégen. So sah ich einmal bei Anbringung des Reizes, wie oben, d. h. rechterseits in der Mitte des Rumpfes, die Reizstelle selbst convex werden, wahrend der rechte Fuss Wischbewegung machte und der Schwanz sich entsprechend der convex gewordenen Reizstelle concay anschloss. Ein anderes Mal wurde die Reizstelle, wie gewohnlich, wieder concav, aber der Fuss blieb in Ruhe, waihrend der Schwanz sich ent- sprechend convex bog. Um zu sehen, ob bei weiterer Einwirkung des Reizes nicht doch noch die Wischbewegung folgen wiirde, wurde der Reiz nicht entfernt, aber der Fuss bleibt unbewegt, dagegen macht der Schwanz plétzlich eine neue grosse Kriimmung, so dass er mit der Schwanzspitze die Reizstelle erreicht, um gewissermaassen den Reiz zu entfernen (s. Fig. 9B). Belichtet man die Hinterpfote selbst, so erfolgt eine Wisch- bewegung derselben und zugleich eine Schwanzbewegung, wie wenn man den Rumpf belichtet hatte. Eine weitere Reihe von Versuchen wurde am Schwanze angestellt, der indess nicht isolirt worden war, sondern dem oben beschriebenen Praparate entsprach, d. h. ein Salamander ohne Kopf. Der Reiz wirkt auf die Schwanzwurzel rechterseits ein: der Schwanz wird als Ganzes nach links gewendet. Der Reiz wird auf die Mitte des Schwanzes linkerseits gelegt: der Schwanz wendet sich nach rechts; die Knickung beginnt genau an der Stelle, wo der Reiz 26 Fortsetzung. einwirkt; oberhalb des Reizes verharrt der Schwanz ganz unbewegt und in senkrechter Stellung.. Wirkt der Reiz in der Nahe der Schwanz- spitze links, so erfolgt ein Ausschlag derselben nach rechts, der eben- falls genau da beginnt, wo der Reiz einwirkt. Wirkt der Reiz rechts, so erfolgt der Ausschlag nach der linken Seite. Darauf kamen wieder Versuche zur Beobachtung, wenn auch seltener, wo der Schwanz nach der Seite des Reizes ausschlug, d. h. wo sich das Resultat des Versuches umkebrt. Ein Verstiindniss fiir die Ausnahme ist vielleicht in folgenden Be- obachtungen zu sehen: Der Versuch wird inscenirt, wie das vorige Mal; der Schwanz entfernt sich vom Reize, wie gewohnlich; jetzt ent- fernt man den Reiz und als Nachwirkung folgt ein Ausschlag des Schwanzes nach der Reizseite. Da bei allen diesen Versuchen die Erregbarkeit des Praparates, die man nicht beherrscht, eine hervor- ragende Rolle spielt, so kénnte wohl sein, dass in jenen Ausnahmen nicht die primiire, sondern nur die secundire Reizwirkung sich nach aussen geltend macht und in die Erscheinung tritt. Uebrigens finde ich in meinen Notizen einen Versuch, wo der Schwanz nach einander beide Bewegungen ausfiihrt, noch bevor der Reiz entfernt worden war. Versuche, welche am Triton cristatus ausgefihrt wurden, und welche besonders die Reizung des unteren Rumpftheiles betrafen, fiihrten zu dem gleichen Resultate, dass neben dem vom Reize ge- troffenen Punkte zugleich Fuss und Schwanz reagirten; zugleich auch zu den mannigfachen Variationen, wie sie fiir den Feuersalamander geschildert worden sind. Aufgefallen ist bei dem Wassersalamander, dass alle diese Be- wegungen viel energischer und lebhafter erfolgen, als bei dem Erd- salamander; ebenso kommt es hier viel haufiger vor, dass die vom Rumpf. bis zum Schwanz in dem einen Sinne ablaufende Bewegung sich in entgegengesetztem Sinne wiederholt, d. h. wohl die rhyth- mische Thitigkeit viel hiufiger auftritt, als dort. Es ist dann weiter beobachtet worden, dass nicht allein der Hinterfuss der- selben Seite, sondern zugleich auch jener der anderen Seite erhoben wurde. In einem Versuche am Schwanze ist es vorgekommen, dass der- selbe sich vollstiindig einrollte und zwar zunichst in entgegengesetzter Richtung zum Reize und darauf in gleicher Richtung. Ferner ist beobachtet worden, dass bei Reizung der Mitte des Schwanzes neben rhythmischer Bewegung desselben auch beide Hinterextremitiiten be- wegt werden, d. h. dass der Reiz sich auch nach vorn fortpflanzt, was bei dem Erdsalamander niemals beobachtet worden ist. Reflexbewegungen bei Kidechsen, 27 Es ist endlich auch bemerkt worden, dass auf Reizung des Rumpfes neben der Reaction an der Reizstelle eine Bewegung der diagonalen Vorderpfote auftrat, also wiederum eine Fortpflanzung der Erregung nach dem Vorderende hin stattfand. 8. 3. Eidechsen. Meine Notizen iiber die Eidechse sind nur spiirlich, doch geht aus ihnen hervor, dass sich der Versuch im Wesentlichen wie beim Krd- salamander gestaltet, nur muss man als Reiz directes Sonnenlicht benutzen, da reflectirtes Sonnenlicht die Reizschwelle nicht erreicht. Uebrigens berichtet auch Schiff, bei Reizung des Eidechsenschwanzes durch ein brennendes Ziindhdlzchen eine Sformige Kriimmung des- selben gesehen zu haben (vergl. Schiff, Lehrbuch der Muskel- und Nervenphysiologie 1858 bis 1859, S. 221). Zum Vergleiche fiihre ich noch einige Versuche an dem uns be- kanntesten Objecte, dem Frosche, an; Versuche, welche unter sonst gleichen Bedingungen am kopflosen Rumpfe und den Extremitaten mit directem Sonnenlichte ausgefiihrt worden sind. Wirft man das Lichtbild auf den Rumpf, so habe ich eine Reaction weder an diesem, noch an den Extremitiiten gesehen. Reizung des Oberschenkels gab hingegen Erhebung der Extremitiit und zugleich Bewegung im Kniegelenke. Reizung am Unterschenkel giebt das gleiche Resultat. Reizung am Fuss: Bewegung desselben. Ein anderes Mal giebt Reizung des Fusses Bewegung im Hiift- und Kniegelenke, also wie die erste Reizung am Oberschenkel. Der Reiz ging niemals auf die andere Seite iiber und niemals kam es zu Wischbewegungen, sondern es blieb immer nur bei den einfachen Beugebewegungen. §. 4. Schlussfolgerungen. Wenn wir unsere Reflexversuche bei den Fischen, den Amphibien und Reptilien nochmals durchmustern, so findet man, dass eine Ueber- einstimmung zwischen den einzelnen Thierclassen nicht besteht, dass schon innerhalb der Fische, und gerade bei diesen, die gréssten Unter- schiede vorkommen, nicht minder auch zwischen diesen und den iiber ihnen stehenden Classen; endlich aber auch Unterschiede innerhalb der Classen selbst, z. B. innerhalb der Amphibien, je nachdem es sich um geschwinzte und ungeschwinzte Amphibien handelt. Nehmen wir zunichst den Frosch heraus und betrachten den Reiz, der eben die Schwelle erreicht, d. h. den Reiz, der die erste Be- 98 Fortsetzung. wegung erzeugt, so ist das stets eine Bewegung, welche in der Hohe des Riickenmarkes sich abspielt, wo die sensiblen Nerven in das Riickenmark eintreten, was man wohl auch so ausdriicken darf, dass der ganze Vorgang der Erregung und Bewegung auf eine Metamere beschriinkt bleibt, in einer Metamere sich abspielt. Vergleichen wir hiermit den Haifisch, so ist der Vorgang ein ganz anderer: jeder wirksame Reiz erzeugt eine Erregung, die durch das ganze Riickenmark abliuft und in der wellenformigen Bewegung der ganzen Leibesmuskulatur uns sichtbar wird; mag der primiare Reiz am vorderen oder hinteren Koérperende angreifen. Frosch und Haifisch sind in dieser Beziehung die Aussersten Gegensiitze und alle anderen Fille liegen zwischen diesen beiden Grenz- punkten. In der Mitte zwischen diesen Extremen liegen die Resultate bei den geschwiinzten Amphibien und den Reptilien, wo der Reiz wesentlich in hinteren, den Hinterextremitiiten benachbarten Punkten ebenfalls eine Bewegung erzeugt, welche sich iiber den Reizpunkt hinaus fortpflanzt. Was den Aal anbetrifft, so spricht die am Rumpfe gemachte Beobachtung (Reizstelle ist abwechselnd concay und convex) ebenfalls dafiir, dass der Reiz in dieser Erregung iiber den ersten Angriffspunkt hinausgeht, insofern als wir diese Erscheinung nur bei den Thierarten haben auftreten sehen, wo die erzeugte Bewegung sich weiter fort- pflanzte. Einen weiteren Anhaltspunkt fiir dieses Verhalten hiatten wir in dem Pendeln des Schwanzes sehen konnen, indess wurde der Versuch am Schwanze nur am Schlusse einer Versuchsreihe gemacht, in einem Augenblick, wo man annehmen musste, dass die Erregharkeit daselbst im Abnehmen begritfen war. Zur Zeit als jene Versuche gemacht worden waren, ahnte ich den Zusammenhang der Dinge noch nicht in dem Maasse, um die Versuche so zu disponiren, dass sie in aus- reichender Weise zur Beantwortung aller hier vorliegenden Fragen benutzt werden kénnten. Das soll in Zukunft noch geschehen, unter Benutzung einfacherer Methoden und vor Allem an Praparaten mit moglichst hoher Erregbarkeit. Wenn also auch die vorliegenden Versuche noch einer Erginzung bediirfen, so sind doch bestimmte Zeichen dafiir da, dass auch beim Aale eine Ausbreitung der Erregung iiber den Reizort hinaus stattfindet. Das Neunauge scheint sich zu verhalten wie der Haifisch, doch waren Versuche in etwas grésserer Zahl auch hier wiinschenswerth. Es steht demnach fest, dass die Reflexerscheinungen am Riicken- mark der Thiere aus den verschiedenen Thierklassen sich durchaus verschieden verhalten, so zwar, dass die auftretende Bewegung das eine Mal, z. B. beim Frosch, sich auf die Stelle beschrinkt, auf welche der Fortsetzung. 29 Reiz eingewirkt hat, wihrend in anderen Fiillen die Bewegung sich iiber einen weiteren Theil des vom Riickenmark innervirten Gebietes ausbreitet. Bevor wir zu weiterer Fragestellung iibergehen, modchte ich noch einen Kinwurf niiher beleuchten, der aus der angewendeten Methode abgeleitet werden kénnte. In der That ist namlich der zu den Ver- suchen angewendete Reiz nicht stets der gleiche, wihrend zu gleicher Zeit die Bedingungen der Reizaufnahme (die vollkommen verschieden gebaute Haut vom Haifisch, Aal, Salamander, EKidechsen u. s. w.) ebensowenig gleich sind; Factoren, die eigentlich fiir vergleichende Versuche entweder gleich oder in einem bekannten Verhiltnisse vor- handen sein sollten. Wihrend es keine Schwierigkeit hat, eine con- stante und gleichmissige Wiirmequelle als Reiz herzustellen (z. B. ein Platinplittchen, das auf elektrischem Wege zum Gliihen gebracht wird, womit ich ebenfalls eine Anzahl von Versuchen gemacht habe), ist die Aufnahmefahigkeit resp. die Erregbarkeit der verschiedenen Hautbedeckungen nicht zu veriindern. Allen diesen Schwierigkeiten begegnet man, wenn man fiir jeden Fall die Reizschwelle aufsucht; resp. die eben auftretenden Bewegungen mit einander vergleicht, so dass der Ausdruck fiir die hier gefundenen Thatsachen besser so zu fassen ist: Wenn auf den Warmereiz eine Bewegung auftritt, so bleibt dieselbe beim Frosch auf die gereizte Metamere beschrinkt, wihrend sich dieselbe beim Haifisch iber alle vorhandenen Metameren fortpflanzt; dazwischen liegen die tibrigen Falle. Fragen wir nunmehr nach dem Sinne dieser verschiedenen Re- actionsfiihigkeit des Riickenmarkes der verschiedenen Thierclassen, so erinnere ich an eine andere, von mir festgestellte Reihe von That- sachen, welche unter den Begriff der Locomobilitét der Metameren fallt. Unter Locomobilitiit habe ich verstanden, die Fahigkeit der Metameren, den adaquaten Reiz mit einer Ortsbewegung zu _ beant- worten. So hatte ich festgestellt, dass das Riickenmark des Frosches gar nicht locomobil ist, d. h. alle vom Riickenmark abhingigen Bewe- gungen sind niemals Ortsbewegungen, hingegen ist das Riickenmark des Haifisches in allen Metameren locomobil, d. h. jeder Reiz fiihrt bei dem Haifischriickenmarke zu einer Ortsbewegung und zwar sowohl bei Reizung des Riickenmarkes im Ganzen, wie in einzelnen Metameren desselben. Was das Riickenmark der Eidechse anbetrifft, so ist dasselbe nur in seinem hinteren Theile locomobil, wie im ersten Theile berichtet worden ist. Ueber die Salamander fehlten iiberhaupt solche Er- fahrungen, bis neuerdings Herr Pompilian unter den Augen von Ch. Richet in Paris fiir den Triton genau dasselbe Experiment be- 30 Fortsetzung. schreibt, d. h. er findet, dass das Hintertheil des Thieres, vom Vorder- theile getrennt, in spontane Bewegungen rhythmischen Charakters verfillt. Nach der ganzen Beschreibung handelt es sich fraglos um Ortsbewegung und um die gleiche Erscheinung, die ich bei der Kidechse schon vor Jahren dargestellt habe. Auch die Erklirung, welche die Pariser Forscher geben, fallt principiell mit der meinigen zusammen, indem sie annehmen, dass diese Bewegungen einem schon vorhandenen automatischen Apparate angehoren'). Ich habe oben bei den Fischen den hinteren Theil des Aales mit seinen locomobilen Metameren zu erwiihnen unterlassen, weil, wie ich dort schon bemerkte, die Versuche iiber die Reflexe nicht hinreichend ausgiebig und zahlreich vorhanden waren. Indess wir haben Thatsachen genug, um den Schluss machen zu kénnen; dass iiberall da, wo das Riickenmark aus locomobilen Metameren besteht, der peripher einwirkende Reiz nicht auf die ge- reizte Metamere beschrinkt bleibt, sondern sich iiber alle oder mehrere Metameren fortpflanzt, je nachdem die Locomobilitiit im ganzen Riicken- marke oder nur in Theilen desselben erhalten ist. Im Grunde genommen sind diese beiden Reihen von Erschei- nungen nur der Ausdruck ein und desselben Erregungsvorganges im tiickenmarke, der nach aussen in zwei Formen auftritt, weil die fiusseren Bedingungen verschiedene sind und die Intensitit des Reizes nicht ohne Einfluss sein diirfte. Ich meine, dass der vertical auf- gehiingte Rumpf des Haifisches z. B., den ein Wirmereiz trifft, unter dieser Bedingung eben nur mit einer Contractionswelle antwortet, wihrend derselbe Rumpf, wenn er im Wasser liegt und z. B. mecha- nisch gereizt wird, in eine regelrechte Schwimmbewegung iibergeht, wobei die Reibung gegen das Wasser oder gegen die feste Unterlage des Bodens den peripheren Reiz fortwiihrend erneuert. Auf diese Weise haben wir zwei Methoden, um die Locomobilitat des Riickenmarkes zu untersuchen. Ob die eine schirfer ist als die andere, méchte ich heute nicht entscheiden; dazu miisste noch mehr Beobachtungsmaterial gesammelt werden. Aber soviel ist gewiss und ich mochte das nochmals hervorheben, dass wie die Locomobilitit des tiickenmarkes phylogenetisch von vorn nach hinten abnimmt (und nicht umgekehrt!), so nimmt vielleicht innerhalb ein und desselben tiickenmarkes die Erregbarkeit gegen jeden Reiz gleichfalls von vorn nach hinten resp. vom Kopf- nach dem Schwanzende hin ab. *) Li. ¢, page a6, Vom Riickenmark der Siugethiere und Vogel. 31 coe = S: ov”. Vom Ruckenmark der Saugethiere und der Vogel. Bisher haben wir Kenntniss genommen vom Riickenmarke der Wirbelthiere bis hinauf zu den Reptilien resp. der Eidechse; es bleiben noch die beiden oben bezeichneten Classen iibrig. Was das Riickenmark der Saugethiere anbetrifft, so ist aus den Versuchen von F. Goltz, wenigstens am Hunde, bekannt, dass dessen Metameren weder Locomobilitéit besitzen, noch dass periphere Reize sich tiber weitere Metameren ausbreiten (alle diese Beobachtungen analog gedacht zu unseren Versuchen an Fisch, Frosch und Kidechse). Das Riickenmark des Menschen verhalt sich genau ebenso, wie man aus vielfachen Publicationen in der Literatur ersehen und wie ich aus eigener Beobachtung bestitigen kann. Diese Beobachtungen betreffen Ungliicksfiille, bei denen Menschen aus mehr oder weniger grosser Hohe herabgefallen sind und einen Wirbelbruch mit totaler Zerreissung des Riickenmarkes im oberen Theile erlitten haben, ohne andere wesentliche Verletzungen; insbesondere war bei den noch viele Wochen Lebenden das Bewusstsein vollig ungetriibt, so dass sie auf alle Fragen richtig Auskunft geben konnten. Was die Gruppe der Végel anbetrifft, so liegen aus neuerer Zeit hiertiber Versuche von J. v. Tarchanoff und R. Dubois vor, deren Literatur ich oben schon angegeben habe. Jener beschreibt seinen Versuch folgendermaassen: ,,.Wenn man bei einer Ente kiinstliche Athmung einleitet, das Halsmark in der Hohe des dritten bis vierten Halswirbels.durchschneidet und darauf den Hals vollstiindig oberhalb dieser Stelle abtrennt, nachdem man um denselben eine Ligatur gelegt hat, um die Verblutung zu vermeiden, so erhalt man ein Thier, das, wenn man es reitend auf eine horizontale Holzstange setzt und es mit frei herabhangenden Fiissen darauf leicht befestigt, eine Reihe von vollig coordinirten Schwimm-, Flug-, Schwanz- und Halsbewegungen macht, die sich periodisch wiederholen, ohne jeden dusseren Grund. Diese Bewegungen horen fiir einige Zeit auf, um von Neuem wieder zu beginnen, wie es scheint, ganz automatisch. Bringt man das Thier ins Wasser, so behauptet es sein Gleichgewicht und fahrt fort zu schwimmen, Ofter auch Flugbewegungen zu machen, wie ein normales Thier. Bringt man dieses: Thier auf den festen Boden, so fillt es sofort hin“. Wenn man diese Ente wihrend der Ruhe peripher tactil reizt, so treten Schwimm- oder Flugbewegungen auf, bei peripherer Reizung wahrend der Bewegung tritt umgekehrt Ruhe ein. (Dasselbe hatte Tarchanoff auch bei der Eidechse gesehen.) Oo 1) Fortsetzung. Diese Versuche gelingen am besten bei der Ente, wihrend andere Vogel, wie Hiihner, Hihne, Tauben, Raben u. a. sehr viel rascher zu Grunde gehen. Gegen die Ansicht, dass eine enthauptete Ente ihr Gleichgewicht wohl auf dem Wasser, aber nicht auf dem festen Boden behaupten kénne, erhebt sich R. Dubois und fiihrt den Gegenbeweis in folgendem Versuche!): ,Ich képfte eine Ente mit einem Beilhiebe, welche an- gesichts eines 4 bis 5m entfernten Wassertiimpels aufgestellt war. Das kopflose Thier ging geradeaus auf den Tiimpel los, theils laufend, theils fliegend, warf sich in denselben und setzte dieselben coordinirten Bewegungen im Wasser fort.“ Der Autor betont nochmals, dass die geképfte Ente ihr Gleichgewicht auch auf festem Boden erhalten konne, was im Uebrigen eine ganz landliutige Erfahrung wire. Letzteres scheint richtig zu sein, wie ich einem Vortrage meines verehrten Collegen H. Kronecker in Bern entnehme, den derselbe etwa 7 Jahre vor der Publication jener beiden Forscher gehalten hat. Derselbe sagt?): ,,Uralt ist die Erfahrung, dass der Rumpf vieler Thiere nach der Enthauptung sich noch eine Weile scheinbar willkir- lich bewegt. Der Kaiser Commodus soll sich oft daran vergniigt haben, im Cirkus den laufenden Straussen mit sichelformig gescharften Pfeilen den Kopf abzuschneiden, wonach die Thiere bis ans Ziel weiter- liefen. Lamettrie erziihlt Aehnliches von kalekuttischen Hiihnern, Cuvier von Enten (Oeuvres de Legallois, Paris 1824, p. 41). Ich selbst habe als Knabe oftmals im Hiihnerhofe geschlachtete Tauben und Truthiihner ohne Kopf flattern und laufen sehen. Es erschien mir daher nicht so wunderbar, dass die von Steiner gekédpften Hai- fische noch regelrecht schwimmen.“ Indess muss ich doch bekennen, dass unter den Versuchen an Végeln jener von Tarchanoff insofern am meisten befriedigt, als er mit voller Sicherheit. erkennen lisst, dass nichts vom Nackenmarke stehen geblieben ist; was man den anderen Beobachtungen, wo der Kopf einfach abgeschlagen wird, nicht in gleicher Weise nachsagen kann. Jedenfalls geht aus diesen Versuchen hervor, dass das Riicken- mark der Végel (in specie der Enten) aus lauter locomobilen Metameren besteht, wie ich es ausdriicke, und dass die Vogel sich darin erweisen als eine Gruppe, welche direct im Stamme der Wirbelthiere steht und nicht seitwiirts von demselben; eine Stellung, welche ihnen die Morphologie ebenfalls schon lange anweist. Im Uebrigen ist der Versuch genau so zu verstehen, wie jener bei t) Lc, p:b2s. *) H. Kronecker, Altes und Neues tiber das Athmungscentrum. Deutsche med. Wochenschrift 1887, 8. 785 f. eo Fortsetzung. 3 der Eidechse; er steht in der That aber mit dem analogen Versuche beim Haifische auf einer Stufe, dessen Riickenmark sich ebenfalls aus lauter locomobilen Metameren zusammensetzt, wie das des Vogels. Und auch darin gleichen sich die beiden Versuche, dass einfache, tactile Erregungen der Korperoberfliiche jene Locomotionen auslésen; aber wiihrend es bei dem Vogel die hohe Erregbarkeit des Warm- bliiters ist, diirfte es beim Haifische die primitive Natur des Riicken- markes sein, welches die Auslosung auf diesem Wege ermdglicht. Auch hierin liegt ein Beweis dafiir, dass es sich um keine vom Centrum ausgehende Hemmung handelt. Endlich erscheint es nicht aus- geschlossen, dass man beim Vogel, in gleicher Weise, wie ich es beim Haifisch gesehen habe, auf der Grenze vom Nacken- und Halsmark eine Zone finden diirfte, deren Quertheilung die Locomotion zunichst ver- nichtet. Steiner, Centralnervensystem. IV. B3 Drittes Capitel. Zur Kritik und Abwehr. Seit dem Erscheinen der ersten Hefte dieses Werkes im Jahre 1885 und 1888 sind eine Reihe von Arbeiten veroffentlicht worden, welche meine experimentellen Angaben bestiitigen, theilweise aber auch bestreiten und an ihre Stelle neue Funde setzen, von denen uns hier diejenigen am meisten interessiren, die darauf ausgingen, die Theorie zu widerlegen, welche ich tiber den Innervationsyorgang der animalen Bewegung fiir die verschiedenen Thierclassen entwickelt habe. Unbeirrt um alle diese Angriffe, habe ich mein experimentelles Material weiter verarbeitet und bisher kein Wort der Abwehr ver- lauten lassen. Daraus erwuchs mir allerdings der Nachtheil, dass vielfach geglaubt wurde, ich hatte Nichts zu entgegnen und so schien auch meinen Gegnern das Recht zu verbleiben, da sie das letzte Wort behalten hatten. Auf der anderen Seite hatte ich aber den Vor- theil, dass mir die gegnerischen Arbeiten selbst Material lieferten, aus dem ich Mittel gewann, um zu zeigen, wie meine Theorien an keiner Stelle widerlegt worden sind. Da ich mit dem vorliegenden Hefte diese Sammlung von Arbeiten vorlaufig abzuschliessen gedenke, so musste ich mein Schweigen brechen. Ich werde im Allgemeinen die betreffenden Arbeiten chronologisch anfiihren, doch aber von diesem Grundsatze abgehen, wenn es zweck- miissig sein sollte, ein anderes Verfahren zu befolgen. Zunichst erschien im Jahre 1887 aus dem Strassburger Labora- torium (Prof. Goltz) eine Arbeit von Schrader tiber das Frosch- hirn?), in welcher derselbe mittheilt, dass man ,die ganze Medulla bis zur Spitze des Calamus scriptorius entfernen kann und doch noch vollig coordinirte Locomotion erhalt“. Zum Theil fihrte Schrader den Versuch auch so aus, dass das Nackenmark nur quer durch- schnitten wurde, ohne Entfernung des davorliegenden Schadelinhaltes. Dieser Versuch kénnte in der That geeignet erscheinen, um meine ') Schrader, Max E. G., Zur Physiologie des Froschgehirns (Vorlaufige Mittheilung). Pfliger’s Archiv 1887, Bd. 41, 8. 75 bis 90. — ee Kritik und Abwekr. 35 Annahme eines allgemeinen und dominirenden Bewegungscentrums, das in der Mittelhirnbasis und dem vorderen Nackenmarkabschnitte seinen Sitz hat, zu widerlegen. Indess hatte ich schon ein Jahr vor dem Erscheinen der Schrader’schen Arbeit selbst gefunden, dass das Riickenmark des Haifisches, losgelost vom Kopfe, einer ausgiebigen Locomotion fihig ist, und ich hatte sogar, im Anschluss an die Be- stimmungen der vergleichenden Anatomie, diese Eigenschaft des Hai- fischriickenmarkes als die fundamentale Kigenschaft des Riickenmarkes der Urfische ausdriicklich festgesetzt. Unter diesen Umstiinden war jenes allgemeine Bewegungscentrum nicht mehr zu erschliessen aus den beim Frosch von mir gefundenen Thatsachen, sondern aus der Beobachtung, dass nur die einseitige Abtragung oder Verletzung jener Hirnregion ausnahmslos von derjenigen Form der Zwangsbewegung gefolet war, welche ich als Kreisbewegung (Mouvement de manege — Flourens) zu bezeichnen vorgeschlagen habe — im Gegensatz zu der ebenso von mir festgestellten Thatsache, dass trotz der vorziiglichen Locomotionsfihigkeit jenes Riickenmarkes keine seiner Metameren nach einseitiger Verletzung jene Kreisbewegung giebt. Daraus folgt logischer Weise, dass jene Metamere des Kopfes (es kénnen eine oder einige sein, die eine physiologische Einheit darstellen) eine leitende Rolle, eine Fiihrung des Thieres iibernommen hat, welcher die iibrigen Metameren zu folgen haben!): Allgemeines Bewegungscentrum, Hirncentrum oder fiihrende Metamere sind demnach nur verschiedene Bezeichnungen ein und desselben Verhiltnisses. HMiermit ist jenes Centrum von Neuem und besser fundirt, als es nach den Froschversuchen noch sein konnte. Was jenen Versuch von Schrader betrifit, so giebt er an, seine Frésche drei bis vier Monate beobachtet zu haben; leider unterlisst er zu sagen, wieviel Zeit nach der Operation vergehen musste, bis der Frosch ohne Nackenmark Ortsbewegungen machte. Meine Frische wurden nur bis zu acht Tagen beobachtet. Ich glaube aber nicht, dass es allein die Zeit ist, aus welcher die Differenz im Resultate folgt. Es bleiben hier noch einige merkwiirdige Erscheinungen auf- zukliren, unter denen ich vor Allem erwiihnen méchte jenen von Schrader beschriebenen Bewegungsdrang, in welchen jene Frosche ohne den vorderen Theil des Nackenmarkes verfallen und in dem sie ,,die senkrechte 18cm hohe, glatte Blechwand (eines Behiilters) geschickt uberklettern“, d. h. eine Leistung vollbringen, die sie mit dem vor- 1) In dem Hefte tiber die Fische, 8. 36, habe ich schon auf den Schrader- schen Einwand in einer Fussnote geantwortet, mir Weiteres auf das Erscheinen seiner ausfiihrlichen Arbeit conhehaliend: die nicht mehr erschien, da inzwischen der strebsame Forscher leider seinem Berufe zum Opfer gefallen ist. 3* 36 Kritik dersten Theile des Nackenmarkes nicht mehr erreichen, da nach meinen, von Schrader bestiitigten Angaben der Kletter- oder Balancir- versuch mit der Abtragung des Mittelhirns definitiv verschwindet. Wihrend die Locomotionsfahigkeit bestehen bleibt, nimmt dieser ,,Be- wegungsdrang* wieder ab, wenn man sich mit der Abtragung des Nackenmarkes dem Calamus scriptorius nihert. Uebrigens ist diese Beobachtung nicht ganz neu, denn Fano hat bei Schildkroten, die er im Nackenmarke operirt hatte, mehrere Jahre friiher den gleichen Bewegungsdrang gesehen und deshalb in jene Gegend einen ,Nodo deambulatorio medullare“ verlegt. Da der Weg, welchen seine Schildkréten zuriicklegten, Kreisbahnen waren, so habe ich zu jener Zeit angenommen, dass es sich um zwangsweise Kreisbewegungen handelte. Ich will damit nicht behaupten, dass in den Froschversuchen es sich ebenfalls um Kreisbewegungen handelt, aber die Aehnlichkeit dieser beiden Versuchsreihen an Schildkrote und Frosch, gerade mit Bezug auf den Bewegungsdrang, ist unverkennbar und deshalb wollte ich hier auf jene Schildkrotenversuche hinweisen. Auch sonst fehlt es auf diesem Gebiete nicht an Beobachtungen, die leicht zu Missverstandnissen Veranlassung geben. So_berichtet H. E. Hering, der im Interesse ganz anderer Versuche seinen Frdschen die Med. oblongata 1 bis 2mm iiber dem Calamus scriptorius durch- schnitten hatte, unter Anderem Folgendes!): ,,Uebrigens habe ich diese Froésche ohne nachweisbare Veranlassung springen sehen, wobei der Sprung nur durch die synchrone Streckung beider Hinterextremi- tiiten erfolgte, wihrend ich die vorderen Extremitaéten nicht am Sprunge betheiligt sah.“ Der unbefangene Leser bekommt den Ein- druck, dass es sich hier um Locomotionen handelt, wahrend es in der That jene Spriinge sind, die selbst ein frisches galvanisches Praparat noch machen kann, wenn die beiden Hinterbeine gelegentlich durch denselben Reiz plotzlich mit grosser Kraft gestreckt werden (siehe Schiff’s Physiologie). Im Jahre 1892 macht uns Danilewsky mit Versuchen am Amphioxus bekannt, die in ihrem Resultate indirect meiner Theorie entgegentreten2). Er beschreibt folgenden Versuch: ,,Durchschneidet man das ganze Thier (Amphioxus) quer durch in zwei Halften, so bemerkt man mitunter in dem vorderen Theile noch_ ,,willkiirliche“ Bewegungen; bald biegt sich, bald streckt sich dasselbe (ohne Loco- ') H. E. Hering, Ueber die nach Durchschneidung der hinteren Wurzeln auftretende Bewegungslosigkeit des Riickenmarkfrosches. Pfliiger’s Archiv, Bd. 54, S. 614. *) Danilewsky, Zur Physiologie des Centralnervensystems vom Amphioxus. Ebenda 1892, Bd. 52, S. 393 bis 401. und Abwekhr. if motion) ohne sichtbaren 4usseren Reiz. Diese leichten, langsamen Bewegungen erinnern eher an willkiirliche als an Reflex- resp. Ant- wortsbewegungen. Die hintere Hilfte ceteris paribus dagegen bleibt die ganze Zeit vollkommen ,unbeweglich*. Danilewsky glaubt also, dass das Vordertheil des Thieres noch willkiirliche Bewegungen macht; eine Beobachtung, die ich wohl auf sich beruhen lassen kénnte, da ich in meinem Versuche am Amp/lioxus nicht das Auftreten von Willkiir- bewegungen verfolgt habe, sondern nur die ganz einfache Beobachtung zu machen hatte, ob diese Amphioxusstiicke noch Ortsbewegungen machen, gleichviel ob dieselben auf Reiz oder ohne einen solchen auf- treten. Bedeutungsvoll fiir mich wird die Arbeit aber erst durch ihre Schlussfolgerungen. Nachdem Danilewsky noch weitere Versuche etwa der gleichen Art gemacht hat, kommt er zu folgender Ableitung: Aus diesen Beobachtungen halte ich mich fiir berechtigt den Schluss zu ziehen, dass in dem vordersten Theile des Markes — im ,,Gehirn“ der Autoren — die Centren der willkiirlichen Bewegung gelegen sind.“ Ich bin dagegen der Ansicht, dass der Amphioxus kein Gehirn besitzt, sondern aus gleichwerthigen, locomobilen Metameren zusammengesetzt ist. Allerdings habe ich schon in meinem Buche iiber die Fische (S. 84) auf die Schwiche meiner Argumentation aufmerksam gemacht, die daraus folgt, dass man beim Amphioxus keine einseitigen Durch- schneidungen seines Nervensystems ausftihren kann; der von mir ge- machte Schluss also nicht bindend ist. Erst die entsprechenden Ver- suche an den Anneliden bringen hier Gewissheit, worauf ich an geeigneter Stelle ebenfalls hingewiesen habe (s. Evertebraten, S. 89). Was die Beobachtung von Danilewsky an und fir sich betrifft, so kann ich das Urtheil iiber jene Willkiirbewegungen getrost dem Leser iiberlassen, indem ich fiir Diejenigen, welche den Amphioxus nicht aus eigener Anschauung kennen, nur die von mir schon friiher gemachte Bemerkung wiederhole (s. Fische, 8. 41), dass dieses merk- wiirdige Thier nur die eine Bewegung kennt, zu entfliehen, wenn man es reizt. Wer will unter diesen Umstiinden sagen, was willkiirlich ist ? Demnach diirfte der Schluss von Danilewsky nicht mehr zu Recht bestehen und ist daher auch nicht geeignet, meine Ansicht von dem Nervenmechanismus des Amphioxus zu widerlegen. In den Jahren 1892 und 1893 erschienen einige Arbeiten von A. Bickel iiber das Nervensystem vom Amphioxus, vom Aal, vom Frosch und einigen Siugethieren!), welche nicht sowohl gegen meine Theorie gerichtet sind, die aber mit meinen eigenen Versuchen am Amphioxus 1) A. Bickel, Beitrage zur Lehre von den Bewegungen der Wirbelthiere. Pfliiger’s Archiv 1892, Bd. 65; und Beitrage zur Riickenmarkphysiologie des Aales. Ebenda 1893, Bd. 68. 38 Kritik und am Aal in einer Weise umspringen, dass ich den Leser dariiber etwas aufkliren muss. Auf Seite 236 der ersten Arbeit heisst es: »Erst mir gelang es, am Aal und am Frosch auf eine vollkommen einwandsfreie Methode zu zeigen, dass das Riickenmark in der That die Fihigkeit besitzt, spontane Bewegungen in unserem Sinne!) aus- zufiihren.* Niemand diirfte dem Herrn Verfasser den Ruhm dieser Entdeckung streitig machen, ganz gewiss wird das von mir nicht geschehen! Auf Seite 235 aber sagt Bickel: ,Am Amphioxus und an Fischen experimentirte Steiner. Doch sind seine Versuche nicht be- weisend, da er die Thiere nicht am Leben erhielt und man so an- nehmen kann, dass durch die Operationswunde die Nervencentren kiinstlich erregt werden. In diesem Falle hatten wir dann einen nachweisbar directen Reiz.“ Und weiter auf Seite 238: ,Aber wir haben am Aal und am Frosch Resultate einwandsfreier Versuche ge- bracht; diese Versuche an hodheren Thieren sind es, welche uns erlauben, auch die Ergebnisse der weniger exacten Experimente an den niederen Thieren, wie sie von Steiner angestellt wurden, als giiltig anzusehen, da beide Versuchsergebnisse mit einander iiberein- stimmen.“ Nun hat ja jeder Autor das Recht, die Versuche seines Vorgiingers zu verwerthen, aber ich muss doch ganz entschieden gegen ein Verfahren protestiren, das meine Versuche, die der Verfasser vollkommen bestitigt, in den Augen des nicht orientirten Lesers fiir minderwerthig erscheinen liasst, weil sie seinen Fragestellungen nach der spontanen Beweglichkeit nicht entsprechen, wihrend sie doch meine Frage, ob das Aalriickenmark noch Ortsbewegungen macht, vollkommen und ausreichend bejaht haben. Dass meine Ergebnisse schliesslich doch noch Gnade finden und als beweisend erachtet werden, auch fiir jene Fragestellung, kann an meiner Missbilligung jenes Ge- bahrens nichts aindern, da diese ganze Darstellung eben nicht honett ist2). Aus dem Jahre 1891 stammen zwei Arbeiten von Loeb, denen sich eine weitere im Jahre 1894 anschliesst, die hier besprochen werden miissen*), Aus der ersten Arbeit interessirt uns die Thatsache, dass ‘) ,In unserem Sinne“ entspricht einer eigenen philosophischen, an Kant angelehnten Definition, die von unserer landlaufigen Auffassung von Spontaneitat abweicht. *) Was iibrigens diese ,spontanen Bewegungen des Aalriickenmarkes‘* be- trifft, so méchte ich den Leser ohne weiteren Commentar auf meine Versuche am Riickenmarke der Eidechse, sowie deren Interpretation im Verein mit den Beob- achtungen von Tarchanoff und R. Dubois verweisen (s. oben 8. 21). *) Loeb, J., Ueber Geotropismus bei Thieren. Pfliger’s Archiv 1891, Bd. 49, S. 175. Ueber den Antheil der Hérnerven an den nach Gehirnverletzung aut- tretenden Zwangsbewegungen, Zwangslagen und associirten Stellungsanderungen der Bulbi und Extremitaten. Ebenda 1891, Bd. 50, S. 66. Beitrage zur Gehirn- physiologie der Wiirmer. Ebenda 1894, Bd. 56, 5S. 247. und Abwehr. 3 Haifische, denen beide Nn. acustici durchschnitten oder die beider- seitigen Otolithen entfernt worden sind, die normale Bauchlage beim Schwimmen nicht mehr einhalten kénnen, sondern mit nach oben ge- kehrtem Bauche schwimmen. Der Verfasser nennt diese Erscheinung im Anschluss an gewisse Vorkommnisse bei Pflanzen und Thieren Geotropismus. In der zweiten Arbeit kommt er an der Hand noch weiterer Versuche zu folgendem Schlusse: ,,Die Bedeutung des Mittel- hirns und gewisser Theile der Medulla oblongata fiir Zwangsbewegungen, Zwangslagen und associirte Stellungsiinderungen der Bulbi und Flossen beruht auf dem Umstande, dass diese Theile Akusticusbestandtheile enthalten.“ In beiden Arbeiten werden neben einer Anzahl eigener Versuche auch die Versuche, die von mir an Haifischen gemacht worden sind, wiederholt und iiberall bestiitigt. Soweit ist Alles gut gegangen, erst in der dritten Arbeit giesst Herr Loeb die ganze Schale seines Un- muthes iiber mich aus; erst da scheint er sich zu der Erkenntniss durchgerungen zu haben, dass meine Theorien mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden miissen. Nachdem er meine Definition des Gehirns wortlich angefiihrt hat, lasst er sich des Weiteren also vernehmen: Diese Definition Steiner’s fiihrt zu zwei neuen Folgerungen. Zunichst die, dass das Grosshirn beim Menschen nicht zum Gehirn gehort, da ja bekanntlich einseitige Zerstérung desselben keine Zwangsbewegung herbeifiihrt. Steiner selbst hat das bemerkt. Er hat namlich ver- mittelst seiner Definition gefunden, dass der Octopus ,ein Grosshirn besitzt“, ,aber kein Gehirn“. ,Kein Gehirn zu besitzen, aber ein Grosshirn, klingt befremdlich und sogar paradox, aber vielleicht nur, weil wir einen solchen Fall bisher nicht erlebt haben.“ Die zweite nothwendige Folgerung aus Steiner’s Definition ist die, dass das Ohr ein Gehirn ist. Diese Folgerung ist zwar von Steiner nicht gezogen worden, aber sie ist unabweisbar, denn erstens ruft einseitige Exstir- pation des Ohres Zwangsbewegungen hervor und zweitens ist der Hoér- nerv ein ,hdherer“ Sinnesnery. Steiner setzt auch ferner voraus, dass doppelseitige Zerstérung eines Organs, dessen einseitige Zerstorung Kreisbewegungen hervorruft, die spontanen Progressivbewegungen un- méglich macht. Zwangsbewegungen kann man beim Haifisch vom Nackenmark aus ausldsen und hier liegt nach Steiner auch das ,all- gemeine Bewegungscentrum“ dieses Thieres. Steiner selbst aber hat gezeigt, dass ein Haifisch nach Verlust des ganzen Nackenmarkes sich noch spontan bewegt... Allein es ist nicht die Aufgabe der Physiologie, eine Definition fiir ein Organ zu finden, sondern es interessirt uns, die Function des betreffenden Organes zu kennen. 40 Kritik So viele Siitze hier angefiihrt sind, so viele Irrthiimer und Miss- verst’indnisse finden sich zu meinem lebhaften Bedauern darin aus- gesprochen. Denn es ist ein ganz unzweideutiger Irrthum, dass ein Haifisch nach Verlust des ganzen Nackenmarkes sich noch spontan bewegt. Ich habe allerdings gefunden, dass ein gekodpfter Haifisch noch regelrecht schwimmt (s. Fische, S$. 57), aber ich habe niemals behauptet, dass er spontan schwimmt; mir kam es nur darauf an, zu wissen, ob er Locomotion macht, wihrend ich mich tiber spontan gar nicht geiiussert habe — womit dieser Punkt wohl erledigt sein kann. Wenn der Verfasser meint, dass es nicht Aufgabe der Physiologie ist, eine Definition fiir ein Organ zu finden, sondern es uns interessirt, die Function des Organs zu kennen, so muss ich diese Belehrung fiir meine Person ablehnen, da ich sowohl eine Reihe von Thatsachen neu aufgefunden, wie viele Versuche meiner Vorgiinger wiederholt habe; dagegen méchte ich aber bemerken, dass der Versuch nicht in sich Endzweck, sondern dass er nur ein Mittel ist, um uns den Zusammen- hang der Dinge zu erschliessen. Glauben wir geniigende Erfahrungen gesammelt zu haben, so gehen wir dazu iiber, den Mechanismus, den wir studiren, zu construiren, worauf sich das Verstiindniss und event. eine Definition desselben ergiebt. Aber trotz dieses von der Methode vorgezeichneten Weges bin ich nicht freiwillig daran gegangen, das Gehirn zu definiren, sondern erst, als mir im Experimente alle die Functionen unter den Handen schwanden, die wir sonst dem Gehirne zusprechen: das Grosshirn des Knochenfisches war ohne jede Function, das Tectum opticum war Grosshirn; das Grosshirn des Haifisches war Riechcentrum, also auch hier kein Grosshirn; weiter ein in seinen Functionen héchst reducirtes und nach Schrader sogar wieder inhalts- loses Grosshirn bei den Amphibien; ferner ein miichtiges Kleinhirn bei den Fischen, dasselbe Organ ganz winzig bei den Amphibien — da fragte ich mich, giebt es denn im Bereiche der Bewegung nicht irgend eine Erscheinung, welche durch die Wirbelthiere hindurch, wenigstens bis zu den Reptilien hinauf, ein fiir alle Mal an ein und denselben morphologisch feststehenden Hirntheil gebunden ist? Hier zeigte sich denn, dass es die Zwangsbewegungen, und unter diesen namentlich die Manege- oder die von mir benannte Kreisbewegung ist, welche durch alle Wirbelthierclassen hindurch an ein und den- selben Hirntheil gebunden ist, wahrend das Riickenmark des Haies, trotz seiner ausgesprochensten Locomobilitiit davon nichts zeigt. Wie das Weitere hinzugekommen ist, habe ich an der betreffenden Stelle schon geschildert und brauche den Leser damit nicht weiter aufzu- halten. Also es war nicht etwa ein Sportbediirfniss, wie Loeb sich vorzustellen so freundlich ist, sondern die neuen Erfahrungen zwangen und Abwehkr. 41 mir die Aufgabe in die Hand, nach dem Inhalte des Gehirns in seiner einfachsten Form zu forschen und dafiir eine méglichst einfache Formel zu finden, was man eben eine Definition nennt. Der schwerste Irrthum beruht aber in der von Loeb gezogenen Schlussfolgerung, dass nach meiner Definition das Ohr Gehirn sei, da ja einseitige Durchschneidung des Hornerven Zwangsbewegungen gebe. Zunichst muss ich, meine friiheren Erorterungen erginzend, hervor- heben, dass ich allerdings stets allgemein von Zwangsbewegungen ge- sprochen habe, dass ich aber wesentlich die Kreisbewegung gemeint habe, weil mir diese in allen ihren Beziehungen, namentlich als Ausfallserscheinung, vollig klar und durchsichtig geworden, was fiir die Rollbewegung nicht galt, die mir haufig den Eindruck einer Reiz- erscheinung machte. Hauptsichlich der Kiirze halber und weil ihre Kenntniss weit verbreitet ist, benutzte ich den Ausdruck Zwangs- bewegungen, meinte aber die Kreisbewegung, was auch dem aufmerk- samen Leser gewiss nicht entgangen sein wird. Wie ich heute iiber die Rollbewegung denke, werde ich in einem spiteren Abschnitte noch darthun. i Wenn ich jetzt in die Definition an die Stelle des allgemeineren ‘Ausdruckes Zwangsbewegung den speciellen Ausdruck Kreisbewegung zu setzen wiinsche, so bleibt fiir Loeb der Standpunkt der gleiche, da nach seiner oben wortlich wiedergegebenen Auffassung alle dem Mittelhirn zugehorigen Zwangsbewegungen ihre Ursache in dem Um- stande finden, dass das Mittelhirn Akusticusbestandtheile enthilt. Ob- gleich es meiner eigenen Auffassung entspricht, dass aus dem Akusticus- kern Bahnen centralwirts nach dem Mittelhirn gehen, um dort auf das allgemeine Bewegungscentrum einzuwirken, wie ich es auch von Opticusbahnen annehme, so werde ich doch beweisen, dass die Stérungen nach einseitiger Abtragung des Mittelhirns und jene nach Zerstérung des Hornerven oder seiner Endausbreitungen im Ohr verschiedenen Quellen ihren Ursprung zu verdanken haben. 1. Die zweckmassige Entfernung der Bogenginge beim Haifische ist, wie schon Sewall gesehen und ich naher bestimmt habe, nicht nothwendig von Gleichgewichtsstorungen gefolgt (siehe Fische, 8. 119), wiihrend die einseitige Abtragung des Mittel- hirns ausnahmslos zu Stérungen fihrt. 2. Operirt man so, dass, wie ich ebenfalls gezeigt habe, nach Verletzung des Ohres Gleichgewichtsstorungen folgen, d. h. stelle ich mich selbst auf den Standpunkt meiner Gegner, so sind doch die Storungen nach einseitiger Abtragung des Mittelhirns und des benachbarten Nackenmarkes nach meinen eigenen Versuchen am Frosch und am Haifisch im Wesent- 42 Kritik lichen Kreisbewegungen, wihrend die einseitige Zerstérung des Ohres resp. der Eintrittsstelle des Hérnerven in das Nackenmark wesentlich zu Rollbewegungen fiihrt. 3. Nach Loeb’s oben aufgefiihrtem Versuche entsteht nach doppelseitiger Durchschneidung des Hornerven stets Geo- tropismus; die doppelseitige Abtragung des Mittelhirns giebt aber am Haitische keinerlei Gleichgewichtsstérung nach meinen von Loeb bestatigten Versuchen. 4. Wenn man, wie ich nachgewiesen habe, einen Hai kopft, der nach Abtragung der einen Mittelhirnhalfte wenigstens zehn Stunden lang im Kreise herumgeschwommen war, so setzt der- selbe dieselbe Kreisbahn fort; wenn man dagegen einen Hai- fisch kopft, der nach einseitiger Verletzung des mittleren Nackenmarkes resp. der Eintrittsstelle des N. acusticus charakteristische Rollbewegungen bis 24 Stunden lang gemacht hat, so setzt derselbe die Rollbewegung nicht fort, sondern schwimmt so, wie wenn er vorher ganz unversehrt gewesen ware (s. Fische, 8. 85 bis 87). 5. Die ganze grosse Gruppe der Arthropoden giebt nach halb- seitiger Abtragung des Dorsalganglions oder der abgehenden dorsoventralen Commissur regelmassig und ausnahmslos die- selbe Kreisbewegung mit allen ihren besonderen Charakteren, wie wir sie bei den Wirbelthieren kennen, obgleich der bei mehreren Gruppen vorhandene Gehérapparat, einseitig zerstort, niemals irgend welche Gleichgewichtsstérung erzeugt. Die eine wie die andere Thatsache zeigt uns simmtliche Autoren in erfreulicher Uebereinstimmung. Aus diesen Thatsachen ist zu folgern, dass Loeb’s oben wieder- gegebene Auffassung ein Irrthum ist, es seien die nach Mittelhirn- lisionen auftretenden Zwangsbewegungen davon abzuleiten, dass dort Akusticusbestandtheile lidirt werden. Die Erklirung, welche ich den Zwangsbewegungen gegeben habe, ist in den Heften iiber Frosch und Fisch enthalten; insbesondere fiir die Kreisbewegung bleibt sie auch heute noch dieselbe. Wenn Loeb endlich ausfiihrt, dass nach meiner Definition das Grosshirn beim Menschen nicht zum Gehirn gehort, so zeigt er damit zu meinem grossen Bedauern nur, dass er den Sinn meiner ganzen Arbeiten und die Definition in ihrer Einfachheit gar nicht begriffen hat, denn ebenso gut, wie seine Behauptung, kénnte man aufstellen, dass das Tectum opticum der Wirbelthiere, oder das Kleinhirn, sagen) wir vorerst bis hinauf zu den Reptilien, nicht zum Gehirn gehoren, weil ihre einseitige Abtragung keine Zwangsbewegung giebt. Die und Abwehr. 43 Definition bezeichnet naturgemiss nur das Mindestmaass dessen, was ein Centraltheil haben muss, um Gehirn genannt werden zu kénnen; reicht aber andererseits auch aus, um ein einfachstes Gehirn zu sein! Was ein Gehirn an Functionen noch haben kann, wenn es sich fortentwickelt, konnte in jener Definition gar nicht zum Ausdruck gebracht werden, weil sie sonst sehr bald zu eng werden diirfte. Die Méglichkeit der Entwickelung ist aber darin vorgesehen, da, wie ich an anderer Stelle schon ausgefiihrt habe, jedes Centrum eines héheren Sinnesnerven aus sich ein Grosshirn ent- wickeln kann und speciell das Grosshirn der Wirbelthiere, also auch das des Menschen, sich aus dem Riechcentrum entwickelt hat. Hitte Loeb meine Arbeiten mit der nothigen Autmerksamkeit gelesen, so konnte ihm das Alles nicht entgehen und die Schmerzen, welche ihm der arme Octopus verursacht, der ohne Gehirn, nur mit Grosshirn ausgestattet, die Freuden und Leiden seines feuchtkalten Daseins zu geniessen verurtheilt ist, waren seiner thierfreundlichen Seele erspart geblieben. In dem gleichen Jahre begegnen wir einer Arbeit von B. Fried- linder iiber den Regenwurm!), in welcher sich derselbe der Kritik Loeb’s iiber jene Definition anschliesst; zum Schluss indess bemerkt: Im Uebrigen aber bestiitigen meine hierauf beziiglichen Versuche am Regenwurm die entsprechenden Versuche Steiner’s an anderen Anne- liden. Hoffentlich kommt der Verfasser an der Hand der obigen Aus- fiihrungen auch noch dahin, meine theoretische Auffassung der Dinge ebenso zu bestiitigen, wie er es meinen Versuchen gegeniiber gekonnt hat. Im nachsten Jahre erscheint eine ausgedehnte Untersuchung von Fr]. Cath. Schépiloff in Genf2), aus welcher wir hier nur folgenden Versuch herausnehmen und naher beleuchten wollen. Es werden zwei Frésche ‘am 15. Juli 1893 dadurch in Kreisbewegung versetzt, dass ihnen das rechte Mittelhirn vollstandig entfernt wird. Die Kreis- bewegung dauert ununterbrochen fort, nimmt aber an Intensitiit allmihlich ab und ist im December desselben Jahres, d. h. nach circa fiinf Monaten, so vollstiindig verschwunden, dass man diese Thiere von ihren unversehrten Genossen nicht mehr unterscheiden kann (S. 102 bis 103). Obgleich Schépiloff eine Regeneration von Nerven- substanz nicht fiir ausgeschlossen halt, so zeigte doch die Autopsie ') B. Friedlander, Beitrage zur Physiologie des Centralnervensystems und des Bewegungsmechanismus der Regenwiirmer. Pfliiger’s Archiv 1894, Bd. 58. *) Schepiloff, Recherches sur les nerfs de la VIII™e paire cranienne et sur les fonctions du cerveau et de Ja moélle chez les grenouilles etc. Mémoires de la société de physique et d’histoire naturelle de Geneve T. XXXII, 1895. 44 Kritik jener beiden Thiere nichts von Regeneration; nur war die durch Ent- fernung des rechten Mittelhirns entstandene Liicke dadurch erheblich verkleinert worden, dass sich das dahinter liegende Nackenmark in dieselbe hineingedringt hatte. Zur Erklarung des interessanten Versuches sagt die Verfasserin Folgendes: Quel est le mécanisme de ce rétablissement des fonctions, il est difficile de le dire, je pense que c’est le nerf auditif du cdté de la lésion, qui acquiert apres quelque temps une prédominance plus grande (et ceci est un fait), et ainsi les sensations venant des deux labyrinthes s’égalisent; de la, symétrie de position et des mouvements. Nachdem ich oben schon gezeigt habe, dass diese Auffassung eine irrige ist, scheint mir dieser Versuch in folgender Weise erklirbar: Nach meiner Auffassung bleibt in diesem Versuche der Antheil des allgemeinen Bewegungscentrums noch stehen, welcher im Nackenmark gelegen ist. Es sind bekanntlich die Empfindungen des Hautorganes, ganz allgemein ausgedriickt, um die es sich dabei handelt. Wird nun der vordere Theil abgetragen, so erstarkt allmihlich der restirende Theil unter dem Einflusse der von der Peripherie einwirkenden Haut- reize auf diesen so weit, dass sich das Gleichgewicht der Innervation allmihlich wieder herstellen kann. Die Arbeit von A. Bethe aus dem Jahre 1897 anzufiihren, welche in dem Hefte der Evertebraten aus dort angegebenen Griinden nicht aufgefiihrt werden konnte, befriedigt zunaichst mein literarisches Ge- wissen'). Da sie sich, etwa nach ihnlichen Gesichtspunkten, wie die oben besprochenen Arbeiten, bemiiht, meine Theorien zu widerlegen, kann ich indess hier von einer Besprechung derselben absehen, um so mehr, als ich aus besonderen Griinden die Absicht habe, ihr spiter einen eigenen Artikel zu widmen. Aus Alledem folgt, dass ich keine Veranlassung habe, meine Theorie zuriickzuziehen. Da, wie ich gesagt habe, Irrthiimer und Missverstiindnisse die Veranlassung zur Bekimpfung meiner Ansicht gegeben haben, die vielleicht meine friihere Darstellung selbst verursacht hat, so will ich dieselbe hier kurz und klar wiederholen, um zugleich einen weiteren Beweis anzuschliessen, der sich aus Versuchen ableitet, die mittler- weile von ganz unbetheiligter Seite gemacht worden sind. Ich nehme an, dass die Akranier, nach dem Typus des Amphioxus, aus lauter locomobilen Metameren zusammengesetzt sind, welche die Bewegung *) A. Bethe, Vergleichende Untersuchungen iiber die Functionen des Central- nervensystems der Arthropoden. Pfliger’s Archiv, Bd. 68, 1897. und Abwehr. 45 des Gesammtthieres durch coordinirte Thiitigkeit aller dieser Metameren erzeugen. Der nervése Mechanismus einer jeden solchen Metamere ist der eines gewodhnlichen Reflexapparates; also Anregungen von der Haut, welche im Centrum in Bewegung umgesetzt werden, die aber, als Besonderes, volle Ortsbewegung erzeugen kénnen. Bei dem Ueber- gange zu den Cranioten geben diese einzelnen Metameren ihre Function allmiihlich und mehr oder weniger nach vorn so ab, dass die vorderste resp. die vordersten Metameren erstarken und die hinteren beherrschen oder fiihren, womit nothwendig verbunden ist, dass der ganze Inner- vationsmechanismus an der vordersten Stelle fiir simmtliche Metameren nochmals zusammengefasst oder wiederholt wird!). So hat jeder Muskel eine doppelte Innervation, namlich die primaire in seiner Metamere und eine secundiire im Vorderende. Das Letztere folgt aus der Thatsache, dass die Abtragung des Vorderendes den Muskel keiner unter allen diesen Metameren wirklich lihmt. Dass die vorderste Metamere die Fiihrung iibernimmt, geht aus der Thatsache hervor, dass nur die einseitige Verletzung der Vordermetamere Kreisbewegung giebt. Diese Vordermetamere enthilt das, was ich das allgemeine Bewegungscentrum nenne. Dass solche phylogenetische Wanderung der Functionen von hinten nach yvorn auch noch anderweitig vor- kommen, lehren folgende Versuche. M. Pompilian berichtet?), dass, wenn man einen Blutegel in mehrere Stiicke schneidet, die einzelnen Fragmente spontane rhythmische Bewegungen machen. Er verbindet nun ein solches Stiick, gewohnlich das Hinterende, mit einem Schreib- hebel, legt die Ganglienkette bloss und reizt dieselbe mit Inductions- strémen, worauf je nach der Anzahl der Reizungen in der Zeiteinheit eine gréssere oder geringere Beschleunigung der automatischen Be- wegungen eintritt. Er fahrt dann wortlich so fort: .S¢ Von excite la chaine ganglionaire nerveuse au moment ow une contraction spontanée est préte @ attendre son maximum, on provoque un reldchement plus ou moins rapide.... En résumé on voit que, excitant les centres nerveux automatiques, on peut exciter ow inhiber leur fonctionnement.* Worauf ich hier aufmerksam machen mochte, ist die Thatsache, dass neben dem Bewegungsapparat jede Metamere auch noch einen Hemmungs- apparat besitzt. (Jene Versuche sind im Laboratorium des physiolog. Instituts der Pariser Universitit gemacht worden.) Weiter hat *) Dass diese Metameren auch noch andere Functionen, wie z. B. Hemmungs- wirkungen, haben kénnen, ist nattrlich nicht ausgeschlossen und soll auch hier nicht ausgeschlossen werden, aber die allererste und wichtigste Function bleibt die Locomotion, fiir welche zunachst einmal jene Feststellungen zu machen waren. *) M. Pompilian, Accélération et inhibitions des mouvements automatiques de la sangsue. Compt. rend. des séances de la société de biologie de Paris 1899, p. o74. 46 Kritik A. Caselli gefunden’), dass bei der Languste die Schwanzbewegungen, welche man bei Reizung einer Lingscommissur zwischen zwei Ab- dominalganglien erhilt, sofort ganz aufgehoben werden, wenn man zugleich das Oberschlundganglion elektrisch reizt. Reizung der Thorakal- ganglien iibt diese hemmende Wirkung nicht aus. Betrachtet man diese beiden Versuchsreihen unter dem von mir entwickelten Gesichtspunkte, dass vom Ringelwurm bis zu den Crustaceen eine continuirliche aufsteigende Entwickelungsreihe vorhegt, so sehen wir, wie die in jeder Metamere des Ringelwurmes vorhandene Hemmungs- function phylogenetisch nach vorn wandert und schliesslich bei der héchsten Gruppe die hinteren Metameren vollig verlassen hat, um sich in dem Nerventheil festzusetzen, in den ich das allgemeine Bewegungs- centrum verlegt habe, d. h. genau, was ich schon lange fiir die einfache Ortsbewegung angegeben habe, vollzieht sich hier in einer anderen centralen Function in der Hemmung, was auf den Leser, welcher dies an dem Vorgange der Locomotion nicht hat sehen konnen, offenbar viel sinnfalliger wirken mag! Da ich nachgewiesen habe, dass jene Reihe der Evertebraten eine vollige Analogie zu der Wirbelthierreihe darstellt, so gilt fiir diese auch, was dort gefunden worden ist, um so mehr, da die Kenntniss von Hemmungswirkungen yon Seiten des Gehirns auf das Riickenmark uns liingst geliufig ist. Der Widerstand gegen meine Arbeiten geht wesentlich von dem Strassburger physiologischen Laboratorium aus, dessen Leiter Professor Goltz ist, den vielleicht nicht bald Jemand unter den Fachgenossen so gut zu verstehen mag, wie ich, da ich genau an derselben Stelle mit diesen Arbeiten eingesetzt habe, wo auch er begonnen hat. Beide waren wir iiberrascht von der auffallenden Selbstiindigkeit, welche gewisse Centren des Centralnervensystems der niederen Wirbelthiere aufweisen. Bald aber trennen sich unsere Wege auf das Deutlichste: Was ich will, habe ich im Laufe dieser Arbeiten wiederholt auseinander- gesetzt und jetzt zuletzt von Neuem vertheidigt; was Goltz eigentlich will, das ist wenig békannt geworden, weil es nur so ganz nebenbei einmal geiiussert worden ist und zwar am Schlusse der Arbeit von Schrader iiber das Froschhirn, wo es also heisst2): ,,.Die mitgetheilte Versuchsreihe lehrt, dass man das Centralnervensystem des Frosches theilen kann in eine Reihe von Abschnitten, welche einer selb- stiindigen Function fahig sind. Sie niihert das morphologisch ge- ') A. Caselli, Untersuchungen iiber die reflexhemmende Function des oberen Schlundganglions der Languste (Palinurus vulgaris). Pfliiger’s Archiv 1899, Bd. 74, S. 158. Pease: und Abwehr. 47 schlossene Centralorgan in seiner physiologischen Auffassung dem centralen Nervensystem jener niederen Thiere, bei denen die functionelle Selbstandigkeit und Gleichwerthigkeit darin ihren morphologischen Ausdruck findet, dass die Nerven gesonderten Ganglienknoten ent- springen, welche nur durch Commissuren verbunden sind. Sie spricht nicht fiir die Alleinherrschaft eines einheitlichen centralen Apparates, auch nicht fiir einen Bauplan mit einer Rangordnung verschieden- werthiger Centren, sondern fordert auf, die Centralisation zu suchen | in einer vielseitigen Verkoppelung relativ selbstiindiger Stationen. Das Grosshirn ist hier ausser Betracht gelassen. Seine Bedeutung fiir den Gesammtplan haben wir bei unserem Versuchsthier weiter ein- geschrankt, als es bisher geschehen. In der aufsteigenden Thierreihe gewinnt es aber morphologisch wie physiologisch beherrschenden Ein- fluss, dessen Art und Umfang Streitpunkt des Tages ist.“ Nach Goltz beruht also der Bauplan des Centralnervensystems, zunichst des Frosches, auf einer vielseitigen Verkoppelung relativ selbstindiger Stationen. In der ganzen Betrachtung fehlt das Grosshirn, dem aber in der aufsteigenden Thierreihe ein be- herrschender Einfluss zugestanden wird. Nun hat aber weiterhin Schrader selbst gefunden, dass das Grosshirn des Vogels fast so inhaltlos sei, wie jenes des Frosches, und fiir den grosshirnlosen Hund wartet Goltz noch auf den Tag, an dem derselbe spontan aus seiner Hand fressen wird. Soweit wire der Bauplan fiir den Hund der gleiche, wie jener fiir den Frosch, d. h. in der ganzen aufsteigenden Thierreihe der nimliche der allgemeinen coordinatorischen Thitigkeit der einzelnen Centren ohne feststehende Fiihrung. Nach meiner Auffassung tritt mit dem Uebergange aus dem akranischen in den kraniotischen Zustand sogleich die Unterordnung des Riickenmarkes unter das Gehirn ein, dem die Fiihrung zufiallt, woraus einerseits folgt ein phylogenetischer Riickgang des Riicken- markes, wihrend andererseits die ganze weitere Entwickelung sich in den Vordertheil, das Gehirn, verlegt. Welche Rolle hierbei das Gross- hirn tbernimmt, ist zum Theil schon friiher von mir angedeutet worden, wird aber ausfiihrlich noch weiterhin dargelegt werden. Was mich in meiner Auffassung dazu noch stets festgehalten und bestarkt hat, war die Beobachtung, dass ich, die Function studirend, wiederholt zu Resultaten gelangte, welche die vergleichende Anatomie schon friiher aus dem Studium der Form erschlossen hatte; und das kann kein Zufall sein. Viertes Capitel. Ohr und Gleichgewicht. Als ich im Jahre 1886, durch die besonderen Umstiinde veranlasst, an die sogenannte Bogengangsfrage herantrat, war das Interesse fiir dieselbe nicht sehr lebhaft und was ihren Inhalt anbetraf, so waren Gegner und ['reunde derselben vielleicht etwa in gleicher Anzahl vor- handen. Nach der Verdffentlichung meiner Versuche am Haifischohr im Jahre 1885 (als Anhang zu meinen ,,Fischen“), da belebte sich das Interesse von Neuem; es sind im Laufe dieser Jahre eine ansehnliche teihe von neuen Arbeiten erschienen, unter deren Einfluss wir all- mihlich so weit gekommen sein sollen, dass das Ohr, resp. der N. ancusticus, oder, um ganz neutral zu sein, der N. octavus der aus- schliessliche Moderator des Gleichgewichtes der Thiere sein solle. Obgleich alle diese Arbeiten von mir mit Aufmerksamkeit verfolgt worden sind, so halte ich es doch nicht fiir méglich, sie bis in alle die kleinen Details wiederzugeben, vielmehr will ich nur eine Anzahl von einfachen und durchsichtigen Thatsachen neben- und einander gegeniiber stellen, aus denen ich fiir meine Person den Schluss ziehen will, dass ein extremer Standpunkt nach der einen wie nach der anderen Richtung unhaltbar ist, dass die Wahrheit wohl in der Mitte legen diirfte. Die Gruppirung dieser Thatsachen soll ohne Riicksicht auf ihre Zeitfolge geschehen und nur dem einen Gesichtspunkte dienen, aus ihnen irgend eine Ansicht herauslesen zu konnen. Dass ich dabei vollstindig objectiv und ohne Voreingenommenheit verfahren will, brauche ich dem Leser wohl nicht weiter zu versichern. Es handelt sich um folgende Thatsachen: 1. Bei Kranken, die wihrend einer langen Krankheitsdauer keine Spur von Schwindel oder Zwangsbewegung zeigten, lehrte die Section wiederholt, dass die Canales semicirculares in ver- schiedenem Grade veraindert oder ganz zerstért waren (siehe Gruber, Lehrbuch der Ohrenheilkunde, 2. Aufl., 1888). Ohr und Gleichgewicht. 49 9. Nach den Versuchen von hk. Ewald an Tauben, die als die vollkommensten dieser Art zu betrachten sind, hinterlisst die einseitige Entfernung der Bogengiinge keinerlei Storung in den Bewegungen dieser Thiere. Nach doppelseitiger Abtragung der Bogengiinge erscheinen diese Tauben zuniichst ebenfalls vollig normal, insofern als sie in normaler Stellung sitzen und keinerlei Asymmetrien in ihren Bewegungen zeigen, die auf Schwindelerscheinungen deuten kénnen. Erst wenn gewisse complicirte Bewegungen von ihnen ausgefiihrt werden, treten plotzlich Gleichgewichtsstérungen auf, die sich bald wieder ausgleichen (R. Ewald, Physiologische Untersuchungen iiber das Endorgan des Nervus octavus, Wiesbaden 1892). 3. Ich habe gezeigt, dass man beim Haifische die Bogenginge zunichst einseitig so entfernen kann, dass die regelmissigen Schwimmbewegungen des Fisches keinerlei Storung aufweisen. Zu diesem Zwecke hat man jeden der drei hiaiutigen Bogen- giinge einzeln zu durchschneiden und mit der Pincette zu ent- fernen. Man kann eine zweite Reihe von Versuchen so disponiren, dass man nach Entfernung der Bogenginge einer Seite genau das Gegentheil erhilt, nimlich eine schwere Gleichgewichtsstérung, welche besteht in Rollbewegung nach der verletzten Seite. Dieses Resultat tritt dann auf, wenn man die drei Bogengiinge ohne vorherige isolirte Durch- schneidung auf einmal entfernt und dabei Kalkconcremente des Vorhofes zugleich heraushebt, oder wenn man Bestandtheile des Vorhofes mit der Pincette allein entfernt. Vor mir hatte auch Sewall in Boston an Haifischen die gleiche Erfahrung gemacht, nur war er nicht im Stande, die Bedingungen an- zugeben, unter denen die eine oder die andere Reihe von Versuchen zu erzielen war. Welche Deutung ich seiner Zeit diesen Thatsachen ge- geben habe, kann vorliufig hier unerértert bleiben, aber ich muss doch darauf Gewicht legen, dass ich zwei Reihen von Versuchen neben einander angegeben habe, von denen die eine Reihe zeigt, wie man die Storungen erzeugt, wihrend die andere Reihe diese Storungen zu vermeiden lehrt. Meine Nachfolger hingegen, wie Loeb, Kreidl u. A., stellen die Sache immer so dar, wie wenn ich Stérungen der Bewegung iiberhaupt nicht gesehen hatte. Sie selbst geben sich niemals die Miihe, diese Versuche zu wieder- holen, und kénnen nicht kriftig genug betonen, wie die Zer- storung der Bogenginge oder der Angriff auf das Vorhofsinnere Steiner, Centralnervensystem. IV. 4 Ohr ausnahmslos zu Stérungen fiihrt: mit scharfem Loffel wird der Vorhof ausgekratzt u. s, w.; das sind Maassnahmen, vor denen ich eindringlich genug gewarnt habe. Die durchaus sachgemiisse Kritik meiner Versuche durch Breuer, welcher angesichts meiner negativen Versuche den Angriffspunkt seines statischen Sinnes aus den Bogengangen heraus in die Otolithen verlegte, hatte mich im August 1891 veranlasst, in Neapel neuerdings Versuche anzustellen, welche die Bedeutung der Otolithen fiir das Gleichgewicht darstellen sollten. Ueber diese Versuche, deren ich bisher noch niemals Er- wihnung gethan habe und die aus localtechnischen Griinden an Torpedo ocellata gemacht wurden, habe ich Folgendes zu berichten: Man erdffnet den Vorhof genau wie beim Haifisch; die elektrischen Entladungen stérten mich nicht, da ich sie aus alter Bekanntschaft gut kenne. Hat man den Vorhof erdffnet, so sieht man in der Lymphe nicht weisse, sondern schwarze Concremente; eine besondere Eigenthiimlichkeit der Torpedineen, deren Kalkkrystalle, wie die Untersuchung gezeigt hat, in eine schwarze Grundsubstanz eingebettet ist. Da ich die Empfindlichkeit der Vorhofsgebilde aus meinen friiheren Versuchen her kannte, so habe ich die Endolymphe sammt den Otolithen durch ganz kleine, aus Fliesspapier her- gestellte Tiiten capillar abgesaugt; ein Verfahren, das zwar langsam, aber allmahlich zum Ziele fihrt. Nachtriglich fand ich, dass Sewall dasselbe auf ganz ahnlichem Wege, nimlich mit kleinen Glascapillaren leistete. Was das Resultat dieser Versuche anbetrifft, so gelingt es, die Otolithen so zu entfernen, dass die landliufigen Bewegungen des Thieres ungestort erscheinen; aber ofter misslingt der Ver- such und es folgen dann Gleichgewichtsstérungen, vornehmlich als Rollbewegungen. Dabei wiederholt sich hier eine Erscheinung, die ich bei der Entfernung der Bogengiinge der Haifische schon hervorgehoben habe, noch ausgepriigter, dass nimlich jedes Mal, wenn bei der Absaugung plotzlich Augenbewegungen und vornehmlich eine dorsal gerichtete Contraction des ganzen Schwanzes auftraten, auch stets Gleichgewichtstorungen folgten 1), 1) Breuer hilt die Bewegungen der Augenlider, die ich bei den Haifischen beschrieben habe, fiir Bewegungen der Augipfel. Das Vorkommen eines solchen Irrthumes kénnte ich zugeben, da meine Stellung wahrend der Operation seitlich hinter dem Kopfe des Thieres mir eine genaue Beobachtung dessen, was an den Augen vorgeht, nicht gestattet und ein Assistent nicht da ist. Ich sah nur, dass am Auge resp. in der Augengegend plotzliche Zuckungen auftraten, und deutete sie in jenem Sinne. und Gleichgewicht. 5] Es ist jedenfalls sehr schwierig, die Otolithen aus dem Vor- hofe so zu entfernen, dass danach keine Storungen auftreten, und wenn solche fehlen (und gefehlt haben solche auch bei meinen friiheren Versuchen an den Bogengiingen), so sind es die normalen Bewegungen des einfachen Schwimmens, welche ich beobachtete, da ich diese Thiere besonderen Priifungen, wie z. B. Rotationen u. dergl., nicht unterzogen habe. 4, Heranzuziehen sind die Versuche von Delage an den Everte- braten, die ich ausfiihrlich in Heft HI dieser Untersuchungen, nach vorangegangener experimenteller Wiederholung, dar- gestellt habe und auf die ich hier verweise. 5. Nach den Versuchen von v. Tarchanoff und R. Dubois, die oben 8. 31 angefiihrt worden sind, vermag eine Ente, deren Kopf bis ins Halsmark hinein abgetragen worden ist, womit beide Ohren entfernt waren, unter geeigneten Bedingungen noch mehrere Meter weit vollstindig correct, d. h. bei voller Behauptung des Gleichgewichtes zu gehen und danach noch auf dem Wasser ebenso aquilibrirt zu schwimmen. 6. Schon Flourens wusste, dass man die Gehdrschnecke allein zerstoren konne, ohne- Gleichgewichtsstdrungen zu erzeugen; ein Versuch, der neuerdings von Matte wiederholt und be- stiitigt worden ist. 7. Nach Flechsig scheint es, dass der N. vestibularis des Menschen nicht in der Horsphiire, sondern in der Korperfiihl- sphiare sein centrales Ende findet?). Aus diesen Thatsachen sind die folgenden besonders hervorzuheben: 1. Sowohl nach den Versuchen von Ewald an der Taube, wie nach den meinigen am Haifisch ist die einseitige Abtragung der Bogenginge, wenn sie nach den gegebenen Vorschriften ausgetibt wird, von keinerlei Gleichgewichtsstérungen gefolgt. 2. Auch die doppelseitige Entfernung der Bogengiinge ruft weder bei der Taube noch beim Haifisch Gleichgewichtsstérungen hervor, soweit man dabei einfache Ortsbewegungen in Betracht zieht. Krst wenn genauere Priifungen der Beweglichkeit vor- genommen werden, treten sowohl bei den Tauben (Ewald), als bei den Haifischen (Kreidl) Gleichgewichtsstérungen ein, die wieder schwinden, wenn man sie den neuen Bedingungen 1) P. Flechsig, Die Localisation der geistigen Vorginge etc. Leipzig 1896, S. 43. 4* on bo Ohr : entzieht. Diese Stdrungen sind als Ausfallserscheinungen zu betrachten, da sie dauernd bestehen bleiben (Ewald). 3. In yolligem Widerspruch zu diesen beiden Thatsachen steht die dritte Thatsache, dass einseitige Abtragungen der Bogen- giinge, wenn sie nicht nach der bei 1. und 2. geiibten Methode ausgefiihrt werden, zu furibunden Gleichgewichtsstérungen, wie iollbewegungen u. a. fiihren, obgleich auch hier eine Ver- letzung des Centralnervensystems ausgeschlossen bleibt. Diese drei Reihen von Thatsachen diirfen heute einem Wider- spruche von keiner Seite mehr begegnen; anders aber steht es um die theoretische Auffassung derselben. Ich bin der Ansicht, dass ebenso wie bei den Evertebraten auch bei den Vertebraten die Ruhestellung des K6rpers, sowie die einfacheren Bewegungen ausschliesslich yor sich gehen unter Leitung der Haut- empfindungen (im weitesten Sinne, also mit Gelenk- und Muskelgefiihlen), dass aber die rasche Ortsbewegung, sowie alle complicirteren Be- wegungen, wie Drehen u. s. w., der weiteren Controlle durch das Ohr bediirfen und zwar so, dass die Function eines Ohres fiir beide Seiten ausreicht. Zum Theil ist es schon geschehen, zum Theil wird es noch weitere Aufgabe des Experimentes sein, diese beiden Gruppen von Bewegungen neben einander darzustellen. Demnach muss eine Bahn, ‘die im N. vestibularis aufsteigt und das primaire Centrum des achten Hirnnerven durchsetzt, centralwirts weitergehen. Nichts steht im Wege, tiir die héchsten Wirbelthiere zu schliessen, dass es die Bahn ist, welche nach Flechsig in der Korperfiithlsphire endet. Wenn endlich die einseitige Entfernung der Ohrbogen, wie unter 3. bemerkt, zu so schweren Gleichgewichtsstodrungen Veranlassung giebt, so handelt es sich um eine Reizerscheinung, wobei es ganz be- greiflich erscheint, dass die Reizung dieser Bahn sehr schwere Stérungen erzeugt, wihrend die reizlose Ausschaltung derselben Bahn scheinbar keine Storungen nach sich zieht, denn der Reiz muss, wenn er erst die Reizschwelle erreicht hat, fortwihrend zu jenen Bewegungen fiihren, welche sonst nur unter ganz bestimmten Bedingungen erfolgen, die aber wahrend vieler Stunden und Tage gar nicht aufzutreten brauchen. Dass aber thatsiichlich mit der Entfernung der Bogenginge resp. Otolithen Reizungen einhergehen konnen, habe ich schon ftir (ie Haifische und noch deutlicher fiir die Torpedineen nachgewiesen. Ich komme damit zu einer Auffassung zuriick, die ich in der Abtheilung »Fische* im Jahre 1888 schon discutirt, aber verworfen habe, weil ich zu jener Zeit das schon geschilderte Missverhiiltniss zwischen dem Effecte der Reizung und dem reizloser Ausschaltung derselben Bahn nicht begreifen konnte. Hier haben mir erst die analogen Versuche an und Gleichgewicht. 53 den Evertebraten und deren Interpretation, wie ich sie seiner Zeit gegeben habe, den Weg zum Verstiindniss gebahnt 2). Was die von Ewald aufgestellte Theorie anbetrifft, wonach von jedem Ohre auf die Muskeln beider Korperseiten ein Tonus ausgeiibt wird, so kann ich dieselbe entbehren, um so mehr, da ich nicht sehe, wie mit derselben zu vereinen ist jene Gruppe von Bewegungen, die normal vor sich gehen bei den ‘auben, welchen Ewald die Laby- rinthe auf beiden Seiten entfernt hat. 1) Meine Stellung zu der Rollbewegung, welche durch einseitige Verletzung des Nackenmarkes entsteht und von der ich selbst gezeigt habe, dass sie am reinsten und am starksten dann zu erhalten ist, wenn man die Hintrittsstelle des N. acusticus verletzt, ergiebt sich nunmehr aus den bisherigen Darlegungen. Finftes Capitel. Phylogenetische Betrachtungen und Schluss. Nachdem sich aus dem Akranier ein Kraniot und mit diesem das Gehirn entwickelt hat, setzt sich die Wanderung der Functionen nach dem Vorderende in der Wirbelthierreihe ohne Unterbrechung so lange fort, bis alle seine Functionen jenes Vorderende, das Grosshirn, erreicht haben, wo wir sie bei den héchsten Wirbelthieren zwar vereint, aber doch riumlich von einander getrennt, wiederfinden. Diese Functionen sind nach den iibereinstimmenden Beobachtungen fast aller Autoren die fiinf Sinnesempfindungen, welche in bestimmt localisirten Feldern, der Rinde des Grosshirns, auftreten und Sinnes- sphiren genannt werden!) (von der centralen Sprachsphire des Menschen wollen wir der Vereinfachung wegen zuniichst absehen). Das sind bekanntlich die Seh-, Hér-, Riech-, Schmeck- und Fiihlsphare. Die gleichen Sinnesfunctionen haben wir auch schon im Gehirn des niedersten Wirbelthieres, beim Haifisch, getroffen, denn die Fiihlsphare diirfte nichts Anderes sein, als das allgemeine Bewegungscentrum, das nach meiner Feststellung das Centrum ist, in dem alle Kmpfindungs- qualitiiten der Haut zusammenfliessen, um eventuell in Bewegung umgesetzt zu werden. Die ganze Entwickelung der Wirbelthiere, soweit das Central- nervensystem in Betracht kommt, beruht demnach auf dieser Wanderung der Sinnesfunctionen nach vorn, womit eine zunehmende functionelle (und auch morphologische) Verstiirkung des Vorderendes Hand in Hand geht auf Kosten der riickwirts gelegenen Theile, welche an centraler Function immer mehr verarmen. Die Héhe dieser Entwickelung zeigt das Grosshirn des Menschen. Hierbei stellen sich uns sofort zwei Fragen zur Beantwortung, namlich: 1. Haben die Sinnesfunction auf ihrer Wanderung nach dem Gross- ') Vergl. H. Munk, Ueber die Functionen der Grosshirnrinde etc. Zweite Auflage. Berlin 1890. P. Flechsig, Gehirn und Seele. Leipzig 1896. Phylogenetische Betrachtungen. 55 hirn eine Veriinderung ihres Charakters erfahren und, im Bejahungsfalle, worin besteht dieselbe ? 2. Wie muss die Hirnrinde beschaffen sein, damit auf derselben so heterogene Elemente, wie es die fiinf Sinnesfunctionen sind, vereinigt werden kénnen? Bevor wir die Beantwortung dieser beiden Fragen unternehmen, wollen wir den Zustand niher betrachten, in dem sich die Sinnes- centren und das Grosshirn in der aufsteigenden Thierreihe befinden, wobei ich nur daran erinnern will, dass die Sinnescentren oder, all- gemein gesagt, die Sinnesapparate die Aufgabe haben, uns die Kennt- niss derjenigen Aussendinge zu vermitteln, welche durch adiquate Reize auf jene einwirken, wahrend die Leistung des Grosshirns noch bis in die neuere Zeit hinein auf Grund der Flourens’schen Ver- suche im Wesentlichen bestehen soll in der Initiative, in der will- kiirlichen Thatigkeit, innerhalb deren ich einen Willkiiract besonders herausheben mochte, weil er trotz der fortgeschrittenen Versuche der neuen Zeit selbst dem Grosshirne des Vogels noch verblieben ist, namlich die willkiirliche Nahrungsaufnahme. Beginnen wir mit den Knochenfischen, so wissen wir jetzt, dass die Abtragung des Grosshirns in dem Leben des Individuums nichts geindert hat, dass insbesondere die willkiirliche Nahrungsaufnahme nicht aufhdrt, so wenig wie eine Reihe anderer Leistungen, die wir sonst dem Grosshirne zuzuschreiben pflegen und die ich ausfiihrlich seiner Zeit geschildert habe (vergl. Fische). Ist so, auch ohne Gross- hirn, fiir die Erhaltung des Individuums gesorgt, so méchte ich glauben, dass auch die Art durch Fortpflanzung erhalten werden kann. Leider sind Versuche, die ich zu diesem Zwecke schon vor einiger Zeit begonnen habe, zunichst an technischen Schwierigkeiten gescheitert. Das Grosshirn des Knochenfisches ist also eine inhaltlose Masse, welche selbst mit dem iibrigen Centralnervensystem keinen Zusammen- hang aufweist, da elektrische Reizung desselben keinerlei Erscheinung, wenigstens von Seiten der Bewegungsorgane, zu Tage fordert. Die Grosshirnfunctionen hat bei den Knochenfischen tibernommen der Sehapparat resp. das im Mittelhirn gelegene Sehcentrum. Anders ist das Verhaltniss bei dem Haifisch (Scylliwn catulus und canicula), bei dem die spontane Nahrungsaufnahme unterbrochen wird nach Entfernung des Grosshirns, aber ebenso auch schon nach Durch- schneidung der beiden Riechkoben (vergl. Fische). Das Riechcentrum iibernimmt die Functionen des Grosshirns. Ob irgend welch’ nach- weisbarer Zusammenhang dieses Vorderhirnes mit dem iibrigen Central- nervensystem besteht, vermag ich nicht zu sagen, da ich seiner Zeit 56 Phylogenetische keine Veranlassung hatte, eine Reizung derselben vorzunehmen. Dieser Versuch wire noch anzustellen. Fiir die Amphibien, speciell fiir den Frosch, hatte zuletzt Goltz angegeben, dass bei demselben nach Verlust des Grosshirns eine spontane Nahrungsaufnahme nicht stattfindet. Ich selbst habe mich mit dieser Frage gar nicht besonders beschiftigt, war aber doch dem Beispiele von Goltz darin gefolgt, dass dieser Frosch keine spontanen Bewegungen mehr macht. In der oben schon angefiihrten Arbeit hat dagegen Schrader gefunden, dass ein Frosch ohne Grosshirn nicht allein wieder willkiirliche Bewegungen macht, sondern spontan Fliegen fingt und sich auch sonst vollkommen benimmt, wie ein normaler Frosch. Man stellt diesen Versuch gern in Parallele zu meinem ein Jahr vorher ver6ffentlichten Versuche am Knochenfisch (vergl. Ueber das Grosshirn der Knochenfische. Berichte der Berliner Akademie der Wissenschaften 1886, I, S. 5, und ,,Fische“, 8. 15 bis 22), indess mit Unrecht, denn der Fisch ohne Grosshirn faingt schon eine Stunde nach der Operation die hingeworfenen Regenwiirmer, wihrend bei dem Frosche bis dahin sehr viel langere Zeit zu vergehen scheint. Leider ist auch hier von Schrader die Zeit nicht genau angegeben, aber es heisst doch ,unsere, wie oben angegeben, operirten Frésche fingen, als sie aus dem Winterschlaf erwachten, oder im Sommer Monate nach vollendeter Verheilung, siimmtliche in einer geriiumigen Glasglocke umsummenden Fliegen“. Das soll doch wohl heissen, dass erst Monate nach der Operation vergingen, bis diese Frésche ihre Fliegen fingen, wiihrend meine Frésche héchstens bis vier Wochen beobachtet wurden. Dass in dem Versuche von Schrader eine Restitution von Grosshirn- substanz stattfindet, ist ausgeschlossen; ebenso wenig glaube ich aber, dass es die Eliminirung der mittelbaren Schidlichkeiten ist, welche mit der Operation selbst einhergehen. Dagegen spricht der analoge Versuch beim Knochentisch, der nach meiner Ansicht viel empfind- licher ist, als der Frosch, und ferner die Thatsache, dass doch viele der grosshirnlosen Frésche schon einige Stunden nach der Operation den Balancirversuch, der eine nicht minder bedeutende Leistung ist, sehr correct ausfiihren. Ich glaube, dass die Erklarung an ganz anderer Stelle zu suchen ist. Man erinnere sich, dass nach meinen eigenen Versuchen, die in diesem Punkte theilweise nur eine Be- stiitigung von Versuchen sind, die bis Desmoulins und Magendie (1825) hinaufreichen, ein Frosch ohne Grosshirn noch sehr erheblicher Leistungen fiihig war, die man friiher ebenfalls nur dem Grosshirn zuschrieb. Ich méchte hierbei besonders an die Thatsache erinnern, wie ein solcher Frosch nicht allein Hindernissen aus dem Wege geht, wenn man ihn reizt, sondern dass er iiber dieselben hinwegspringt; Betrachtungen. 57 dass er dies aber unterliisst, wenn diese Hindernisse zu hoch sind und dass er dann trotz aller Reizung einfach umkehrt; d. h. ein solcher Frosch leistet mit einem Mittelhirn wohl Alles, was ein normaler Frosch leistet, bis auf die spontane Nahrungsaufnahme (von der Willkiirbewegung kénnen wir absehen, da sie dort implicite gegeben ist). Wenn man sich weiter vergegenwiirtigt, dass das phylogenetisch ailtere Mittelhirn des Knochenfisches genau das leistet, was wir sonst dem Grosshirn zuschreiben, so bin ich der Ansicht, dass das von Haus aus schon vorbereitete Mittelhirn des Frosches nach Wegfall des Gross- hirns in mehrmonatlicher Uebung auch jene letzte Function zu leisten gelernt hat '). Wie dem auch sei, so wiirde doch nach den Versuchen yon Schrader das Grosshirn des Frosches eine Form ohne Inhalt sein, sich yon jenem des Knochenfisches gar nicht unterscheiden. Ab- gesehen von meiner eben gemachten Ausfiihrung zu dem Gegenstande, der allein geeignet ist, einen Unterschied zwischen dem Grosshirn des Knochenfisches und dem des Frosches festzulegen, reden folgende Thatsachen in gleichem Sinne. Zunichst hat Langendorff schon vor Jahren beobachtet, dass Reizung der Grosshirnrinde des Frosches gewisse Bewegungen in den Extremitiiten verursacht?). In neuer Zeit hat M. Lapinsky unter Ewald’s Leitung gefunden?*), dass man bei Rana temporaria vollige Krampfanfalle (Epilepsie) auslésen konne, wenn man die Grosshirnrinde mit 20 bis 25 mg_ gepulverten Kreatins bestreut. Es folgt aus diesen beiden Beobachtungen, dass entgegen der Schrader’schen und im Einklang mit meiner Auffassung das Gross- hirn des Frosches nicht inhaltlos ist, wie das des Knochenfisches, sondern dass von demselben auf die dahinter liegenden Theile ein be- stimmter Einfluss ausgetibt wird oder wenigstens ausgeiibt werden kann. Bei den Reptilien gestaltet sich das Verhiltniss ahnlich, wie fiir die Amphibien resp. den Frosch. Am interessantesten tritt uns die 1) Ich kann nicht umhin, auf einen merkwiirdigen Irrthum von Schrader aufmerksam zu machen, wenn er angiebt, man hatte bisher als eine allgemein gesicherte Thatsache angenommen, dass ein Frosch ohne Grosshirn zu Wasser und zu Lande bewegungslos bleiben soll, wenn man ihn nicht reizt. Dagegen hatte ich ausdriicklich darauf hingewiesen, dass ein grosshirnloser Frosch, ins Wasser gebracht, ausnahmslos spontan zu Schwimmbewegungen iibergeht, und den Unterschied im Verhalten des Frosches auf dem Lande und im Wasser weit- laufig discutirt. Aber auch meine Vorganger Vulpian, Cayrade und Onimus beschreiben, wie ich ebenfalls angefiihrt habe, schon diese Thatsache. *) Langendorff, Ueber die elektrische Erregbarkeit der Grosshirnhemi- sphare des Frosches. Centralblatt f. d. med. Wissenschaften 1876. °) M. Lapinsky, Ueber Epilepsie beim Frosche. Pfliiger’s Archiv 1899. Bd. 74. 58 Phylogenetische Thatsache gegeniiber, wie die Eidechse, welche in unversehrtem Zu- stande stets eiligst die Flucht ergreift, schon wenn wir auf sie zugehen, nach Abtragung des Grosshirns dagegen ruhig sitzen bleibt. Dieser Versuch, der oben (S. 5) naher geschildert worden ist, bekommt noch ein besonderes Interesse dadurch, dass die einseitige Abtragung des Grosshirns die ganze Erscheinung auch nur einseitig auftreten asst. Beim Frosch ist Solches nur beobachtet worden, wenn er schon auf der Flucht begriffen war; in diesem Falle floh er so behend, wie in unversehrtem Zustande, aber wenn er ruhig da sass, konnte man ihm drohend entgegen gehen, ohne dass er seine Ruhe aufgab. Vielleicht liegt das nur an der individuell grésseren Lebhaftigkeit der Kidechse, aber der Unterschied ist jedenfalls vorhanden. Wie der Frosch ver- mag die Eidechse ohne Grosshirn noch zu sehen, da sie Hindernissen aus dem Wege geht. Die Nahrung spontan zu nehmen, vermag meine grosshirnlose Eidechse ebenfalls nicht. Im Ganzen méchte ich den Unterschied zwischen dem Frosche und der Eidechse ohne Grosshirn dahin pricisiren, dass bei jenem noch eine weitgehendere Verwerthung der bei beiden vorhandenen Gesichtseindriicke stattfindet, als bei dieser; dass demnach mit dem Wegfall des Gehirns mehr an psychischem Element verloren geht bei der Eidechse, als beim Frosch. Sollte, wie es beim Frosche geschehen ist, eines Tages im Strass- burger physiologischen Laboratorium gefunden werden, dass eine Eidechse ohne Grosshirn spontan ihre Nahrung findet, so wird vor- aussichtlich in demselben Laboratorium auch wieder eine Methode entdeckt werden, um durch Reizung der Grosshirnrinde auf das iibrige Gehirn zu wirken, wie beim Frosch, so dass das Grosshirn der Eidechse resp. des Reptils keineswegs inhaltlos bleiben wiirde. Eine andere Erscheinung tritt hier ganz neu auf: Wahrend die Abtragung der Decke des Mittelhirns, des sogenannten Zectum opticum, bei Fisch und Frosch zu vollkommener Erblindung fihrt, tritt bei der Eidechse nach derselben Operation nur der gleiche Zustand von Seelen- blindheit auf, wie wir ihn nach der Grosshirnabtragung gesehen haben, d. h. die Eidechse weicht Hindernissen noch aus, erkennt die Objecte als solche aber nicht mehr. Es sind hier die centralen Elemente des Sehens nicht mehr auf die Mittelhirndecke beschriinkt, sondern miissen noch auf eine andere Localitit des Gehirns iibergegangen sein, die wohl keine andere als der Thalamus opticus sein kann. Dieses Ereigniss ist um so bemerkenswerther, als Fisch, namentlich Knochenfisch, und Frosch ebenfalls einen Thalamus opticus besitzen, die mit dem Sehen aber noch nichts zu thun haben. Auf der anderen Seite beleuchtet diese Thatsache die merkwiirdige Betrachtungen. 59 Erscheinung, dass der Lobus opticus der héheren Wirbelthiere fiir den Sehact nur eine geringe Bedeutung hat, wihrend die wesentlichen primiren Opticuscentren im Corp. geniculat. ext. und dem Pulvinar zu suchen sind. Der Lobus opticus erscheint, wie vy. Monakow meint}), und wofiir hier die Unterlage geliefert ist, als die phylogenetisch altere Wurzel des Opticus, wahrend die andere, nunmehr weit wichtigere Wurzel phylogenetisch neu ist. Die Taube ohne Grosshirn vermag, wie zunichst Flourens fest- gestellt hat und wie durch vielfache Wiederholung jener Versuche bestatigt worden ist, spontan ihre Nahrung nicht zu finden. Dagegen soll sie nach Schrader sehend sein”), allen Hindernissen prompt ausweichen und von der Hand auffliegend mit richtiger Beurtheilung der Distanz einen Gegenstand erreichen, um sich auf demselben nieder- zulassen. Um ein Erlernen des Sehens soll es sich dabei nicht handeln konnen, da einige Thiere sofort nach der Operation die Hindernisse im Zimmer vermieden. Dem widerspricht H. Munk, dessen Tauben ohne Grosshirn vollkommen blind sind. Diese Frage nach dem Sehen habe ich versucht auf einem anderen Wege zu losen3): Wir wissen, dass die Sehcentren aller Wirbelthiere, wenn man sie reizt, doppelseitige Augenbewegungen hervorrufen, ins- besondere erhilt man durch Reizung der Sehsphare des Affen und des Hundes associurte Augenbewegungen nach der der Reizung gegeniiber- legenden Seite, sowie lebhafte Pupillenbewegungen. Ich argumentirte nun, dass, wenn die Grosshirnrinde der Taube auf elektrische Reizung gleiche oder ahnliche Bewegungsphiinomene zeigt, diese Rinde auch in elnem ganz bestimmten Verhaltnisse zu dem Sehacte stehen miisse. In der That liess sich nachweisen, dass ein ausgedehnter Bezirk der Grosshirnrinde der Taube die elektrische Reizung mit Pupillen- bewegungen, associirten Augenbewegungen und einer zugehérigen Kopf- bewegung beantwortet, womit erwiesen ist, dass das Grosshirn der Taube zu dem Sehapparate in einer ganz bestimmten Beziehung steht und nicht von demselben unabhingig ist, wie aus dem Schrader- schen Versuche geschlossen werden sollte. Demgegeniiber behauptet A. Bickel‘), dass Frosch-, Eidechsen- und Taubengrosshirn sich elektrischen und chemischen Reizen gegen- tiber absolut unerregbar verhalten. Man vergleiche damit nur, was oben Lapinsky iiber die Reizung des Froschgrosshirns sagt und was *) C. v. Monakow, Gehirnpathologie. Wien 1897, 8. 191. *) M. Schrader, Zur Physiologie des Vogelgehirns. Pfliiger’s Archiv 1888, Bd. 44. *) J. Steiner, Sinnessphiren und Bewegungen. Pfliiger’s Archiv 1891, Bd. 50. *) A. Bickel, Vergl. Physiologie des Grosshirns. Pfliiger’s Archiv 1898, Bd. 72. 60 Phylogenetische hier nicht wiederholt zu werden braucht, da die Arbeit von Lapinsky spiiter erschienen ist, als jene von Bickel. Mit Bezug auf mich sagt Bickel Folgendes: ,Soviel ich mich erinnere, hat auch Steiner nach elektrischer Reizung der Hemispharen bei der Taube mitunter Be- wegungen der Augipfel constatiren kénnen.“ Nun, ich habe nicht mitunter Bewegungen der Augipfel gesehen, sondern ausnahmslos; Herr Bickel kann meine Arbeit gar nicht gelesen haben, so dass ich unter diesen Umstiinden auf jede weitere Kritik seiner Arbeiten aus- driicklich verzichte. Was meine Versuche an der Taube selbst aber anbetrifft, so habe ich dieselben an verschiedenen wissenschaftlichen Stellen (z. B. Nieder- rheinische Gesellschaft in Bonn) vorgefiihrt und gezeigt, dass es keinen einfacheren und sichereren Versuch geben kann, als jenen an der Taube. Die Kenntniss von der Bedeutung der Grosshirnrinde der Sauge- thiere ist heutzutage so vollkommen Gemeingut unserer wissenschaft- lichen Kreise geworden, dass ich auf Schilderung derselben verzichten darf. Nur auf die eine Thatsache méchte ich noch besonders hin- weisen, auf die auch Cl. Bernard schon unsere Aufmerksamkeit gelenkt hat, dass beim Uebergange von den héheren Saiugethieren zum Affen und dem Menschen noch eine weitere Verinderung auftritt, die darin besteht, dass die halbseitigen Destructionen des menschlichen Gehirnes zu einer Lihmung der Gegenseite fiihren, die unter dem Namen der Hemiplegie allgemein bekannt ist, wiihrend bei den Thieren eine solche Hemiplegie tiberhaupt nicht vorkommt. Aus den Mittheilungen geht hervor, wie das Grosshirn von Classe zu Classe immer mehr an dem Leben des Nervensystems theilnimmt, dass also, wie auch zu erwarten stand, der Uebergang oder die Wanderung der Functionen nach dem Grosshirn nicht sprungweise, sondern durchaus continuirlich stattgefunden hat. Kehren wir nunmehr zur Beantwortung der oben gestellten zwei Fragen zuriick und beginnen mit der zweiten, welche beantworten sollte, welche allgemeine Eigenschaft die Grosshirnrinde der hoheren Wirbelthiere haben miisste, wenn so heterogene Qualitiiten, wie die Sinnessphiren, auf derselben neben einander Platz finden konnen, so bemerke ich, dass, entsprechend der Methode der vergleichenden Anatomie, es sich um eine Ejigenschaft handeln muss, die alle die einzelnen Sinnessphiren selbst besitzen. Die Eigenschaft aber, welche den verschiedenen Sinnesfunctionen gemeinsam ist, diirfte nichts Anderes als das Gedichtniss sein und die Grosshirnrinde ware in erster Linie eine Gedichtnisstafel, auf welcher sich die Sinnesfunctionen allmihlich testgesetzt haben. (Die Ganglienzelle besitzt Gedachtniss, das Riickenmark ebenso, wie ich durch den Versuch gezeigt habe, und Betrachtungen. 61 das Gehirn besitzt es in erhdhter Potenz.) Hierbei ist wohl auch die Thatsache zu verwerthen, dass in einer chronischen Allgemeinerkrankung des Gehirns, der progressiven Paralyse, die friihesten Zeichen der Krankheit gerade als kleine Gedichtnissdefecte auftreten. Was die zweite Frage anbetrifft, ob die Sinnescentren auf ihrer Wanderung nach dem Grosshirn eine Umwandlung ihres Charakters erfahren haben, so haben wir zu diesem Zwecke zu vergleichen die Leistungen der Sinnescentren zuniichst der Fische mit jenen der Grosshirnrinde der héheren Wirbelthiere, z. B. des Hundes. Wihlen wir die am besten studirte Sinnessphire, die Sehsphare, und vergleichen damit das Sehcentrum des Knochenfisches, so leistet dasselbe, was wir sonst von einem Grosshirn erwarten. Dasselbe kénnen wir von dem Sehcentrum des Frosches und ebenso von dem Riechcentrum des Haifisches sagen. Daraus folgt, dass in jenen Fallen das Sinnescentrum und das Grosshirn von einander nicht zu unter- scheiden sind und eines fiir das andere gesetzt werden kann. Die Sehsphiire des Hundes functionirt ihrerseits auch wieder wie ein Gross- hirn, sodass sich das eben erliuterte Verhiltniss fiir den Hund wieder- holt. Daraus aber folgt (unter Ausdehnung auf die tibrigen Sinnes- functionen), dass die Sinnesfunctionen, soweit wir sie heute verstehen, auf ihrer Wanderung zum Grosshirn keinerlei Verinderung erfahren, Man kann dann sagen, dass die Grosshirnrinde besetzt ist von fiinf Sinnessphiren oder auch von fiinf primitiven Grosshirnen, welche von aussen her adiquat erregt werden, und der Fortschritt, der in der Entwickelung des Grosshirnes bis zam Hund und zum Menschen erreicht wird, driickt sich darin aus, dass diese fiinf Organe auf der gemein- samen und homogenen Gediichtnisstafel placirt sind — im Gegensatz zu ihrer bisherigen Vertheilung iiber verschiedene und ungleichartige Hirntheile. Bei der weiteren Frage, ob damit der Inhalt der Grosshirnrinde erschopft ist oder erschépft sein kann, fallt unser Blick auf die grossen, zwischen den Sinnessphiren liegenden Gebiete, deren Wesen uns zwar vorliufig fremd ist, aber doch sehr wesentlich zur Erganzung unserer Erkenntniss nothwendig sein diirfte. Diese Gebiete sind von Flechsig mit seinen Associationscentren bevélkert worden, die im Allgemeinen eine sympathische Aufnahme gefunden hatten. Sie stehen im Wesentlichen auf dem von Flechsig behaupteten Verhalten des Stabkranzes, dessen Fasern in Masse zu den Sinnessphiren aufsteigen, wahrend solche in die zwischenliegenden Areale, die Associationscentren, nicht eintreten, denselben also fehlen. Jenen Centren fiele die Auf- gabe zu, eine indirecte Verkniipfung der Sinnessphiren herzustellen 62 Phylogenetische Betrachtungen. und auf diesem Wege neue Einheiten zu schaffen, aus denen die hdheren geistigen Fahigkeiten hervorgehen. Neuerdings hat sich, besonders von Seiten von Monakow’s und Wernicke’s ein lebhafter Widerspruch gegen diese Associationscentren erhoben, wihrend Flechsig ihre Zahl von urspriinglich drei auf vierzig vermehrt hat. Die Zukunft wird lehren, was richtig ist. Ich bin am Schlusse. Sollte der eine oder der andere meiner Leser finden, dass ich viel Raum fiir theoretische Erorterungen gebraucht habe, so méchte ich zu meiner Rechtfertigung folgende Worte von Helmholtz anfiihren1): ,Dennoch musste am Ende der Versuch gemacht werden, Ordnung und Zusammenhang in dieses Gebiet hinein zu bringen.... Ich habe dies gethan in der Ueber- zeugung, dass Ordnung und Zusammenhang, selbst wenn sie auf ein unhaltbares Princip gegriindet sein sollten, besser sind als Wider- spriiche und Zusammenhanglosigkeit.“ 1) H. Helmholtz, Handbuch der physiolog. Optik. Leipzig 1867. Vorrede SHV. h < = eee we Pe Line lint fs tt r x ve Wa Ah O65 4 7 y la V-35 > ' gi t x op ra = > : sri i % ‘ Mit } ‘ ta. < Puy y 2 f